Herrschaft durch Schrecken und Liebe: Vorstellungen und Begründungen im Mittelalter [1 ed.] 9783737009362, 9783847109365

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Herrschaft durch Schrecken und Liebe: Vorstellungen und Begründungen im Mittelalter [1 ed.]
 9783737009362, 9783847109365

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Orbis mediaevalis Vorstellungswelten des Mittelalters

Band 17

Herausgegeben von Amalie Fößel, Hans-Werner Goetz, Ludger Körntgen und Helmut G. Walther

Hans-Joachim Schmidt

Herrschaft durch Schrecken und Liebe Vorstellungen und Begründungen im Mittelalter

V& R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet þber http://dnb.d-nb.de abrufbar.  2019, V& R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Gçttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich gesch þtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen FÐllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung (Erkennungsbild der Reihe »Orbis mediaevalis«): Petrus de Ebulo: Liber ad honorem Augusti, Burgerbibliothek Bern, Cod. 120.II, f. 146r (Ausschnitt) Vandenhoeck & Ruprecht Verlage j www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 1438-8669 ISBN 978-3-7370-0936-2

Inhalt

I.

II.

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9 9 16 27

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31 39

Verständigungsangebote der Bibel . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Schrecken der Könige über Gerechte und Ungerechte im Alten Testament . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Herrschaft ohne Liebe im Neuen Testament . . . . . . . . . . .

47

Einleitung: Die Semantik der Politik und der Emotionen . . . . . 1. Namen, Gründe und Rechtfertigungen . . . . . . . . . . . . . 2. Macht und Herrschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Emotionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Forschungen zu Herrschaft, Gewalt, Schrecken, Freundschaft und Liebe im Mittelalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Fragen und vorläufige Annahmen . . . . . . . . . . . . . . .

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83 83 92 104 107 119 126

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135 135 145 148 152

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164 171 174

III. Konzepte der Antike: Herrschaft im Haus, Freundschaft im Staat 1. Der eine Körper der Polis: Platon . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Freundschaft und Tugend in der Polis: Aristoteles . . . . . . 3. Befreiung vom Schrecken: Epikur und Lucretius . . . . . . . 4. Freunde im Dienst für den Staat: Cicero . . . . . . . . . . . . 5. Verlust der Freundschaft im römischen Kaiserreich . . . . . . 6. Das römische Recht und das Fehlen der Gefühle . . . . . . . IV.

Christliche Vorstellungen zur Herrschaft in der Spätantike . . . 1. Schrecken als Makel des Staates . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Liebe des Kaisers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Distanz und Nähe zum Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Staat ohne Gerechtigkeit: Augustinus . . . . . . . . . . . . 5. Schrecken des Staates zur Verteidigung des Glaubens: Augustinus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Liebe, Gewalt und Furcht bei den germanischen Herrschern 7. Die Liebe in der kosmischen Harmonie: Boethius . . . . . .

47 68

. . . . .

6

V.

Inhalt

8. Schrecken den Tieren, Liebe den Menschen: Gregor der Große . 9. Von Engeln und Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

177 185

Schrecken und Liebe des Königs im frühen Mittelalter . . . . . . . 1. Beutegemeinschaften und Gewalthaufen . . . . . . . . . . . . . 2. Die Unterscheidung von König und Tyrann: Isidor von Sevilla . 3. Die Ordnung von Furcht, Schrecken und Liebe . . . . . . . . . 4. Herrscherideale: Karl der Große, Ludwig der Fromme und ihre Nachfolger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Schrecken und Liebe als Tugenden des Königs . . . . . . . . . 6. Die Belehrung des Königs bei seiner Krönung . . . . . . . . . .

195 195 204 211

VI. Die Eigenen, die Anderen und die richtige Unterscheidung von Freundschaft und Gewalt (10. und 11. Jahrhundert) . . . . . . . 1. Getreue und Feinde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Attila – die Geißel Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Freundschaftsbünde, konsensuelle Herrschaft und Abschreckung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Frieden durch Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . .

261 261 264

. . . .

267 279

VII. Negation der Legitimität der Herrschaft (von der Mitte des 11. bis zur Mitte des 12. Jahrhunderts) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Fundamentalkritik der Kirchenreformer : Könige als Schreckensherrscher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Könige als Figuren des Antichrist . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Jäger, König, Tyrann: Die Gestalt von König Nimrod . . . . . .

293 293 309 316

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327 327

. .

341

. . . .

364 376

Aufwertung der Liebe im 12. und 13. Jahrhundert . . . . . . . . . . 1. Hierarchien der Liebe – Liebe in Hierarchien . . . . . . . . . . 2. Fiktionale Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Unterwerfung unter die Liebe: Das Spiel mit Allegorien im Roman de la Rose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

391 391 408

VIII. Verteidigung der Herrschaft (12. und 13. Jahrhundert) . . . . . 1. Die Behauptung des guten Schreckens der Herrscher . . . . 2. Die Strenge der Gerechtigkeit und der Schrecken der Herrschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zwang durch die Gesetze und Gewalt durch den Herrscher : Kaiser Friedrich II. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Fülle der Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX.

223 241 256

420

7

Inhalt

X.

XI.

4. Der liebende König als Fiktion und als Norm . . . . . . . . . . 5. Die Liebe Alexanders des Großen – zwischen Phantastik, Idealisierung und Funktionalisierung . . . . . . . . . . . . . . 6. Wahre und falsche Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

425

Von der Belehrung des Herrschers zur Lehre von der Herrschaft . 1. Der belehrte und der gelehrte König . . . . . . . . . . . . . . . 2. Schönheit und Kraft des Körpers als Voraussetzung der Macht: »Geheimnis der Geheimnisse« . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der schöne Körper des Staates: Johannes von Salisbury . . . .

443 443

Das allgemeine Wohl und die Verbindung von Herrschern und Bürgern im 13. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Glück der Bürger im Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Politik der Freundschaft und der Liebe: Albertus Magnus . . . 3. Von den Emotionen zur Ordnung: Thomas von Aquin . . . . . 4. Die Überwindung der Herrschaft durch Emotionen: die dominikanische Politiktheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Hierarchien und Individuen in göttlicher Harmonie: Konzepte franziskanischer Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Der Schrecken als Gebot der Liebe: Anleitungen von Fürstenspiegeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Liebe im Staat: Aegidius Romanus . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Anleitung zur Liebe im Staat unter päpstlicher Aufsicht . . . .

XII. Bedrohte Autonomie des Individuums durch Politisierung der Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zwei Arten der Tugend und der Liebe: Peter von Auvergne . . 2. Liebe in der Familie, Furcht im Staat: Johannes Duns Scotus . . 3. Überwältigung der Bürger durch die Liebe im Staat: Remigio dei Girolami . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Politisierung von Tugenden: Heinrich von Gent und Gottfried von Fontaines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Der gute Zweck der Liebe: Engelbert von Admont . . . . . . . 6. Liebe als Voraussetzung der Verteilungsgerechtigkeit: Brunetto Latini . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Von der kosmischen Liebe zur politischen Harmonie: Dante Alighieri . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Liebe, Zwang und Recht: Marsilius von Padua . . . . . . . . . .

432 438

461 467

481 481 490 502 520 525 534 547 573

581 581 593 607 615 619 624 630 640

8

Inhalt

9. Herrschaft jenseits von Naturrecht und Liebe: Wilhelm von Ockham . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10. Die Pflicht zur Liebe: Nicolas Oresme, Johannes Buridan und Konrad von Megenberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XIII. Liebe in Texten der Herrschaft während des späten Mittelalters . 1. Liebe als Klebstoff des Staates. Formeln in den Königsurkunden in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Wörter der Liebe. Propagierte Ziele königlichen Handelns in Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das natürliche Band zwischen König und Untertan im Königreich Kastilien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

647 655

.

663

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663

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673

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688

XIV. Konfigurationen von Bedeutungen und Dispositionen von Handlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

711

Verzeichnis der mehrfach genannten Quellen und Literatur . . . . . . . Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wissenschaftliche Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

741 741 747

Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

761

I.

Einleitung: Die Semantik der Politik und der Emotionen

1.

Namen, Gründe und Rechtfertigungen

Gefühle verbinden Menschen. Auch die Herrschaft weckt Gefühle, und Gefühle bringen sie zur Geltung, und Gefühlen werden von ihr eingesetzt. Wie Herrschaft und Emotionen im Mittelalter miteinander verknüpft wurden, ist das Thema dieses Buches. Die Gefühle lauern in den Worten. Es sollen die sprachlichen Arrangements von Herrschaft, Macht und Emotionen untersucht werden. Sprache war das Instrument der Macht, der Einwirkung auf die Menschen, und sie war daher mehr als nur die Zusammenstellung von Zeichen, vor allem mehr als die Repräsentation von sozialen Fakten, sie waren die sozialen Fakten selbst. Herrschaft und Unterwerfung scheinen Konstanten der Geschichte zu sein und gelten offenbar als selbstverständlich. Zugleich sind sie erklärungsbedürftig. Sie verlangten auch im Mittelalter Rechtfertigungen, Bewertungen und Begründungen, und sie verwiesen auf Emotionen. Zwei Begriffe, die von Schrecken und Liebe, sowohl in konträrer Gegenüberstellung als auch in additiver und komplementärer Zusammenstellung, wurden während des Mittelalters verwendet, um Herrschaft zu erklären. Der schroffe Gegensatz der beiden Begriffe schien eine kombinatorische oder gar harmonisierende Einheit auszuschließen, aber in Wirklichkeit geschah häufig genau dies, um Herrschaft zu begründen. Nicht allein mehrdeutig waren und sind die Begriffe, nicht allein mit verschiedenen Zielen verknüpft, sie wurden aufgewühlt durch Gefühle, Leidenschaften und Begierden, die sich der Zähmung durch Erklärung leicht entzogen und entziehen, gleichwohl dazu verwendet wurden, um Unterwerfung unter die Herrschaft, ihre Anerkennung und ihre gute Praxis zu beschreiben, zu fordern, zu rechtfertigen und ebenso auch, um sie in Frage zu stellen. Lähmung des Willens durch Schrecken, Gewinnung der Anerkennung durch Liebe – sie verweisen auf Emotionen. Die Emotionen zu identifizieren, ist meines Erachtens nicht Aufgabe der mediävistischen Geschichtswissenschaft; vielmehr will ich untersuchen, wie in unterschiedlichen Deutungen die Begriffe in die Sprache der Macht eindrangen.

10

Einleitung: Die Semantik der Politik und der Emotionen

Es soll gezeigt werden, wie Verständigungen mittels von Begründungen geschaffen wurden, um die Herrschaft langfristig einsichtig zu machen, aber auch umgekehrt um ihr Legitimität vorzuenthalten. Dem mäandernden Strom von Rechtfertigungen und Kritiken, von Handlungsbegründungen und Handlungsbelehrungen, von Ursachenforschungen und Folgeabschätzungen und von widersprüchlichen Urteilen, die im Mittelalter zur Verbindung von Liebe und Schrecken mit der Herrschaft vorgenommen wurden, gilt es zu folgen. Kontinuitäten und Abbrüche sollen gesucht und untersucht werden. Wie formten die Begriffe von Liebe und Schrecken und die in ihnen enthaltenen Vorstellungen die Herrschaft? Wie bedienten sich die Herrscher dieser Vorstellungen? Wie sollten sie Liebe empfinden und verbreiten? Ob und wie sollten sie den Schrecken ausüben? Wie wurde, auf der Basis von Liebe und Schrecken, die Praxis der Herrschaft kritisiert? Wurde sie mitunter auch entwertet? Erfassten Liebe und Schrecken mehr als nur Personen und deuteten sie auch die Institution der Herrschaft selbst? Aus den Wörtern erwuchsen Taten und aus ihnen Zustände. Die Perpetuierung der Macht, die zur Herrschaft führt, bedarf starker Ursachen, die nicht als selbstverständlich vorausgesetzt werden sollten, sondern – da es um Beziehungen von Menschen geht – Begründungen verlangten, die nur mittels sprachlicher Verständigungen möglich sind, die jenseits von Notwendigkeit Bereitschaft vorstellten, um Unterordnung unter die Herrschaft zu erreichen. Allein mit Regeln und Gesetzen war ein Staat nicht zusammenzuhalten, eine Herrschaft nicht durchzusetzen. Emotionen waren eingesetzt, um den Zusammenhalt der Menschen zu begründen. »Begründung« ist in beiden Bedeutungen gemeint: als Entstehungsgrund und als Rechtfertigungsgrund. Selbst die zunehmende Verselbstständigung einer Lehre von der Politik führte nicht zur Entkoppelung von Herrschaft und Emotion, wohl aber zur Problematisierung der Verbindung seit dem 13. Jahrhundert, was in der Demaskierung von Emotionen als Ergebnis von Manipulationen gipfelte, welche Machiavelli am Beginn des 16. Jahrhunderts entlarvte und den Herrschern doch zugleich empfahl. Aber schon vor ihm wurde die Gefährdung individueller Autonomie durch die Oktroyierung einer politisch in Anspruch genommenen und damit verfälschten Liebe erörtert. Den Begriff der Herrschaft erachte ich als unumgängliches Verständigungsmittel, welches – so Steffen Patzold – keineswegs zu einer »Worthülse« abgesunken ist1, vielmehr zu den anerkannten Termini der Geschichtswissenschaft gehört, interdisziplinär anschlussfähig ist und in der Sprache der mittelalterlichen Quellen (dominatio, dominium, potestas, principatus u. a.) artikuliert

1 Patzold, Bischöfe, S. 139.

Namen, Gründe und Rechtfertigungen

11

wurde.2 Die enge Verbindung der Wortfelder von Herrschaft und Macht ist in der Weise zu entflechten, dass erst die Verstetigung der Macht durch die Einrichtung von Institutionen, d. h. durch repetitive und regelhafte Abläufe von Handlungen, Herrschaft hervorbringt. »Alle Begriffe, in denen sich ein ganzer Prozess semiotisch zusammenfasst, entziehen sich der Definition; definierbar ist nur das, was keine Geschichte hat.« Dieses Zitat von Friedrich Nietsche hat Reinhart Kosseleck als Leitfaden einer begriffsgeschichtlichen Forschung vorgestellt, die auf die Dynamik und Evolution von Begriffen und ihrer Verwendungen zielt.3 Trotzdem sei eine vorläufige Klärung der Begriffe vorangestellt, ohne sie in eine definitorische Starrheit einzuzwängen, da ja im Folgenden sowohl polemische Gegenüberstellungen als auch zeitliche Veränderungen untersucht werden sollen. Liebe soll als eine Disposition verstanden werden, die eine enge Verbundenheit zwischen Personen ersehnt und erlangt, ohne in jedem Fall einen Nutzen anzustreben. Liebe ist mehr als ein kurzes Gefühl.4 Sie kann auch ein andauernder Zustand sein. Außerdem verweist Liebe auf eine Relation, übersteigt daher die individuelle Verfasstheit, ohne eine Gegenseitigkeit der Liebe vorauszusetzen, wenn das Objekt der Liebe erst durch sie selbst ihren Wert gewinnt.5 Liebe schafft Abhängigkeit. So kann sie für die Herrschaft nützlich sein. Die Liebe, gerade wenn sie für die Herrschaft eingesetzt werden soll, sprengt die Subjektivität und wird als objektive, ja mitunter anthropologisch fundierte Motivierung deklariert. Die Motivierung der Liebe entspringt aus vielen – auch im Widerspruch zueinander stehenden – Quellen, wie dies auch im mittelalterlichen Verständnis wahrgenommen wurde: Sie ist sexuell angestoßen; sie ist spontan hervorgerufen; sie erwächst aus der Sorge um den Anderen; sie ist das Ergebnis einer Pflicht; sie tritt vernunftwidrig hervor; sie wird von der Vernunft vorausgesetzt; sie folgt einem Ideal; sie lenkt zum Guten; sie lenkt von ihm ab; sie geht von Gott aus und weist auf ihn zurück; sie beruht auf der Freundschaft und bestärkt sie, sie entfaltet sich in der Familie, sie ergreift große Menschengruppen. Die Vieldeutigkeit macht die Liebe potentiell allgegenwärtig, so dass sie auch in Fernbeziehungen ausgreift und in politische Verbände eingebunden werden kann. Und schließlich ist die Liebe – dies gilt für das Mittelalter – eine Tugend, formt also

2 Karl Ubl, Herrschaft, in: Enzyklopädie des Mittelalters, Bd 1, hg v. Gert Melville, Martial Staub, Darmstadt 2008, S. 9–12. 3 Reinhart Koseleck, Begriffsgeschichte, Frankfurt a. M. 2006, S. 365. 4 Auch das französische Wort »amour« lässt sich nicht auf »sentiment« reduzieren; anders Barbara Rosenwein, Emotion Words, in: Le sujet des 8motions au moyen .ge, hg. v. Piroska Nagy, Damien Boquet, Paris 2008, S. 93–106, S. 94. 5 Frankfurt, Gründe, S. 43.

12

Einleitung: Die Semantik der Politik und der Emotionen

normativ das Verhalten.6 Eine Differenzierung nach unterschiedlichen Termini – dilectio, caritas, amor – spiegelt im Mittelalter durchweg keine Unterscheidung des Verstehens wider, vielmehr werden die Wörter oft synonym oder zumindest ohne Trennschärfe verwendet. Dies gilt auch für Augustinus, dessen Auffassung zur Liebe Hannah Arendt in ihrer Dissertationsschrift untersucht hat. Augustinus stellt als gemeinsames Merkmal der Formen der Liebe das Streben vor, das zur Vereinigung mit dem Geliebten drängt, sofern das Streben mit einer gesteigerten Anstrengung und einer unumstößlichen Gewissheit hinsichtlich des Zieles verbunden ist. Liebe wird dargebracht gegenüber Gott, gegenüber Menschen und gegenüber Personengruppen, ja selbst gegenüber Institutionen, wenn ihnen ein besonderer Wert zuerkannt ist. Dieser Wert entspringt aus der Liebe, und die Liebe folgt ihm. Daher ist Liebe sowohl Mittel als auch Zweck.7 Sie umschließt das Ergebnis und die Motivierung des Handelns.8 Die Texte von Augustinus formten das Verständnis im Mittelalter, schlossen aber weder Vieldeutigkeit noch Widersprüchlichkeit aus. Fern, eine anthropologische Konstante in der Liebe voraussetzen zu wollen, soll in der folgenden Untersuchung vielmehr eine Konkretisierung der Liebe bei ihrer Einbindung in die Begründung der Herrschaft während des Mittelalters versucht werden. Die Polysemie des Begriffs, die Polymorphie der Deutung und die Multifunktionalität der Verwendung sollen dabei kenntlich werden. Liebe ergreift den Menschen oft unvorbereitet, sie wird willkürlich gewährt. Deswegen ist sie für das Einwirken von Herrschern geeignet, denen keine Ansprüche der Untertanen auferlegt sein sollen, sondern die selbstwirksam handeln, die Selbstwirksamkeit den Untertanen aber entziehen. Der Schrecken führt noch stärker zum Verlust der Selbstwirksamkeit. Das Wort Schrecken meint Bedrohungen, die nicht stets realisiert, aber durch die Möglichkeit ihres Einwirkens beständig gehalten werden – und dies unberechenbar, nicht planbar durch diejenigen, die die Gewalt erdulden. Ihnen ist das Zutrauen in die Vernünftigkeit und Vorhersehbarkeit künftigen Geschicks verwehrt. Der Schrecken ist zunächst ein Gefühl. Cicero subsumiert ihn unter den Gefühlen, die die Menschen vom vernünftigen Handeln abhalten, ihm seine autonome Handlungsfähigkeit rauben.9 Wenn der Schrecken eingesetzt wird, um Herrschaft durchzusetzen, ist das Gefühl instrumentalisiert, rückt in die Institution der Herrschaft ein. Der Schrecken beruht auf einer Gewalt, die nicht verheimlicht wird. Das deutsche Wort »Gewalt« schließt die Bedeutungen von 6 Jean Porter, Tugend, Teil 5: Mittelalter, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 34, Berlin 2002, S. 186–189. 7 Hannah Arendt, Der Liebesbegriff bei Augustin. Versuch einer Interpretation, Hildesheim etc. 2006; Christoph Horn, Augustinus, München 1995, S. 48–50. 8 Frankfurt, Gründe, S. 46f. 9 Cicero, Tusculanae Disputationes, S. 260.

Namen, Gründe und Rechtfertigungen

13

violentia und potestas ein, denn verweist der erste lateinische Begriff auf die Einwirkung, so der zweite auf das Ergebnis, beide aber auf ein Konglomerat von Handlungen und Handlungsdeutungen, die beiden auch Rechtfertigungen zuführen. Wird der Schrecken auch noch verstetigt, die die violentia hervorruft, damit die potestas entsteht, nähert er sich dem an, was heute als »Terror« bezeichnet ist. Es ist eine gelebte Furcht, die der Schrecken hervorruft, weil er auch dann wirkt, wenn nicht beständig Gewalt ausgeübt wird und in den Dienst der Herrschaft gestellt ist.10 Nicht der Einsatz von Schrecken, der tatsächlich oder angeblich gegen die Herrschaft gerichtet ist, nicht einer, der primär religiöse Ziele verfolgt11, soll im Folgenden untersucht werden, sondern ein Schrecken, den die Herrscher zur Erringung und Bewahrung ihrer Herrschaft ausüben. Ein solcher Schrecken, den ich als Herrschaftsterror bezeichnen möchte, impliziert eine Gewalt, die eingefroren verharrt, aber stets aktualisiert werden kann und drohend auf den Menschen lastet. Aber weil der Schrecken nicht beständig in Akte mündet, beständig aber deren Potentialität aufrechterhält und so langfristig besteht, bedarf er der Repräsentation durch Zeichen. Sprache macht den Schrecken permanent. Herrschaft im Mittelalter operierte durchweg mit dem Schrecken und mit der Sprache des Schreckens. Er war verfestigt, klammerte an der Herrschaft, kennzeichnete sie. Dies wurde meist nicht einmal verheimlicht, wie die folgende Untersuchung zeigen wird. Das Wort Terror werde ich daher ausdrücklich in der auch heute nicht unähnlichen Verwendung verwenden, nämlich als ein Instrument einer systematischen, politisch intendierten und Macht generierenden Einwirkung, die auf die Veränderung von Handlungsbereitschaften der vom Terror betroffenen Menschen abzielt. Das Wort Terror ist gerechtfertigt und ist nicht anachronistisch gebraucht, weil es – auch wenn es um mittelalterliche Verhältnisse geht – die politische Verwendung in den Begriff einschließt, wohingegen der Begriff des Schreckens mehr auf psychische Zustände verweist, die vereinzelt auftreten und dem individuellen Erleben, weniger der Institution verbunden sind. Wenn im Folgenden beide Wörter – Schrecken und Terror – verwendet werden, dann um diese Unterscheidung wiederzugeben. Das Sprechen von Schrecken und Liebe eignet sich, Macht und Herrschaft zu begründen, d. h. im wörtlichen Sinne mit Gründen zu versehen, um ein Ausgeliefertsein gegenüber unbestimmbaren Einwirkungen der Mächtigen und der Herrscher vorzustellen. In einer »Überlebensgesellschaft«, in der das Sterben die Menschen in jedem Lebensalter, und besonders die Neugeborenen und 10 Martin Hartmann, Die Praxis des Vertrauens, Frankfurt a. M. 2011, S. 83. 11 Der christlich motivierte Terror, der auch zum eigenen Leiden, zum Martyrium bereit ist, ist von Buc, Heiliger Krieg, bes. S. 121–161 untersucht.

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Einleitung: Die Semantik der Politik und der Emotionen

Kinder heimsuchte, war die Bedrohung des Lebens allgegenwärtig und machte die Erwartung auf eine selbstwirksame Lebensgestaltung hinfällig. Das Ausgeliefertsein an unvorhersehbare Einwirkungen war durchgehend vorhanden und machte auch die Einwirkungen durch das willkürliche Handeln der Herrscher selbstverständlich. Aus den arbiträr zugefügten emotionalen Impulsen mussten aber mehr als nur ephemere, sondern permanente Wirkungen entspringen, um ein Verstehen und Akzeptieren von Macht zu ermöglichen. Ein nicht aufgelöster Widerspruch von gelenkten Erwartungen einerseits und unvorhersehbaren Entstehungen und Auswirkungen andererseits lastete auf dem Handeln und ihren Deutungen. All denjenigen, die der Herrschaft unterstanden, Liebe zu erweisen und von ihnen zu erlangen, war ebenso unmöglich, wie alle mit Gewalt zu bezwingen, war doch der unmittelbare Kontakt zu allen ausgeschlossen. Umso wichtiger war es, die Liebe und den Schrecken in Worte und Sätze zu fassen, so dass aus der Verstetigung des Verstehens und Sprechens über sie Institutionen entstanden, die sie in umgekehrter Bewegungsrichtung und mit großer Reichweite zur Wirkung brachten. Aus der Produktion von Texten entstand die Produktion von Dispositionen. Dass während des Mittelalters »Furcht und Liebe miteinander gepaart waren«, ist von Philippe Buc konstatiert worden, der diese Verbindung für die Religiosität und den Kampf für die als wahr deklarierte christliche Religion untersucht.12 Hier soll diese Paarung, sofern sie für die weltliche Herrschaft eingesetzt wurde, überprüft werden. Das Vorhaben, den Einsatz von Liebe und Schrecken für die Zwecke der Herrschaft zu untersuchen, entspringt einer Feststellung des Ungenügens. Denn die traditionelle Verfassungsgeschichte vermag die Wirkung von Macht nicht hinreichend zu erklären. Erst die Erfassung von Verhaltensdispositionen, von Ritualisierungen, von Deutungsangeboten und Deutungsakzeptanzen, von symbolischen Performationen und von Veränderungen, von Übertretungen, Vernachlässigungen und Störungen von Normen, die nicht allein rechtlich geformt sind, öffnet sich ein Zugang des Verstehens, wie Macht funktioniert. Dabei sind die Verfassungsgeschichte und die Rechtsgeschichte keineswegs obsolet geworden, werden aber zu Bestandteilen einer umfassenden, als anthropologisch begründeten und bezeichneten Geschichtswissenschaft, in dem Sinne, dass Dispositive untersucht werden, die dank Akzeptanz, Normierung und Permanenz Handlungen und ihre Berechtigung formen.13 Wenn in diesem Buch die sprachlichen Repräsentationen untersucht werden sollen, dann nicht um eine ideologische Verfälschung von sozialen Realitäten zu demaskieren, sondern um zu zeigen, wie ein Agieren mit sprachlichen Äußerungen die soziale Realität herstellt. Ohne argumentative Begründung der Praxis 12 Buc, Heiliger Krieg, S. 224. 13 Simon Lemoine, Le sujet dans les dispositifs du pouvoir, Rennes 2013.

Namen, Gründe und Rechtfertigungen

15

kann Herrschaft keine Legitimität und folglich keine Loyalität gewinnen. Die Begründung verlangt ein Operieren mit Sprechweisen und Argumentationen, die gewiss nicht widerspruchsfrei und gewiss nicht ohne Kontroversen auskommen, aber doch auf Kooperationen, seien sie als erzwungen oder als spontan vorgestellt, zielen oder doch zu zielen behaupten. Die Selbstwahrnehmung vergangener Gesellschaftsformen soll für deren Analyse den Ausgangspunkt darstellen14, denn die Selbstwahrnehmung ist für den Historiker ja nicht nur die Eingangspforte für die Untersuchung einer dahinter stehenden Realität, sondern ist Teil der Realität selbst. Ideen stiften nicht nur Sinn, sie stiften auch die Wirklichkeit. Denn Menschen gestalten ihr Zusammenleben durch die Zusammenstellung von Bedeutungen. Die Folge ist: Zielgerichtete Akte dringen in die Semantik der sozialen Beziehungen ein. Sprache deutet nicht allein das soziale Faktum, sondern erschafft es. Den Satz will ich indes nicht in der Weise verstanden wissen, dass die Totalität der Wirklichkeit nichts anderes wäre als das, was die Sprechenden mittels des Sprechens erfinden und hervorbringen. Dass jenseits des Sprechens eine Realität besteht, kann vernünftigerweise nicht geleugnet werden. Aber ihr Band zu den Menschen wird geknüpft durch das Sprechen.15 So entsteht auch die Praxis der Macht und der Herrschaft. Was Wolfram Drews als »Kulturgeschichte des Politischen« bezeichnet, schließt neben den »Praxisformen« und Symbolen auch die Wissensbestände ein.16 Konkreter gefasst ist die Aufforderung von Jacques Le Goff, dass »besondere Aufmerksamkeit auf die Untersuchung der diversen semiologischen Systeme des Politischen zu richten« sei.17 Dieser Aufforderung sollen die Überlegungen dieses Buches folgen. Die Überlegungen dieses Buches fußen auf denen der Vergangenheit. Die mittelalterlichen Zeitgenossen widmeten sich der Suche nach einem sozialen Band, das das zusammenfügt und zusammenhält, was tatsächlich oder angeblich zusammengehört. Sie stellten Fragen nach der Beschaffenheit, der Ursache und der Berechtigung dieses Bandes; deren Antworten stifteten einen Sinnzusam14 Knut Görich stellt die Validität von vergangenen Deutungen für die wissenschaftliche Erforschung der gedeuteten Wirklichkeit in Frage, belässt es aber bei einer Vermutung; Knut Görich, Neue Bücher zum hochmittelalterlichen Königtum, in: HZ 275 (2002), S.105–125, S. 125. 15 Eine weitausgreifende Problematisierung soll hier nicht geboten werden. Es geht allein um die Berechtigung der Fragestellung der vorliegenden Untersuchung. Zur Vertiefung siehe die klassisch gewordenen Texte: Peter Berger, Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissensoziologie, Frankfurt a. M. 1972; John R. Stearle, The Construction of Social Realitiy, London 1996, S. 4–7; Ders., Making of the Social World, Oxford, New York 2010, S. 10–15. 16 Drews, Monarchische Herrschaftsformen, S. 245f. 17 Jacques Le Goff, Vers l’anthrologie politique. L’histoire politique est-elle toujours l’8pine dorsale de l’histoire?, in: Ders., Un autre moyen .ge, Paris 1985, S. 753–770, S. 769.

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Einleitung: Die Semantik der Politik und der Emotionen

menhang, der nicht nur eine nachträgliche oder gar verfälschende oder imaginäre Deutung formte18, sondern als Voraussetzung von sozialen und politischen Aktionseinheiten wirkte. Diejenigen die fragten und antworteten, waren sowohl Praktiker als auch Theoretiker der Macht im Mittelalter. Ihr Suchen und ihre Überlegungen leiten auch die Suche und die Überlegungen, die ich in der vorliegenden Untersuchung verfolgen will. Pfade des Argumentierens und Praktizierens von Vorstellungen sollen untersucht werden, ohne dass die Gesamtheit aller Wege, aller Verzweigungen, aller von ihnen durchzogenen Regionen erfasst werden kann.

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Wirksamkeiten und Einflüsse des Handelns zu gewinnen, werden üblicherweise in der Geschichtswissenschaft als Beweggründe und als Ziele des politischen Handelns ausgegeben, welches zu konfliktreichen Ereignissen führt, die in ihrer Bewegtheit zu den bevorzugten Gegenständen der geschichtlichen Erzählung und ebenso der Geschichtswissenschaft gehören und dies seit ihren Anfängen. Aber wie die Handlungen motiviert werden, wie über sie geurteilt wird, wie ihre Auswirkungen akzeptiert oder verworfen werden, welche Überlegungen über sie bestehen, wie sie gerechtfertigt sind, sind offenbar Fragen, deren Beantwortung durch häufig unreflektierte Selbstverständlichkeiten erstickt wird. Eine Verwunderung steht am Anfang der folgenden Überlegungen. Wie kann eine ungleiche Verteilung von Gütern und von Gestaltungsmöglichkeiten entstehen, welche sich nicht durch individuelle Leistungen erklären läßt? Wie entstehen und wie verändern sich soziale Beziehungen, die nicht aus Versuchen der Verbesserung von Lebensumständen entspringen? Wieso führen die zerstörerischen Wirkungen eines Kampfes um die Macht zu beständigen Verfasstheiten des Zusammenlebens? Die Fragen verlangen Antworten, weil Herrschaft mit dem bequemen Hinweis auf das stets Unvermeidliche oder allzu Menschliche oder immer schon Vorhandene oder Zwangsläufige nicht einleuchtend erklärt ist, vielmehr auch im Mittelalter Erklärungen verlangte. Institutionen, auch die der Macht und der Herrschaft, sind Muster von Beziehungen von Menschen, und sie sind deren Standardisierungen, was nichts anderes heißt, dass sie begrifflich geformt und gefasst sind. Die Wiederholungen von Akten allein vermögen die Standardisierungen nicht zu erzeugen; sie sind mit Plausibilitäten und mit Normen verknüpft – sowohl hinsichtlich der Entstehung als auch der Versteti18 Das Konzept des Imaginaire, das den Untersuchunen von Jacques Le Goff (L’imaginaire m8di8val, Paris 1985) zugrunde liegt, ist durch die deutsche Übersetzung noch weiter ins Irreale gezogen worden (Phantastik und Realität des Mittelalters, Stuttgart 1990).

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gung – und daher mit Bedeutung aufgeladen. Diese müssen in Sprache gegossen werden. Die Auffassung, die Herrschaft erstrebe und ermögliche eine Mehrung des Nutzens oder doch zumindest eine Eindämmung von Schäden für viele oder gar alle, setze Arbeitsteilungen voraus und mache Unterschiede der Handlungswirksamkeit unumgänglich, ist dem Widerspruch ausgesetzt, dass gerade die Macht und der Kampf, sie zu erringen und zu verteidigen, Nutzen und Wohl für viele verhindern. Ja nicht einmal der Anspruch, der Nutzenmehrung zu dienen, muss stets bestehen, um Macht zu erringen, durchzusetzen und zu rechtfertigen. Die Annahme, die Unterwerfung unter die Mächtigen sei notwendig, damit eine unvollkommene Menschheit nicht in einen Zustand des Kampfes aller gegen alle verfalle, bietet eine Erklärung, wie sie klassisch Thomas Hobbes im 17. Jahrhundert angesichts der Verheerungen der Religionskriege konzipierte, aber in Modifikationen weiterhin, mitunter unausgesprochen, vertreten wird, ohne dass hinreichend die banale Tatsache gewürdigt wird, dass die Machthaber nicht minder den anthropologischen Bedingungen unterliegen und deren »wölfische Natur« nicht weniger geeignet ist, Zerstörung und Tod über die Menschen zu bringen. Wenn nur die Monopolisierung legitimer Gewaltanwendung und die extreme Steigerung der Gewalt durch die staatliche Organisation geeignet wären, die Gewalt einzudämmen, ist dies offensichtlich paradox, verhindert aber faktisch nicht die Forderung, die Gewalt zu konzentrieren. Diese bedarf starker Mittel. Hobbes hat explizit den Schrecken als solch ein Mittel vorgesehen: Den »terror of legal punishment« exekutiere der Herrscher willkürlich, trotz der Berufung auf die Gesetze und trotz der Mahnung, sich nicht von Rache und Zorn leiten zu lassen. Furcht solle den Untertanen eingeflößt werden, damit er sich dem Staat, der für seine Sicherheit sorge, unterwerfe. Auch wenn Hobbes annimmt, der Schrecken sei dem Staat eigentümlich, ihm notwendigerweise zugeordnet, ja werde im engsten Sinne zum beständig drohenden Terror, also ein essentieller Bestandteil des Staates, erachtet Hobbes ihn doch als nicht hinreichend für den Vollzug des Gehorsams, weil die durch Furcht und Schrecken erzwungene Unterwerfung zum Widerstand reize und zum Ruin der Herrschaft führen könne. Zuneigungen müssten – so Hobbes – gleichfalls angeboten und geweckt werden.19 Eine Doppelung emotionaler Motivierung soll die Herrschaft stützen.

19 Thomas Hobbes, Leviathan, hg. v. G. A. J. Roger, Karl Schuhmann, Bristol 2003, ch. 40, S. 165, 275; George Wright, Religion, Politics and Thomas Hobbes, Dordrecht 2006, S. 302f.; Herfried Münkler, Thomas Hobbes, Frankfurt a. M. 2001, passim; die Formulierung bei Hobbes zum Terror falsch gedeutet u. a. bei: Heinz Duthel, »Unser Auftrag ist es Menschen zu töten«, München 2014, S. 100; Thomas Lau, Soziabilität und Sicherheit. Die Hobbes-Rezeption in England und im Alten Reich in: Der sterbliche Gott. Thomas Hobbes’ Lehre von der Allmacht

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Viele mittelalterliche Theoretiker und Praktiker der Herrschaft argumentierten hinsichtlich der Notwendigkeit der ungleichen Verteilung der Gewalt und ihrer emotionalen Fundierung ähnlich, einige waren noch eindeutiger : Sie meinten, dass beide, die Liebe und der Schrecken, nicht nur notwendig für die Herrschaft seien, sie nicht nur sie begründeten und formten, sondern sie mahnten die Herrscher zu der Ausübung von beiden, konzipierten die Verbreitung von Schrecken als moralisches Gebot nicht minder als die Gewährung von Liebe. Aber es gab auch die Auffassung, Herrschaft müsse wegen des ihr eigentümlichen Schreckens als den Menschen schädlich angesehen werden, besonders dann, wenn der Schrecken die Liebe aus der Herrschaftsausübung verdränge. Die Kombination von Liebe und Schrecken war sowohl Argument für die Negation herrschaftlicher Legitimität als auch für deren Affirmation und Normierung. Den Herrschern wurden im Mittelalter Gerechtigkeitsvorstellungen und Erwartungen auferlegt; ihnen sei aufgetragen, einen Nutzen für die Untertanen herbeizuführen. Das führte zur Frage, welche Motive die Herrscher anleiteten. Inwieweit Freundschaft, Zuneigung und gar Liebe Nutzengemeinschaft begründeten und diese Nutzengemeinschaft der Herrschaft bedürfe, wurde erörtert. Es blieb aber – und bleibt offenbar bis heute – das Problem ungelöst, das Otfried Höffe als das »Hauptproblem der politischen Philosophie« bezeichnet, nämlich die Begründung von Prinzipien der politischen Gerechtigkeit, die von der politischen Effizienz abzulösen, nicht möglich erscheint.20 Das Problem ist indes mehr als ein philosophisch-ethisches, denn Begründungen zur politischen Organisation anzubieten, war und ist unerlässlich, um die Legitimität der politischen Verfassung und um die Loyalität der im politischen Verband Agierenden zu erreichen, also aus der Theorie die Praxis entstehen zu lassen, damit Herrschaft überhaupt erst funktionieren kann, und umgekehrt die Praxis an eine Theorie anzukoppeln, damit jene akzeptabel wird. Das Einwirken der Herrscher, sei es fürsorglich oder abschreckend, kann nicht ausschließlich in einer Faktizität von Akten bestehen, sondern bedarf einer langfristigen Bereitschaft, Handlungen nach den Vorgaben der Herrschaft zu erbringen. Diese Bereitschaft erfordert einen Begründungszusammenhang, weil erst er es ist, der zu Handlungen treibt, Personen motiviert, das Tun mit Bedeutung anreichert, ihm Nützlichkeit zuweist, sie als notwendig oder gar als alternativlos ausgibt, sie also in ein Ordnungsgefüge bindet, das als Institution bezeichnet werden kann und die Herrschaft zur Existenz und Effizienz bringt. So ist der Übergang von ephemerer Macht zu stabiler Herrschaft zu erreichen. Die bekannte Diktion von des Leviathan im Spiegel der Zeit (Staatsverständnisse 98), Baden-Baden 2017, S. 37–57, S. 41. 20 Höffe, Ethik, S. 195.

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Max Weber, dass Macht als jede Chance definiert ist, den eigenen Willen anderen aufzuzwingen, fokussiert auf Wirkungen. Den aktiven Part weist Weber allein den Mächtigen zu; passiv verhalten sich diejenigen, die sich der Macht fügen. Geringfügig anders als Macht definiert Max Weber Herrschaft, nämlich als Chance, für einen Befehl Gehorsam zu finden. Bei dieser Definition sind es mehr die Beherrschten, die die Herrschaft zur Wirkung bringen, ohne dass aber ausgeführt wird, wie sie es tun. Die beiden Definitionen haben gemein, dass sie die Handlungsbereitschaft voraussetzen, die man als Gehorsam bezeichnen kann. Soweit Weber auf Gründe für die Entstehung von Herrschaft eingeht, verweist er auf Legitimationen, die er als charismatisch begründet oder als institutionell abgestützt erklärt. Herrschaft sieht Weber aber auch als das Ergebnis von Zwang an, der gegen Widerstreben durchgesetzt wird, und erachtet die Möglichkeit, eine freiwillige Verständigung der beteiligten Menschen zu erreichen, nur als subsidiäre, letztlich illusionäre Alternative zur Gewalt, die sich gegen die Beherrschten richtet.21 Dagegen ist einzuwenden, dass, weil Herrschaft erst dann gelingt, wenn der Herrscher durch das Handeln der Anderen handelt, die Expansion des Willensaktes von einer sozialen Praxis abhängig ist, die nicht tautologisch als Exekution des Gewollten funktioniert, sondern von vielen Beteiligten Akzeptanz hinsichtlich der Berechtigung des Willens verlangt, also mehr als Handeln, sondern auch Denken und Empfinden aufruft, weil nur so Erwartungen stabilisiert, Handeln perpetuiert und Institutionen etabliert werden können.22 Macht ist die Verfügung von Gewalt, die mehr ist als eine Aktion, die unmittelbar auf den Körper zielt, sondern eine Aktion, die Akteure in ihr Aktionsfeld einweist oder sie aus ihnen entfernt. Macht besteht eben nicht nur im Gebrauch der materiellen Mittel, die zur Verfügung stehen, um anderen den Willen des Mächtigen aufzuzwingen, sondern beruht auch auf Hoffnungen und Befürchtungen, die darauf gerichtet sind, dass diese Mittel eingesetzt werden. Diese Erwartungen hervorzurufen, ist nicht nur ein Annex der Herrschaft, sondern Teil ihrer Definition. Herrschaft soll also verstanden werden als ein Komplex von Erwartungen und Einwirkungen, die den Willen des Herrschers als Auslöser von Handlungen einsetzen. Kommunikation war und ist daher unerlässlich, weil sie die Voraussetzung ist, dass die hypertrophe Ausdehnung der Befehle des Herrschers wirksam werden kann und zu Handlungen seitens der Untergebenen führt. Die Kommunikation beschränkt sich nicht auf Befehle und auf die Bekundung des Ge21 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 1985, Teil 1, S. 28f.; Michael Bader, Max Webers Begriff der Legitimität. Versuch einer systematisch-kritischen Rekonstruktion, in: Max Weber heute. Erträge und Probleme der Forschung, hg. v. Johannes Weiss, Frankfurt a. M. 1989, S. 296–334; Max Webers Herrschaftssoziologie. Studien zur Entstehung und Wirkung, hg. v. Edith Hanke, Wolfgang J. Mommsen, Tübingen 2001. 22 Martin Hartmann, Die Praxis des Vertrauens, Frankfurt a. M. 2011, S. 82f.

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horsams; sie erzeugt Üblichkeiten und beruht auf ihnen, die der zumindest sporadischen Rechtfertigung bedürfen, um realisiert zu werden. Ob die Wiederholung von Praktiken ausreichend ist, ist folglich zweifelhaft. Auch die Ritualisierung von nicht-sprachlichen Akten23 allein vermag das Bedürfnis nach Verständigung nicht zu erfüllen, insofern sie einer Deutung bedürfen, die wiederum auf Sprache verweist. Die Hoffnung, Rituale würden die Mentalitäten offenbaren, wie sie Peter Burke hegte24, stößt an die Grenze des Sagbaren und Gesagten. Besonders für die mediävistische Forschung gibt es das Problem, dass die Rituale nicht unvorgreiflich vorliegen, sondern erst dank einer Text- oder auch Bildproduktion der Analyse zugänglich sind.25 Ein weiteres Argument, das die Begrenztheit von Ritualen erweist, liegt darin, dass sie Anwesenheit erfordern, so dass die Performanz des Ritus die Expansion der Aktion räumlich und zeitlich limitiert, sofern nicht medial, also durch Bilder und Texte, eine solche Ausdehnung geschaffen ist. Daher gilt: Die sprachlichen Vergewisserungen und Deutungen der mittelalterlichen Zeitgenossen sind die Eingangstore für die Wissenschaft, um Kenntnisse von Praktiken zu gewinnen, und mehr noch sind sie Instrumente, mit denen im Mittelalter Fernwirkung erzielt wurde, ohne die Herrschaft nicht zur Geltung hätte kommen können. Dies gilt nicht nur für das Mittelalter. Die Akzeptanz von Regeln sei, wie David Beetham meinte, notwendig vorauszusetzen bei Herrschern wie bei Beherrschten. Damit die Legitimität der Regeln begründet werden kann, müssten »Werte« vorgestellt werden, die akzeptierte und oktroyierte Gewissheiten und moralische Gebote implizieren. Die »Werte« könnten zwar in Frage gestellt werden, deren Geltung müsse aber repariert werden können, was durch Zwang und hegemoniale Deutung erreicht wird, damit das gesichert wird, was Beetham als Herrschaft definiert. Herrschaft bedeutet, die Bandbreite des Entscheidens und Gestaltens der Beherrschten durch das Handeln der Mächtigen einzuschränken; und diese Einschränkung gilt es, als Resultat der »Werte« selbst erscheinen zu lassen.26 Um vernünftig über »Werte« sprechen zu können, sei ein 23 Althoff, Rituale; Ders., Macht der Rituale; Erika Fischer-Lichte, Performanz, Inszenierung, Ritual. Zur Klärung kulturwissenschaftlicher Schlüsselbegriffe, in: Geschichtswissenschaft und »performative turn«. Ritual, Inszenierung und Performanz vom Mittelalter bis zur Neuzeit, hg. v. Jürgen Martuschkat, Steffen Patzold (Norm und Struktur. Studien zum sozialen Wandel in Mittelalter und Früher Neuzeit 19), Köln u. a. 2003, S. 33–54. 24 Peter Burke, Varieties of Cultural History Cambridge 1997, S. 14. 25 Philippe Buc, The Dangers of Ritual. Between Early Medieval Texts and Social Scientific Theory, Princeton 2001, S. 8–11, 259f. 26 David Beetham, The Legitimation of Power, Atlantic Highlands 1991, S. 11; Odo Marquard, Über die Unvermeidbarkeit von Üblichkeiten, in: Normen und Geschichte, hg. v. E. Oelmüller (Materialien zur Normendiskussion 3), Paderborn 1979, S. 332–392; Ders., Abschied vom Prinzipiellen, in: Ders., Abschied vom Prinzipiellen. Philosophische Studien, Stuttgart 1981, S. 4–22.

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Rekurs auf die Gesamtheit von Kommunikationen erforderlich, also auf einen »kulturellen Zusammenhang«. Ich möchte darunter die Herstellung von Bedeutungen und ihren Verknüpfungen verstehen, die vorgeblich ihre Willkürlichkeit verlieren und als Notwendigkeit dargeboten sind, deren gesellschaftlich vermittelte Entstehung hinter dem Schleier scheinbarer Unverrückbarkeit verborgen bleibt und bleiben soll, um ihre Funktion zur Verstetigung von Macht zu erfüllen. Ähnlich Pierre Felix Bourdieu: Er definiert die »symbolische Gewalt« als das Mittel, um Bedeutungen zu oktroyieren, aber in der Weise, dass die konkreten Inhalte undeutlich gehalten werden, um die Interessen zu verbergen, so dass die sprachlichen Oberflächen-Formationen auf die Beherrschten einwirken, um ihnen ihre Unterwerfung akzeptabel zu machen. Die Gewalt, die Bourdieu als »symbolisch« bezeichnet, hält er für eine »sanfte Gewalt«, denn sie wirkt, ohne dass sie sich in Angriffen entlädt.27 Meine Kritik an dieser Theorie besteht erstens darin, dass die Wirksamkeit der »symbolischen Gewalt« sich keineswegs im Symbolischen erschöpft, sondern einer glaubhaft gehaltenen Bereitschaft zur Gewaltanwendung bedarf, die durch das zumindest sporadische Gewalthandeln erreicht wird. Desweiteren meine ich, dass das Konglomerat von Bedeutungen keineswegs so hermetisch, wie von Bourdieu angegeben, war und ist (was es ja auch gar nicht sein kann, sonst wäre deren Demaskierung durch ihn erstens nicht möglich und zweitens entgegen seiner Absicht nicht aufklärerisch für die Machtlosen), sondern bei seiner praktischen Aktivierung zugunsten der Herrschaft einem Aushandlung- und Interpretationsprozess offenstand, der durchaus im Konflikt ausgestaltet sein konnte, was ein Hinaustreten aus dem eingegrenzten Herrschaftswissen und ein Abstreifen der auferlegten und selbstverständlichen Deutungen und Bedeutungen voraussetzte – und dies geschah auch während des Mittelalters. Die der symbolischen Gewalt innewohnende Potentialität zur Herrschaft war auch der Potentialität ihrer Zerstörung ausgesetzt. Eindeutige Bedeutungen konnten auch zu einem uneindeutigen Geflecht gewunden werden. Dieses Geflecht, sofern es zäh in der Zeit existierte, soll als »Kultur« bezeichnet sein. Kultur erscheint als das »Unvergängliche, das der Mensch hervorbringt und hinterlässt«, wie Hans Blumenberg formuliert. Er weist auf die Wirksamkeit von latenten Dispositionen jenseits des Individuellen und unabhängig von kurzfristigen Opportunitätsgewinnen.28 27 Pierre Bourdieu, La domination masculine, Paris 1997; Ders., Sozialer Sinn, Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt a. M. 1998, S. 223–242; Gert Melville, Institutionen als gesellschaftliches Thema. Eine Einleitung, in: Institutionen und Geschichte. Theoretische Aspekte mittelalterlicher Befunde, hg. v. dems. (Norm und Struktur. Studien zum sozialen Wandel in Mittelalter und Früher Neuzeit 1), Köln u. a. 1992, S. 1–23, S. 4–9; Michael Hirsch Rüdiger Voigt, Symbolische Gewalt. Politik, Macht und Staat bei Pierre Bourdieu, BadenBaden 2017, S. 163–166. 28 Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, Frankfurt 1979, S. 106f.

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Die Akte, die Verstehen produzieren, sind nicht Teil eines Überbaus, der sich über das, was als die eigentlichen Realien verstanden wird, wölbt, sie sind die Realien selbst. Intertextualität ist folglich nicht allein ein literarisches Verfahren, sie wird zu einem sozialen Verfahren. Die Bedeutungen, die mit sozialen Konstellationen verbunden sind, werden effektiv, indem sie die Dichotomie von Ideal und Wirklichkeit, von Theorie und Praxis, von Handeln und Deuten sprengen und zu Absichten und Ausführungen von Taten gelangen, diese also nicht erst nachträglich interpretieren, sondern vorausschauend formen. Die politische Semantik, die untersucht werden soll, ist eine, die soziale Beziehungen herstellt, nicht allein widerspiegelt. Begriffsgeschichte soll folglich einer Vorstellungsgeschichte subsumiert werden, die Handeln in sozialen Bezügen initialisiert. Sie ist den dogmata, wie es Reinhart Koseleck formulierte29, und ebenso den pragmata verbunden, so dass der Gegensatz zwischen beiden aufgelöst werden soll, insofern die Semantik nicht nur auf die Praxis der von ihr bezeichneten Sachverhalte einwirkt, sie vielmehr die Praxis ist. Koselleck, der bekanntlich Sprache als Macht-, ja als Kampfmittel erachtete, hat den utilitären Charakter des Sprechhandeln deutlich herausgestellt. Dabei wird die Permeabilität von Begriffen zu berücksichtigen sein, die eine Voraussetzung darstellt, um die Wirksamkeit des Sprechens in unterschiedlichen politischen Bedingungen aufrechtzuerhalten und um die Beständigkeit von Wertvorstellungen vor den wechselnden Opportunitäten und vor dem Zerfall durch Kritik zu retten.30 Nicht hinter die Sprache zu schauen, sondern auf die Sprache zu schauen, ist das Ziel der vorliegenden Überlegungen. In der ausgehenden Antike hat der Kirchenvater Augustinus die Verbindung von Sprache und Herrschaft deutlich dargestellt: Herrschaft beruhe auf der Sprache, setze voraus, dass die Menschen miteinander sprechen, und noch deutlicher : dominatio imperantis in lingua sit.31 Die Herrschaft soll in der Sprache sein. Wie kann die Prägung von beständigen Erwartungshaltungen und Gehorsamsbereitschaften gegenüber der Macht gelingen? Der amerikanische Soziologe Talcott Parsons stellt vier Arten des Gelingens vor : Überzeugung, Beteiligung an Vorteilen, Setzen von Anreizen und Drohung mit Zwang. Parallel zu dieser Differenzierung ist Macht auch graduell modifiziert.32 Die Überwältigung des Willens der Beherrschten schafft eine Hierarchie von Subjekten aufgrund 29 Reinhart Koselleck, Begriffsgeschichte und Sozialgeschichte, Opladen1972, S. 116–131. 30 Thomas Nicklas, Macht-Politik-Diskurs. Möglichkeiten und Grenzen einer politischen Kulturgeschichte, in: Archiv für Kulturgeschichte 86 (2004), S. 1–25; Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik der geschichtlichen Zeiten, Frankfurt a. M. 1979, S. 10– 126. 31 Augustinus, De civitate Dei, S. 505. 32 Talcott Parsons, On the Concept of Power, in: Ders., Sociology Theory and Modern Society, New York 1967, S. 310f.

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eines Mangels, bzw. einer Steigerung der Durchsetzungsfähigkeit des Willens der Akteure. Es muss also eine Brücke der Verständigung zwischen den Mächtigen und den ihnen ausgelieferten Menschen geben. Verständigung über die soziale Organisation, wie sie Hannah Arendt als Wesensmerkmale komplexer menschlicher Beziehungen ansieht33, ist nicht gleichzusetzen mit Einverständnis. Aber dass Macht und Herrschaft nicht ohne die Partizipation der Beherrschten – in welcher Form auch immer – ausgeübt werden können, ist in den Sozialwissenschaften allgemein anerkannt, so dass die von Max Weber eingeführte Definition, die einseitig die Expansion des Willens des Herrschers benennt, überwunden ist. Es wird vielmehr nach den Verfahren zur Erringung und Erbringung von Loyalität gefragt und nach den Interventionen, um den Zerfall der Institutionen abzuwenden. Der hohe Aufwand, um Deutungen von sozialen und politischen Vorgängen zu verstetigen, dient dem Ziel, sie praktikabel zu halten, was bedeutet, dass ein zumindest minimaler Bestand an Kooperationsbereitschaften abrufbar gehalten werden muss, was ich in Variierung einer Formulierung von Arnold Gehlen von der »Innenstabilisierung des Menschen durch Institutionen«, als »Innenstabilisierung der Institutionen durch die Menschen« bezeichne, also als die Summe von Verfahren, die dazu dienen, die Handlungen durch mental bereitgestellte Dispositionen, durch das »Bewusstsein« (so wiederum Gehlen), in institutionell verfestigte Wiederholungen zu überführen.34 Der bei Gehlen durchaus apologetischen Intention hinsichtlich der Macht und der Herrschaft soll in diesem Buch also ein ihnen innewohnendes Defizit, eine Gefährdung ihrer Existenz und Wirkung entgegen gestellt werden, die Verfahren der Kompensation verlangen, damit Macht und Herrschaft bestehen können. Es soll auf kommunikative Verständigungen verwiesen werden, die Kausalitäten zu arbeitsteiligen Funktionen zu erfüllen vorgaben und auf diese Weise prozedurale Ordnungen rationalisierten, indem sie sie aus dem Arbiträren herausnahmen, so dass sie als unausweichlich und – stärker noch – als notwendig erschienen oder doch erscheinen sollten und diese Notwendigkeit mitunter sogar von der Natur des Menschen und damit von seiner emotionalen Grundausstattung ableiteten.35 Diese Art von Begründung hat – über alle Epochen hinweg – eine besonders große Chance, akzeptiert zu werden, wenn soziale Praktiken ethisch aufgeladen werden; sie sind mit Normen anzureichern, die dem Individuum eine Überhöhung des eigenen Selbst vorführen und auf diese Weise einen zumindest minimalen Bestand individueller Autonomie oder doch zumindest eine Illusion 33 Hannah Arendt, Macht und Gewalt, München 1970, S. 45. 34 Arnold Gehlen, Urmensch und Spätkultur, Bonn 1956, S. 47–49, S. 66–73. 35 Jürgen Habermas, Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze, Frankfurt a. M. 2005, S. 27–83; Luhmann, Moral, S. 81–85, S. 209–227.

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von ihr gewähren, sofern nicht eine komplette Überwältigung durch totale Herrschaft durchgesetzt bzw. erduldet wird, oder – in der Diktion von Hannah Arendt – »force« statt »power« installiert wird, also sofern nicht unter Verzicht auf Verständigungen und Gespräche soziale Beziehungen einzig mittels des unmittelbaren Zwangs hergestellt werden, dessen Effizienz aber zweifelhaft und zu langer Wirkung ungeeignet zu sein scheint – oder vielleicht auch nur die Hoffnung besteht, dass dies so wäre.36 Bestrafen, Belohnen, Arbeiten, Abgaben Leisten und ähnliche Tätigkeiten werden erst dann verlässlich erbracht und erduldet, wenn sie einen Gewinn für alle Beteiligten nicht unbedingt verwirklichen, aber doch ihn in Aussicht stellen und am besten dann, wenn sie mentale Dispositionen mobilisieren, die diese Tätigkeiten als Vollzug des jeweils eigenen Anliegens vorstellen und als Entsprechungen eigener Gefühlsregungen imaginieren.37 In aktuellen Forschungen wird aber auch in Erwägung gezogen, die Dekonstruktion von Gesellschaft als Voraussetzung für die Ausübung von Macht anzusehen, ja Macht als das Resultat pathologischen Verhaltens vorzustellen. Der amerikanische Sozialpsychologe Robert Jay Lifton hat – unter den von ihm vorgestellten acht Methoden der Beherrschung – die Festlegung von Begriffen untersucht, die eine Doktrin festlegen, die den auferlegten Verlust individueller Selbstständigkeit als unerlässlich und gar wohltuend ausgibt. Herrschaft setze, so Lifton, die Destruktion der persönlichen Handlungskompetenz bis hin zu ihren psychischen Grundlagen voraus, was zu einer sozial breit angelegten Pathologie der Persönlichkeiten der Untertanen führe.38 Von dem entgegengesetzten Ansatz geht der Soziologie Jean-Pierre Friedman aus, der die Pathologie den Mächtigen anheftet. Macht – so die Quintessenz seiner Ausführungen – ist zwar emotional eingebunden, aber nicht in der Weise, dass Verständigungen über interpersonale Beziehungen geleistet und kompatible Beziehungen geknüpft werden könnten. Vielmehr setzt Macht unweigerlich eine Konkurrenz voraus, für deren Austragung allgemein akzeptierte Regeln ausgeschlossen sind, die vielmehr durch undurchsichtige Verzerrungen ersetzt werden.39 In einer historischen Querschnittsanalyse hat ein kürzlich vorgelegter Sammelband die Pathologien der Macht vorgestellt, die als Abweichungen von Normen gedeutet sind, die als standardisierte Null-Linien des Üblichen vorausgesetzt werden. Indes nicht als »Exzesse«, wie vom Herausgeber Patrick Gilli definiert, sondern als Voraussetzungen einer effizienten Herrschaft sollen hier die im eigentlichen Sinne verstanden Manifestationen des »Pathos«, die sich zu 36 Hannah Arendt, The Human Condition, Chicago 1958, S. 5–7, 96. 37 Luhmann, Moral, S. 13, 231f.; Jürgen Habermas, Zwischen Naturalismus und Religion, Franfurt a. M. 2005, S. 23. 38 Lifton, Thought Reform, passim. 39 Jean-Pierre Friedman, Du pouvoir et des hommes, Paris 2002.

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»Pathologien« ausweiten, verstanden werden.40 Die Ursachen und die Ziele von Macht liegen in diesem Fall außerhalb rationaler Entscheidungen der allseitigen Nutzenoptimierung, selbst der der Mächtigen. Die de-legitimierende Tendenz einer solchen Auffassung, wie sie von Friedmann vertreten wird, ist offensichtlich; sie vermag gegen eine Auffassung zu immunisieren, die die Vernünftigkeit sozialer Beziehungen, sofern sie nur lange Dauer haben und als überwältigend wahrgenommen werden, voraussetzt. Umso drängender bleibt dann aber die Frage, welche Bereitschaften es geben kann, sich auch einer dysfunktionalen, weil a-sozialen Macht zu unterwerfen. Denn nicht eine exzeptionelle Herrschaft der Schlimmsten, eine Kakistokratie, ist erklärungsbedürftig, sondern die Herrschaft selbst. Die auf ihr beruhenden und die sie stützenden Begriffe und ihre Verwendungen sind die Vehikel, mit denen die Kämpfe um die Macht, die nach Pierre Bourdieu stets auch Kämpfe um Ideen sind, ausgefochten werden.41 Ausgehend von den hier skizzierten Überlegungen sollen die sprachlichen Formungen der Herrschaft während des Mittelalters untersucht werden. Dabei steht die Herrschaft in Großformationen, also vor allem die von Kaisern und Königen, im Fokus. Es geht also um die Monarchie. Denn sie war es, die mit der besten Legitimation ausgestattet war und ihrer auch bedurfte, weil sie Fernwirkungen anstrebte und am weitesten die unmittelbare Kommunikation hinter sich ließ. Monarchische Herrschaft verfügte neben den kirchlichen Einrichtungen im Mittelalter über die besten Angebote, Loyalität zu binden, sie weckte die stabilsten Erwartungen, so dass auch Phasen der De-Legitimierung von einzelnen Personen und Dynastien nicht zur grundsätzlichen Negierung der Institution selbst führten. Dies war erstaunlich, da ein unruhiger Fluss von Ereignissen um eine Institution flutete, die immun gegenüber Angriffen auf ihre Existenzberechtigung zu sein schien. Die Stabilität war umso eindrucksvoller, als es an Kritik, ja selbst grundsätzlicher Art, an den monarchischen Herrschern, ja auch an der Monarchie selbst, nicht fehlte und inhärente Fehler der Institution bloßgestellt und verurteilt wurden. Aber die Kritik schmälerte nicht die Existenz. Die Schwäche auch königlicher Gewalt war kompensiert durch langfristige Kooperationsbereitschaften.42 Befehle und mit ihnen korrespondierende Ge40 La pathologie du pouvoir. Vices, crimes et d8lits des gourvernants, hg. v. Patrick Gilli (Studies in Medieval and Reformation Tradition 198), Leiden ua. 2015; Zusammenfassung v, dems: Des mots et des maux. Le pouvoir / travers l’8nonciation de ses excHs. Quelques remarques en forme de conclusion, S. 548–554. 41 Pierre Bourdieu, Das politische Feld. Zur Kritik der politischen Vernunft, Konstanz 2001, S. 51. 42 Gerd Althoff, Beratungen über Gestaltung zeremonieller und ritueller Verfahren im Mittelalter, in: Vormoderne politische Verfahren, hg. v. Barbara Stollberg-Rilinger (ZHF Beiheft 25), Berlin 2001, S. 53–71.

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horsamshandlungen geschahen in einem Verständigungsrahmen, der auf der Vorstellung beruhte, soziale Relationen seien notwendigerweise hierarchisch gestaltet.43 Besser als die Verfügung der Arbeitskraft durch die Grundherrschaft oder durch die Sklaverei, die auch in vielen mittelalterlichen Deutungen als ungerechte Unterjochung verurteilt wurden44, blieb die Akzeptanz der monarchischen Gewalt gewahrt. Sie galt als der Kern des Staates. Gerade weil er mehr als die persönliche Herrschaft bedeutete, erwies er sich als widerstandsfähig gegenüber grundsätzlicher Negation. Damit ist nicht in Abrede gestellt, dass die Ableitung des Staates von patrimonialer Herrschaft ein kräftiger Impuls zu seiner Wirksamkeit war. Aber dass ein Konzept von Staat im Mittelalter, auch im frühen, existierte und deutlich von Hausherrschaft, Grundherrschaft und Adelsherrschaft getrennt war, erscheint insofern evident, als Herrschaft sich auch jenseits persönlicher Nahbeziehungen, auf einen großen Raum, erstreckte, sie Zeiten individueller, lebenszeitlich begrenzter Königsherrschaft überdauerte und sie sich nur mittels sozial akzeptierter und regelhafter Transmissions-Institutionen gestalten ließ, die die Existenz des Staates und auch das Bewusstsein von ihm voraussetzten, selbst bevor das praktische und institutionelle Wissen über ihn verrechtlicht und konzeptionell gefasst wurde und bevor eindeutige Termini zur Bezeichnung des Staates gefunden wurden.45 Die Rede vom »Personenverbandsstaat des Mittelalters«, die einst von Historikern, die eine vorstaatliche Existenzform von Herrschaft behaupteten, formuliert wurde,46 kommt ja ironischerweise nicht ohne die Terminologie des Staates aus, genausowenig wie die Rede vom »modernen Staat« (wann immer er auch angefangen haben mag) die Existenz des »nicht-modernen Staates« ausschließt, was die von Arthur

43 David Luscombe, The Hierarchies in the the Writing of Alan of Lille, William of Auvergne and St Bonaventure, in: Angels in Medieval Philosophical Enquiry. Their function and Significance, hg. v. Isabel Iribarren, Martin Lenz; Aldershot 2008, S. 15–28; David Luscombe, Hierarchy, in: The Cambridge Companion to Medieval Philosophy, hg. v. A. S. McGrade, Cambrigde 2004, S. 60–72. 44 Gadi Algazi, Herrengewalt und Gewalt der Herren im späten Mittelalter. Herrschaft, Gegenseitigkeit und Sprachgebrauch (Historische Studien 17), Frankfurt a. M., New York 1996, S. 88–92. 45 GenHse de l’Etat moderne; Bernhard Jussen, Diskutieren über Könige im vormodernen Europa, in: Die Macht des Königs. Herrschaft in Europa vom Frühmittelalter bis in die Neuzeit, hg. v. dems., München 2005, S. xi–xxiv ; Der frühmittelalterliche Staat. Europäische Perspektiven, hg. v. Walter Pohl, Veronika Wieser, Wien 2009. 46 Otto Brunner, Land und Herrschaft, Grundfragen der territorialen Verfassungsgeschichte Südostdeutschlands im Mittelalter, 5. Aufl., Wien 1965; Theodor Mayer, Die Ausbildung der Grundlagen des modernen deutschen Staaates im hohen Mittelalter, in: HZ 159 (1939), S. 457–487; auf die Implikationen des Konzepts mit der vom dem Nationalsozialismus und mit forcierten Entrechtung und Entrechtlichung soll hier nicht eingegangen werden.

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Benz behauptete Nicht-Existenz des »Staates« in Antike und Mittelalter ad absurdum führt.47

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Die Geschichte der Emotionen zu erforschen, hat Konjunktur. Ein Sonderforschungsbereich am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung widmet sich dem Thema, auf das 20. Jahrhundert konzentriert.48 Auch die Wissenschaften zum Mittelalter bilden Forschungsverbünde. Dabei wird auch der Einsatz von Emotionen für die Herrschaft untersucht.49 Außerhalb dieser Forschungen stehen Schrecken und Liebe. Sie als Bausteine mittelalterlichen Herrschaftsverständnisses einzuführen, soll hier geleistet werden. Texte führten sie während des Mittelalters ein, um Herrschaft zu begründen. Sie verwiesen auf permanente Einwirkungen, Pflichten, Verfehlungen, Merkmale oder Begründungen; sie benannten häufig Tugenden. Wenn Gefühle in Normen eingekleidet wurden und Normen sie voraussetzten, waren sie mehr als die individuellen Regungen, standen sie jenseits der Spontaneität. Sie bildeten die sozial konstruierten und soziale Konstruktionen generierenden Aktionstreiber. Für die neueste Geschichte übertragen, haben Carol Stearns und Peter Stearns deren sozial einwirkende Zusammenführung 1986 als »Emotiology« bezeichnet.50 Die Emotionen scheinen für die Politik im demokratischen Staat der Moderne nicht anwendbar zu sein, weil in ihm eine Fundierung von politischem Handeln auf der Liebe ausgeschlossen ist und Liebe nicht zu den Grundrechten gehört, sondern kommunikative Formen des Interessenausgleichs, Gerechtigkeitskonzepte oder nicht antastbare Menschenrechte als Begründungen und Rechtfertigungen politischen Agierens vorgestellt sind, und noch weniger der Terror akzeptiert werden kann, weil er der von der Vernunft gesteuerten Gestaltung von Verhalten, der persönlichen Autonomie und den unantastbaren Persönlich47 Arthur Benz, Der moderne Staat. Grundlagen der politologischen Analyse, München 2008, S. 11. 48 Ute Frevert ist Leiterin der Forschungsgruppe; ihre jüngste Publikation: Rationalität und Emotionalität im Jahrhundert der Extreme, in: Das 20. Jahrhundert vermessen. Signaturen eines vergangenen Zeitalters, hg. v. Martin Sabrow, Peter Ulrich Weiß, Göttingen 2017, S. 115–140. 49 Das Forschungsprogramm »Les Emotions au moyen .ge« besteht seit 2006 und wird von Damien Bosquet und Piroska Nagy geleitet; es gibt das Forschungsnetzwerk »Cultural History of Emotions in Premodernity« seit 2007, um nur diese beiden, für das Mittelalter relevanten Gruppen zu nennen. 50 Carol Z. Stearns, Peter Stearns, Anger. The Struggle for Emotional Control in America’s History, Chicago.

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Einleitung: Die Semantik der Politik und der Emotionen

keitsrechten widerspricht.51 Emotionen indes aus dem politischen Geschäft auszuschließen, sie nur als rhetorische Tricks zu erachten, geht selbst für die Moderne an der Realität vorbei. Emotionen sind eingepflanzt in die Fundamente des sozialen, ökonomischen und politischen Inter-Agierens, wie dies Eva Illouz in ihrer Untersuchung zum Management der Emotionen in modernen kapitalistischen Organisationen vorgestellt hat. Niklaus Luhmann hat Liebe von den Gefühlen abgelöst und als eine Expansion der Intimität und der Gewohnheiten gedeutet, die Dauerbereitschaft erzeugt, so dass die Liebe in soziale Stabilisierung mündet und damit auch heute politisch eingesetzt werden kann.52 Dies gilt auch – und wohl verstärkt – für das Mittelalter. Die Begriffe von Terror (verstanden als institutionalisierter Schrecken) und Liebe für die Untersuchung der politischen Sprache des Mittelalters zu verwenden riskiert, anachronistischen Kurzschlüssen zu verfallen, wenn das Wort und das Konzept von »Terrorherrschaft«, die zur Kennzeichnung für Zustände der jüngsten Vergangenheit und der Gegenwart dienen53, in die Erörterung mittelalterlicher Befunde einzufließen drohen. Ich versuche, der Gefahr zu entgehen, indem ich auf die Begriffe und Bedeutungen der Quellen verweise, die in einem Neben-, Gegen- und Nacheinander ein facettenreiches Panorama zeichnen, um Verständigungen zur Herrschaft anzubieten, und ich dabei ein semantisches Feld durchsuche, in dem furor, metus, pavor, timor, rigor, severitas, terror und andere Wörter vorgestellt sind, so wie amor, dilectio, caritas, amicitia und weitere Wörter in Verbindung zur Herrschaft treten. Wenn das lateinische Wort terror von mir mit »Terror« wiedergegeben wird, geschieht dies, sofern nicht allein Schrecken, sondern Beständigkeit des Schreckens mit dem Ziel der Machtgewinnung und des Machterhalts gemeint ist, also aus der Emotion in die Institution hineinragt. Im Mittelalter traten Emotionen selten aus Stereotypen heraus und eignen sich schlecht für die Erläuterung individueller und kollektiver Motivierungen, umso besser aber für die Untersuchung von Normen und Ordnungen.54 Auch sich wiederholende Topoi, die das Zeigen von Emotionen beschrieben und es einforderten, haben – gerade weil sie repetitiv waren – einen hohen Erkenntniswert, eröffnen sie doch Einblicke in übliche, sogar im eigentlichen Sinne 51 Höffe, Ethik; Hans Joas, Die Entstehung der Werte, Frankfurt a. M. 1999. 52 Eva Illouz, The Cold Intimacies. The Making of Emotional Capitalism, London 2007; Niklas Luhmann, Liebe als Passion, Frankfurt a. M. 1995, S. 43f. 53 Carsten Dams, Michael Stolle, Die Gestapo. Herrschaft und Terror im Dritten Reich, München 2008; Der stalinistische Massenterror, Göttingen 2011; Jörg Baberowski, Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt, München 2012. 54 Carla Casagrande Silvana Vecchio, Les th8ories des passions dans la culture m8di8vale in: Au sujet des 8motions au moyen .ge, hg. v. Piroska Nagy, Damien Boquet, Paris 2008, S. 107– 122; IrHne Rosier-Catach, Discussions m8di8vales sur l’expression des affects, ebda., S. 201– 223.

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konventionelle – d. h. auf Vereinbarung oder auf Verständigung beruhende – Deutungsschemata, die Handlungen von Begründungen ableiteten, für sie einen Rahmen des Akzeptablen absteckten und auf diese Weise faktisch durchsetzten. Emotionen selbst für das Mittelalter deuten zu wollen, hielte ich hingegen für vermessen. Also nicht zu einer Geschichte der Emotionen oder – weiter gefasst – der Mentalitäten55, will ich beitragen, weil sie sich – zumindest was das Mittelalter betrifft – hinter einer Fassade der Inszenierungen und der Benennungen verbergen und nur in fixierten und konventionellen Manifestationen aufscheinen. Daraus folgt kein epistemologischer Defätismus, denn die Evokation von Emotionen und die Integration der Evokationen in ein Gefüge von Bedeutungen sind die Instrumente sozialen Handelns und stehen als Untersuchungsgegenstände einer historischen Analyse zur Verfügung. Da ich die Gründe und die Wirkungen untersuchen will, welche die Macht und die Herrschaft im Mittelalter verständlich machten und sie beschrieben, ist es zwar nicht müßig, danach zu fragen, wie authentisch die Gefühlsregungen waren, über die gesprochen und geschrieben wurde, aber entscheidend ist das Formulieren selbst und die Rezeptionsbereitschaft. Beide zeigten ein Bemühen, das eigene Handeln und das der Herrscher zu bestätigen oder zu korrigieren. Die Frage nach der Authentizität wird nur dann gestellt werden, wenn mittelalterliche Autoren selbst danach fragten. Auch die Forschungen und Erkenntnisgewinne, die in jüngster Zeit zum Thema der Emotionen im Mittelalter geleistet wurden, knüpfen an den Begriffen an und stellen sie in den Zusammenhang sozialer Praktiken, vermeiden es meist, psychologische Zustände zu ergründen. Reden über Emotionen, nicht Emotionen selbst sind das Thema auch dieses Buches.56 Die Begriffe terror und eine Reihe mit ihnen verwandter Termini wie timor, rigor, severitas, furor, ira, pavor und metus und diejenigen von amor, dilectio, caritas, amicitia wurden in den Texten mittelalterlicher Autoren häufig verwendet, wenn sie Voraussetzungen und Ziele von Herrschaft erörterten. Die Begriffe können nicht immer scharf abgegrenzt werden. Die terminologische 55 Georges Duby, Histoire des mentalit8s, in: L’histoire et ses m8thodes, hg. v. Charles Samaran, Paris 1961, S. 937–966; Emotionen und materielle Interessen. Sozialanthropologische und historische Beiträge zur Familienforschung, hg. v. Hans Medick, David Sabean (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 75), Göttingen 1984; Peter Dinzelbacher, Ängste und Hoffnungen. Mittelalter, in: Europäische Mentalitätsgeschichte. Hauptthemen in Einzeldarstellungen, hg. v. dems., Stuttgart 1993, S. 285–294; Hans-Henning Kortüm, Menschen und Mentalitäten. Einführung in Vorstellungswelten des Mittelalters, Berlin 1996, S. 13–33; Peter Dinzelbacher, Zu Theorie und Praxis der Mentalitätsgeschichte, in: Europäische Mentalitätsgeschichte, hg. v. dems., Stuttgart 1993, S. XV–XXXVII; Rexroth, Wissen, S. 1–22. 56 Mary Garrison, The Study of Emotion in Early Medieval History. Some Starting Points, in: Early Medieval Europe 10 (2001), S. 243–250; Le sujet des 8motions au moyen .ge, hg. v. Piroska Nagy, Damien Boquet, Paris 2008, bes. S. 87–223; Peter King, Emotions in Medieval Thought (The Oxfored Handbook of Philosophy, Oxford 2009.

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Einleitung: Die Semantik der Politik und der Emotionen

Unschärfe machte freilich die Wörter geschmeidig, um sie in eine Semantik der Herrschaft einzubinden. Die genannten Begriffe verweisen auf starke Emotionen, die Thomas von Aquin als passiones bezeichnete, zu denen er an erster Stelle die Liebe (amor est passio), desweiteren Hass, Zorn und Furcht stellte. Auch der Pariser Gelehrte des beginnenden 13. Jahrhunderts, Wilhelm von Auvergne, schrieb: amor est passio. Die Liebe zwischen den Menschen sei von Gott eingerichtet, sie sei nützlich, sie begründe die Einheit zwischen den Menschen, und sie sei die Voraussetzung der Herrschaft. Am Ende des 13. Jahrhunderts benannte der ebenfalls einflussreiche Theologe Aegidius Romanus sie als passiones priores. Petrus Johannis Olivi, Bruder des Franziskanerordens, von den Päpsten verurteilt, gleichwohl auch für die Nachwelt einflussreich, bezeichnete zur selben Zeit die Liebe als affectio. Die Emotionen gelangten in den Zustand des intellektuellen Bewusstseins und wurden für das politische Handeln verfügbar ; so meinte dies Aegidius.57 Die vier Beispiele von Autoren mögen vorläufig genügen, zu rechtfertigen, die Wirkung von Emotionen auf soziale und politische Zusammenhänge zu untersuchen. Die Emotionen konnten intentional gesteuert und auferlegt werden, folgten nicht nur einer spontanen Initialisierung, gerannen zu permanenten Bereitschaften, wurden normativ gestaltet. Deswegen wurden sie als Instrumente in der Hand von denjenigen gestellt, die ihren Willen anderen zu oktroyieren beabsichtigten, und so wurden sie in die Herrschaft einbezogen.58 Wie der Zorn des Herrschers vorgeführt und seinen Zielen dienlich gemacht wurde, hat Gerd Althoff untersucht und ihn als Stabilisator der Macht des Herrschers eingesetzt.59 Emotionen werden von verschiedenen Disziplinen der Mittelalterforschung untersucht. Die Heterogenität der Ergebnisse ist einer noch nicht hinreichend hergestellten Zusammenführung der Ergebnisse geschuldet. So stehen Performanz in fiktionalen Texten und in Bildern und Intervention, wie sie in historiographischen Texten und Urkunden beschrieben und behauptet wird, unvermittelt nebeneinander und werden von den jeweiligen Wissenschaftsdisziplinen in ihrer jeweiligen Existenzform belassen. Der Gegensatz zwischen Inszenierung und Authentizität tritt hinzu, der, wenn er das Handeln der Herrscher erfasst, zu schwierigen Problemen führt, die nicht mit dem Hinweis auf eine reine Zurschaustellung und damit Verfälschung von Emotionen und auch nicht mit einem Zutrauen in die Validität der Quellen gelöst werden kön57 Wilhelm von Auvergne, Sermones (Opera omnia 2), Paris 1674, S. 26; Thomas von Aquin, Summa theologiae, Prima pars (Opera omnia 4), S.252: quaes. 20, art. 1; Petrus Johannis Olivi, Quaestiones in Secundum Librum Sententiarum, S.152; Aegidius Romanus, De regimine, fol. 93v. 58 Anthony Kenny, Action, Emotion and Will, London 2003, S. 134f. 59 Althoff, Ira regis, S. 61.

Forschungen

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nen, weil die Wirksamkeit der öffentlich gemachten Emotionen stets auch deren Wahrhaftigkeit voraussetzt und weil ein aus der Sicht der heutigen Wissenschaft grundsätzliches Misstrauen gegenüber der Echtheit von Gefühlen, die in der Vergangenheit behauptet wurde, doch auch erklärungsbedürftig ist.

4.

Forschungen zu Herrschaft, Gewalt, Schrecken, Freundschaft und Liebe im Mittelalter

Als Marc Bloch in seinem erstmals 1939 erschienenen Werk zur feudalen Gesellschaft Emotionen als für die Verhaltensweisen und Deutungsweisen der Menschen im Mittelalter typische Voraussetzungen untersuchte, erachtete er die Emotionen als defizitäre Regungen, die den Einbruch des Irrationalen verursachen und zu einer, wie Bloch meinte, allgegenwärtigen Instabilität von Institutionen führen würden.60 Die moderne Geschichtswissenschaft hat eine solche Auffassung überwunden, die die Emotionen als die dem Vernünftigen antagonistischen Wirkkräfte ansah, erachtet sie vielmehr als grundlegende mentale Dispositionen, damit soziale und politische Ordnung geschaffen werden kann, ja stellt sie mitunter als deren Stabilisatoren vor.61 Auch Aktionen, die einem nüchternen Nutzenkalkül zu unterliegen scheinen, wie Verhandlungen zwischen Herrschern und Städten, wurden hinsichtlich der Einwirkung von Emotionen untersucht.62 Hans-Werner Goetz und Geld Althoff sind der Auffassung, dass die Vorstellungen von Menschen in vergangenen Epochen nicht als Verformungen einer Realität aufgefasst werden können, sondern untersuchen den zirkulären Prozess der von einer vorsprachlichen Realität zum Denken führt, von dort zum Reden und zum Schreiben, die wiederum auf die Realität einwirken, welche durch die intellektuelle und emotionale Gestaltung eigentlich erst wirksam wird, um zur Entstehung sozialer Beziehungen zu gelangen. Der verwendete Begriff »Verformung« meint also einen Prozess, der Bedeutungen erzeugt, welche die »Formung« der Gesellschaft verrichten.63 Die Dialektik impliziert, jedem der einzelnen Glieder der Kette der Entstehungsgründe Realität einzuräumen. 60 Marc Bloch, La soci8t8 f8odale. La formation des liens de d8pendance, Paris 1949, S. 116–120. 61 Jean-Claude Schmitt, FaÅons de sentir et de penser. Un tableau de la civilisation ou un histoire-problHme, in: Marc Bloch aujourd’hui. Histoire compar8ee et sciences sociales, hg. v. Hartmut Atsma, Andr8 BurguiHre, Paris 1990, S. 407–419. 62 Isabella Lazzarini, Argument and Emotion in Italian Diplomacy in the Early Fifteenth Century. The Case of Rinaldo degli Albizzi (Florence, 1399–1430), in: The Languages of Political Society. Western Europe, 14th-17th Centuries, hg. v. Andrea Gamberini u. a., Rom 2011, S. 339–364, S. 340. 63 Goetz, Wahrnehmung, S. 43; Gerd Althoff, Verformungen durch mündliche Tradition. Geschichten über Erzbischof Hatto von Mainz, in: Iconologia Sacra. Mythos, Bildkunst und Dichtung in der Religions- und Sozialgeschichte Alteuropas. Festschrift Karl Hauck, hg. v.

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Einleitung: Die Semantik der Politik und der Emotionen

Zu den Realitäten gehören auch Gefühle. Die Rede eines »emotional turn«64 in den Geschichtswissenschaften kann sicherlich nur noch ironisch verwendet werden, zeigt aber nichtsdestotrotz ein neues Feld der historischen Forschung an. In den letzten Jahren wurde eine Fülle von Studien auch zum Mittelalter vorgelegt, die seit 2015 schließlich in zusammenfassenden Darstellungen mündeten. Angestrebt wird in diesen Forschungen, Emotionen als Treiber eines großen Umfanges von Handlungen vorzustellen und mittelalterliche Deutungen zu den Emotionen zu untersuchen.65 Die Forschungsrichtung ist, soweit sie die Geschichtswissenschaft betrifft, gegenüber einer Fundamentalkritik in Schutz zu nehmen, die der Literaturwissenschaftler Rüdiger Schnell in polemischem Furor formuliert. Er fordert, Gefühlsgeschichte zu liquidieren, da die untersuchten Texte Empfinden nicht faktisch wiedergeben, sondern dies nur vorgeben. Die Kritik läuft meines Erachtens ins Leere, da die Ausdrucksfähigkeit hinsichtlich der Emotionen ein genuin historisches Faktum darstellt, sie Brüche und Entwicklungen aufweist, sie soziale und politische Beziehungen verständlich macht und sie formt. Die Suche nach einer Wahrhaftigkeit der Aussagen würde in der Tat frustrierend enden. Aber die Emotionsgeschichte erschöpft sich keineswegs in dieser Suche. Als Ausweg die semiologischen Repräsentationen allein zum Untersuchungsgegenstand vorzusehen, ist dann auch keineswegs so neu und umstürzend, wie der Autor vorgibt. Die von Schnell gestellte Frage, ob Emotionen eine Geschichte haben, führt nach seiner Auffassung in eine epistemologische Sackgasse.66 In extremer Differenz zu Schnell, meint der Altphilologe Robert Kaster, die Geschichte der Gefühle jenseits einer semantischen Analyse anzusiedeln, indem er den Gefühlen das ihnen ihrer jeweiligen Kultur eigentümliche Repertoire an Motiven und Handlungen zuordnet und somit offenzulegen beansprucht, wie sie funktionierten, d. h. im sozialen Umfeld AkHagen Keller, Nikolaus Staubach (Arbeiten zur Frühmittelalterforschung 23), Berlin 1994, S. 438–450. 64 Gerade wenn Neu-Orientierung und Wendung im Plural vorkommen, fällt es schwer, dieser Begrifflichkeit Respekt zu zollen ; vielmehr liegt es nahe, eine in ihnen eingeschliffene Banalität herauszulesen: Doris Bachmann-Medick, Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg 2006. 65 Emotionalität. Zur Geschichte der Gefühle, hg. v. Caudia Beuthien u. a., Köln 2000; Alexandra Przyembel, Sehnsucht und Gefühle. Zur Konjunktur der Emotionen in der Geschichtswissenschaft, in: L’homme 16 (2005), S. 116–124; Furor, zorn, trance. Interdisziplinäre Sichtweisen auf mittelalterliche Emotionen hg. v. Bele Freudenberg, Berlin 2009 ; Jan Plamper, Geschichte und Gefühl. Grundlagen der Emotionsforschung München 2012; Damien Bouquet, Piroska Nagy, Sensible au moyen .ge. Une histoire des 8motions dans l’Occident m8di8vale, Paris 2015; Rosenwein, Generations; Histoire des 8motions, hg. v. Alain Corbier, Paris 2016; angekündigt ist eine Geschichte der Emotionen, in der auch Konzepte der Vergangenheit und Verwendungen für die Politik angekündigt sind: The History of Emotions, hg. v. Rob Boddice, Manchester 2018. 66 Schnell, Historische Emotionsforschung, S. 173–276; Ders., Haben Gefühle eine Geschichte ? Aporien einer History of Emotions, 2 Bde., Göttingen 2015.

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tionen und Reaktionen auslösten.67 Diese Position erscheint mir indes einem tautologischen Zirkelschluss zu verfallen, insofern er meint, dass die kulturell geformte Emotion durch die von ihr geformte Ausdrucksform erkannt werden kann. Anders als die beiden hier vorgestellten Extrempositionen erscheint mir das Konzept eines normativ geformten »emotional regime«, von der Mediävistin Barbara Rosenwein vorgestellt, praktikabel und erkenntnisfördernd zu sein. Sie konstituiert konkurrierende und zugleich kooperierende gesellschaftliche Teilbereiche, zu deren Stabilisierung Gefühle notwendig seien.68 Jüngst hat Philippe Buc in einer zeitlich breit angelegten – bis in die Gegenwart reichenden – Studie die legitimatorischen Grundlagen von Gewalt und Terror untersucht und sie an die religiös-christlichen Ideale angeschlossen. Die deutsche Übersetzung des englischen Originals hat eigenartigerweise den Begriff »Terror«, bereits im Titel angekündigt, eliminiert, nicht einmal das Wort »Schrecken« aufgenommen. Vielleicht gab es Bedenken, einen angeblich anachronistischen Begriff auch auf die ferne Vergangenheit anzuwenden. Es sind Bedenken, die meines Erachtens nicht gerechtfertigt sind. Was Philippe Buc behandelt, ist indes nicht Herrschaftsbegründung, sondern die religiöse, auf biblische Texte verweisende Rechtfertigung von Gewalt und Terror gegenüber Glaubensfeinden und Abweichlern vom Glauben. Es geht ihm also um die externalisierte – gegenüber den »Anderen« – gerichtete Aggression, um die aus religiösen Quellen geschöpfte und auf religiöse Ziele gerichtete Gewaltbegründung.69 Dies ist nicht das Thema meiner Überlegungen. Ich werde die weltliche Herrschaft begründenden und ebenso auch Herrschaft kritisierenden Konzepte untersuchen, also das Binnenverhältnis von Gewalt in weltlichen Verhältnissen im christlichen Okzident hinsichtlich der semantischen Repräsentationen erforschen. Ich werde auch darauf hinweisen, dass dem Gewalthandeln und dem Schrecken auch aus anderen Quellen als die von religiösen Texten und religiösen Motiven Berechtigung zuströmte. Wie Emotionen in die Herrschaft und in die Sprache der Herrschaft eingefügt wurden, haben in einem von Barbara Rosenwein herausgegebenen Band insbesondere Geld Althoff und Stephen D. White gezeigt, indem sie den Zorn behandelten, den die Herrscher in unterschiedlichen politischen Konstellationen vorführten und den die Opponenten der Herrschaft bewerteten und abwerteten. Mit den Ausführungen auch der anderen Autoren des Sammelbandes war ein Anstoß gegeben, den sozialen Zusammenhalt auf die Manifestation von 67 Robert A. Kasten, Emotion, Restraint and Community in Ancient Rome, Oxford 2005, S. 8. 68 Barbara Rosenwein, Thinking Historically about Medieval Emotions, in: History Compass 8 (2010), S. 828–842 ; Dies., Problems and Methods in the History of Emotions, in: Context. Journal of the History and Philosophy of the Emotions 1 (2010), S. 1–32. 69 Buc, Heiliger Krieg; Titel des englischen Originals: Holy War, Martyrdom and Terror. Christianity Violence and the West, Philadelphia 2015.

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Einleitung: Die Semantik der Politik und der Emotionen

Emotionen zu beziehen und auch die Ausübung von Macht in der Weise verstehen zu können, dass Bereitschaften und Loyalitätsangebote wachgerufen wurden, was durch eine Verfassungsgeschichte nicht geleistet werden kann, die sich auf die Konstellationen von Kompetenzen und von deren Ausführenden beschränkt.70 Das Gefühl des Zorns behandelt in einer Monographie auch Bele Freudenberg. Sie untersucht die Ausdrucksformen und die Verwendungsweisen in historiographischen und hofkritischen Texten in England des hohen Mittelalters, und sie stellt das Problem dar, wie die normgeleitete und die normabweichende Emotionalität in soziale und politische Verfahren eingebunden oder aus ihnen ausgeschieden sein sollten.71 Der Versuch, durch Motivierung von Gebieten und Gehorchen Funktionsweisen von Herrschaft zu verstehen und angemessen darzustellen, steht den Quellen nahe, verleitet aber dazu, die in den Quellen angegebenen Beweggründe unbesehen zu übernehmen, und verfällt der Tücke, einen »Diskurs, der Herrschaft legitimieren sollte (…), unvermittelt zur wissenschaftlichen Beschreibung von Herrschaft« zu verwenden.72 Die Deutung der Macht mittels ihrer sprachlichen Repräsentationen ist daher von Gadi Algazi kritisiert worden, der die sprachliche Behauptung und Verteidigung von sozialen Positionen als Praktiken des Verfälschens und Fehldeutens der sozialen Beziehungen bloßstellte und deren Analyse für den historischen Erkenntnisvorgang als abträglich beurteilte; er forderte vielmehr die Demaskierung solcher Praktiken durch die Geschichtswissenschaft.73 Der Auffassung von Algazi will ich nicht folgen, vielmehr festhalten, dass es in der vorliegenden Untersuchung nicht darum geht, Deutungsmuster der Vergangenheit anzuwenden, um eine von ihnen interpretierte Realität zu erkennen, sie vielmehr selbst zum Untersuchungsobjekts zu machen, ihre Begründungen und ihre Funktionen offenzulegen und damit der Kritik zugänglich zu machen. Gefühle waren im Mittelalter nicht als spontane Regungen vorgestellt, sie beruhten auf Ordnungskonzepten. Diese sind der Gegenstand von einer Studie von Hermann Schmitz, der dabei auch die politische Verwendung einbezieht, wobei aber Liebe und Schrecken nur am Rande erwähnt werden.74 Wenn Emotionen in Ordnungen eingebunden sind, ist die Wirkung auf die herrschaftliche 70 Anger’s Past. The Social Uses of an Emotion in the Middle Ages, hg. v. Barbara Rosenwein, Ithaca, London 1998, dort die Aufsätze von Gerd Althoff, Ira regis. Prolegomena to a History of Royal Anger, S. 59–74, und von Stephen D. White, The Politics of Anger, S. 127–152. 71 Freudenberg, Irarum nutrix. 72 Pohl, Staat, S. 12. 73 Gadi Algazi, Kulturhoheit und die Rekonstruktion von Handlungsrepertoires, in: L’homme 11 (2000), S. 105–119. 74 Hermann Schmitz, Die Verwaltung der Gefühle in Theorie, Macht und Phantasie, in: Emotionalität. Zur Geschichte der Gefühle, hg. v. v. Caudia Beuthien u. a., Köln 2000, S. 42– 59.

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Ordnung naheliegend. Stephen Jaeger, R8gine Le Jan, Heinz Krieg und Theo Broekmann untersuchen Emotionen und deren Verwendung für die Herrschaft und beziehen Freundschaft, Liebe, Furcht und Schrecken ein. Emotionen gelten ihnen als Verfahren, die Herrschaft perfektionieren sollen. Dabei steht der Aspekt der Instrumentalisierung der Emotionen selbst im Vordergrund, weniger der ihrer Konzeptualisierung. Patrick Boucheron, Corey Robin und Renaud Payre erachten in einem kürzlich erschienenen Essay Emotionen, im besonderen Fall die Furcht, als eine individuelle Ausdrucksform, die in eine soziale und politische Funktion hinübergeleitet wird. Mittels der Furcht werde Herrschaft ausgeübt – in einer Tyrannei und in einer Diktatur. Die Furcht werde eingesetzt, um Menschen zu manipulieren. Die Bezeichnungen »gouvernement de la peur« oder »gouvernement par la peur« verwenden die Autoren. Sie verweisen nur auf wenige Beispiele des Mittelalters; wichtig ist ihnen, die politische Verwendung der Furcht als historische Konstante offenzulegen, die lediglich in leicht modifizierten Manifestationen auftritt. Den Autoren geht es um die Furcht selbst, also um den psychischen Zustand, nicht um ihre symbolische Repräsentanz, daher auch nicht um die Perpetuierung der Furcht, der zum Terror wird, mittels von Semantik. Hingegen hat Eva Österberg die semantische Tradition zum Thema ihrer Überlegungen gemacht, indem sie ausführt, wie antike Deutungsmuster im Mittelalter reaktiviert wurden und in einen breiten Strom von Überlegungen mündeten, die die Voraussetzungen politischen Handelns darlegten. Dabei hat sie auch die Bewertung von Emotionen knapp behandelt. Stärker auf die politischen Konstellationen fokussierend, untersucht Verena Epp die Funktionen von Freundschaftsbündnissen im frühen Mittelalter. In vielerlei Hinsicht führt Claudia Garnier die Überlegungen für das 13. Jahrhundert weiter. Sie untersucht dabei die Wirksamkeit von Freundschaften weniger als Narrative und Redefiguren über Freundschaften, vielmehr untersucht sie die sozialen Bindungswirkungen und die Entstehung von stabilen Formationen der Zusammenarbeit mit den Herrschern, verweist also auf Institutionen, weniger auf Vorstellungen. Im späten Mittelalter, am burgundischen Hof, waren die Begriffe Freundschaft und amiti8 in einem Umfeld gebräuchlich, in dem unter schwierigen Bedingungen Loyalität geschaffen wurde und eine Tradition sich fortsetzte, die im 15. Jahrhundert bereits anachronistisch anmutende Züge annahm, aber wegen der Kompensation fehlender königlicher Würde wohl unumgänglich war, wie Klaus Oschema und Laurent Smagghe ausführen. Die theoretischen, an Aristoteles anknüpfenden Erörterungen zur Freundschaft und davon ausgehend auch zur Liebe während des späten Mittelalters hat B8n8dicte SHre vorgestellt.75 Ein 75 Jaeger, Ennobling Love; Le Jan Entre amour, S. 15–26; Dies, Quem decet, S. 392–411; Krieg, Herrscherdarstellung; Broekmann, Rigor ; Scharff, Der rächende Herrscher ; Patrick Boucheron, Corey Robin, Renaud Payre, Exercise de la peur. Usages politiques d’une emotion,

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Einleitung: Die Semantik der Politik und der Emotionen

Problem, das in den genannten Untersuchungen behandelt wird, ist, wie die individuell-affektive Manifestation in Gegensatz zur politischen, pragmatischen Nutzung von Freundschaft steht. Die Lösung, emotionale Freundschaft und »Nutzfreundschaft« voneinander zu trennen, ist zwar naheliegend, umgeht aber das Problem, wie emotionale Bindung glaubhaft gehalten werden konnte, wenn sie zweckopportunistisch eingegrenzt war, was riskierte, sie ineffizient zu machen. Hingegen erachten Damien Boquet und Piroska Nagy emotionale Bindungen als allgegenwärtig und üblich, um Gesellschaft zu gestalten. Sie sind der Normalzustand, der eigentlich keiner genuinen Entstehung, wohl aber einer Formung und Einsetzung in Institutionen bedarf. Die Autoren bestehen darauf, dass der Vorgang der Herstellung des Politischen keineswegs mit einer zunehmenden Rationalisierung und einer mit ihr einhergehenden Ent-Emotionaliserung korreliere, so dass vergangene Herrschaftsformen nicht auf obsoleten Verfahren und Grundlagen beruhten, die überwunden wären, vielmehr Konstanten aufzeigten, die auch nach der Entstehung des modernen Staates gültig seien, wenn auch in deutlich geänderten Formen und Anwendungen. Emotionen führten nicht zur Störung – wie Norbert Elias meinte76 –, sondern zur Festigung politischer Institutionen. Es seien die Emotionen selbst, nicht ihre zeichenhaften Repräsentationen, die wirksam gewesen seien.77 Noch entschiedener behauptet William M. Reddy, dass die Emotionen als soziale und politische Hebel wirkten; sie könnten mittels Analogien zu ethnologischen Forschungen auch für die Vergangenheit erkennbar gemacht werden. Er sieht emotionale Verfahrensordnungen – er nennt sie »regimes« –wirken, die als Untersuchungsgegenstände der Geschichtswissenschaft zugeführt werden müssten.78 In ähnlicher Weise erachtet Barbara Rosenwein den Zusammenhalt von Institutionen in der emotionalen Bindung begründet, die Zuneigung erzeugt und zur Entstehung und zur Beständigkeit von Gemeinschaften führt. Die Etablierung von »emotional communities« ist eine im Mittelalter erhobene Forderung und zugleich deren Ergebnis.79 Um die Voraussetzungen von Herrschaft, Macht und politscher Ordnung und

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Lyon 2015; Österberg, Friendship; SHre, Penser l’amiti8; Epp, Amicitia; Garnier, Amicitia; Klaus Oschema, Freundschaft und Nähe im spätmittelalterlichen Burgund. Studien zum Spannungsverhältnis von Emotion und Institution (Norm und Struktur 26), Köln u. a. 2006; Smagghe, Discours. Elias, Über den Prozess. Damien Boquet, Piroska Nagy, L’historien et les 8motions en politiques: entre science et citoyennet8, in: Politiques des 8motions au moyen .ge, hg. v. dens. (Micrologus Library 34), Florenz 2010, S. 8–32; Boquet, L’amiti8. William M. Reddy, The Navigation of Feelings. A Framework for the History Emotions, Cambridge 2001. Rosenwein, Emotional Communities; Dies., Generations.

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deren Legitimität zu erforschen, ist es erforderlich, nach den sprachlichen Manifestationen zu suchen, die Plausibilitäten formten und das explizit machten, was anonsten implizit in der Praxis eingeschlossen wäre. Dies ist das Thema mehrerer Beiträge des 2011 erschienen Sammelbandes »The Languages of Political Society. Western Europe, 14th-17th Centuries«. Wie im Vorwort ausgeführt, sollen Emotionen, Gefühle, Stimmungen (emotions, feelings, moods) aus der Mentalitätsgeschichte herausgeführt werden, allein weil es vorläufig unlösbar sei, mehr als eine Geschichte der Ausdrucksformen zu erreichen. Das terminologische Operieren sei aber hinlänglich geeignet, die Brücke zur Herrschaftsordnung zu schlagen, geht es doch, wie Philippe Genet in diesem Band ausführt, doch darum, zu zeigen, wie während des Mittelalters Emotionen zur Schaffung einer symbolischen Ordnung eingesetzt wurden und wie die mittelalterlichen Überlegungen zu Emotionen, zu deren Einbezug in die Sphäre der Herrschaft und zu deren konzeptioneller Erfassung Akzeptanzen hinsichtlich der Herrschaft begründeten. Die zeichenhafte Repräsentanz von Emotionen setzte jenseits vom Recht Geltungen in Kraft.80 Dass die Emotionen Grundlagen der Herrschaft legten und Kommunikationen in Gang setzten, um Verständigungen über sie zu erzeugen, ist ebenfalls jüngst in einem Sammelband festgehalten worden. Konsens der Autoren ist: Die politische Semantik verweist auf Emotionen und bedarf ihrer.81 Auf Wertvorstellungen und moralischen Anforderungen, nicht auf Emotionen bezogen, untersucht hingegen das von Bernhard Jussen geleitete Forschungsvorhaben zur »politischen Semantik des Mittelalters«, für das erste Ergebnisse vorliegen. Es geht dabei um »Sinnangebote für die Sozialstruktur«, um »die Bereitstellung von »Konstruktionsregeln von Wirklichkeit.«82 Die Frage, wie Emotionen in die Lebenswirklichkeit im Mittelalter einwirkten, lässt sich umgehen, wenn die Performanz, das Vorführen von Emotionen, untersucht wird. Dies ist jüngst in einem Sammelband geleistet worden, der aber zur Geschichte der Emotionen insofern wenig beiträgt, als die Beiträge die literarische und künstlerische Kreation, die Emotionen darstellt, behandeln.83 80 Gamberini, Zorzi, Introduction, bes. S. 18; Genet, Historien, S. 21; sowie: Smagghe, Discours; Isabella Lazzarini, Argument and Emotion in Italian Diplomacy in the Early Fifteenth Century. The Case of Rinaldo degli Albizzi (Florence, 1399–1430), in: The Languages of Political Society. Western Europe, 14th-17 Centuries, hg. v. Andrea Gamberini Jean-Philippe Genet, Andrea Zorzi, Rom 2011, S. 339–364. 81 La l8gitimit8 implicite, Bd. 1, hg. v. Philippe Genet, Paris 2015. 82 Bernhard Jussen, Zwischen Römischen Reich und Merowingern, in: Mittelalter und Moderne. Entstehung und Rekonstruktion der mittelalerlichen Welt, hg. v. Peter Segl, Sigmanrigen 1997, S. 15–29; Bernhard Jussen, Historische Semantik aus der Sicht der Geschichtswissenschaft, in: Jahbuch für Germanistische Sprachwissenschaft 2 (2011), S. 51–61; Schwandt, Virtus, S. 10–15. 83 Performing Emotions in Early Europe, hg. v. Philippa Madder, Turnhout 2018.

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Einleitung: Die Semantik der Politik und der Emotionen

Die Frage, ob unter den mittelalterlichen Akteuren eine Authentizität der Emotionen vorausgesetzt werden könne oder ob deren Inszenierung genüge, ist von Gerd Althoff zugunsten letzterer Option beantwortet worden. Aber selbst im Falle einer Authentizität sei, wie er ausführte, der Zugang zu ihnen den Historikern verschlossen; einzig das Vorzeigen von Emotionen könne in den Quellen entdeckt werden.84 Dass die Verfahren in einem vor-reflexiven Zustand gehalten wurden, wie erneut Jean-Philippe Genet und Remi Lenoir jüngst meinten, ist indes nicht stimmig, zeigen doch deren eigene Untersuchungen, dass die angeblich »impliziten« Verfahren durch die Deutungen mittelalterlicher Texte hinsichtlich der Emotionen explizit gemacht wurden, ja einer Reflexion offenstanden, die in die historische Untersuchung einbezogen werden sollte.85 Die großen Gefühle, vor allem Liebe, sind auch bevorzugte Themen der Literaturwissenschaft, die die sprachliche Formung von Vorstellungen untersucht und den Realitätsbezug auf Textentstehung und Textrezeption (einschließlich Belehrung) lenkt, hingegen die Texte als Erkenntnisquelle zu einer sozialen Realität entweder negiert oder als »Lebensentwürfe« einführt, die Modelle des Üblichen oder Vorbildlichen darlegt, dabei aber die Gestaltungskraft für soziale Bindungen,einschließlich der Herrschaft nicht behandelt und überhaupt die Fiktionalität als Barriere ansieht, um zu einer »sozialen Wirklichkeit« vorzustoßen.86 Wenn die sprachliche Formung von Liebe und Schrecken als Basis der Herrschaftsordnung vorausgesetzt wird, dann deswegen weil Begründungen, Legitimationen, Akzeptanzen und schließlich Loyalitäten vorausgesetzt werden, um Herrschaft effektiv zu machen, d. h. Ansprüche in Handlungen überführten. Indessen ist hier mehr als eine Rhetorik gemeint, die ja stets intentional operiert

84 Gerd Althoff, Empörung, Tränen, Zerknirschung »Emotionen« in der öffentlichen Kommunikation des Mittelalters, in: FMASt 30 (1996), S. 60–79. 85 Jean-Philippe Genet, Pouvoir symbolique, l8gitimation et genHse de l’8tat moderne, in: La l8gitimit8 implicite, Bd. 1; hg. v. dems., Paris 2015, S. 9–48; Remi Lenoir, Pouvoir symbolique et symbolique du pouvoir, ebda., S. 49–58. 86 Schnell, Historische Emotionsforschung, S. 173–276; Mittelalterliche Literatur im Lebenszusammenhang, hg. v. Eckart Conrad Lutz (Scrinium Friburgense 8), Freiburg (Schweiz) 1997; Linden, Epische Umsetzung, S. 127f.; deutlich optimistischer hinsichtlich der Erkenntnismöglichkeiten: Jaeger, Ennobling Love, S. 20f. , der ausführt: »emotional response to charismatic presence« oder noch deutlicher : »Social gesture in the realm of politics removes the emotions and its signals from the force field to Freudian interpretation«; an anderer Stelle verbindet Jaeger Emotionen direkt an Handlungen: »It is primarly a way of behaving, only secondary a way of feeling«; ebda, S. 6. Historiker suchen offensichtlich die Emotionen selbst oder deren reale Handlungsinitialisierung zu ergründen: Le Jan Entre amour, S. 15–26; Dies., Quem decet, S. 392–411; Krieg, Herrscherdarstellung; Broekmann, Rigor ; Scharff, Der rächende Herrscher.

Fragen und vorläufige Annahmen

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und Handlungen anzustoßen und zu hemmen sucht87, sondern umfassender ein Komplex des zum Verstehen Bringens, aus der die Gesamtheit von Herrschaft entsteht. Begründung ist weniger unter dem Gesichtspunkt einer Genese zu verstehen, also nicht als Ergebnis von Kausalität, sondern in erster Linie als die Setzung von Verfahren, die dazu dienten, Macht und Herrschaft als einsichtig und als akzeptabel vorzuführen, die also final eingesetzt wurden.88 Auf Gründe zu verweisen, diente der Rechtfertigung von Handlungen und von organisierten Konglomeraten von Handlungen, also von dem, was mit dem Begriff Institutionen bezeichnet ist. Die Aufgabe besteht darin, die Begründungen, die während des Mittelalters geformt und formuliert wurden, auf ihre Argumente und ihren Einsatz zu untersuchen. Die terminologischen Schwierigkeiten sind evident, insofern menschliche Gefühle evoziert zu sein scheinen, die, in die Herrschaftsbegründung eingeführt, unterschiedliche Bedeutungen, Verwendungen und Zwecke kennen und in der modernen Untersuchung zu erfassen sind.89

5.

Fragen und vorläufige Annahmen

An die Überlegungen, die hier präsentiert wurden, sollen die Ausführungen meines Buches anschließen. Es soll entgegen einem – wie ich meine – illusionären Anspruch deswegen nicht eine »Geschichte der Emotionen« vorgelegt werden; vielmehr sind deren semiotische Repräsentationen zu erfassen, was dann doch wiederum zu einer »Geschichte der Emotionen« führt, die aber in konzeptuelle und sprachliche Symbole eingefügt waren und als solche handlungsleitende und handlungsbegründende Effekte ausübten, die wiederum gedeutet, bewertet und kritisiert wurden. Dass mit dem Operieren von Begriffen von Emotionen eine langfristige Stabilisierung von Verhalten erreicht werden sollte, verbindet das Verfahren mit der Herrschaft. Die semantischen Arrangements schafften Verständigungen über das Übliche, konnten es aber auch in Frage stellen und eröffneten ein Feld des nicht notwendigerweise konsensuellen 87 Die Auswirkung einer spezifischen Rhetorik, die des Kanzlers von Kaiser Friedrich II., Pietro da Vinea, auf eine allgemeine politische Untersuchung analysiert Gr8vin, Rh8torique. 88 Die Erwartung, Gründe für Entscheidungen und für daraus abgeleitete Handlungen anzugeben, kann zur Formulierung einer ethischen Theorie verwendet werden, die auf Verfahrensoptimierung beruht; vgl. Julian Nida-Rümelin, Strukturelle Rationalität. Ein philosophischer Essay über praktische Vernunft, Stuttgart 2001; Ders., Entscheidungstheorie und Ethik, München 2005. 89 Hierzu die Überlegungen von Johannes Fried, Gens und regnum. Wahnehmungs- und Deutungskategorien politischen Wandels im frühen Mittelalter. Bemerkungen zur doppelten Theoriebindung des Historikers in: Sozialer Wandel im Mittelalter. Wahrnehmungsformen, Erklärungsmuster, Regelungsmechanismen, hg. v. Jürgen Miethke, Klaus Schreiner, Sigmaringen 1994, S. 72–104.

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Einleitung: Die Semantik der Politik und der Emotionen

Sprechens, aber nichtsdestotrotz mit dem Ziel, allgemeine Verbindlichkeiten zu rechtfertigen und sie damit in das Handeln in Gesellschaft und Herrschaft zu implantieren. Deswegen finden Emotionen als performative Akte – die des Drohens, Begehrens, Belohnens, Begründens und Verweisens – Eingang in die Analyse dieses Buches, was aber ebenfalls erfordert, die Effizienz der Performation zu erfassen, die davon abhängt, dass eine Authentizität der Emotionen bestehen musste, um nicht zu riskieren, die Emotionen als interventionistische Wirkkräfte ihrer Wirkung für die Herrschaft zu entkleiden. Es soll also davon ausgegangen werden, dass das Vorführen von Emotionen nicht gleichbedeutend ist mit einem Verfälschen. Die Schwierigkeit kann überwunden werden, wenn Sprache nicht nur als Repräsentation von Emotionen, sondern auch als deren Schöpfer erachtet wird. Die Üblichkeiten, die das Sprechen erzeugt, zielen auf die Reduktion von Handlungsalternativen und bilden einen Fundus von dem, was »getan werden soll«, ohne dass stets erforderlich ist, sich bei dem einzelnen Tun immer einer komplizierten kognitiven Vergewisserung zu unterziehen.90 Die Selbstverständlichkeiten bedürfen dennoch der Rechtfertigungen. Auch wenn diese nicht stets wiederholt werden müssen, so sollten sie doch zumindest potentiell in allen Lebenslagen und aktual in Bedrohungsszenarien präsent sein, um gegenüber Kritik und Ablehnung, gegenüber geänderten Bedingungen und angesichts neuer Anforderungen einen Grad an Immunität zu besitzen, die sie vor kurzfristen Veränderungen schützten, damit sie der Gefahr entrannen, sinnentleerte und obsolete Handlungen zu konservieren.91 In dem semantischen Feld von Schrecken, Drohung, Furcht, Freundschaft, Liebe und Zuneigung sollen Instrumente der Herrschaft ausfindig gemacht werden.92 Das, was Hans Werner Goetz als »Vorstellungsgeschichte« und »Vorstellungswelt« bezeichnet, soll auf das Thema der Verbindung von Emotionen zur Herrschaft angewandt werden.93 Untersuchungsgegenstand sind die mentalen Formungen einer Realität, die erst durch die sprachlichen Manifestationen 90 Odo Marquard, Ende des Schicksals? Einige Bemerkungen über die Unvermeindlichkeit des Unverfügbaren, in: Schicksal. Grenzen der Machbarkeit. Ein Symposium, München 1977, S. 7–25; Ders. Über die Unvermeidlichkeit von Üblichkeiten, in: Norm und Geschichte, hg. v. Willi Oelmüller, Robert Alexy (Materialien zur Normendiskussion 3), Paderborn 1979, S. 332–292; Odo Marquard, Abschied vom Prinzipiellen. Philosophische Studien, Stuttgart 1981, S. 4–22. 91 Rainer Forst, Das Recht auf Rechtfertigung. Elemente einer konstruktivistischen Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt a. M. 2007. Inwieweit Recht und Pflicht zur Rechtfertigung als theoretische Begründung der Gerechtigkeit genügen tun, soll nicht weiter verfolgt werden. Im Zusammenhang meiner Darlegung genügt es darauf zu verweisen, dass Rechtfertigungen geleistet und für mittelalterliche Herrschaftsverhältnisse eingefordert wurden. 92 Genet, Historien, S. 18. 93 Goetz, Gott, S. 17–24; Ders., Wahrnehmung, S. 40.

Fragen und vorläufige Annahmen

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zu ihrer Existenz gelangt. Konglomerate von Aussagen – auch über Emotionen – erzeugten ein Ein-Verständnis, so dass das Sprechen über Herrschaft, ihre Grundlagen und ihre Berechtigungen Handlungszusammenhänge konstituiert, also nicht als eine von ihr ausgesonderte Interpretation erscheint.94 Es ist das Ziel, Geschichte von Ideen und Geschichte von Institutionen zu verbinden, weil ein interaktionales Verhältnis zwischen beiden vorausgesetzt ist. Die Institution soll als Agglomerat von repetitiven Handlungen, verbunden mit Begründungen und Sinnzuschreibungen definiert werden. Das Handeln in Organisationen der Herrschaft, wie jedes Handeln in politischen Organisationen, beruhte im Mittelalter auf der sprachlichen Gestaltung, die mehr war als ein Interpretativum, sondern eine Formierung, wie ein jüngst erschienener Sammelband zur Situation in Italien im späten Mittelalter ausführte.95 Ausgehend von den hier skizzierten Überlegungen sollen Begriffe, die prima vista außerhalb der politischen Ordnung und der Herrschaftsordnung stehen, nämlich Begriffe der Emotionen, daraufhin untersucht werden, wie sie in die politische Sprache integriert, bzw. von ihr abgesondert wurden. Die Herrschaft beruhte auf einem Widerspruch, weil sowohl individuelle Nutzenerwartungen befriedigt als auch ausgeschaltet werden mussten. Auch um diesen Widerspruch aufzulösen, war das Operieren mit Begriffen von Emotionen eingesetzt.96 Auf die Vorstellungen, welche die Menschen einer bestimmten Epoche von den sozialen Tatbeständen hatten, wirkten auch anspruchsvolle theoretische Konzepte ein. Vorstellungen, die im Mittelalter geformt wurden, sollen nicht einer Dichotomie von »großen Denkfiguren« und »verbreitetem Normalwissen« unterworfen werden. Für Hans-Werner Goetz stellen sie gleichberechtigte Zugänge zu vergangenen Denkformen dar.97 Die Unterscheidung scheint mir auch methodisch verfehlt zu sein und übersieht die Beeinflussungen von Redeweisen auf unterschiedliche Milieus von Textproduktion und Textrezeption – unabhängig von einer meist erst nachträglich vorgenommen Bewertung der Texte. Von einer Mentalitätsgeschichte gilt es Abstriche zu machen, die ebenfalls einem meines Erachtens nicht hinlänglich reflektierten hierarchischen Denkschema verhaftet ist, das impermeable Sektoren der Kommunikation in einem frag94 Anders die Ausrichtung in dem Sammelband: Political Thought and the Realities of Power in the Middle Ages, hg. v. Joseph Canning, Otto Gerhard Oexle (Veröffentlichungen des MaxPlanck-Instituts für Geschichte 147), Göttingen 1998. 95 Die sprachliche Formierung der politischen Moderne. Spätmittelalter und Renaissance in Italien, hg. v. Oliver Hidalgo, Kai Nonnenmacher, Wiesbaden 2015, dort insbesondere: Oliver Hidalgo, Einleitung: Das politische Vokabular in Italien zwischen dem 13. Und 16. Jahrhundert, ebda., S. 7–31. 96 John L. Austin, Fremdseelisches, in: Ders., Gesammelte philosophische Aufsätze, Stuttgart 1986, S. 101–152. 97 Hans-Werner Goetz Die christlich-abendländische Wahrnehmung anderer Religionen im frühen und hohen Mittelalter. Methodische und vergleichende Aspekte, Berlin 2013, S. 11f.

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Einleitung: Die Semantik der Politik und der Emotionen

mentierten System voraussetzt98 oder gar eine deutliche Scheidung in Volkskultur und Gelehrtenkultur und ein von der Gelehrtenkultur verborgenes »wahres« Mittelalter aufzudecken vorgibt.99 Es soll vielmehr ein Fundus von Verständigungen untersucht werden, den nicht allein »Jedermannswissen in der Alltagswelt«100 bereitstellen kann, sondern auch intellektuellen Ansprüchen zur Legitimierung genügen muss, was verlangt, auch die Ausführungen in philosophischen und literarischen Texten einzubeziehen. Es soll keineswegs behauptet werden, dass alle sozialen Tatbestände nichts anderes als Diskurse wären, dass sie sich in der Produktion und Rezeption von Texten, einschließlich von Bildern, erschöpften, die auf andere Texte reagierten, was hieße, die Existenz sozialer Beziehungen einzig auf den Austausch von Bedeutungen zu reduzieren – was konform zur Auffassung konstruktivistischer Sozialwissenschaftler wäre, die soziale Realität nur als Summe von Sprechakten akzeptieren, jenseits derer keine Tatsachen vorhanden wären und zumindest nicht erkannt werden könnten.101 Dieser Auffassung soll die Behauptung von der sozialen Effizienz durch Sprechweisen und von der Bewirkung von Sprechweisen durch soziale Einrichtungen entgegengestellt werden. Realität ist so nicht als Summe von Diskursen, sondern als Ergebnis von Diskursen aufzufassen. Es soll gleichfalls Abstand genommen werden von der Annahme, dass die Instrumentalisierung von Termini der Emotionen zu einem »falschen Bewusstsein«, zur Verkennung von Herrschaftsgrundlagen, also zur »Ideologie« in der Bedeutung von Karl Marx, führen würde, weil die Ungleichheiten im Zugang zu Ressourcen in einer Rede verschleiert wurden, die angeblich ethisch gerechtfertigte, anthropologisch notwendige und daher unausweichliche Handlungsdispositionen vorstellte, außerhalb derer angeblich nicht konform, sondern nur subversiv gesprochen und gehandelt werden könnte.102 Sowohl von der Demaskierung ideologischer Vorstellungen, die in die Be98 Jürgen Kocka, Sozialgeschichte, Strukturgeschichte, Gesellschaftsgeschichte, in: Archiv für Sozialgeschichte 15 (1975), S. 1–42; Peter Dinzelbacher, Zu Theorie und Praxis der Mentalitätsgeschichte, in: Europäische Mentalitätsgeschichte, hg. v. dems., Stuttgart 1993, S. XV–XXXVII; Rexroth, Wissen, S. 1–22. 99 Jacques Le Goff, La civilisation de l’Occident m8di8vale, Paris 1964; neurere Forschungen zusammengefasst in Le vrai visage du moyen .ge. Au d8l/ des id8es reÅues, hg. v. Nicolas Weill-Parot, V8ronique Sales, Paris 2017; Kritik an der Scheidung von Volks- und Gelehrtenkultur bereits bei: Hans-Jörg Gilomen, Volkskultur und Exempla-Forschung, in: Modernes Mittelalter. Neue Bilder einer populären Epoche, hg. v. Joachim Heinzle, Frankfurt, Leipzig 1994, S. 165–208, so auch: Althoff, Verwandte, S. 85–119. 100 Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, Frankfurt a. M. 1969, S. XV. 101 Markus Gabriel, Warum es die Welt nicht gibt, Berlin 2013, S. 15f. 102 Karl Marx, Zur Kritik der hegelschen Rechtsphilosphie (Marx-Engels-Werke 1), Berlin, S. 378–391; vgl. Dieter Wolf, Der Begriff des Widerspruchs in der »Kritik des Hegelschen Staatsrechts, in: Ders., Der dialektische Widerspruch im Kapital, Hamburg 2002, S. 1–56.

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griffe von Emotionen gekleidet sind, als auch von der Annahme einer »gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit«103 soll Abstand genommen werden, weil die Wirklichkeit nicht erst durch die Gesellschaft konstruiert wird, sondern der Vorgang der gesellschaftlichen Konstruktion die Wirklichkeit ist. Die »Wirklichkeit« allein als Summe von materiellen und aktionistischen Transfers zu verstehen, also unter der Abstrahierung der mentalen Vorgänge, wäre ebenso eine Verkürzung einer sozialen Realität, die im Mittelalter – aber auch in anderen Epochen – wesentlich die Praxis von Kommunikationen und der Herstellung von Verstehensprozessen war und ist, als auch diese Praxis allein als Realität anzuerkennen. Weil Emotionen als Elemente des Verstehens eingesetzt wurden, eigneten sie sich im Mittelalter, weitreichende Begründungen zu schaffen, die bis hin zu der Ordnung von sozialen Beziehungen reichten und so auch Herrschaft verständlich machten. Die »politische Semantik«, wie sie in mehreren der oben genannten Untersuchungen zur politischen Sprache behandelt wird, ist auch die Grundlage der folgenden Überlegungen. Jedoch soll eine Korrektur des Konzeptes vorgenommen werden, das voraussetzt, dass eine kollektive Semantik, analog zu dem von Maurice Halbwachs vorgestellten kollektiven Gedächtnis oder von Jan Assmann vorgestellten kulturellen Gedächtnis104, bestanden habe, die sogar eine sozial oder vielleicht auch noch politische, breit ausgedehnte »Identität« hervorbringen würden. Dies meint letztlich eine Fixierung und Verstetigung der Semantik, so wie die Sprachwissenschaften für die kommunikativen Akte und für die Konservierung von Bedeutungen einen Konsens annehmen, der den Kreis der aktuell präsenten Sprecher übersteigt, so dass diese in eine stabile Konvention zur Textproduktion eingebunden sind, was ja die sprachliche Kommunikation in Gang bringt.105 Nicht die Existenz einer solchen stabilen Semantik, die dank der Stabilität ja erst produktiv wäre, will ich in Frage stellen. Bestritten werden soll aber, dass Bedeutungen, Vorstellungen und Konzepte nur dann sozial und politisch einwirken würden, sofern sie kollektiv oder kulturell fixiert oder gar kanonisiert waren. Es gilt im Gegenteil, die Heterogenität, die Fragmentierung, die Widersprüche und letztlich die Antagonismen und agonalen Gegenüberstellungen herauszuarbeiten. Mag auch die Semantik eine Einheitlichkeit des Verstehens bedingen, damit Kommunikation gelingt, ist im historischen Ablauf, aber auch in der Gleichzeitigkeit von Vorstellungen das mögliche und tatsächliche Scheitern von einvernehmlichen Verständnissen und 103 Eba. 104 Maurice Halbwachs, La m8moire collective, Paris 1950; Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1984. 105 Victoria Eicker, Über Bedeutung. Sprache zwischen Intentionen und Konventionen, Berlin 2005, S. 117–125, 140–149, 219–228.

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letztlich die Destruktion von Kommunikation einzubeziehen. Die Summe der Bedeutungen und der Deutungen führte nicht nur zur Summe des Verstehens, sondern auch zu der Summe von Konkurrenzen und Konflikten bei dem Vorgang des Verstehens. Weniger die Elemente von Bedeutungen, sondern ihre Kombinationen sind daher die vornehmlichen Gegenstände der folgenden Untersuchung. Zugleich aber waren diese Relationen der Anforderung ausgesetzt, einvernehmliches Verstehen und Handeln zu erzeugen. Der Widerspruch entspricht auch der Natur der Sache selbst, weil einerseits Herrschaft Vereinheitlichung von Vorstellungen, Akzeptanzen und Handlungen verlangt, andererseits sie Gegenstand des Kampfes ist. Aber nicht allein die Herrscher sind die Akteure des Kampfes, sondern an ihm nehmen auch diejenigen teil, die sich ihr zu entziehen suchen und ihr Legitimität vorenthalten. Die folgende Untersuchung soll sich nicht darin erschöpfen, isolierte Sprechakte, d. h. schriftliche Textproduktionen, zu deuten, sondern sie beabsichtigt, sie in ein Gefüge einzubinden, das aber kein Gefüge des Einverständnisses war, sondern ein Gefüge strittiger und konkurrierender Konzepte, das Standardisierungen anstrebte, um Herrschaft zu stabilisieren, dabei aber Herausforderungen ausgesetzt war, die die Standardisierungen offen oder insgeheim unterliefen. Die Überlegungen sollen auf die Begriffe von Liebe und Schrecken und deren Verbindung zur Herrschaft angewendet werden. Dies ist gerechtfertigt erstens durch die mittelalterlichen Rede selbst und zweitens durch die epistemologische Strategie, die den Begriffen und ihrer Kombination eine in der Vergangenheit relevante Wirkung zuerkennt, wohingegen drittens die nicht zu überwindende Schranke des Wissens hinsichtlich der vergangenen Emotionen als Problem einer bereits im Mittelalter diskutierten Authentizität anerkennt werden soll. Angestrebt wird nicht eine allgemeine anthropologische Grundierung der Erforschung zum Mittelalter, schon gar nicht wird eine einer »anthropologischen Wende der Mediävistik«106 verpflichtende Untersuchung in Aussicht gestellt, die riskiert, entweder angebliche anthropologische Konstanten vorzustellen oder umgekehrt wegen der historischen Veränderungen der menschlichen Existenz ihre Substanz zu entziehen. Ein eingestandenermaßen weniger pompöses Ziel wird verfolgt. Es ist angestrebt, die Kombination von Begriffen, die in eine Artikulation von Argumentationen eintraten, zu analysieren. Dabei wird mehr beabsichtigt, als eine auf Semantik reduzierte Analyse zu leisten, vielmehr die intentionale Auswirkung des Deutens und der Formulierung auf die Begründung der Herrschaft einzubeziehen. Die Sprache, die Liebe und Schrecken zum Ausdruck bringt, soll nicht als das Resultat von Gefühlen, die unabhängig von ihr bestünden, aufgefasst werden, sondern in der umgekehrten Bewegungsrichtung als Entstehungsgrund von 106 Pohl, Staat, S. 16–20.

Fragen und vorläufige Annahmen

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Gefühlen, die für ihre Existenz eine Bewusstwerdung und dann auch eine sprachliche Formung einschließen. Unter dieser Prämisse ist die Frage der Authentizität nicht überflüssig, schließlich widmeten sich ihr auch Personen und Texte des Mittelalters. Aber diese Frage kann nicht eine aktuelle Untersuchung leiten, in der Weise, dass Gefühle einer fernen Vergangenheit erkennbar wären. Dies ist nicht allein den Quellen geschuldet, sondern ist prinzipiell eine Unmöglichkeit, da es abseits der sprachlichen Formung keine Erzeugung emotionaler Befindlichkeit geben kann. Sprache und Emotion übersteigen die individuellen Zustände und Äusserungen, beide sind Ausweitungen des individuellen mentalen Bewusstseins, bilden ein Konglomerat von Bewusstseinszuständen und beide werden so in ein Gefüge – nicht einer kollektiven Einheitlichkeit – aber eines kollektiven Austausches eingeflochten. Zwischen den Extremen einer Auffassung, die prinzipiell die Gefühle in einer vergangenen Epoche als nicht erkennbar erachtet, und eines Anspruchs, anhand der sprachlichen Äußerungen die Gefühle zu erkennen, soll das mittelalterliche Operieren mit Begriffen der Gefühle als Verfahren angesehen und untersucht werden, das Vorstellungen schaffte, die wiederum Emotionen zur Existenz brachte. Die damit einhergehende Annäherung auch an intellektuell anspruchsvolle Deutungen macht die hier beabsichtigte Untersuchung nicht allein methodisch praktikabler, sondern inhaltlich auch reicher, da auch die mittelalterlichen theoriegesättigten Kenntnisse heranzuziehen sind, weil sie selbstreflexiv untersuchen, wie die Konstituierung von Institutionen im Mittelalter gelang oder auch verfehlt wurde oder als normenwidrig angesehen wurde. Wie Begriffe und ihre Kombinationen die Herrschaft plausibel machten, wie sie sie entwerteten, wie sie sie rechtfertigten, wie sie sie als notwendig, aber sie mitunter gleichwohl als schädlich erachteten, wie sie Emotionen, die von Liebe und Schrecken, in die Sprache der Herrschaft einfügten, wie sie Begründungen schufen, wie sie Argumente formten, wie sie Emotionen faktisch und normativ vorführten, wie sie in Erzählungen gestalteten, sind die Fragen, die die folgenden Überlegungen leiten. Also nicht »displaying«, sondern »reflection« mittelalterlicher Befunde steht im Fokus. Normen und ihre Begründungen sind nicht als praxisferne Illusion, sondern als handlungsleitender Grund aufzufassen, der sozial breit angelegte Auswirkungen hervorbrachte. Daraus folgt, dass in den folgenden Untersuchungen die Emotionen nicht als individual-psychologische Anlagen oder Ausformungen, aber auch nicht als kollektiv eingepflanzte mentale Zustände aufgefasst werden, sondern hinsichtlich der Plastizität der Arrangements und ihrer Ablagerungen zu analysieren sind, weil sie sowohl unterschiedlichen Zielen geschmeidig angepasst wurden als auch gegensätzlichen Ansprüchen, Anforderungen und Ablehnungen ausgesetzt waren und zugleich auch Kontinuitäten hervorbringen sollten. Daher ist der Antagonismus zwischen Authen-

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Einleitung: Die Semantik der Politik und der Emotionen

tizität und Inszenierung hinfällig, weil die mittelalterlichen Vorstellungen mehr waren als individuelle mentale Zustände, vielmehr soziale Fakten, ohne dass diese kollektiv homogenisiert sein mussten. Es soll eine Entwicklung vorgestellt werden, die in einer langen Dauer sich entfaltete, während der divergente Konzepte geformt wurden, die in Traditionen zu implantieren versucht wurde, andererseits Traditionen instabil hielten, sie abbrachen, so dass aus den Verwerfungen Innovationen hervorgingen. Die Emotionen als Verursachung und als Begründung der Herrschaft bedurften allein deswegen ihrer sprachlichen Formung, weil sie nur so eine Fernwirkung jenseits individueller Befindlichkeit erlangten und nur so für die Herrschaft, die ja vor allem eine Herrschaft auf Distanz sein sollte, produktiv waren.

II.

Verständigungsangebote der Bibel

1.

Der Schrecken der Könige über Gerechte und Ungerechte im Alten Testament

Texte begründeten Traditionen von Verständigungen. Sie boten Sicherheiten, um das Zusammenleben zu deuten und zu gestalten. Je mehr die Texte sanktioniert waren – also auf das Göttliche verwiesen und vom Göttlichen abgeleitet waren – und kanonisiert wurden – also in eine verbindliche Textgestalt gegossen und als normsetzend anerkannt waren –, umso beständiger und langanhaltender waren ihre Wirkungen. Die Schrift, die höchste Autorität im Mittelalter hatte, war die Bibel. Sie war das wichtigste Eingangstor, um Vorstellungen mittelalterlicher Menschen zu untersuchen. Sie vermittelte Deutungen zur weltlichen Gewalt, zur politischen Gestaltung, zu sozialen Institutionen. Ausdrucksweisen in der Bibel machten – durchaus auch unterschiedliche – Konzepte im Mittelalter verständlich und rechtfertigten sie. Sie füllten einen Rahmen, in dem Begriffe verstanden, Argumente plausibel und Folgerungen für notwendig erachtet wurden. Eine Bibelkritik, die seit dem 19. Jahrhundert unterschiedliche Entstehungsschichten und –geschichten der biblischen Bücher und die daraus entstehenden Widersprüchen analysiert, war im Mittelalter unbekannt. Der Text war in eine gültige Form gegossen. Die für das mittelalterliche okzidentale Europa verbindliche Textgestalt war die der lateinischen Übersetzung, die von Hieronymus und anderen im 5. Jahrhundert erstellt wurde und als Vulgata bezeichnet war ; sie monopolisierte die Rezeption und steuerte die Vorstellungen. Die Bibel bot für die Menschen im Mittelalter einen Fundus von Texten, die Vorbilder darstellten und normative Gültigkeit beanspruchten und erreichten. Die Kanonisierung der Texte verhinderte freilich nicht divergente Exegesen und Varianten der Deutung. Es gab beides: die Fixierung der Texte und die Kontrastierung der aus ihnen geschöpften Vorstellungen.107 107 Angenendt, Geschichte, S. 168–182; Goetz, Gott, S. 30f.; Oskar Paret, Die Überlieferung der Bibel, Stuttgart 1966; Detlev Dormeyer, Die Bibel. Entstehung und Zusammenstellung eines

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Verständigungsangebote der Bibel

Häufig wurde im Alten Testament von der Gewalt erzählt, die auf Gottes Anweisung ausgeübt wurde. Dies war ein Problem für die christliche Exegetik der Antike und des Mittelalters. Gelöst wurde es durch eine allegorische Schriftdeutung, die den Kampf des Leibes als Kampf des Geistes ausgab. Damit war aber materielle Kriegsführung nicht entwertet, vielmehr als Realisation und Auswirkung der Anstrengungen auf dem Weg zum Heil ausgegeben. Texte des Alten Testaments dienten der Befeuerung kriegerischer Grausamkeit.108 Die Grausamkeiten mystice umzudeuten, wie dies der frühmittelalterliche Theologe Rabanus Maurus in der Nachfolge antiker Autoren vorsah109, beförderte noch die Berechtigung der Gewalt, deren Legitimität unangreifbar gemacht wurde; sie galt als Analogon der einstigen Gewalt der Juden zur Verteidigung gegen die heidnischen Könige und rechtfertige den aktuellen Kampf der Christen gegen die Ketzer.110 Die Gewalt war auch ansonsten in der mittelalterlichen Exegese nicht symbolisch eingehegt, vielmehr dank der spirituellen Ziele entfesselt.111 Die Ausdifferenzierung des Alten und des Neuen Testaments als Manifestationen der Furcht einerseits und der Liebe andererseits ist indes verfehlt und war schon für Augustinus eine falsche Unterscheidung. Er band die beiden Teile des biblischen Textes in einen einheitlichen Begründungszusammenhang.112

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112

Textcorpus, in: Neues Handbuch der Literaturwissenschaft, Bd. 4: Spätantike, hg. v. Lodewijk Engels, Heinz Hoffmann, Wiesbaden 1997, S. 89–120; Freimut Löser, Bibel (-auslegung, -übersetzung, -dichtung), in: Literaturwissenschaftliches Lexikon. Grundbegriffe der Germanistik, hg. v. Horst Brunner, Rainer Moritz, Berlin 1997, S. 43–48; Guy Lobrichon. La Bible au moyen .ge (Les m8di8vistes franÅais 3), Paris 2003; Thomas Vogtherr, Auf der Suche nach dem rechten Text. Die Bibel und ihr Wortlaut in der Zeit der Karolinger, in: Das Buch, ohne das man nichts versteht. Die kulturelle Kraft der Bibel, hg. v. Georg Steins, Münster 2005, S. 49–62; Die Bibel als politisches Argument. Voraussetzungen und Folgen biblizistischer Herrschaftslegitimation in der Vormoderne, hg. v. Andreas Pecar, Kai Trampedach (Historische Zeitschrift. Beiheft 43), München 2007; Michael M. Gorman, The Study of the Bible in the Early Middle Ages (Millennio medievale. Strumenti e studi NS 15), Florenz 2007; Dominique Iogna-Prat, Usages de la Bible. Interpr8tations et lectures sociales, Saint-Denis 2008; Gilbert Dahan, L’ex8gHse chr8tienne de la Bible en Occident m8di8val, 12e-14e siHcles, Paris 1999; Ders., Interpr8ter la Bible au moyen .ge. Cinq 8crits du 13e siHcle sur l’ex8gHse de la Bible traduits en franÅais, Paris 2009; Ders, Lire la Bible au moyen .ge. Essais d’herm8neutique m8di8vale, Genf 2009. Das Thema ist ausgeführt in: Buc, Heiliger Krieg, S. 101–114. Hrabanus Maurus, Commentaria in libros Machabaeorum, in: PL 109, Paris 1852, Sp. 1125– 1256, Sp. 1141; Buc, Heiliger Krieg, S. 80–83. Hrabanus Maurus, Commentaria in libros Machabaeorum, in: PL 109, Paris 1852, Sp. 1125– 1256, Sp. 1184. Susanne Wittekind, Die Makkabäer als Vorbild des geistlichenn Kampfes, in: Frühmittelalterliche Studien 37 (2003), S. 47–71; Klaus Schreiner, Siegbringende Marienbilder. Formen und Funktionen bildhafter Kommunikation in militärischen Konflikten des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit, in: Literarische und religiöse Kommunikatio in Mittelalter und Früher Neuzeit hg. v. Peter Strohschneider, Berlin, New York 2009, S. 844–903, S. 844–849. Augustinus, Contra Adimantum, hg. v. Joseph Martin (CSEL 28/3) Wien 1894, S. 167.

Der Schrecken der Könige über Gerechte und Ungerechte im Alten Testament

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Die hebräische Bibel, im christlichen Verständnis das Alte Testament, hat die Liebe aus der Herrschaft herausgelöst und in die Intimität der Familie einerseits und in die Beziehung Gottes zu seinem ausgewählten Volk andererseits gestellt. Die Erschaffung des Menschen als Mann und als Frau legt zugleich den Grund für Sexualität und Liebe, damit auch für die Fortpflanzung des Menschengeschlechts.113 Hingegen ist der Schrecken mit Herrschaft und Unterwerfung verbunden. Im Text der Genesis gemäß der für das Mittelalter maßgeblichen lateinischen Übersetzung der Vulgata hat Gott den Menschen aufgetragen, mittels des Schreckens und der Furcht über die Tiere zu gebieten und sie nach seinem Gutdünken für sich zu nutzen: terror vester ac tremor sit super cuncta animalia. (Gen 9.2). Da die Anweisung Gottes im Genesis-Text nach der Sintflut, also nach der Vertreibung aus dem Paradies erfolgt, ist sie für die Zeit der Menschheit, die in Sünde lebt, gültig. Der Text hat auch die Deutung von Herrschaft, die gegenüber den Menschen besteht, während des Mittelalters geprägt, einerseits indem ex negativo argumentiert wurde, dass für die Beziehungen zwischen den Menschen der Schrecken ausgeschlossen sein müsse, andererseits behauptet wurde, der Schrecken sei zwar kontra-normativ, aber doch faktisch vorhanden und kennzeichne die Herrschaftsverhältnisse auch bei den Menschen. Papst Gregor der Große (ca. 540–604), der nordfranzösische Kanoniker Petrus Comestor († 1179), der eine von der Bibel ausgehende Darstellung der Weltgeschichte verfasste, und der Pariser Dominikaner Vinzenz von Beauvais († 1264) in seinem von ihm geschriebenen Fürstenspiegel werden aus dem biblischen Text Schlussfolgerungen zur politischen Herrschaft ziehen und den Schrecken aus der Herrschaft, sofern sie gerecht und gut ist, ausschließen, da er dem göttlichen Gebot ausdrücklich entgegenstehe; und dies gelte normativ nicht allein in der Zeit vor der ersten Sünde Adams und Evas, sondern auch danach – für alle Zeiten. Die Zusammenstellung der Glossa ordinaria in der gedruckten Ausgabe von 1480 und 1481, die die auf Walafried Strabo und Anselm von Laon zurückreichenden Glossenwerke des 9. und 11. Jahrhunderts kompilierte und konzentrierte, hat deren Kommentierung übernommen: Der Schrecken gilt den Tieren; nicht den Menschen; unter ihnen soll es keine Furcht und keinen Schrecken geben; die ersten Anführer der Menschen waren Hirten, keine Könige.114 Aber der Schrecken war die Basis einer Palliativordnung, die wegen des Fehlens von Liebe und Zuneigung Gott den Menschen auferlegt hat. Der Schrecken ist einerseits schädlich, andererseits notwendig. Er bedrängt einerseits die Menschen, anderseits führt er sie zum Guten. Die Polarität aufzulösen, fällt Vinzenz von Beauvais schwer ; er versucht, sie durch den Verweis auf 113 Angenendt, Ehe, S. 272–274. 114 Biblia latina cum glossa ordinaria, I, S. 40; Frans van Liere, An Introduction to the Medieval Bible, Cambridge 2014, S. 49.

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entgegengesetzte Absichten und Resultate zu scheiden, kann aber deswegen den Schrecken selbst nicht eindeutig bewerten. Die positive Kennzeichnung ist zwar dadurch gegeben, dass er Gott selbst als den Schöpfer des Schreckens bezeichnet, ohne dass mit diesem Schöpfungsakt aber ein notwendig Gutes vorausgesetzt ist. Vinzenz verweist auf das fünfte Buch Moses, wo es heisst, dass Gott den Schrecken (die Vulgata verwendet das Wort terror) über alle Völker verbreite. Mehrere Völker habe Gott ausgemerzt. Seine Gewalt begründe die Herrschaft; die Mächtigen seien von Gott eingesetzt, um Schrecken zu verbreiten (Deut 2.25).115 Aber nicht allein das Volk Gottes nutze den Schrecken, um andere Völker zu unterwerfen. Es werde auch selbst von ihm heimgesucht. Der Schrecken sei zwar – so das prophetische Buch Ezechiel – Gott vorbehalten, der aber, um ihn zu verbreiten, sich des babylonischen Königs, eines ungerechten und heidnischen Herrschers, bediene (Ez 30.13). Die Unterdrückung der Menschen gilt in diesem biblischen Buch als Frevel, der von allen Mächtigen, auch den Juden unter ihnen, verübt wird. Der Prophet prangert an: Die Fürsten sind wie reißende Wölfe, sie vergießen Blut, sie töten Menschen, sie frönen ihrer Habgier (Ez 22.27). Machtausübung ist mit Schreckensherrschaft verbunden. Auch andere Bibeltexte beschreiben den Schrecken im Vollzug der Herrschaft über die gläubigen Juden und die ungläubigen Heiden. In der hebräischen Bibel wird Königsherrschaft als bedrohlich für die Menschen vorgestellt, keineswegs als für sie nützliche Einrichtung erachtet. Die Zustimmung zur Errichtung des Königtums, auch für die Juden, wird Gott mühsam abgerungen, obwohl er Moses aufgetragen hat, die Herrschaft durch Priester einzurichten. (Ex 19.6) Gegenargumente können das Volk Israel von dem Vorhaben, einen König einzusetzen, nicht abbringen. Im Buch ersten Buch Samuel, Abschnitt neun wird die Entstehung des Königtums dargestellt, und dabei entfaltet sich eine Kritik an der königlichen Herrschaft, wie sie negativer nicht sein kann. Die Bitte des Volkes Israel an den Propheten Samuel, er möge ihnen einen König einsetzen, stößt auf dessen anfängliche Ablehnung. Gott indes fordert Samuel schließlich doch auf, dem Verlangen nachzugeben. Samuel unterlässt jedoch nicht, der göttlichen Mahnung gehorchend, auf die Verfehlung des Begehrens hinzuweisen. Am schlimmsten sei: Der Wunsch des Volkes bedeute eine Distanzierung von Gott. So wie die Israeliten seit der Flucht aus Ägypten nicht davon abgelassen hätten, fremden Göttern anzuhängen, so meinten sie nun, sich der unmittelbaren Herrschaft des einzigen Gottes entziehen zu wollen, indem sie einen König einsetzten, hierbei dem Vorbild der anderen Völker nacheifernd. Samuel solle, so weist ihn Gott an, darstellen, was 115 Gregor der Große, Regula, S. 202, 204; Petrus Comestor, Historia scholastica, Sp. 1530; Vinzenz von Beauvais, De morali principis institutione, S. 15.

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ein König beanspruchen und was er seinen Untertanen künftig an Üblem antun werde. Samuel verkündet daher die unabwendbaren Schädigungen, die mit der Herrschaft eines Königs verbunden seien: Dieser werde alle zu Untertanen machen, sie seinem Willen unterwerfen; er werde die Söhne des Volkes in seinen Dienst nehmen; er werde sie für seine Pferde arbeiten lassen und sein Gespann zu schleppen befehlen. Einige werde er zu Anführern bestellen, andere zum Pflügen seiner Äcker und zum Ernten der Früchte, manche zum Herstellen von Waffen und Streitwagen einsetzen. Der König werde die Töchter des Volkes an seinen Hof holen, damit sie für ihn kochen, backen und Salben anrührten. Der König werde seinen Untertanen die besten Felder, Weinberge und Olivengärten wegnehmen und sie seinen Beauftragten übergeben. Er werde vom Ertrag der übrigen Felder und Weinberge den zehnten Teil einziehen, um seine Hofleute und Diener zu entlohnen. Genauso werde er von den Schafen und Ziegen der Untertanen den zehnten Teil einfordern. Deren Sklaven werde er in seinen Dienst nehmen und sie für sich arbeiten lassen. Den König, wenn er einmal eingesetzt sei, wieder abzusetzen, sei nicht mehr möglich. Gott um Hilfe gegen ihn anzuflehen, sei dann nutzlos. Gott werde dem Volk in seiner Bedrängnis nicht helfen. Die Warnungen bewirkten nichts. Die Juden bestanden auf der Einsetzung eines Königs. Von ihm erwarteten sie, dass er Recht spreche und sie im Krieg verteidige (1 Sam 8). Einen König einzusetzen, lässt die Autorität Gottes zwar unangetastet; aber die Unterwerfung unter einen König errichtet eine unterhalb Gottes bestehende Gewalt, die dazu führt, das Leiden der Menschen zu vermehren, was überdies auch noch selbstverschuldet ist.116 Das Königtum gilt als eine Institution, die in den Psalmen oft als Analogon zur göttlichen Herrschaft bezeichnet wird (Ps 24.7–10; 29. 9–10; 47.8–9; 88. 25; 99.1–3; 103.19; 145.11–13), aber weil sie als ein solches Analogon mit großer Macht ausgestattet ist, als Verursacher der Übel in der Welt gilt.117 Im ersten Buch Samuel, im Mittelalter als Erstes Buch der Könige bezeichnet, wird auch an anderer Stelle drastisch vor Augen geführt, wie der König handelt: grausam. Er vernichtet die Feinde, er verbreitet Schrecken; und selbst wenn dies im Auftrag Gottes geschieht, werden die schädigenden Wirkungen um nichts gemindert. König Saul, der erste König Israels, soll deren Feinde, die Amalektiner, so befiehlt es Gott, vollständig vernichten; keine Schonung dürfe es geben: Alle Menschen wie alle ihre Tiere, Männer und Frauen, Kinder und Säuglinge, 116 Frank Krüsemann, Der Widerstand gegen das Königtum. Die antiköniglichen Texte des Alten Testaments und der Kampf um den frühen israelitischen Staat, Neukirchen-Vluyn 1978; Lyle M. Eslinger, Kingship of God in Crisis. A Close Reading of I Samuel 1–12, Sheffield 1985; Andr8 W8nin, Samuel et l’instauration de la monarchie. Une recherche litt8raire sur le personnage, Frankfurt a. M. 1988; Kraus, Küchler, Saul, S. 74–78. 117 Werner H. Schmidt, Alttestamentlicher Glaube in seiner Geschichte, 11. Aufl., NeukirchenVluyn 2011, S. 154.

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Rinder, Schafe, Kamele und Esel – alle müssten getötet werden. Die Schonung, die Saul dem gegnerischen König angedeihen lassen will, indem er ihn lediglich gefangen setzt, trifft auf die Ablehnung Gottes. Schließlich vollendet der Prophet Samuel die Vernichtungstat (1 Sam 15.1–22). Der König Israels ist das Werkzeug, mit dem Gott seinen Zorn auf die Menschen lenkt. Um nichts weniger ist der König aber ein Eindringling in den Bund, den Gott mit seinem Volk, dem der Juden, schließt. Der König vollzieht auch nur unvollständig den göttlichen Willen; vollständig leistet dies der Prophet. Anders als in den Religionen Ägyptens und Vorderasiens bedarf es nicht der Mittlerrolle eines Königs, damit Gott zu seinem Volk spricht, es anführt und von ihm Opfer, Gebete und Gehorsam fordert. Gott erwählt sein Volk. Dazu bedarf es keines Königs. Er ist hingegen das Werkzeug Gottes, wenn er Schrecken verursacht.118 In der Institution des Königtums steckt ein Paradox. Einerseits widerspricht sie der ursprünglichen Absicht Gottes, andererseits wird sie von Gott dann doch dem Volk der Juden zugestanden. Einerseits gilt der Schrecken, den die Könige über die Menschen verbreiten, als ihnen schädlich, andererseits ist er als das Ergebnis der Herrschaft des Königs gerechtfertigt. Einerseits haftet der Schrecken der königlichen Herrschaft als Makel an, andererseits ist er von Gott befohlen. In der christlichen Deutung hat die auf den Schrecken und die Unterdrückung hinweisende Passage im Buch Samuel indes nicht dazu geführt, dem Königtum Legitimität vorzuenthalten – selbst nicht in den königskritischen Schriften. Bereits der jüdische Exeget Philo von Alexandria (ca.10 v. Chr.–40 n. Chr.), dessen Schriften großen Einfluss auf christliche Autoren der späten Antike besaßen und die allegorische Schriftauslegung prägten, gab die Richtung vor : Saul wurde zur Präfiguration aller Könige, aber entgegen dem biblischen Text in einem normativ-vorbildlichen Sinn: Sobald Saul sich von den irdischen Dingen und von den körperlichen Regungen gelöst habe, was im Alter von 75 Jahren geschehen sei, habe er die Lehren zum Königtum befolgt und gemäß der Bedeutung des Wortes »König« gehandelt, das Weisheit beinhalte.119 Die in der Passage 1 Samuel 8 enthaltene Kritik am Königtum hat Philo hingegen nicht aufgegriffen. Nur insofern die Könige weltlichen Zwecken verhaftet seien, seien sie verwerflich, wohingegen es gut sei, wenn die Könige – also die Personen unabhängig von der Institution – zu geistiger Vollkommenheit gelangten. Für die Gestaltung von Herrschaft ist eine solche Konzeption allerdings unerheblich. Die Königskritik haftet nur an der Person. Die jüdische Exegese eröffnet auch die 118 Jan Assmann, Exodus. Die Revolution der Alten Welt, München 2015, S. 249–251. 119 Philo de Alexandria leitet sein Urteil von der Kommentierung der Stelle 1 Sam. 10,22 ab, in der es heißt, dass sich Saul bei dem Tross versteckt habe; Philo Alexandrinus, De migratione Abrahami, in: Opera quae supersunt, hg. v. Leopold Cohn, P. Wendland, Bd. 2, Berlin 1897, S. 268–314, S. 306f.; Henry Anstryn Wolfson, Philos Foundation of Religious Philosophy in Judaism, Christianity, and Islam, Cambridge (Mass.) 1947.

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Option, die negativen Deutung von Saul aufzuheben, indem er als Vorgänger von König David und damit als Vorbereiter eines eigenen Königreiches der Juden vorgestellt ist, so wie dies in dem anonymen Brief, der angeblich von einer Person namens Aristea verfasst wurde und im Milieu der Juden Alexandrias zur Zeit der römischen Herrschaft kursierte, ausgeführt ist.120 Augustinus (354–430) wird in seinem Buch De civitate Dei, die die weltliche Herrschaft abschätzig bewertet, die alttestamentarische Passage in dem Sinne kommentieren, dass Gott allein der Urheber des Schreckens sei; Gott – und nicht der König – zwinge die Feinde der Juden, den ihnen zugefügten Schaden zu erstatten. Nur Geringes scheine Gott zu tun, aber er vollbringe Großes, indem er Furcht verbreite.121 Gott besitzt das Gewaltmonopol. Die Herrscher sind bestenfalls Erfüllungsgehilfen. Deswegen ist es eine Sünde, die Gewalt, die Gott befiehlt, nicht auszuüben. Ansonsten beschränkt Augustinus seine Ausführung in mehreren exegetischen Schriften darauf, den Ursprung der Königsgewalt von Saul – aber eben nur seiner, nicht allgemein jeder Königsgewalt – auf den Willen des Volkes zurückzuführen. Gott setze das Königtum nicht ein, er erlaube es lediglich.122 Dieser Richtung folgt auch die Kommentierung der Bibel.123 Die Entwertung des Königtums, die Papst Gregor I. (ca. 540–604) in seinem Kommentar In primum librum Regum vornimmt, verweist auf Saul, dessen Königserhebung er als Misstrauen gegen Gott wertet und als Ausgang von Ausbeutung und Furcht ansieht; aber es sind vor allem die babylonischen Könige, die er als Beispiele verderblicher Herrschaftsausübung nennt.124 Die Ausführungen Gregors zu Saul werden trotz seines großen Prestiges im Mittelalter nicht aufgegriffen, so dass das kritische Potential der Bibelstelle nicht ausgeschöpft wird.125 Rabanus Maurus († 856) und Petrus Damiani († 1072) bilden keine Ausnahmen, richten sie doch ihre Kritik an einzelne Könige, nicht aber an die Institution selbst. Die große Machtfülle des Königs hatte zwar ein biblisches Vorbild, das von Saul; das Modell wurde aber im Mittelalter nicht thematisiert, so dass auch die in ihm enthaltene Negation des Nutzens für die Untertanen nicht ausgeführt wurde und noch weniger die dem Königtum innewohnende Unterdrückung des Volkes. Der nordfranzösische Kanoniker und Theologe Petrus Comestor († 1179) deutete in seiner christlichen Weltgeschichte den biblischen Text, verän120 Fausto Parente, Le istituzioni politiche del popolo d’Israele, in: Storia delle idee politiche economiche e sociali, Bd. 2,1 hg. v. Luigi Firpo, Turin 1983, S. 3–112, S. 18f.; Ders., Il pensiero politico ebraicho, ebda. S. 113–288, S. 125–123; Ders., Il giuddaismo alessandrino, ebda., S. 289–360, S. 305f. 121 Augustinus, De civitate Dei, S. 537. 122 Quaglioni, Iniquo diritto, S 217. 123 Ebda., S. 220. 124 Gregor der Große, In librum primum Regum, S. 297, 301–315, 437f. 125 Hebrew Bible/Old Testament. The History of Its Interpretation, vol. 1: From the Beginnings to the Middle Ages, hg. v. Magne Sæbo, Göttingen 2000, S. 693.

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derte aber dessen Sinn entscheidend, indem dass Volk den Propheten Samuel (nicht Gott) bat, einen König einzusetzen. Für Petrus war dies das Argument, den Vorrang des Priesters vor dem König zu begründen. Anders wiederum als in der Bibel erzählt, richtete der Prophet Ermahnungen an den neuen König, verlangte von ihm Gerechtigkeit.126 Den König als unabänderlichen Verursacher des Unrechts abzuwerten, war also nicht vorgesehen. Die Bibelstelle bot vielmehr Gelegenheit, Anweisungen an den König zu formulieren. Die Auseinandersetzungen um den Vorrang von Kirche oder weltlicher Herrschaft, gemeinhin als »Investiturstreit« bezeichnet, drängten viele Geistlichen dazu, die Könige sowohl abzuwerten als auch der Anleitung durch sie für bedürftig zu erklären. Der Dominikaner Hugo von Saint-Cher leitete zur Mitte des 13. Jahrhunderts in seiner Bibelkommentierung aus der Passage I Samuel 8 die Aufforderung ab, dass die Könige nicht in Knechtschaft herabdrücken, nicht mehrere Frauen haben, nicht nach Gold und Silber streben sollten.127 Sein Ordensbruder Thomas von Aquin suchte den offensichtlichen Widerspruch zwischen I Samuel 8 und Deuteronium 17,14, wo es heißt, dass Gott den Juden einen König eingesetzt habe, nicht wie Hugo durch einen moralischen Appell aufzulösen, sondern durch die Unterscheidung von Tyrann und König.128 Wilhelm von Ockham († 1347/48) wird diese Differenzierung zurückweisen und auch mit dem Hinweis auf die Bibelstelle des ersten Buchs Samuel die unbedingte und gerechtfertigte Verfügungsgewalt der Könige über ihre Untertanen und deren Güter herausstellen. Die kritische Bewertung im Alten Testament formt er zur Legitimierung um.129 Die Glossa ordinaria der Bibel in der Druckfassung von 1480 und 1481 zieht eine Parallele von Priestertum und Königtum, weil beide durch die Salbung verliehen werden, wobei der Vorrang der Priester darin besteht, dass sie die Freiheit der Menschen intakt lassen. Sich von der Königsherrschaft zu befreien, bleibt den Untertanen verwehrt. Die Berechtigung zu herrschen, leitet die Glosse auch aus der Abstammung von Saul ab. Seine Herrschaft und die aller Könige beruht auf festen Grundlagen, die – gerade weil die Bibel Unterdrückung und Ausbeutung vorsieht – beides rechtfertigen.130 In ähnlicher Weise wird die Bibelstelle in der Rechtswissenschaft ausgedeutet und dient zur Begründung einer Königsgewalt, die, so ausbeuterisch sie auch sein mag, nichts an ihrer Legalität einbüßt.131 In der frühen Neuzeit setzte sich die Tendenz zur rechtlichen Aufwertung des

126 127 128 129 130 131

Petrus Comestor, Historia scholastica, Sp. 1303–1306. Hugo a S. Charo, In universum Vetus et Novum Testamentum, Bd. 1, Lyon 1645, fol. 225r. Thomas von Aquin, Summa theologiae, Prima secundae, quaest. 105, arg. 1 und 2, S.263f. Wilhelm von Ockham, Dialogus, S. 921f. Biblia latina cum glossa ordinaria, II, S. 13f. Quaglioni, Iniquo diritto, S. 226–231.

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Königtums durch den Verweis auf das Buch Samuel fort.132 Selbst wenn die Bibelstelle als Beleg für einen Herrschaftsvertrag zwischen Volk und König interpretiert wurde, war dies ein Grund mehr, die grausame und ausbeuterische, in düsteren Farben ausgemalte Königsherrschaft zu rechtfertigen, der zu widerstehen, niemandem zugebilligt werden dürfe, wie dies der künftige englische König Jakob I. in einer Schrift, die erstmals 1598 gedruckt wurde, ausführte.133 Dass Herrschaft mit Schrecken ausgestattet sei und der Schrecken als Herrschaftsinstrument weiterverliehen werden könne – und sogar legitimerweise –, erachtete der Zeitgenosse von König Jakob I., William Shakespeare, in der Komödie »Measure for Measure« als selbstverständlich: »Lent him our terror« (I.1.22) ist die Formel, mit der der Herrscher seinen Stellvertreter einsetzt. Saul wurde im Mittelalter nicht als Ausbeuter und Verbreiter von Furcht abgewertet. Im Gegenteil: Es wurde behauptet, Saul sei nicht grausam genug. Dass Saul den Befehl Gottes, den König der Amalikiter zu töten, nicht befolgte, galt als Ausweis seiner Verwerflichkeit, so dass der Prophet Samuel – als Präfiguration der Priester vorgestellt – Gottes Aufforderung gehorchte, zur Tat schritt und den gefangenen König in »Stücke riss« (1 Sam 15). Diese Textpassage wurde in den anti-königlichen Polemiken, auch von Papst Gregor VII. gegen Kaiser Heinrich IV., in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts als Argument herangezogen, um die Überlegenheit der Priester, die als Nachfolger der Propheten galten, über die weltlichen Herrscher herauszustellen, eine Deutung, die Petrus Comestor mittels der Bibelstelle Samuel I 8 leistete. Die Weigerung, den Willen Gottes zu vollstrecken, zeigt eine Verfehlung von Saul, die auf allen Königen lastet. Sein Makel besteht im Fehlen von Schrecken.134 In seiner Zusammenstellung von Bibelstellen und Kommentaren hat Petrus Lombardus diese Vorstellung am Ende des 12. Jahrhunderts befestigt und für die folgenden Jahrhunderte kanonisch gemacht. Die Herrscher wurden Ausführende des Schrecken Gottes. Deswegen galt es als eine Sünde, die Gewalt, die Gott befiehlt, nicht auszuüben. Saul ist nur gerechtfertigt, sofern er in den Dienst der Gerechtigkeit tritt, was heißt, Gottes Anweisung, Gewalt auszuüben, zu gehorchen. Ausdrücklich hält Petrus Lombardus fest, dass weder das Volk noch Saul sündigten, als das Königtum eingerichtet wurde. Die negativen Bewertungen des Königtums im Buch Samuel lässt Petrus beiseite.135 Saul war eine ambivalente Figur. Die Summa theologica, die Alexander von Hales (1185–1245), einer der ersten franziskanischen Theologen, und seine 132 Ebda., S. 234–242; Annette Weber-Möckl, Das Recht des Königs, der über euch herrschen soll. Studien zu I Sam 8, 11ff. in der Literatur der frühen Neuzeit, Berlin 1986. 133 King James VI and I: Political Writings, hg. v. Johann Peter Sommerville, Cambridge 1994, S. 62–84. 134 Althoff, Selig, S. 46–51, 76–84, 89–92. 135 Petrus Lombardus, Sententiae, Bd. 1, 1, S. 674: II, 43 A, 2; Bd. 2, S. 182: III, 31,1.

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Schüler, besonders Johannes de Rupella, verfassten, präsentiert Saul als Beispiel eines Menschen, der, ursprünglich mit der Gnade Gottes ausgestattet, sie durch sein Handeln verwirkt habe und der Verdammung anheimfalle. Die Summa Halensis bewertet indes das individuelle Verhalten des Königs, nicht dessen Herrschaft. Die Schlussfolgerung zielt auf eine moralische Lehre: Die Fehler auch der Könige gemahnen alle Menschen zur Demut.136 Aus der Passage des Ersten Buches Samuel schöpften die mittelalterlichen Texte keine institutionelle Herrschaftskritik; was blieb, war die Option, eine individuelle Herrscherkritik zu formulieren.137 Eine grundsätzliche Abwertung des Königtums und der Könige, bis hin zur Negierung des Nutzens der Institution selbst, stützte sich hingegen während des Mittelalters häufig auf die recht unscheinbare Stelle im Buch Genesis, in der es heißt: »Nimrod begann mächtig zu werden auf der Erde und war ein starker Jäger vor dem Herrn«: Nemrod ipse coepit esse potens in terra et erat robustus venator coram Domino. (Gen 10.8). Der Satz hat eine umfangreiche Kommentierung und Deutung erfahren, um Herrschaft zu charakterisieren: Aus der Jagd wurde Tötung, aus der Tötung durch den König Gewaltherrschaft, aus der Gewaltherrschaft Tyrannei abgeleitet. Der antike jüdische Geschichtsschreiber Flavius Josephus, der im christlichen Okzident als Gewährsmann für die Abfassung historischer Werke benutzt wurde, war der erste, der den biblischen Text mit politischen Inhalten anreicherte: Nimrod war stark und er übte Macht aus. Dabei handelte er übermütig und forderte Gott heraus. Er überredete die Menschen zum Irrglauben, sie könnten aus eigener Kraft, ohne Gottes Hilfe Glück erlangen. Die eingebildete Selbstwirksamkeit führte nach der Bewertung von Josephus zur Versuchung, der Allmacht Gottes die des Herrschers entgegenzustellen. Flavius Josephus schrieb, dass Nimrod die Herrschaft in Tyrannei umgeformt habe, indem er die Untertanen von der Gottesfurcht abgewendet und sie in die Furcht vor ihm selbst und damit unter seine Macht gebracht habe. Der Turmbau zu Babel wird ihm angelastet. Durch ihn sollte gegen eine neue Sintflut geschützt werden. Auch der antike jüdische Exeget Philo von Alexandrien hat die Gestalt von Nimrod als Urheber des Bösen und als Verfälscher eines wahren, weil gerechten Königtums eingeführt. Beide Autoren haben die spätere christliche Exegetik beeinflusst.138 Unter anderem haben Hieronymus, Augustinus, Isidor 136 Alexander de Hales, Summa theologica, I, S. 337; zur Frage der Autorschaft: ebda, S. CCXX– CCXXII; Basse, Traktat De legibus et praeceptis, S. 298 Anm. 1. 137 Erkens, Herrschersakralität, S. 38f.; Gerd Althoff, Libertas ecclesiae oder Säkularisierung im Mittelalter, in: Literarische Säkularisierung im Mittelalter, hg. v. Susanne Köbele, Bruno Quast, Berlin 2014, S. 371–384, S. 378. 138 Flavius Josephus, Jüdische Altertümer, hg. v. Heinrich Clementz, Wiesbaden 2004, S. 25: I, 4,2; Philo Alexandrinus, De gigantibus, in: Ders., Opera quae supersunt, hg. v. Leopold Cohn, Paul Wendland, Berlin 1897, S. 54f.

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von Sevilla, Texte des Kirchenrechts, mittelalterliche Chroniken, Fürstenspiegel und philosophische Werke das Thema ausgeführt, wie weiter unten gezeigt werden wird.139 In der Glossa ordinaria, 1480/81 erstmals gedruckt, wird die Kennzeichnung als großer Jäger – robustus venator – im Sinne von Unterdrücker und Vernichter der Menschen umgedeutet: hominum oppressor et extinctor.140 Die Fülle der Hinweise in der hebräischen Bibel zur Abwertung des Königtums war beeindruckend und wird angesichts der kanonischen Geltung der Texte offensichtlich nicht ignoriert worden sein. Im prophetischen Buch Osea wird die Einsetzung eines Königs durch Gott als eine den Menschen auferlegte Strafe bezeichnet. Zu nichts sei der König nützlich; er könne das Unglück von den Menschen nicht abwenden. Überdies sei das Königtum dem Untergang geweiht. Im Zorn gab Gott den Menschen einen König; im Zorn wird er ihn ihnen wieder nehmen (Hos 13.9–11). Mehrere Psalmen verweisen auf die Brutalität des Königs, die um nichts geringer ist, wenn Gott ihn einsetzt: Die Anweisung Gottes an den König, die Völker zu leiten mit eisernem Zepter und sie wie das Gefäß des Töpfers zu zerschlagen (Ps 2,9) erregt eine Furcht, die sofort einsetzt, so dass die Furcht, die die Menschen Gott entgegenbringen sollen, durch das Walten des Königs auf Erden verwirklicht ist. Gott zürnt den Menschen und bringt sie zum Zittern, aber er spendet ihnen auch Liebe (Ps 2, 13). Der König ist hingegen allein für die Furcht zuständig. Zorn und Furcht, von Gott auferlegt und von den Königen vollstreckt, erfassen alle Menschen und infizieren jede Machtausübung. Ein Entrinnen vor dem Wüten des Königs gibt es nur, wenn Gott ihm ein Ende setzt. Die Psalmen gehörten im Mittelalter zu den am häufigsten rezipierten biblischen Büchern; sie waren verwendet in Liturgie, Unterricht und persönlicher Lektüre; sie formten Vorstellungen; sie gaben vor, was Weisheit sei.141 Aber nicht allein die Könige waren zur Gewalt eingesetzt:

139 Isidor von Sevilla, Etymologiae, VIII, 6,22; Petrus Comestor, Historia scholastica, Sp. 1088; Otto von Freising, Chronica, S. 42, 44; Mathaeus Parisiensis, Chronica maior, I, S. 50; VI, S. 80; Pseudo-Methodius, Revelationes, S. 64; Gottfried von Viterbo, Speculum regum, S. 22, 31f.; Corpus iuris canonici, I, Sp.6, 11, 16: Pars I, Dist. IV, c. 1; Pars I, Dist VI, c. 3; Pars I, Dist. IX, c.1; Johannes Teutonicus, Bartholomaeus Brixensi, Glossa ordinaria, Rom 1582, Sp. 14; Henricus de Segusio, Commentaria, fol. 6r, 61r, 170v, 176r; Johannes von Salisbury, Policraticus, hg. v. Keats-Rohan, S. 35; Vinzenz von Beauvais, De morali principis institutione, S. 11–16; Johannes Duns Scotus, Ordinatio. Liber quartus, S. 131–139: Ox. lib IV, dist. 16, q. 1; Buc, Pouvoir, S. 691–713, Ders., Ambiguit8, S. 108–117, 141, 225, 237, 345; Hinweise zu weiteren Kommentaren: Stürner, Peccatum, S. 162f. 140 Biblia latina cum glossa ordinaria, I, S. 42. 141 Thomas Lentes, Text des Kanons und heiliger Text. Der Psalter im Mittelalter, in: Der Psalter in Judentum und Christentum, hg. v. Erich Zenger, Freiburg i. Br. 1998, S. 323–354; Klaus Schreiner, Der Psalter. Theologische Symbolik, frommer Gebrauch und lebensweltliche Pragmatik einer heiligen Schrift in Kirche und Gesellschaft des Mittelalters, in: Metamorphosen der Bibel. Beiträge zur Tagung Wirkungsgeschichte der Bibel im deutsch-

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Moses und die Propheten taten dies auch: Auf Samuel ist bereits hingewiesen worden. Moses, als er die Juden bei der Verehrung des goldenen Kalbes antraf, ließ viele von ihnen töten; auf Anweisung Gottes streckte er diejenigen Juden nieder, die Götzendienst leisteten (Ex 32.28); der Enkel von Aaron tat es ihm gleich (Num 25–1–8); der Prophet Elias hat viele mit dem Tod bestraft, sowohl mit eigener Hand als auch mit Feuer, das er vom Himmel erbat und erhielt (1 Kg 18.40; 2 Kg 1.10). Diese Vorbilder hatten Geistliche nachzuahmen, wie Papst Gregor IX. in den Schreiben vom Juni 1233 ausführte, damit der furor die Ketzer heimsuchen sollte.142 Zur Nichtigkeit und zum Übel menschlichen Tuns gehört gemäß dem Text des Ecclesiastes, als eines der drei Weisheitsbücher König Salomon zugeschrieben, heute als Buch Koholet bezeichnet, auch die Macht. Sie auszuüben, geschieht sogar zum Unglück des Herrschers selbst. Kein Nutzen kann er von ihr erwarten (Ecclesiastes = Pred. 8.9). Seit der späten Antike, durch Hieronymus († 420) und im Umkreis von Gregor dem Großen († 604), wurde die Schrift kommentiert. Die Glossa ordinaria zu diesem biblischen Buch, beruhend auf den Texten von Walafried Strabo und vor allem von Anselm von Laon zu Beginn des 11. Jahrhunderts, zementierte langfristig ein Verständnis, das der Herrschaft Wert und Nutzen vorenthält. Die Deutung des Textes durch den Pariser Stiftskanoniker Hugo von Saint-Victor (†1141) hat die Nichtigkeit der Dinge, wie sie im biblischen Text behauptet ist, weiter ausgeführt: Die weltlichen Dinge seien nichts als Wahn, weil sie nicht beständig seien, sich veränderten und daher kein Zutrauen in ihre Wirkung verdienten. Weil dies auch für die Herrschaft gelte, sei es unerheblich, sie zu rechtfertigen, aber genauso auch, sie zu verwerfen. Alle Gefühle der Menschen seien – so im Buch Ecclesiastes – als nichtig anzusehen und vermögen nichts am unabänderlichen Verfall jeder Kreatur, an den Nutzlosigkeiten aller Bindungen in Familie und Freundschaft und an den allgegenwärtigen Enttäuschungen etwas zu ändern.143 Die fatalistische Unterwerfung unter die Herrschaft lässt keinen Platz für eine ethische Bewertung, de-motiviert von Anstrengungen zugunsten von Gemeinschaften, führt zu einer generalisierten Negation, die den Dingen der Welt jeden Wert vorenthält, entzieht der Herrschaft eine emotionale Grundierung, macht sie für das Leben der Menschen unerheblich.144 sprachigen Mittelalter, Trier 4.–6. Sept. 2000 (Vestigia Biblioa 24/25), Bern, Berlin 2003, S. 9–45. 142 MGH Epp. Saec. XIII, 1, Nr. 537, S. 432–435. 143 Hieronymus, Commentarius in Ecclesiastes, hg. v. Marc Adriaen (CCSL 71), Turnhout 1959, S. 249–361; The Glossa ordinaria of Ecclesiastes. A Critical Edition, hg. v. Jennifer Lynn Kostoff-Kaard, Toronto 2015; Hugo von Saint-Victor, In Ecclesiastes homiliae, in: PL 175; Paris 1854, Sp. 116–119. 144 Jean-Claude Guy, La place du contemptus mundi dans le monachisme ancien, in: Revue d’asc8tique et de mystique 41 (1965), S. 237–249; E. Ann Mattes, The Church Fathers and

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Große Aufmerksamkeit im Mittelalter fand das alttestamentarische Buch Ecclesiasticus. Es gehört der Gruppe der Weisheitsschriften an und wird heute als Buch von Jesus Sirach bezeichnet. Es stellt die Schrecken erregende Wirkung jeder Herrschaft, nicht allein der des Königs, heraus; ja sie kann ohne ihn nicht bestehen. Der Schrecken wird verlangt und gilt als Ausweis nicht allein des Gelingens von Herrschaft, sondern als Vollzug von Gottes Willen: Der Sohn ist vom Vater mit der Geißel zu züchtigen. Von frühester Kindheit muss ihm das Rückgrat gebrochen werden. (Eccl = Sir 7. 23; 30.1–13) Dem Knecht ist die Rute angemessen. Ihm nachgiebig zu sein, bringt ihn nur dazu, dreist nach Freiheit zu streben. Dem schlechten Knecht ist die Folter angedroht; Ungehorsam ist mit Fesselung zu strafen. (Eccl 33.25–30) Die folgende Empfehlung zur Milde beschränkt um nichts weniger die willkürliche Verfügung des Herrn über seine Untergebenen. Es ist Gottes Wille, mit Härte zu herrschen. Mittels des Schreckens wird regiert, ihm sind die Menschen ausgeliefert. Der Text eignete sich im Mittelalter zur Begründung einer Herrschaftsordnung, aus der es kein Entrinnen geben dürfe, die die Untertanen erdulden müssten, die keine Vorteile gewähre, die Gewalt ausübe, in der Liebe nur in der Verfügung der Herren stehe, die gleichwohl von Gott gewollt und die den Menschen auferlegt sei, weil sie die Herrschaft ursprünglich in Verblendung erbeten hätten, so die Deutungen der frühen mittelalterlichen Exegeten Rabanus Maurus († 856) und Petrus Damiani († 1072). Thomas von Aquin († 1274) hingegen weist eine allgemeine Kennzeichnung von Herrschaft als den Menschen schädliche Einrichtung zurück. Die Passage im Buch Echeziel (Ez 19), in der die Fürsten als Räuber, Erpresser und Mörder bezeichnet sind, deutet er in dem ausführlichen Brief an die Fürstin Margarethe von Brabant in der Weise, dass die Aussagen des Propheten die Herrschaft nicht beschrieben, sondern vor ihrem Missbrauch warnten, dass sie verlangten, dass die Herrscher keine Untaten verüben und stattdessen als Diener des allgemeinen Wohls handeln sollten. Der biblische Text ist für Thomas nicht eine Beschreibung eines von Gott gewollten Zustandes, sondern eine Aufforderung, einen schlechten Zustand zu verhindern.145 Es gibt auch Texte des Alten Testaments, die den König günstig darstellen. Den Widerspruch der Bewertungen kennt sogar das Buch Samuel selbst, westhe Glossa ordinaria, in: The Reception of the Church Fathers in the West. From Carolingias to the Maurits, hg. v. Irena Back u. a., Bd. 1, Leiden u. a. 1997, S. 83–112, S. 95–97; Francesco Lazzari, Il contemptus mundi nella scuola di S. Vittore, Neapel 1965; Jean Leclercq u.a, Le m8pris du monde. La notion de m8pris du monde dans la tradition spirituelle occidental, Paris 1965; Brian d. FitzGerald, Time, History, and Mutability in Hugh of St.-Victor’s Homilies on Ecclesiastes and De vanitate mundi, in: Viator. Medieval and Renaissance Studies 43,1 (2012), S. 215–240. 145 Hrabanus Maurus, Commentariorum, Sp. 673–762, Sp.721f.; Petrus Damiani, De principis officio, Sp. 820–825f.; Thomas von Aquin, Epistola ad ducissam Brabantiae, S. 375–378; zur Forschung hinsichlich der Adressatin des Briefes siehe Anm. 1215.

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wegen einige moderne Theologen unterschiedliche Autoren und Entstehungsschichten annehmen, was freilich für die vormoderne Rezeption unerheblich ist.146 Die Salbung des ersten israelitischen Königs Saul (2 Sam 9.26–10.8) ist als religiöse Zeremonie konzipiert. »Gott ist mit Dir«, wird verkündet. Der König ist in einen exaltierten Zustand versetzt, gewinnt privilegierten Zugang zu Gott und wird ein anderer Mensch. Allein schon der Name »König« stellt diesen in die Nähe zu Gott, denn auch Gott wird nicht selten »König« genannt. Vor allem wenn Gott Furcht verbreitet, wird er als König präsentiert. »Der Herr ist König. Es zittern die Völker vor ihm« (Ps 99.1).147 Vom Propheten gesalbt, wird der König zum Gesalbten Gottes – so der ursprüngliche hebräische Königstitel. Im Mittelalter war die Salbung der israelitischen Könige (1 Sam 9; 10.1–7; 16; 16.1–13) das Vorbild zur Liturgie der Herrschereinsetzung, die, weil sie als von Gott selbst gestaltet galt und der Mitwirkung der Geistlichen bedurfte, den König in die Nähe des Sakralen rückte.148 Die Präsentation der vorbildlichen Könige David und Salomon und die Heroisierung der Makkabäer erweiterten ein vielschichtiges Bild, das mannigfache Anknüpfungspunkte für die mittelalterlichen Auslegungen bot. Beschrieben werden Könige, die sich als Verteidiger des Volkes Gottes, als Kämpfer gegen seine Feinde, zugleich aber auch als gefährliche Widersacher gegen ihre eigenen Untertanen betätigen. Die militärische Militanz, mit der sie ihre Heere anführen, und der Schrecken, den sie unter ihren Feinden und gegen die Aufrührer unter ihren Untertanen verbreiten, waren der Nährboden für mittelalterliche Deutungen, die Vorbild und Legitimität der Herrscher dargestellten.149 »König David 146 Von der Einheit der beiden Bücher Samuel gehen hingegen aus: Kraus, Küchler, Saul, S. 260f. 147 Johannes B. Brantschen, Der grausame Gott der Bibel. Einige Lesehilfen für Nichttheologen, in: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 50 (2003), S. 376–387. 148 Raymund Kottje, Studien zum Einluß des Alten Testaments auf Recht und Liturgie des frühen Mittelalters (Bonner Historische Forschungen 23), 2. Aufl., Bonn 1970, S. 94–105; Markus Saur, Königserhebungen im antiken Israel, in: Investitur- und Krönungsrituale. Herrschaftseinsetzungen im kulturellen Vergleich, hg. v. Marion Steinicke, Stefan Weinfurter, Köln 2005, S. 29–42; Jean Sainsaulieu, De J8rusalem / Reims. Origines et 8volution des sacres chr8tiens, in: Le sacre des rois, Paris 1985, S. 17–26; Robert Folz, Le sacre imp8rial et son 8volution (10–13e si8cle, ebda., S. 89–100; Coronations; Joachim Ott, Krone und Krönung. Die Verheißung und Verleihung von Kronen in der Kunst von der Spätantike bis um 1200 und die geistige Auslegung der Krone, Mainz 1998. Paul A. Jacobson, Sicut Samuhel unxit David. Early Carolingian Royal Anointing Reconsidered, in: Medieval Liturgy. A Book of Essays, hg. v. Lizette Larson-Miller, New York, London 1997, S. 267–303; Jan Clauss, Die Salbung Pippins des Jüngeren in karolingischen Quellen vor dem Horizont biblischer Wahrnehmungsmuster, in: FMASt 46 (2012), S. 391–417, Drews, Monarchische Herrschaftsformen, S. 208–213. 149 Hugo Steger, David rex et propheta. König David als vorbildliche Verkörperung des Herrschers und Dichters im Mittelalter, Nürnberg 1961; Claudia Ludwig, David, Christus, Basileus. Erwartungen an eine Herrschergestalt, in: König David. Biblische Schlüsselfigur

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zog mit seinen Leuten nach Ziklag. Von dort unternahmen sie Raubzüge gegen die Nachbarvölker Judas (…). Überall, wo sie hinkamen, töteten sie Männer und Frauen. Aber die Schafe, Rinder, Esel und Kamele und die Kleider nahmen sie mit sich. (…) David ließ niemanden am Lebens und brachte keine Gefangenen mit sich« (1 Sam 27.8–11). Der Bericht handelt zwar von Ereignissen vor der Zeit der Königserhebung Davids. Aber die Furcht, den der künftige Herrscher den Menschen einflößt, bereitet auf sein später übernommenes Amt vor. Und auch als König hört David nicht auf, Schrecken zu verbreiten, vornehmlich gegen die Feinde des Volkes Israel: »Danach besiegte er (David) die Moabiter. Die Gefangenen mussten sich nebeneinander auf die Erde legen, und er ließ die Messschnur über Tod und Leben entscheiden. Man maß jeweils zwei Schnurlängen ab; wer darunter fiel, wurde getötet, die übrigen blieben am Leben« (2 Sam 8.2). Besiegten Feinden ließ er die Fußsehnen durchschneiden (2 Sam 8.3). Aber auch Milde gewährte David und verzieh seinen Feinden (2 Sam 19.16–31). Die Entscheidungen fielen willkürlich. Jeden konnte das Schwert treffen oder verschonen. Von König Salomon berichtet das Erste Buch der Könige, er habe viele seiner Feinde getötet – auch innerhalb seines Reiches (1 Kön 2.13–25; 2.36– 46). So habe er sein Königtum befestigt. Neben dem Lob über die Erfolge Davids und Salomons steht die Verurteilung von grausamen Taten. Aber immer gilt: Gott lenkt das Tun. »Der Herr stand David zur Seite und ließ ihm alles gelingen, was er unternahm« (1 Chron 18.12). Im Buch der Sprichwörter, vor der kritischen Bibelwissenschaft König Salomon zugeschrieben, ist der terror regis – so in der Vulgata – gleich dem Brüllen des Löwen. Wer den König herausfordert, leidet Schaden. (Spr 20. 2). Aufständische gegen den König finden ihre verdiente Strafe: Sie werden am Palasttor umgebracht (2 Kön 11.4–20; 2 Chron 23.15). Mitunter greift Gott selbst ein, um den König zu unterstützen. Usija, der sich die Verrichtung von Tempeldiensten anmaßt, verfällt auf Gottes Weisung der Lepra (2 Kön 15.5–7; 2 Chron 26.15–22). Aber auch die Könige der Juden, die von Gott eingesetzt sind, handeln nicht selten gegen seine Anweisungen. Daher ist auch König David nicht sicher vor den Strafen Gottes; auch er lebt in der Furcht vor Gott. Der gegen Gottes Willen befohlenen Volkszählung – sie dient der Erfassung von Abgaben – lässt Gott ein durch die Pest herbeigeführtes massenhaftes Sterben unter den Israeliten folgen (1 Chr 21.7–17). Die Ungerechtigkeit der Könige ist stets präsent. Gott greift mitunter ein, um das Unrecht abzuwenden. Die Strafen suchen viele, auch die Herrscher heim. Aber Gott richtet seine Macht vor allem gegen die Fremden, die der Furcht und europäische Leitgestalt. Kolloquium der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften, hg. v. Walter Dietrich, Hubert Herkommer, Freiburg (Schweiz), 2003, S. 367–382.

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ausgeliefert sind: »Über alle Königreiche rings um Juda hatte der Herr eine gewaltige Furcht kommen lassen.« (2 Chr 17.10). Die Vulgata verwendet den Begriff pavor. Gott erzeugt die Furcht und fügt sie den Feinden der Juden zu – vermittelt über die weltliche Gewalt der Könige. Gott verbreitet über alle Königreiche der Erde den pavor, damit sie erfahren, dass sie wider seinen Willen das Volk Israel bekämpfen (2 Chr 20.29). Die Furcht ist nicht einmal mehr situativ eingesetzt, sondern führt zu einer allgemeinen Abschreckung. Die Gottesfurcht wird zugunsten der Herrschaft gebraucht und dient dem Erhalt des von Gott erwählten Volkes und der Gewalt des von Gott gewollten Königs. Wegen dieser Furcht weichen die Feinde vor den Juden zurück. Die beiden Bücher zu den Makkabäern, welche als Widersacher gegen die hellenistischen Könige imaginiert sind, inszenieren eine Allmacht, der die Feinde Israels erliegen (1 Mak 3.6). Timor und tremor werden allen Völkern zugefügt, die die Wahrheit des göttlichen Seins und Wirkens verkennen und sich gegen die Juden wenden (1 Mak 7.18). Furcht wird im militärischen Kampf verbreitet, so dass die Feinde in Panik vor dem siegreichen jüdischen Heer fliehen. (2 Mak 12.22). Aber auch das Volk der Juden fürchtet seinen Herrscher. Durch timore magno niedergerungen, folgt es dem künftigen Hasmonäer-Herrscher Jonathan, dem Gewalt von Gott verliehen worden ist (1 Mak 10.8). Die jüdischen Makkabäer-Könige werden im Mittelalter Vorbild werden für die christlichen Herrscher, die Kriege führen und diese als von Gott beauftragt behaupten.150 Auch ein heidnischer Herrscher, der sich als Freund des Volkes Gottes erweist, König Kyros von Persien, übt den von Gott verliehenen Schrecken aus. Im prophetischen Buch Isaias gilt auch er als derjenige, der Gottes Befehl vollstreckt und dem Gott die Völker unterwirft. Die Feinde zerlegt Kyros zu Staub. Alle zittern vor ihm, alle fürchten ihn (Jes 41.1–5). Grausamkeit gegen die Feinde und aufopferungsvolle Hingabe für den Nutzen des Volkes Israel, wie sie im alttestamentlichen Buch Judith erzählt sind, waren im Mittelalter – obwohl die Vulgata das Buch unter die Apokryphen einordnete – häufig Themen von Nachdichtungen, die nicht allein die »starke Frau« (so 150 Klaus Schreiner, Die Makkabäer. Jüdische Märtyrer und Kriegshelden in liturgischen und historischen Gedächtnis der abendländischen Christenheit, in: Ders., Märtyrer Schlachtenhelfer, Friedensstifter. Krieg und Frieden im Spiegel mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Heiligenverehrung, Opladen 2000, S 1–52; Susanne Wittekind, Die Makkabäer als Vorbild des geistlichen Kampfes. Eine kulturhistorische Deutung des Leidener MakkabäerCodex Perizoni L 17, in: Frühmittelalterliche Studien 37 (2003), S. 47–71; Christoph Fasbender, Zur Datierung des »Buchs der Makkabäer«. Zugleich eine Vorstudie zur Rezeption der Postilla litteralis des Nikolaus von Lyra im Deutschen Orden, in: Mittelalterliche Kultur und Literatur im Deutschordensstaat Preussen, hg. v. Jaroslaw Wenta, Torun 2008, S. 423– 440; Buc, Heiliger Krieg, S. 83; zur historischen Realität, bzw. Fiktionalität der Ereignisse, die in den beiden Büchern zu den Makkabäern berichtet werden: Ludwig SchwienhorstSchönberger, Martyrium der Gewaltlosigkeit. Gibt es ein Makkabäer-Syndrom? in: Sterben für Gott, Töten für Gott Religion, Martyrium und Gewalt, hg. v. Jan-Heiner Tück, Freiburg i.Br. u. a. 2015, S. 148–190.

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Henrike Lähnemann) thematisierten, sondern Judith als vorbildliche Gestalt im Kampf gegen die Heiden und des unerbittlichen Einsatzes von Gewalt ausgaben, die üblicherweise diejenigen ausüben sollen, die die Macht dazu besitzen, meist also Männer, in der größten Bedrängnis aber auch Frauen. Die Identifikation mit einer scheinbar schwachen Frau, deren Heimatstadt von einem heidnischen Herrscher belagert wird, bot Ansporn, auch in scheinbar aussichtsloser Lage nicht davon abzulassen, zur Gewalt bereit zu sein und den Gegner mit List niederzustrecken.151 Der Schrecken, den Könige, Kämpfer und tapfere Frauen in den biblischen Erzählungen verbreiteten, war Rechtfertigung für diejenigen, die nicht minder militant als Judith gegen die Feinde des Volkes Gottes vorgingen, wie umgekehrt der Schrecken, den pagane Herrscher verbreiteten, deren Schändlichkeit offensichtlich machte und zu grausamer Gegenwehr aufrief. Der Schrecken, den König Nebukadnezar ausübte, war der Beweis für sein ungerechtes Handeln, das auf den Mangel an Gottesfurcht, nicht an Menschenliebe zurückgeführt wurde, so dass der Ausschluss des schlechten Königs aus der Gemeinschaft der Menschen deren Ordnung wieder herstellte. Diese Ordnung bedurfte keines Königs. Verlangt war in dem Buch Daniel, in dem Nebukadnezar auftritt, die Unterordnung unter Gott (Dan 4.22–31). Widerspruchsfrei sind die Evokationen in den Büchern der hebräischen Bibel nicht. Das Bild des Königs oszilliert zwischen »Entzücken und Erschrecken«, wie Jürgen Habermas formuliert, wenn er die Aneignung des Sakralen durch die Macht charakterisiert und kritisiert und er die »bindende Kraft« von Geltungsansprüchen durch die Sublimierung des Alltäglichen durch die Religion erörtert.152 In einem wichtigen Punkt gibt es Eindeutigkeit: Der Schrecken und gleichermaßen die Liebe sind hierarchisch angelegt, indem sie beide in Analogie zur Beziehung von Gott zu den Menschen gestellt werden. Machtdifferenz ist religiös geformt und steht als Modell für das Verständnis aller sozialen Relationen zur Verfügung, kann aber umgekehrt auch der Kritik ausgesetzt sein, besonders wenn ein Bruch zwischen Gott und dem König behauptet wird und der König als entweder unvollkommener Vollstrecker des göttlichen Befehls oder als verderbter Schädiger der Menschen beschrieben wird. Ungleichheit, Unterwerfung und Zwang verlangen den Schrecken und lösen ihn aus. Der terror ist den Menschen auferlegt, sie müssen ihn erdulden, denn Gott setzt ihn ein, um sie zu strafen (Gen 35.5). Der terror ist aber auch allgemein, von Situationen unabhängig, ja auch ohne Verschulden zu erleiden, und wird eingesetzt, um sowohl 151 Henrike Lähnemann, Hystoria Judith. Deutsche Judithdichtungen vom 12. bis zum 16. Jahrhundert (Scrinium Friburgense. Veröffentlichungen des Mediävistischen Instituts der Universität Freiburg Schweiz 20), Berlin, New York 2006, S. 11, 438f. 152 Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft, 3. Aufl., Frankfurt a. M. 1985, S. 118f.

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vor künftigen möglichen Sünden abzuhalten, als auch um die Unbegreiflichkeit von Gottes Handeln vor Augen zu führen. Der Zorn Gottes richtet sich gegen die Menschen, denen nicht einmal ein Vergehen angelastet werden kann. (Ps 74 und Ps 85). Furcht und Schrecken sollen aber vor allem von schlechtem Tun abhalten: terror illius (d. h. von Gott) esset in vobis ut non peccaretis (Ex 20, 20). Der Schrecken ist zur Abschreckung eingesetzt. Moses spricht zu seinem Volk: Fürchtet euch nicht. Gott ist gekommen, um euch auf die Probe zu stellen. Die Freiheit vor Furcht in Aussicht gestellt, denn wer den Anweisungen Gottes folgt, bleibt von seinem Schrecken und von der Furcht vor ihm verschont (Spr 1.33). Gott schützt die Menschen, deswegen vermag der terror nichts gegen sie, aber nur wenn sie nicht zu den Sündern gehören (Spr 3.25). Der terror erreicht diejenigen nicht, die gerecht sind. Sie fliehen nicht; sie bleiben ruhig wie der Löwe, sie sind ohne Angst (Spr 28.1). Terror ist insbesondere im Buch der Weisheit als ein Mittel der Sanktion vorgesehen, den zu verhängen, sowohl Gott als auch der König befugt ist. Im Mittelalter ist ein Themenfeld ausgebreitet, das den terror Dei zur Erzwingung des Gehorsams, auch gegenüber den Anweisungen der Könige einsetzt. In einem karolingischen Kapitular wird ausgeführt, dass terror et studium sowohl Gott als auch den König umgeben. Dies sei so eingerichtet, damit keine Ungerechtigkeit eintrete und, falls doch, damit dann den Ungerechten in keiner Weise Hilfe gewährt und letztlich keine Hoffnung genährt werde, dass ihr Tun ungestraft bleibe.153 Göttliche und irdische Herrschaft sind ähnlich gestaltet. Moses empfängt die Gesetze von Gott, der als Gesetzgeber handelt; seine Macht verlangt den Gehorsam der Menschen, im Besonderen der Juden.154 Jede Begründung nach Nützlichkeit, selbst nach Vernünftigkeit entfällt. Der Willkür ist keine Schranke gesetzt, wie Ernst Cassirer in der Deutung der biblischen Bücher ausführte. Gott schlägt, er zerreißt; zugleich heilt er die Wunden, macht gesund (Hos 6.1).155 Die Himmelsleiter, die Jakob im Traum sieht und auf der die Engel auf- und niedersteigen (Gen 28.12), ist Sinnbild einer vertikalen Distanz, die nicht der Mensch, sondern nur Gott in liebender Annäherung überwindet. Nur dank einer Hierarchie der Zwischenwesen bietet sich dem Menschen die Möglichkeit, in die Stufenleiter der geschaffenen Wesen einzutreten und an den Kenntnissen der Engel zu partizipieren, was in der mittelalterlichen Angeliologie ausgiebigen Interpretationsstoff lieferte. Papst Gregor I. hat in seinem Werk Cura pastoralis die Bibelstelle von Jakobs Traum als Aufforderung verstanden, dass der rechte Hirte, der die Gläubigen leitet, Gott und die himmlischen Chöre kennen müsse; 153 MGH Cap, Bd. 2, hg. v. Alfred Boretius, Viktor Krause, Nachdr. Hannover 2001, S. 346. 154 Jan Assmann, Exodus. Die Revolution der Alten Welt, München 2015, S. 39–45. 155 Cassirer, Myth, S. 80.

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er habe die Aufgabe, seine Kenntnis den ihm anvertrauten Menschen weiterzugeben, den wahren Sinne des Wortes Gottes weiterzuleiten. Die Liebe zu den Schwachen treibe ihn dazu an. Die Schau der Engel, wie im Traum zur Himmelsleiter erzählt, ist zeitlich befristet, ist an einen seelischen Ausnahmenzustand gekoppelt, ist aber ein Symbol dafür, dass Grenzüberschreitungen für die Gläubigen möglich sind, freilich stets unter der Beachtung der hierarchischen Schwelle, über die hinweg Gaben der Liebe gereicht werden, die Zugang zum Wissen gewähren.156 Engel sind aber auch Vermittler von Furcht und Schrecken, die sie im Auftrag Gottes den Menschen zufügen. Diejenigen, die Gott lästern, werden durch die Engel, die seine Arme darstellen, in timore et tremore versetzt, wie es im zweiten Buch der Makkabäer heißt (2 Makk 15.23). In einer paradoxen Dialektik interpretiert die Benediktregel aus dem 6. Jahrhundert die hierarchische Stufenleiter. Der Pfad zur Demut, den der Mönch beschreitet, ist eine Übung des freiwilligen Abstiegs. Dieser Abstieg ist die Voraussetzung des Aufsteigens. Die Umkehrung gelingt, weil die Liebe zum Erklimmen der Himmelsleiter befähigt.157 Die Liebe ist in ein Gefüge hierarchischer Distinktion eingebunden. Und ebenso beruht der Schrecken auf Über- und unterordnung und befestigt sie. Der Schrecken kann aber überwunden werden. Die Unterwerfung unter Gottes Befehlen befreit vor ihm. Dann entfaltet die Liebe ihre Wirkung. Die Liebe entfaltet sich aber in den Texten der Bibel abseits der Herrschaft Unter den Texten des Alten Testaments preist das Hohe Lied die Liebe und stellt sie in eine Hierarchie. Am Anfang des Buches wird die Liebe genannt, die dem Geliebten, der ein König ist, entgegengebracht wird. Die Dramatisierung der Liebe zwischen dem Bräutigam und seiner Braut behandelt die erotische Anziehung zwischen beiden und die gegenseitige Lobpreisung der körperlichen Schönheiten. Die Sehnsucht nach der sexuellen Vereinigung nähert das Thema der Liebe an eine personale Beziehung, entzieht sich auf diese Weise zunächst jeder sozialen oder gar politischen Verwendungsmöglichkeit (Hld 1–8), ist aber gleichwohl geeignet, um eine bereits im Judentum angelegte und im Christentum weiter ausgeführte Exegese in eine übertragene Bedeutung hinüberzuführen, um dank der mehrfachen Schriftauslegung die Liebesbeziehung auf eine zwischen Gott und den Menschen, bei den Christen auch zwischen Gott und Maria und zwischen Gott und der Kirche bestehende Relation auszuweiten. Nur in einer allegorischen Auslegung waren die Liebesgesänge dem Mittelalter zugänglich.158 Die Allegorie tilgte die Erotik, verstärkte hingegen die Hierarchie. 156 Gregor der Große, Regula, S. 196, 381. 157 Die Benediktregel, hg. v. Georg Holzherr, Freiburg (Schweiz) 2005, S. 77f. 158 Friedrich Ohly, Hohelied-Studien. Grundzüge einer Geschichte der Hoheliedauslegungen des Abendlandes bis um 1200, Wiesbaden 1958 ; Helmut de Boor, Die deutsche Literatur

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Aber dass die weltliche Herrschaft an der Hierarchie, die die Liebe herstellt, beteiligt wäre, wurde gar nicht erst vorgesehen. Im Gegenteil: Mit der Allegorisierung trat die Figur des Königs als Bräutigam in den Hintergrund. Gleichwohl war dargelegt, wie die Liebe von der Dominanz geformt war und umgekehrt die Liebe sie formte. Schon in der Antike, durch Origenes, Ambrosius und Papst Gregor I., vor allem aber im hohen Mittelalter durch die Kommentierung des Hohen Liedes durch den Benediktiner Rupert von Deutz (1075–1129), den Zisterzienser Bernhard von Clairvaux (1090–1153) und seinen Ordensbruder und Zeitgenossen Wilhelm von Saint-Thierry (ca. 1085–1149) war die Thematik der Liebe aus der intimen Relation zweier Personen herausgelöst und für komplexe Relationen in einer von Gott geleiteten Hierarchie erweitert worden, so dass Verhaltensregeln und Emotionen miteinander kombiniert wurden, um Gott, Geistwesen und Menschen in eine harmonische Beziehung der Rangordnungen einzubinden, so dass die Institutionen, die der Kirche, in Beziehung zu Gott eingestellt waren. Die weltliche Herrschaft stand dabei aber abseits der Liebe, und ihr waren die Bindungskräfte, die sie schuf, vorenthalten. Bernhard von Clairvaux schreibt, dass die Liebe zur Verachtung der Welt führe; lediglich in kleinen Gemeinschaften, offensichtlich meint Bernhard klösterliche, seien Liebe und Frieden im Diesseits möglich. Die Metaphorik des Hohen Liedes, die u. a. als Beschreibung des Bandes zwischen Gott und Kirche galt, also institutionell produktiv gemacht war, verhinderte bei Bernhard von Clairvaux aber keineswegs eine geradezu ins Extreme gesteigerte sexualisierte Sprache und eine konkretisierte Körperlichkeit: Durch den Kuss des Bräutigams schwellen die Brüste der Braut an, und »wenn jemand sie drücken sollte, wird sie sofort die Milch der empfangenen Süße ausgießen.« Die körperhaft ausgemalte Liebe wird indes sofort metaphorisch eingefangen: Der Ort ihrer ekstatischen Steigerung ist vor dem Altar, die Zeit während des Gebetes.159 Für Bernhard war Gott ausdrücklich nicht Gerechtigkeit, sondern Liebe, die Aussage des ersten Johannesbriefes (1 Joh 4,16) steigernd, womit er der Begrifflichkeit des Rechts und des Herrschaftshandelns das Sprechen über Liebe entgegenstellte. Bernhard und ebenso sein Ordensbruder Wilhelm von Saint-Thierry trennten die Herrschaft Gottes und seine Hinwendung zu den Menschen von weltlichen Herrschaften, die zwar mit Gottes Einverständnis und gemäß Gottes Einsetzung agierten, dabei aber Überwältigungen und Vernichtungen verübten und aufgrund menschlicher Verfehlungen – seitens der Herrscher und genauso der Beherrschten – Gewalt anwendeten und nicht die Erfüllung der Anweisungen Gottes in Anspruch zu nehmen berechtigt seien.160 des späten Mittelalters, Teil 1: Epik, Lyrik, Didaktik, geistliche und historische Dichtung, neubearb. v Johannes Janota, München 1997, S. 426–428. 159 Bernhard von Clairvaux. Sermones super Cantica Canticorum, S. 140. 160 Ebda., S. 290f., 256f., 614–617; Guillelmus S. Theodorici, Expositio altera super Cantica

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Die Vorstellung des allmächtigen Gottes, der straft, der willkürlich die Menschen züchtigt und Schrecken verbreitet, der zugleich ihnen Liebe gewährt, verlieh jeder Herrschaft eine Wirkung, die nur erduldet, nicht aber gestaltet werden konnte. Die Fixierung einer sozialen und politischen Ordnung, die als von Gott eingesetzt vorgestellt wurde, war selbst dann überzeugend, wenn sie sich als ungerecht und grausam erwies. Für das Mittelalter waren Denkfiguren präsent, die aus dem Alten Testament geschöpft wurden und die im Neuen Testament insofern bestätigt wurden, als auch dort weltliche Herrschaft als von Gott eingesetzt galt und auch dort die Militanz gegen Abweichler und Feinde des Glaubens ausgeführt wurde.161 Weil die Ordnung der Herrschaft Ungerechtigkeit gebiert, aber ihre praktische Ausführung Gerechtigkeit verlangt und stets auf Gottes Willen beruht, sind die Menschen, die ihr ausgeliefert sind, als Duldende vorgestellt. Eine Herrschaftsapologetik ist auch noch in der vehementesten und am meisten verächtlich machenden Herrschaftskritik enthalten, so dass die Bücher des Alten Testaments zahlreiche historiae vorführten, die für die Begründung der Herrschaft genutzt wurden, so durch den Theologen des endenden 10. Jahrhunderts, Rabanus Maurus. Er schrieb, dass, wenn die Menschen in unvernünftiger Weise nach der Einsetzung eines Königs verlangten, sie doch die göttliche Einwilligung hierzu erhielten, woraus er folgert, sie hätten ihre Herrscher künftig bis an das Ende aller Tage ohne Widerstand und Murren zu ertragen. Aus der vehementen Kritik am Königtum, wie im Buch Samuel formuliert, wurde seine Apologetik geformt. Umso viel mehr müssten die Menschen, so Rabanus weiter, einem sie liebenden König gehorchen, der in gerechter Weise für sie sorge, auch wenn dieser nicht minder Unterordnung und Unterwerfung verlange und den Schrecken einsetze.162 Einem Unrechtsempfinden der Menschen konnten die Texte der Alten Testaments Ausdruck verleihen, ohne indes einen Ausweg zu eröffnen, wie dem Leiden an der Herrschaft ein Ende gesetzt werden könnte oder auch nur sollte. Canticorum, Sp,. 473–545; Otto Kaiser, Einleitung in das Alte Testament. Eine Einführung in ihre Ergebnisse und Probleme, Gütersloh 1970, S. 286ff.; Ann W. Astell, The Song of Songs in the Middle Ages, Ithaca 1990; Othmar Keel, Hoheslied, in: Bibellexikon, Bd. 2, Zürich, Düsseldorf 1995, Sp. 183–191; Mark W. Elliott, The Song of Songs and Christiology in the Early Church, 381–451 (Studien und Texte zu Antike und Christentum 7), Tübingen 2000. 161 Otto Gerhard Oexle, Perceiving Social Reality in the Early and High Middle Ages. A Contribution to a History of Social Knowledge, in: Ordering Medieval Society. Perspectives on Intellectual and Practical Modes of Shaping Social Relations, hg. v. Bernhard Jussen, Philadelphia 2001, S. 92–146, S. 120f. 162 Hrabanus Maurus, Commentariorum, Sp. 1531–1533; Mayke de Jong, The Empire as Ecclesia. Hrabanus Maurus and biblical historia for rulers, in: The Uses of the Past in the Early Middle Ages, hg. v. Yitzhak Hen, Matthew Innes, Cambridge 2000, S. 191–226.

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Das Warten auf Gerechtigkeit verwies auf die Erfüllung im Jenseits. Sie war von der weltlichen Herrschaft nicht zu erwarten.

2.

Herrschaft ohne Liebe im Neuen Testament

Die verwerfliche Königsherrschaft ist ein Thema, das auch im Neuen Testament ausgeführt ist und die Vorstellungen des Mittelalters prägte. Mehr als im Alten Testament wird aber das individuelle Handeln, nicht die Institution selbst beurteilt. Herodes, der den Mord an den unschuldigen Kindern befahl (Mt 2.16), und sein Sohn Herodes Antipas, der Johannes den Täufer hinrichten ließ (Mk 6.17–29), galten vielen mittelalterlichen Autoren als Prototypen gegenwärtiger ungerechter und grausamer Herrscher, ohne dass beide stets als zwei Personen geschieden waren. Für den fränkischen Chronisten Gregor von Tours († 594) war der zeitgenössische König Chilperich eine Personifikation von Nero und Herodes. Akten des Konzils von Aachen von 836 bezeichneten Herodes als Mörder und als den übelsten aller Könige. Der Theologe und Exeget der Bibel, Rupert von Deutz (ca. 1070–1129), schrieb, Herodes diene dem Teufel. Gemäß dem Chronisten Otto von Freising (ca. 1112–1158) habe er sich vom Schlechten zum noch Schlechteren gewandelt. Petrus Comestor (ca. 1000–1179) hat die biblische Geschichte in seiner Weltchronik in der Weise umgeformt, dass er Herodes als Marionettenkönig des römischen Imperiums abqualifizierte. Während Kaiser Heinrich IV. und die Päpste in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts ihren Streit ausfochten, galt Herodes als die emblematische Figur des verwerflichen Herrschers, der die Christen verfolgte, und in der eigenen Gegenwart Imitatoren fand. Oder Herodes war – so bei Benzo von Alba († 1086/90) – zur Warnung präsentiert, um sich vor einer Abirrung von der guten Herrschaft zu wappnen. Papst Innozenz IV. stellte in einem Brief vom 13. Dezember 1251 den vor einem Jahr verstorbenen und von ihm bekämpften Kaiser Friedrich II. in eine Reihe mit dem Pharao, mit Herodes und Nero. Alle regierten sie mit Schrecken und verbreiteten Unheil über ihre Völker.163 Allen vier genannten Herrschern war das grausame Experiment zugeschrieben, in dem neugeborene Kinder ohne liebende Zuwendung und ohne Ansprache aufgezogen wurden, um die ursprüngliche Sprache der Menschheit ausfindig zu machen, und in dem alle Versuchspersonen starben. Der Chronist und Franziskaner Salimbene da Parma 163 Gregor von Tours, Historiae, I, S. 319; Concilium Aquisgranensis a. 836, in: MGH Concilii 2,2 hg. v. Albert Werminghoff, Hannoer 1908, S 704–767, S. 729 u. 785; Rupert von Deutz, De victoria verbi Dei, S. 357; Benzo von Alba, Ad Henricum imperatorem, Nr. 125, S. 105–107; Otto von Freising, Chronica, S 403; Liber canonum contra Henricum quartum, hg. v. F. Thaner (MGH Ldl 1), Hannover 1899, S. 471–516 S. 508; Petrus Comestor, Historia scholastica, Sp. 1534, 1546.

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(1221–1288) verband diese Geschichte dann ausschließlich mit Kaiser Friedrich II.164 Der franziskanische Theologe, Philosoph und Generalmagister seines Ordens Bonaventura (1221–1274) ging einen Schritt weiter : Aus einer einzelnen Person, die Verbrechen verübte, wurde ein repetitives Epochenmerkmal. Eine sich wiederholende Abfolge von Feinden Gottes und der Menschen stellte sich zu unterschiedlichen Zeiten gegen die Gebote Gottes und gegen das Erlösungswerk Christi und trete in einen säkularen Kampf ein, der stets neue Protagonisten der verbrecherischen Macht hervorbringe – unter ihnen Herodes.165 Herodes galt als Antagonist der Heilspläne Gottes. Mehr als das Drohen mit Gewalt, vielmehr die Ausübung von Gewalt war Ausweis seiner Schändlichkeit. Seine Aggression verheimliche er, wie die Glossa ordinaria zur Bibel schrieb, verberge sie unter dem Deckmantel der Demut.166 Eine weitere Gestalt, die eine furchterregende Herrschaft ausübt und, über die Furcht hinaus, den Schrecken auf alle Menschen, besonders auf alle Christen, verbreitet, war die Figur des Antichrist, der in ein eschatologisches Geschehen eingesetzt war, also keine historisch greifbare Person war, aber mit einer solchen assoziiert werden konnte. Sein Schrecken war verwerflich, aber für den Ablauf der Heilsgeschichte unabwendbar, letztlich notwendig. Er spornte die Gläubigen an, standhaft gegenüber dem Schrecken, den er verbreitete, zu sein. Die Versuchung war aber nicht einmalig, an das Ende der Zeiten verlegt. War bei Herodes die Figur von der historischen Person zum Prototypischen gewendet, so bei dem Antichrist die eschatologische Einmaligkeit zur historischen Reaktivierung und Perpetuierung in vielen Epochen der Christenheit.167 Die Ausgestaltung beider Figuren im Mittelalter eignete sich dazu, eine dreifache Verurteilung der Herrschaft vorzuführen: hinsichtlich ihrer Verwerflichkeit im Verlauf der Heilsgeschichte, hinsichtlich ihrer Wiederholungen in den irdischen Verhältnissen und hinsichtlich der letztlich vorenthaltenen Effektivität ihres Wirkens. Faktische Existenz und religiöse Wertigkeit der Herrschaft sind im Neuen Testament noch deutlicher als in der hebräischen Bibel geschieden, aber dies verhindert nicht, die Anforderungen an die Person, auch die des Herrschers, zu steigern, die in allen sozialen Bindungen Gottes Geboten folgen sollen. Die Idealisierung und Kanonisierung der frühen Christengemeinden durch die Apostelgeschichte bewahrten einen Bestand des Vorbildlichen, das in den Epochen, in denen seit der Legalisierung der christlichen Religionsausübung 164 Joelle Ducos, Utopie de la langue. De la langue originelle / la langue vernaculaire, in: En quÞte d’utopie, hg. v. Claude Thomasset, DaniHle James-Raoul (Culture et civilisations m8di8vales 29), Paris 2005, S. 135–153, S. 139; zu Salimbene von Parma siehe Kapitel VIII.3. 165 Bonaventura, Collationes, S. 257. 166 Biblia latina cum glossa ordinaria, IV, S. 8. 167 Hierzu Kapitel VII.2.

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durch Kaiser Konstantin im Jahre 312 Kirche und politische Herrschaft sich annäherten, Ansporn zur guten Praxis von Herrschaft darstellte, aber auch von den Herrschern abgesonderte Sondergemeinschaften rechtfertigte. Das Zusammenleben der Christen, die »ein Herz und eine Seele« (Apg 4,32) sein sollten, war herrschaftsfern konzipiert, stieß aber um nichts weniger die Errichtung von Institutionen an. Dies geschah aber abseits der weltlichen Herrschaft. In den Klöstern und Orden suchten Menschen sich aus ihrer ursprünglichen familiären und sozialen Umgebung zu entziehen oder gar die Kirche insgesamt von den Üblichkeiten irdischer Existenz zu befreien, ohne dass aber jemals die Brücken zu den Institutionen der Herrschaft tatsächlich abgebrochen wurden, auch um die Christengemeinden als Fermente einer Verbesserung aller Menschen tauglich halten zu können. Aus kirchlichen Institutionen, auch denen der Klöster, entsprangen Anstöße, weltliche Institutionen in eine Ordnung zu überführen, die als Gott gefällig gedeutet wurde.168 Texte des Neuen Testaments bedurften einer Transformation ihrer Aussagen durch Allegorien, um sie auch für politische Deutungen geschmeidig zu halten. Die Evangelien wiesen häufig auf den Gegensatz zwischen arm und reich hin, der aber – bereits durch Augustinus – durch eine Idealisierung seines wortgetreuen Gehaltes entkleidet wurde, so dass die Aussage, Christus und die Apostel seien arm gewesen, in einem Gestrüpp metaphorischer Deutungen unterging und erst durch die Entfaltung des Ideals der freiwilligen Armut im 12. und 13. Jahrhundert aktualisiert und konkretisiert wurde. Stets war aber der Berechtigung des hierarchischen Prinzips kein Hindernis entgegengestellt; es gab kein Gegenmodell zur ihr, das in die politische Tätigkeit eingewirkt hätte – weder durch die spätantike und frühmittelalterliche Evangelienexegese noch durch diejenige im Gefolge der hochmittelalterlichen Armutsbewegungen.169 So wenig wie das Ende von Armut war Befreiung von der Unterordnung unter die Herrschaft im irdischen Leben als möglich und erstrebenswert erachtet. Die Vorstellung eines allmächtigen Gottes, der das Heil in die Welt bringt und zugleich die Erfüllung des Heils aus der Welt herausnimmt und ins Jenseits stellt, entlastet die irdische Macht von der Beauftragung, Gottes Pläne verwirklichen zu müssen, mindert aber nicht deren Legitimität, die als Verlängerung und 168 Klaus Schreiner Mönchsein in der Adelsgesellschaft des hohen und späten Mittelalters. Klösterliche Gemeinschaftsbildung zwischen spiritueller Selbstbehauptung und sozialer Anpassung, München 1989, S. 39f.; Ders., Ein Herz und eine Seele. Eine urchristliche Lebensform und ihre Institutionalisierung im augustinisch geprägten Mönchtum des hohen und späten Mittelalters, hg. v. Gert Melville, Anne Müller, Paring 2002, S. 1–47; Melville, Welt, S. 13–18, 84–88, 303–307. 169 Emmanuel Brun, Eglise, richesse et pauvret8 dans l’Occident m8di8val. L’ex8gHse des Evangiles aux 12e et 13e siHces (Collection d’8tudes m8di8vales de Nice 16), Turnhout 2014, S. 253–308.

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Auswirkung einer allseits wirksamen hierarchischen Ordnung auch auf Erden konzipiert ist. Weltliche und kirchliche Amtsleute seien befugt, Macht über die sündigen Menschen auszuüben, denen jede Möglichkeit vorenthalten sei, aus eigener Kraft das Böse zu meiden und selbst das Heil zu erwirken, weil es allein von Gott gewährt werden könne und im irdischen Leben unerreicht bleibe. Die Herrschaft von Jesus sei nicht von dieser Welt, wie im Johannes-Evangelium geschrieben ist (Joh 18.36–37). Davon abgesetzt ist also die irdische Herrschaft; aber auch sie gilt von Gott eingerichtet. Ihr kann die Aufgabe zugewiesen werden, das Handeln der Untertanen zu korrigieren, um sie in eine Ordnung zu zwingen, die diese selbst zu errichten, ansonsten nicht fähig wären. Aber die Ferne der politisch Handelnden von den göttlichen Heilsplänen bleibt bestehen, da die Mächtigen weiterhin, wie in Texten des Alten wie des Neuen Testaments ausgeführt, lediglich aufgrund einer faktischen Einrichtung gemäß dem Willen Gottes ihre Macht besitzen, ihr damit Notwendigkeit zuerkannt ist, aber eine Legitimierung entfällt, die der Beförderung des Seelenheils und des irdischen Wohls dienlich wäre.170 Da die Liebe umfassend gelten soll, nicht in die intime, familiäre oder ethnische Beziehung eingezäunt ist, sondern der nicht präzisierte und daher jeder »Nächste« (proximus) geliebt werden soll, ja die Liebe gar den Feind einschließen soll (Mt 5.43–48; Lk 6.27–30), gilt sie auch in den Machtverhältnissen, begründet sie aber nicht. Liebe eignet sich auch nicht zu deren Legitimierung, sondern ist Aufforderung zum Handeln der einzelnen Personen, die in den Institutionen tätig sind, einschließlich derjenigen, die Macht ausüben. Die Liebe ergreift alle Menschen, überwindet die engen Kreise der Freundschaft. Die spätantiken Theologen Paulinus von Nola, Ambrosius und Augustinus haben daher auf die Unterscheidung von Liebe und Freundschaft insistiert, weil letztere nur in Milieus der Vertrautheit, des persönlichen Kontakts und der unmittelbaren Kommunikation gedeihe, Liebe aber aus dieser Beschränkung hinausrage und auch den Fremden einschließe, damit aber den Menschen aus allen Fesseln institutioneller Bindung löse.171 Die Liebe wird von den Emotionen entfernt, existiert unabhängig von Bevorzugung und Abneigung, wird aus einer individuellen Verwurzelung herausgerissen und erlangt den Status einer universellhumanen Wirkkraft. Die Liebe soll die Menschen miteinander vereinen – und dies unabhängig von ihren sozialen Bindungen, aber restlos in allen diesen Bindungen. Damit war die Liebe auch innerhalb von Herrschaftsverhältnissen 170 Carl-Friedrich Geyer, Das Übel und die Allmacht Gottes. Die Theodizeefrage in der Philosophie, in: Warum lässt Gott das zu? Kritik der Allmacht Gottes in Religion und Philosophie, hg. v. Michael Nüchtern, Frankfurt a. M. 1995, S. 36–61; Jan Bauke-Ruegg, Die Allmacht Gottes. Systematisch-theologische Erwägungen zwischen Metaphysik, Postmoderne und Poesie, Berlin 1998, S. 14–42. 171 McEvoy, Theory, S. 3–33.

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einzusetzen, angefangen in den Familien, bei der Verfügung über Knechte und bis hin zum Staat. Dies ist die Weisung, die der Paulusbrief an die Korinther erteilt, wobei ein legitimatorischer Zugewinn für die Herrschaftsverhältnisse enthalten ist, der aber aus einer christlich begründeten Praxis, nicht aus den weltlichen Institutionen selbst erwächst, da diese zwar das Leben der Untertanen lenken, aber keine Wirkung für das guten Leben auf Erden und noch weniger für das Seelenheil haben. (1 Kor 3.18–4,1) Von den Herrschern gerichtet zu werden, gilt dem Apostel als unerheblich. (1 Kor 4.1–5) Trotz des Ideals einer Liebe, die auch zwischen Herren und Knechten bestehen soll, bleibt die tatsächliche Dominanz unangetastet. Das Verhältnis zwischen Gott und Mensch ist eingebunden in ein Machtgefälle, das als ein durchgehendes und immerwährendes Muster der Relationen besteht und sich in weltlichen Relationen repliziert. Die Bewegungsrichtung göttlicher Liebe wird figuriert als das Wasser, das aus der Quelle springt und Leben spendet (Joh 7. 37–38). Als Mittler der Liebe von Gott zu den Menschen gilt Christus, den die katholische und orthodoxe Lehre als Sohn Gottes und als Person des dreifaltigen Gottes definierte.172 Die Liebe, die in der Erlösungstat Christi gipfelt, entfaltet sich zwischen den drei Personen Gottes, erfasst auch die Menschen und verlangt von ihnen, untereinander in Liebe verbunden zu sein. Liebe ist ein Auftrag für die gesamte Christenheit, ja bindet die Liebe an die Menschheit insgesamt, wird also einer ethnisch begrenzten Binnenethik entwunden, um universell anthropologisch und situativ total alle und alles zu erfassen.173 Jesus Christus hat nach den Zeugnissen des Neuen Testaments bedingungslose Liebe gegeben und gefordert, dass sie alle von Menschen gesetzten Grenzen überschreitet (Lk 10.28–37). Die Liebe zu Vater oder Mutter, zu Sohn oder Tochter hat, so die Aussage Jesu im Matthäus-Evangelium, weniger Wert als die Liebe zu Gott und zu allen Menschen. (Mt 10.37) Die universelle Liebe sprengt die familiären Bande. Die Liebe verlangt die Entwurzelung; der Seele sind die Fesseln aller irdischen Bindungen abzustreifen. Die höchste Liebe entfaltet sich mit und zu Gott. Die irdische Liebe kann dann nur noch Abbild sein. Sie ist unvollkommen in irdischen Einrichtungen. In den Paulus-Briefen erscheint die Liebe, wenn sie sich in der ehelichen Liebe realisiert, in erster Linie durch Verbote gestaltet zu sein. Die Liebe in irdischen Institutionen ist einer Pflichtenethik ausgeliefert. Sie beruht auf einer hierarchischen Abstufung, derjenigen zwischen Mann und Frau, und begründet die Aufforderung, dass die Ehefrauen ihren Gatten zu Gehorsam verpflichtet seien, so dass die Beziehung zwischen Gott und Kirche symbolisiert werde. (1 Kor

172 Angenendt, Geschichte, S. 121–142; Goetz, Gott, S. 57–64. 173 Ebda., S. 19f.

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7.10–19; Eph 5.21–33; Koll 18–19; 1 Tim 3.2; Tit 1.6)174 Die soziale Disponibilität der Liebe leitet in eine Machtrelation über. Liebe erscheint ausgefüllt mit Ungleichheit, die sich als beständiges Gestaltungselement durch alle Beziehungen hindurchzieht. Auf die Herrschaft bezogen, verlangt die Botschaft an die Christen keine Abwendung von ihr, aber doch Anerkennung ihrer Trivialität und Irrelevanz für das Wichtige: den Heilsplan Gottes. Stufen der Liebe sind zu erklimmen, die die Welt zurücklassen. Der im griechischen Text des Neuen Testaments durchweg gebrauchte Terminus für die Liebe, agape, setzt sich von dem Terminus eros, der für körperliches Begehren und Sexualität steht, und von dem der sich abschließenden, in exklusiven Umgebungen verwirklichenden philia ab und wird in der lateinischen Bibelübersetzung, der Vulgata, mit caritas und dilectio wiedergegeben. Der Terminus amor, die adäquate Übersetzung von eros, erscheint nur ausnahmsweise in den beiden Petrusbriefen und steht bezeichnenderweise in Verbindung zur fraternitas, lehnt sich also an eine familiär grundierte Beziehung an, die freilich zu einer umfassenden, die Familie letztlich sprengenden Relation erweitert ist. (1 Petr 1.22; 2 Petr 1.7). Obwohl das Wort amor anders als dilectio im Neuen Testament fast nie verwendet ist, verhindert dies nicht, dass genau jenes Wort in den theologischen Schriften des Mittelalters als Begriff der Nächstenliebe häufig eingesetzt und kommentiert wird, so dass der mit diesem Wort verbundene volle Gehalt gefühlsmäßiger Dichte und Fülle vorgeführt werden kann. Weil die Liebe als alle Menschen ergreifende und umfassende und überdies die Relation mit Gott einbeziehende Bindungskraft vorgestellt wird und weil sie auch von einer ausschließlich normativ gesetzten Tugend abgesetzt ist, vielmehr in die Nähe einer implantierten Disposition jedes Menschen gerückt ist, ja aus der Eigenliebe abgeleitet wird (Mt 19.19), steht die Liebe abseits einer politische Ordnung, weil sie die Alltäglichkeit von Nutzenstreben hinter sich lässt. Weil die Liebe aber nur in konkreten Lebenszusammenhängen verwirklicht werden kann, soll sie in gesellschaftliche Gruppierungen implantiert werden. In den ersten Christengemeinschaften, die alles miteinander teilen und reinen Herzens und in jubelnder Freude zum gemeinsamen Mahl zusammenkommen (Apg 2.42–47), bestehen das Angebot und die Pflicht, eine über die konkret erfahrbaren Beziehungen hinausreichende, jenseits einer Präsenzgemeinschaft bestehende Institution mit Liebe zu erfüllen. Die Gemeinschaftsbildung hat auch das Potential, auf Herrschaftsverhältnisse ausgeweitet zu werden. Die Herrschaft als Institution steht zwar neben der Liebe, die die Christen anstreben sollen, verwirklicht sich aber sehr wohl in Handlungen, die die irdische Herrschaft nicht verbessern (dies wäre eine Illusion), aber als Feld der Bewährung vorsehen. So sind alle, Herren und Untertanen, der Liebe fähig 174 Brundage, Law, S. 60f.

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und zu ihrer Verwirklichung aufgefordert. Die Liebe ist zweideutig: Einerseits schließt sie die Besorgung des Alltäglichen, Familiären und Staatlichen aus, andererseits umfasst sie alle Tätigkeitsbereiche, also auch die des Herrschens und Gehorchens. Anders als die griechischen Philosophen, besonders Platon (428–347 v. Chr.), die die Liebe der Vernunft unterordneten, sie als ein affektives Begehren deuteten, das der Sinnlichkeit angehöre und geringeren Wert als die Vernunft habe, setzte das Neue Testament die Liebe als höchsten Wert ein. Sie erfasse die Seele mehr als die Vernunft und bewirke mehr als sie.175 Es gab nicht eine Argumentation, die mit Vernunftgründen operiert, um die Liebe vorzusehen, sondern das Gebot einer Offenbarungsreligion, die die Wahrheit kündet, ohne auf Beweise angewiesen zu sein, um die Liebe von allen zu fordern. Nicht das Maßhalten des vernünftig handelnden Menschen, sondern die Maßlosigkeit des liebenden Gottes und ihm folgend der Menschen waren die neuen Werte, die in scharfen Kontrast traten zur zeitgenössischen philosophischen Ethik.176 Als Folge davon war aber die Liebe, die abseits der Vernunft besteht, weniger geeignet, eine politische und herrschaftliche Ordnung zu begründen. Aber sie war doch von jeder Person gefordert, auch von den Herren und Herrschern. Also nicht definitorisch, sondern normativ war Liebe eingesetzt in Verbindung zur Herrschaft. Die Texte des Neuen Testaments mahnten Herren und Herrscher, sahen aber für diese keine spezifizierte Moral vor und sahen nichts vor, was deren Macht steigern könnte. Die Anweisungen des Gesetzes sind im Lukas-Evangelium auf ein Gebot konzentriert: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst (Luk 10.25–28). Die Liebe wird zur generellen Kraft, die das Verhältnis zwischen den Gemeindemitgliedern und zwischen allen Menschen bestimmt. (Röm 12.9–21). Nichts geht über die Liebe – so die Botschaft von Paulus im Ersten Korintherbrief: »(…) aber hätte ich keine Liebe, dann wäre alles hinfällig«. Von den drei höchsten Werten, Glaube, Liebe, Hoffnung, steht die Liebe an oberster Stelle. (1 Kor 13.1–13). Die Herrscher, so sehr sie auch dem Gebot der Liebe unterliegen, haben keinen exklusiven Rang in der Erfüllung der Liebe. Wenn der erste paulinische Korintherbrief Liebe als Voraussetzung für die Einheit der Menschen bezeichnet, dann geschieht dies ohne expliziten Verweis auf Institutionen der Macht, der ja nicht zugetraut wird, Einheit herzustellen. Aber die von ihm verwendete Metapher des Leibes, dessen Glieder arbeitsteilig zusammengefügt sind, war geeignet, institutionell-politisch ausgedeutet zu werden, was während des Mittelalters aus175 Siehe hierzu die Überlegungen von Max Scheler, Vom Umsturz der Werte. Abhandlungen und Aufsätze (Ders., Gesammelte Werke 3, Ndr. Berln 1955, S. 71f. 176 Peter Brown, Spätantike, in: Geschichte des privaten Lebens, Bd. 1, hg. v. Georges Duby, Philippe AriHs, Frankfurt a. M. 1989, S. 229–297, S. 242.

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giebig geschah.177 Die Teile des Leibes kennen keinen Streit; jeder Teil bedarf des anderen (1 Kor 12.1–30). Die von Paulus gewählte Metapher beschreibt und begründet eine totale Organisation, deren Herstellung den Christen auferlegt ist. Die Organisation ist nicht allein mystisch178, sie ist auch konkret und sozial. Sie wird verwirklicht durch die Liebe aller derjenigen, die mit ihren unterschiedlichen Fähigkeiten und Aufgaben an der Gestaltung des Ganzen teilhaben. Das Ganze ist auch als politischer Verband ausdeutbar. Die Verbindung der Liebe mit der Macht wird erleichtert, indem sie Gewalt nicht ausschließt: Die Worte Jesu, er sei nicht gekommen, um Frieden zu stiften, sondern das Schwert (Mt 10.34) und den Streit (Luk 12.51–53), verlangen Militanz, lassen ein gutes Leben im Diesseits als bedeutungslos erscheinen (Mt 10.8; Mc 8. 34–37). Seinen Gegnern droht Jesus mit der Vernichtung: »Meine Feinde, die nicht wollen, dass ich über sie herrsche, führt sie zu mir und tötet sie vor meinem Angesicht«. Der im lateinischen Mittelalter gebräuchliche Bibeltext der Vulgata verwendet die Formulierung interficite ante me (Luk 19.27) und beschreibt eindeutig die Tötung. Der Einsatz der Gewalt zur Durchsetzung von Geltungs- und Herrschaftsansprüchen, sofern sie religiös gerechtfertigt werden konnten, besaß im Mittelalter eine Begründung, die im Neuen Testament formuliert war. Die Passage nicht als Selbstaussage Jesu zu deuten, wurde erst von modernen Exegeten vorgeschlagen und ist jüngst als Bestandteil einer früheren militant-zelotischen Messias-Tradition bezeichnet worden. Die kanonische Geltung im Mittelalter war davon aber unberührt.179 Im Römerbrief des Paulus wird Gottes gewaltsames und strafendes Eingreifen als subsidiäres Verhalten gegenüber den Menschen gedeutet, sofern sie seine Milde und Nachsicht verachten und sie nicht erkennen, dass seine Liebe sie zur Umkehr bewegen will. Der Zorn Gottes wird diejenigen treffen, die seine Güte ausschlagen (Rom 2.1–16). Aber gleichgültig, welches schwere Schicksal die Menschen treffen möge, nichts könne sie jemals von Gottes Liebe trennen (Rom 8.39). Die Verknüpfung von Liebe und Furcht wird im Neuen Testament als Problem vorgestellt. Gott befreit die Menschen vor der Furcht: Als nach der Verklärung Jesu seine Anhänger in Furcht und Schrecken geraten – im Markusevangelium (Mk 9.5) heißt es timore exterriti –, verkündet Gott – so die Version im Matthäusevangelium (Mt 17.7) –, dass sie sich nicht fürchten sollen: nolite timere. 177 Struve, Entwicklung. 178 Helmut Merklein, Entstehung und Gehalt des paulinischen Leib-Christi-Gedankens, in: Im Gespräch mit dem dreieinen Gott. Elemente einer trinitarischen Theologie. Festschrift für Wilhlem Breunig, hg. v. Michael Böhnke, Hanspeter Heinz, Düsseldorf 1985, S. 114–140. 179 Gerd Theißen, Annette Merz, Der historische Jesus, Göttingen 1996, S. 288; Joachim Gnilka, Jesus von Nazareth. Botschaft und Geschichte. Kommentar zum Neuen Testament, Supp.Bd., Freiburg i. Br. 1990, S. 42f.; Buc, Heiliger Krieg, S. 77–80, dort weitere Literatur.

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Von der Furcht als Mittel einer Bestrafungsgewalt gilt es Abstand zu halten; Bestrafung soll aus Liebe erfolgen. Als die Jünger dem Herrn, so die Darstellung im Lukas-Evangelium, ihn darum bitten, ihnen strafende Gewalt zu geben nach dem Beispiel des Propheten Elias und anderer Propheten, tadelt Jesus sie nicht, distanziert sich nicht vom Vorbild des Alten Testaments, hält ihnen aber entgegen, dass sie noch zu unwissend seien, um eine Bestrafung zu verhängen, die nicht aus Hass, sondern aus Liebe erfolgen müsse. (Luk 9.54–55) Die Stelle hat im frühen Mittelalter Hinkmar, Erzbischof von Reims (845–882), in dem Sinne gedeutet, dass erst später, nach der Auferstehung Christi, nach seiner Himmelfahrt und nach der Geistausgießung zu Pfingsten, die Anhänger Christi befähigt worden seien, Strafen über ihre Mitbrüder zu verhängen, weil dann erst der amor sie angetrieben habe. Dann erst sei Herrschaft durch die Christen gerechtfertigt. Die Unterschiede zwischen den Menschen setzte Hinkmar in Parallele zur Unterscheidung zwischen Alten und Neuem Testament: Seien einst Unfreie (servientes) durch Furcht (timore) vom üblen Tun abgehalten worden, so nunmehr dank des Wirkens Christi und des Heiligen Geistes Freie (liberi) durch die Liebe (an dieser Stelle mit dilectio bezeichnet) zum guten Tun geleitet. Strafe und ausdrücklich die Zufügung von Schrecken erachtete Hinkmar aber nicht als obsolet für das Handeln unter Christen, sofern sie nur aus dem Motiv der Liebe und mit dem Ziel der Liebe zugefügt seien.180 Herrschergewalt war, trotz der einschränkenden Aussage im Lukas-Evangelium, für Christen gerechtfertigt. Strafgewalt stand auch ihnen zur Verfügung. Aus der Liebe sollte die Gewalt entstehen. In mehreren Passagen im Neuen Testament sind Macht und Herrschaft als Teil der göttlichen Schöpfung anerkannt. Im Matthäus-Evangelium steht die Warnung Jesu, dass sich die Knechte nicht über ihre Herren stellen dürften (Mt 10.24). Die Aussage verleiht jeder Machtausübung Legitimität, ohne dass die Beherrschten einen Nutzen erwarten können und ohne dass aus der Macht ein Gewinn für das Seelenheil entspringt. Die Allmacht Gottes gilt als der Ursprung jeder weltlichen Macht. »Denn es gibt keine Herrschaft, die nicht von Gott verliehen ist« – so im Römerbrief von Paulus. Die Herrschaft ist die Quelle von Furcht. Sie bedrängt zwar nicht die Rechtschaffenen, aber die Furcht ist um nichts weniger der Herrschaft eigen (Rom 13). Im Gegensatz dazu hat die Herrschaft keinen Anteil an der Liebe, die im folgenden Abschnitt (Rom 14) behandelt wird. Furcht und Liebe, im Römerbrief unmittelbar nebeneinander gestellt, sind in antagonistischer Weise platziert: einerseits in der Herrschaft, andererseits in der Beziehung der Christen. Mehr noch, den Christen ist es vergönnt, die Furcht vor der Herrschaft auszulöschen. Der Römerbrief hält fest: Aber die Herren haben keine Macht über die Seelen und die Empfindungen der 180 Hinkmar von Reims, De regis persona, Sp. 855–856.

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Christen. Die Furcht, die die Herrscher einflößen, bedroht viele; aber diejenigen, die Gutes tun, sind von ihr befreit, denn sie – aber nur sie – können ohne Angst leben, weil sie auf ein jenseitiges Gut vertrauen. Die Furcht vor Gott löscht die Furcht vor dem Herrscher aus, weil nicht der Herrscher Strafen verhängt, sondern Gott selbst. Die weltliche Gewalt ist einerseits gerechtfertigt und auf Gott zurückgeführt, andererseits verliert sie wegen der Hinwendung zu Gott ihre Wirkung gegenüber den Gläubigen. Gleichwohl wird die Parallele zwischen der Furcht vor Gott und der Furcht vor den Herrschenden herausgestellt. Im Römerbrief heisst es, dass, wer sich den Zorn der Mächtigen zuziehe, den Zorn Gottes verdient habe. (Rom 13.1–7) Ohne hier, wegen der bereits geleisteten Forschung, auf die umfangreiche mittelalterliche Kommentierung des Römerbriefes einzugehen, deren apologetische Intention im Hinblick auf die Anerkennung von weltlicher Gewalt offensichtlich ist, sei hier auf die Analogie von der Furcht, die Gott bewirkt, und von der Furcht, die der Herrscher verbreitet, hingewiesen.181 Ein spätantiker Text, der die Paulusbriefe kommentiert und den seit Erasmus von Rotterdam als Ambrosiaster zu bezeichnen üblich geworden ist, konzentrierte die Gottesebenbildlichkeit aller Menschen auf den König und steigert die Machtdifferenz zu den Untertanen ins Extreme. Der König, als imago Dei gekennzeichnet, verlange, so schrieb der anonyme Autor, zu Recht Gehorsam von seinen Untertanen. Furcht vor Gott und Furcht vor dem König wurden mehr als nur als Analogie, sondern als Wesensgleichheit gedeutet. In beiden Relationen sei die Furcht geeignet, Gutes hervorzubringen.182 Als Beispiel für die politische Anwendung von Gottesfurcht sei auf Thegan (ca. 800–852), den Biographen von Kaiser Ludwig dem Frommen, verwiesen. Das Wenige, das von Thegan bekannt ist, zeigt ihn als Abkömmling einer fränkischen Adelsfamilie, als Chorbischof in Trier und als Propst des CassiusStiftes in Bonn. Thegan schärfte das Gebot, jeder Herrschaft zu gehorchen, da sie von Gott eingesetzt sei, allen Widersachern Ludwigs ein, aktualisierte somit das Gebot auf eine konkrete politische Situation und verband die Mahnung mit der Furcht, die Gott zu erweisen sei und die aus diesem Grund auch dem Kaiser zustehe.183 Später hat der italienische Bischof Atto von Vercelli (ca. 885–961) den Römerbrief in der Weise gedeutet, dass Gottesfurcht mit der Furcht vor dem 181 Werner Affeldt, Die weltliche Gewalt in der Paulus-Exegese. Röm13,1–17 in den Römerbriefkommentaren der lateinischen Kirche bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts (Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte 22), Göttingen 1969; Kosuch, Abbild, S. 111–113. 182 Ambrosiastri qui dicitur commentarius in epistulas Paulinas, hg. v. Heinrich Joseph Vogel, (CSEL 81), Wien 1966, S. 120f.; Sophie Lunn-Rockliffe, Ambrosiaster’s Political Theology, Oxford 2007; Theodore S. De Bruyn, Ambrosiaster’s Interpretations of Romans 1.26–27, in: Vigiliae Christianae. Review of Early Christian Life and Language 65 (2011), S. 463–483. 183 Theganus, Gesta, S. 167–278, S. 232.

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König in eine kausale – von Gottes Schöpfung abgeleitete und hervorgebrachte – und komplementäre – auf unterschiedliche Seinbereiche anzuwendende – Relation zu stellen sei. Da ohne die Gottesfurcht die Menschen zur Schlechtigkeit verleitet seien, sei zur Kompensation von deren Fehlen die Einsetzung von weltlichen Herrschern notwendig, die ebenfalls Furcht einflößten und die Gewalt über die Menschen ausübten, selbst wenn sie schlechte Herrscher seien, welche unterjochten; dies sei hinzunehmen; so werde Gelegenheit geboten, Geduld zu üben.184 Die Kommentierung durch Petrus Lombardus (ca. 1095–1160), die seit dem 12. Jahrhundert am meisten Einfluss besaß und gar kanonische Geltung erlangte, erweiterte die Anwendung der Paulus-Stelle, indem sie die Unterwerfung unter die weltliche Herrschaft als für alle Menschen und für alle Zeiten als notwendig behauptete. Petrus Lombardus fasste die bisherige Diskussion zusammen und stellte künftigen Generationen eine Autorität beanspruchende und erreichende Textzusammenstellung zur Verfügung. Es gebe keine Herrschaft, die nicht gerecht wäre, schreibt Petrus, sich dabei – fälschlich – auf Augustinus berufend. Selbst wenn die Herrscher den Untertanen ihr Eigentum wegnähmen, selbst wenn sie sie, ohne dass die Untertanen sich eines Verbrechens schuldig gemacht hätten, hinrichteten, sei dies doch alles eine gerechte Strafe, verhängt über die Menschen und drohend gegenüber allen Menschen. Gerecht sei dieses Handeln als Folge des Sündenfalls. Der Mensch verharre in Furcht und dies zu Recht, selbst wenn er nicht selbst sündige. Es genüge, dass er dem Menschengeschlecht, das nur aus Sündern bestehe, angehöre.185 Petrus Lombardus hat in seinem Kommentar zu den Paulusbriefen auch eine Ethik der Liebe zwischen den Menschen und eine rationale Begründung moralischen Handelns vorgestellt,186 ohne dass diese Auffassung aber Auswirkung auf die Gestaltung der Herrschaft haben soll und tatsächlich auch nicht gehabt hat. Im Gegenteil, Petrus verband Herrschaft stets mit der Furcht. Die Herrschaft bleibe, so Petrus, von der Liebe unberührt. Der Legitimität tut dies aber keinen Abbruch. Wer sich gegen die Herrschaft, gleichgültig wie sie beschaffen sei, auflehne, handele wider Gottes Anweisung und verdiene, bestraft zu werden. Der Schrecken des Königs

184 Atto von Vercelli, Expositio S. Pauli, in: PL 134, Paris 1853, Sp. 125–834, Sp. 258f. 185 Petrus Lombardus, Sententiae in quatuor libris distinctae (Spicilegium Bonaventurarium 4), Grottaferrata 1971, pars I, S. 362, 541, 578f.; Josef Rief, Die moraltheologische Konzeption in den Sentenzen des Petrus Lombardus, in: Theologische Quartalschrift 144 (1964), S. 290–315, Russell Friedman, Peter Lombard and the development of the »Sentences« commentary in the 13th and and 14th Centuries, in: Pietro Lombardo. Atti del XLIII Convegno storico internazionale. Todi 8–10 ott. 2006, Spoleto 2007, S. 459–478. 186 Christopher Schabel, Reason and Revelation in the »Sentences« of Peter Lombard and the Commentary Tradition, ebda., S. 433–457.

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sei das Organ des Schreckens Gottes.187 Wie im Alten Testament wird die Analogie zwischen dem Schrecken Gottes und der Herrscher ausgeführt. Eine Diskussion über die Etablierung einer gerechten Herrschaft ist im Kontext des Paulus-Briefes entbehrlich. Was bleibt, ist die Annäherung von göttlicher und weltlicher Herrschaft, was dieser zwar kräftige legitimatorische Ressourcen zuführt, aber eine Bindung an gutes Handeln für unerheblich hält, sofern es um die Berechtigung der Herrschaft geht. Das entlässt freilich nicht den Herrscher aus der Pflicht, gerecht zu handeln und zu lieben. Aber die Legitimität entsteht nicht aus der Erfüllung dieser Norm, und diese Norm ist nicht auf die politische Verfassung bezogen. Die apodiktisch vorgetragene Moraldidaxe im Römerbrief lässt überdies wenig Raum für Erörterungen zu Motivationen von Herrschern und Beherrschten und reduziert politische Gewalt auf eine pure Notwendigkeit, die nicht in Frage gestellt werden darf. Ethische Standards gegenüber den Herrschern, geschweige denn Forderungen ihnen gegenüber fehlen. Was indes nicht fehlt, sind die Anweisungen an die Beherrschten. Sie sind zu Unterwerfung und zu Gehorsam angehalten. Der Weg zu einer anthropologisch fundierten Herrschaftsbegründung, die einen irdischen Nutzen voraussetzen würde, war aufgrund des Verständnisses des Römerbriefes lange Zeit versperrt, so dass es auch entbehrlich war, die Gefühle der Zuneigung und der Furcht, die zu Gehorsam drängen würden, genauer zu erörtern. Auch die beiden Petrusbriefe boten im Mittelalter wenig Nährgrund für politische Erörterungen. Selbst Thomas von Aquin (1225–1274) leitete aus deren Kommentierung – im Unterschied zu anderen seiner Schriften – keine vertiefte politische Reflexion hinsichtlich der Wirkung und der Ethik der Herrschaft ab. Er beharrte auf einer durch nichts zu besänftigenden Geltung der weltlichen Gewalt, die nicht durch deren Entstehung und durch deren Nutzen gerechtfertigt wurde. Nicht einmal der Einwand, der Staat könne Schaden stiften, sah Thomas in dieser Schrift als ein Argument an, um der Herrschaft Schranken zu setzen. Die Machtfülle betreffe aber allein die weltlichen Angelegenheiten. Anweisungen wider die christliche Religion hat Thomas aus der Gehorsamspflicht ausgenommen. Der Staat stehe in Distanz zur Religion, die ihn zwar legitimiere, ihn aber nur insoweit reguliere, als die Gebote Gottes auch für den Inhaber der Herrschhaft gelten sollten.188 Dass Liebe Gewalt gebiert, wurde im paulinischen Hebräerbrief nahegelegt: »Wen der Herr liebt, den züchtigt er« (Hebr. 12.4). Ausdrücklich war die Strafaktion Gottes mit der Furcht, die Gott verbreitet, in Verbindung gestellt (Hebr. 12.18). Den Antagonismus zwischen Furcht und Schrecken einerseits und Liebe 187 Petrus Lombardus, Collectanea in omnes divi Pauli apostoli epistolas, in: PL 191, Paris 1855, Sp. 1297–1696, Sp. 1504f. 188 Thomas von Aquin, Lectura super epistolas S. Pauli, Turin 1953, S. 190f.

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andererseits in eine kausale und zirkuläre Kombination zu überführen – aus dem Motiv der Liebe werde Furcht und Schrecken verbreitet, diese lenkten die Menschen zur Liebe – haben im Mittelalter Autoren zu einer häufigen Argumentationsfigur verwendet, wie dies weiter unten ausgeführt werden soll. Indessen entfalteten Texte des Neuen Testaments auch eine Dichotomie von Liebe und Furcht, verweigerten eine harmonisierende Konvergenz. Im ersten Johannesbrief wurde ausgeführt: »Furcht (timor) führt nicht zur Liebe, sondern die vollkommene Liebe treibt die Furcht aus (…). Wer sich aber fürchtet, der ist nicht vollständig in der Liebe« (1 Joh. 4.18). Die Apotheose der Liebe, von der der Erste Johannesbrief ausführte, dass sie Gott sei (1 Joh. 4.16), überwand die institutionellen Schranken der Macht, welche mittels der Furcht die Menschen niederrang. Die Liebe zu Gott könne nur verwirklicht werden in der Liebe zu den Menschen, denn Gott sei unsichtbar. Liebe sei in allen zwischenmenschlichen Handlungsfeldern geboten und müsse folglich in allen sozialen Beziehungen gewährt werden. Die Anwendung auch für jede politische Organisation war damit zumindest potentiell vorhanden, jedenfalls gefordert. Furcht hingegen konnte nur als Gegensatz zu Gottes Geboten verstanden werden und war als Mittel der Zusammenführung der Menschen verwerflich, damit politisch legitimerweise nicht einsetzbar. Der Universitätsmagister und Bischof von Paris des 13. Jahrhunderts, Wilhelm von Auvergne, wird diese Passage des Johannesbriefes zum Leitthema einer Predigt machen: Alle sechs Gründe für die Liebe sind gerechtfertigt: wegen der natürlichen Anhänglichkeit zwischen den Menschen, wegen der Ähnlichkeit der Menschen, wegen der Liebe des Schöpfergottes, wegen des Willens Gottes, dem die Liebe zum Nächsten gefällt (placeat Deo amor proximi), wegen des Nutzens, den die Liebe stiftet, und schließlich wegen der spirituellen Freundschaft, die aus der Liebe entsteht. Wilhelm stellt die Liebe in den Rahmen von Institutionen, auch der Herrschaft, und erachtet sie als Verursacherin des weltlichen Nutzens. In der weltlichen Organisation walte aber eine Liebe geringerer Wertigkeit. Die Liebe, die irdische Ziele verfolgt, hat er in seinem großen Werk zum Weltwissen in eine Hierarchie der Liebe gestellt und ihr den niedersten Rang zugewiesen, ihr aber doch die Berechtigung anerkannt und damit die Liebe von und zu den Herrschern grundsätzlich günstig bewertet.189 Die Vieldeutigkeit biblischer Texte machte sie zu einem Fundus, der sich starren Festlegungen entzog und sie gerade deswegen auch einer politischen Einvernahme offen hielt. Insbesondere die durchgehende Hierarchisierung menschlicher Beziehungen und ihre Parallelisierung mit der Beziehung zwischen Gott und Mensch schufen Deutungsschemata, die vielen Anwendungen 189 Wilhelm von Auvergne, Sermones (Opera omnia 2), Paris 1674, S. 26; Ders., De universo (Opera omnia 1) Paris 1674, S. 1006–1008.

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zur Verfügung standen. Der König war in der im Mittelalter üblichen Form der Exegese, die nach dem vierfachen Schriftsinn forschte, häufig in der anagogischen Deutung mit Gott gleichgesetzt, so dass die Termini Gott und König in einer reziproken Relation Bedeutungen transferierten und anglichen. Das Königtum galt in der allegorischen Deutung mitunter sogar als Figuration der Leitungsbefugnis der Geistlichen.190 Auch wenn die Bibelexegese auf den uneigentlichen, weil höchststehenden, also heilsgeschichtlichen Schriftsinn zusteuerte191, bot doch die Bibel auch Hinweise zu einer Deutung und Bewertung der weltlichen Macht, auch die des Königs. Die Polysemie des Wortes »König«, verstanden einerseits als Bezeichnung Gottes und andererseits des weltlichen Herrschers, erleichterte eine Annährung der Bedeutungen von Weltlichkeit und Göttlichkeit und verlieh dem Herrscher die Befugnis zu Furcht und Schrecken. Eine Gegenüberstellung von Altem und Neuem Testament ist ungeeignet, den Gegensatz von Schrecken, Furcht und Bezwingung einerseits und Liebe und Unterstützung andererseits wiederzugeben. Die Unterwerfung unter die weltliche Autorität, deren Angleichung an die göttliche Macht, aber auch die Kritik an der Herrschaft des Königs, andererseits das Verbreiten von Schrecken waren heterogene Deutungsangebote der verschiedenen Bücher des Alten sowie des Neuen Testaments. Das Thema der Liebe zwischen Gott und den Menschen und das der Nächstenliebe, in beiden Teilen der Bibel ausgeführt, erwiesen sich als ergiebig, um politische Beziehungen zu deuten, aber ungeeignet, Einvernehmen in den Kommentierungen zu erreichen. Liebe und Furcht und Schrecken unterlegten sowohl das Handeln gegenüber und mit Gott als auch in Bezug zu den weltlichen Herrschern Anforderungen und formulierten Geltungsansprüche. Was die biblischen Texte boten, war nicht eine »Orientierungsfunktion an die Vergangenheit«192, da sie ja gar nicht in erster Linie als historische Darstellungen gelesen wurden, sondern allgültige, zeitlichen Umständen enthobene, unmittelbar feststehende Verbindlichkeiten kündeten, welche stets anwendbar sein mussten und anwendbar waren – auch während des Mittelalters. Ein Bestand an kanonisierten Vorstellungen stand der Christenheit zur Verfügung, um Machtungleichgewichte, Dominanz und Pflichten von Herrschern und Beherrschten zu deuten, d. h. einerseits zu verwerfen, andererseits zu verteidigen. Nicht ein190 Buc, Ambigu"t8, S. 25–33; Ders., Pouvoir, S. 692f. 191 Richard H. Rouse, Mary A. Rouse, Biblical Distinctions in the 13th Century, in: Archives d’histoire doctrinale et litt8raire du moyen .ge 41 (1975) S. 27–37; Henri de Lubac, Typologie, Allegorie, geistiger Sinn. Studien zur Geschichte der christlichen Schriftauslegung Freiburg i. Br. 1999; Christoph Bellot, Zur Theorie und Tradition der Allegorese im Mittealter, Köln 1996. 192 Jens Schröter, Von Jesus zum Neuen Testament. Studien zur urchristlichen Theologiegeschichte und zur Entstehung des neustestementlichen Kanons (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament 204), Tübingen 2007, S. 76.

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mal die Kanonisierung verhinderte eine polyphone und sogar antagonistische Deutungsfülle. Die Metaphorik der Macht, mit Begriffen von Reich, König, Befehl u. a. operierend, sollte zwar eine a-politische Botschaft künden, da Gott mit ihnen ausgestattet sei, aber die Metaphern eigneten sich auch für eine Interpretation der Herrschaft, die nicht nur auf Gottes Einsetzung beruhe, sondern die göttliche Macht zu imitieren und sie weiterzuleiten berechtigt sei und sie auf Erden zu realisieren beitragen solle. Wie dies geschehe, erforderte originäre Antworten von denjenigen, die im Mittelalter Bibeltexte interpretierten und Konzepte zur Macht entwarfen. Liebe, Furcht und Schrecken traten in die Sprache der Macht ein. Dies geschah aber nicht einvernehmlich, sondern kontrovers. Die Gegensätze der Vorstellungen entstanden aus einer textimmanenten Exegese, die – weil auf sie andere als biblische Texte einwirkte und weil sie zeitlich unterschiedlichen Anforderungen und Bedürfnissen unterlag – trotz ihrer wiederum kanonisierten Ausprägungen im Mittelalter Raum für Divergenzen beließ.193

193 Joachim Kügler, Willenlose Schafe? Zur Ambivalenz des Bildes vom guten Hirten, in: Gottesmacht. Religion zwischen Herrschaftsbegründung und Herrschaftskritik hg. v. Werner H. Ritter, Joachim Kügler, Münster i. W. 2006, S. 9–34, S. 9–13.

III.

Konzepte der Antike: Herrschaft im Haus, Freundschaft im Staat

1.

Der eine Körper der Polis: Platon

Neben der Bibel fanden Texte von paganen Autoren der Antike Zugang zu den Gebildeten des Mittelalters, wenn sie Vorstellungen zur Herrschaft entwickelten. Einige antike Autoren gaben Impulse zum Nachdenken über das politische Handeln und über die politischen Institutionen und wurden in den argumentativen Diskurs mittelalterlicher Texte integriert. Der Fundus von Überlegungen beruhte auf Rezeptionen, die zu unterschiedlichen Zeiten in den Textbestand des christlichen Okzidents einsickerten und Themen aufbereiteten, die ursprünglich zwar in politisch und sozial andersartig gestalteten Umgebungen entstanden waren, aber für die mittelalterlichen Verhältnisse als brauchbar erachtet oder anwendbar gemacht wurden. Der institutionelle Ort des Nachdenkens über die Politik war die griechische Polis und die römische civitas. Beide Begriffe waren im Mittelalter Synonyme. Bereits in der archaischen Zeit der griechischen Geschichte, also vor dem 5. Jahrhundert v. Chr., gab es Textzeugnisse, die den Einsatz für die Heimatstadt und das Zusammenleben der Bürger in ihr erörterten, dabei aber nicht in eine Reflexion über Begründungen und über alternative Formen von Vergemeinschaftungen eintraten, vielmehr moralische und rechtliche Anforderungen an die Bürger formulierten oder die Vortrefflichkeit der eigenen Gemeinschaft ausführten. Wenn über den ursprünglichen Gesetzgeber geschrieben wurde, wurden Modelle des Gelingens vorgestellt, die der eigenen Gegenwart zur Mahnung gereichen sollten. Die Themen waren an Narrative angeheftet. Sie lenkten Vorstellungen zum richtigen Verhalten der Polis-Genossen. Sie steckten einen Rahmen ab, innerhalb dessen das Tun normativ-rechtlich und normativethisch gestaltet war, formten das Bewusstsein einer Gemeinschaft, begründeten eine genuin politische Rationalität und ebneten schließlich den Weg zu seiner

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Konzepte der Antike: Herrschaft im Haus, Freundschaft im Staat

analytischen Bewertung. Das Ergebnis war die Entstehung der politischen Philosophie.194 Bedeutung für das Mittelalter erlangten diese in der Frühgeschichte der Polis entstanden Texte, die nur fragmentarisch erhalten sind, nicht. Aber sie bereiteten das Terrain vor, über die Gestaltung der Polis theoretisch anspruchsvoll zu denken und zu schreiben. Die Ergebnisse dieser Reflexion reichten bis in das Mittelalter. Zu den im Mittelalter bekannten Philosophen gehörte Platon (428– 347 v. Chr.). In zunehmender Rezeptionsleistung beeinflusste sein Denken auch die Vorstellung zum Politischen während des Mittelalters. Platon leitete – bezogen auf seine eigene Epoche – einen neuen Entwicklungsschritt ein, den Tanja Itgenshorst als den der »Autonomisierung des Politischen« bezeichnet. Was den Argumentationsstil betrifft, lässt Platon unterschiedliche Auffassungen in den von ihm verfassten Gesprächen auftreten, behält zugleich die Kontrolle über das Arrangement der Debatte und kann so argumentativ auf ein Ziel zusteuern, das gültige Sätze zu beweisen sucht. Damit werden Aussagen zur Politik, zur Herrschaft und zur Gesellschaft aus dem Kokon der unreflektierten Affirmation herausgelöst und werden zu Themen von a priori nicht erkannten Wahrheiten, die vielmehr erst noch durch intellektuelle Anstrengungen emporzuheben und zu begründen sind. Das Ganze der politischen Organisation zu denken, bedeutet ihm, das Ganze der Sprache einzusetzen, damit sie durch die in ihr innewohnende, aber durch den Philosophen erst zur Entfaltung zu bringende Evidenz die Menschen anleitet.195 Dem Mittelalter waren, soweit die platonischen Texte bekannt waren, nicht allein Themen überliefert, sondern auch Reflexionsmethoden. Liebe und Freundschaft sind die Themen, die Platon in die Erörterung der politischen Philosophie einführt. Beide Begriffe sind terminologisch nicht geschieden, und Platon entfaltet keine einheitliche Deutung zu ihnen. Die uneigennützige Freundschaft zwischen Männern, die frei von ekstatischen Gefühlen ist, gilt Platon in seiner Schrift Symposion als Beweis ihrer Tugend und ihrer hohen sozialen Stellung. Die Freundschaft befähige sie, Tapferkeit im Dienst für die Polis zu erbringen. Wie insbesondere in der Rede des Phaidros ausgeführt ist, seien Liebe und Freundschaft in soziale Gruppen eingelagert und wirkten auf deren Kohäsion. Sie seien hierarchisch unterschiedlich präsent und damit sozial und politisch virulent, denn sie formten Exklusivität, stärkten Machtpositionen und entfalteten generelle Wirkung über die engen Kreise der tugendhaften Männer hinaus, weil sie den Entschluss der Besten des Gemeinwesens weckten, 194 Christian Meier, Die Entstehung des Politischen bei den Griechen, Frankfurt a. M. 1980; Tanja Itgenshorst, Denker und Gemeinschaft. Polis und poltisches Denken im archaischen Griechenland, Paderborn 2014, S. 13f., 87f., 121f. 195 Ebda., S. 254–258.

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ihr Leben für das Vaterland einzusetzen, ja zu opfern, während in der Rede des Sokrates vornehmlich die Motivierung, nach der Wahrheit zu streben, ausgeführt ist. Dieser Text Platons war indes im Mittelalter nicht bekannt, zeigt aber die auch in anderen seiner Werke vorhandene Konzeption des Eros, welcher zum Guten lenkt, die Freundschaft zwischen tugendhaften Männern hervorbringt und letztlich auch den Grund für das Streben nach dem gemeinsamen Guten in der staatlichen Organisation darstellt. Der Eros macht nicht nur aus zweien eins, sondern er ist es, der dafür sorgt, dass alles in sich selbst zusammengebunden ist. Er transzendiert persönliche Beziehungen, um eine handlungsfähige Gemeinschaft zu formen.196 Platon führt in seinem Hauptwerk der politischen Philosophie, zum Staat, eine deutlich geänderte Konzeption vor, in der er der Vereinbarung und der Freundschaft zwischen den Individuen nur geringe Wirkung zuerkennt, stattdessen Automatismen kollektiver Inklusion vorführt. Er stellt ein Ideal dar, das eine vollkommene Integration der Einzelwesen in die politische Gemeinschaft verlangt. Deren diverse Funktionen werden metaphorisch als Tätigkeiten von Organen eines Körpers dargestellt. Das organologische Modell hat weit gefasste Anwendungen. Platon konzipiert ausgehend von der Opposition von Seele und Leib ein hierarchische Konzept des gesamten Seins, das allgegenwärtig Wirkungen hervorbringt, und unterteilt verschiedene Regungen der Seele in einer gestuften Ordnung. Diese Ordnung entfaltet sich auch in der politischen Ordnung. Sie sieht Platon als gerecht und günstig an, wenn sie Einheit stiftet. Gerechtigkeit könne nur dann bestehen, schreibt er, wenn das Gemeinwesen von einem Einzigen regiert werde, so wie die Seele den Körper regiere. Platon verlangt eine Übereinstimmung der Anliegen und Wünsche aller Menschen, die als Bürger in einer Polis leben. Erforderlich ist folglich nicht ein Ausgleich von deren Interessen, Bestrebungen und Zielen; ausdrücklich wird in der dialogischen Inszenierung des Werkes die Meinung von Clitophon zurückgewiesen, der Herrscher würde die Untertanen glauben lassen, er würde ihre Anliegen befördern. Materielle Vorteile zu erringen und erringen zu wollen, soll nach Platon stattdessen gänzlich ausgeschlossen sein. Vielmehr gelte es, die Gegensätze hinsichtlich der Verfügung über materielle Güter zu überwinden, weswegen es notwendig sei, um einen Konsens aller zu erreichen, die Unterschiede zwischen arm und reich einzuebnen. Deswegen solle durch den gemeinsamen Besitz der Bürger die individuelle Verfügung über materielle Güter ausgeschlossen sein, wie auch die unterschiedslose, promiskuitive Sexualität familiäre Absonderungen verhindern solle. Durch die Konkurrenzlosigkeit werde die friktionsfreie gegenseitige Kooperationsbereitschaft aller gesichert. Sie entbehrt aber einer 196 Platon, Das Gastmahl, hg. v. Otto Apelt, Annemarie Capelle, Hamburg 1981, S. 19–25, 81– 113; Jaeger, Amour, S. 555; Price, Love.

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emotionalen Tiefe, weil sie nicht exklusive Beziehungen, sondern Kollektive formt. Nicht Freundschaften, die willentlich geschlossen werden, sondern allseits präsente humane Dispositionen der allgemeinen Zusammengehörigkeit bilden nach Platon das Fundament der Zusammenarbeit in der idealen Polis. Sicher, in dem späteren, stärker noch als Utopie konzipierten Text »Gesetze« setzt Platon Eheschließung und eheliche Gemeinschaft in der von ihm vorgestellten idealisierten Polis »Magnesia« voraus, in der die Kinder ihren leiblichen Eltern zugewiesen und in ihre Obhut gestellt sind; aber wiederum ist liebende Zuwendung in der Familie nicht vorgesehen. Die Liebe soll vielmehr in das Gefüge des Gemeinwesens eingewebt sein. Die Herauslösung humaner Aktivität aus häuslicher Autonomie und ihre totale Integration in den Staat werden aber auch in diesem Werk ausgeführt, wenn ausdrücklich der Nutzen der Ehe für die öffentliche Ordnung verlangt ist und die Eheschließung, das Bestehen der Ehe und ihre eventuelle Auflösung in die Verfügung der politischen Instanzen gestellt werden (VI, 773 b und 785 b). Unterschiede zwischen den Personen, so wiederum im Werk zur Politik, sollten allein auf der Basis der Tätigkeiten begründet werden, die zwar Belohnung und Strafe nach sich zögen, aber keine unterschiedenen Zugänge zu materiellen Ressourcen gewährten. Der Regierende solle für das Wohl der Untergebenen handeln, das sie selbst nicht erkennen könnten, da das Wohl in der Verwirklichung von Tugenden bestehe, die aber den weniger Einsichtsfähigen oktroyiert werden müsste, also durch eine Befolgung von Anweisungen. Da nicht alle Menschen vernünftig seien, bedürften sie der Anleitung. Obwohl nach Platon die Einsicht in dasjenige bestehe, das alle Menschen kennzeichne und zu ihrem Guten hinführe, hätten diese Einsicht aber nur wenige; im staatlichen Verband bestehe sie im vollen Ausmaß nur bei dessen einzigem Anführer, der nicht allein die Gerechtigkeit repräsentiere, sondern sie tätig allen gewähre, die nur in Unterordnung teilhaben könnten an der allgemeinen Gerechtigkeit. Die natürlich bedingten Unterschiede zwischen den Menschen, die sie unterschiedliche Fertigkeiten erlangen und unterschiedliche Tätigkeiten ergreifen ließen, führe auch zur unterschiedlichen Annäherung an das Wissen über die Gerechtigkeit. Daraus ergebe sich die Notwendigkeit, die Führung der öffentlichen Angelegenheit denjenigen anzuvertrauen, die Platon als die besten Kenner der Gerechtigkeit vorstellt. Der Gehorsam ist daher die Pflicht der unteren Gruppen. Ihre Nützlichkeit bestehe in ihrer arbeitsteiligen Tätigkeit, die aber nur in einer geordneten Gemeinschaft, also unter einer einheitlichen Anleitung, verwirklicht werden könne.197 Die demiurgische Potenz der Seele auf alles Sein wird auf eine staatliche Verfasstheit übertragen, die nur dann als gut gelten kann, wenn sie der onto197 Jakub Jinek, Gerechtigkeit zwischen Tugend und Gesetz. Platons Gerechtigkeitslehre in der Politeia, Saarbrücken 2009, S. 107–111.

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logischen Grundbedingung allen Daseins gerecht wird, das als Emanation des Einen existiert, handelt und auf dieses zurückgelenkt wird. Die Körperteile als Metaphern der Glieder der arbeitsteilig organisierten Gesellschaft aufzufassen, setzt eine Harmonie des kooperativen Funktionierens der Teile voraus, die sich als natürlich ausgibt und im Ergebnis unverrückbar den sozialen Platz des Menschen festlegt. Die Unterordnung unter den einen Herrscher wird motiviert durch die Einsicht in die Notwendigkeit der Ordnung, ist das Ergebnis eines kognitiven Prozesses, zu dessen Gelingen die Schrift zum Staat ja hinführen soll, wobei die Einsicht aber nur den wenigen, zur Leitung befugten und befähigten Männern und Frauen, vorbehalten ist, so dass den übrigen die Unterwerfung unter den Zwang abverlangt wird. Damit entfällt die Voraussetzung, die Demokratie als eine gute Regierungsform in Erwägung zu ziehen. Hingegen bliebt die Erfordernis, eine freundschaftliche Verbindung zwischen den Bürgern herzustellen. Der Zusammenhalt der Bürger beruhe, so Platon, auf den durch die Arbeitsteilung erbrachten Nutzen. Sie verlange die Koordination der Arbeitsteilung durch eine einheitliche ordnende Instanz, die dank ihres Wissens und ihres Vernunftgebrauchs unumschränkte Macht besitze. Aber ohne die liebende Verbindung der Menschen in einer Bürgergemeinde könne die Koordination nicht erreicht werden, und am notwendigsten sei diese Verbindung bei denen, die wüssten, wie die Polis geleitet werden solle. Der utopische Charakter des Werkes ist von Platon selbst eingeräumt, so dass eine zeitliche und geographische Konkretisierung entfällt. Aber die Verwirklichung seiner Konzeption siedelt er nicht allein in das Reich des Wünschenswerten an, sondern in das des Notwendigen, weil es der Beschaffenheit des Menschen, ja der Wesensbestimmung allen Seins, entspricht.198 Platon entfaltet in seinem Spätwerk, Timaios, noch einmal und am deutlichsten die Anbindung politischer Verfassung, einschließlich der kollektiven Verfügung über Besitz und Sexualpartner und der organologischen Aufgabenteilung, an die kosmologische und natürliche Ordnung. Die an den Anfang gestellten Ausführungen zu Gesetzgebung und zu den staatlichen Einrichtungen werden rekapituliert, konkretisiert hinsichtlich der Gesetzgebung durch den Dialogpartner Kritias. Die Ausführungen kommen hier ohne emotionale An198 Platon, Der Staat, übersetzt nach der Ausgabe von John Burnet, Oxford und seitennummeriert nach der Ausgabe von Henricus Stephanus, Paris 1578, übersetzt v. Friedrich Schleiermacher, Hamburg 1958, S. 10–12, 346, 347, 421, 441–444, 562; Ders., Nomoi, Gesetze, übersetzt v. Wilhelm Siegmund Teuffel, Stuttgart 1855, Stuttgart 1862/63; Marcel Pi8rart, Platon et la cit8 grecque. Th8orie et r8alit8 dans la constitution des Lois, 2. veränderte Aufl., Paris 2008; Max Pohlenz, Staatsgedanke und Staatslehre der Griechen, Leipzig 1923, S. 83; The Republic and the Laws of Plato. Proceedings of the First Symposium Platonicum Pragense, hg. v. Ales Havlicek, Filip Karfik, Prag 1998; Christopher Bobonich, Plato’s Utopia Recast. His later Ethics and Politics, Oxford 2002; Politischer Platonismus, hg. v. Andreas Eckl, Clemens Kaufman, Würzburg 2008.

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treiber aus; vielmehr erfolgt die Bewirkung durch eine den Menschen und ihren Relationen inhärente Kraft, die als Sonderfall der die gesamte Welt lenkenden Kräfte vorgestellt ist. Freundschaften zwischen den Bürgern sind in dieser Schrift unerheblich; Liebe gibt es weder im Staat noch in den von ihm arrangierten Familien. Es geht hier nicht um die Darstellung einer Utopie, sondern um die Analyse vorhandener Relationen, nicht um die Entstehung eines Staates, sondern um die Ableitung von dessen Verfassung aus der Beschaffenheit der Natur, nicht um Freundschaften, sondern um die Entfaltung der Notwendigkeit. Sie zu erkennen, setzt die Vernunft voraus. Emotionale Motivierungen sind nicht wichtig, schließlich stehen Gefühle hinsichtlich ihres Wertes unter der Vernunft. Die soziale Kohäsion wird in der Schrift Timaios, anders als in den früheren Schriften Platons, weniger emotional als rational begründet. Die Fusion aller Glieder der Polis in einen einheitlichen Körper bedarf keiner Motivierung, sondern eines Vollzugs der organologischen Bestimmungen jedes Individuums, das fixierte Funktionen ausübt. Es war vor allem diese, knapp formulierte Schrift, die die Vorstellung zum organologischen Staatsaufbau den späteren Epochen weitergab.199 Titus Livius hat in seinem Werk zur Geschichte des römischen Volkes, in den Jahrzehnten des letzten Jahrhunderts vor Christi Geburt geschrieben, die apologetische Instrumentalisierung der Seele-Leib-Relation auf soziale Verhältnisse und die politische Weiterung dieses Verhältnisses zustimmend vorgeführt. Sein umfangreiches Werk Ab urbe condita war nur in wenigen Handschriften und meist unvollständig im Mittelalter vorhanden, viele Passagen wurden aber in mittelalterlichen Geschichtswerken aufgenommen. Dazu gehörte auch die Erzählung von der Revolte der Plebejer gegen die Patrizier.200 Titus Livius stellte sie metaphorisch als die des Magens gegen das Haupt vor – in der ihm wiedergegebenen Rede des Manenius Agrippa vor den rebellierenden und die Stadt verlassenden Aufrührern. Die Revolte sei gegen die Natur des Menschen gerichtet, daher schädlich für das Wohl aller Glieder und damit auch für das Wohl der Aufständischen selbst, die daher ihr törichtes Tun – so die Fortsetzung der Erzählung – dann auch eingesehen und bereut hätten. Die concordia und mit ihr die etablierte Herrschaft seien wieder hergestellt worden.201 199 Platon, Timaios, übersetzt v. Franz Susemihl, in: Platons sämtliche Werke, Bd. 3, 8. Aufl. Darmstadt 2004, S. 91–191; St. 3 A-28; St. 3 A; Lothar Schäfer, Das Paradigma am Himmel. Platon über Natur und Staat, Freiburg i. Br. 2005. 200 Christian Raschle, Titus Livius, Ab urbe condita, in: Die Rezeption der antiken Literatur. Kulturhistorisches Werklexikon, hg. v. dems. (Der Neue Pauly Suppement-Bd. 7), Stuttgart, Weimar 2010, S. 421–440. 201 Titus Livius, Ab urbe condita, hg. v. Robert Maxwell Ogilvie (Scriptorum classicorum bibliotheca Oxoniensis); Oxford 1974, II, 32–33.1; W. Nestle, Die Fabel des Menenius Agrippa, in: Klio 21 (1927), S. 350–360; Von Moos, Geschichte, S. 36.

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Das organologische Modell des Staates, das Platon in seinem Werk zum Staat entfaltet, sollte für das gesamte Mittelalter zu einem der folgenreichsten Entwürfe zum Verständnis von hierarchischen Abstufungen und sozialen Kooperationen werden.202 Die Metapher fand früh Eingang in christlichen Texten. Im Ersten Korintherbrief von Paulus wird die Zusammenfügung der Glieder zu einem Leib als Metapher der Kirche Gottes vorgestellt, so dass jedem Teil eine besondere Aufgabe zukomme. In gestufter Reihe verfügten die Gemeindemitglieder über von Gott eingeflößten Befähigungen und Befugnisse. Zugleich habe Gott aber auch befohlen, dass die niederen und unansehnlichen Teile besonders geehrt würden, denn auch sie seien dem Ganzen nützlich und mit ihm verbunden. (1 Kor 12.1–30). Die Entpolitisierung und Entfernung von einer Herrschaftsbegründung innerhalb der frühen Christengemeinde kontrastierten mit der organologischen Konzeption, die von Platon beeinflusst war und die vorsah, dass eine perfekte Gemeinschaft, einschließlich einer weltlichen, auf die widerstandslose Erfüllung der jeweils unterschiedlichen Aufgaben angewiesen sei und dass Gott eine hierarchische Gliederung menschlicher Beziehungen eingerichtet habe, die der Physiologie der Körperteile entspreche. In der christlichen Deutung kam aber etwas hinzu, was bei Platon fehlte: Die Arbeitsteilung und die Beherrschung sind an die Bande der Liebe geknüpft. Die Einheit wird emotional hergestellt – von denen, die ein Herz und eine Seele sind, wie die Apostelgeschichte schreibt. (Apg 4,32). Die Werke von Platon waren ansonsten im Mittelalter nur unvollständig bekannt. Übermittler von Inhalten, auch aus dem Buch zum Staat, war vor allem Boethius (480–524), der Platon und Aristoteles kommentierte und deren beide Auffassungen harmonisierend zusammenzuführen und als gemeinsame Grundlage des Wissens künftigen Generationen zu sichern suchte. Er war zwar in erster Linie an Logik und Erkenntnistheorie interessiert und nutzte sie für die Entwicklung rational nachvollziehbarer Gründe für den christlichen Glauben, wobei er vielleicht aber auf diese Weise seine genuin philosophische Beschäftigung rechtfertigte und hinter der christlichen Apologetik kaschierte. Jedenfalls gelangten durch seine Ausführungen in der Einleitung zum zweiten Buch seines Kategorienkommentars – trotz der ansonsten vorherrschenden aristotelischen Ausrichtung – auch Inhalte der politischen Lehre Platons zur Kenntnis mittelalterlicher Denker. Am meisten war die Schrift von Boethius De consolatione philosophiae im Mittelalter verbreitet und setzte die Kenntnis platonischer Ideen fort. Boethius schrieb, dass sich die Tüchtigkeit der Herrscher in der Kenntnis 202 Struve, Entwicklung, S. 14, 118; Ders., Die Funktion des Organismusvergleichs in den mittelalterlichen Theorie von Staat und Gesellschaft, in: Soziale Odnungen im Selbstverständnis des Mittelalters, Bd. 1, hg. Albert Zimmermann (Miscellanea Mediaevalia 12/1), Berlin, New York 1979, S. 141–161, S. 146; Ders., Pedes rei publicae. Die dienenden Stände im Verständnis des Mittelalters in: HZ 236 (1983), S. 1–48.

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über die Seele und über ihre Auswirkungen auf das menschliche Zusammenleben zu erweisen habe. Die Einheitlichkeit der Leitung sei die Voraussetzung für das Gelingen der Herrschaft. Dass die Weisen – oder doch diejenigen, die nach Weisheit strebten – herrschten, genüge indes nicht, weil auch die weisen Herrscher der Beratung bedürften, um zu erkennen, was für das Wohl der Untertanen günstig sei. Boethius übernimmt die von Platon konzipierte Beratung des Herrschers durch die Weisen, um Herrschaft und Weisheit miteinander zu versöhnen. Weil Boethius die hierarchische Ordnung aus einer himmlischen Ordnung ableitet, verstärkt Boethius die Geltung, die nicht einzig auf einer innerweltlichen organologischen Konfiguration beruht. Er entzieht sie menschlicher Verfügungsgewalt. Der biographische Hintergrund des Werkes – Boethius’ Gefangenschaft auf Anordnung des ostgotischen Königs Theoderich, der in Italien herrschte und dem er zuvor als Hofmann gedient hatte – motivierte offensichtlich dazu, eine Komplementarität von Macht und Weisheit als Ideal vorzusehen, welches von den Widrigkeiten des Lebens zu trösten versprach.203 Im 12. Jahrhundert stieß Wilhelm von Conches (ca. 1080–1154), einer der frühesten Denker der sogenannten »Scholastik«, ein Tor zur Rezeption der Schriften Platons auf, wobei er aber die politische Thematik nur am Rande behandelte. In den Glossae super Platonem, einer kommentierenden Schrift zum Werk Timaios, verwies er auf das Körpermodell, um die Notwendigkeit einer starken Lenkung der niederen Antriebe des Fleisches zu begründen, und aus ihr die Notwendigkeit der Lenkung der Unteren durch die Oberen abzuleiten. Den Gegensatz und die Zusammenarbeit vom Kopf und von den Gliedern hat er durch den Verweis auf die Engel, die die Menschen leiten, zusätzlich theologisch angereichert.204 Auch Bernardus Silvestris, einer der bedeutendsten Denker der Schule von Chartres im 12. Jahrhundert, hat in seinem Kommentar zur Aeneis, 203 Boethius, In Categorias Aristotelis, Sp. 201–203; Ders., Commentarii in librum Aristotelis PEQI EQLGMEIAS, hg. v. Carolus Meiser, Leipzig 1880, Ndr. New York, London 1987, S. 79–81; Ders., Consolatio philosophiae, S. 7, 9; Ernst Gegenschatz, Zufall, Freiheit und Notwendigkeit. Ein philosphiegeschichtlicher Exkurs im Kommentar des Boethius zur aristotelischen Schrift »De interpretatione, in: Erbe, das nicht veraltet, hg. v. Peter Neukam, München 1979, S. 5–61; Margaret Templeton Gibson, Boethius. His Life, Thought and Influence, Oxford 1981; John Moorheas, Boethius’ Life and the World of Late Antique Philosophy, in: Cambridge Companiio to Boethius, hg. v. John Marenbohn, Cambridge 2009, S. 12–33; Lodi Nauta, The Consolation. The Latin Commentary Tradition 800–1700, ebda., S. 228–254; Boethius christianus? Transformationen der Consolatio philosophiae in Mittelalter und Früher Neuzeit, hg. v. Reinhold Giel, Berlin u. a. 2010; Herbert Zimmermann, Der Römer Boethius als Lehrer des Mittelalters, in: Forum Classicum 15 (2011), S. 47–54; Siobhan Nash-Marshall, Boethius’ Influence on Theology an Metaphysics to 1500, in: A Companion to Boethius in the Middle Ages, hg. v. Noel Harald Kaylor, Dario Brancato, Leiden 2012, S. 163–192; Fabio Troncarelli, Afterword: Boethius in Late Antiquity and the Early Middle Ages, ebda., S. 519–550. 204 Wilhelm von Conches, Glossae, S. 9–13.

Der eine Körper der Polis: Platon

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dem römischen Nationalepos von Vergil, auf das platonische Körpermodell verwiesen.205 Aus einem noch kräftigeren Quell strömte platonisches Gedankengut in das okzidentale Europa durch die Schriften von Pseudo-Dionysius, dessen Deutungen zu Hierarchien an anderer Stelle noch vorgestellt werden sollen.206 Die abgestufte Nähe der Engelsgruppen zu Gott und die abgestufte Befehlsgewalt in der Christenheit wurden daran gebunden, in welcher Fülle, bzw. Abschwächung Gott Kenntnis und Weisheit und ebenfalls Liebe in die hierarchischen Stufen einwirken lässt. Zwar reservierte das Werk von Pseudo-Dionysius die Entfaltung einer basierend auf den Kompetenzen distinktiven und basierend auf den Wirkungen integrativen Hierarchie auf die Verfassung der Kirche, die die Verbindungen der Kompetenz-Ebenen kraft der Liebe herstellen und agonale Beziehungen ausschließen sollte. In der Deutung seit dem hohen Mittelalter war das Konzept aber auch für die weltliche Gewalt anwendbar gemacht worden, wodurch auch die Durchdringung mit der Liebe Gottes neben der der Weisheit Herrschaft zu begründen vermochte.207 Der Liber de causis, im Mittelalter Aristoteles zugeschrieben, tatsächlich aber ursprünglich in arabischer Sprache verfasst und neu-platonische Themen verarbeitend, bediente seit der Übersetzung durch Wilhelm von Moerbeke um die Mitte des 13. Jahrhunderts eine philosophische Reflexion, die eine allgemeine, durch Hierarchien geschaffene Ontologie begründete, die bis in die Gestaltung von Herrschaft reichte und damit sozial und politisch auslegbar wurde. Dank einer organologischen Deutung von hierarchischen Unterschieden war aber eine Hinführung durch emotionale Regungen entbehrlich, da die Geltung einer fixierten Naturordnung vorausgesetzt war, die nicht mehr geschaffen, vor allem nicht motiviert werden musste, sondern lediglich in ihrem Bestand vor Abweichungen zu bewahren war.208 Die Analogie der Herrschaft mit dem Körper stand im Mittelalter der Deutung für hierarchische Differenz und für die Relationen zwischen den hierarchischen Abstufungen zur Verfügung. Zur Verfügung stand auch eine Vorstellung, die gute Herrschaft als Herstellung einer Vereinheitlichung ausgab. Geklärt werden musste im Mittelalter aber dann nicht allein, ob eine solche Verein205 Bernardus Silvestris, Commentum Bernardi Silvestris super sex libros Aeneidos, hg. v. Wilhelm Riedel, Diss. Greifswald 1924, S. 46. 206 Kapitel IV.9. 207 Luscombe, Some Examples, S. 228–241. 208 Henri Dominique Saffray, Der gegenwärtige Stand der Forschung zum Liber de causis als einer Quelle der Metaphysik des Mittelalters, in: Platonismus in der Philosophie des Mittelalters, S. 462–483; Von Bagdad nach Toledo. Das »Buch der Ursachen und seine Rezeption im Mittelalter – lateinisch-deutscher Text, Kommentar und Wirkunsgeschichte des Liber de causis, hg. v. Alexander Fidora, Andreas Niederberger, Mainz 2001.

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heitlichung angebracht, d. h. human kompatibel und christlich konform sein könne, sondern auch, wie die Wirkkräfte, die zur Vereinheitlichung hinführen, die Relationen schafften und gestalteten. Das platonische Konzept gab dazu nur unvollständige Antworten. Ausführlich behandelte das Thema, wie weiter unten gezeigt werden wird, im 12. Jahrhundert Johannes von Salisbury, der Liebe und Schrecken als die Antreiber für den Zusammenhalt der als Körperteile gedeuteten Teile des Staates einführte. Im 13. Jahrhundert wurde im Zuge der Kommentierung der politischen Philosophie von Aristoteles auch dessen Kritik an Platon, insbesondere an dessen Konzept der Vereinheitlichung der Bürgergemeinde, rezipiert. Die kollektive Verfügung von Eigentum und von Sexualpartnern wurde im Mittellalter durchweg abgelehnt, dies umso mehr, als Platon für die Homogenisierung der Bürger keine Liebe vorsah. Die Kritik an Platon schloss aber nicht Vorstellungen aus, die die Homogenität der Menschen für die politische Organisation voraussetzten. Ob und wie sie durch Liebe erreicht werden könne, war die Frage, die unterschiedlich beantwortet wurde. Der Parallelismus zwischen Psyche und Polis, wie ihn Platon – und auch Aristoteles und weitere antike Autoren konzipierten – bot Argumente für die politische Reflexion im Mittelalter.

2.

Freundschaft und Tugend in der Polis: Aristoteles

Mehr als Platon hat Aristoteles (384–322 v. Chr.) emotionale Bande in der Polis vorgesehen. Für die mittelalterlichen Vorstellungen zu Herrschaft und Macht erwies er sich stärker noch als Platon als wirkmächtig, weil die von ihm untersuchten Einrichtungen und deren Begründungen Fragen anstießen, die im Mittelalter der Beantwortung harrten, und zu originellen Leistungen hinsichtlich der intellektuellen Erfassung von Herrschaftsinstitutionen anregten. Seit der Wende zum 13. Jahrhunderts standen immer größere Teile seines Werkes durch lateinische Übersetzungen dem okzidentalen Europa zur Verfügung. Ein kräftiger Anstoß zur Entfaltung politischer Reflexion war gegeben, der erlaubte, außerhalb christlicher Werte Konzepte von Ethik, Gerechtigkeit und politischer Ordnung zu erörtern.209 Ein Kompendium des aristotelischen Werkes der Ni209 Martin Grabmann, Studien über den Einfluß der aristotelischen Philosophie auf die mittelalterlichen Theorien über das Verhältnis von Kirche und Staat (Sitzungsberichte d. Bayer. Akad. d. Wiss., Phil.-hist. Abt. 1934, Heft 2), München 1934; Georg von Hertling, Zur Geschichte der aristotelischen Politik im Mittelalter (Historische Beiträge zur Geschichte der Philosophie), Kempten, München 1911; Fernand van Steenberghen, Aristotle in the West, Löwen 1955; Ullmann, Law, S. 269f.; Wieland, Reception, S. 657–672; McEvoy, Theory, S. 14, 25–29; Cary Nederman, Aristotelism and the Origin of »Political Science« in the Twelfth Century, in: Journal for the History of Ideas (1991), S. 179–194; Christoph

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komachischen Ethik legte zunächst Robert Grosseteste kurz vor 1250 vor, und fast gleichzeitig übertrug ein als Hermannus Alemannus bezeichneter Gelehrter, der in Toledo wirkte, diese Schrift aus arabischen Quellen in die lateinische Sprache. Dieser Text, zunächst unter der Bezeichnung Summa Alexandrinorum bekannt geworden, avancierte zur Grundlage der Kommentierungen im Okzident.210 Eine weitere, im engsten Sinne politiktheoretische Schrift von Aristoteles, das Buch zur Politik, gelangte dank der Übersetzung ins Lateinische durch Wilhelm von Moerbeke seit den sechziger Jahren des 13. Jahrhunderts zur Kenntnis der okzidentalen Philosophen, deren Kommentierungen und Anwendungen den Debatten über die Verfassung von Herrschaft eine neue Wendung gaben, in der Weise, dass aus der natürlichen Beschaffenheit des Menschen seine Bedürfnisse und seine Anliegen abgeleitet wurden, die zur Vergesellschaftung und zur Errichtung von politischen Institutionen führten. Mit den Überlegungen war ein Nachdenken angestoßen, wie Themen der politischen Organisation unabhängig von religiösen Vorgaben behandelt werden könnten.211 Anders als Platon beschäftigte sich Aristoteles nicht mit dem Entwurf eines Soll-Zustandes, sondern in erster Linie mit der Analyse des Ist-Zustandes. Anders auch als Platon setzte er die Freundschaft nicht allein als Quell der Tugend und als motivierende Kraft für das gute Handeln, sondern als ursächlicher Grund für die politische Vereinigung. Aristoteles leitete in seinem Werk der Nikomachischen Ethik die politische Verfassung von der anthropologischen Beschaffenheit ab. Das höchste Ziel jedes Menschen, so schrieb er, sei das Glück. Die inhaltliche Gestaltung des Glücks bleibt vage212, steht der Verwirklichung von Tugenden nahe, meint auch, dass bereits die Möglichkeit, nach dem Glück zu streben, das Glück einschließe. Aristoteles behauptet eine prozedurale ReaFlüeler, Rezeption, S. 22f.; Ders., Politischer Aristotelismus, S. 1–13; Ders., Einfluß, S. 68f., Anm. 15: dort eine knappe Erörterung über den Modus der »Rezeption« mittels der Anwendung von Termini, die in die lateinische Sprache transformiert wurden. 210 Anna A. Asasoy, Hermannus Alemannus und die Alia translatio der Nikomachischen Ethik, in: Bulletin de philosophie m8di8vale 44 (2002), S. 79–94; Ricardo Saccenti, La Summa Alexandrinorum. Storia e contenuto di un epitome dell Etica Nicomacheai, in: Recherches de th8ologie et philosophie m8di8vales 77 (2010), S. 201–234. 211 Aristoteles, Politicorum libri; Georg von Hertling, Zur Geschichte der aristotelischen Politik im Mittelalter (Historische Beiträge zur Geschichte der Philosophie), Kempten, München 1911; Guillaume de Moerbeke. Recueil d’8tudes; Jozef Brams, Guillaume de Moerbeke, S. 317–336. Aristoteles, Ethica Nicomachea, 1094a, 1096, 1155a–1156b, 1166, Jozef Brams, Les traductions de Guillaume de Moerbeke in: Les traductions au travail. Leurs manuscrits et leurs m8thodes. Actes du colloque intern., Enrice 30 stt.–6 ott. 1999, hg. v. Jacqueline Hamesse, Turnhout 2001, S. 231–251; Jozef Brams, Riscoperto di Aristotele in Occidente, in: figure di pensiero medievale 4: Le nuovo razionait/ del III secolo, Rom 2009, S. 59–126; Bertrand, Histoire du lexique, S. 167f., 183. 212 Isabelle Caroline Riesenkampff, Ethik und Politik: Aristoteles und Martha Nussbaum, Diss. Phil. Giessen 2005, S. 15.

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lisierung des Glücks entweder durch die Aktivität des spekulativen Geistes oder durch die Aktivität der politischen Gestaltung. Wenn auch Aristoteles das Nachdenken als genuin philosophische Tätigkeit als wertvoller erachtet, so bringt doch auch die politische Aktivität des Staatenlenkers ein wahres Glück hervor, sowohl für ihn selbst als auch für seine Mitbürger. Das Glück der Menschen im Staat ist also – anders als das der denkenden Philosophen – nicht nur einer kleinen Elite vorbehalten. Der Ursprung des Glücks ist ja auch nicht die Vernunft, sondern die Freundschaft, die weit mehr Menschen möglich und erstrebenswert ist. Da das Glück nicht durch das individuelle Streben allein erlangt werden könne, vielmehr des Zusammenwirkens vieler Menschen bedürfe, sei eine politische Organisation erforderlich, die das gemeinschaftliche Gutsein verwirkliche. Der Mensch sei ein Mangelwesen, aber die Schwächen des Einzelnen garantierten den Zusammenhalt des Ganzen. Für Aristoteles sind es glückliche Schwächen. Weil einerseits der Mensch seine Möglichkeiten weder von Geburt besitze noch sie durch biologische Vorgänge erwerbe, bedürfe es des politischen Zusammenlebens, in dem die erforderliche Erziehung zum Gutsein stattfinde. Aristoteles führt mehrere Arten des Guten vor : das substantielle Gute, das qualitative Gute und das rationale Gute; alle fließen zum einheitlichen Gutem zusammen, das Aristoteles als das tugendhafte Leben bezeichnet. Es verwirkliche sich in einer Soziabilität, die nicht nur konkret erfahrbare Freundschaften erfasst, sondern institutionell gefestigt und ausgedehnt ist, um die Bürger der gesamten politischen Gemeinschaft, der Polis, einzuschließen. Aber auch in ihr könne nicht auf den unmittelbaren und erfahrbaren Kontakt zwischen den Menschen verzichten werden, was der Grund dafür ist, dass Aristoteles die Verwirklichung eines guten Lebens in einem Großreich ausschließt. Die emotionale Nähe zwischen den Gliedern der politischen Gemeinschaft sei erforderlich; ohne sie sei weder ein tugendhaftes Handeln noch eine politische Ordnung denkbar, die beide auf die Verwirklichung der inhärenten menschlichen Anlagen zielen. Freundschaft schaffe damit erst die Voraussetzung, sowohl das private als auch das öffentliche Leben als ein gutes Leben zu führen. Voraussetzung für die Freundschaft sei, so Aristoteles, der gegenseitige Wunsch, Gutes auch für die Freunde zu tun, und die Bereitschaft, diesen Wunsch öffentlich zur Geltung zu bringen. Unterschiedliche Formen der Freundschaft, je nach Quantität der eingebundenen Personen und je nach der Art des gewollten Guten, leitet Aristoteles ab von dem Ziel, das in der Mehrung des Nutzen oder in der Mehrung der Tugend besteht, welche hier knapp zusammengefasst als die Verwirklichung der den Menschen angelegten Potentiale definiert werden kann. Für denjenigen, der seinen Freund liebe, gelte die geliebte Person wie die eigene Person, so dass die Selbstliebe als Voraussetzung der Liebe anzunehmen sei, sie also, wenn sie tugendhaft sein solle, darauf achten müsse, das Wohl auch des

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anderen und aller anderen in der Gemeinschaft zu befördern.213 Die Perspektive des Einzelnen wird überschritten, in dem der Andere in das eigene Empfinden eingeschlossen wird. Das Miteinandersein meint in der aristotelischen Freundschaftslehre, so Bernhard Waldenfels, ein »Mitleben«, das dem Freund den Status »eines anderen Selbst« verleiht.214 Eine emotionale Intensität ist bei diesem Vorgang nicht vorausgesetzt. Deswegen setzt Aristoteles auch nicht die affektgeladene, passionierte, dem geistlosen Erleben ausgelieferte Liebe, die philesis, als Motivationskraft für die Tätigkeit der Bürger ein, sondern die institutionell eingebundene und emotional moderierte Freundschaft, die philia. Sie ist für Aristoteles, der sich hierin von Platon unterscheidet, mehr als nur Emanation des Menschseins, sondern Voraussetzung und Ergebnis des konkreten Handelns in sozialen Bindungen, also nicht allein essentiell, sondern vor allem relational hervorgerufen. Deswegen ist die philia stets das Ergebnis eines Wollens, der einen jeweils anderen einbezieht. Die Einbeziehung erstrebt und erreicht das gute Leben. Die philia ist definiert als die Verwirklichung der Glückseligkeit, die die Tätigkeit des nachforschenden Denkens ermöglicht, damit auch den reflexiven Bezug zu dem Leben und zu seiner sozialen Organisation.215 Freundschaft ist bei Aristoteles dennoch auch durch die sie begründenden Gefühlsregungen gekennzeichnet. Ein Freund nehme Anteil an der Freude und Trauer des Freundes. Ein Band der emotionalen Konvergenz entstehe, das auch dann Bestand habe, wenn aktuell keine gemeinsamen Taten verrichtet und keine gemeinsamen Gewinne erstrebt und erreicht würden.216 Aristoteles schreibt, dass die Freundschaft für die Herrscher mehr als für andere Menschen notwendig sei, denn es sei besser, die politische Gemeinschaft in Harmonie, basierend auf der Freundschaft, zu leiten, als durch Zwang den eigenen Willen zu oktroyieren. Die emotionale Grundierung der Freundschaft, die Aristoteles durch Beispiele von Freundschaftsbanden konkretisiert, führt er zu einer politischen Weiterung. Unmittelbare persönliche Beziehungen sollen in umfassende soziale Beziehungen überführt werden. Dieser Vorgang sei von der Natur aus vorgegeben und könne gelingen, indem die Menschen in ihrer Eigenschaft als Bürger sich auf ihre natürlichen Veranlagungen stützten. Die politische Organisation beruht in diesem Fall keineswegs auf einer Einschränkung 213 Aristoteles, Ethica Nicomachea, 1094a, 1096, 1155a–1156b, 1166, 1168–1170, 1172, 1177b– 1178a. 214 Bernhard Waldenfels, Sozialität und Alterität. Modi sozialer Erfahrung, Berlin 2015, S. 55. 215 Enrico Berti, Il concetto di amicizia in Aristotele, in: Il concetto di amicizia nella storia della cultura europea. Atti del XXII convegno internazionale di studi italo-tedeschi Merano 9–11 maggio 1994, Meran 1995, S. 102–114d. 216 Aristote, Rh8torique, hg. u. übers. Von Charles-Emile Ruelle, Paris 1991, S. 196f. ; Theodore Tracy, Perfect Friendship in Aristotle’s Nicomachean Ethics, in : Institute for Christian Studies – Ancient Philosophy Studies 4 (1977), S. 65–75; Price, Love.

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persönlicher Entfaltungsmöglichkeiten, verlangt keine Unterwerfung unter den Willen anderer, ist nicht der Vollzug der Befehle des Einzelherrschers, wie bei Platon, sondern ist die Fortsetzung des Strebens eines jeden Bürgers nach seinem persönlichen Glück. Das Glück kann nur durch die gegenseitige Zuneigung erlangt werden. Freundschaft verlangt aber auch, eine zu enge, intime Verbindung zu meiden, die die Beteiligten in einen engen Kreis der Liebenden einkapseln und keine Erweiterungen zur politischen Gemeinschaft ermöglicht. Für die politische Erweiterung setzt Aristoteles die individuelle Autonomie voraus. Jede Kollektivierung von Besitz und Sexualbeziehungen würde sie verhindern. Der Unterschied zu Platon ist evident.217 Deutlicher noch erörtert Aristoteles in der Schrift, die als Eudemische Ethik bezeichnet ist, eine Freundschaft, die die Verschmelzung der Individuen ausschließt, vielmehr deren deutliche Scheidung einfordert und so die Voraussetzung wahrt, eine soziale Relation von autonom empfindenden und handelnden Menschen hervorzurufen. Damit das Selbst und der Freund glücklich leben, sollen beide zusammenwirken, soll eine Gemeinsamkeit angestrebt werden, aber keine Vereinheitlichung. Nicht Fusion, sondern Relation zeichnet das Leben der Freunde und Bürger aus. Das Empfangen und das Gewähren von Wohltaten ergeben den Sinn der Freundschaft. Diese Transfers, nicht erst ihr Resultat, bilden das Wesen des guten Lebens. Der wertvollste und der glücklichste Mensch drängt zum Zusammenleben mit anderen wertvollen Menschen – stets aber außerhalb einer engen Intimität.218 Aristoteles erörtert auch in seinem Buch zur Politik die Bedeutung von Freundschaft. Sie erfasst einen Nahbereich der wenigen und ist zugleich produktiv für die politische Organisation. Ein Gegensatz besteht freilich nicht, da Aristoteles auch die politische Organisation nur als geringe Ausdehnung der Nähe für möglich hält. Die Freundschaft gilt ihm als Voraussetzung zum Gewinn eines hohen Wertes, der im Glück des Einzelnen besteht, welches nur durch Kooperation der Vielen erreicht werden kann. Die Kooperation geschieht in der Polis. In der Familie und im Haushalt ist dagegen Kooperation, die aus der Zuneigung entsteht, nicht vorgesehen. Aristoteles unterscheidet zwischen der totalen, keinen Widerspruch duldenden Herrschaft des Vaters in seinem Haus gegenüber Ehefrau, Kindern und Gesinde einerseits und der Vergesellschaftung der Bürger andererseits. Bedürfe die erste des Gehorsams, erzwungen durch die Furcht vor Strafe, die willkürlich verhängt werden könne, so die zweite der Freundschaft zwischen den Bürgern. Die emotionale Fundierung des Zusam217 Aristoteles, Ethica Nicomachea, 1155a. 218 Aristoteles, Eudemische Ethik, hg. v. Franz Dirlmeier, Berlin 1962, S. 91- 93: VII, 12, 1245 a und b; die Frage der Echtheit als aristotelische Schrift ist heute positiv beantwortet: Edmund Braun, Ethika Eudemeia, in: Großes Werklexikon der Philosophie, 2 Bde., hg v. Franco Volpi, Stutgart 2004, I, S 68f.

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menlebens sei daher in den öffentlichen Angelegenheiten notwendig. In den privaten und familiären Beziehungen hingegen walte der Schrecken, dort wo die Gewalt eigenmächtig, nicht voraussehbar und nicht rechtlich präzisiert ausgeübt werde. Die Beziehungen der Zuneigung werden von der familiären Gemeinschaft abgetrennt und allein für den politischen Verband verfügbar gehalten. Mögen sowohl Haus als auch Polis die Nähe zwischen den Individuen voraussetzen, sind sie in ihren Organisationsweisen grundsätzlich verschieden. Im Haus walten die ursprünglichen, d. h. die von der Zivilisierung und der Politisierung nicht gebändigten Triebe. Sie zielten auf die Nahrungsaufnahme und auf die Sexualität. Sie nützten der Selbsterhaltung und der Erhaltung der Art. Liebe und Freundschaft überwänden diese primären Impulse, aber nicht in der Intimität des Hauses, sondern in der Öffentlichkeit der Polis. Das Individuum erreiche in ihr seine natürlicherweise angelegte Bestimmung, Tugend zu verwirklichen, d.h in der Eigenschaft als Bürger, als Teilhaber an den öffentlichen Angelegenheiten. In ihr walteten Emotionen – notwendigerweise, denn ohne sie gelinge nicht der politische Zusammenhalt. Die affektiv unterlegten Beziehungen im Staat, die die Polis voraussetzt, hat Aristoteles sowohl in der Schrift zur Politik als auch in der Nikomachischen Ethik nicht mit Eros und Agape gekennzeichnet, sie also nicht auf Sexualität und impulsiv aufwühlende Gefühlsregungen bezogen, sondern, von ihnen abgelöst, mit der Begrifflichkeit der Freundschaft, die aber auch Liebe einschließt, benannt: Philia. Sie ermögliche, so Aristoteles, das Streben jeder Person nach einem guten Leben, was die Abwendung aus intimen Relationen und den Eintritt in die Politik voraussetze. Die Freunde seien im Tun vereint. Die Vereinigung könne nur gelingen und könne nur Nutzen stiften, wenn sie in die politische Vereinigung münde. Die Freundschaft ist also funktional auf die Herstellung eines Nutzens ausgerichtet und zieht die Weiterung in einen politischen Verband nach sich; sie ist nicht ontologisch dem Mensch eingewoben, wohl aber potentiell in ihm angelegt, vor allem relational verwirklicht und so auch am besten in der politischen Organisation vorhanden. Die Polis ist der institutionelle Ort, der die Freundschaft einfängt, sie zur Zivilisierung des Menschen einsetzt, ihn also gesellschafts- und politikfähig macht.219 Aristoteles wendet sich also gegen Platon, der den Eros einerseits als Antrieb für Vereinigungen, andererseits als der Disziplinierung durch die Vernunft bedürftig hält, setzt vielmehr auf eine weniger tief greifende und ergreifende emotionale Bindung, die nicht die Individuen in ein Gemeinsames einschmelzt, sondern die Individualität intakt hält und die der Natur des Menschen und folglich seiner Vernunft angemessen ist.220 219 Aristoteles, Politik, 1254b; Ders., Ethica Nicomachea, 1156b. 220 Peter Schulz, Freundschaft und Liebe bei Platon und Aristoteles. Semantische Studien zur Subjektivität und Intersubjektivität, Freiburg, München 2000.

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Weil die Liebe die Selbstliebe einschließt, verträgt sich das Streben nach dem eigenen Vorteil mit der Freundschaft.221 Der Wunsch, stets eine Gleichheit des gegenseitigen Nutzens herbeizuführen und rechtlich zu beanspruchen, erachtet Aristoteles in der Nikomachischen Ethik hingegen als unangemessen und zerstörerisch für die Freundschaft. Der Wunsch sei nur insofern zu billigen, da es ein doppeltes Recht gebe, einerseits ethischer, anderseits legaler Art, wobei im letzteren Sinne eine Gegenleistung verlangt werden könne, hingegen die als vornehmere Art der Beziehung bewertete Freundschaft die Gegenleistung zeitlich versetzt erhalte oder auf den Anspruch auf sie gänzlich verzichte. Die Freundschaft schaffe auf die lange Dauer zuverlässig den Ausgleich, aber ohne Berechnung. Deswegen wirke die Freundschaft stets auf eine Gleichheit zwischen den Freunden hin, aber nur hinsichtlich ihrer emotionalen Fundierung und ihrer relationalen Intention, nicht aber in Bezug zum Ergebnis, so dass sie hierarchischen Abstufungen im Staat nicht entgegenstehe.222 Eine harmonisierende Einbindung in das politische Handeln entspringt also nicht aus dem Leben in der Familie, setzt gleichwohl den Nahkontakt zwischen den Bürgern voraus, die aber eben nicht wegen einer gemeinsamen Abstammung und nicht wegen einer genealogischen Zugehörigkeit zugunsten des Gesamtwohls zu handeln befähigt sind. Voraussetzung für die gelungene Kooperation der Bürger ist, dass keiner sich selbst gehört, sondern immer auch schon der Gemeinschaft selbst, ohne dass aber die Gemeinschaft die persönliche Autonomie beschädigt. Wegen der emotionalen Einfärbung der Beziehungen zwischen den Bürgern sieht Aristoteles eine direkte Kommunikation als notwendig an, was ihn auch im Buch zur Politik zur Folgerung führt, dass einzig ein kleiner Staat ein guter Staat sein könne, da nur in ihm Beziehungen der Nähe möglich seien.223 Die Vergesellschaftung und Politisierung des Menschen zielen nicht auf eine Machtsteigerung der jeweiligen Herrscher, sondern gehen von den Bedürfnissen der Individuen aus, weswegen – gleichgültig ob für die Regierungsformen der Monarchie, Aristokratie und Demokratie – stets die Steigerung des allgemeinen Wohls und die Steigerung der Tugend möglichst aller oder doch möglichst vieler angestrebt sein muss. Verlangt Platon eine rigide, den individuellen Wünschen und Bedürfnissen überwältigende Instanz, lenkt bei Aristoteles die Natur des Menschen ihn zur Beförderung eigener Anliegen und daraus folgend zum guten Tun zugunsten seiner Mitmenschen.224 Aristoteles unterscheidet sich von Platon auch dadurch, 221 Aristoteles, Ethica Nicomachea, 1156b. 222 Ebda., 1162b; Österberg, Friendship, S. 27–30; Beate Hentschke Die uneingeschränkte beste Polisordnung, in: Aristoteles’ Politik, S. 147–162. 223 Aristoteles, Politica, hg. v. Alois Dreizehnter, München 1970; Aristoteles, Politik, 1326a; Aristoteles, Politicorum libri, S. 3ff. 224 Aristoteles, Politik, 1326a.

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dass dieser im öffentlichen Bereich eine allzuständige, ein selbstständiges individuelles Tun mindernde und die Autonomie des Individuums und der Familie ausschließende öffentliche Verfassung als Vorbild hinstellt, jener aber eine solche die Freiheit einschränkende Befehlsgewalt in der Polis als Tyrannei bewertet und als Kennzeichen einer schlechten Verfassung erachtet und die Tyrannei auf die Beziehungen im Haus – oikos – beschränkt, in der anders als in der Öffentlichkeit Unfreiheit und Unterwerfung unter der Herrschaft des Hausvaters walten.225 Die Akzeptanz, ja Notwendigkeit der Sklaverei, die Aristoteles rechtfertigt, bestehe als unbeschränktes Gewaltverhältnis einzig im Haus, während der politische Handlungsbereich von der Unfreiheit verschont bleiben solle. Sklaverei sei gleichwohl eine Voraussetzung des politischen Agierens, insofern erst durch die Arbeit der Sklaven die Bürger hinlängliche Freiheit besäßen, sich den öffentlichen Angelegenheiten widmen zu können. Die Ökonomie im eigentlichen Sinne, also die Gestaltung des Haushalts, bedürfe sehr wohl des Zwanges, der Gewalt und der Unfreiheit und auch der Bedrohung und der Furcht; sie solle aber nicht auf die Organisation der Polis überspringen.226 Scharf wendet sich Aristoteles gegen die von Platon vorgesehene Vergemeinschaftung von Eigentum und Sexualpartnern, weil die Sorge um die Mehrung der materiellen Güter und die Sorge um das Wohlergehen der eigenen Kinder der Natur des Menschen angemessen seien, und der Polis Vorteile gewährten, da nur aufgrund der Differenzen Kooperationen entstehrn könnten.227 Vorgesehen ist keine Konformität, um die Zusammenführung der Bürger zu erreichen, genauso wenig wie eine stets vorhandene zwingende Gewalt, um die Konformität herzustellen. Auf eine organologisch begründete Fixierung arbeitsteiliger Kooperation, wie von Platon ausgeführt, kann daher zugunsten einer auszuhandelnden Verteilung von Aufgaben verzichtet werden.228 Die Gefahren, die die Herrschaft eines Königs heraufbeschwört, sieht Aristoteles darin, dass nicht ein Gesetz, sondern der Wille eines Einzelnen die Bürger leitet. Bei der Frage, was besser sei, ein vollkommenes Gesetz oder ein vollkommener Menschen, favorisiert Aristoteles erstere Option, dies umso mehr, als, trotz der von ihm eingeräumten Möglichkeit, dass es herausragende und tugendhafte Könige gebe, die Vererbung des Amtes dazu führe, dass unfähige und schlechte Kinder 225 Jan Holl, Wissenschafts- und handlungstheoretische Überlegungen zur Funktion von Familien- und Organismusvergleich in der Staatsphilosophie, in: Soziale Ordnungen, I, S. 122–143. 226 Aristoteles, Politik, 1254b; Pierre Pellegrin, Hausverwaltung und Sklaverei, in: Aristoteles’ Politik, S. 29–48. 227 Aristoteles, Politik, 1262b, 1263a; Richard Kraut, Aristotle’s critique of False Utopias, in: Aristoteles’ Politik, S. 49–62. 228 Aristoteles, Politik, 1278b, 1290b, 1321a; Günther Bien, Die Grundlegung der politischen Philosophie bei Aristoteles, Freiburg i. Br., München 1975; Höffe, Ethik, S. 11–38.

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die Nachfolge anträten. Wenn doch eine Königsherrschaft akzeptabel sei, dann solle sie auf einen großen Teil der Befugnisse verzichten; so gebe es eine größere Chance, dass sie nicht in eine Tyrannei abgleite, die wiederum zu Revolten anstachele.229 Macht eines Einzelnen müsse reduziert werden, um politisches Handeln – das aller Bürger – erst möglich zu machen. Insbesondere dürfe eine Machtkonzentration nicht dazu führen, dass die freundschaftliche Zuneigung gefährdet werde. Es sei das Kennzeichen verderbter politischer Verfassungen, insbesondere der Tyrannei, dass sie das Vertrauen der Bürger untereinander zerstörten, die deswegen nicht mehr in der Lage seien, in eine gelungene Kommunikation einzutreten und Freundschaften einzugehen und nicht einmal mehr in den privaten Angelegenheiten handlungsfähig seien. Der Zweck der Vergesellschaftung, der in der Zusammenführung unterschiedlicher Fähigkeiten bestehe, werde so gründlich verfehlt. Tugend könne nicht gedeihen, die sich als Sorge um das allgemeine Wohl verwirkliche. Tyrannis sei nicht nur ungerechte Herrschaft, sie laufe auch dem Wesen der humanen Existenz grundsätzlich zuwider. Die Menschen, sowohl die Tyrannen als auch von ihnen die Beherrschten, würden zu Tieren, weil sie des vernünftigen Gebrauchs ihrer Fähigkeiten beraubt seien. Die Furcht vor dem Herrscher verhindere ein funktionierendes Gemeinwesen. Der Furcht in einem schlechten Gemeinwesen wird die Zuneigung in einem guten entgegengestellt.230 Das Ziel der Tugend, das in der Überwindung der egoistischen Anliegen besteht, findet ihre Anwendung in der politischen Tätigkeit, ist also nicht allumfassend und nicht auf alle Lebensbereiche anwendbar. Tugend ist nach Aristoteles nicht die Verfügung über gute Affekte, sondern ein Habitus, der aus dem Gebrauch des Verstandes entspringt und in der natürlichen Beschaffenheit des Menschen begründet ist. Die Aktivierung des Habitus erscheint leicht, weil eine einfache Anwendung der natürlichen Anlagen das Guten entsteht.231 Philosophen des Mittelalters, die auf der Grundlage der aristotelischen Texte argumentierten, unter ihnen Albert der Große, Thomas von Aquin, Aegidius Romanus und Peter von Auvergne, verbanden Mensch an Natur und sahen darin die Voraussetzung einer beständigen Bereitschaft, Gutes zu tun, führten also neben einer christlich begründeten Ethik des Gebotes eine Ethik der Entfaltung des Menschseins ein. Politische Tugend sei, gemäß Aristoteles, nicht gleich der allgemeinen Tugend des tüchtigen Mannes. Dies sei allein deswegen ausgeschlossen, da kein Staat nur aus vollkommenen Menschen bestehen könne, aber doch jeder das ihm eigentümliche Werk in einer Anordnung komplementärer Nützlichkeiten zu ver229 Aristoteles, Politik, 1285a–1287b, 1313a. 230 Aristoteles, Politicorum libri, S. 544–580. 231 Aristoteles, Ethica Nicomachea, 1105b.

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richten aufgefordert und befähigt sei. Alle müssten im Staat die Tugend des guten Bürgers haben; nicht erforderlich sei es hingegen, dass alle die Tugend des im allgemeinen Sinne guten Mannes besäßen.232 Weil das Zusammenleben der Menschen nicht einfach nur das Überleben, sondern das gute Leben bezwecke, sei es unabdingbar, das Tun auf die Verwirklichung der Tugend im politischen Sinn zu lenken. Die Dissoziierung unterschiedlicher Gruppen von Tugenden und ihr Anheften an verschiedene soziale Konstellationen ermöglichen die Konzeption einer distinktiven politischen Moral. Auch für sie, genauso wie für alle anderen moralischen Themen, seien Erziehung und Vorbereitung erforderlich. Allein auf die Kräfte naturwüchsiger Triebe zu vertrauen, reiche nicht aus. Die Hinführung aller zur Befähigung, in der Gemeinschaft zu wirken, sichere erst den Gesetzen ihre Wirkung, die besser durch Einsicht als durch Gewaltandrohung zu herzustellen sei. In diesen Zusammenhang stehen die Ausführungen von Aristoteles zur Fürstenerziehung. Sie anders als die Erziehung der Regierten zu konzipieren, überzeugt Aristoteles nicht, denn die Herrscher überragten keineswegs ihre Untertanen durch Kenntnisse, Tugenden und Fertigkeiten, so wie es die Götter gegenüber den Menschen täten. Die grundsätzliche, auf die anthropologischen Anlagen wurzelnde Gleichheit macht Aristoteles skeptisch, funktional verschiedene Erziehungsziele anzunehmen, denn die Positionen des Regierenden und des Regierten könnten rasch wechseln. Dies sei eine Auswirkung der Gerechtigkeit, die eine partizipative Gerechtigkeit sei, weil sie vielen – idealerweisen allen Bürgern – eine Mitwirkung an der Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten eröffne. Dass eine Erziehung zum jeweils ausgeübten und angestrebten Amt vorbereite, schließe nicht aus, dass die Erziehung breit angelegt und wechselnden Aufgaben angemessen sein müsse.233 Der Einfluss von Aristoteles auf spätantike christliche Autoren, unter ihnen Augustinus, gab die Kenntnis von zumindest Teilen der politischen Ideen späteren Epochen weiter, selbst nachdem die Verfügung über die meisten der originalen Texte zeitweise verloren gegangen war.234 Ein breiter Strom der Rezeption setzte aber erst im 12. und 13. Jahrhundert ein. Die Autonomie des politischen Handelns und dessen Anbindung an eine spezifische Morallehre haben sofort nach der umfassenden Kenntnis der aristotelischen Schriften zu Ethik und Politik seit der Mitte des 13. Jahrhunderts christlichen Autoren Probleme bereitet, die eine Opposition zu den religiös begründeten moralischen Werten nicht hinnehmen konnten, um nicht die Einheitlichkeit des Vorbildes und des

232 Aristoteles, Politik, 1277a. 233 Aristoteles, Politik, 1309b, 1322b; Aristoteles, Ethica Nicomachea, 1099b. 234 Richard Sorobji, Aristotle Transformed. The Ancient Commentators and Their Influence, Ithaca(n.Y.) 1990.

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Liebesgebotes Christi abzuschwächen oder gar in Frage zu stellen.235 Es war zu klären, wie Liebe nicht nur politisch instrumentalisiert und nicht allein anthropologisch fundiert konzipiert werden konnte, sondern anschlussfähig an das allgemeine christliche Liebesgebot gehalten wurde, das keine distinkten Institutionen, gar politischen, als Anwendungsbereiche der Liebe vorsah. Eine harmonisierende Deutung wurde nicht stets erreicht. Für Albertus Magnus, neben Robert Grosseteste den ersten, der sich im Okzident mit der Schrift der Nikomachischen Ethik intensiv beschäftigte und nach 1250 zwei kommentierende Werke zu ihr verfasste, war die Diskrepanz zur christlichen Offenbarungsethik Ansporn, eine Theorie zu entwickeln, um moralisches Verhalten nicht notwendigerweise religiös zu begründen, es aber zugleich in den Zusammenhang einer christlichen Liebesreligion zu stellen. Die Lösung bestand für Albertus darin, die amicitia als notwendige Grundierung des sozialen Lebens herauszustellen, die er mit vielfältigen Anwendungen – einschließlich im Staat – versah und ihr sowohl eine natürliche als auch eine religiös-christliche Verursachung unterlegte und sie in die Nähe der Liebe rückte, was ja auch schon Aristoteles geleistet hatte.236 Thomas von Aquin sah in seiner Schrift zum Königtum eine Minderung und Milderung der Macht vor, ohne die grundsätzliche Geltung unbeschränkter Gewalt in Frage zu stellen, wohl aber indem er die Ausführung der Gewalt an die Beratung weiser Männer band. So sollte Liebe auch im Staat gedeihen.237 235 SHre, Penser l’amiti8; Bertrand, Histoire du lexique, S. 178–180; Politischer Aristotelismus und Religion in Mittelalter und Früher Neuzeit, hg. v. Alexander Fidora u. a. (Wissenskultur und Gesellschaftlicher Wandel 435), Berlin 2007. 236 Albertus Magnus, Ethica, S. 329–390, 537–558; Albertus Magnus, Super Ethica, S. 306–389; Clemens Vansteenkiste, Das erste Buch der Nikomachischen Ethik bei Albertus Magnus, in: Albertus Magnus – Doctor universalis 1280 / 1980, hrg. v. Gerbert Meyer Gerbert, Albert Zimmermann (Walberger Studien. Philosophische Reihe 6), Mainz 1980 S. 373–384; Schmidt, Politische Theorie, S. 343–357; Albertus Magnus und die Anfänge der AristotelesRezeption im lateinischen Mittelalter, hg. v. Ludger Honnefelder (Subsidia Albertina 1), Münster 2005. 237 Thomas von Aquin, De regno; Struve, Begründung, S. 297 führt aus: »Da dem Mittelalter der antike Begriff des an der Regierung des Gemeinwesens teilhabenden Bürgers fremd war, fand auch das aristotelische Modell einer politischen Herrschaft keinen Anklang«; die zitierte Passage berücksichtigt nicht das kritische Potential, das durch Texte, auch wenn sie abseits des ursprünglichen Kontextes ihrer Entstehung rezipiert wurden, entfalteten, abgesehen davon, dass die Existenz der mittelalterlichen Stadtgemeinden durchaus Analogien zur Verfassung der antiken Polis und Civitas aufwies, was ja bekanntlich Max Webers Theorie zum Typus okzidentalen Stadt begründete. Auf die Analogie hatten aber bereits mittelalterliche Texte hingewiesen; Gina Fasoli, La coscienza nelle laudes urbium, in: Coscienza cittadina nei communi italiani del Duecento (Convegni del Centro di Studi sulla spiritualit/ medievale 11), Todi 1972, S. 9–44; Paul Gerhard Schmidt, Mittelalterliches und humanistisches Städtelob, in: Die Rezeption der Antike, hg. v. August Buck (Wolffenbütteler Abhandlungen zur Renaissanceforschung 1), Hamburg 1981, S. 119–128; E. Igor Mineo, Cose in comune e bene comune. L’ideologie della comunit/ in Italia nel tardo

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Auch die Bewertung des Glücks, der felicitas, bereite im Mittelalter Probleme. Die Entfaltung der humanen Potentiale und Tugenden einerseits und das Versprechen eines jenseitigen Heils andererseits standen sich gegenüber, wobei auch hier harmonisierende Lösungen seit dem 13. Jahrhundert angestrebt wurden in dem Sinne, dass Weisheit und Glaubenskenntnis zusammengeführt wurden und als die Voraussetzung eines Zustandes gedeutet waren, bei dem ohne begriffliche Unterscheidung zwischen felicitas und beatitudo beide aus dem menschlichen Handelns – im Diesseits und im Jenseits – entstanden, so wie dies Thomas von Aquin formulierte. Das höchste Glück des Menschen, die ultima felicitas, bestehe darin, den tätigen Intellekt zu erkennen, also in einer philosophischen Aktivität.238 Mit dem synomymen Begriff beatitudo knüpft Thomas an die tradierte Terminologie der Heiligkeit an, die auf ein jenseitiges Glück verweist, ohne dass er die Möglichkeit beiseite schiebt, das Streben nach Glück auch im Diesseits als Grundlage politischer Organisation zu rechtfertigen. Das höchste Glück setzt logischerweise ein Glück zweiten Ranges voraus.239 Die mittelalterliche Rezeption des Textes von Aristoteles zur Politik im 13. Jahrhundert stieß auch eine Diskussion über die Berechtigung der Unfreiheit an, ja war zunächst auf dieses Thema eingeengt. Thomas von Aquin berief sich auf Aristoteles, als er die Unfreiheit als Folge der defizitären Natur des Unfreien ansah, dem Zwang auferlegt sei, dann aber auch auf die Vorteile hinwies, die Knecht und Herr aus dem Zwangsverhältnis zögen, da es nützlich sei, dass der Unvollkommene und geistige Fähigkeiten Entbehrende von einem Klügeren geleitet werde, so dass eine Gemeinsamkeit des Nutzens entstehe.240 Die liebende Zuneigung hat Thomas, anders als Aristoteles, auch im häuslichen Bereich vorgesehen; dort sollten nicht allein Furcht, Schrecken und Unterdrückung walten, damit dem christlichen Gebot der Liebe folgend, das keine Ausnahme duldet und keine sozialen Konstellationen ausscheidet. Selbst die natürliche Inferiorität des Knechtes und Sklaven sei, so Peter von Auvergne, der als einer der ersten an der Wende zum 14. Jahrhundert die Politik von Aristoteles kommentierte, ein Zustand, der Bande wechselseitiger Freundschaft aufweise, da jeweils das Gute für den Herrn und für den Untergebenen beabsichtigt sei.241

238 239

240 241

medioevo, in: The Languages of Political Society. Western Europe, 14th-17 Centuries, hg. v. Andrea Gamberini, Jean-Philippe Genet, Andrea Zorzi, Rom 2011, S. 39–67. Thomas von Aquin, Quaestiones disputatae de anima (Opera omnia 24,1), Rom 1996, quaestio 5, resp., S. 41f. Anathony J. Celano, The finis hominis in the 13th-Century Commentaries on Aristotle’s Nichomacheam Ethics, in: Archives d’histoire doctrinale et litt8raire du moyen .ge 53 (1986), S. 23–53; Bizzarri, Estructura, S. 90f.; Kleber, Glück, S. 9f., 132–139; Toste, Naturalness, S. 113–188. Thomas von Aquin, Summa theologiae (Opera omnia 9), S. 5: Sec. Sec, Quaestio 57, art. 3, arg. 2. Flüeler, Rezeption, 180–210, 228–245, 256–307; Lambertini, Politische Fragen, S. 109f.

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Gleichwohl, auch in der Deutung christlicher Autoren des 13. Jahrhunderts galt: Aus der Liebe entspringt nicht die soziale Bindung zwischen Knecht und Herrn; sie ist nicht kausal, vielmehr normiert und daher erst nachträglich eingefügt. Gänzlich anders wurden Liebe und Freundschaft hingegen für das Gelingen einer guten politischen Verfassung gedeutet, nämlich als Voraussetzungen. Die Rezeption aristotelischer Texte zur Ethik und zur Politik drang bis in die Einrichtungen politischer Herrschaft ein. Am Hof des französischen Königs Karl V. (1364–1380) wurden die Texte in die französische Sprache übersetzt und die Handschriften der Übersetzungen gesammelt.242 Die rationale und naturgemäße Begründung von Herrschaft war nachzuweisen – in der Theorie und in der Praxis: Sie hatte sich an Anforderungen messen zu lassen, die Wirksamkeit, Nützlichkeit und Gerechtigkeit vereinbarten. Die Konformität von Staat und Mensch leitete sich nicht allein von religiösen Vorgaben, sondern aus dem politischen Handeln selbst ab. Damit waren die religiösen Deutungsangebote und Handlungsanweisungen seit dem 13. Jahrhundert nicht außer Kraft gesetzt, aber zumindest ergänzt, sogar mit alternativen Vorstellungen konfrontiert, die die Texttradition antik-paganer Philosophie bereitstellte.

3.

Befreiung vom Schrecken: Epikur und Lucretius

Viele antike Autoren gerieten im Mittelalter fast vollständig in Vergessenheit; einige gelangten aber über antike Rezeptionen gleichwohl indirekt in den mittelalterlichen Wissensbestand. Zu diesen Autoren gehörte der Athener Epikur (um 341–270 v. Chr.), für den als Zeitgenossen Alexanders des Großen nicht die Polis, sondern die weitausgreifende Groß-Herrschaft den Erfahrungshintergrund darstellte. In vielerlei Hinsicht entwickelt er eine gegenüber Platon und Aristoteles alternative Vorstellung zum glücklichen Leben, das politikfern geführt werden sollte, was aber Urteile zum Leben in politischen Verbänden nicht ausschloss. Nach Epikur entspringe die Einbindung in den Staat der Furcht jedes Menschen, die er vor allen anderen Menschen habe, weil diese ihm drohten, Schmerzen zuzufügen. Um dies zu verhindern, strebten Menschen nach Macht. Sie solle Sicherheit vor den Nachstellungen der anderen gewähren. Die Intention ist also nicht die Erwerbung eines Guten, sondern die Vermeidung eines Schlechten. Aber die Wirkung der Macht sei illusionär. Besser sei es, sich gänzlich von den anderen fernzuhalten; dies verspreche Befreiung von der Furcht vor ihnen. Eine Befreiung des Menschen gelinge nach Epikur also dank einer asozialen Existenz. Allein eine Freundschaft zwischen wenigen Individuen, bar jeder politischen Weiterung, vermöge Glück zu bringen. Furcht und 242 Bertrand, Histoire du lexique, S. 167f.

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Schrecken seien hingegen im gesellschaftlichen und politischen Leben nach Epikur allgegenwärtig und bestimmten jede Machtstellung, die sogar noch zur Potenzierung von Furcht und Schrecken bei den Machtlosen und auch bei den Machthabern führe. Erdulden der Macht oder der Verlust der Macht stünden drohend vor den Menschen. Sich von der Macht abzusondern und sie gar nicht erst zu erstreben oder zu erleiden, sei der Garant des guten Lebens. Deswegen empfiehlt Epikur, keine Ämter in der Gemeinde anzustreben. Die Aussagen Epikurs standen in schroffem Gegensatz zu späteren Auffassungen – die der spätantiken Stoa und die des Christentums – und wurden offensichtlich nur in der Form der Ablehnung tradiert. Anscheinend hat einzig der römische Dichter Titus Lucretius Caius (um 99–55 v. Chr.) in seinem Werk De rerum natura den Auffassungen Epikurs zugestimmt und sie weiter ausgeführt. Die Varietät politischer Verfassungen und deren historische Abfolge erachtet er als Modifikationen der Furcht, die zunächst den Königen gegenüber gehegt werde, dann, nach deren Sturz, vor jedem einzelnen Menschen, die in einem Zustand der Regellosigkeit lebten, und schließlich vor den Gesetzen, nachdem sie erlassen worden waren, um der Unordnung Einhalt zu gebieten. Damit die Gesetze befolgt werden, müssten sie Furcht hervorrufen, denn spontan gehorche ihnen niemand. So notwendig dies auch sei, so sehr beschmutze die Furcht vor den Strafen, die die Gesetze vorsehen, den Genuss des Lebens. Die negative Bewertung gesellschaftlicher Vereinigungen, die über die engen Freundschaftsbande hinausreichen, erwächst aus der Verurteilung eines Schreckens, der nicht einmal als illusionär abgetan werden könne, vielmehr untrennbarer Bestandteil von Herrschaft sei, sogar der selbst gewählten und durch Gesetze gestalteten, und nicht durch Flucht ins Private abzuwenden sei. Der Fortschritt hin zu zivilisatorischer Verfeinerung und ihre Einbindung in Gemeinschaften und in den Staat fesselten die Menschen, die durch die Furcht gefangen seien.243 Die Vorstellungen von Epikur und von Lucretius haben erst wieder Humanisten aufgegriffen, nachdem durch Handschriftenfunde seit dem Jahre 1417 die antiken Texte entdeckt und erörtert wurden. Poggio Bracciolini hat Lucretius kommentiert. Lorenzo Valla († 1457) verfasste in seiner Schrift De voluptate sive de vero bono eine Abhandlung zur Philosophie Epikurs, die die durch die Sinne wachgerufene Wollust und Freude als von Gott eingesetzte Wege zum Glück vorstellte. Lorenzo schrieb: Gott macht die Lust: voluptatem facit Deus. Diese Lust ist die Liebe: Voluptas ipsa amor est. Die Verbindung von Lust und Liebe kennt keine Erweiterung für eine große Gemeinschaft. Sie bleibt bei Valla in den intimen Beziehungen eingeschlossen. Erst im folgenden Jahrhundert wird dann 243 Epikur, Von der Überwindung, S. 51–52, 59, 145; Lucretius, De rerum natura lib. V, hg. v. C.D. N. Costa, Oxford 1984, S. 37f., Zeile 1136–1159.

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Thomas Morus in seinem Werk Utopia die leiblichen Genüsse und die sexuelle Lust als kollektive Lebensformen in einen idealen und fiktiven Staat einsetzen.244 Mittelalterliche Autoren in den vorangegangen Epochen bezogen ihr Wissen zu Epikur und Lucretius aus Bemerkungen von Cicero, Augustinus, Kaiser Julian, Boethius und Laktanz und übernahmen deren Verurteilung, so dass die Ablehnung von Furcht, die die Vergesellschaftung hervorbringe und einfordere, nicht in den Bestand von Argumentationen übernommen wurde, vielmehr der Verweis auf »Epikur« zur Chiffre absank, um ausschweifende Lebensführung, Streben nach körperlichem Genuss, Glauben an den Zufall und Leugnung des Schöpfungsaktes Gottes zu verurteilen. Die argumentative Widerlegung von Epikur durch den römischen Philosophen der Stoa, Seneca (1–65 n. Chr.)245, blieb dem Mittelalter verborgen. Der englische Kleriker, Theologe und Philosoph Johannes von Salisbury († 1180) sah Epikur als denjenigen an, auf den sich diejenigen beriefen, die ein ausschweifendes Leben an den Herrscherhöfen führten und meinten, dass der Zufall die Geschicke der Menschen leite. Seine Kenntnis von Epikur schöpfte Johannes aus dem Werk von Boethius De Consolatione Philosophiae, ohne dass er selbst Zugang zu Texten von Epikur besessen hatte. Johannes anerkannte sogar – entgegen einer vorherrschenden mittelalterlichen Tradition –, dass Epikur eine asketische Glückseligkeitslehre entwickelt habe, so dass sich die zeitgenössischen Höflinge zu Unrecht auf ihn beriefen. Immerhin meint Johannes, dass zumindest dem Namen nach Epikur unter seinen Zeitgenossen bekannt sei.246 Dante Alighieri siedelt in seinem Hauptwerk Divina Commedia Epikur und seine Anhänger in der Hölle an, weil sie die Unsterblichkeit geleugnet hätten. Immerhin konzediert Dante in seiner Schrift Convivio, Epikur habe einige Aspekte der Ethik richtig dargelegt, aber doch nur unvollständig – in Unterschied zu Aristoteles, der die Ethik als Teildisziplin der Philosophie etabliert habe.247 Die moralische und theologische 244 Lorenzo Valla, De voluptate sive de vero bono, hg. v. Eckhard Keßler (Humanistische Bibliothek, 2, 34), München 2004, S. 304, 306; Thomas More, Utopia, hg. v. Georges M. Logan, Cambridge 1975, S. 72–79. 245 Seneca, Epistulae morales ad Lucilium, S. 42. 246 Johannes von Salisbury, Policratici libri, hg. v. Webb, II, S. 154f.; Hans Liebeschütz, Medieval Humanism in the Life and Writings of John of Salisbury (Srudies of the Warburg Institute 17), London 1950, S. 29–31, 79; Von Moos, Geschichte, S. 165f. 247 Augustinus, Epistulae, III, 3, hg. v. Klaus D. Daur (CSS 31B), Turnhout 2009, S. 38, 120, 122, 131f.; Julianus, Briefe, hg. v. Bertold K. Weis, München 1973, S. 148; Boethius, De consolatione, S. 47; Dante Alighieri, La commedia, Bd. 2: Inferno, hg. v. Giorgio Petrocchi, Florenz 1994, S. 160; Jones Howard, The Epicurian Tradition, London, New York 1992; Bern Manuwald, Der Aufbau der lukrezischen Kulturentstehungslehre (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften und der Literatur 1980.3), Wiesbaden 1980; Flasch, Philosophisches Denken, S. 531–533; Alessandra Magnoni, Leggere Lucrezio con Dante. Il De rerum natura tradotto da Giulinao Vanzolini, in: Poetri tradotti e traduttori poeti, hg. v. Ivano Dionigi, Bologna 2004, S. 79–128, S. 79f.; Lisa Piazzi, Lucrezio, Il De rerum natura e la

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Ablehnung seiner Philosophie kam aber letztlich ohne bedeutenden argumentativen Aufwand aus. Die Auffassung, sich vor Zorn und Furcht – auch vor denen vor Gott – zu schützen, indem sie als Ergebnisse falschen Glaubens bewertet wurden, stand im Mittelalter außerhalb des Vorstellbaren und war unbekannt. Es gab nicht die Option, sich durch die individuelle Abwendung von der Herrschaft von deren Anmaßungen zu befreien. Die schroffe Alternative von Freundschaft im kleinen Kreis und unangemessener Machtausübung in der Politik, die Epikur entfaltete, hätte eine Verwendung von zuneigender Emotion durch die Mächtigen grotesk erscheinen lassen.

4.

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Auf Vorstellungen zum politischen Handeln im Mittelalter wirkten hingegen die Werke von Marcus Tullius Cicero (106–43 v. Chr.). Er war Zeuge des Verfalls der republikanischen Institutionen und Ideale, war aktiv in das politische Geschäft eingebunden, übernahm mehrmals Ämter der römischen Republik, stieg zum Amt des Konsuls auf, trat als bei seinen Zeitgenossen hoch geachteter Redner auf, war ein erbitterter Gegner des von ihm als Usurpator und Vernichter der republikanischen Freiheit geschmähten Julius Caesar und nicht weniger – als dieser 44 v. Chr. ermordet wurde – seines Nachfolgers Antonius. Auf dessen Veranlassung wurde er getötet. Er verfasste zahlreiche Schriften, von denen zumindest Teile dem okzidentalen Europa zugänglich waren; insbesondere gilt dies für mehrere Kapitel des Buches De officiis sowie des Buches De re publica, dessen Schlussteil, unter den Titel Somnium Scipionis gestellt, zusammen mit dem Kommentar des spätantiken Autors Macrobius (ca. 385-ca. 430) in mittelalterlichen Handschriften oft tradiert wurde.248 Wilhelm von Conches cultura occidentale, Neapel 2009, S. 75f.; Alison Brown, The Return of Lucretius to Renaissance Florence, Cambridge (Mass.), 2010, S. 88–112; Ada Palmer, Reading Lucretius in the Renaissance, in: Journal of the History of Ideas 73, (2012), S. 395–416; Imbach, Dante als Schüler, S. 65. 248 Macrobius, Commentariii in Somnium Scipionis, hg. v. Jacobus Willis, 2. Auf. Leipzig 1970; B. C. Barker-Benfield, A 9th-Century Manuscript from Fleury. Cato de senectute cum Macrobio, in: Medieval Learning and Literature. Essays presented to Richard William Hunt, hg. v. Jonathan James Graham Alexander, Margaret Templeton Gibson, Oxford 1976, S. 145– 165; Albrecht Hüttig, Macrobius im Mittelalter. Ein Beitrag zur Rezeptionsgeschichte der Commentarii somnium Scipionis, Frankfurt a. M. 1990; Michel Huglo, La r8ception de Calcidius et des Commentarii de Macrobe / l’8poque carolingienne, in: Scriptorium 44 (1990), S. 3–20; Clemens Zintzen, Bemerkungen zur Nachwirkung des Macrobius in Mittelalter und Renaissance, in: Athen – Rom – Florenz, hg. v. dems., Hildesheim 2000, S. 302– 322; Matthew Kempshall, De re publica I,39 in Medieval and Renaissance Political Thought, in: Cicero on the Republic, hg. v. J. North, J. Powell, London 2001; Rollen Edward Houser, Cicero and Aquinas of the Precepts of the Natural Law, in: Indubiter ad veritatem. Studies

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(ca. 1080–1154) übernahm für seinen dem späteren englischen König Heinrich II. gewidmeten Fürstenspiegel wörtliche Zitate aus dem Buch De officiis.249 Wirkmächtig war auch die Schrift Ciceros zur amicitia, die die mittelalterlichen Konzepte zur Freundschaft befruchtete und wegen des Lobes exklusiver persönlicher Beziehung sowohl das monastische Ideal rechtfertigte als auch zur Kontrastierung zum allgemeinen, alle erfassenden, keine Unterschiede zwischen den Menschen machenden christlichen Liebesgebot anregte.250 Der beständige Fluss der Ausbreitung von Texten und Textteilen lässt die Überlieferung von Cicero im Mittelalter anders als die von Aristoteles, dem Gewährsmann für philosophische Reflexion seit dem 12. Jahrhundert und für politische Themen seit dem 13. Jahrhundert, nicht sprunghaft einwirken, vielmehr in vielerlei Kanälen und zu verschiedenen Epochen einsickern. Die Möglichkeit, eine spezifische Ethik für das Handeln der Herrscher zu begründen, beruhte spätestens seit dem 9. Jahrhundert auch auf dem Text Somnium Scipionis. Er bereitete das Terrain vor, Inhalte zu erörtern, die zwar unabhängig von einem christlich abgestützten Argumentieren entstanden waren, diesem jedoch angeschlossen werden konnten, indem eine Motivierung der politischen Akteure durch die Hoffnung auf Belohnung im Jenseits in Aussicht gestellt wurde.251 Bevor die jenseitigen Belohnungen thematisiert werden, stellt Cicero in der Schrift De re publica Pflichten vor, die dem Dienst für das Vaterland geschuldet werden. Die vollkommene virtus zeichne diejenigen aus, die sich diesem Dienst widmen und bereit seien, eigene Vorteile zugunsten des Vorteils für den Staat zurückzustellen. Cicero fordert, für die patria sein Leben hinzugeben. Keine Furcht dürfe von diesem Opfer abhalten, umso weniger, als das Leben naturgegeben endlich sei und es deswegen kein großer Verlust sei, es im Kampf für das Vaterland zu opfern, anstatt dass es vom Alter aufgezehrt werde. Die congregatio des Volkes entstehe zwar durch das Streben nach dem gemeinsamen Nutzen, aber nur durch das Recht werde dieser erste Beweggrund zu einer dauerhaften Existenz hingeführt, und das Recht überwinde das Anheften an den individuellen Nutzengewinn. Der Übergang von der Naturnotwendigkeit in das Recht gelinge außerdem dank der Liebe. Also nicht eine imbecillitas quam naturalis, offered to Leo J. Elders, hg. v. Jörgen Vijgen, Budel 2003, S. 244–263; Philippe Brugisser, Macrobius, in: Reallexikon für Antike und Christentum 22, Stutgart 2010, S. 831–856. 249 Philippe Delhaye, Une adaptation du De officiis au 12e siHcle, in: Recherches de th8ologie ancienne et m8di8vale 16 (1949), S. 22–258; 17 (1950), S. 5–28. 250 Raby, Amor, S. 603–605; McGuire, Friendship, passim; J. G. F. Powell, The Manuscripts and text of Cicero’s Laelius de amicitia, in: The Classical Quarterly NS 48 (1998), S. 506–518; Horst Fuhrmann, Cicero und das Seelenheil oder wie kam die heidnische Antike durch das christliche Mittelalter?, München u. a. 2002; Constant J. Mews, Cicero and the Boundaries of Friendship in the 12th Century, in Viator. Medieval and Renaissance Studies 38 (2007), S. 3– 24; Classen, Friendship, S. 8; McEvoy, Theory, S. 3–44, S. 13. 251 Bejczy, Concept, S. 9–11.

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womit Cicero die blanke Sorge um die Notwendigkeiten des Lebens als Überleben bezeichnet, begründe und bewahre den Staat, vielmehr bewege die caritas die Menschen dazu, sich in Gesellschaft und Staat zusammenzuschließen. Der Staat als patria, res publica, civitas und auch als regnum bezeichnet, fordere den höchsten Einsatz der Liebe und die größten Opfer. Caritas gilt Cicero als Tugend – nicht indes amor, als Regung von Begierden gedeutet. In der Familie sei die caritas dem Vater geschuldet, wohingegen der amor, die Liebe in minderer Wertigkeit bezeichnend, den Kindern erwiesen werde, wie Cicero in einer seiner frühesten Schriften, De finibus, ausführt. Caritas und amor benennen emotionale Bande zwischen den Menschen, die gesellschaftliche Bande knüpfen. Wertvoller, weil politisch einsetzbar sei die caritas. Sie sei mit Verehrung, mit Anerkennung der Autorität, mit der Unterstellung unter die Macht verbunden. Die caritas entstehe mit dem Ursprung des Menschen, entfalte sich in der Familie, dringe von dort nach außen vor, begründe Freundschaften, werde dadurch veredelt, halte Nachbarschaften zusammen; weiter reichend werde die res publica von ihr erfasst, und letztlich schließe sie die gesamte Menschheit ein. Die caritas ist familiär, politisch und universal angelegt. Der Zusammenhalt im Staat ist auf eine institutionalisierte und ethisch aufgeladene Liebe angewiesen. Die Liebe ist reziprok, aber asymmetrisch. Dies ist eine Folge ihrer Einbindung in Machtverhältnisse – von der Familie bis in den Staat. Damit die Liebe für den großen Verband wirksam werden kann, muss sie rechtlich geformt werden. Cicero entfaltet ein paradoxes Wechselspiel der Ursachen und Begründungen: Ein in der Natur des Menschen inhärenter Affekt, die Liebe, führt dazu, sozial zu funktionieren; aber die spontane Aktivierung reicht nicht aus, vielmehr wirkt die soziale Funktionalität der Liebe auf sie selbst zurück und wird kraft rechtlicher Festlegung und ethischer Normierung erst politisch relevant und verleiht der Liebe Dauer und Ordnung. So entsteht aus der caritas die pietas. Diese gilt als die Realisierung der Tugend der Liebe. Aus natürlichen Antrieben entsteht die Institution. Cicero bezeichnet sie als societas caritatis.252 Cicero, der diesen emotional-politischen Vorgang in dem Werk De legibus detaillierter ausführt, setzt ihn ein in eine alle Ebenen sozialer und politischer Bindungen erfassende Ordnung, in der die Hierarchie der Entscheidungsbefugnisse eine Hierarchie der Liebe begründet und voraussetzt. Konkret funktioniert der Staat durch die Macht der Rede, die Cicero nicht allein als Mittel der Überredung, sondern als Tätigkeit der liebenden Soziabilität ansieht. Durch die Rede kommen die Menschen zur Zusammenarbeit.253 In der Rede De haruspicum responsis erörtert Cicero ausführlich die Hierarchie der Liebe: Die Bindung an die patria hat den höchsten Wert – zusammen 252 Cicero, De finibus, hg. v. Harald Merklin, Stuttgart 1989, S. 462–465: cap. 5, 65. 253 Cicero, De legibus, S. 64–67.

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mit der Liebe zu den Göttern – und die Liebe zu den Eltern noch übertreffend. Alle Arten der Liebe empfangen ihren Lohn im Jenseits.254 Ebenfalls stellt Cicero in der Schrift De legibus die Liebe zum Vaterland an die Spitze der Wertehierarchie. Diese Liebe sei von der Natur angelegt. Sie wirke auf die Gesellschaft. Sie sei der Ursprung des Rechts. Hingegen vermöchten Furcht und Schrecken nicht – auch nicht gegenüber den Göttern – Bindungen zu stiften. Ohne die Liebe wären im Staat auch Verbrechen möglich, sofern sie nur durch die Zustimmung des Volkes gebilligt würden. Dann aber wäre die Natur des Menschen zerstört, und dann würden die Vergesellschaftung und schließlich der Staat untergehen.255 Liebe gedeiht in der vollkommensten Weise im Staat, wenn Liebe weiter zur Freundschaft gesteigert wird. Der Primat des Politischen zeigt sich besonders deutlich in dem ciceronischen Werk De officiis: Die Vereinigung der Personen in der res publica und ihr Handeln im Dienst für sie übertrifft alle anderen Beziehungen und Taten hinsichtlich ihrer Wertigkeit, selbst das Streben nach Wissen. Wiederum ist es die Natur, die Cicero als die Kraft ansieht, die zur Vereinigung drängt, so wie dies bei den Bienen geschieht. Die Freundschaft verbessere, so Cicero, die Tugenden der Freunde und sie erweise ihnen Nutzen. Eine uneigennützige Intention ist zwar vorausgesetzt, aber als Resultat entsteht der Nutzen für alle Freunde. Gerade weil er nicht angestrebt wird, sofern die Freundschaft ehrenhaft – honesta – ist, entsteht er. Die kontra-intentionale Wirkung geht von der Kraft aus, die der Freundschaft innewohnt und die aus der Natur erwächst. Wegen des in der Freundschaft angelegten Nutzentransfers gelingt auch die Übertragung auf das allgemeine Wohl und das Wohl des Staates. Cicero verwendet Metaphern familiärer Kohäsion, die – anders als dies Aristoteles vorsieht – die Menschen dazu bewegt, jenseits der Verfolgung ihres eigenen Glückes auch das Glück der anderen anzustreben, vor allem all derer, die im Staat leben. Zwischen Familie und Staat klafft keine Lücke. Die patria sei, so schriebt Cicero in De officiis, wie der eigene Vater, von dem das Leben abstamme, von dem alle Wohltaten empfängen und dem sie Opfer erbringen müssten bis hin zur Aufopferung des eigenen Lebens. Ja, mehr noch als die freiwillige Hingabe des Lebens ist vorgesehen, nämlich die autoritative Verfügung des Vaters über Leben und Tod der eigenen Kinder und genauso der patria über Leben und Tod der Bürger.256 Die Vorstellung, das Leben für das Vaterland opfern zu müssen, lebte im Mittelalter und in 254 Parentibus et immortalibus et patriae nos primum natura conciliat. Eodem enim tempore et suscipimur in lubem et hoc caelesti spiritu augemur et certam in sedem civitatis ac libertatis adscribimur ; Cicero, De haruspicum responsis, in: Cicero, Pro Archia Poeta …, London 1923, S. 312–401, S. 392–395. 255 Cicero, De legibus, S. 48–53. 256 Cicero, De officiis, S. 128–131; Raby, Amor, S. 604; Albrecht Classen, Friendship, S. 10f.

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der Neuzeit fort, ohne dass dabei stets eine emotionale Fundamentierung der Pflicht in Erwägung gezogen wurde, so dass allein der Vollzug der Norm galt.257 Cicero verbindet in dem Werk De re publica mit der Figur des Vaters den Begriff rex, der Fürsorge zugunsten seiner Kinder und seiner Bürger gewährt, der aber auch mit der Gefahr assoziiert wird, sie in die Knechtschaft zu führen, weswegen es Cicero für unumgänglich erachtet, sich der Umsicht des besten und höchsten Mannes anzuvertrauen, ohne dass Cicero Regelungen anbot, wie diese Person bestimmt und zur Leitung berufen werden könnte. Statt politische Verfahren nennt Cicero charakterliche Kennzeichen. Der gute und gerechte König herrsche, so schreibt Cicero, indem er mit Liebe – auch hier als caritas bezeichnet – die Untertanen für sich gewinne und seine Herrschaft verwirkliche. Liebe schaffe die Unterordnung.258 Die Liebe motiviere die Pflicht. Indes sei die Liebe, so Cicero, von den persönlichen Charaktereigenschaften des Königs abhängig, daher unzuverlässig, so dass die Monarchie besonders anfällig für den Niedergang sei. Deswegen ergänzt Cicero die Emotionalisierung durch die Liebe mit der Institutionalisierung durch die Gesetze, unter deren Regiment die besten Chancen bestünden, dass die besten Männer die Schwächeren führen.259 Ethik verlangt also mehr als die Verwirklichung der Liebe, mehr als die Hervorbringung von Gefühlen; sie sieht Institutionen vor. Nicht durch Drohungen und mit Schrecken wird der Staat, sofern er gerecht ist, gestaltet. Er basiert auf der Bereitschaft zum Guten und auf dem Handeln zur Erreichung des Guten durch die Bürger. Diese sind definiert als tugendhafte Männer. Nicht der Einschüchterung bedürfen sie, sondern der Anleitung. Es sei günstig, sie durch das Vorbild tapferer Männer, wie Cato und Marcellus, zur industriam virtutis hinzuführen. Dies ist das große Thema, das Cicero in der Schrift De re publica ausbreitet. Die nicht auf den eigenen Vorteil bedachte Bereitschaft, sich für den Staat einzusetzen, entspringt einer Tugendethik, wobei zwar die Motivation des Handelns von der großen Liebe zum allgemeinen Wohl hervorgeht, nicht aber die Legitimität des Handelns von der Liebe abhängt. Es sei zwar die Natur, die den amorem ad communem salutem hervorbringe, den tugendhaften Männern einpflanze und sie vor allen Verlockungen der Lust und des Genießens abschirme. Aber allein eine triebhafte Liebe, der Natur verhaftet und von Cicero als amor bezeichnet, vermöge nicht, Institutionen zu errichten. Vielmehr setzt Cicero die Institutionen als Auslöser von Tätigkeiten ein. Die 257 Kantorovicz, Pro patria mori, S. 488–490; Yan Thomas, Origine et commune patrie. Etudes de droit public romain (89 av. J.C. -212 ap. J.C.), Rom 1996, S. 9; Julien Dubouloz, Puissance de mort et puissance de vie du pHre romain sur son fils. Lecture crois8e de Michel Foucault et Yan Thomas, in: Une histoire au pr8sent. Les historiens et Michel Foucault, hg. v. Damien Boquet u. a., Paris 2013, S. 41–58. 258 Cicero, De re publica, S. 86–89, 100, 104–107, 122–125 135, 154. 259 Ebda., S. 100, 118–121, 170, 188.

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caritas wirkt auf die Institutionen ein, und sie wird von ihnen gefördert. Auch in der Schrift De re publica sind es die Gesetze oder Gewohnheiten, die die Disziplin formen, die notwendig ist, um sich für das Wohl des Staates einzusetzen. Cicero sieht keinen individuellen Nutzen, den der Dienst am Staat hervorbrächte.260 Belohnung werde gleichwohl nicht vorenthalten. Cicero sieht sie transzendent von den Göttern gewährt, die solche Menschen an ihre engste Nähe heranführen, die Vollkommenheit erlängt hätten, indem sie civitates gegründet und bewahrt hätten.261 Den Schrecken hingegen stellt Cicero abseits der Politik in einem gut geführten Staat, denn er verhindere vernünftiges Handeln; zusammen mit der Furcht sei er das Resultat der Dummheit. Dies schrieb er in der Situation politischer Isolation um das Jahr 45 v. Chr. in dem als Sammlung von Gesprächen konzipierten Werk Tusculanae disputationes. Das Wirken der tugendhaften Männer im Staat wird zu einem in der Vergangenheit untergegangenen Ideal. In der ausführlichen Erörterung von Emotionen, die er im vierten Buch dieser Schrift vorstellt, subsumiert er den Schrecken (terror) unter die aversiven Gefühle, wie Furcht, Faulheit, Scham und andere, die den tugendhaften Mann von der gebotenen Mäßigung und dem Gebrauch der Vernunft wegführen. Der Schrecken sei die Ahnung eines bevorstehenden Unheils; er halte den Menschen vom Handeln ab, löse bei ihm heftige Reaktionen des Körpers aus (Klappern der Zähne), sei eine Steigerung der Angst. Der Schrecken trockne die Seele aus, verbrauche die Kräfte des Menschen und halte ihn, so wie Tantalus in der Unterwelt, der unter der Drohung eines über ihn angebrachten Felsbrockens steht, von jedem anderen Gefühl ab. Der Schrecken ist für Cicero, wie im fünften Buch ausgeführt, nur als Mittel eines Tyrannen in einer verderbten Herrschaft vorstellbar, bei der sowohl die Untertanen selbst als aber auch die Gewaltherrscher unter ihm leiden, wie dies bei dem sizilischen Tyrannen Dionysios der Fall gewesen sei, der stets der Drohung ausgesetzt gewesen sei, dass ein über ihm aufgehängtes Schwert auf ihn herabfalle, so dass ihm jede Freude am Leben geraubt sei. Den Schrecken gegen die Feinde einzusetzen, so wie dies Ajax gegen die Trojaner getan habe, sei hingegen richtig. Dagegen bleibe der tugendhafte Mann vom Schrecken unbeeindruckt; der Bürger dürfe ihm nicht ausgeliefert sein und er dürfe ihm nicht nachgeben. Der Schrecken, der terror, so bereits im ersten Buch ausgeführt, unterjoche, stehe der Freiheit entgegen, sei des vernünftigen Menschen, gar des Philosophen unwürdig. Den Widrigkeiten, zu denen der Schrecken gehöre, hätten die Philosophen zu trotzen, indem sie über diese Leidenschaft Gespräche führten.262 Die Rettung besteht also in der dis260 Ebda., De re publica S. 56–63. 261 Ebda., S. 66–73. 262 Cicero, Tusculanae disputationes, S. 48, 256, 258, 260: I 48; IV, 16, 19, 62; Marcia L. Colish,

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kursiven Praxis. Sie beruht auf Vernunft, und sie überwindet die Ankettung an Leidenschaften, die fremdbestimmt sind und ausgelöst werden von solchen, die die Verknechtung anstreben. Furcht und Schrecken sind Negationen im normativen Sinne, nicht aber im faktischen. Umso wichtiger ist es, sie zu überwinden. Der Furcht und dem eng damit verbundenen Begriff Schrecken hat Cicero, anders als bei der herabsetzenden Bewertung in den tusculanischen Gesprächen, früher durchaus eine bewirkende Kraft im Staat zuerkannt, auf die zuzugreifen mitunter sogar unvermeidlich und gerechtfertigt sei. Cicero nennt in seiner Schrift De officiis sowohl Wohlwollen als auch Furcht – benevolentia und metus – als Beweggründe, um Herrschaft zu akzeptieren. Die Erwartung, Lohn für den Gehorsam zu erhalten, oder die Furcht, mit Gewalt zum Gehorsam gezwungen zu werden, lenkten die Menschen in eine gleiche Richtung, wenn auch nicht in gleicher Weise und mit gleicher Begründung. Die Unterscheidung beruhe auf der verschiedenen Qualität der Tugend der verschiedenen Menschen. Trotz des mitunter gebotenen Einsatzes im Staat gebe es schädliche Wirkungen von Furcht und Schrecken. Um Macht auszuüben, sei es besser, so meint Cicero, durch Zuneigung Loyalität zu erhalten, denn diejenigen, die fürchteten, hegten auch Hass und trachteten nach dem Tod desjenigen, den sie fürchteten. Derjenige, der über Menschen herrsche, indem er sie mit Gewalt unterdrücke, sei gezwungen, grausam zu sein. Sofern er dies in einem Gemeinwesen von freien Bürgern durchzusetzen versuche, handele er wie ein Wahnsinniger und werde zum Tyrannen; Aufstände gegen ihn und seine Ermordung drohten. So ginge die Macht zunichte. Hingegen sei das Wohlwollen geeigneter, die Machtausübung zu ermöglichen, vor allem für eine lange Zeitspanne. Die Furcht suche nämlich nicht allein die Untertanen heim, sondern auch die Herrscher selbst, die stets in Erwartung eines Umsturzes und eines Mordanschlags verharren. Cicero nennt auch hier wiederum den sizilischen Tyrann Dionysios als Beispiel.263 Mehr als durch die Furcht werde durch die Vernunft bewirkt, die den Menschen eigentümlich sei, sie zur Kooperation anleite, um Vorteile zu erwerben, vor allem Tugenden hervorbringe und das Menschsein erst zur Vollendung führe. Vernunft begründe Tugend. Und die Tugend vollbringe den Wechsel von Liebe zu Freundschaft, von emotionaler Bindung zu geordneter Vereinigung, also die Steigerung der Liebe zur Freundschaft. Sie sei es, die tugendhafte The Stoic Tradition from Antiquity ot the Early Middle Ages, vol. 1: Stoicism in Classical Literature, 2. Aufl. Leiden 1990, S. 89–103; Helmut Eng, Aufbau und Argumentation in Ciceros Tusculanae disputationes, in: Rheinisches Museum 141 (1998), S. 329–347; Eckard LefHvre, Philosphie unter der Tyrannis. Ciceros Tusculanae disputationes, Heidelberg 2008; Julien Dubouloz, La n8gation du status de pater patriae. Critique du pouvoir c8sarien chez Cic8ron, in: La pathologie du pouvoir. Vices, crimes et d8lits des gourvernants, hg. v. Patrick Gilli (Studies in Medieval and Reformation Tradition 198), Leiden ua. 2015 , S. 72–90. 263 Cicero, De officiis, S. 148–153.

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Männer zusammenführe, die gemeinsam danach strebten, für die Gemeinschaft Nutzen zu erbringen. Freundschaft, wenn sie von der Vernunft geformt werde, sei als Pflicht aufzuerlegen. Die Freundschaft steht für Cicero an der Spitze der Werte; sie übertrifft die Liebe, die – selbst wenn sie als caritas bezeichnet ist –, dem Naturnotwendigen verhaftet ist und spontan innerhalb der Familie bei der Verehrung des Familienoberhauptes gedeiht, wo sie zwar auf den Staat hinlenkt, aber erst der Formung der Tugend bedarf, um in ihm kraft der Freundschaft zu wirken.264 Cicero widmet der Freundschaft ein eigenes Werk. Dort beurteilt er sie als höchste Vollendung menschlicher Bindungen. Liebe leite zwar zur Freundschaft, vermöge sie aber nicht zu umfassen, da ein Weiteres hinzutrete: der Dienst an einer gemeinsamen Aufgabe. Cicero sucht eine Lösung anzubieten zur Frage, wie aus persönlichen Emotionen Pflichten entstehen und sie dem Staat nutzbar gemacht werden. Er erläutert in diesem Werk – als Laelius de amicitia überliefert – daher auch die politische Bedeutung der Freundschaft, insofern die Frage eine Antwort erhält, wie die besten Männer für die Lenkung des Staates beschaffen sein sollten und wie sie gefunden werden könnten, wie sie freundschaftlich verbunden seien und aus welchen Gründen sie zu Leitungsaufgaben bestimmt werden sollten. Freundschaft sei das Kennzeichen der tugendhaften Männer und ein Geschenk der Götter, das also – Cicero verheimlicht dies nicht – willkürlich vergeben werde und dennoch den höchsten Wert darstelle, den die Menschen erwerben könnten. Die gegenseitige Zuneigung erweise sich in der nicht berechnenden Bereitschaft, dem Freund Gutes zu tun. Die Erwartung, durch den Freund Wohltaten zu erlangen, sieht Cicero als Schwäche an, die wahrer Freundschaft zuwider laufe, da sie keinen Nutzen verlange, vielmehr Opfer einfordere. Dies sei der Grund, warum die in Freundschaft verbundenen Männer die Lenker des Staates sein sollten, weil sie nicht nach ihrem eigenen Vorteil trachteten und ihr Streben uneigennützig dem Staat zukommen ließen. Die vollkommene Übereinstimmung von Neigungen, Meinungen und Entschlüssen begründe wahre Freundschaft und zugleich das leidenschaftliche Arbeiten zugunsten des Staates. Nur durch die Freundschaft könne der Staat bestehen, der, wenn jene fehlte, durch Hass und Zerwürfnis von Grund auf zerstört werde. Die Ausdehnung der Wirkung der Freundschaft auf das gesamte Staatswesen führt dazu, die Uneigennützigkeit und die Opferbereitschaft der Individuen als Gewinn dem Staat zuzuführen. So wird die Arbeit für den Staat nicht nur durch eine Pflichtenethik erzwungen, sondern auch durch eine emotional grundierte Verbindung erreicht, die aber in vollkommener Weise nur wenigen Männern vorbehalten ist. Die Freundschaft ist definiert als die Verbindung der Freunde durch Wohl264 Ebda., S. 50–53.

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wollen und Liebe. Cicero verwendet auch hier den Begriff caritas. Ansonsten wird die Liebe im Werk De amicitia auch als amor bezeichnet; Cicero meint, dass der amor etymologisch und sachlich in amicitia eingeschlossen sei. Der Terminus amor verweist auf die spontanen Regungen der Seele. Die Liebe sei zeitlich älter als die Freundschaft und in den natürlichen Neigungen der Menschen begründet; sie wird von Cicero als körperlich angestoßene Regung gedeutet; sie entstehe aus einem sensus amandi.265 Aber damit die Liebe die Freundschaft schaffe, ist mehr als die Aktivierung des natürlichen Antriebes, der der Liebe, vorgesehen. Cicero verlangt Anstrengung, Verzicht und Opfer. Um die Höhe der Freundschaft zu erklimmen, könnten die Freunde sich nicht damit begnügen, auf das Wohlwollen zu vertrauen, nicht einfach eine spontan angeregte Liebe weiterführen, sondern müssten bemüht sein, gegen Lust und Interesse anzugehen. Das Maßhalten verlange eine Bändigung der Emotionen, sogar der Liebe, und dulde keine schwärmerische Entgrenzung des Individuums. Nicht äußerer Zwang, nicht Furcht vor Strafe, nicht die Unterwerfung unter den Befehl der Oberen und nicht einmal spontane Liebe könnten Freundschaft erzeugen, sondern die Bändigung egoistischer Anliegen, so dass eine Willensgemeinschaft mit den Freunden und den befreundeten Lenkern des Staates entstehe. Der Freundschaft gelinge es, so Cicero, die Unterschiede der Menschen in Abstammung und Rang auszugleichen, so dass der Höhere dem Niederen gleichgestellt werde. So entstehe eine Gruppe der Gleichen, die gemeinsam für den Staat sorgten. So sehr auch Liebe als emotionale Grundierung nützlich und als Vorbereitung zur Freundschaft notwendig sein mag, so sehr erachtet Cicero sie als gefährlich für einen kollegial organisierten Staat und reserviert sie für eine monarchische Regierung, die des Königs, die Cicero indes wegen dessen stets zu befürchtenden persönlichen Mängel suspekt und moralisch tiefer stehend erscheint. Gegen die Macht eines allzu Mächtigen stehe hingegen die Freundschaft. Niemals könne Furcht mit der Freundschaft in Verbindung gebracht werden, denn Furcht verhindere Tugend.266 Deswegen ist die Freundschaft, wie sie Cicero als Vorbild konzipiert, nicht mit der Beziehung in Klientelverbänden gleichzusetzen267, deren Sprengkraft für den Staat er vielmehr beklagt. Nicht sozial gestufte Anhänglichkeit an Anführer, sondern der Verzicht auf Macht über gesonderte Personengruppen sieht Cicero vor, damit die Lenkung des Staates ungeachtet der Verschiedenheit der Bürger gelingt. Anders als die caritas, die hierarchische Differenz und Machtungleichheit voraussetzt, entfaltet sich die 265 Cicero, Laelius de amicitia, S. 53, 74–79. 266 Ebda., S. 48f., 52, 70f. 267 Segun N. Eisenstadt, Luis Roniger, Patrons, Clients and Friends. Interpersonal Relations and the Structure of Trust in Society, Cambridge 1984, S. 52–57; Österberg, Friendship, S. 30f.; Aloys Winterling, Freundschaft und Klientel im kaiserzeitlichen Rom, in: Historia 56 (2008), S. 298–315.

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amicitia in einer Beziehung zwischen Gleichen. Es ist eine Gleichheit innerhalb einer Elite, die den Staat leitet. Die Freundschaft wird politisch, sofern sie zur Vereinigung der tugendhaften und wegen ihrer Tugend zur Herrschaft berufenen Männer führt.268 Was ist der Vorteil, den der tugendhafte Mann durch den Dienst für Freunde und Staat erwirbt? Ciceros sucht darauf Antworten zu geben. Es sei nicht der Ruhm, denn er sei vergänglich und abhängig von den Launen der Menschen. Im Werk De re publica bietet das Schlusskapitel Somnium Scipionis eine Antwort, die für das christliche Verständnis anschlussfähig ist: Es soll angenommen werden, so Cicero, dass denjenigen, die sich für das Vaterland einsetzen, ein sicherer Platz im Himmel bestimmt sei, wo sie ein ewiges Leben genießen. Die Belohnung im Jenseits sporne zur diesseitigen Tätigkeit für das Gute an. Die gute politische Ordnung, die sich in Versammlungen und Gemeinschaften der Menschen verwirkliche und gemäß dem Recht geleitet werde, sei den Göttern das höchste Gut auf Erden; deswegen würden die Lenker und Bewahrer von Familie, Haus und Staat, sofern sie gut regierten, dorthin zurückkehren, wohin sie gehörten, nämlich zu den Göttern. Das irdische Leben sei der Weg zum Himmel, den diejenigen beschritten, denen iustitia und pietas in ihrer Familie gelängen, noch mehr aber denjenigen, die diese Tugenden im Staat verwirklichten. Da ein so hoher Lohn – praemium – ausgesetzt sei, sei der Ansporn vorhanden, die res publica als Ziel des Bemühens einzusetzen.269 Die Volte des Textes von Cicero besteht darin, die Argumentation aus einer streng rationalen Beweisführung herauszulösen, sie in einen Traum zu kleiden, dabei aber um nichts weniger einen Anspruch auf die Wahrheit anzumelden, die zunächst ohne einen religiösen Bezug rein argumentativ entfaltet wird und auf die Anthropologie verweist, am Ende des Textes aber dank göttlicher Offenbarung die Bestätigung erhält. Die religiöse Weiterung politischer Tätigkeit in eine himmlische Sphäre, wie sie Cicero zeichnete, war im Mittelalter ein geeigneter Nährboden, um Vorstellungen zu pflegen, die sowohl das Handeln des Herrschers als auch die freundschaftliche Zuwendung im Kloster in ein christliches Weltbild integrierten, so dass ein Deutungsangebot zur Verfügung stand, um persönliche Zuneigung in eine politische Ordnung und diese wiederum in ein religiöses Erlösungsgeschehen zu überführen. Die Rezeption von Somnium Scipionis im klösterlichen Milieu und seine Kommentierungen sicherten die Kenntnis des Textes für das Mittelalter und machten ihn zum bekanntesten Text Ciceros im Mittelalter.270 268 Cicero, De amicitia, S. 162f. 269 Cicero, De re publica, S. 336–343, 348–351. 270 Albrecht Hütig, Macrobius im Mittelalter. Ein Beitrag zur Rezeptionsgeschichte der

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Auch das von Cicero ausgebreitete Thema der amicitia sollte später durch christliche Autoren, zuerst von Augustinus (354–430), aufgegriffen werden, der in enger wörtlicher Anlehnung an das Werk Laelius in seiner Autobiographie Confessiones die Freundschaft mit der Liebe, von ihm als caritas bezeichnet, und beide mit dem Streben nach Erlösung verband. Freunde, deren Liebe vom Heiligen Geist in die Herzen ausgegossen werde, seien wie miteinander verklebt.271 Das Konglomerat von ciceronischer amicitia, caritas und von amor wurde der christlichen caritas angenähert begründete eine sozialen Zusammengehörigkeit, die unabhängig von disparaten individuellen Freundschaften von einer allgemeinen Liebe geformt wurde, so dass dann doch Augustinus sich von der Konzeption Ciceros entfernte.272 Die Liebe gedieh gemäß der Deutung mehrerer christlicher Autoren nicht in erster Linie im Staat; sie war meist fern der Herrschaft angesiedelt. Freundschaft und Liebe fanden ihre Heimat vornehmlich in monastischen Gemeinschaften, in der Weise, dass sie einen Kontrast bilden sollten zu bilateralen, ausschließenden Beziehungen zwischen einzelnen Mönchen, sie vielmehr in den Dienst der gesamten Kommunität gesetzt wurden. Johannes Cassian (360–435) hat im seiner Schrift Collationes patrum die zu seiner Zeit neu entstehenden klösterlichen Gruppen als die vollkommenen Gemeinschaften bezeichnet, in der allein die wahre Freundschaft gedeihen könne. Nur eine geistige Freundschaft sei vollkommen, und sie verlange die Verachtung der Welt und sie überwinde die vanitates, derer alle diejenigen unterliegen, die nach Ehre, Rang und Macht strebten.273 Analog zur Gemeinschaft der Tugendhaften bei Cicero war die Mönchsgemeinschaft in der Benediktregel konzipiert, die verlangte, dass nicht einer mehr als ein anderer geliebt werde, sofern er nicht dank guter Taten sich als vortrefflicher als andere erweise; ansonsten aber müssten alle in gleicher Weise, ohne soziale Abstufung und ohne individuelle Vorlieben in umfassender Liebe verbunden sein, die auch die Knechte einschließe.274 Der Regeltext verknüpfte das Konzept der Gleichheit aller Mönche mit dem ciceronischen Ideal des vortrefflichen, weil tugendhaften Mannes. Eine breite Rezeption der Schrift Laelius de amicitia setzte im 12. Jahrhundert

271 272 273 274

Commentarii in Somnium Scipionis, Frankfurt a. M. 1990; Roberta Caldini Montanari, Tradizione medievale ed edizione critica del Somnium Scipionis, Florenz 2002. Augustinus, Confessiones, S. 16, 35f., siehe die Kommentierung ebda., Bd. 22, S. 218f. Jaeger, Ennobling Love, S. 29f., 246f. Johannes Cassianus, Collationes patrum, hg. v. E. Pich8ry (Sources chr8tiennes 54), Paris 1958, S. 22f. Benediktregel, S. 77f.; Joachim Wollasch, Benedictus abbas Romensis. Das römische Element in der frühen benediktinischen Tradition, in: Tradition als historische Kraft. Interdisziplinäre Forschungen zur Geschichte des frühen Mittelalters. Festschrift Karl Hauck, hg. v. Joachim Wollasch, Berlin 1982, S. 215–232.

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ein und begründete weiterhin ein monastisches Ideal, das die Gemeinschaft im Kloster als Ergebnis der Freundschaft deutete. Aber auch die Deutungen von intimen Beziehungen, die nicht notwendigerweise in den Dienst eines klösterlichen Kollektivs gestellt wurden, knüpften an Cicero an. Seit dem 12. Jahrhundert, vor allem durch die Schrift des Zisterziensers Aelred von Rievaulx über die Freundschaft, wurde das Ideal, das Cicero in dem Werk Laelius de amicitia entfaltete, trotz des von Aelred selbst vorgestellten Einwandes, dass dem Konzept eines heidnischen Autors zu misstrauen sei, für die Christen anwendbar gemacht, nunmehr vor allem zur Steigerung der Gottesliebe eingesetzt, aber auch individualisiert für enge persönliche Bindungen zwischen einzelnen Mönchen. Die soziale Erweiterung der Freundschaft erfasste oft die Gesamtheit einer monastischen Gemeinschaft, ohne aber aus ihr zu politischen Aktivitäten hinauszuführen. Sowohl die Idealisierung des Lebens in Klöstern als auch der zweiseitigen Beziehung schöpften aus dem Fundus von Texten Ciceros, so dass abseits von Zwang, Gewalt und Furcht Menschen in eine harmonische Beziehung eintreten könnten, dies aber unter der Voraussetzung, dass die Gefühle geordnet, vor Impulsivität geschützt und für den Nutzen von Institutionen – der Klöster, nicht der weltlichen Herrschaften – eingesetzt würden.275 Die Texte von Cicero boten eine Grundlage, um auch politische Reflexionen im Mittelalter anzustoßen und zu beeinflussen. Überlegungen zur Grundlegung von Anhänglichkeit und von Loyalität im herrschaftlich organisierten Verband stellten Johannes von Salisbury im 12. Jahrhundert und der walisische Gelehrte Giraldus Cambrensis zu Anfang des 13. Jahrhunderts vor. In den von ihnen als Fürstenspiegel konzipierten Schriften wurden das Werk De officiis und die Textpassage Somnium Scipionis in großem Umfang zitiert und paraphrasiert. Besonders Johannes von Salisbury hat tatsächliche oder vermeintliche Belegstellen aus den Schriften Ciceros für seine Argumentation genutzt. Freundschaft hat in den beiden genannten mittelalterlichen Texten insofern eine politische Funktion, insofern die Anhänglichkeit einer engeren Hofgesellschaft an den König beschrieben, aber als inklusiv abgewertet und für das Königreich als schädlich deklariert wurde.276 Damit war die Intention des ciceronischen Kon275 Aelred von Rievaulx, De spiritali (sic) amicitia; McGuire, Friendship, S. 98ff.; Epp, Amicitia, S. 12–15; Krüger, Freundschaft, S. 55, 63–66, 148; Rosenwein, Generations S. 93; Boquet, Ordre de l’affect. 276 Johannes von Salisbury, Policraticus, hg. v. Keat-Rohan; Giraldus Cambrensis, De instructione; Von Moos, Geschichte, passim; Eckard Reichert, Cicero Christianus. Übernahme und Umgestaltung des Ciceronianismus in den apologetischen Schriften der voraugustinischen lateinischen Kirchenväter mit einem Ausblick auf Augustinus, Hamburg 1993; Michael P. Foley, Cicero, Augustine, and the Philosophical Roots of the Cassiciacum Dialogues, in: Revue des etudes augustiniennes 45 (1999), S. 51–78; Thomas Baier, Cicero and Augustinus. Die Begründung ihres Staatsdenkens im jeweiligen Gottesbild, in: Gymnasium. Zeitschrift für Kultur der Antike und humanistische Bildung 109 (2002), S. 123–140;

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zept einer den gesamten Staat erfassenden Wirkung der Freundschaft in ihr Gegenteil gekehrt. Das Werk De amicitia von Cicero war für die politische Reflexion weniger zugänglich. Der Einfluss dieser Schrift trat seit dem 13. Jahrhundert in Konkurrenz zu den Freundschaftskonzepten der nunmehr übersetzten Werke von Aristoteles, die genuin politische Weiterungen vorsahen, wohingegen die ciceronische Schrift – offenbar in Gegensatz zur Autorintention – entpolitisiert rezipiert und auf das monastische Milieu und Ideal eingeengt wurde. Setzte Aristoteles die Freundschaft als konstitutives Element in die Politik, so Cicero außerhalb von ihr, aber mit Einwirkungen auf sie. War Freundschaft bei Aristoteles kausal politisch, so bei Cicero intentional politisch. Beide setzten sie als Hebel ein, der das pflichtgemäße Handeln im Dienst für den Staat hervorbringen sollte.

5.

Verlust der Freundschaft im römischen Kaiserreich

Bereits während seines Lebens wurde das politisierte Freundschaftsideal Ciceros obsolet. Dies war das Ergebnis des Verlustes geregelter politischer Partizipation im Römischen Reich durch das Ende der republikanischen kollegialen Ämterverfassung und durch die Etablierung des Prinzipats. Das Ideal der Freundschaft wurde in das private Leben abgedrängt. Freundschaft im Palast des Princeps anzutreffen, wurde als vergebliche Hoffnung abqualifiziert. Die Tätigkeiten für den Staat standen abseits von Freundschaften. Die intellektuellen Anstrengungen von Ciceros suchten offensichtlich das erahnte und befürchtete Ende der politischen Freundschaft abzuwenden, vielleicht ging es aber auch nur noch darum, ihr ein literarisches Denkmal zu setzen. Zwei Briefe, von Sallust oder vielleicht auch nur angeblich von ihm verfasst und an Caesar, vielleicht auch an Augustus gerichtet, bezeugen die nunmehr pessimistische Sicht, dass Freundschaften den Staat nicht mehr stützten. Stattdessen rissen die Unterschiede zwischen den Menschen und die Einkapselung in gesonderte Berufe das Gebäude des Staates ein. Wenn Freunde Umgang miteinander pflegten, dann abseits der Staatsgeschäfte; ja die Freundschaften hinderten daran, an den Beratungen der Politik teilzunehmen. Die Flucht in das Private entzöge dem Staat das Engagement derjenigen, die in der Vergangenheit sich selbstlos in dessen Dienst gestellt hätten. Der erste der beiden Briefe warnt vor der Beherrschung durch den Schrecken; sie sei nur schwer zu ertragen; die Marcia Lillian, Cicero, Ambrose, and Stoic Ethics. Transmission of Transformation?, in: The Fathers and beyond. Church Fathers between Ancient and Medieval Thought, hg. v. ders., Bd. 5, Aldershot 2008, S. 95–112; Cary J. Nederman, Nature, Sin and the Origins of Society. The Ciceronian Tradition in Medieval Political Thought, in: Journal of the History of Ideas 49 (1988), S. 3–26.

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grausamen Herrschaften hätten überdies nur eine kurze Dauer ; die Furcht, die sie verbreiteten, suche auch den Herrscher heim.277 Verfasser, Adressat und genaue Zeit der beiden Briefe sind unbekannt. Ihr historischer Kontext ist der Übergang von der republikanischen Verfassung zur Alleinherrschaft. Die Texte stimmen eine Elegie auf ein verlorenes Ideal an.278 Aus dem Staat wurden Freundschaft und Liebe herausgedrängt. Der Verlust gab Anlass zur Klage. Er beließ indes auch Platz für eine hypertrophe Lobpreisung der Liebe, die, von allen Verpflichtungen befreit, von einer tugendmäßigen Steigerung in der Freundschaft abgelöst, sich umso mehr in der Intensitität des Fühlens und Begehrens einnisten konnte. Die Liebe, die der Dichter Ovid († 17 n. Chr.) in seinem Werk Ars amatoria preist, ist einem poetischen Genre verhaftet, entzieht sich der politischen Optimierung, ist dem privaten Leben vorbehalten. Sie ruft ekstatische Eruptionen der Gefühle hervor, ist maßlos und kann nicht geordnet werden, steht damit aber auch nicht in Verbindung mit der Freundschaft, die auf lange Wirkung beruht und zielt. Die Wirkung von Ovid im Mittelalter ging von dessen Sprache aus, eine inhaltliche Anknüpfung fehlte meist. Ovid beschreibt die Liebe nicht als natürliche Regung, sondern als eine Kunst, die zu lehren der Text von Ovid vorgibt, tatsächlich poetische Konfigurationen formt, ohne dass eine didaktische Intention angenommen werden muss. Die Liebe steht abseits sozialer Pflichten. Sie sprengt Normen des sozialen Zusammenlebens. Die freie Wahl der Bindung und ihre stets mögliche Auflösung verhindern eine beständige Ordnung, die eine das Individuum übersteigende Gemeinschaft gestalten könnte. Jedoch, die Sehnsucht nach der liebenden Person sollte, so empfiehlt Ovid, nicht in die Ferne führen, schöne Römerinnen in der Heimat stünden bereit, Liebe zu spenden; die Stadt Rom sei der geeignete Ort, Liebe zu finden. Die patriotische Anhänglichkeit ist mit der Suche nach Liebe verknüpft. Gibt es auch keine Treue in der Liebe, so doch eine Treue zur Heimatstadt und zum Staat. Damit ist Liebe dann doch politisch eingefangen.279 Die lateinischen Schriftsteller Horaz (65–8 v. Chr.), Vergil (70 v. Chr.– 19 v. Chr.), Plutarch (ca. 45–125 n. Chr.) und Seneca (1–65 n. Chr.) haben die Freundschaft als Fundament des Staates gar nicht erst in Erwägung gezogen, sie vielmehr der vor dem Staat geschützten intimen Relation reserviert. Indem 277 Sallust, Werke, lateinisch-deutsch, hg. v. Werner Eisenhut, Josef Lindauer (Sammlung Tusculum), München, Zürch 1985, S. 320, 344. 278 Die Debatte zur Autorschaft der beiden Briefe ist bis jetzt nicht zu einem abschließenden Ergebnis gelangt. Als authentische Briefe von Sallust vorgestellt durch: J. Hellegourc’h, D8mocratie et principat dans les lettres de Salluste / C8sar, in: Revue de philologie, de litt8rature et d’histoire ancienne 44 (1970), S. 60–75; die Autorschaft von Sallust widerlegt u. a. bei: R. Syme, Pseudo-Sallust, in: Museum Helveticum 15 (1958), S. 46–55. 279 Ovid, Ars amatoria, lateinisch-deutsch, hg. v. Niklas Holzberg, Berlin 2011, S. 36–43.

Verlust der Freundschaft im römischen Kaiserreich

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Horaz in einem seiner Oden Kaiser Augustus als den auf Erden regierenden Gott in unerreichbare Höhen emporhob, ihn allein als Retter des Vaterlandes stilisierte, schnitt er ihn von Freundschaften mit den gewöhnlichen Irdischen ab. Augustus bereite ein neues goldenes Zeitalter vor, wie dies Vergil in seinem Geschichtsepos Aeneis ausführte; es war eine einsame Tat, allein vom Princeps, dem Glück- und Heilsbringer, vollbracht.280 Horaz und Vergil waren zwar im Mittelalter bekannt, galten als Vorbilder für den kultivierten Gebrauch der lateinischen Sprache, die Überreste ihrer Texte waren aber selten; sie waren vor allem die Grundlagen für eine Lobpreisung des Römertums, vermittelten damit eine Vorstellung, wie ein Anknüpfen an die Vergangenheit Anstrengungen zur Erringung neuer Größe der Macht motivierte oder wie sie zu einem elegischen Konstatieren des unwiederbringlich Vergangenen mündete.281 Gänzlich unbekannt war bis zum Ende des Mittelalters Plutarch. Er lebte in Griechenland, schrieb in griechischer Sprache und war ein aufmerksamer Beobachter der römischen Gesellschaft und Politik. Mehrmals hielt er sich in Rom auf. Wie die Texte von Horaz sollen die von Plutarch hier als Zeugnisse herangezogen werden, die vorführen, wie das politische Freundschaftskonzept obsolet wurde. Plutarch entzog in seiner Schrift Amatorius die Liebe aus jeglicher Fundamentierung und Rahmung politischer Organisation und sah sie in der Ehe realisiert. Seine Auffassung gilt als eine resignative Abwendung von einer Vorstellung, die die Liebe und die Freundschaft als Antreiber für tugendhafte Männer erachtete und sie als Bindeglied für die diejenigen unter ihnen, die sich den öffentlichen Angelegenheiten widmeten, einsetzte.282 Einfluss auf das Mittelalter übte hingegen Seneca aus. Er hat in den Briefen, die an einen Lucilius gerichtet waren, die Freundschaft als intime persönliche Beziehung gelobt. Aber er hat sie auf diese beschränkt. Seneca stellt das Vertrauen in das Zentrum; sie ist die Möglichkeit, all das, was einen bewegt und widerfährt, dem Freund mitzuteilen – abgeschottet von der Öffentlichkeit, aber aus der Einsamkeit heraustretend. Selbst der Weise, so schreibt Seneca, der sich selbst genügt, wolle dennoch einen Freund haben. Die Relation bleibt aber dem privaten Leben vorbehalten, sucht Schutz vor den Nachstellungen der Mächti-

280 Horaz, Oden und Epoden, hg. v. Walther Killy u. a., Zürich, München 1981, S. 203–207: III, 5; Vergil, Aeneis, hg. v. Gian Biago Conte Bibliotheca scriptorum graecoru et romanorum Teubneriana 2005), Berlin 2011, S. 191: VI, 792–795. 281 Tino Licht, Horazüberlieferung im Frühmittelalter, in: Ex praeteritis praesentia. Quellen-, sprach- und literaturwissenschaftliche Studien zu Wort- und Stoffgeschichten. Festschrift Theo Stemmler, Heidelberg 2006, S. 109–134. 282 John M. Rist, Plutarch’s Amatorius. A Commentary on Plato’s Theories of Love ?, in: Classical Quarterly 51 (2001), S. 357–375; Oliver Delsaux, La connaissance de Cic8ron et de Plutarque / la fin du moyen .ge, in: BibliothHque d’Humanisme et de Renaissance 75 (2013), S. 319–340.

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gen, verlangt Isolierung.283 Seneca entfernt die Freundschaft aus dem Staat, nicht aber das Vertrauen. Er charakterisiert das Vertrauen aber hinsichtlich der politischen Aktivität nicht als Bereitschaft der Freunde zum kommunikativen Austausch, gar zum Teilen von Gefühlen, sondern als Zutrauen zu den Wohltaten, die die Herrscher spenden. Es ist eine assymetrische Relation. Das Vertrauen im Staat drängt die innigeren emotionalen Beziehungen zurück und gerinnt zur Erwartung, Vorteile zu erlangen. Bei dem Herrscher ist keine emotionale Disposition wachzurufen; keine Liebe soll errungen werden. Die Alleinherrschaft, von der Seneca offensichtlich annahm, sie könne nicht überwunden werden, solle durch die Milderung der Gewalt das Zutrauen der Untertanen gewinnen, denen eine Verlässlichkeit in das Handeln ihrer Herrscher zugestanden werden solle. Politische Partizipation durch diejenigen, die in Freundschaft verbunden sind und nach Tugenden streben, erscheint dagegen entbehrlich. Das Konzept der clementia, das Seneca ausführlich in den Zusammenhang der Herrschaft im frühen Prinzipat darstellt, ist als Korrektiv zur aversiven, Schrecken einsetzenden Herrschaft ausgeführt und ist ein Mittel der Gerechtigkeit, da einer hypertrophen Machtanwendung – Seneca meint die durch Nero – Schranken gesetzt werden sollten. Wie die guten Eltern die Kinder erziehen, bisweilen schmeichelnd, bisweilen drohend, mitunter auch schlagend, so solle, schreibt Seneca, der princeps mit seinen Untertanen verfahren, ohne aber von der Sorge abzulassen, die der pater familias und so auch der pater patriae den ihnen Unterstellten gewährten. Mittels der Grausamkeit ließe sich nichts zum allgemeinen Wohl des Volkes erreichen. Die severitas, in Gegensatz zur clementia gestellt, sei nutzlos für die Befolgung, Anwendung und Durchsetzung der Gesetze und der kaiserlichen Anweisungen. Zwar hemme die Furcht die Entfaltung der Gefühle der Untertanen, halte sie, ähnlich wie die wilden Tiere, im Zaum, hindere sie mittels der Abschreckung vor Übeltaten, ja vermöge sogar Menschen dazu zu führen, kühne Taten zu vollbringen. Aber die Furcht müsse, wenn sie wirken solle, stets wachgehalten werden, was aber dazu führe, dass auch der Herrscher in der Erzeugung der Furcht ohne Unterlass tätig sein müsse, was schließlich auch ihm selbst gefährlich werde und ihn zum Opfer dieser Furcht mache. Das Schlimmste der Furcht sei, dass sie nicht beendet werden könne, um nicht zu riskieren, dass die Untergebenen, befreit vom Druck der Furcht, der auf ihnen laste, ihren Gehorsam aufkündigten. So müsse der Schrecken, den die Furcht gebären würde, stets wachgehalten werden. Opfer der Furcht seien alle: die Beherrschten und die Herrscher. Diese müssten in be283 Seneca, Epistulae morales ad Lucilium, S. 42; Eoin G. Cassidy, The Significance of Friendship. Reconciling the Classical Ideals of Friendship and Self-Sufficiency, in: Amor amicitiae. On the Love that is Friendship, hg. v. Thomas A. F. Kelly, Philipp Rosemann, Löwen u.a 2004, S. 39–62, S. 55.

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ständiger Angst vor dem Umsturz leben. Besser sei es, auf eine andere Weise zu herrschen. Die Liebe solle, so Seneca, den Herrscher umgeben. Durch seine Freundlichkeit im Umgang mit seinen Untertanen, seine schöne Sprache, durch seine Bereitschaft, Zuneigung zu empfangen, durch seine Taten, die Gunsterweise vollbrächten, gelinge es ihm, im gesamten Reich geliebt und verehrt zu werden. Der Herrscher solle hingegen Furcht und Schrecken mindern – durch seine Milde. Sie sei das Ergebnis der Liebe – einer einseitigen Liebe, die zu spenden dem Herrscher vorbehalten sei, wohingegen die Beherrschten sich nur ihres Nutzens erfreuen könnten.284 Liebe binde keine Bürger zusammen und sporne sie nicht zu gemeinsamen Anstrengungen für den Staatsdienst an, sie werde lediglich gespendet und empfangen. Die familiäre Analogie kaiserlicher Herrschaft beruhe auf der Liebe, selbst wenn Seneca auf die Strafen verweist, die der Hausvater verhängt. Die hierarchische Distanz, ja Distanzierung des Princeps vom Volk wird durch die Milde nur noch vergrößert, setzt diese doch stets und mehr als Freundschaft eine Beziehung der Ungleichheit voraus. Die Milde ist somit geeignet, Liebe zu wecken, aber keine Freundschaft. So ist die Liebe zum Mittel degradiert, um Loyalität zu erreichen, nicht aber um Kooperationen bei der Leitung des Staates hervorzubringen. Seneca und auch die anderen Vertreter der Stoa wie auch des Neuplatonismus hatten keinerlei Illusionen, den Staat zu reformieren. Was blieb, war die Reform der Seele des Einzelnen. Sofern er die Macht eines Kaiser hatte, reichte die Einwirkung in den Staat hinein. Die Schrift De clementia war an Kaiser Nero gerichtet. Dessen Mutter Aggripina hatte Seneca als seinen Erzieher eingesetzt. Die frustrierende Erfahrung, einen mäßigenden Einfluss auf ihn auszuüben, zeichnete diese Schrift aus.285 Die Schrift De clementia stand im Mittelalter im hohen Ansehen. Im 12. Jahrhundert haben der als einer der Begründer der Scholastik geltende Philosoph Peter Abaelard (1097–1142) und Johannes von Salisbury sie lobend erwähnt. Ausführlich hat der Gelehrte und Geschichtsschreiber Giraldus Cambrensis (ca. 1146–1223) aus England und Wales in seinem Fürstenspiegel aus ihr zitiert; der siebente Abschnitt zur clementia verweist ausdrücklich auf diesen Text.286 Als Grundlage einer politischen Institutionenlehre diente die Schrift De clementia dem venezianischen Dominikaner Heinrich von Rimini zu Beginn des 14. Jahrhunderts. In dessen Traktat De quatuor virtutibus – sie liegt in zahlreichen Handschriften und Inkunabeln vor, ist aber bis heute nicht kritisch ediert – 284 Annaeus Seneca, De clementia, hg. v. Susanna Braun, Oxford 2009, S. 94, 114–119; Epp, Amicitia, S. 14; Manfred Fuhrmann, Seneca und Kaiser Nero, Berlin 1997; J. Manuel Schulte, Speculum regis. Studien zur Fürstenspiegel-Literatur in der griechisch-römischen Antike (Antike Kultur und Geschichte 3), Münster 2001, S. 194–206; Thielen, Friede S. 149f. 285 Manfred Fuhrmann, Seneca und Nero, Berlin 1997. 286 Giraldus Cambrensis, De instructione, S. 21–27.

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entfaltete er ein Konzept der vorbildlich regierten Stadt. Die Milde, eine der vier weltlichen Kardinaltugenden, galt ihm als die Grundlage einer gemischten Verfassung, die der Autor in seiner Heimatstadt verwirklicht sah, und rechtfertigte die Ablehnung einer starken Machtkonzentration. Heinrich rückte die Milde aus einer rein persönlichen Tugend in den Rang eines politischen Ordnungsprinzips.287 Eine breitere Rezeption der Schrift von Seneca De clementia setzte aber erst im späten Mittelalter ein, stand im Kontext humanistischer Gelehrsamkeit und begründete politische Mahnungen gegen eine exzessive Machtentfaltung und verharrte in einer Tugendlehre, ohne Analysen zu den Institutionen der Herrschaft anzubieten.288 Andere Autoren der späten Antike schrieben ebenfalls von der Vergeblichkeit, Freundschaft in den Staat einzupflanzen. Plinius der Jüngere (ca. 61-ca. 115 n. Chr.), hoher Beamter des Reiches, in Rom und in den Provinzen eingesetzt, verkündete in seinem Panegyrikus auf Kaiser Trajan, im Palast des Princeps bleibe allein der Name der Freundschaft erhalten; dieser sei aber wertlos und sinnentleert; er diene dort der Täuschung, den Intrigen, den Schmeicheleien und schlimmer noch dem Hass. Die ciceronische Konzeption einer politisch wirksamen Freundschaft von tugendhaften Männern, die sich in den Dienst der Republik stellten, war nur noch ferne Reminiszenz und reizte entweder zur elegischen Klage über den Verlust oder zur Polemik. In den zahlreichen Briefen, die Plinius schrieb und als geschlossenes Werk zusammenfasste, waren zwar Freunde die Adressaten, wurden an sie Anfragen wegen Krankheit und Empfehlungen zum guten Leben gerichtet und wurden Informationen zu Naturphänomenen ausgetauscht, aber die Freundschaft entbehrte eines Ansporns, sich in den Dienst des Staates zu stellen, während umgekehrt der Staatsdienst hierarchische Abstufung vorsah und Freundesbeziehungen ausschloss, wie dies Plinius in den Briefen an Kaiser Trajan darstellte. Die Freundschaft wurde in die Privatheit verbannt, die Liebe der Ehefrau und den Familienmitgliedern reserviert. Für Plinius blieb nur noch, die einstige Autorität des Senats und die nunmehr obsoleten Freundschaftsbande der Senatoren in Erinnerung zu rufen, was er anscheinend auch vor dem Kaiser nicht verheimlichen wollte. Die Beziehung aller Bürger zum Kaiser bestand in der Hoffnung auf seine Großzügigkeit.289 Die Lobreden von Plinius sollten zum Vorbild der späteren Panegy287 Heinrich von Rimini, Tractatus de quattuor virtutibus cardinalibus. 288 Klaus-Dieter Nothdurft, Studien zum Einfluß Senecas aud die Philosophie und Theologie des 12. Jahrhunderts (Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters 7), Münster 1963; Giancarlo Mattoli, Ricerche sulla tradizione medievale del »De beneficiis« et del »De clementia« di Seneca, in: Bollettino dei classici 3,3 (1982), S. 165–223. 289 Plinius Minor, Panegyricus, hg. v. Mauritius Schuster, Rudolphus Hanslik, Stuttgart, Leipzig 1958, S. 381, 445:15, 4 und 85,1; Plinius Minor, Epistularum libri decem, hg. v. Mauritius Schuster, Rudolphus Hanslik, Leipzig 1958, S. 4, 129, 173f.,178f., 211–213,

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riker werden. Auch sie schieden Freundschaften aus den Beziehungen zu den Kaisern aus. Die kaiserliche Klientel dehnte sich als hypertrophe Organisation auf das ganze Reich aus, brachte alle in Abhängigkeit und überwucherte Beziehungen der Freundschaft.290 In der späten Antike tauchten weiterhin die Begriffe von Freundschaft und Liebe im Kontext der Politik auf, aber nunmehr, um mit ihnen die Negation des guten Regierens zu benennen. Die Erwartung schwand, dass Freundschaft und Liebe im Staat gedeihen oder ihn nützen könnten. Seneca verlangte Mäßigung, was auf eine Milderung der Emotionen, gerade auch die von Furcht und Schrecken, hinauslief. Er beeinflusste Kaiser Marc Aurel, der von 161 bis 180 herrschte. Dieser hat in den ihm zugeschriebenen Selbstbetrachtungen – in der einem Philosophen würdigen Sprache, der des Griechischen, verfasst – Maximen aufgestellt, die nicht Gefühle, hingegen die Vernunft als Grund für die Tätigkeit im Staatsdienst und für das gute Regieren angeben. Von seinem Adoptivvater, Kaiser Antoninus Pius, habe er gelernt, wie es am Beginn der Selbstbetrachtungen heisst, Freunde nicht in seine Umgebung zu zwingen und sie nicht zum Regieren einzusetzen. Auf die Gunst des Volkes habe er nicht geachtet. Er habe keine Leidenschaften gehabt. An anderer Stelle, im neunten Buch, heisst es, dass eine allgemeine Suche nach Einheit alle Wesen zueinander führe. Die vernunftbegabten Wesen überträfen dabei die vernunftlosen, die zwar Liebesbeziehungen hätten, aber nicht zur höheren Stufe gelangten, auf der Staaten, Freundschaften, Familien, Versammlungen, Verträge und Waffenstillstände die Verbindungen zwischen den Menschen schüfen. Freundschaft ist hier zwar genannt, aber auch ansonsten in dem Werk nicht als Entstehungsgrund und als Motivierung für das Handeln im Staat angegeben, sondern nur einer von mehreren Ordnungsfaktoren geselligen Lebens. Alles, was keinen unmittelbaren Bezug zu den Zielen des Staates habe, solle, so die dem Kaiser zugeschriebene Schrift, ausgemerzt werden. Freundschaft ist in das Private abgedrängt – durchaus auch in das private Umfeld des Kaisers, aber ohne Wirkung für sein Regieren. Die Schrift empfiehlt die rechtlich abgesicherte Anwendung von Strenge und Nachsicht. Jedem das Seine zuzuteilen, was er verdiene, ist vorgesehen. Emotionen sollten das Handeln nicht bestimmen. Der Text von Marc Aurel war dem Mittelalter gänzlich unbekannt, vermutlich wegen seiner deutlichen Kritik an den Christen, denen der Kaiser vorwarf, aus Demut heraus der 251,313f.: Briefe 1,1; 4,19; 6,4; 6,7; 7,5; 8,11; 10, 8; Christian Ronning, Herrscherpanegyrik unter Trajan und Konstantin (Studien und Texte zu Antike und Christentum 42), Tübingen 2007, S. 40f., 102–123; A. N. Sherwin-White, The Letters of Pliny. A Historical and Social Commentary, Oxford; Rey K. Gibson, Ruth Morelli, Reading the Letters fo Pliny the Younger. An Introduction, New York 2012a ; Jo-Ann Shelton, The Women of Pliny’s Letter, Oxford 2013. 290 John Nicols, Civic Patronage in the Roman Empire, Leiden, Boston 2014; Thielen, Friede, S. 173–208.

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Passivität verfallen zu sein. Die Statue von Aurel galt im Mittelalter als die von Kaiser Konstantin. Marc Aurel formte gleichwohl eine Herrschaftskonzeption in der späten Antike, die auch nach der Anerkennung des Christentums weiterwirkte, gemäß der der Kaiser jenseits von Bevorzugungen und Sympathien, unabhängig von Zuneigungen seiner Untertanen das Richtige, das durch gründliches Nachdenken gefunden werden sollte, zu tun hatte. Rechte und Pflichten – sogar gleiche für alle – würden im idealen Staat gelten, wie Marc Aurel schrieb.291 Die Kaiser des römischen Reiches sollten unbewegt von Gefühlen handeln, in einen opferungsvollen Dienst eintreten, in Sorge um das Reich sich verzehren, so wie jeder Beamte für den Staat arbeiten müsse. Die Kaiserstatuen der späten Antike zeigen das von Gram und Anstrengung gezeichnete Antlitz – so verschieden von den schönen und freundlichen Gesichtern der ersten Kaiser des Principats.292 Die Arbeit im Staat war freud- und freundlos.

6.

Das römische Recht und das Fehlen der Gefühle

In den Rechtstexten, die in der späten Antike gesammelt und kodifiziert wurden, galten Emotionen als Störungen einer Ordnung, die beständig, abgehoben von Schwankungen, Launen und Bevorzugungen, bestehen sollte, vielmehr auf dem Vollzug von Gesetzen beruhte und die Wirkung von Normen ohne Angabe von Motivierungen vorsah. Diese Vorstellung lag zu allererst an den gattungsspezifischen Charakteristika der Texte, die das Recht definierten. Rechtstexte verknüpfen soziale Beziehungen und Handlungen mit Ordnungsbegriffen, die anders als philosophische Überlegungen weniger interpretativ, als interventionistisch ausgerichtet sind und üblicherweise auf Fundierungen anthropologischer Wesensbestimmung und Handlungsmotivierung verzichten. Nichtsdestotrotz fußte die Rechtsordnung auf spätantiken Vorstellungen zu einer Ordnungsgestaltung, die die Kaiser in Kraft setzen und schützen mussten, ohne dass sie sich von Freundschaften leiten ließen. Es gab in den Texten des römischen spätantiken Rechts durchaus Aussagen zur Begründung des Rechts. Sie verlangten indes explizit, Emotionen für das Herrschaftshandeln und für den 291 Mark Aurel, Selbstbetrachtungen, griechisch-deutsch, hg. v. Rainer Nickel, Mannheim 2010, S. 11–19, 218–221, 224–227; Marcel van Ackeren, Die Philosophie Marc Aurels, Berlin, New York 2011, S. 505–508; Gustav Seibt, Anonimo romano. Geschichtsschreibung in Rom an der Schwelle zur Renaissance, Stuttgart 1992, S. 166. 292 Marianne Bergmann, Studien zum römschen Porträt des 3. Jahrhunderts n. Chr. (Antiquitas 18), Bonn 1977; Rudolf Stichel, Die römischen Kaiserstatuen am Ausgang der Antike. Untersuchungen zu den plastischen Kaiserporträts seit Valentinian I., Rom 1982; Franz Alto Bauer, Christian Mitschel, Statuen in der Spätantike, in: Statuen in der Spätantike, hg. v. dens., Wiesbaden 2007, S. 1–11, S. 2–4.

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Umgang mit den Untertanen auszuschließen. Das römische Recht wurde durch die Kodifizierung durch Kaiser Justinian im Jahre 534 fixiert und stellte dank der späteren Rezeption im Okzident vor allem seit den Arbeiten der Juristen Oberitaliens im endenden 11. Jahrhundert Konzepte von Herrschaft und staatlicher Organisation bereit.293 Im römischen Recht öffnete sich eine Kluft zwischen Liebe und Freundschaft einerseits und der politischen Tätigkeiten andererseits, indem die affectio für die Familie vorgesehen und ihr vorbehalten werden sollte. Im Codex, der Sammlung älterer Rechtstexte und Teil des justinianischen Rechtskorpus, war ausdrücklich festgehalten, dass die Ehe nicht durch einen rechtlichen Vertrag, sondern durch Zuneigung begründet sei. Aber selbst die Familie bot keinen herrschaftsfreien sozialen Raum. Denn in ihr entfaltet sich eine potestas, die der Familienvater über seine Ehefrau und seine Kinder ausübt.294 Im großen sozialen Verband waren die Herrschaftsverhältnisse hingegen emotionslos geformt. Dort sollten affectiones ausgeschlossen sein. Es galt einer Freundschaft Einhalt zu gebieten, die personale Bindungen zwischen einzelnen Untertanen schuf und deswegen dem Funktionieren von administrativen Vorgängen im Wege stand, weil diese unabhängig von Einzelfallregelungen und von Vorlieben eingesetzt werden sollten, vielmehr allgemeinen, alle Angelegenheiten umfassenden, alle Menschen erfassenden Normen zu folgen hätten. Von dem Generalisierungszwang waren nur die Herrscher ausgenommen. Ihrer freien, willkürlichen Entscheidung war keine Schranke auferlegt; nicht einmal die Gesetze sollten ihrem Tun Einhalt gebieten: Sie waren legibus absolutus (Digesten I, 3, 31). Dieser Festlegung stand nur scheinbar die Aussage im Codex entgegen, dass die Befugnis des Kaisers von der Befugnis des Rechts abhängig sei (C 1,14,4). Ging es im ersten Satz um die Bindung an das Recht, so im zweiten um die Ermächtigung durch das Recht. Einwirkungen auf Gefühle waren in beiden Fällen nicht erforderlich. Im Mittelalter gab es die Option, nicht allein den Kaiser als von den Gesetzen abgelöst vorzustellen, sondern seine Stellung auf mehrere Personen auszudehnen. Die Multiplizierung der kaiserlichen Autorität entsprach der Vielzahl von 293 Hartmut Leppin, Die Gesetzgebung Justinians. Der Kaiser und sein Recht, in: Erinnerungsorte der Antike. Die römische Welt, hg. v. Elke Stein-Hölkeskamp, Karl-Joachim Hölkeskamp, München 2006; Johannes Fried, Die Rezeption Bologneser Wissenschaft in Deutschland während des 12. Jahrhunderts, in: Viator. Medieval and Renaissance Studies 21 (1990), S. 103–145; Helmut G. Walther, Die Anfänge des Rechtsstudiums und die kommunlae Welt im Hochmittelalter, in: Schulen und Studium im sozialen Wandel des hohen und späten Mittelalters, hg. v. Johannes Fried (VuF 30), Sigmaringen 1986, S. 121– 162; Winfried Trusen, Gelehrtes Recht im Mittelalter und in der frühen Neuzeit (Bibliotheca eruditorum 23), Goldbach 1996; Antonio Ciaralli, The Corpus iuris civilis in the Middle Ages, Leiden 2007; Lange, Kriechbaum, Römisches Recht, I, S. 35–59; II, S. 10–24. 294 Corpus iuris civilis, I, S. 14–15; IV, S. 140; Brundage, Law, S. 114.

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Königreichen und Stadtgemeinden im Mittelalter. Der spätmittelalterliche Jurist Accursius († 1263) aus Bologna hat in seiner monumentalen und seit dem Ende des 13. Jahrhunderts für alle Anwendungen des römischen Rechts maßgeblichen Glossierung der Digesten die Exklusivität des Alleinherrschers aufgebrochen, indem er ihm die Kompetenz zusprach, die Position eines legibus solutus einem anderen Menschen als Privileg zu verleihen. Die Empfänger des Privilegs hat die Glosse nicht genannt; die Unbestimmtheit macht sie für viele Herrscher anwendbar, sofern nur eine Ableitung aus dem Kaiserrecht erfolgt.295 Mittelalterliche Juristen hatten ausgiebig Gelegenheit, die nicht immer leicht miteinander zu versöhnenden Aussagen zu kommentieren oder in einen Formelkompromiss zu zwingen.296 Karolus de Tocco, ein süditalienischer Jurist, schrieb zu Beginn des 13. Jahrhunderts in seinem Kommentar zum Codex, dass der Kaiser sich freiwillig den Gesetzen unterwerfe, ihnen aber nicht zwingend unterworfen sei. Nichts ziere mehr die kaiserliche Majestät, als wenn sie an die Gesetze gebunden sei. Auch Hinweise zu den Emotionen als Störfaktoren der Rechtsordnung fehlten nicht. Der Bolognoser Jurist Azo Portius schrieb zur selben Zeit in seiner Summe zum Codex, dass das Recht und seine Anwendung von Furcht befreit sein müssten. Ansonsten würden Menschen davon abgehalten, an höhere Instanzen zu appellieren. Alle Lebensformen und gesellschaftlichen Gruppierungen seien vom Recht gestaltet, angefangen bei den Familien, den Beziehung zwischen Vater und Söhnen, bis hin zu den Beziehungen zum Kaiser, dem den Gehorsam zu verweigern, als crimen laesis maiestatis galt. In dieses Verbrechen schließt der Jurist Azo jede Aneignung von öffentlichen Angelegenheiten durch Private ein. Deswegen unterlägen, wie Azo in diesem Zusammenhang darstellt, die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern dem allgemeinen Recht und dürften nicht aus ihm herausgelöst werden. Denn das Recht entsprieße aus der Gerechtigkeit und fördere sie und dulde keine privaten Absonderungen. Das Recht wird von Menschen, die Gerechtigkeit von Gott geschaffen: Nam auctor iuris est homo, auctor iustitiae est Deus.297 Die Rechtsordnung ist Teil einer göttlichen Ordnung, und sie hat eine eigene Existenzberechtigung, insofern sie von Menschen geschaffen werden, die aber an die normativen Vorgaben der Gerechtigkeit, die außerhalb menschlicher Verfügung steht, angebunden ist. Azzo trennt die unterschiedlichen gesetzten Rechte nicht vom allgemeinen

295 Accursius, Glossa in Digestum, I, S. 9: De legibus et senatusconsultus; Lange, Römisches Recht, I, S. 335–344. 296 Corpus iuris civilis, II, S. 115; Dieter Wyduckel, Princeps legibus solutus. Eine Untersuchung zur frühmodernen Rechts- und Staatslehre (Schriften zur Verfassungsgeschichte 30), Berlin 1979; Kenneth Pennington, The Prince and the Law 1200–1600. Sovereignty and Rights in the Western Legal Tradition, Berkeley u. a. 1993. 297 Azo, Summa, S. 331; Lange, Römisches Recht, I, S. 255–271.

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Prinzip der Gerechtigkeit ab, so dass eine dem positiven Recht innewohnende Unvollkommenheit, die Azzo einräumt, nichts an seiner Geltung mindere.298 Der berühmteste und einflussreichste Interpretator des römischen Rechts im 14. Jahrhundert, Bartolo da Sassoferrato, folgte dieser Auffassung. Das gesetzte Recht sei zwar der Gerechtigkeit unterstellt, aber von ihr doch unterschieden, so dass seine Geltung nicht angetastet werden könne. Institutionelle und rechtlich verbindliche Schranken seien daher dem Kaiser nicht auferlegt. Die Gesetzestreue hinge von seinem Willen ab. Die juristische Kommentierung bändigte die Willkürlichkeit auch nicht durch die Emotionen, die den Kaiser auszeichneten, ihn definitorisch kennzeichneten oder ihm normativ auferlegt waren. Die Zierde der kaiserlichen Majestät war rechtlich fundamentiert, aber nicht emotional festgelegt und verblieb in einer unverbindlichen Aporie, deren Selbstverständlichkeit eines praktikablen Verfahrens entzogen war und einer anthropologischen Ableitung nicht bedurfte.299 Mochten auch die Gesetze die Liebe und die Furcht als Ursprungsgründe der Rechtsentstehung ausgeschlossen haben, so war doch die Furcht zum Vollzug der Gesetze vorgesehen. Die Kaiser erteilten Befehle, die zu befolgen die Furcht vor Strafe erzwinge, wie in der Einleitung zu den Digesten, der Zusammenstellung juristischer Lehrauffassungen im Corpus der justinianischen Rechtssammlung, ausgeführt wird. Den guten Menschen solle hingegen die Möglichkeit offen stehen, dass sie durch die Aussicht auf Belohnung geleitet würden, was wiederum eine exhortatio verlange. Verstehen und das rationale Nachvollziehen von Notwendigkeiten, die auch mittels Drohungen befestigt werden, sind vorgesehen. Hingegen ist eine natürliche Antriebskraft, um Gutes zu tun oder gar um den Bestand des Staates zu sichern, nicht vorausgesetzt. Die Gesetze werden vollzogen, nicht weil sie als das Ergebnis eines Einvernehmens Regeln oktroyieren, sondern indem sie Untertanen dem Willen des Herrschers unterstellen. Die Gesamtheit der Gesetze ist ein Zwangsmittel, coercitio, damit die res publica das Wohl für alle hervorbringe, ohne das ein individuelles Wohl nicht möglich sei. Die Kaiser seien die Exekutoren der Gesetze. Die Vorstellung, dass sie auch Schöpfer der Gesetze seien, insbesondere der neuen Gesetze, der Novellen, war ebenfalls festgesetzt. Diese Auffassung wird erst wieder seit dem 12. Jahrhundert zur Begründung der genuinen Rechtsschöpfung durch Legislation wiederbelebt. Im Mittelalter tradierte das römische Recht divergente Vorstellungen. Der Ursprung der Gesetze beruhe auf einem ursprünglichen Konsens der Bürgerschaft. 298 Azo, Summa, S. 322, 329, 347. 299 Ennio Cortese, La norma giuridica. Spunti teoreci nel diritto comune classico, Bd. 2 (Ius nostrum 6,2), Rom 1964, S. 426f.; Susanne Lepsius, Juristische Theoriebildung und philosophische Kategorien. Bemerkungen zur Arbeitsweise des Bartolus von Sassoferrato, in: Politische Reflexion in der Welt des späten Mittelalters, S. 287–304; Lange, Kriechbaum, Römisches Recht, II, S. 722.

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Deren Mitglieder hätten sich durch einen gemeinschaftlichen Vertrag dazu verpflichtet, in einem Gemeinwesen zu leben, um durch die Bündelung von Wünschen und Handlungen ihren individuellen Nutzen zu optimieren. Mag die Entstehung von einem vergangene Einvernehmen abgeleitet sein, die Geltung der Gesetze geschehe durch die Gewalt des Kaisers; die Wirkung beruhe auf Zwang: Gebieten, Verbieten, Erlauben und Strafen sind die Wirkungen der Gesetze. Immerhin, eine allzu große Strenge gelte es zu vermeiden, weil weder der Grund des Rechts noch die Gerechtigkeit es zulassen, dass das, was dem Nutzen der Menschen dienen solle, durch zu harte Anwendung der angedrohten Sanktion in ihr Gegenteil verkehrt werde. Dem Begriff der severitas wird der der iustitia gegenübergestellt.300 Die Strenge des Rechts entspricht gleichwohl der Rigidität, wie sie im spätantiken Römischen Reich, das unter den Bedingungen des von der Forschung so bezeichneten Dominats stand, vorherrschte, um die sozialen und politischen Pflichten zu oktroyieren und die städtischen Selbstorganisationen, etwa die der Dekurionen, zurückzudrängen. Es war eine Entwicklung hin zu einer Herrschaftsorganisation, die die heute kritisch bewertete, gleichwohl weiterhin verwendete Diktion vom »spätantiken Zwangsstaat« knapp zusammenfasst.301 Furcht und Schrecken sollen vor allem bei der Entstehung der Gesetze ausgeschlossen sein. Die Sanktionsdrohung, die den Schrecken verbreitet, greift nicht in die Rechtsbegründung ein, sondern ist auf die Erzwingung des Gehorsams beschränkt. Der Schrecken und die Furcht seien, genauso wie der Betrug, ein Hinderungsgrund für die Geltung von rechtlichen Bestimmungen. Zeugenaussagen, die durch Androhung von Gewalt und durch Furcht erzwungen werden, könnten vor Gericht nicht verwertet werden. Vorteile durch die Androhung von Schrecken erringen zu wollen, stehe außerhalb einer rechtlichen Ordnung. Von den Schrecken der Gesetze, wie sie in früheren Zeiten üblich gewesen seien, seien die Menschen nun befreit. Was einst aufgrund von Furcht befolgt worden sei, habe keine Gültigkeit. So lauten die Ausführungen im zweiten Titel des vierten Buches der Digesten, der Sammlung juristischer Gutachten. Nicht allein Gewaltanwendung, sondern auch die Drohung mit ihr, genauso wie die Täuschung derogieren jede Rechtssetzung und Rechtsanwendung.

300 Corpus iuris civilis, II, S. 111f., 114; Gesetzgebung, Menschenbild und Sozialmodell im Familien- und Sozialrecht, hg. v. Koo Behrends, Eva Schuhmann (Die Funktion des Gesetzes in Geschichte und Gegenwart 14), Berlin, Boston 2008, S. 2–4; 33–36. 301 Stephan Mitchel, A History of the Later Roman Empire, AD 284–641, London 2006; Mischa Meier, Das späte Römische Reich als »Zwangsstaat«? Anmerkungen zu einer Forschungskontroverse, in: Freedom and Its Limits in the Ancient World, hg. v. Dariusz Brodka ua., Krakau 2003, S. 193–213.

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Im Codex wird ausdrücklich der terror genannt, dessen Anwendung ein Missbrauch des Rechts darstelle.302 Der mittelalterliche Jurist Accursius hat in den Glossen zu den Digesten ausdrücklich die Furcht vor Strafe als gut bezeichnet. Die Strafe, die einen einzigen treffe, so schreibt er, führe zur Furcht der vielen. Die Generalprävention des Strafrecht beruht auf der Furcht. Damit hat er aber nicht die Entstehung der Rechtsgeltung von der Furcht abgeleitet.303 Zwischen den Freien, die in einer politisch verfassten Gemeinschaft leben, gebe es, so die Aussage des römischen Rechtes, Formen der Selbstbindung, die nicht allein private Beziehungen, sondern auch die Entstehung von öffentlichen Pflichten begründeten. Verträge, Käufe, Gesellschaften und andere Geschäfte würden vereinbart, die auf einem Einvernehmen beruhten, welches keine staatliche Gewalt und keine Zwangsmittel benötige. Der Konsens werde in gemeinsamen Interessen gefunden. Dazu bedürfe es aber nicht einer Gewogenheit, die durch emotionale Regungen wachgerufen würde. Als Ziel ist der Ausgleich von Nutzungsansprüchen angegeben.304 Im Kontext rechtlicher Bestimmungen dominiert im spätrömischen Recht eine nüchterne Kosten-Nutzen-Abwägung, die Handlungen mit Konsequenzen versieht, die einen eventuellen Gewinn als Folge verbrecherischen Tuns durch die angedrohten Verluste zunichte machen soll. Statt Liebe war Belohnung vorgesehen, statt Furcht Bestrafung, statt Freundschaft Interessenausgleich. Der terror war negativ gekennzeichnet; er war der Makel vergangener Zustände; ihn gelte es zu überwinden. Breits der zwischen 429 und 438 verfasste Codex Theodosianus, auf Anweisung von Kaiser Theodosius II. verfassst, nahm eine Novelle Kaiser Konstantins auf, durch die der terror, den einst die augusteischen Gesetze verbreitet hätten, aufgehoben sei, da nun die rechtliche Benachteiligung von Ehe- und Kinderlosigkeit abgeschafft werde. Ein weiteres Gesetz sieht vor, dass der terror, den marodierende Soldaten in den Provinzen verbreiteten, abgestellt werden solle.305 Das Recht sollte vor dem Schrecken schützen. Liebe war gleichfalls ausgeschieden. Auch in die Organisation der Ämter der Kirche sollten Emotionen nicht einwirken; sie verhinderten die Auswahl der geeigneten Amtspersonen. Nicht propter promissionem aut amicitiam aut gratiam aut ullam affectionem dürfe ein Bischof in sein Amt gewählt werden, sondern einzig aufgrund seiner persönlichen Befähigung – so verlangte es eine Novelle Justinians von 565, welche in den Corpus des weltlichen römischen Rechts aufgenommen wurde.306 302 Corpus iuris civilis, II, S. 342–359; Corpus iuris civilis, Bd. 2: Codex Iustinianus, hg. v. Paul Krueger, Berlin 1880, S. 196. 303 Accursius, Glossa in Digestum, I, S. 4: I,1 r. 304 Corpus iuris civilis, I, S. 2f., 5. 305 Codex Theodosianus, hg. v. Theodor Mommsen, Ndr. Dublin, Zürich 1971: 8,6 und 14,16. 306 Corpus iuris civilis, II, S. 697; Epp, Amicitia, S. 45.

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Konzepte der Antike: Herrschaft im Haus, Freundschaft im Staat

Die natürliche Verbindung zwischen den Menschen wird lediglich in demjenigen Recht akzeptiert, das die Verhältnisse zwischen den Völkern festlegt, also keine hierarchische Machtabstufung auf der Basis rechtlicher Verhältnisse voraussetzt. Die allen Menschen gemeinsame natürliche Vernunft bewirke, dass ein alle Völker gemeinsames Recht existiere. Die Unterordnung unter die Befehlsgewalt innerhalb des Staates bringe hingegen unterschiedliche Rechtsordnungen hervor. Dass das gemeinsame Völkerrecht von Gott eingerichtet sei, ist eine Aussage, die einer theologischen Debatte offensteht, in der die christliche Ethik dem rechtlichen Normenwerk als überlegen bezeichnet wird, in der aber auch ein Einfallstor aufgestoßen ist, um umgekehrt rechtliche Argumentationen und Begriffe in theologische zu überführen. Der Kirchenvater Cyprian von Karthago hatte bereits zur Mitte des 3. Jahrhunderts den Bischof als den von Gott eingesetzten Richter bezeichnet. Augustinus begründet am Ende des 5. Jahrhunderts in einer Predigt die Existenz einer kirchlichen Rechtsprechung, die parallel zur weltlichen agiert, aber um nichts weniger im Vollzug der Gesetze handelt, die aber anders als die weltliche Gerichtsbarkeit die Liebe voraussetzt, die ein Geistlicher stets seinen Glaubensbrüdern erweisen solle. Der Text von Augustinus sollte Langzeitwirkung entfalten; er wurde im Decretum Gratiani als Kanon rezipiert und wurde so spätestens seit der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts Teil des kirchlichen Rechts.307 Der Schrecken ist in einer besonderen sozialen Konstellation vorgesehen, der der Sklaverei, gerade auch deswegen, weil sie ohne einen Rechtsakt begründet worden sei, wie die Institutiones, die lehrbuchhafte Zusammenfassung des römischen Rechts, die in dem Corpus iuris civilis aufgenommen ist, ausführen. Die Sklaverei steht letztlich in einer vor-rechtlichen Existenz, greift nicht in den Staat ein. Da nur Kriege den Menschen ihre kraft des Rechtes und ihrer menschlichen Natur garantierte Freiheit beraubt und sie in die Sklaverei geführt hätten, sei, so die Lehre des römischen Rechts, die Unfreiheit und die Unterwerfung das Ergebnis einer Gewalt, die abseits des Rechts stehe. Die Unfreiheit werde zwar zu gesetztem Recht, aber aufgrund von Handlungen, die ursächlich rechtlich ungeregelt seien. Eine moralische Bewertung und gar eine Ableitung der Unfreiheit von menschlicher Verderbnis fehlen in den hier erwähnten Passagen der Institutiones. Die moralische Indifferenz unterscheidet sich von den Ausführungen von Aristoteles, der die Sklaven als diejenigen ansah, die ihre Vernunft zu gebrauchen nicht in der Lage seien, und von späteren christlichen Autoren, die die Unterwerfung unter die Herrschaft als Folge des Sündenfalls erachteten. Es gab noch eine weitere Verbindung von Emotion mit Recht: Wenn der rechte christliche Glauben gegen Abweichler verteidigt werden sollte, galt der 307 Augustinus, Sermo nr. 355, in: PL 39, Paris 1845, Sp. 1568–1574, Sp. 1572; Prodi, Geschichte, S. 28–30.

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Schrecken als das geeignete Mittel. Kaiser Theodosius II. ließ um 437 Bestimmungen kodifizieren, die die Geltung bisher garantierter Persönlichkeitsrechte aufhoben, um den rechtmäßigen Glauben vor Abweichlern zu schirmen. Die starken Empfindungen der Liebe, die die Gläubigen miteinander verbinden sollten, waren als Begründungen von Rechtsbestimmungen zur Verbreitung des Schreckens ausgegeben, der sich gegen diejenigen richtete, die abseits der Liebesgemeinschaft standen. Die Integration der christlichen Religion in den römischen Staat führte aber ansonsten nicht zu einer Emotionalisierung der Rechtsordnung; sie erfasste den Schutz der Rechtgläubigkeit. Die hier nur in Verkürzung wiedergegebenen Aspekte zur Ketzerbekämpfung werden weiter unten näher erläutert.308 Es lässt sich aber schon jetzt festhalten, dass die Durchdringung eines auch christlich verstandenen Liebesgebotes in die Rechtsordnung und – weiter gefasst – in den Staat problematisch war, nicht allein wegen unterschiedlicher Intentionen von Religion und Recht, sondern auch wegen einer biblisch fundierten Tendenz zur ethischen Abwertung von Herrschaft. Dass gerade das christliche Liebesgebot den Schrecken rechtfertigte und dieser gegen die Häretiker zu verbreiten sei, gehört zu den eigentümlichen Volten einer Verbindung von Glauben und Macht. Der Übergang von der Liebe zum Schrecken war gerechtfertigt, der Gegensatz aufgehoben. Diese argumentative Figur sollte im Mittelalter noch oft angewendet werden.

308 Hierzu Kapitel IV.5.

IV.

Christliche Vorstellungen zur Herrschaft in der Spätantike

1.

Schrecken als Makel des Staates

Die intellektuelle Auseinandersetzung der lateinischen christlichen Autoren des 2. bis 6. Jahrhunderts mit ihren paganen Gegnern formte das intellektuelle Profil Europas auch für die folgenden Jahrhunderte. Neben vielen anderen Themen war die Frage zu klären, ob, bzw. wie die Christen mit dem Staat, konkret dem Römischen Reich, kooperieren sollten. Die Ergebnisse der Debatte füllten – abgelöst von den Entstehungsbedingungen – einen Fundus des Argumentierens und Rechtfertigens, aus dem auch in den späteren Epochen geschöpft wurde. Aussagen der Bibel und des philosophischen Denkens der Heiden miteinander zu kombinieren, sollte die Wahrheit des christlichen Glaubens auch gegenüber den Skeptikern der späten Antike und den rhetorisch geschulten Gelehrten, Juristen und administrativen Experten beweisen, zugleich aber auch dazu dienen, sich des Erbes an vorhandener Gelehrsamkeit zu versichern und sie folgenden Generationen weiterzuleiten.309 Die Kodifizierung des römischen Rechts beförderte eine rechtliche Präzision auch des Zusammenlebens der Christen, welche nicht allein durch das biblische Liebesgebot gestaltet wurde. Die christlichen Autoren waren herausgefordert, Stellung zur Frage zu beziehen, in welcher Weise die Gläubigen dem Staat dienen sollten, in welcher Weise weltliche Herrschaft religiös begründet war oder aber einer solchen Begründung entbehrte und wie Herrschaft ausgeübt werden sollte. Funktionale Optimierung und emotionale Fundierung waren dabei in Betracht zu ziehen, wenn moralische Bewertungen vorgenommen wurden und gar die Integration der bestehenden politischen Institutionen in ein heilsgeschichtliches Programm zur Debatte stand. Dies hieß auch, die Frage zu klären, in welcher Weise das christliche 309 Kurt Flasch, Das philosophische Denken im Mittelalter. Von Augustin zu Machiavelli, Stuttgart 1986, S. 23–26; Therese Fuhrer, Das Kriterium der Wahrheit in Augustins Contra Academicos, in: Vigiliae Christianae 46 (1992), S. 257–275; Werner Dalheim, Geschichte der römischen Kaiserzeit, München 2003, S. 115–140.

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Christliche Vorstellungen zur Herrschaft in der Spätantike

Liebesgebot in das Handeln im Staat aufgenommen werden könne. Die von Gott gebotene Anweisung zur caritas führte zu einer Aufladung ethischer Gebote und verlieh ihnen eine Begründung, die nicht weiter gerechtfertigt werden musste, die aber, auf das Handeln im Staat ausgedehnt, die politische Nutzenoptimierung zu beeinträchtigen riskierte oder gar die Praktikabilität von Verwaltung gefährdete. Es waren Widersprüche auszuräumen zwischen der idealen Brüderlichkeit in den christlichen Gemeinden und der rechtlichen Verfassung im Römischen Reich. Die Widersprüche waren mehr als theoretisch. Die Verfolgungen, denen die Christen bis zum Beginn des 4. Jahrhunderts im Römischen Reich ausgesetzt waren, stellte sie in Opposition zu den staatlichen Organisationen. Christliche Autoren haben gleichwohl die Treue und Ergebenheit der Christen für das Römische Reich behauptet und von ihren Glaubensbrüdern eingefordert, zugleich aber die Distanz zu ihm thematisiert. Der Brief an Diogenet, von einem unbekannten Leiter einer christlichen Gemeinde am Ende des 2. Jahrhunderts abgefasst, erklärt die Lage der Gläubigen im Römischen Reich aus einer Position der Integration und zugleich der Desintegration. Da die Christen Gott anhängen, müsse ihnen die Zugehörigkeit zu politischen Institutionen gleichgültig sein. Nicht dass sie sich ihrer staatsbürgerlichen Pflichten entzögen, nicht dass sie sich von ihrer Umgebung absetzten und unterschieden, nicht dass sie sich in gesonderten politischen Organisationen vereinten, dass sie sich in Parallelgesellschaften zurückzögen, verlangte das Schreiben; ohne Einschränkung war die Eingliederung in die Einrichtungen des Imperiums vorgesehen. Aber – so hieß es im Brief – die Christen hätten kein Territorium, das ihnen zugewiesen, keine Sprache, die ihnen eigen wäre, keine besondere Kleidung, keine speziellen Speisevorschriften. Dies erlaube ihnen innerlich Abstand zu halten von den weltlichen Gebräuchen und auch vom Staat; aber dies sei auch der Grund, warum sie nichts daran hindere, für ihn tätig zu sein und sich seiner Gewalt unterzuordnen. Der Brief ist kennzeichnend für die Haltung der frühen Christen: Die Wahl des höchsten Herrn befreit nicht von allen Herren niederer Qualität. Aber diese Unterordnung ist beliebig. Demjenigen, dessen Loyalität Gott gehört, sind die Beziehungen zum Kaiser nicht mehr als eine Äußerlichkeit. Weil die Christen überall bei Gott sind, sind sie überall Fremde. Weil sie überall Fremde sind, können sie auch überall heimisch werden. Der Brief fordert: Die Gläubigen beachten die Gesetze und machen sich für den Staat nützlich, ohne von ihm indes das Gute zu erwarten und ohne sich in ihn gänzlich einzuschmelzen, denn sie sind Bürger des Himmelreiches. Die Christen sollen alle Menschen lieben, ohne Rücksicht auf ihre Zugehörigkeiten zu unterschiedlichen Völkern und ihre Einbindungen in unterschiedliche Verbände. Die Liebe durchstößt alle Grenzen jeder menschlichen Organisation. Sie kann daher nicht

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in Anspruch genommen werden für die Gestaltung staatlicher Einrichtungen.310 Knapp zusammengefasst stellte die in Kleinasien geschriebene Märtyrerakte zu Donata die Beziehung zwischen Christen und dem römischen Reich dar : »Ehre den Kaiser als Kaiser, doch Gott allein gebührt Furcht«.311 Nicht einmal Furcht sollte der Kaiser einfordern. Von Liebe war gar nicht erst die Rede. Anders als Aristoteles argumentiert hatte, vermag das Individuum durch seine Tugend keine irdische Glückseligkeit herbeizuführen, der Christ nicht dank der Tätigkeit für das allgemeine Wohl im Staat Verdienste zu erwerben. Wohl aber leiste er Hilfe für alle in Not geratenen Menschen. Jegliche Kanalisierung der liebenden Beziehungen der Christen in distinkte menschliche Gemeinschaften ist dagegen ausgeschlossen. Der Staat ist moralisch indifferent. Damit ist auch ausgeschlossen, dass herrschaftliche Verfahrensordnungen und ihre Begründungen in Widerspruch zu den Idealen der Christen treten könnten. Die Anweisung, die der unbekannte Schreiber des Briefes an Diogenet erteilt, um der anti-christlichen Polemik und der Verfolgung der Christen standzuhalten, soll die Christen aus einer politischen Positionsbestimmung, durch sie selbst und durch ihre Gegner, herausführen. Anforderungen der christlichen Lehre für die Gestaltung des Gemeinwesens gibt es nicht. Liebe kann nicht in die Herrschaft und in die politische Gemeinde eindringen. Sie bleibt als Gebot der christlichen Gemeinden eingepfercht.312 Der Brief zeigt beispielhaft, wie das Verhältnis zum Römischen Reich und seinen Institutionen die Christen vor Herausforderungen stellte und eine Debatte auslöste, in der es u. a. darum ging, Liebe für den Nächsten und den Dienst für den Staat zu vereinbaren, ohne die bestehenden politischen Institutionen als Ursache und Objekt ethischer Anforderungen einzuführen. Die Staatsferne der Christen war wegen der historischen Situation geboten. Aber sie war, so die Aussage des Briefes, nicht korrigierbar, nicht einmal dann, wenn den Christen die Staatsangelegenheiten anvertraut werden sollten. Der Brief erlangte keine kanonische Geltung; er hat aber als Zeugnis einer zeitbedingten Einstellung Bedeutung. Darüber hinaus bezog sich die Argumentation auf eine grundlegende, zeitlich überdauernde Konstellation. Dies deshalb, weil erstens das Neue Testament die Ablösung moralischer Werte vom Staat und von allen weltlichen Einteilungen vorsah: »Denn wo der Glaube herrscht, ist weder Jude noch Grieche, weder Knecht noch Freier, weder Mann noch Weib« (Gal 3. 28). Zweitens legte der 310 A DiognHte. Texte et traduction, hg. v. Enrico Norelli, in: A DiognHte. Visions chr8tiennes face / l’empire romain, hg. v. Gabriella Aragione (Cahiers du groupe suisse d’8tudes patristique 1), 2012, S. 15–38, S. 24f.; Jacques Schwartz, L’8pitre / DiognHte, in: Revue d’histoire et de philosophie religieuse 48 (1968), S. 46–53. 311 Adolf Martin Ritter, Alte Kirche (Kirchen- und Theologiegeschichtliche Quellen 1) 11. Aufl. Göttingen 2015, S. 44f. 312 Frühchristentum und Kultur, hg. v. Ferdinand R. Prostmeier, Freiburg i. Br. u. a. 2007.

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Konflikt mit dem Römischen Reich die Saat für eine Divergenz zwischen religiösen und politischen Ordnungsvorstellungen, so dass, wie ein beständiges Hintergrundgeräusch, kritische Aussagen zur weltlichen Macht während der folgenden Jahrhunderte laut wurden. Die Distanz zum Staat zu verkleinern, war nicht einfach, auch dann nicht, seitdem die Christen seit dem 4. Jahrhundert an der staatlichen Macht partizipierten, sie sich aneigneten und sie zur Verteidigung der Legitimation der Herrscher aufgerufen waren, die sich als Beschützer der christlichen Religion ausgaben. Auf intellektueller Ebene waren die Probleme leicht zu lösen, solange die Christen von den Imperatoren und den Staatsorganen verfolgt wurden und mitunter das Martyrium den Ausweg bot, sich den Anforderungen des polytheistischen Staatskultes zu entziehen. Dann war auch ausgeschlossen, das Römische Reich als Instrument der Herrschaft Gottes auf Erden zu erachten. Die höchste Vollendung christlichen Bekenntnisses verlangte den Einsatz des Lebens. Die Klagerede des Märtyrers Pionios († 251) nennt mit Stolz die Strafen, die den Christen zugefügt werden und die sie tapfer ertragen. Die weltliche Gewalt verliere jeden Schrecken für die Christen, der keine Wirkung auf sie habe. Furcht hätten die Christen vor dem Höllenfeuer. Es sei das Gericht Gottes, das Schrecken erzeugt, wohingegen die Drangsale des Lebens und der angedrohte Tod keinen Gläubigen in Schrecken versetzten, nicht einmal zum Murren gegen Gott berechtigten, sondern freudig angenommen werden müssten. Die grundsätzliche Berechtigung der weltlichen Herrschaft wird in dem Text nicht bestritten; aber ihr wird Wirkung abgesprochen, denn Schrecken, geschweige denn Liebe vermag sie unter den gläubigen Christen nicht hervorzurufen. Der Text, der mit dem Namen des als Heiligen verehrten Pionios in Verbindung gestellt wurde, genoss hohes Ansehen unter den frühen Christengemeinden und forderte auf, tapfer und trotzig die Drohungen und die Schrecken des Staates zu verachten.313 Frühchristliche Texte forderten Distanz zum Staat und formulierten moralische Urteile über die Herrschaft, ohne ihre Berechtigung zu verneinen. Der frühchristliche Märtyrer und Verfasser einer Verteidigungsschrift des Christentums, Justin, wies auf die Vernunftwidrigkeit der Verfolgungen der Christen durch die Kaiser hin, weil doch die Christen treue Untertanen des Reiches seien. Sie verübten keine Verbrechen, denn die Furcht um das ewige Heil hielten sie davon ab.314 Andere christliche Autoren positionierten die Gläubigen deutlicher in Ge313 Ausgewählte Märtyrerakten, hg. v. Rudolfph Knopf, Gustav Grüger, 3. Aufl. Tübingen 1929, S. 46–48; Frühchristliche Apologeten, Bd. 2, hg. u. übers. v. Gerhard Rauschen (Bibliothek, der Kirchenväter 1.14), München 1913, S. 347–350; Louis Robert, Le martyre de Pionios, prÞtre de Samyre, Washington D.C. 1994. 314 Justin, Erste Apologie, Kempten, München 1913, S. 11f.

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gensatz zum Römischen Reich. Tertullian (ca. 150–ca. 230) stand unter dem Eindruck der die Christen verfolgenden Kaiser, Beamten und Soldaten. Aus Karthago stammend und in der intensiv christianisierten Provinz Africa lebend, speiste sich seine anti-römische Grundhaltung wohl auch aus der Opposition der Provinzialen gegenüber der kaiserlichen Verwaltung. Er war offensichtlich juristisch ausgebildet und war mit den rechtlichen Anforderungen der Verwaltung vertraut.315 Er erachtete das Römische Reich als spezielle Manifestation einer universell anzutreffenden und überall wirksamen bösartigen Herrschaft, der zwar insofern zu gehorchen befohlen sei, als sie auf Gottes Einsetzung beruhe, der aber Widerstand geleistet werden müsse, sofern die Herrscher sich göttliche Eigenschaften anmaßten. Tertullian schrieb, dass alle Reiche durch Kriege und Zerstörungen errichtet worden seien. Die Herrscher knechteten die Völker. Sie versetzten die Menschen in Furcht und unterjochten sie durch Schrecken. Den verfolgten Christen sei aufgetragen, im Martyrium ihre Glaubensstärke zu beweisen. Das Problem, das sich für Tertullian und die zeitgenössischen Christen stellte, nämlich, ob sie staatliche Ämter annehmen durften, soll hier nicht weiter beleuchtet werden, von Belang erscheint hier vielmehr die Frage, ob die caritas, die den Christen als Gebot auferlegt sei, durch sie innerhalb eines politischen Gemeinwesens verwirklicht werden könne oder ob sie vielmehr auf alle Menschen, gleichgültig welchen Völkern sie angehörten und welchen Reichen sie untertan seien, ausgedehnt werden müsse, so dass sie nur abseits politischer Organisation ausgeübt werden könne. Der Ort der Liebe, so Tertullian, ist die res publica. Dieses Wort meint aber nicht das bestehende Römische Reich. Die Bedeutung ist vielmehr entpolitisiert, sie verweist auf die Gemeinschaft der Christen, die beständig wächst, aber gleichwohl nicht in eine weltliche Herrschaft mündet und dies auch nicht anstreben soll. Die von den Christen zu verwirklichende res publica sei, so Tertullian, die Welt selbst, die Gott unterstellt sei und keine Unterschiede zwischen Völkern und Reichen kenne. Nur diese Gemeinschaft der Gläubigen sei durch die Liebe geknüpft. Die Ämter der Kirche erwüchsen aus der Zuneigung derjenigen, die Gott fürchteten, aber keine Furcht gegenüber den weltlichen Zwangsgewalten empfänden. Die Entgrenzung der liebevollen Beziehungen hin zu einer universalen Gemeinschaft duldet keine politischen Unterscheidungen und macht sie ungeeignet für die Herrschaft. Die Loyalität der Christen zum römischen Kaiser, die Tertullian so wichtig ist, herauszustellen, lässt sowohl die Geltung der religiösen Überzeugung als auch die Autonomie der christlichen Gemeinden intakt. Die Gewalt

315 David E. Wilhite, Tertullian the African. An Anthropological Reading of Tertullian’s Context and Identities, Berlin 2007.

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des Staates hat in ihnen keinen wirklichen Zugriff; sie wird aber auch nicht durch die Christen gefährdet.316 Tertullians Zeitgenosse, der in Alexandria lebende Origenes (ca. 185–254), platziert die Liebe hingegen in die Kleinheit der abgeschlossenen christlichen Gemeinden. Er bewertet die Welt, den mundus¸ insgesamt, nicht allein den Staat negativ. Über sein Leben sind wir nur insofern informiert, als Eusebius von Caesarea über ihn berichtet. Er hat heftige theologische Auseinandersetzungen ausgefochten, war wohl deswegen gezwungen, zeitweise nach Kappadokien zu fliehen und war persönlich von den Christenverfolgungen des Jahres 250 betroffen.317 Gemäß seiner Auffassung ist die Welt nicht der Schauplatz des Glaubens und der Liebe, sondern der Feindschaft zwischen der Gemeinschaft der Gläubigen und ihrer heidnischen Verfolger. Fleischliche Gelüste trieben die Menschen an, die der Welt verhaftet seien. Die im Römerbrief des Paulus angeordnete Unterwerfung unter jede weltliche Herrschaft stellt der Kommentar von Origenes, in der lateinischen Version von Rufinus überliefert, nicht in Frage; sie wird als Auswirkung des Zornes Gottes gedeutet, der den Menschen wegen ihrer Sünden Furcht und Schrecken zufügt und unter die Knechtschaft von bösartigen Herrschern stellt, die den Schrecken verbreiten, den Gott vorgesehen und ihn auszuüben ihnen aufgetragen hat. Das Ziel der Christen soll darin bestehen, sich innerlich von den Zwängen der Herrschaft zu lösen und durch die gegenseitige Liebe ein alternatives Modell des Zusammenlebens innerhalb der kleinen Gemeinden der Gläubigen zu verwirklichen. Nicht die Expansion der Liebe auf die ganze Welt, sondern ihre Reduktion auf die nahe Gruppe der Gleichgesinnten ist das Ideal von Origenes.318 Die Distanzierung der Christengemeinden von der Macht änderte auch bei Origenes und den anderen christlichen Apologeten nichts an der grundsätzlichen Anerkennung der Legitimität der Kaiser. Die Zurückweisung ihrer Kompetenz in Angelegenheiten des Glaubens enthielt keine politische Kritik. Christliche Autoren formulierten stets, dass die Autorität des Staates hinzunehmen sei. Mitunter war noch mehr in Aussicht gestellt: die aktive Mitwirkung an den Staatsgeschäften. Mehrere frühchristliche Autoren bestanden darauf, dass die Christen dem Staat nützlich seien; sie sahen Gebete für Kaiser und Reich 316 Tertullian, Apologeticum. Verteidigung des Christentums, hg. u. übers. v. Carl Becker, München 1952, S. 149f.; Tobias Georges, Tertullian. Apologeticum, Freiburg u. a. 2011, S. 455–635; Zur erlaubten Beteiligung von Christen am Staats- und Militärdienst: Francesco Amarelli, Vetustas – Innovatio. Un’antitesi apparente nelle legislazione di Costantino, Neapel 1978, S. 37f. 317 Gilles Dorival, OrigHne d’Alexandrie, in: Dictionnaire des philosophes antiques, Bd. 4, hg. v. Richard Goulet, Paris 2005, S. 807–842. 318 Origenes, In epistolam ad Romanos commentariorum libri decem , hg. v. Carl Heinrich Eduard Lommatzsch (Opera omnia 7), Berlin 1837, II, S. 329–335.

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vor und formulierten solche Gebete; sie verkündeten die Bereitschaft der Christen, Steuern zu zahlen, Dienste zu verrichten, am Wirtschaftsleben teilzunehmen, den Wohlstand zu mehren – sogar auch in großer Breite durch Tertullian ausgeführt. Bereits der Erste Timotheusbrief von Paulus (1 Tim 2.2) und der erste Brief, der dem römischen Bischof Clemens zugeschrieben und vermutlich gegen Ende des ersten Jahrhunderts abgefasst wurde, verlangten von den Gläubigen Fürbitten für die heidnischen Herrscher.319 Die Furcht, timor, von Gott ausströmend, erachtet Irenaeus von Lyon (ca. 135–202) in seiner Schrift gegen die Häretiker als legitimes Mittel, das auch den heidnischen Herrschern zur Verfügung stehe und das sie zum Nutzen der ihnen unterworfenen und anvertrauten Völker einsetzen sollten, was sie selbst dann rechtmäßig täten, wenn sie persönlich in Sünde lebten. Hier war Furcht durchaus der weltlichen Herrschaft zugebilligt. Irenaeus, aus Kleinasien stammend, trug zur Etablierung christlicher Gemeinden in Gallien bei. Seine Stellungnahme war herausgefordert, um das Gebet für den Kaiser, das die Christen verrichteten, vom Gebet an den Kaiser deutlich zu unterscheiden. Herrschaft ist bei Irenaeus trotz der grundsätzlichen Anerkennung ihrer Legitimität und trotz der Verpflichtung auch der Christen, ihr zu dienen und für die Herrscher zu beten, nicht mit Gerechtigkeit verknüpft, sie beruht stets auf Gewalt, unterjocht die Menschen, so dass es keine begriffliche Trennung der Tyrannei von der gerechten Herrschaft gibt, keine Unterscheidung von schlechten und guten Herrschern, vielmehr allein die Faktizität der von Gott eingesetzten Gewalt anzuerkennen ist. Legitimität der Herrschaft ist bereits durch deren Existenz vorhanden. Die moralischen Qualitäten jedes einzelnen Menschen sind bedeutsam, nicht die Bewertungen von Institutionen. Unter die Herrschaft werden die Menschen gezwungen – immer und selbst im günstigen Fall durch Furcht, Strafe und Tadel oder mitunter, sofern die Menschen und Völker gänzlich verworfen sind, auch noch durch Täuschung, Beleidigung oder Demütigung. Die Herrschaft stiftet aber dennoch in jedem Fall einen Nutzen, da schlechte Menschen von schlechten Taten abgeschreckt werden. Aber alle Menschen, auch die gerechten, leiden unter der Herrschaft und dies muss auch so sein, denn niemand ist ohne Sünde und die Sünden werden im Diesseits bereits geahndet. Ein 319 Adolf Martin Ritter, L’Eglise et l’Etat. Points de vue du christianisme ancien (Traditio Christiana 13), Bern u. a. 2005; Carmen Castillo Garcia, Apologetico. A los gentiles (Biblioteca Clasica Gredos 285), Madrid 2001, S. 141; Horacio E. Lona, Der erste Clemensbrief, Göttingen 1998, S. 66–77, 583–622; Jörn Eckert, Das Gebet für Kaiser und Reich, in: Bibel und Recht. Rechtshistorisches Kolloquium Kiel 9.–13. Jun 1992 hg. v. dems., Hans Hattenhauer (Rechtshistorische Reihe 121), Frankfurt a. M. 1994, S. 343–368; Helmut Löhr, Studien zum frühchristlichen und frühjüdischen Gebet, Tübingen 2003, S. 282–301; Markus Georg Steinhilber, Die Fürbitte für die Herrschenden im Alten Testament, Frühjudentum und Urchristentum. Eine traditionsgeschichtliche Studie (Wissenschaftliche Monographien zum Alten und Neuen Testament 128), Neukirchen-Vluyin 2010, S. 228–281.

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natürliches Gesetz, das durch Liebe hervorgerufen und auf Liebe hinzielt, verwirklicht sich nicht im weltlichen politischen Organisationen und ist allein in der Vergangenheit unter den Gerechten des Alten Testaments, unter den Patriarchen und Propheten, verwirklicht worden, nunmehr aber zu seiner Zeit und auch künftig im irdischen Dasein unerreichbar. Nur abgetrennt vom Staat können christliche Gemeinschaften geregelte Beziehungen der Gerechtigkeit einrichten.320 Irenaeus von Lyon sieht die Basis von Herrschaft und Macht in dem Zufügen von negativen Empfindungen, in der Niederwerfung des Willens und in dem Einsatz von Gewalt – gleichgültig, in welcher Verfassung sie gestaltet sind. Die gegenseitige Zuneigung hat keine Wirkung im Staat. Der Schrecken, den die einzelnen Herrscher verbreiten, war als stets währendes, nicht abzustreifendes Merkmal jeder Herrschaft gedeutet. Die Einschätzung war in der Zeit, in der die Bekenner des christlichen Glaubens verfolgt und getötet wurden, unter den Christen einsichtig. Weniger einsichtig musste erscheinen, wieso Gott diese Bedrängnisse duldete, vielleicht sogar wollte, wo es doch offensichtlich die Gerechten und Guten waren, die bestraft wurden. Der weltliche Schrecken hätte ja entweder als Bestrafung eines verwerflichen Tuns oder als notwendiges, von Gott angeordnetes Mittel zur Anleitung zum Guten gedeutet werden können. Aber solche Deutungen beantworteten nicht die Frage, warum die Christen Opfer der Gewalt wurden. Das Problem wurde gelöst mit einer Deutung von Gott, dessen Allmacht nicht stets Liebe hervorbringe, sondern ebenfalls peinigende Verfolgung. Der Apologet des frühen Christentums, Laktanz (250–320), hat die vernichtende Kraft, die dem römischen Reich anhaftet, gerechtfertigt, indem er Gott selbst als deren Urheber vorstellte, was erlaubt und erfordert, dass die siegreichen Christen nach der Anerkennung ihrer Religion durch Konstantin die Vernichtungstaten und Grausamkeiten der einstigen Kaiser fortsetzen, nunmehr gegen ihre einstigen Verfolger gerichtet. Diese würden nun niedergestreckt, verstümmelt, gequält, getötet – und recht geschehe ihnen, schreibt Laktanz. Für die Kaiser der Vergangenheit imaginierte er jenseitige Strafen. Weil, so Laktanz, einst Kaiser Diokletian die Christen verfolgt, alles und alle mit seinem Schrecken angefüllt, Provinzen zerstört und fruchtbares Ackerland in Wildnis verwandelt habe, erfahre er im Jenseits die gerechte Bestrafung. Die Strafaktionen werden aber auch im Diesseits vollstreckt und treffen diejenigen, die nicht ablassen, sich gegen Gott aufzulehnen. Die nunmehr christlichen Herrscher sind die Akteure der grausamen Sanktionen gegen die Feinde der Christen. Diese werden mit Schrecken heimgesucht, nicht 320 Irenaeus, Adversus Haereses, hg. v. Adelin Rousseau, Louis Doutreleau, Charles Mercier (Sources Chr8tiennes 153), Paris 1969, S. 298–304, 524, 542–550, 564–572, 990–994; zur Biographie von Irenaeus: Johann Evangelist Hafner, Selbstdefinition des Christentums. Ein systemtheoretischer Zugang zur frühchristlichen Ausgrenzung der Gnosis, Freiburg i. Br. U. a. 2003, S. 329–367.

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anders, als es einst den Christen widerfahren war. Laktanz breitet ein weites Panorama aus, das die brutalen Bestrafungen ausmalt. Der Staat wird in jedem Fall zum Vollstrecker der göttlichen Sanktionen. Das Gewalthandeln der Kaiser und ihrer Beamten findet mit dem Ende der Christenverfolgungen somit kein Ende. Gewalt und Furcht bleiben mit dem Römischen Reich verbunden. Dessen definitorische Kennzeichnung ändert sich nicht, wohl aber der Kreis der Opfer und damit auch die ethische Bewertung. Diese Schrift war – anders als die übrigen theologischen Texte von Laktanz – im Mittelalter wenig bekannt. Aber sie zeigt, wie eine Vorstellung gewaltbereiter und von Gott gewollter Herrschaft ausgeformt wurde. Dieses Modell war in herrschaftslegitimierenden und herrschaftsanleitenden Texten des frühen Mittelalters präsent. Die reaktive Gewalt war in die Hände der christlichen Herrscher gestellt.321 Gott ist der Urheber von Gewalt und Schrecken. Anders als die Stoiker forderten, sollten die Christen daher nicht darauf achten, den Schrecken zu missachten, ihn vielmehr bewusst erdulden. Auch die Furcht solle nicht als Krankheit der Seele erachtet werden, wie Laktanz in seiner Schrift De divina institutione ausführt. Vielmehr gelte es, einen rechten Gebrauch von ihr wie von allen Gefühlen zu machen. Dies geschehe durch den Dienst an Gott. Gott leite auch durch die Furcht die Menschen. Ihr Einsatz für irdische Dinge sei hingegen verwerflich und erbringe keinen Nutzen. Mit dem Schrecken riskiere der Mächtige, den Untertan zum Feind zu machen.322 Der Zorn ist Gott vorbehalten. Laktanz verneint in seiner Schrift zum Zorn Gottes ausdrücklich die optimistische Meinung, Gott bewirke stets das Gute, und erachtet die Existenz des Bösen, des Leidens und des Verderbens ausdrücklich als Ergebnis des Willens und des Handelns Gottes. Dieser sei keineswegs der sanfte, ruhige, gnädige und wohltätige Erhalter der Menschen. Sein Zorn verfolge auch die Gläubigen, denen er nicht minder als den anderen Menschen ungerechte Herrscher vorsetze. Diese würden zum Werkzeug eines göttlichen Handelns, dem die Menschen schutzlos ausgeliefert seien. Wenn aber einige meinten, Gott sei böse, da er den Menschen schade, so täuschten sie sich, urteilt Laktanz. Denn die große Strenge sowohl der göttlichen als auch der weltlichen Gerichtsbarkeit, diene der Durchsetzung der Gesetze, die verlangten, das Wohl der Guten zu schützen; nur derjenige Herrscher sei schädlich, der die 321 Lactantius, De mortibus persecutorum, hg. v. Samuel Brandt, Georg Laubmann (CSEL 27,2), Wien 1897, S. 171–179; Elisabeth De Palma Digeser, The Making of a Christian Empire. Lactantius and Rome, Ithaca, London 2000; Daniel König, Bekehrungsmotive. Untersuchung zu Christianisierungsprozessen im römischen Westreich und seinen romanisch-germanischen Nachfolgern (4.–8. Jahrhundert), Husum 2008, S. 296–298; Thielen, Frieden, S. 280–290. 322 Lactantius, Divinae Institutiones, hg. v. Samuel Brandt, Georg Laubmann (CSEL 19), Prag, Wien, Leipzig 1890, S. 535f., 547–553: lib. VI, cap. 14 und 18.

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Verbrecher verschone, so dass diese noch mehr schaden könnten. So wie von einem weltlichen Herrn nicht verlangt werden könne, untätig dem Treiben seiner untreuen Diener zuzusehen, so wenig von Gott, dessen Haushalt die ganze Welt sei und dem alle Menschen als seine Diener untertan seien. Der Zorn Gottes und in gleicher Weise der Zorn der Herrscher erzeugten Furcht. Diese sei gerechtfertigt, denn sie diene dazu, die Bösen zu strafen und das Böse zurückzudrängen. Aber die Auswirkungen sind erschreckend: Der Zorn eines Menschen, der Macht besitze, bringe ihn dazu, Blut zu vergießen, Städte zu zerstören, Völker auszulöschen, Provinzen in Wüsten zu verwandeln. Er richte Schaden an, liebe weder die Untertanen noch die Feinde; statt lebendig zu machen, töte er. Nichts weniger dürfe man auch von Gott erwarten. Selbst der Hass könne gerecht sein. Der Hass gegen die Bösen entspringe aus dem Hass gegen das Böse und dieser Hass wiederum aus der Liebe zum Guten. Gott und ebenso die Herrscher handelten nach dieser Anordnung. Der Einsatz des Schreckens sei zwar nur gerechtfertigt, um Gutes zu tun und Gutes zu erzeugen, aber die verderblichen Auswirkungen seien nicht weniger schlimm und niederdrückend. Der Schrecken der weltlichen Macht sei immer gerechtfertigt, denn er führe zur Verfolgung der Übeltäter. Dies gelte dann, wenn ein gerechter Herrscher dieses Ziel bewusst anstrebe, aber auch wenn ein ungerechter Herrscher unwillentlich den Schrecken Gottes vollstrecke. In jedem Fall ist bei Laktanz der Schrecken eingebunden in eine politische und metaphysische Ordnung, die die Unordnung durch grausame Bestrafung auszumerzen sucht. Institutionalisiert und perpetuiert wird der Schrecken zum Terror. Dieser kann nicht als Argument gegen Gottes Existenz und Güte verwendet werden; das ist die Schlussfolgerung von Laktanz. Er meint ausdrücklich die Beweisführung von Epikur widerlegt zu haben, der schrieb: »Entweder will Gott die Übel aufheben und er kann es nicht; oder er kann und er will es nicht; oder er will es nicht und kann es nicht.« Im ersten Fall sei, so meinte einst Epikur, Gott nicht allmächtig, im zweiten nicht gütig, im dritten keines von beiden.323 Das Gegenargument von Laktanz gegenüber der von ihm zitierten Aussage ist rein ontologisch: Gottes Sein, Größe und Güte in Frage zu stellen oder gar zu negieren, widerspricht der Wesensbestimmung von Gott und ist daher ein Irrtum.324 Das von Epikur aufgeworfene Paradox hat Laktanz nicht gelöst. Dieser Text von Laktanz zum Zorn Gottes blieb der Kenntnis des mittelalterlichen Okzidents erhalten und barg das Potential, weltliche Macht als Furcht erregend zu deuten, sie aber zugleich auch als Ergebnis der Einsetzung durch 323 Epikur, Von der Überwindung, S. 153. Die Alternativen sind bereits bei Cicero erwähnt und zurückgewiesen worden: Cicero, De natura Deorum, I, hg. v. M. Van den Bruwaene (Collection latomus 192), Brüssel. 1970, S. 51. 324 Lactantius, De ira Dei liber, hg. v. Heinrich Kraft, Antonie Wlosok, Darmstadt 1971, 5, 8–14, 46, 56,78.

Die Liebe des Kaisers

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Gott vorzustellen.325 Die Option, dass Macht und Herrschaft sich dem Wohl der Untertanen zu widmen hätten, war zwar nicht grundsätzlich ausgeschlossen, aber nicht in den Anforderungen, die Gott an die Menschen und Herrscher stellte, enthalten. Die schädigende Einwirkung auf die Menschen war Gott und den Herrschern ausdrücklich eingeräumt. Schrecken und Macht bewirkten gleichermaßen Pein, aus der es im Diesseits selbst für die Gerechten kein Entrinnen gab. Laktanz nennt den einen und einzigen ersten Verursacher von Pein und Schrecken: Gott. Die von ihm eingesetzten Herrscher sind nur Exekutoren seines Willens. Der Schrecken, von der Herrschaft ausgeübt, hat bei Laktanz eine durch nichts, auch nicht durch Gottes Eingreifen geminderte Wirkung und trifft willkürlich alle ohne Ansehung von Person, Verdienst und Glauben. Diesem Schrecken kann niemand sich entziehen, ist er doch von Gott eingesetzt.

2.

Die Liebe des Kaisers

Die Verfolgung der Christen im Römischen Reich endete, nachdem durch mehrere Edikte Kaiser Konstantins I. und weiterer Mitkaiser seit dem Jahre 307 den Christengemeinden freie Religionsausübung zugestanden worden war. Nicht mehr nur Gebete wurden für die Herrscher angeboten, sondern nun von ihnen auch erbeten und öffentlich geleistet. Vor allem stand den Christen die Möglichkeit offen, an der politischen Herrschaft mitzuwirken. Schließlich, am Ende des 4. Jahrhunderts, monopolisierten die Christen die legale Religionsausübung.326 Das theoretische Problem, ob die staatliche Gewalt weiterhin Schrecken verbreite, und, falls diese Frage bejaht würde, ob der Schrecken gebilligt, zurückgewiesen oder aber korrigiert werden sollte, – dieses Problem hatte Auswirkungen auf die Positionierung der Christen im Staat. Und ebenso war zu klären, ob das christliche Gebot der Nächstenliebe für das Handeln des Staates gefordert oder gar vorausgesetzt werden müsse. Die Nähe zur Herrschaft stieß das Tor auf, die religiöse Überhöhung praktischer Tätigkeiten auch auf das staatliche Handeln zu übertragen, so dass die Option bestand, die Erfordernisse 325 Michael von Albrecht, Geschichte der römischen Literatur, Teil 2, 2. Aufl. München 1994, S. 1273–1276; Thielen, Friede, S. 280–292. 326 Jean Gaudemet, De la libert8 constantinienne / une Eglise d’Etat, in: RDC 23 (1973), S. 59– 76; Klaus Martin Girardet, Die konstantinische Wende und ihre Bedeutung für das Reich. Althistorische Überlegungen zu den geistigen Grubdkageb der Religionspolitik Konstantins des Großen, in: Die Konstantinische Wende, hg. v. Ekkehard Mühlenberg, Gütersloh 1998, S. 9–122; Klaus Martin Girardet, Konstantin – Wegbereiter des Christentums als Weltreligion, in: Konstantin der Große, hg. v. Alexander Demandt, Josef Engemann, Mainz 2007, S. 232–242.

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christlicher Gebote in den Staat einzufügen. Die Religion war eine Quelle, aus der starke Gefühle emporstiegen, zugleich hohe Anforderungen flossen. Die polytheistische Beliebigkeit hinsichtlich eines fixierten Glaubens wich einem auch Gewalt nicht scheuenden Eintreten für die Wahrheit des einen Glaubens an den einen Gott. Indem die von den Kaisern seit 325 einberufenen Konzilien Dogmen der Rechtgläubigkeit der christlichen Religion definierten, folgte daraus das Ausmerzen von Irrtümern. Dazu war Militanz erforderlich, kämpferischer Einsatz für das Richtige. Die höchste Anstrengung war von den Christen zu leisten. Die staatliche Verwaltung einschließlich ihrer Zwangsmittel war geeignet, diese Anstrengung zu leisten. Aber das römische Imperium stand weiterhin unter dem Verdikt, dem Bereich des für den Glauben Unerheblichen anzugehören. Die Zwiespältigkeit zwischen der vom Staat zur Verteidigung des Glaubens verlangten Gewalt und des den Christen befohlenen Mitleids war nicht leicht zu lösen. Unterschiedliche Deutungen wurden dargeboten.327 Die Existenz des Römischen Reiches mehr als nur als notwendig zu erachten, sondern ihm eine Aufgabe für den christlichen Glauben zuzuweisen, setzte voraus, es in eine historische Perspektive zu rücken, die in die der Heilsgeschichte einrückte. Die Verchristlichung des Staates leitete sich aus einer Heilsnotwendigkeit des Römisches Reiches ab, unter dessen Herrschaft Jesus geboren wurde, lebte und starb und dessen administrative Organisation seit dem Beginn des 4. Jahrhunderts das Muster für die Einteilung in Bistümer und Kirchenprovinzen abgab.328 Es war Eusebius von Caesarea (ca. 260-ca. 340), der am deutlichsten und mit dem größten Nachklang die Heilsgeschichte mit der politischen Geschichte des Römischen Reiches verband. Dies mag insofern erstaunlich sein, als er fern der kaiserlichen Herrschaftszentren in Syrien lebte und über die Position und die Aktivität des Kaisers aus der Distanz berichtete.329 Er verlieh der Tätigkeit im Staat nicht allein einen hohen ethischen Wert, sondern einen von Gott gestifteten Sinn. Die Liebe, die von den christlichen Kaisern ausgeht und auf sie gerichtet ist, hat er religiös motiviert. Diese Liebe, schrieb er, fördere die Frömmigkeit und sei überdies noch politisch nützlich. Die Frage, die Eusebius in seiner Schrift zum Lob von Kaiser Konstantin stellte, woher die Vorstellungen von rechtmäßiger Herrschaft und von königlicher Macht zu den Menschen gelangten, diese Frage wurde in dem Moment drängend, als der römische Kaiser nicht mehr als Vollstrecker des Schreckens über die Frommen, sondern als Werkzeug des Heils ausgezeichnet war. Das Lob Konstantins gipfelte in der Vorstellung, dass der 327 Henryk Pietras, Council of Nicaea (325). Religious and Political Context, Rom 2016. 328 Konrad Lübeck, Reichseinteilung und kirchliche Hierarchie des Orients bis zum Ausgang des 4. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Rechts- und Verfassungsgeschichte der Kirche (Kirchengeschichtliche Studien V/4), Münster i. W. 1901, S 7–73; Schmidt, Kirche, S. 39–45. 329 Timothy D. Barnes, Constantine and Eusebius, Cambrigde (Mass.) 1981.

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Kaiser ähnlich wie Gott die Gerechtigkeit, die Tugend, den Frieden und die Liebe durch seine Macht allen Menschen gebracht habe und weiterhin bringen werde. Alt und neu stellte Eusebius in Opposition; den Schrecken der einstigen Tyrannen setzte er das heilsame Wirken des christlichen Kaisers entgegen. Der Kaiser sei das Abbild Gottes, in ihm ruhe die Weisheit. Der Schrecken, den die Tyrannen verbreiteten, treffe nun sie selbst; sie seien dessen Sklaven. Diese neue Ordnung habe der gerechte Kaiser Konstantin errichtet.330 Auch in einer weiteren Schrift, der Lebensbeschreibung von Konstantin, hat Eusebius den Schrecken als Kennzeichen einzig der ungerechten Herrschaft genannt, der die Menschheit unterdrücke, die Christen verfolge und zudem auch noch die Herrschaft gefährde. Konstantin habe den Schrecken beendet.331 Eusebius berichtet auch in seinem historiographischen Hauptwerk, der Historia ecclesiastica, dass der christliche Kaiser die Menschen von der Schreckensherrschaft befreit, sie von ihren Leiden erlöst habe. »Genommen war den Menschen jede Furcht.« Das Werk ist im Mittelalter ausgiebig rezipiert, zitiert, kompiliert und oft an den Anfang historiographischer Werke gesetzt worden, vor allem auf der Grundlage der von Rufinus von Aquileia um das Jahr 400 erstellten lateinischen Übersetzung. Eusebius rückt Konstantin in die Nähe zu Christus, präsentiert ihn als Mittler des göttlichen Willens. Deswegen dürfe es nur einen einzigen universalen Herrscher geben, in Analogie zum Monotheismus. Der Tetrarchie, der Herrschaft mehrerer Kaiser, sei zu Recht ein Ende gesetzt worden. Sie sei nichts anderes als die Widerspiegelung des Polytheismus. Das Werk von Eusebius ist als Fortsetzung der biblischen Bücher gestaltet und zeigt die Wende, die die Christen aus der Verfolgung herausführte, ihre Gotteshäuser in Glanz hüllte und dem gottesfürchtigen Herrscher den Sieg gegen die Glaubensfeinde bescherte. Eine von Gott eingerichtete und gewollte Ordnung auf Erden sei errichtet worden, schrieb Eusebius. Für den von Gott geliebten Kaiser seien die Christen bereit, Dienste zu verrichten. Sie seien mit ihm in Liebe verbunden. An zweiter Stelle nach Christus herrsche der Kaiser über sein Volk, das nun von dem Wüten der gotteslästerlichen Tyrannen befreit sei. Er sei der neue Melchisedek und der neue Aaron. Eusebius stellt mit der Formulierung eine Verbindung herrscherlicher und priesterlicher Funktion her. Nur kurze Zeit hätten die Gotteshasser Schrecken und Angst unter den christlichen Untertanen verbreitet. Die Gläubigen seien damals verfolgt worden, denn wen Gott liebe, den züchtige er. Nun sei diese Zeit beendet. Jetzt walte Gerechtigkeit. Der Glanz, der von Gottes Wohlwollen ausgehe, erleuchte alle Kirchen und alle Christen und 330 Eusebius of Caesarea, In Praise of Constantine, hg. v. Harald A. Drake, Berkeley u. a. 1976, S. 83–102; Dominic O’Meara, Jacques Schamp, Miroirs de prince de l’Empire romain au 4e siHcle, Freiburg (Schweiz) 2006, S. 85, 89, 105, 120–125, 133f. 331 Eusebius von Caesarea, De Vita Constantini, hg. v. Horst Schneider (Fontes Christiani 83), Turnhout 2007, S. 425.

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lasse sogar die dem wahren Glauben ablehnenden Menschen an dem Glanz der guten Verfassung des Reiches teilhaben. Alle Untertanen des Kaisers erfreuten sich seiner Liebe. Der Hymnus zu Ehren Gottes, mit dem Eusebius sein Werk abschließt, stellt die Rettung vor Verfolgung als Hinführung zur Erlösung im Jenseits dar. Der Schrecken gehöre der Vergangenheit an; er habe keine Kraft mehr in der neuen Ordnung, in der der christliche Glaube siege. Der Weg zur ewigen Glückseligkeit führt Eusebius über einen gottgefälligen Staat. Schrecken und Macht sind dissoziiert dank des Ergebnisses des historischen Wandels.332 Im engsten Sinne ein Panegyrikus ist der Text von Eusebius, der als Laus Constantini bezeichnet ist und in mehreren Handschriften der Vita Constantini als Annex aufgenommen ist. Er entwirft am nachdrücklichsten die Vorstellung der theokratischen Herrschaft, die die Gewalt Gottes auf Erden vertritt.333 Das Einvernehmen von Kaiser und Christen war indes nicht ohne Friktionen. Die Parteinahme Konstantins in den dogmatischen Debatten ließ unter den Christen Verlierer zurück. Zu ihnen gehörten auch diejenigen, die das Glaubensbekenntnis, wie es auf dem Konzil von Nicaea festgesetzt war, gegen die Anhänger des Arianismus verteidigten und daher auch in Opposition zu Konstantin gerieten, der gegen Ende seines Lebens diese Glaubensrichtung favorisierte.334 Die Konflikte zwischen den Christen und den Herrschern hatten kein Ende gefunden.

3.

Distanz und Nähe zum Staat

Die einträchtige Vereinigung von herrscherlicher Gewalt und priesterlichen Aufgaben, von politischem Ziel und Einrichtung eines Liebesbundes, wie sie Eusebius zeichnete, überzeugte nicht alle, weil auch die neuen Herrscher auf die gewaltsame Durchsetzung ihrer Anweisungen nicht verzichteten, sie nicht in Übereinstimmung mit den Bischöfen handelten, und weil ihre religiösen Auf332 Eusebius von Caesarea, Historia ecclesiastica (Bibliothek der Kirchenväter 2/1), hg. u. übers. v. Philipp Häuser, München 1932, bes. S. 438, 443–460; Raffaele Farina, L’impero e l’omperatore cristiano in Eusebio di Cesarea. La prima teologia politica del Cristianismo, Zürich 1966; Jean-Marie Santerre, EusHbe de C8sar8e et la naissance de la th8orie »c8saropapiste«, in: Byzantion 42 (1972), S. 131–195, 532–594; K. S. Frank, Eusebious von Kaisareia, in: LexMA, 4, München, Zürich 1989, Sp., 106f., Franz Kolb, Herrscherideologie in der Spätantike, Berlin 2001, S. 68; Jan Willem Drijvers, Vita Constantini als vorstenspiegel, in: Lampas 37 (2004), S. 161–164; Drews, Monarchische Herrschaftsformen, S. 182. 333 Eusebius von Caesarea, Laus Constantini, hg. v. Ivar Heikel (Werke 1), Leipzig 1902, S. 159– 259; T. D. Barnes, Two Speeches by Eusebius, in: Greek, Roman and Byzantine Studies 18 (1978), S. 341–345; O’Meara, Fürstenspiegel, S. 56f. 334 Michael Fiedorowics, Konstantin im Urteil der Kirchenväter, in: Konstantin der Große, hg. v. Alexander Demandt, Josef Engemann, Mainz 2007, S. 258–262.

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fassungen nicht selten von der von den Konzilien definierten Rechtgläubigkeit abwichen. Der Antagonismus zwischen Christengemeinden und Römischem Reich wirkte fort, allein schon deswegen, weil die kirchliche Hierarchie als alternatives Gefüge der Machtausübung intakt gehalten werden sollte; zugleich war der Antagonismus gemildert, insofern die Amtspersonen, sogar die Kaiser, sich von hohen Geistlichen ermahnen lassen mussten und häufig auch ließen. Der Rhetor, Dichter, Philosoph und Bischof Synesios von Kyrene (um 370– 412) aus Nordafrika hat in einem Text, der als Mahnrede an Kaiser Arcadius in Konstantinopel gestaltet war, die vermutlich aber nie gehalten wurde, die Zustände am Hof in schroffen Worten kritisiert und insbesondere die Faulheit, den Luxus und das Desinteresse des Kaisers an Volk und Armee verurteilt. Der fiktiv Angesprochene solle sich davor hüten, zum Tyrannen zu werden, welcher sein Volk wie ein Metzger sein Schlachtvieh behandle. Die Liebe, die der Herrscher gegenüber seinen Untertanen hege, genüge nicht; ihr fehle etwas: die Vernunft. Sie sei aufgerufen, um das Reich zu ordnen. Die Ordnung verlange, dass der Kaiser Zuständigkeiten an seine Statthalter und Beamten abgebe, so wie Gott nicht alles unmittelbar selbst gestalte, sondern dies der Natur überlasse. Die Vernunft sei der Garant der Gerechtigkeit; sie zeige sich beim Herrscher in der Harmonie der Gesten und der Mimik. Die Ent-Emotionalisierung ist bei diesem Redner aus Nordafrika die Voraussetzung der guten Herrschaft. Der Text argumentiert politisch, indem er die Verfahren des Regierens kritisiert, nicht die handelnden Personen. Er verweist auf Institutionen und entfernt Emotionen, auch die der Liebe, aus der Herrschaft. Rezipiert wurde er im mittelalterlichen Okzident nicht, aber er sei als Exponent eines intellektuellen Umfeldes der christlichen Spätantike vorgestellt, das die distanzierte Haltung zum Kaiser und zu seinem Hof auch nach der konstantinischen Wende fortsetzte, das platonischen Ideal des Philosophen als Berater der Herrscher zu verwirklichen suchte und nicht von deutlicher Kritik an ihm abließ. Besonders nachdrücklich zeigt die Mahnrede das Primat der Vernunft, die über der Liebe steht, sobald politische Angelegenheit betroffen sind.335 Die Belehrung und die Beratung der Herrscher waren nicht allein fiktiv und literarisch vorgestellt. Der Mailänder Erzbischof Ambrosius (340–397) zwang Kaiser Theodosius I. zur öffentlichen, demütigenden Buße und sprach ihn daraufhin von den Sünden los, womit er den Vorrang des Klerus in den Angelegenheiten der Seelenführung und des Heilsgeschehens ostentativ vorführte. Die Vita von Ambrosius, von seinem Mitarbeiter Paulinus kurz nach seinem Tod 335 Syn8sios de CyrHne, Discours sur la royaut8, hg. v. Jacques Lamoureux (Œuvres 5: Opuscules 2), Paris 2008, S. 92f., 101f., 135–138; Wolfgang Hagl, Arcadius apis imperator. Synesios von Kyrene und sein Beitrag zum Herrscherideal der Spätantike, Stuttgart 1997; O’Meara, Fürstenspiegel, S. 58f.

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geschrieben, hat das Geschehen in diesem Sinne gedeutet.336 Der Vorgang war weitaus mehr als nur eine lokale Angelegenheit. Sie betraf das gesamte Reich.337 Ambrosius von Mailand agierte als Seelsorger. Dieses Handeln hat er auch theoretisch begründet. Er erörterte in seiner Schrift zu den kirchlichen Ämtern die Option, Freundschaft und Liebe aus den engen christlichen Gemeinschaften herauszuführen und in die staatliche Großorganisation einzufügen. Er erachtete diese Option als verwirklicht, sofern die Kaiser sich den Anweisungen der Kirche fügten. Indes, die günstigste Heimstatt der Liebe bleibe, so schreibt er, weiterhin die Kirche, deren Hierarchie, von den Beschränkungen während der Zeit der Verfolgungen befreit, sich nun in starken Institutionen entfalte, Macht ausübe und in liebender Fürsorge die Bedrängten und Verfolgten besser als zuvor schützen könne. Ambrosius bezog sich in einer anderen Schrift zur Ermahnung des hohen Klerus auf Ciceros Schrift De officiis und transformierte die Pflichtenethik der römischen Administration in eine der kirchlichen Ämter. Er übernahm die Motive der Freundschaft aus seiner Vorlage. Es seien die Bischöfe, die, weil sie in eine Einheit des Glaubens geführt seien und gemeinsame Emotionen empfänden, Freundschaft untereinander hegten. Keine selbstsüchtige Suche nach Vorteilen, vielmehr die Schönheit des Volkes Gottes motiviere die Lenker der Kirche dazu, Aufsicht und Leitung auszuüben. Tugend und Frömmigkeit, nicht Gewinn von Geld erstrebten die Hirten der Gläubigen. Für die weltlichen Gemeinschaften behauptete Ambrosius ebenfalls eine ursprünglich vorhandene, im Laufe der Geschichte aber verloren gegangene Bereitschaft zur Liebe, die die Menschen einst zusammengeführt habe, so dass sie – ähnlich den Kranichen – ohne Anführer und ohne Zwang und ohne Trägheit ihre Tätigkeiten verrichtet und dabei für ihren eigenen Nutzen wie für die ihrer Mitgeschöpfe gesorgt hätten. Politische Aufgaben seien einst nicht aufgrund lange ausgeübter Macht und bedrängender Qual ausgeführt worden, vielmehr seien die Aufgaben im Turnus von jedem für eine gewisse Zeit wahrgenommen worden, so dass alle in Gleichheit gelebt hätten und sich keiner Gewalt hätten fügen müssen. In Analogie zur Herrschaft der Bienenkönigin erachtet Ambrosius die Liebe und die Verehrung, die die Untertanen ihren Anführern entgegengebracht hätten, als die Voraussetzung der Freiheit, in der alle früher gelebt hätten. Diese Herrschaft hat nicht die erste Sünde, die von Adam und Eva, beendet. Das Ende ist später angesetzt, aber zeitlich und historisch nicht präzisiert. Die gegenwärtige Herr-

336 Vita di Ambrogio, hg. v. Christine Mohrmann, Mailand 1975; S. 92, 94; Ulrich Gotter, Zwischen Christentum und Staatsraison. Römisches Imperium und religiöse Gewalt, in: Spätantiker Staat und religiöser Konflikt, hg. v. Johannes Hahn, Berlin, New York 2011, S. 133–140. 337 Hartmut Leppin, Theodosius der Große. Auf dem Weg zum christlichen Imperum, Darmstadt 2003, S. 146f.

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schaftsverfassung – also auch der christlichen Kaiser – hingegen beruhe auf Zwang und Gewalt und dränge die Menschen in die Unfreiheit.338 In einem Brief stellte Ambrosius Liebe und Schrecken in deutlichem Kontrast gegenüber : Die Liebe gefalle Gott mehr als der Schrecken. Er selbst will mehr geliebt als gefürchtet werden. Gott verlange Liebe; nur der Sklave lebe in der Furcht. Aber auf Dauer könne der Mensch nicht in Schrecken verharren. Er lähme ihn und hielte ihn vom Guten ab. Die Strenge presse durch seinen Schrecken doch meist nur Lügen aus den Menschen heraus. Für Ambrosius war die weltliche Herrschaft abgewertet, der Furcht und dem Schreckens verfallen. In einem weiteren Brief aus dem Jahr 384 an Kaiser Valentinian II. wandte Ambrosius sich strikt gegen die erneute Aufrichtung der Statue der Victoria – für ihn eine Manifestation des überwundenen Paganismus, aber wichtiger noch eine falsche Verehrung für die Siege der römischen Legionen, die doch nur Gewalt ausgeübt hätten, wohingegen das Streben der Christen nicht auf die Mehrung der Macht gerichtet sein dürfe. Seien einst die Heiden verherrlicht worden, weil sie Blut vergossen hätten, seien die Christen durch das Vergießen des eigenen Blutes verherrlicht. Was die Heiden als Strafe ansähen, erachteten die Christen als Belohnung. Gewalt verdiene keine Ehrung.339 Vermutlich zwei Jahre später präsentierte Ambrosius in der Predigtsammlung Exameron ein Kompendium der christlichen Religion. Dort schrieb er, ein Ausbrechen aus der politischen Zwangsgewalt sei möglich. Ambrosius bewertete, nach der Anerkennung des Christentums im Römischen Reich, die weltliche Herrschaft in günstigem Licht, so dass der schroffe Gegensatz zwischen Liebe in den Christengemeinden und Furcht und Gewalt im Staat nun abgemildert sei und weiter abgemildert werden könne. Selbst eine künftige Verschmelzung von Liebe und Herrschaft schloss Ambrosius nicht grundsätzlich aus. Ihr stehe freilich die Sündhaftigkeit der Herrscher und der Untertanen entgegen. Gleichwohl beruhe die Herrschaft nicht als Korrektivorgan auf den moralischen Verfehlungen und auch nicht auf der Erbsünde. Nicht die Entstehung der Herrschaft, sondern ihre Veränderung zum Schlechten sei die Folge der Sünden. Deswegen sei es berechtigt, dass die Herrscher, um diese Entwicklung abzuwenden, Zwangsgewalt ausübten.340 Es gebe sogar Hoffnung für Verbesserungen im Staat und für die Entstehung von Beziehungen, die aufgrund der Liebe und für die Liebe geknüpft seien. Ambrosius rief die Christen dazu auf, ihre Tätigkeit auch auf die politische Organisation zu richten, die Konzentrie338 Ambrosius, De officiis ministrorum, hg. v. Maurice Testard (CCSL 15), Turnhout 2000, S. 105–107. 339 Ambrosius, Epistulae et acta, Bd. 2, hg. v. Otto Faller, Michaela Zelzer (CSEL 82,2), Wien 1990, S. 149–155: Ep. 73; Bd. 3, hg. v. Michaela Zelzer (CSEL 82,2) Wien 1982, S. 149–155: ep. 64, S. 34–53: ep. 73. 340 Ders., Exameron, hg. v. Karl Schenkl (CSEL 32/1), Wien 1896, S. 178ff., 189–193.

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Christliche Vorstellungen zur Herrschaft in der Spätantike

rung der liebenden Tätigkeit auf die nach Außen abgeschottete Christengemeinde aufzugeben und die Liebe in den Staat einzupflanzen. Die Liebe der Christen war in die Liebe des Bürgers zu transformieren. Liebe sollte die Christen für die Tätigkeit im Staat öffnen.

4.

Staat ohne Gerechtigkeit: Augustinus

Der optimistischen Aussicht, liebende Beziehungen in den Staat zu implantieren, verweigerte sich Augustinus (354–386). Seine Schriften erlangten kanonische Wirkung für das gesamte Mittelalter ; er wurde zum Gewährsmann der Rechtgläubigkeit. Das Lob der Herrschaft Roms und seiner Kaiser, wie sie vor allem Eusebius betrieb, wurde zu seinen Lebzeiten erschüttert durch die Einfälle germanischer und anderer Völker in das Reich und schließlich durch die Plünderung der Stadt Rom durch die Westgoten im Jahre 410. Auch die afrikanische Heimat von Augustinus, wo er in Hippo als Bischof amtierte, war dem Vordringen der germanischen Völker, hier der Wandalen, ausgesetzt. Augustinus war in die religiösen Konflikte, die zugleich politische waren, involviert. Aufstände in seiner Heimat waren verknüpft mit in seinen Augen häretischen Auffassungen.341 Er suchte eine Antwort zu finden auf die Vorwürfe von Heiden, dass die Christen den Niedergang des Reiches verschuldet hätten. Seine Antwort bestand darin, den Wert des Staates herabzusetzen. Für Augustinus war der Antagonismus des Staates zum Guten nicht beendet, nachdem die Kaiser Christen geworden waren. Augustinus sah den Staat als Teil der civitas terrena an, die zwar im Heilsplan Gottes vorgesehen, zu seiner Verwirklichung aber nicht beitrage. Er lehnte es ab, Freundschaft oder Liebe für die Verfassung des Staates, für das Handeln zugunsten des Staates und für ein allgemeines Wohl im Staat zu reklamieren. Freundschaft könne sich allein, wie er in einem Brief schrieb, in kleinen Gemeinschaften entfalten, die wohlgesinnte christliche Männer und Frauen vereinten. Dort gedeihe die Freundschaft, sofern auch Liebe walte: amicitia non nisi mutuo amore constat.342 Liebe war für Augustinus geschieden von den körperlichen Regungen der Lust, sie war abgelöst von den Leidenschaften, die nur zu selbstsüchtigen Befriedigungen führten; Liebe war für ihn aber auch unterschieden von Emotionen, die familiäre Vertrautheiten schufen. Der Nutzen der Ehe bestehe, meint Augustinus, nicht darin, der Liebe eine Heimstatt zu geben, sondern darin, ungezügelte Lust zu bändigen und für die Zeugung von Nachkommen zu sorgen. Was als Liebe fälschlicherweise bezeichnet werde, sei in diesen Verhältnissen mit 341 Peter Brown, Augustinus von Hippo. Eine Biographie, Neuaufl. München 2000. 342 Augustinus, Epistulae, Bd. 3, hg. v. Alois Goldbacher, S. 54.

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sorgenvoller und furchtbehafteter Emsigkeit verbunden, stehe der Ruhe entgegen, ließe keinen Raum für die Muße, um Gott zu suchen. Die Liebe, die der Heilige Geist ausgieße, erfülle die Seele, die nach Ruhe strebe, und habe keinen Platz in Ehe und Familie, wie Augustinus im Werk Confessiones schrieb. Die Schrift stellt sein eigenes Leben als etappenweise Steigerung seines Glaubens dar, der aus den Niederungen von Gefühlen emporsteigt.343 Liebe scheidet Augustin auch aus großen sozialen Verbänden aus; vor allem existiert sie nicht in politischen Einrichtungen. Denn auch dort walteten Sinneslust, Sorge für den Leib, Verhaftetsein an Ernährung und Fortpflanzung, Kampf um den Erwerb von Gütern. Liebe entfalte sich hingegen vollkommen nur als Liebe von Gott zum Mensch und in umgekehrter Richtung und in weniger vollkommenen Weise, aber doch tatsächlich von ihm zu Gott. Liebe könne nur ohne Zwang gedeihen. »Liebe und tue, was du willst« fordert Augustinus in zwei Textstellen seiner Werke auf. Liebe in eine institutionelle Ordnung einzufügen, gar einer Zwangsgewalt gefügig zu machen, schied damit aus. Die Passage wurde oft im Mittelalter rezipiert und gedeutet; aber die Verbindung von Liebe und Freiheit hatte dabei keine Auswirkung auf die Bewertung der Macht, trug nichts zu ihrer Kritik bei, war vielmehr Aufforderung, von den Zwängen des weltlichen Treibens Abstand zu nehmen und Zuflucht in den Klöstern zu suchen.344 Diese Auffassung entsprach wohl auch der Intention von Augustinus. In der politischen Organisation sei, so schrieb er in dem Traktat Contra Gaudentium, die Liebe grundsätzlich verfehlt und nicht einmal anzustreben. Soll man die civitas lieben? Er verneint die Frage, denn nur die civitas Dei wecke die Liebe, ansonsten sei sie verfehlt und verfälscht, weil sie von der Liebe zu Gott fernhalte. Liebe in Verbindung zum Staat ist nicht allein irrelevant für die wahre Liebe; sie widerspricht ihr, sie gehört der fleischlichen Liebe an; die civitas terrena ist ihr Nährboden. Für den Staat zu wirken, sei zwar verdienstvoll, aber der Dienst müsse in Demut ausgeübt werden und dürfe nicht glauben machen, dass er der Seele einen Nutzen brächte.345 Wie soll die Liebe das Tun leiten? Die Formlosigkeit Gottes erschwere die Liebe zu ihm; die geistige Anstrengung, die sie verlange, habe ihn – Augustinus –, wie er in den Confessiones schreibt, zu stets neuen Stufen emporgehoben, die Erkenntnis und Liebe steigerten, aber immer nur unvollständige Annähe-

343 Augustinus, Confessiones, I, S. 21f., 91, 101; ähnliche Ausführungen in: Augustinus, De bono coniugali, hg. v. J. Zycha (CSEL 41), Wien 1900, S. 195, 26–211; David Herlihy, Medieval Households, Cambridge (Mass.) 1985, S. 24–27; Brundage, Law, S. 89–93. 344 Giles Constable, »Love and do what you will«. The Medieval History of an Augustinian Precept, Kalamazoo, 1999. 345 Augustinus, Contra Gaudentium (CSEL 53), Wien 1910, S. 201–274 S. 237f.: I, 37.

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rungen an Gottes Vollkommenheit erbrachten.346 Unter den Menschen sei die Liebe, die Augustinus meist als dilectio, mitunter aber auch als caritas und als amor bezeichnet347, entweder nur abgeschwächtes und abgeleitetes Erlebnis oder Präfiguration der unversehrten, von der Materie abgelösten Liebe. Die Zuwendung zu irdischen Wesen verlange zwar auch Liebe, aber diese Liebe sei minderwertig, weil die wahre Liebe die Abwendung von der Welt verlange. Durch den Sündenfall sei die Natur des Menschen grundlegend verdorben; deswegen könne der natürliche Impuls des Menschen, der ihn zum geselligen Leben dränge, ihn nicht mit Liebe erfüllen und aus ihr könne keine Liebe entspringen.348 Die Liebe erwachse nicht aus der natürlichen Veranlagung des Menschen, meint Augustinus. Sie bestehe nur dann, wenn sie von Gott eingesetzt und von ihm geboten sei. Die unabwendbar sündhaften Menschen könnten aber nicht oder nur unvollkommen dem Gebot Gottes folgen. Die weltabgewandte Liebe, wie von Augustinus empfohlen, hat Hannah Arendt in ihrer Dissertationsschrift als Hindernis zu einer politischen Tätigkeit des aktiven Bürgers bezeichnet. Augustinus habe Liebe zu einer a-sozialen Kraft gemacht.349 In den Gemeinschaften frommer Männer und Frauen, die nach Vollkommenheit im Streben nach Gott sich versammelten, nähere sich Liebe am meisten der von Gott gebotenen Liebe an, so Augustinus. Das Landgut Cassiciacum seines Freundes Verecundus am Comer See gilt ihm als der Sehnsuchtsort des geselligen Miteinanders, des Suchens nach Wahrheit und der Gewährung von Liebesdiensten, wo die Vorbereitung auf die bevorstehende Taufe und die Vergewisserung des rechten Lebens für das Heil der Seele stattfinden könnten. Es ist ein Ort, der dem otium, d. h. der Abkoppelung von dem Erwerbsstreben nach irdischen Gütern und von dem Kampf um Macht, gewidmet ist und einer tätigen Einwirkung in das politische Leben entgegensteht.350 In der Gemeinschaft gottergebener Männer und Frauen entfalt sich für Augustinus eine Freundschaft und auf ihr aufbauend eine Liebe, die emotionale Regungen unverfälscht, da nicht mit Selbstsucht und Lust vermischt, hervorbringt. Die Ausnahme erfordert 346 Augustinus, Confessiones, I, S. 121f., 134; Moore, Love, S. 31; Rosenwein, Emotional Communities, S. 45–51. 347 Die Begriffe wechseln unvermittelt und scheinen nicht mit einem feststehenden Inhalt verbunden zu sein; Etienne Gilson, The Christina Philosophy of St. Augustine, New York S. 311; Pierre Courcelle, Les confessions de saint Augustin dans la tradition litt8raire. Ant8c8dant et post8rit8, Paris 1963. Augustinus selbst erachtet eine Begriffsunterscheidung als nicht möglich; Augustinus, De civitate, S. 421–423. 348 Augustinus, De civitate, S. 414. 349 Hannah Arendt, Love and Saint Augustine, Chicago, London 1996, S. 36–43, 93–95, 100– 103, 109–111. 350 Augustinus, Confessiones, I, S. 103; Luc Verheijen, La rHgle du saint Augustin, Bd. 2: Recherches historiques, Paris 1967; Wilhelm Gerlings, Das Freundschaftsideal Augustins, in: THQ 101 (1981), S. 265–274; Melville, Welt, S. 20–23.

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die Abschottung von den weltlichen Einrichtungen, die Ansiedlung abseits großer menschlicher Gemeinschaften und die Intimität abgeschlossener Räume. Wie Augustinus in seinem Werk De civitate Dei schreibt, führten allein die von Gott zum ewigen Heil ausgewählten Menschen – die beati – ein Leben, das sie zu Freundschaften und Liebe zusammenführe. Aber erst in der jenseitigen Glückseligkeit gelangten sie zur letzten Erfüllung. Allein im Himmel gebe es eine soziale Ordnung, die vollkommen sei, weil von Liebe bewirkt und sie bewirkend.351 Anders als die Stoiker und als Cicero annahmen, entsprössen Liebe und Freundschaft nicht aus der menschlichen Natur oder einer tugendhaften Anstrengung, sondern seien Gaben Gottes und lenkten auf ihn. Obwohl die Liebe erst im Jenseits für die Erlösten in voller Geltung erfahren und gewährt werde, gebe es eine Liebe auf Erden, die aber in unvollkommener Form bestehe; sie habe Abstufungen, die sich der Vollkommenheit annäherten, sofern sie von Gott gelenkt und auf ihn gerichtet würden.352 Augustinus entfaltet in seiner Schrift De doctrina christiana eine Ordnung der Liebe, indem er sie an Umstände und Bedingungen bindet. Obwohl, wie er schreibt, alle Menschen in gleicher Weise zu lieben seien, sei es nicht möglich, für alle zu sorgen. So müsse jeder für jeden Sorge tragen, die durch die Verhältnisse des Ortes, der Zeit und irgendwelcher anderer Umstände wie durch ein Schicksal miteinander verbunden seien. Aus der Aussage folgt aber nicht, dass die Umstände in der Weise eingegrenzt wären, dass nur enge soziale Bindungen die Liebe vorsähen, und noch weniger, dass die Liebe die Sorge für den Menschen in politischen Verhältnissen ausschlösse. Auf die Frage, wer der Nächst sei, gibt Augustinus die Antwort, dass er potentiell jeder Mensch sei, der Kreis der von der Liebe Berührten also umfassend sei. Aber daraus folgt auch, dass keine politischen Institutionen die Liebe erfassen könnten, da die Potentialität ja die strikte Institutionalität hinter sich lässt.353 Die Liebe der Menschen ist für Augustinus in der Weise unvollkommen, da sie die Potentialität des Liebesgebotes nicht vollständig ausfüllen kann, also immer ein Rest der nicht realisierten Potentialität bleib. Augustinus meint, dass im Diesseits die Liebe, die die Menschen in ihrem Zusammenleben hegten, unumstößlich mit Makeln versehen sei. Deswegen könne aus ihr keine Eintracht 351 Augustinus, De civitate Dei, S. 682–685. 352 Augustinus, Confessiones, I, S. 38, 40; Augustinus, Epistulae, hg. v. Alois Goldbacher, Bd. 4, S. 593; Augustinus, De doctrina Christiana, S. 1–7; James McEvoy, Anima una et cor unum. Friendship and Spiritual Unity in Augustine, in: RTh 53 (1986), S. 40–92; Donald X. Burt, Friendship and Society. An Introduction to Augustine’s Practical Philosophy, Cambridge 1999; Martha C. Nussbaum, Upheavals of Thought. The Intelligence of Emotions, Cambridge 2001, S. 528–546, 552. 353 Augustinus, De doctrina Christiana, S. 22, 24 ; Bernard McGinn, The Foundations Mysticism. Origins to the Fifth Century, New York 1991, S. 234–236.

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und keine Gleichheit unter den Menschen im irdischen Leben entstehen. Einst, als der ordo naturalis bestanden habe, seien die Menschen zwar gleichgestellt gewesen, hätten keine Herrschaft und Unterordnung erfahren, seien von Furcht und Schrecken frei und in Liebe miteinander verbunden gewesen. Nichts hätten die Menschen fürchten müssen, kein Schmerz hätte sie beunruhigt. Die Liebe zwischen Adam und Eva im Paradies sei vollkommen gewesen. Nun aber, als Folge des Sündenfalls, gelte es, die natürlichen Neigungen durch die Verbreitung von Furcht und Schrecken zu zähmen, um die Menschen vor dem bösen Tun abzuhalten.354 Die Erörterungen von Augustinus zur Liebe sind nicht frei von Widersprüchen. Dies zeigt sich besonders im Werk Confessiones, einer Selbstanklage von Augustin hinsichtlich der von ihm verübten Verfehlungen und von ihm einst vertretenen Irrtümer und einer Darstellung seiner intellektuellen Anstrengungen zur Erlangung von richtigen Aussagen zur Religion. In diesem umfangreichen Werkt behandelt er auch das Thema von Liebe, Furcht und Schrecken. Auch im praktischen Leben sieht Augustinus eine Art von Liebe walten; ja für die Ausübung von Aufgaben in der menschlichen Gesellschaft erachtet er im zehnten Buch des Werkes Confessiones die Liebe als unerlässlich, die aber gleichwohl mit der Furcht gepaart und daher mit einem unabwendbaren Makel behaftet sei. Liebe und Furcht durchdrängten das gesellschaftliche Leben, das – darauf beharrt auch hier Augustinus – letztlich auf Falschheit beruhe und der wahren Glückseligkeit im Wege stehe. Im diesseitigen Dasein seien Liebe und Furcht gleichermaßen Kennzeichen einer lasterhaften Existenz, trügen nichts zur Erreichung des Seelenheils bei und seien von Gott nicht empfohlen oder gefordert.355 Weil, wie Augustinus auch in seiner Schrift De doctrina Christiana ausführt, die Liebe der Menschen als Liebe zu Höhergestellten, d. h. zu Gott und seinen Engeln, geboten sei, nicht aber die Liebe von Menschen zu Gleichgestellten und Untergebenen, sofern sie Vorteile gewährt und erhält, weil sie nichts anderes als Selbstliebe wäre356, verharrt sie außerhalb politisch einsetzbarer Beziehungen. Die Sehnsucht nach dem Glück verweist auf etwas, das jenseits des Staates steht. Dieser kann bestenfalls dem Frieden dienen, schlimmstenfalls ihn verhindern.357 Die Entkoppelung der wahren Liebe, die in Gott begründet sei, von der – nur scheinbaren – Liebe in der gesellschaftlichen und politischen Organisation und die Notwendigkeit, den Menschen Furcht vor Strafe einzuflößen, entziehen dem 354 355 356 357

Augustinus, De civitate, S. 425–431; Stürner, Peccatum, S. 69–73. Augustinus, Confessiones, I, S. 142f. Ders., De doctrina christiana, S. 18f. Ernst Cassirer weist darauf hin, dass nach Augustin menschliches Sein nur jenseitig verwirklicht werden kann und daher politische Einrichtungen nicht allein sekundär, sondern auch schädlich, gleichwohl notwendig sind; Cassirer, Myth, S. 77f.

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Staat und der Rechtsordnung eine religiöse Legitimierung, so dass dessen Entwicklung und Verfassung unerheblich für den Heilsplan Gottes sind und der Staat als Hort und als Spender der Liebe ausgeschieden ist. Damit wird freilich nicht die Existenzberechtigung des Staates und der weltlichen Herrschaft bestritten, negiert wird aber die Möglichkeit, dass eine in ihnen waltende liebende Zuneigung oder eine freundschaftliche Verbundenheit bestehen. Selbst die Ableitung menschlicher Gemeinschaft aus der rationalen Nutzenoptimierung weist Augustinus zurück. Die Emotionen von Furcht und Liebe seien nichts anderes als die pervertierten Antriebskräfte für die Machtausübung, unter deren Knute die Menschen auszuharren hätten. Sowohl Furcht als auch Liebe seien Werkzeuge der Unterdrückung. Daher sei der Schrecken, den die Machthaber verbreiten, unerlässlich und unwiederbringlich mit der menschlichen Existenz verbunden; aber er sei nutzlos zur Erreichung des einzig wichtigen und den Menschen angemessenen Zieles, das in der Annäherung des Menschen an Gott bestehe. Nicht einmal eine didaktische Anwendung des Schreckens sieht Augustinus im Werk Confessiones vor, genauso wenig eine Verwendung zur Verhinderung von Verbrechen. Er besteht darauf: Weltliche Herrschaft ist stets ungerecht, stets tyrannisch, stets eine Plage für die Menschen, sie verbreitet stets Schrecken. Dies hätten die Menschen auch nicht anders verdient, die als Nachfahren von Adam und Eva die Last ihrer Sünden abzutragen hätten. Auch nachdem die Kaiser den christlichen Glauben angenommen hätten, quälten sie ihre Untertanen, drohten ihnen mit Strafen, seien ungerecht in der Gewährung von Gunst, Belohnung und Vergeltung. Sie seien aber um nichts weniger Werkzeuge Gottes, der wolle, dass die Menschen leiden. Die Gnadenlehre Augustins, die einen willkürlich handelnden Gott in Szene setzt, der Erlösung nicht nach Verdienst der Menschen, sondern nach seinem Gutdünken gewährt und verweigert358, findet ihre Entsprechung in den unvorhersehbaren Aktionen und undurchschaubaren Beweggründen der Herrscher, unter deren Brutalität alle zu leiden haben. Der terror, den die Herrscher nach Gottes Willen verbreiten, dient nicht einmal der Erziehung, denn er hat prinzipiell keine Richtung und kein Ziel, ist ungeordnet und verfolgt gute wie böse Menschen, zwingt sie zu guten wie bösen Taten. Aber auch unter den strengen Schlägen Gottes, die er mittels der ungerechten Herrscher austeilt, solle der Gläubige die Barmherzigkeit Gottes loben und ihn lieben.359 Gegenüber seinem Kollegen, dem Bischof Julian von Aeclanum (ca. 386– ca. 455), rechtfertigt Augustinus das bedrängende Wüten Gottes gegen die Menschen, die schutzlos ihm und ihren weltlichen Herren ausgeliefert seien. Gegen den Einwand, dass Gott die Menschen liebe, sie durch den Kreuzestod 358 Flasch, Logik. 359 Augustinus, Confessiones, I, S. 49f.

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Christi zu Erlösung geführt habe und die Gerechten nicht ins Verderben führen werde, behauptet Augustinus die unterschiedslose Verdammung aller, von der Gott nur durch seine – durch nichts verdiente – Gnade die wenigen Berufenen ausnehme, niemanden aber vor der Gewalt der Mächtigen schütze.360 Gemäß dieser Sicht, die das Heil im Jenseits für so viele Menschen verschließt, kann im Diesseits noch weniger ein gutes Leben in Güte und Liebe vorgesehen sein. Die absolute Macht Gottes findet nicht allein ihr Analogon, sondern auch ihr Instrument in der absoluten Macht der Herrscher, deren Handeln nichts zum Wohlergehen der Menschen beitrage. Gott wie der Herrscher seien unberechenbar ; deren Ratschlüsse entzögen sich dem Wissen der Menschen, die ihnen unterworfen seien; sie brächten ihnen Furcht entgegen. Die Dichotomie von existentieller Notwendigkeit und ethischen Werten vermögen auch christliche Herrscher nicht aufzuheben, weil dem Staat ein inhärenter Fehler innewohnt, dem sogar durch individuelle Vortrefflichkeit des Staatslenkers nicht abgeholfen werden kann. Am ausführlichsten und mit historischen Beispielen belegt verneint Augustinus in seinem gegen Ende seines Lebens verfassten Werk De civitate Dei, dass der Staat dazu bestimmt wäre, Glück und Nutzen für seine Bürger hervorzubringen. Bestenfalls sei er moralisch indifferent, aber – realiter und geschichtlich verbürgt – sei er das Ergebnis verwerflicher Taten, wie die Beispiele der Herrscher der Vergangenheit zeigten, die der Autor ausbreitet. Die Liebe, durch die die civitas terrena und der Staat errichtet werde, sei Selbstliebe und verwerflich, denn sie führe zur Verachtung von Gott; die Liebe, die die civitas Dei schaffe, sei hingegen wahre Liebe, die zu Gott und zur Verachtung des eigenen Selbst hinführe. Die Gegenüberstellung der beiden Arten der Liebe – Augustinus verwendet für beide den Begriff amor – wird gedoppelt durch den Gegensatz der sozialen Organisationsformen: Im irdischen Staat unterwerfe der Herrscher, von der Lust zu herrschen angetrieben, die Völker ; hingegen gebe es im Gottesstaat den gegenseitigen Dienst, von der Liebe motiviert, der zwar ebenfalls eine hierarchische Relation der Befehlenden und der Gehorchenden schaffe, aber nicht durch ein Zutrauen auf die eigene Kraft, sondern auf die Kraft Gottes.361 Die Gegenüberstellung zeigt, dass Augustinus die Liebe nur in defizienter Form in die politischen Organisationen einsetzt und sie dann noch nicht einmal für befähigt hält, eine Gemeinschaft zu stiften, weil sie zur Verfolgung nur von individuellen Zielen führt. Die Liebe im Staat ist eingesetzt zur Unterwerfung. 360 Flasch, Logik, S. 199, 203, 213; Kurt Flasch, Natur oder Gnade. Augustinus von Hippo gegen Julian von Aeclanum, in: Kampfplätze der Philosophie. Große Kontroversen von Augustin bis Voltaire, hg. v. dems., Frankfurt a. M. 2008, S. 11–41. 361 Augustinus, De civitate Dei, S. 451: fecerunt itaque civitates duas amores duo, terrenam scilicet amor sui suque ad contemptum Dei, caelestem vero amor Die usque ad contemptum sui.

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Um freiwillige gegenseitige Zusammenarbeit zu ermöglichen, ist der Staat unfähig. Die berühmte Gleichsetzung des Staates mit einer Räuberbande haben schon Aristoteles und Cicero vorgenommen362, Augustinus nutzt sie aber in seinem Werk De civitate Dei anders als diese paganen Autoren nicht zu einer Mahnung, das Abgleiten in eine Räuberbande durch geeignete politische Maßnahmen zu verhindern. Bei Augustinus weist die Argumentation in eine andere Richtung: in eine Definition des Staates. Das pactum führe sowohl in der Räuberbande als auch im Staat die Menschen zusammen; die Aufteilung von Beute und die Gewährung von Vorteilen, die Aggression nach außen und die Aneignung fremden Gutes seien die konstitutiven Ordnungsprinzipien bei Räubern und Mächtigen gleichermaßen. Mehr als eine Analogie ist vorgestellt, sondern eine Gleichung. Aus dem pactum entspringt kein Recht und schon gar nicht Gerechtigkeit. Herrschaft und politische Organisation gelten als stets verwerfliche Einrichtungen und sind strukturell gleich. Freilich gilt die Verwerflichkeit staatlicher Herrschaft unter einer Voraussetzung, die Augustinus mit dem Zusatz iustitia remota formuliert. Ob dieser als ablativus absolutus formulierte Satzteil Kausalität, Kondition oder Einschränkung wiedergibt, wird offensichtlich zunächst in der Schwebe gehalten. Die Darstellung der vielen historisch verbürgten ungerechten Herrschaftsbildungen und Machtausübungen, der Gewalthandlungen und Schreckenstaten, die Augustinus in extenso ausbreitet, wobei er den eigenen Staat, das Römische Reich, nicht verschont – ganz im Gegenteil –, und seinen Dienern nur das Verdienst einer politischen und militärischen Tüchtigkeit zubilligt, lässt meines Erachtens den Schluss zu, dass er Räuberbande und Staat ohne Einschränkung in gleicher Weise abwertet und nach den gleichen Funktionsprinzipien geformt sieht. Aus dieser Gleichung gibt es kein Entrinnen.363 Gerechtigkeit kann es für Augustinus nur außerhalb des Staates geben, ist eine Tugend der Person, anders als bei dem von ihm zitierten Cicero, für den die Gerechtigkeit eine definitorische Bedingung für die Existenz des Staates ist.364 362 Aristoteles, Ethica Nicomachea, 1129b; Cicero, De re publica, S. 258. 363 Augustinus, De civitate, S. 101f.; Catherine Coneybeare, Terrarum orbi documentum: Augustine, Camilus and Learning from History, in: Augustine Studies 30,2 (1999), S. 59–74; Miikka Ruokanen, Theology of Social Life. Augustine’s De civitate Dei, Göttingen 1993; Fortin, Justitice, S. 41–62; Donald X. Burt, Cain’s City. Augustine Reflections on the Origins oft he Civil Society, in: Augustinus: De civitate Dei, hg. v. Christoph Horn, Berlin 1997, S. 195–210; Christian Thorau, Zwischen Rhetorik und Philosophie. Augustins Argumentationstechnik in »De civitate Dei« und ihr bildungsgeschichtlicher Hintergrund, Berlin, New York 2006, S. 251–254; Matthias Mayer, Augstinus’ De civitate Dei. Philosophie der Geschichte oder Geschichte der Philosophe, in: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 61 (2014), S. 412–429; Thielen, Friede S. 539. 364 Zur Rezeption der Gerechtigkeitskonzeption von Cicero durch Augustinus und zu dessen Distanzierung: Johannes Brachtendorf, Augustinus. Die civitas Dei und der gerechte Staat, in: Philosophie, Politik und Religion, S. 39–54, S. 46.

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Die Menschen zu friedlichem Handeln anzuleiten, ist nicht die Aufgabe des Staates. Augustin verweist auf Kain, den Sohn von Adam und Eva: Er sei der erste von Menschen gezeugte Mensch und er stehe am Beginn von weltlichen Reichen, die sich alle von Gott abwendeten, die Untertanen knechteten und die Menschen in Schrecken versetzten, damit die Herrschaft umso wirksamer werde.365 Staaten könnten, wie Augustinus meint, auch ganz ohne die Verehrung von Gott oder von Göttern existieren. Mit der Entstehung, dem Aufstieg, dem Fall und dem Untergang von Reichen hätten die heidnischen Götter nichts zu schaffen. Der christliche Gott lenke zwar die Geschicke der Menschheit, aber er garantiere weder die Existenz noch die gute Verfassung von Staaten.366 Die Säkularisierung des Staates, die Augustinus durch die Negation heilsgeschichtlicher Implikation vornimmt, entzieht ihm Legitimität, deren Defizit auch nicht durch die Herrschaft durch Christen behoben wird. Das Fehlen von Recht und Gesetz, im ersten Buch der Politik von Aristoteles als Kennzeichen des Menschen außerhalb verfasster Gemeinschaft vorgeführt367, wird von Augustinus umgedeutet und als Kennzeichen der verfassten Gemeinschaft erachtet. Er erklärt, Gott habe den Menschen zum Herrn über die Tiere, die vernunftlosen Geschöpfe, gemacht, ihnen aber zunächst keine Macht über andere Menschen gegeben. Die Menschen seien ursprünglich von Liebe erfüllt gewesen. Die erste Sünde habe diese Liebe beendet. Es gebe aber Ausnahmen. Die gerechten Patriarchen der Vergangenheit – immerhin, sie lebten nach dem Sündenfall – seien mehr zu Hirten über das Vieh als zu Königen über Menschen eingesetzt. Aber dies gelte nur für eine spezifische historische Situation, die unwiederbringlich vergangen sei und nicht wiederhergestellt werden könne. Nach der Zeit der Patriarchen verbreiteten die Herrscher als Inhaber und Exekutoren der Zwangsgewalt Schrecken über die Menschen. Die Züchtigung der Bösen verlange, die Menschen bereits mit zeitlichen Strafen zu schlagen. Dies sei die verdiente Folge der ersten Sünde und des von ihr angestoßenen, nicht abbrechenden und sich verstärkenden Niedergangs der Menschheit. Selbst eine milde Herrschaft, wie einst von den biblischen Patriarchen ausgeübt, sei verwirkt. Nicht die Natur, sondern die Schuld habe, so Augustinus, Herrschaft und Staat hervorgebracht.368 Dass in gleicher Weise auch die Guten bestraft seien, ist für Augustinus unumgänglich und hinzunehmen, weil auch diese das zeitliche Leben liebten, zwar weniger als die schlechten Menschen, aber eben auch, so dass diese nicht weniger als jene gezüchtigt werden müssten, um sie so wie alle zur Besserung zu führen, was aber zu keinen Vorteilen im Diesseits führe, 365 366 367 368

Augustinus, De civitate Dei, S. 453f. Ebda., S. 103f. Aristoteles, Politik, 1253 a. Augustinus, De civitate, S. 400, 682f.

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sondern nur zur Eindämmung des Bösen, um die Chancen auf das jenseitige Heil zu erhöhen. Die Leiter der Gemeinwesen seien die Wächter des Volkes, die die schlimmen Taten nicht übersehen, sondern strafen sollten. Selbst in einem Staat, in dem die Sitten nicht verdorben gewesen seien, so wie während der Zeit der römischen Könige in der Frühzeit römischer Geschichte, sei es notwendig gewesen, Furcht einzusetzen. Die Furcht werde durch tatsächliche Gewalt erzeugt. Die Grausamkeit der Herrscher diene der beständigen Verbreitung der Furcht, die nicht allein auf der Erwartung eines üblen Ereignisses beruhe, sondern stets durch dessen aktuelles Eintreten wachgehalten werden müsse. Drückende Steuern und Konfiskationen, Vertreibungen und Zwangsrekrutierungen für das Heer, kriegerische Bekämpfung der Rebellen und deren grausame Bestrafung erachtet Augustinus als unumgängliche Maßnahmen, durch die die Herrscher die Untertanen in Furcht versetzten und sie sich gefügig machten.369 Die Strenge, mit der die Herrscher harte Gesetze erließen und deren Übertretung verfolgten, könnten sie mit Milde nur wenig verringern. Güte und Freigebigkeit würden sie nur opportunistisch einsetzen, um die Untertanen nach ihrem Willen zu lenken. Aber einen Anspruch auf die wohltätigen Einwirkungen hätten die Untertanen nicht. Milde der Herrscher könne stets in deren Grausamkeit umschlagen, Zuneigung in Furcht, Liebe in Schrecken.370 Die Furcht sei notwendig, um vor dem Bösen abzuschrecken. Augustinus meint, dass gute Wirkungen aus ihr entspringen könnten. Zitate aus Paulusbriefen (Phil 2,12; Röm. 11,20; 2 Kor. 11,3) dienen ihm als Argument: »Schaffet eure Seligkeit mit Furcht und Zittern« lautet die Aufforderung.371 Damit schlägt er eine Brücke zur Furcht als politisches Instrument. Ein Herrscher, der Gerechtigkeit anstrebe, könne die Einflößung von Furcht durch Fürsorge, ja gar Liebe rechtfertigen; deswegen sei es auch angebracht, ihre Ausübung durch Barmherzigkeit zu lindern, aufzuheben, freilich nicht.372 Für die gläubigen Christen bleibt das Handeln in den staatlichen Einrichtungen, der Dienst für die Gemeinschaft trotz des Gebrauchs von Furcht und Schrecken ein Feld der Pflicht und der Bewährung. Wo aber für die Heiden der Lohn für ihre Verdienste der Ruhm sei, der ihnen noch mehr Macht und Einfluss beschere, sei er für die Christen das ewige Heil, die die göttliche civitas gewähre.373 Es gelte zu unterscheiden: Nicht das Funktionieren des Staates fördere das Seelenheil, sondern der Dienst für sein Funktionieren könne dazu führen. Augustinus rechtfertigt also das Handeln selbst, nicht indes sein Ergebnis. Die Existenz von gerechter weltlicher Herrschaft reserviert Augustinus in dem Werk 369 370 371 372 373

Ebda., S. 10, 48–50. Ebda., S. 160f. Ebda., S. 422f. Ebda., S. 160. Ebda., S. 149.

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De civitate einer weit zurückliegenden, nicht mehr wiederholbaren Vergangenheit und beschränkt sie auf ein kleines soziales Tätigkeitsfeld: auf die Hausväter der Vorfahren; ob damit erneut die Patriarchen des Alten Testaments oder die vorbildlichen Römer der frühen Republik gemeint seien, bleibt dahingestellt. Sie seien bestrebt gewesen, ihre eigenen Kinder und ihre Knechte zur Verehrung und zur Liebe Gottes und der Götter zu führen, so dass sie auch mit ihnen in Liebe verbunden gewesen seien. Augustinus erachtet die Macht des Vaters noch als am günstigsten an, Liebe bei seinen Untergebenen zu erlangen. Aber auch die Macht der Hausväter sei darauf angelegt, zu strafen: Denn besser sei es, durch Worte oder Schläge die Ordnung des Friedens zu erhalten, als durch Schonung eines Einzelnen das Ganze der Gemeinschaft zu gefährden. Aber nur eine im Kleinen bestehende Hausgemeinschaft, die an Gott glaube, könne liebende Eintracht errichten. Eine Voraussetzung also gibt es: den Gottesglauben. Ohne ihn möge die Zusammenarbeit in der verfassten Gemeinschaft nützlich, für den Genuss irdischer Güter günstig sein, aber nicht zur Eintracht führen.374 Von der Verurteilung der weltlichen Herrschaft im Staat setzt Augustinus die Herrschaft im Haus insofern ab, als er diese Einrichtung, sofern von Christen ausgeübt, näher an Gottes Heilsplan rückt. Zum Abschluss des fünften Buches meint Augustinus, die bisherige Argumentation scheinbar revidierend, es könne eine Verwirklichung von idealen Herrschern geben. Augustinus weist auf einige christliche Kaiser hin, ausdrücklich nicht auf alle, vielmehr nur auf die Kaiser Konstantin und Theodosius, denen es gelungen sei, das Bekenntnis zum christlichen Glauben mit dem Sieg über ihre Feinde und mit einer langen Herrschaft zu verbinden. Unter den vielen ihrer Tugenden nennt er die Liebe, die sie Gott und dem ewigen Heil erwiesen hätten; die Liebe zu den Menschen und Untertanen erwähnt er nicht. Das Streben der Herrscher entfernt Augustinus von ihrer irdischen Herrschaft. Die civitas Dei soll hingegen das Ziel sein, wo keine Rivalen lauerten und keine Gefahren drohten. Augustinus bezeichnet die von ihm beschriebenen Herrscher als christlich und heilig; aber ausdrücklich verweist er darauf, es bestünden nur Erwartungen und Hoffnungen auf die Existenz weiterer solcher Herrscher. Eine Garantie schließt er aus; auch das Bekenntnis zum Christentum vermag sie nicht zu versprechen. Augustinus schließt an die früheren Ausführungen an, weil er beweisen will, dass die christliche Religion politischen Erfolg zwar nicht verbürge, aber auch nicht verhindere. Aber dieser sei auch den ungerechten und schlechten Herrschern möglich. Gott verleihe die Güter des irdischen Lebens, die Ehrerweise und die Reichtümer den guten wie den bösen Menschen. Eine religiöse Sinnstiftung und Legitimierung weltlicher Herrschaft als Einrichtung

374 Ebda., S. 683.

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folgt aus dem Lob der beiden Kaiser nicht. Ihr Verdienst entspringt ja nicht dem politischen Handeln, sondern ihrer Gottesliebe.375 Augustins Texte bildeten Grundlagen für die Ausgestaltung des klösterlichen Ideals, der Konzeption des Staates und des philosophischen Denkens im Mittelalter. Die weitreichende Wirkung, die sein Werk ausübte, formte Konzepte sowohl der Deutung von Gefühlen als auch von politischen Organisationen.376 Augustin entwertete Herrschaft und Staat, aber er de-legitimierte nicht deren Existenz. Angesichts der Katastrophen, von denen das Römische Reich heimgesucht wurde, und nachdem sogar die Stadt Rom von den Westgoten im Jahre 410 erobert und geplündert wurde, versuchte er der Kritik heidnischer Autoren entgegenzutreten, die den Christen vorwarfen, den Ruin des Reiches verursacht zu haben. Augustinus vertrat die Auffassung, das Schicksal aller Herrschaftsreiche, auch des römischen, sei für den Fortgang der eigentlichen, für die Menschheit wichtigen Geschichte, der des Weges zum Heil, unerheblich.377 In späteren Epochen wurde indes die schroffe Gegenüberstellung von civitas Dei und civitas terrena nicht akzeptiert, vielmehr eine Einbindung auch der weltlichen Herrschaft in eine von Gott gelenkte Geschichte herausgestellt. Die Unterwerfung unter Herrschaft und Macht bedurfte einer Begründung, die die Brücke zur religiösen Erlösungserwartung nicht abbrach und den Herrscher deutlich mit religiösen Aufgaben ausstattete. Der weltlichen Herrschaft haben mittelalterliche Autoren Aufgaben des Schutzes der Kirche, der Gläubigen, ja des Glaubens selbst anvertraut. Einem ursprünglich ablehnenden Verständnis des Staates wurde apologetische Intention – zugunsten weltlicher Herrschaft – abgerungen. Damit war aber der Diskussion, in welcher Weise Liebe und Furcht für die Sicherung von Herrschaft einzusetzen seien, eine neue Wendung gegeben: Der negativen Konnotierung der Furcht als ein dem Bösen verhafteter, wenn auch notwendiger Bestandteil der Herrschaftsausübung konnte und sollte eine positive Wertung entgegen gestellt werden, die die Zähmung der schlechten Handlungsmotive und die Bestrafung von Übeltätern als wichtige Aufgabe jedes Herrschers ansah und diese als von Gott verliehenes Amt erachtete, das insbesondere beim Schutz der Kirche und bei der Verteidigung des rechten Glaubens zum Einsatz kam. Dem Mittelalter stand ein heterogener Traditionsbestand, den Augustinus grundlegte, zur Verfügung.378 375 Ebda., S. 160–163. 376 Henri Irin8e I. Marrou, Saint Augustin et l’augustinisme, Paris 1995; Robert Dodaro, Augustine and the Possibility of Political Conscience, in: Augustinus. Ethik und Politik. Zwei Würzburger Augustinus-Studientage, hg. v. Cornelius Petrus Mayer, Würzburg 2009, S. 223–242. 377 Peter Brown, Augustine of Hippo. A Biography, Berkeley 2000; Th8rHse Fuhrer, Augustinus, Darmstadt 2004. 378 Hans-Werner Goetz, Das Geschichtsbild Ottos von Freising. Ein Beitrag zur historischen

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Die Heilsnotwendigkeit von Staaten wurde im hohen Mittelalter an die Prophezeiung Daniels von der Abfolge von vier Weltreichen gekoppelt, deren Existenz vorauszusetzen und gerechtfertigt sei, bevor die Zeit des Weltengerichtes anbrechen würde.379 Die civitas Dei trat in die gegenständliche Welt der Herrschaft ein. Diese war an die Kirche anzubinden und gewann so religiöse Legitimität. Die Rezeption von Augustins bahnte Wege, die nicht deckungsgleich mit seinen eigenen Aussagen sein mussten. Es war eine produktive Rezeption, die Argumente aufgriff, sie umformte und neuen Bedingungen anpasste. Diese Bedingungen bestanden in einer christlich legitimierten Herrschaft und Herrschaftspraxis im Mittelalter.

5.

Schrecken des Staates zur Verteidigung des Glaubens: Augustinus

Sah aber Augustinus nicht schon selbst das Römische Reich als nutzbringend für die christliche Religion an? Widersprüche taten sich auf. Nicht erst gegen Ende seines Lebens formulierte er die Aufforderung, Zwang und Schrecken, die die Einrichtungen des römischen Reiches ausübten, für die Kirche und für den christlichen Glauben einzusetzen. Aus diesem Einsatz konnte auch Legitimität für die Herrschaft abgeleitet werden. Wie er in mehreren Briefen ausführt, empfiehlt er die Anwendung staatlicher Zwangsgewalt gegen die Häretiker. Ausdrücklich korrigiert er dabei seine frühe Auffassung, niemand dürfe zur Einheit mit Christus gezwungen werden, vielmehr seien mit dem Wort und im Gespräch die Irrenden zu bekämpfen.380 Die gerade in Nordafrika weit verbreiteten, als Häretiker angesehenen Gruppen forderten einen hohen intellektuellen Einsatz von Augustinus heraus, um ihnen argumentativ zu begegnen. Aber damit beließ er es nicht. Gegen den Schrecken der häretischen Donatisten und der von ihnen unterstützten Aufständischen solle, hatte er zunächst gemeint, die Kirche nicht den Schrecken der staatlichen Gewalt erbitten.381 Denn das Handeln in der Politik – ausgeübt sowohl von den Beamten des Staates als auch von seinen Gegnern – war für Augustinus stets mit Schrecken befleckt, ja in seiner institutionellen Perpetuierung mit dem, was als Terror bezeichnet werden Vorstellungswelt und zur Geschichte des 12. Jahrhunderts (Archiv für Kulturgeschichte, Beiheft 19), Köln 1984; Ders., Geschichtsschreibung und Geschichtsbewusstsein im hohen Mittelalter (Orbis medieavalis. Vorstellungswelten des Mittelalters 1), Berlin 2008. 379 Werner Goez, Die Danielrezeption im Abendland. Spätantike und Mittelalter, in: Europa, Tausendjähriges Reich und Neue Welt. Zwei Jahrtausende Geschichte und Utopie in der Rezeption des Danielbuches, Freiburg (Schweiz), Göttingen 2003, S. 176–196. 380 Augustinus, Epistulae LVI–C, nr. CCIII, S. 179. 381 Augustinus, Epistulae I–LV, nr. XXXIV, S. 71f.

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kann, behaftet, den die Kirche nicht verwenden dürfe. Die Veränderung der Auffassungen erfolgte schrittweise und kann nicht mit einem präzisen Datum versehen werden. Denn schon vor dem Jahre 404, als Augustinus frustrierende Erfahrungen hinsichtlich der Konversion von Ketzern machte, empfahl er Zwangsmaßnahmen gegen sie, sah er vor, Gewalt, Zwang und Abschreckung gegen Glaubensfeinde und Verbrecher einzusetzen.382 Mit Gewalt gegen sie vorzusehen, gebiete die Not, die die allgemeine Geltung der Duldung gegenüber dem Irrtum zwar nicht außer Kraft setze, aber Ausnahmen vorsehe, die die Gewalt zum Schutz nicht der Rechtgläubigkeit, wohl aber der Rechtgläubigen rechtfertigten. Bereits in der um das Jahr 395 verfassten Exegese zur Bergpredigt verteidigt Augustinus die Verhängung von Strafen, einschließlich von Todesstrafen, um die Gläubigen vor ihren Feinden zu schützen und diese von weiteren Abirrungen abzuschirmen. Mit dem Tod würden die Ketzer davor bewahrt, weitere Verbrechen zu begehen, und den Unschuldigen werde eine Furcht eingeflößt, die sie davon abhalte, schlecht zu handeln. Elias und die Apostel hätten Strafen verfügt und Furcht verbreitet, was – sofern dies aus Liebe geschehe – gerechtfertigt sei. Augustinus räumt nur ein, Furcht sei im Neuen Testament seltener als im Alten Testament empfohlen. Seien einst durch die Furcht die Unfreien in Knechtschaft gehalten gewesen, so seien nun die Freien in der Liebe gestärkt. Ein Argument, auf Furcht zu verzichten, ist die Gegenüberstellung aber nicht.383 Furcht und Schrecken gelten als die geeigneten Mittel, die wahre christliche Lehre gegenüber Heiden und Ketzern durchzusetzen. Das Thema christlicher Gewalt ist gründlich untersucht worden384, muss also hier nicht erneut erörtert werden. Zu untersuchen sind indes die Hinweise zu Emotionen. Augustinus behandelt die schwierig einzuhaltende Balance zwischen Liebe und Schrecken eingehend in einem 403 verfassten Brief an Bischof Vincenz von Cartenna, der einer donatistischen Splittergruppe angehörte und die Verfolgungen gegen sie beklagte. Augustinus räumte ein, früher Zwangsgewalt gegen die Ketzer abgelehnt zu haben. Nun aber halte er den Schrecken gegen sie für erforderlich. Er lenke die Aufmerksamkeit der Seelen auf die Wahrheit. So wirke der Schrecken zum Wohl der Abtrünnigen und werde aus Liebe ausgeübt. Würde 382 Siehe hingegen Schreiner, Duldsamkeit, S. 165–175, der eine zeitlich limitierte Befürwortung von Augustinus hinsichtlich von zeitlich limitierten Gewaltmaßnahmen gegen Häretiker annimmt. 383 Augustinus, De sermone Domini in Monte, hg. v. Almut Mutzenbecher (CCSL 35), Turnhout 1967, S. 73–75; zur Abfassungszeit der Schrift: Naoki Kamimura, Augustine’s Scriptural Exegesis in De sermone Domini in Monte, in: Augustinian Studies 35 (2004), S. 421–432. 384 Zur religiös motivierten Gewalt von Christen in der Spätantike: Michael Gaddis, There is no Crime for those who have Christ. Religious Violence in the Christian Roman Empire, Princeton 1999; Thomas N. Sizgorich, Violence and Belief in Late Antiquity, Philadelphia 2009; Buc, Heiliger Krieg, bes. S. 18f., 100–108 zur späten Antike.

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indes der Schrecken verbreitet, ohne die Häretiker zu belehren, so erschiene dies als unrechte Beherrschung; würden sie indes ohne Schrecken belehrt, so würden sie zu langsam auf den rechten Weg zurückgeführt werden.385 Der Schrecken war als Beschleunigungsinstrument eingesetzt. Aber das dem Schrecken innewohnende Übel war nicht abzustreifen. Er sollte nicht isoliert sein. Augustinus verlangte, ihn zu kombinieren: mit Ermahnung, Belehrung und mit Liebe. Der Schrecken galt für Augustinus vor allem gerechtfertigt als Reaktion. Er sei die Antwort auf den Schrecken, den die Ketzer verbreiten würden. Schrecken und Gegen-Schrecken wurden kombiniert. Der Schrecken des Staates, den Augustinus empfiehlt, ist für ihn die Antwort auf den Schrecken der Häretiker, die sie über die guten Christen nicht anders als einst die römischen Imperatoren gegen die Märtyrer verübten, also einen permanenten, institutionell verfestigten Schrecken.386 Die imaginierte Verlängerung der Verfolgungszeit der Christen und das prolongierte Martyrium der Rechtgläubigen rechtfertigen eine reziproke Grausamkeit. Ausdrücklich behauptet Augustinus, ein similis terror wüte gegen die Rechtgläubigen, einst verübt durch die Heiden, jetzt durch die Häretiker, die sich wie Räuber aufführten, sich bewaffneten, Priester überfielen, diese nackt, verletzt oder gar halb tot zurückließen und schrecklich (terribilite) handelten nicht allein gegen den Frieden in der Kirche, sondern gegen die Gesamtheit des Menschengeschlechts. Die Donatisten, die in Nordafrika sich sowohl gegen die nach der Auffassung Augustins rechtgläubige Kirche als auch gegen die staatlichen Einrichtungen widersetzten und die gegen Großgrundbesitz, Steuerbelastung und kirchliche Abgaben agierten, sollte die volle Wucht der staatlichen Repression treffen.387 Zum Schutz vor dem Hass und den Untaten der Glaubensfeinde dürften die Gläubigen die staatliche Gewalt anrufen, meint Augustinus in einem weiteren Brief.388 Gewalt und Schrecken empfiehlt Augustinus; er sieht ihren Einsatz mittels der staatlichen Institutionen vor. Ausführlich rechtfertigte Augustinus die Repression gegen die Häretiker auch in dem Brief an einen Freund namens Bonifacius. Zwar habe die Kirche Verfolgungen zu erdulden, nicht sie auszuüben. Aber er stellte dieser – wie er schrieb – richtigen Aussage eine andere, nicht minder von ihm für berechtigt erachtete Auffassung entgegen, dass nämlich die Kirche befugt sei, ihre Gegner heimzusuchen, sie gewaltsam zu bekämpfen. Sarah, die Gattin von Abraham, 385 Augustinus, Epistulae (CSEL 34/2), Nr. XLII, S. 445–496, S. 445–448; Anna Hofgrefe, Umstrittende Vergangenheit: Historische Argumente in der Auseinandersetzung Augustins mit den Donatisten (Millenium-Studien 24), Berlin, New York 2009, S. 125. 386 Augustinus, Epistulae I–LV, nr. XXXIII, S. 67. 387 Augustinus, Contra Cresconium, S. 453; Albert C. De Veer, L’8tat de la legislation antidonatiste dans le Contra Cresconium, in: Bulletin Augustinien 31 (1968), S. 810–814; Ernst Ludwig Grasmück, Coercitio. Staat und Kirche im Donatistenstreit, Bonn 1976. 388 Augustinus, Epistulae I–LV, nr. 34, S. 402–404.

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symbolisiere die Kirche. So wie Sarah ihre Magd verstieß, sie in Trauer stürzte, so müsse die Kirche ihre Feinde verstoßen und bedrängen. Einer der Psalmen gebiete, die Feinde zu verfolgen, ihnen Zwang aufzuerlegen und davon nicht abzulassen, bis sie besiegt seien. (Ps. 17,38). Diese Worte, die König David gesprochen habe, zitiert Augustinus, um alle Christen zum Kampf gegen die Häretiker aufzufordern. Der furor der Häretiker wüte; ihm müsse Einhalt geboten werden. Mit schreckenerregender Gewalt und mit grausamem Wüten hätten sie die Bischofskirchen erstürmt und die Altäre verwüstet. Eine ungerechte Verfolgung verübten die Gottlosen gegenüber der Kirche Christi. Eine gerechte Verfolgung sei es hingegen, wenn die gläubigen Christen sie den Unfrommen zufügten: Est persecutio iniusta, quam faciunt impii Ecclesiae Christi; id est iusta persecutio, quam faciunt impiis Ecclesiae Chrsti. Derjenige sei selig, der Verfolgung wegen der Gerechtigkeit erleide, derjenige aber armselig und verworfen, der die Verfolgung wegen der Ungerechtigkeit ohne Gegenwehr hinnehme. Die Christen kämpften aus Liebe, die Gottlosen aus Grausamkeit: Proinde ista persequitur diligendo, illi saeviendo. Die Kirchen übten Gewalt aus, um zum ewigen Heil zu führen; die Gottlosen hingegen, um Gutes mit Bösem zu vergelten. Es sei nicht gut, den Knecht durch Worte anzuleiten; denn selbst wenn er sie verstehe, widersetze er sich ihnen. Wo die Milde des Wortes nichts bewirke, wo die Feinde des Glaubens die Wahrheit bekämpften, müsse mit der Geißel geschlagen und mit ihr Schrecken ausgeübt werden. Die Berechtigung des Schreckens liegt im guten Zweck begründet. Er ist zudem gerechtfertigt durch seine Entstehung: durch die Liebe.389 Diese Abfolge von Liebe zu Schrecken und zu Herrschaft hebt den Antagonismus zwischen Liebe und Schrecken auf und führt sie in eine Relation der konsekutiven Kausalität. Aber es sollte nicht die »Kirche« sein, die den Schrecken gegen die Ketzer verbreiten sollte – wie Philippe Buc schrieb –, vielmehr war diese Aufgabe der weltlichen Herrschaft überlassen. Der von Buc als Beleg herangezogene Brief sieht ausdrücklich und nachdrücklich vor, dass der christliche und fromme Kaiser die Erlaubnis habe, den Schrecken zu verbreiten, damit er den Irrtum der Unfrommen korrigiere und diejenigen, die gegen Christus handelten, zur Einheit mit den Rechtgläubigen führe: Hinc ergo factum est, ut imperator religiosus et pius (…) illius impietatis errorem omnino corrigere et eos, qui contra Christum Christi signa portavarent, ad unitatem catholicam terrendo et cohercendo redigere (…) licentiam habet.390 Augustinus bestand in mehreren seiner Briefe darauf, die Hilfe der Amtsleute des Reiches anzufordern, um die Christenheit zu schützen. Deren Bedrängnis verlange, gewaltsam gegen die Feinde des Glaubens vorzugehen. Augustinus 389 Augustinus, Epistulae, Bd. 4, Nr. 185, S. 1–44, S. 7f., 21f., 25; Joseph Leclerq, Geschichte der Religionsfreiheit im Zeitalter der Reformation, Bd. 1, Stuttgart 1965, S. 122. 390 Augustinus, Epistulae, Bd. 4, Nr. 185, S. 1–44, S. 27; Buc, Heiliger Krieg, S. 188f.

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klagte: »Die Abtrünnigen von der Kirche verharren in ihren Ungerechtigkeiten. Mit dem Feuer der Liebe muss ihnen Einhalt geboten werden.« Mit Feuer war unmissverständlich Gewaltanwendung gemeint. Wie widerstrebende Kranke und wie ungezogene Schüler seien die Häretiker zu bezwingen. Der terror legum müsse gegen diejenigen wüten, die sich wie Geschwüre auf der Erde ausbreiteten; die Verteidiger des Glaubens sollten sich nicht scheuen, wie Jäger, also mit Gewalt, vorzugehen, nicht wie Fischer, also wie Friedfertige. Die Feinde der Kirche sollten sich nicht darauf verlassen, dass die Nachfolger der Apostel niemanden schlügen. Nein, wie Jäger sollten die Frommen die Abirrenden in den Wäldern, wo sie sich versteckten, stellen und sie unter Einsatz von vielen Schrecken – Augustinus verwendet den Plural terrores – in ihre Fallen treiben.391 Der Schrecken sollte nicht einmal mehr allein von Personen ausgehen. Er war in Institutionen eingebunden. Gesetze sollten ihn verbreiten.392 Bis auf die Wurzel sei der Irrtum auszurotten; gegen das Verbrechen (crimen) sei vorzugehen; und dies nicht, um den Glauben rein zu halten, auch nicht in erster Linie, um die Häretiker zur Umkehr zu zwingen, sondern um die rechtgläubigen Christen vor Verirrung zu bewahren: pro utilitate populorum.393 Der Terminus, entnommen aus dem politischen Sprachgebrauch, zeigt die Nähe von Ketzerbekämpfung und staatlicher Gewalt. Deutlich erscheint die Verbindung des Schreckens mit dem Staat auch in der Formulierung des terror legum, den gegen die Irrenden einzusetzen auch zu deren Vorteil geschehe, was sie, so meinte Augustinus, sogar im Nachhinein einsähen.394 Das Heil erwächst aus dem Schrecken: Ubi terror, ubi salus – so die berühmt-berüchtigte Formulierung von Augustinus in einer Predigt, die gegen die Donatisten gerichtet ist. Aber hier gibt es noch die Einschränkung, dass der Zorn gegen den Irrtum und ausdrücklich nicht gegen den Menschen zu richten sei: Ecce saviens non in hominem, sed in errorem.395 Die Gewalt und der Schrecken waren an den Staat delegiert. Dieser sollte sich mit ihnen beflecken, die Kirche indes sich rein halten. Schrecken zugunsten des wahren Gottesglaubens war verwirklicht durch den Schrecken, den die weltliche Herrschaft ausübte. Aber nicht die weltliche Herrschaft sollte nach der Vorstellung von Augustinus der Nutznießer des Schreckens sein. Augustinus räumte der weltlichen Gewalt nicht einmal eine allgemeine Legitimität ein, sondern 391 Augustinus, De utilitate ieiunii, in: Ders., Opera 13,2, hg. v. Michael P. J. Van den Hout u. a. (CCSL 46), Turnhout 1969, S. 229–241, S. 239f. 392 Augustinus, In Iohannis Evangelium, hg. v. Radboad Willems (CCSL 36), Turnhout 1954, S. 102f. 393 Augustinus, Contra Cresconium, in: Scripta contra Donatistas, pars II, hg. v. Michael Petschenik (CSEL 52), Wien 1909, S. 323–582, S. 372. 394 Augustinus, Epistulae LVI–C, S. 462f.; eine andere Auffassung bei Schreiner, Duldsamkeit, S. 165–175, der eine zeitlich limitierte Befürwortung von Augustinus hinsichtlich von zeitlich limitierten Gewaltmaßnahmen gegen Häretiker annimmt. 395 Augustinus, Sermon 279, in: PL 38, Paris 1850, Sp. 1275–1280, Sp. 1277.

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lediglich eine spezielle, soweit die Gewalt dem Schutz der Rechtgläubigkeit diente. Nicht dem Staat als Institution, sondern dem Staat als Instrument verlieh Augustinus einen religiösen Wert. Weiterhin galt, dass der Staat faktisch und notwendig sei, zugleich gewalttätig, Schrecken erregend, die Menschen bedrückend, und gerade deswegen nützlich sein könne, um eine Aufgabe auszuüben, die aber nicht der Staat festlegte und ihm nicht zugute kommen sollte, sondern deren Gewinn außerhalb von ihm lag. Dennoch hat Augustinus die Institutionen des Römischen Reiches mit Legitimität ausgestattet. Sie entsprang zwar nicht der Gestaltung der irdischen Angelegenheiten, beruhte aber auf Handlungen und ihren Ergebnissen. Die mittelalterliche Rezeption des augustinischen Briefes übernahm häufig die Argumentation, dass der Schrecken von der Liebe abgeleitet sein sollte, zog allerdings eine andere Schlussfolgerung, die die Gesamtheit der weltlichen Herrschaft mit religiös gerechtfertigter Gewalt ausstattete, die nicht auf die Ketzerbekämpfung beschränkt ist, so wie dies im 9. Jahrhundert der westfränkische Erzbischof Hinkmar von Reims ausdrücklich begründete.396 Aber in seinem Spätwerk De civitate Dei kam Augustinus wieder auf die früher von ihm favorisierte Aussage zurück, von einer körperlichen Züchtigung der Ketzer abzusehen, getreu der Gesamtkonzeption des Werkes, die die Unvollkommenheit jeder weltlich-herrschaftlichen Maßnahme, auch zur Bekämpfung der Ketzer, voraussetzte. Augustinus lobte in diesem Werk erneut die patientia, die den Rechtgläubigen gebiete, den Strafen Gottes nicht vorzugreifen. Der terror, den die Ketzer verbreiten, solle ertragen werden, nicht allein in corporibus, sondern auch in cordibus. In den Mühsalen hätten die Christen auszuharren.397 Mit der Rechtfertigung des Schreckens, den die Beauftragten des Römischen Reiches gegen die Ketzer ausüben sollten, stieß Augustinus gleichwohl ein Tor auf, um die Kompetenz für den Staat zu erweitern. Denn dank des Schreckens gebe es Hoffnung auf Besserung und Umkehr der Abtrünnigen, um sie dazu zu zwingen, in das »Haus des Herrn« einzutreten. Den Zwang rechtfertigt Augustinus mit der Berufung auf das Gleichnis im Lukas-Evangelium, dessen Worte in der lateinischen Übersetzung compelle intrare lauten (Luk. 14,23), also eine den Willen bezwingende Wirkung ausdrücken.398 Den Einwand, dass die Furcht vor der kaiserlichen Autorität für kirchliche Zwecke eingesetzt werde, lässt Augustinus in einem seiner Briefe nicht gelten; er meint, manche Übeltäter müssten

396 Hinkmar von Reims, De ordine, S. 17, 21f. 397 Augustinus, De civitate, S. 648–650. 398 Augustinus, Epistulae, Bd. 3, nr. 173, S. 647f.

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härter als andere behandelt und gedemütigt werden, wie dies auch Christus empfohlen und getan habe.399 Die von Augustinus angemahnte Militanz im Kampf gegen Abweichler der kirchlich sanktionierten Rechtgläubigkeit sollte der staatlichen Gewaltanwendung auferlegt werden, und sie wurde es auch. Die Gesetze des Codex Theodosianus, wenige Jahre später, um das Jahr 438 auf Anweisung von Kaiser Theodosius II. kompiliert und nach-konstantinisches Recht aufnehmend, stellten den Kampf gegen die Häresie als eine Aufgabe der römischen Administration dar. Unter anderem war ausgeführt, dass die kaiserliche clementia über Gebühr missbraucht worden sei; deswegen müsse jetzt Strenge walten. Sanktionen, von Geldzahlung, Amtsenthebung, Verbannung, Vermögenskonfiskation bis hin zur Todesstrafe, waren vorgesehen. Abweichungen vom Glauben, wie er vom Konzil von Nicaea definiert worden war, galten als crimen laesis maiestatis, da gegen die göttliche Majestät gerichtet. (XVI,5,40).400 Vergehen gegen die Religion waren mit Vergehen gegen den Kaiser gleichgesetzt. Ausdrücklich empfahl Augustinus, die bereits erlassenen kaiserlichen Gesetze gegen die Ketzer, die später im Codex Theodosianus im Abschnitt De haresibus gesammelt wurden, anzuwenden. Wie einst die Gesetze gegen die Christen gebraucht worden seien, um sie vom rechten Glauben abzubringen, so könnten nun die Gesetze des Staates zu deren Schutz erlassen und vollstreckt werden.401 Indem die staatliche Gewalt ein religiöses Fundament erhielt und den Gebrauch von Schrecken empfahl, war der Makel der Schreckensherrschaft nicht beseitigt, aber überdeckt. Der Kampf gegen Häretiker und Feinde der Kirche wurde kombiniert mit dem gegen Rebellen. Die spezielle und gerechtfertigte, ja angemahnte Anwendung des Schreckens strahlte aber auf die Bewertung der Gesamtheit des Staates aus. Indem Augustinus die Anwendung des Schreckens den staatlichen Autoritäten überließ, verschonte er nicht allein die Kirche von der Befleckung mit dem Schrecken, sondern setzte in Konsequenz seiner distanzierten, bis ablehnenden Haltung gegenüber dem Staat ihn in eine Position, die ihn weiterhin mit einem Makel versah, wenngleich für einen guten Zweck eingesetzt. Die Aufforderung zur Verfolgung der Ketzer änderte nicht die Wesensbestimmung des Staates. Die Fernwirkung der augustinischen Texte sollte sich im Mittelalter u. a. zeigen, als gewaltsames Vorgehen gegen abtrünnige Christen, die in ihre heid399 Augustinus, Epistulae LVI–C, S. 179f. 400 Codex Theodosianus, hg. v. Theodor Mommsen, Ndr. Dublin, Zürich 1971, Bd. 1, S. 862– 865, 868, 870, 873; Zur begrenzten Rezeption der Rechtssammlung: Inge Kroppenberg, Der gescheiterte Codex. Überlegungen zur Kodifikationsgeschichte des Codex Theodosianus, in: Rechtgeschichte. Zeitschrift des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte 10 (2007), S. 166–126. 401 Augustinus, Contra Cresconium, S. 452f.

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nischen Gebräuche und Vorstellungen zurückfallen würden, gerechtfertigt wurde. Brun von Querfurt († 1009) empfahl unter Berufung auf die späten Texte von Augustinus, Gewalt gegen Feinde des Glaubens einzusetzen. Brun war ein Verwandter des Kaiser der sächsischen Dynastie. Als Missionar unter den Böhmen und den Pruzzen suchte er die Unterstützung des Kaisers.402 Umfassender noch wurden die augustinischen Texte rezipiert bei der Etablierung einer päpstlichen Ketzerinquisition seit den dreißiger Jahren des 13. Jahrhunderts, als es darum ging, den Schrecken als Mittel im Kampf gegen die Häretiker vorzusehen, dabei aber dem »weltlichen Arm« die Vollstreckung der Urteile zu überlassen.403

6.

Liebe, Gewalt und Furcht bei den germanischen Herrschern

Der Verfall herrschaftlicher Gewalt im Römischen Reich forderte zu Stellungnahmen heraus und verlangte, eine weltliche Herrschaft zu deuten, die den Schutz der Untertanen nicht mehr zu leisten imstande war. Salvian von Marseille (†470), Priester, Schriftsteller und Zeitgenosse des Verfalls provinzialrömischer Administration, verschärfte im Vergleich zu Augustinus die Kritik gegenüber dem Römischen Reich, indem er deren Herrschern und Administratoren vorhielt, einen Zustand der guten Herrschaft, die auch auf Erden prinzipiell möglich wäre, verhindert zu haben. Seine Auffassung formulierte er in dem Werk De gubernatione Dei. Für Salvian gab es keinen grundsätzlichen und immerwährenden Makel der Herrschaft. Dieser sei, so führte Salvian aus, vielmehr speziell dem Römischen Reich eigen, entspringe den Sünden der Römer, deren Herrscher ungerecht handelten, genauso wie ihre Untertanen, die Rebellionen schürten. Alle seien verderbten Sitten verfallen, so dass nun zurecht die moralisch höher stehenden Barbaren dieses Reich zerstörten und auf seinem Gebiet ihre eigenen Reiche errichteten. Salvian deutete die Heimsuchung der Römer als ein gerechtes Eingreifen Gottes, der den Schrecken der neuen Herren als Mittel einsetze, um die Besserung der Menschen durch die Vernichtung des bestehenden Römischen Reiches zu erreichen. Salvian verurteilte die Verbrechen der Menschen und die Gebrechen der Gesellschaft in Gallien. Deswegen sei nun den Barbaren die humanitas anvertraut, als deren Förderer sich die Römer fälschlich 402 Hans-Dietrich Kahl, Compellere intrare. Die Wendenpolitik Bruns von Querfurt im Lichte des hochmittelalterlichen Missions- und Völkerrechts, in: Heidenmission und Kreuzzugsgedanke in der hochmittelalterlichen Ostpolitik des Mittelalters, hg. v. Helmut Beumann, Darmstadt 1963, S. 201f. 403 Schreiner, Duldsamkeit, S. 176–184; Lothar Kolmer, …ad terrorem multorum. Die Anfänge der Inquisition in Frankreich, in: Die Anfänge der Inquisition im Mittelalter, hg. v. Peter Segl (Bayreuther Historische Kolloquien 7), Köln etc. 1993, S. 77–102.

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wähnten und tatsächlich als unfähig erwiesen hätten. Die barbarischen Menschen besäßen ein großes Zusammengehörigkeitsgefühl, so dass das Volk eins mit seinem König werde. Sie hegten Liebe untereinander, während die Römer sich fast immer gegenseitig hassten und schädigten. Friede, Ruhe, Reichtum und Überfluss hätten die Römer nicht recht genutzt, stattdessen sich dem Raub ergeben. Die göttliche Heimsuchung hätten sie so auf sich gezogen.404 Die Unterscheidung, die Salvian einführte, bot sich an, einen Neuanfang kenntlich zu machen, um Herrschaft und Staat zu bewerten und mittels der Kooperation mit den Siegern und neuen Herren kirchliche Ämterorganisation und kirchliche Wirkung zu retten. So sollte Gerechtigkeit entstehen, die zu schützen das Römische Reich versäumt habe. Salvians Werke wurden im Mittelalter wenig rezipiert; sie sind gleichwohl ein wichtiges zeitgenössisches Indiz für die Option, staatliche Gewalt prinzipiell günstig zu bewerten, sie als Vollstrecker der Gerechtigkeit zu bezeichnen, sie in Opposition zu ungerechten Staaten zu stellen, was erlaubte, im Speziellen die Existenz des römischen Imperiums als verwerflich und nun als obsolet anzusehen und die Aussicht auf bessere Herrschaftsformen vorzustellen. Das Ende des Imperiums musste nicht elegischen Nachklang hervorbringen, sondern vermochte die Hoffnung auf Verbesserung zu wecken, künftig Liebe in die Herrschaftsorganisation einzuführen.405 Salvian stand nicht allein. Es gab die Erwartung, dass eine Erneuerung von Herrschaft und sogar von Gerechtigkeit und die Herstellung liebender Zuneigung unter der Leitung der bislang als Barbaren bezeichneten Könige möglich seien – so formuliert in den Briefen von Cassiodor (ca. 485–ca. 580), die er wohl selbst unter der Bezeichnung Variae zusammenstellte und die seine Mitarbeit mit dem Ostgotenherrscher Theoderich zeigten und rechtfertigten und Belehrungen zur guten Verwaltung anboten. Cassiodor, der die antike Gelehrsamkeit auch nach dem Ende der Kaiserherrschaft im Weströmischen Reich weiterführte, sah offenbar den germanischen König Theoderich dazu berufen, eine gute Regierung zu errichten. Anders als Salvian wertete Cassiodor nicht das Römertum ab, sondern erachtete seine Verlängerung auch unter der Ägide barbarischer Herrscher für möglich und wünschenswert. Die Briefe von Cassiodor wurden offenbar im königlichen Auftrag geschrieben und an personalisierte Empfänger wie den Burgunderkönig Gunibald und den Wandalenkönig, oder an typisierte Adressaten, wie den Verwaltungsexperten oder den Juden, 404 Salvian von Marseille, De gubernatione Dei, hg. v. Karl Halm, in: MGH AA 1, Berlin 1927, S. 1–108, S. 58f., 63f. 405 Jan Badewien, Geschichtstheologie und Sozialkritik im Werk von Salvian von Marseille, Göttingen 1980; David Lambert, The Barbarian in Salvian’s De Gubernatione Dei, in: Ethnicity and Culture in Late Antiquity, hg. v. Stephen Arthur Mitchell, Geoffrey Greatrex, London 2000, S. 103–116; Thielen, Frieden, S. 625–649.

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gerichtet, und sie sollten offensichtlich als Briefformulare genutzt werden. Cassiodor stellte in diesen Texten die Könige der germanischen Völker als die Vollbringer einer Herrschaft vor, unter der die civilitas der Römer weiterhin gepflegt werde. Hier war also nicht ein Bruch zur verderbten, der Gerechtigkeit und der Eintracht abträglichen römischen Zivilisation bezeichnet, sondern die Kontinuität zu ihr herausgestellt. Zur Fortsetzung der guten Herrschaft, die die Untertanen in Liebe an sich binde, sei die Disziplin, die dem Volk auferlegt werde, nötig. Die conversatio humana brauche, um nicht in den Zustand tierischer Zügellosigkeit zu verfallen, die Anleitung durch die Oberen, die für die Koordination der Handlungen aller Untertanen sorgen müssten, so dass die Ordnung wie in einem Bienenstock beschaffen sei. Die Überlegenheit des Herrschers sei derart groß, dass es im natürlichen Lauf der Dinge eher möglich sei, dass die Untertanen von ihrer natürlichen Bestimmung abwichen, als dass die Herrscher die öffentlichen Dinge vernachlässigten. Der publicus amor bewege die Lenker des Staates und hebe sie über die Beschäftigung mit privaten Dingen empor. Der Herrscher stehe emphatisch mit dem Staat in Verbindung: der civitatis affectus zeichne ihn aus. Seine civilitas garantiere, dass er den Gesetzen Wirkung verleihe. Die persönlichen Eigenschaften des Herrschers sicherten das Zusammenleben der Menschen. Sein Name könne nicht beschmutzt werden. Die immense Gewalt, über die er verfüge, sei eo ipso vor Verfehlung gefeit, so dass Cassiodor meinte, Ermahnung, Korrektur oder gar Widerstand nicht vorsehen zu müsen. Einzig die civilitas, die dem Herrscher zu eigen sei, begrenze die Macht, ohne dass sie mit der Beachtung der Gesetze gleichgesetzt erscheine. Vielmehr bedeute die Macht die aktive Gestaltung, Überwachung und Anwendung der Gesetze durch den Herrscher, ohne dass die Gesetze ihm selbst Schranken auferlegten. Liebe reservierte Cassiodor den Königen, die sie für die Untertanen hegten. Diese hätten umgekehrt in Furcht vor den Gesetzen zu verharren. Die Könige seien eingesetzt, wie er bereits im Vorwort der Briefsammlung schrieb, um diese Furcht herzustellen. Die custodia legum sei den Königen aufgetragen, auch um die Sitten der Barbaren milder zu machen. Dies geschehe durch den Zwang. So werde auch erreicht, dass der Frieden von allen geliebt werde. Cassiodor schreibt: »Was ist süßer, als dass die ungeordnete Menschenmenge unter dem Urteil des Gesetzes steht?« Der Unordnung Ordung aufzuerlegen, ist die Aufgabe des Königs.406 Dazu ist Gewalt und Furcht vorgesehen, ausgeübt und verbreitet durch die Herrscher. Liebe zeichnet allein den König aus. Die Untertanen sind passive Empfänger ; sie selbst empfinden sie nicht für den König. Der Schritt hin zu einer günstigeren Beurteilung der Herrschaft erschien 406 Cassiodorus, Variae, hg. v. Theodor Mommsen (MGH AA 12), Berlin 1894, S. 10, 27, 80f., 85, 97f., 128f., 155; Christina Kakridi, Cassiodors Variae, München 2005, S. 16–26.

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Christliche Vorstellungen zur Herrschaft in der Spätantike

opportun, als die kirchlichen Institutionen selbst in das Handeln der Herrschaft und Macht involviert wurden, als sie die Aufgabe übernahmen, einer generalisierten Unsicherheit nach dem Wegfall funktionierender römischer Verwaltung und Grenzsicherung entgegenzutreten und sie sich als Kooperationspartner der germanischen Herrscher anboten, ohne aber die Bindungen an die Funktionsweisen römischer Verwaltung und an die politische Ethik der Antike abreißen zu lassen.407

7.

Die Liebe in der kosmischen Harmonie: Boethius

Der optimistischen Sicht, die Liebe in die Herrschaft des Ostgotenkönigs Theoderich einzupflanzen, vermochte der spätantike Philosoph Boethius († 524) nicht zu folgen. Er sah zwar die Liebe in hierarchischen Beziehungen walten, aber entfernte sie aus der der weltlichen Herrschaft. Boethius, einer Senatorenfamilie entstammend, übte selbst das Amt eines Konsuls aus, wurde im Jahre 522 vom ostgotischen König Theoderich zum magister officiorum ernannt, wurde zu einem von dessen Mitarbeitern am Königshof, stand also lange Zeit seines Lebens im Zentrum weltlicher Machtausübung und wurde doch zu deren Opfer : Theoderich enthob ihn aller Ämter, setzte ihn gefangen, ließ ihn hinrichten.408 Die persönliche Katastrophe beeinflusste die theoretische Konzeption. Boethius schrieb während seiner Gefangenschaft am Ende seines Lebens das im Mittelalter breit rezipierte Werk De consolatione philosphiae. Darin suchte er die Liebe als allumfassende Kraft kosmologisch zu begründen und errichtete ein Konzept einer neu-platonisch inspirierten Abfolge von Wirkungen, die auf einen gemeinsamen Ursprung verweisen und auf ein gemeinsames Ziel lenken. Die Liebe verbinde, so Boethius, alle Dinge und alle Menschen. Deswegen könne sie auch Völker zusammenfügen, die in harmonischer Eintracht gemeinsam handelten. Liebe steigere die Gesetzestreue. Die Konzeption von Boethius erkennt in der Liebe einen Impuls, der zur Entstehung von Gemeinschaften führt. Aber Liebe ist auch sperrig und steht der Einbindung in Institutionen entgegen, da sie zwar allwaltend ist, sie aber unvorhersehbar und ungeregelt wirkt. Was in Liebe sich zubewege, könne, so schreibt Boethius, im nächsten Augenblick in Krieg entflammen. Boethius greift die Vorstellungen von Autoren der klassischen Antike, insbesondere die Liebeskonzeption von Ovid, auf, die in der nicht 407 Reydellet, Royaut8, S. 193–224; Friedrich Prinz, Gebhardt. Handbuch der deutschen Geschichte: Europäische Grundlagen 3.–8. Jahrhundert, Stuttgart 2004, S. 389–457. 408 John Marenbon, Boethius, Oxford 2004; Axel Bühler u. a., Anicius Manlius Severinus Boethius (ca. 480–524/526 n. Chr. ), in: Lateinische Lehrer Europas. Fünfzehn Portraits von Varro bis Erasmus von Rotterdam, hg. v. Wolfram Ax, Köln 2005, S. 165–215.

Die Liebe in der kosmischen Harmonie: Boethius

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fassbaren und den Menschen plötzlich anfallenden Empfindung das Kennzeichen der Liebe ansehen, der die Menschen unterworfen seien, ohne dass die Liebe den Weg zu einem tugendhaften Leben weisen könne. Boethius entwirft daher folgerichtig Metaphern der Wellen, auf denen die Liebe herangespült wird. Sie bewegten kraftvoll das Meer ; sie erzeugten schwankende Strömungen. Niemand könne sich der Liebe entziehen; sie schmiede Freundschaften, führe Mann und Frau in die Ehe, durchdringe jede Seele. Aber sie sei unbeständig. Niemand dürfe sich auf sie verlassen.409 Daraus folgte die Lehre, der tugendhafte Mensch dürfe sich nicht umstoßen lassen von den unvorhersehbaren Ereignissen und von den unbeständigen Wirkungen der Liebe. Die Konsistenz der Beziehungen leitet Boethius deswegen auch nicht von der Liebe, sondern von der Freundschaft ab, die weniger emotional aufwühlend, weniger durch Launen gefährdet sei, vor Ablenkungen vielmehr gefeit bleibe, zur Tugend führe und Trost spende. Freundschaft sei aber nicht weniger als die Liebe von dem Handeln der Herrscher fern zu halten, abgeschirmt von deren willkürlichen Ansprüchen. Boethius rät, sich von den Schwingungen der fortuna, deren Launen die Liebe folge, innerlich zu befreien. Unbeständig sei vor allem – dies musste er selbst am eigenen Leib leidvoll erfahren – die Gunst der Herrscher, von deren Affekten sich abhängig zu machen, den inneren Kern des Menschen zerstöre. Daher der Rat, sich nichts von Macht und Herrschaft zu erhoffen, nichts von den Mächtigen zu erwarten, deren Belohnungen nicht anzustreben, deren Strafen nicht zu fürchten. Die zuversichtliche Auffassung, die er früher in seinem Kommentar zu den aristotelischen Texten über die Kategorien formuliert hatte, dass der Philosoph gehalten sei, seine wissenschaftlichen Kenntnisse und Fähigkeiten in den Dienst des Staates zu stellen und die Bürger zu belehren, diese Sichtweise war nun hinfällig geworden. Nunmehr, in dem Werk des Trostes der Philosophie führte Boethius aus: Allein die Flucht in kleine Freundeskreise sei richtig, weil nur sie das Gute bergen und Sicherheit verbürgen. Die Liebe, anders als die Freundschaft, sei den wechselvollen Launen der Menschen ausgeliefert, keinem Gesetz unterworfen; denn die Liebe sei sich selbst Gesetz. So sei derjenige, der in Liebe verstrickt sei, wie Orpheus gegenüber Eurydice, zum Untergang verurteilt. Boethius griff die wertende Unterscheidung von Freundschaft und Liebe, wie sie Cicero vorgenommen hatte, auf. Beständigkeit gewinne die Liebe nur als mächtige Kraft, die das Weltganze anstößt, den Himmel regiert, eine kosmische Wirkung entfaltet, alle Lebewesen und Menschen zusammenbindet. Zur Moral der Menschen trage die Liebe aber nichts bei. Aber auch Gesetze allein würden die Menschen nicht zusammenzuführen. Die Gesetze seien hohl, weil sie nicht spontan befolgt würden, sie nicht dem freien Willen folgten. Nur die Notwendigkeit zwinge die 409 Boethius, Consolatio, S. 35f.

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Menschen zur Zusammenarbeit. Es bleibt lediglich die Hoffnung, dass ein künftiges glückliches Menschengeschlecht die Seelen von der Liebe anrühren lasse; es ist eine Erwartung, die im Irrealen verbleibt und auf eine unspezifizierte Zukunft oder das Jenseits verweist.410 Die Aussage, dass das Glück der beste Zustand in einer Vereinigung aller guten Menschen sei, gilt nicht für den Staat. Boethius schreibt ausdrücklich, dass die Macht eines Menschen ihn der Einsamkeit ausliefere, dazu führe, dass die Untergegebenen ihn fürchteten, so wie er selbst sich vor ihnen fürchte.411 Am Ende des Lebens stand die Resignation. Zwischen Philosophie und Politik klaffte ein tiefer Graben. Der in der Schrift De consolatione philosophiae enthaltene Hymnus auf die Liebe, die in der Natur bewegt und verursacht, die eine Hierarchie der Wirkkräfte durchdringt, ist von der Herrschaft der Könige weit entfernt. Die Konzeption entfaltete Wirkung auf folgende Epochen, stieß aber eine neue Verwendung des Begriffs der Liebe als zwischenmenschliche Kraft erst an, als mit der literarischen Lobpreisung der sexuell angetriebenen Liebe und mit der Entdeckung der Natur als Quelle aller Wirkkräfte seit dem 12. Jahrhundert ein alternatives Konzept zur geistlichen Lehre und zur Nächstenliebe sich Bahn brechen sollte, das dann auch Gelegenheit bot, politisch gedeutet zu werden.412 Die Überlieferung, Kommentierung (vor allem durch Adalboldus von Utrecht um das Jahr 1000 und die Glossierung durch Wilhelm von Conches ein halbes Jahrhundert später) und die Übersetzungen der Schrift Consolatio philosophiae in mehrere Volkssprachen eröffneten ein weites Feld der Rezeption im Mittelalter.413 Wenn die Unbeständigkeiten am Herrscherhof und die dort waltende Furcht vor den Launen des Königs und das Suchen nach fleischlichen Begierden kritisiert wurden, bot das Werk De consolatione Argumente, die Johannes von Salisbury († 1180) in seinem königskritischen Werk Policraticus ausführte. Johannes forderte seine Leser auf, diesen antiken Autor selbst zu lesen, wenn sie ihm selbst nicht glauben wollten.414 Auch die Vorstellung der Liebe knüpfte an Boethius an. Im 12. Jahrhundert beschrieb der bedeutende 410 Boethius, Consolatio, S. 35, 40f., 63f., 84; Boethius, In Categorias Aristotelis, in: PL 64, Paris 1847, Sp. 59–294, Sp. 201; Epp, Amicitia, S. 121–123, Alessandro D. Conti, Boezio commentatore e interprete delle Categorie di Aristotele, in: Scritti in onore di Giralomo Arnaldi, hg. v. A. Degrandi, Rom 2001, S. 77–102. 411 Boethius, Consolatio, S. 44f. 412 Moore, Love, S. 23–26, 157, siehe auch Kapitel IX.1. 413 Pierre Courcelle, La consolation de philosophie dans la tradition litt8raire, Paris 1967, S 273–309; Boethius in the Middle Ages. Latin and Vernacular Traditions of the Consolatio philosophiae , hg. v. Maarten Hoenen, Lodi Nauta, Leiden 1997; Boethius Christianus ? Transformationen der Consolatio philosophiae in Mittelalter und Früher Neuzeit, hg. v. Reinhold F. Glei u.a, Berlin, New York 2010 Losi Nauta, Tradition of Boethius’ Consolatio Philosophiae. An Edition of his Glossae super Boetium, Groningen 1999. 414 Johannes von Salisbury, Policratici libri, hg. v. Webb, II, S. 64f.; Von Moos, Geschichte, S. 206.

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Gelehrte in Chartres, Bernardus Silvestris, in seinem Werk Cosmographia die unbändige und ungebändigte Schöpferkraft der Liebe und übernahm für seine Lobpreisung Formulierungen von Boethius.415 Dante Alighieri († 1321) zitierte das Gedicht von Boethius zur Liebe als bewegende Kraft im Kosmos; er stellte das Zitat an das Ende seines Werkes Comedia divina.416 Auch er sah in der Liebe eine allgemeine Triebkraft kosmologischen Ausmaßes und stieß eine Renaissance platonischer Konzepte an, auch um aus ihnen eine politische Anwendung abzuleiten, insofern die universale Geltung hierarchischer Ordnung aus einer Naturordnung abgeleitet wurde, aus der die Herrschaft nicht ausgenommen sein sollte.417 Boethius selbst hatte indes eine andere Konzeption vorgestellt, bei der die Universalität der Liebe die Herauslösung aus der Herrschaft verlangte. Sie partizipierte nicht an ihr, sondern fiel wegen ihrer Verderbtheit aus ihr heraus. Hierarchie war mit Harmonie verbunden; diese war für die Herrschaft im Staat ausgeschlossen. Mehr als nur persönliche Verfehlungen führten zur Unordnung; ihr Ursprung lag in den institutionellen Fehlern, die nicht ausgemerzt werden konnten. Erst die Umdeutung, die seit dem 12. Jahrhundert vorgenommen wurden, machten das Hauptwerk von Boethius für die politische Reflexion produktiv.

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Die weltliche Macht war suspekt. An ihr hafteten Furcht und Schrecken, während die Kirche als Inhaber liebender Zuwendung galt. Der Bischof von Rom, Gregor I. (ca. 540–604), dessen antik-römische Bildung ihn dazu befähigte, an philosophische Erörterungen des paganen Römertums anzuschließen, der in der weltlichen Verwaltung, der Getreideversorgung und der Verteidigung der Stadt Rom und seiner Umgebung engagiert war und wohl nicht zuletzt deswegen sich der Deutung von Herrschaft widmete418, nahm Überlegungen von Augustinus 415 Bernardus Silvestris, Cosmographia, S. 154. 416 Dante Alighieri, La divina commedia, Bd. 4: Il paradiso, S. 558. 417 Marian Kurdzialek, Der Mensch als Abbild des Kosmos, in: Begriff der repraesentatio, S. 35–76; Ratkowitsch, Cosmographia, S. 117; Haug, Höfische Liebe, S. 12–43; Imbach, Filosofia, S. 816–832. 418 Georg Jenal, Gregor und die Stadt Rom (590–604), in: Herrschaft und Kirche. Beiträge zur Entstehung und Wirkungsweise episkopaler und monastischer Organisationsformen, hg. v. Friedrich Prinz (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 33), Stuttgart 1988, S. 109– 145; Pierre Rich8, Gregor der Große. Leben und Werk, München 1996; Robert A. Markus, Gregory the Great and his World, Cambridge 1997; Sofia Boensch Gajano, Gregorio I, in:

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auf, um eine kritische Distanz zum Staat einzuhalten und anzumahnen. Er stimmte mit ihm überein, dass die ursprüngliche Gleichheit der Menschen nach dem Sündenfall in Unterdrückung und Gewalt verwandelt worden sei, modifizierte aber diese Auffassung in der Weise, dass diese Gleichheit doch nicht gänzlich aufgehoben sei, sondern weiterhin in die aktuelle Herrschaftsorganisation einzufließen habe und ein normatives Korrektiv zur faktischen Unterdrückung der Menschen darstelle. In einem Brief an Kaiser Phokas, dem er eine mildtätige Herrschaft attestierte, stellte Gregor zu dieser eine gewaltsame, unterdrückende und furchterregende Herrschaft unter dessen Vorgänger Kaiser Maurikios entgegen. Gott selbst habe sie eingerichtet, verwerflich sei sie gleichwohl. Aber Gregor nennt nicht die allen Menschen auferlegte Erbsünde als Begründung, sondern die von den Zeitgenossen aktuell verübten Sünden, die eine Züchtigung mit der Knute erforderten. Der Brief formulierte auch ein positives Gegenbild. Der Kaiser solle Gerechtigkeit, Milde und Fürsorge erweisen. Allen solle er garantieren, dass sie ihr Eigentum ohne Furcht nutzen könnten. Aus den zahlreichen, im Konjunktiv formulierten Sätzen ragt einer heraus, der im Indikativ geschrieben ist und scheinbar ein feststehendes Faktum formuliert: »Denn zwischen den Königen der barbarischen Völker und den Kaisern des römischen Staates besteht der Unterschied darin, dass jene Herren von Knechten, diese Herren von Freien sind.«419 Die mehrfache Gegenüberstellung – von Volk und Staat, von Barbaren und Römern, von König und Kaiser, von Knecht und Freiem – ist in der Form einer Definition gehalten, die ein grundlegendes Merkmal der Herrschaft der christlichen Kaiser benennt. Aber auch dieser Satz nennt Normen, deren Erfüllung Gregor offensichtlich als nicht gesichert erachtet, vielmehr einfordert. Die definitorische Unterscheidung ist daher als Argument anzusehen, nicht als Zustandsbeschreibung. Dazu bestand auch keine Veranlassung: Gregor wird nicht unbekannt gewesen sein, mit welcher Grausamkeit Phokas in Konstantinopel die Herrschaft an sich gerissen, seinen Vorgänger Maurikios und dessen Familienmitglieder getötet hatte, zahlreiche Senatoren hinrichten ließ und in haltloser Trunkenheit seinen Launen frönte.420 Der Brief wurde in das Briefregister Gregors eingetragen, am päpstlichen Hof aufbewahrt und in den folgenden Jahrhunderten oft rezipiert.421 In konzeptionell weitausgreifender Reflexion erörterte Gregor die Herrschaft Enciclopedia dei papi, S. 546–573; Peter Eich, Gregor der Große. Bischof von Rom zwischen Antike und Mittelalter, Paderborn 2016. 419 Gregor der Große, epistula XIII, 32: Hoc namque inter reges gentium et reipublicae imperatores distat, quod reges gentium domini seruorum sung, imperatores vero reipublicae domini liberorum; Edition in: Gregor der Große, Registrum epistularum libri, S. 1033f. 420 Henning Börn, Herrscher und Eliten in der Spätantike, in: Commutatio et contentio. Studies in Late Roman, Sasanian and Islamic Near East, hg. v. Josef Wiesehöfer, Düsseldorf 2010, S. 159–198. 421 Judic, Production, S. 77–90.

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in seinen theoretischen Schriften. Dies geschah vor allem in seinem Werk Regula pastoralis. Er untersuchte dort die Lenkung der Menschen sowohl durch Bischöfe als auch durch weltliche Herrscher. Er stützte sich offensichtlich auf die Theologischen Reden von Gregor von Nazianz (ca. 329–390), die in der von Rufinus erstellten lateinischen Übersetzung als Apologetica bezeichnet sind und die ihm mangels griechischer Sprachkenntnisse den Textinhalt vermittelten.422 Anders als Augustinus vertritt Gregor, der römische Bischof, die Auffassung, dass die Herrschaft wegen der Erlösungstat Christi dem Nutzen der Untertanen dienlich sein solle und dass die Verdammnis der Menschen trotz der Erbsünde durch das Wirken Christi im Diesseits abgemildert sei. Damit dies möglich werde, müssten die Herrscher angeleitet werden. Die Anleitung bestand zuerst darin, sie zur Demut zu führen. Mit ihr war eine vor allem unter Mönchen praktizierte Tugend verlangt. Sie sollte in die Politik transferiert werden. Anders als Augustinus, der die Herrschaft als Institution deutet, die er von den Qualitäten der einzelnen Herrscher weitgehend abstrahiert, beharrt Gregor darauf, die Herrscher auch in ihrer Eigenschaft als politische Akteure unter moralischen Gesichtspunkten zu bewerten, die daher, belehrt und zum Guten angeleitet, Gerechtigkeit im Staat stiften könnten. Die Verbreitung von Furcht und das Zufügen von Leid seien ihnen nur insoweit zugewiesen, als sie das verrichteten, was Gott ihnen auftrage, um den Geist der Menschen wach zu halten. Es geht Gregor aber nicht allein um Individuen. Gott schaffe Reiche und erhöhe Völker, und genauso vernichte er sie und erniedrige sie. Die Fürsten seien Werkzeuge Gottes, um seine Pläne zu verwirklichen: Sie imitierten Gott und sie seien von ihm eingesetzt, wenn sie Furcht und Hoffnung verbreiteten. Die Herrscher treten ein in die Wege, die Gott der Menschheit bereitet. Eine eschatologische Deutung, die den Herrscher als Unterstützer der Vorhaben Gottes ausweist, verleiht anders als bei Augustinus dem Staat eine heilsgeschichtliche Begründung, welche aber nicht aus der Machtsteigerung entsteht, sondern aus der Nichtigkeit des Machtstrebens. Die Macht der Mächtigen, weil nur verliehen und nicht erworben, ist bei Gregor eine Illusion. Eine paradoxe Intervention bringe die Herrscher dazu, die Vorhaben Gottes zu verwirklichen, indem sie nach der Macht griffen, damit aber nur ein Nichtiges in den Händen hielten, im Ergebnis aber die Pläne Gottes verwirklichten. Gregor mahnt zu einer Herrscherethik, die sich zwar außerhalb des politischen Handelns entfaltet, aber dank der Integration in die christliche ideale Gesellschaft den Staat als säkulare Institution nicht entwertet. Die Demut der Mächtigen solle sowohl Gewalthandeln verringern, als auch zur Fürsorge zugunsten der Untertanen führen, so dass die Machthaber sich an dem Kriterium der Nützlichkeit beurteilen lassen müssten, nicht durch das Urteil ihrer Untertanen, wohl aber vor dem göttlichen Gericht. Die Demut ist 422 Senellart, Arts, S. 86f.

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nicht allein eine Forderung hinsichtlich des Handelns, sondern auch das Ergebnis des ursprünglichen Zustandes der Gleichheit aller Menschen. Dieser Zustand sei der Naturzustand, von dem nur durch eine geordnete, auf Gottes Willen beruhende Abweichung dispensiert werde, der aber in seiner Wirkung nicht gänzlich aufgehoben werden könne. Es sei übermütig, so Gregor, von anderen gefürchtet werden zu wollen, denn die Menschen schuldeten Furcht allein Gott. Der terror, von Menschen ausgeübt, solle sich einzig gegen die Tiere richten, so habe es Gott Noah und seinen Söhnen und danach allen Menschen befohlen. Gregor verweist auf Genesis 9.2 in der lateinischen Vulgata-Version, die ebenfalls das Wort terror verwendet.423 Da diese Anweisung Gottes nach der Vertreibung aus dem Paradies erteilt worden sei, könne die Erbsünde an dieser göttlichen Verfügung nichts ändern. Auch für das Leben in Sünde sei der Schrecken als Instrument des Herrschens und Gebietens nicht hinzunehmen, auch wenn dies die Herrscher wünschten. Selbst bei der Bestrafung des Verbrechers habe der Herrscher dafür zu sorgen, wie ein Bruder demjenigen Anleitung zum rechten Tun zu gewähren, der Verfehlungen begangen habe, um ihn zur Verwirklichung der Tugenden zu lenken. Furcht hingegen vernebele den Geist, mache unfähig, wahre Reue zu empfinden und Buße zu tun. Wegen des Gebotes der Brüderlichkeit, dem auch das Verhältnis von Herrschern und Beherrschten unterliege, gebe es keine unverrückbare Trennung zwischen beiden, vielmehr entstehe eine natürliche Hinwendung beider zueinander, die nicht durch Furcht verdorben werden dürfe, sondern eine emotionale Zuneigung erfordere.424 Furcht zu erregen, um zu herrschen, geschehe wider die göttliche Ordnung. Schon der Wunsch, von den Gleichen gefürchtet zu werden – ab equalibus velle timeri –, sei contra naturam und entspringe der superbia. Das Verbot, mit Furcht zu herrschen, beschränkt Gregor nicht auf die Gemeinschaft der Christen und auf die Kirche; es gelte für die gesamte Menschheit und lege jeder Herrschschaft Schranken an, die legitimerweise nicht abgelegt werden dürften, was tatsächlich aber doch missachtet werde, so dass Gregor in ähnlicher Weise wie Augustinus Macht und Herrschaft als Ergebnisse der Denaturierung und der Dekadenz der Menschen ansieht und schlimmer noch als Übertretung der Gebote Gottes. Anders aber als Augustinus erachtet er als Ursache nicht ein institutionelles Defizit, sondern eine moralische Verfehlung. Die Tatsache, dass einige herrschen, andere gehorchen, sieht Gregor darin begründet, dass die Schuld als Folge des Sündenfalls alle Menschen beflecke, aber in unterschiedlichem Maße, so dass einige, von geringerer Schuld belastet, zur Herrschaft berufen seien. Die Erbsünde wird also auch von Gregor in die politische Argumentation einbezo423 Gregor der Große, Regula, S. 202–204. 424 Ebda., S. 202–218.

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gen. Gregor erkennt die Faktizität von Machtungleichheit an und leitet sie von einer Ungleichheit im Ausmaß der persönlichen Schuld ab, unterscheidet also kollektive Schuld als Ergebnis der Erbsünde von individueller Schuld und vermag somit eine theologische Rechtfertigung der Herrschaft anzubieten, die auf einer Graduierung der aktuellen, nicht der ererbten Sünden beruht. Also nicht Schrecken der Herrschaft, wohl aber die Herrschaft selbst leitet Gregor von der Sünde ab. Sich gegen die Herrschaft aufzulehnen, sei verwerflich, so dass eine Vermittlung zwischen theologischer Deutung und politischer Praxis nur durch die Mäßigung des Handelns der Herrscher stattfindet, nicht aber in der Korrektur einer grundsätzlichen Verfehlung.425 Gregor leitet daraus eine Ethik des Herrschers ab, die abseits institutioneller Regeln steht: Das erste Objekt der Beherrschung solle die eigene Begierde, mehr als die Untertanen sein.426 Auch in anderen Werken, deutete Gregor Macht und Herrschaft. In dem Werk Moralia in Iob, das, angelehnt an die Kommentierung des Buches des Alten Testaments, streckenweise den Charakter einer Fürstenbelehrung annimmt427, ermahnt Gregor die Mächtigen, dafür zu sorgen, die Schwachen zu schützen; sie dürften erwarten, Gerechtigkeit zu erhalten. Die natürliche Gleichheit sei zwar durch den Sündenfall verwirkt, aber behalte Auswirkungen in der Gegenwart, indem die Mächtigen sich davor hüten müssten, Furcht zu erregen, um Menschen zu unterjochen. Wenn selbst heilige Männer und gute Herrscher danach trachteten, von den Untertanen gefürchtet zu werden, dann mit dem Ziel, dass diese die Sünden fürchteten. Die Furcht ist also nicht ein Instrument der Herrschaft, sondern ein Heilmittel im Kampf gegen die Sünde. Gregor setzt die Furcht nur subsidiär ein. Er nennt die Mängel, die ihr eigentümlich seien. Dazu gehöre das Misstrauen gegen die Mächtigen, das ja nur zu berechtigt sei, da sie so oft verwerflich handelten. Das Misstrauen schmälere ihre Macht, sei also ihrem eigenen Interesse abträglich. Dies könne verhindert werden, indem sie die Untertanen durch Liebe für sich geneigt machten. Gregor sieht nicht vor, die Machtverhältnisse zu korrigieren, sondern verlangt im Diesseits die humilitas auch seitens der Untertanen, die den potentes mundi gehorsam sein müssten, ohne dass sie erwarten könnten, Vorteile zu erhalten. Erst im Jenseits erfolge die Belohnung für Herrscher und Beherrschte.428 Die menschliche Herrschaftsorganisation ist von Gregor intakt gehalten, aber mehr als bei Augustinus in göttliche Verfügung gestellt, damit aber auch erhöhten Anforderungen unterworfen. Die Anforderungen erteilt Gott, dies tun nicht die Untertanen. Denn aufgrund der prinzipiellen und ursprünglichen Gleichheit der Menschen könne 425 426 427 428

Reydellet, Royaut8, S. 465–467. Gregor der Große, Regula, I, S. 207–219. Anton, Fürstenspiegel, S. 363–370. Gregor der Große, Moralia, S. 99, 106, 184f., 602f., 853f., 1082, 1089–1091.

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die Befugnis zur Gewaltanwendung nicht aus der excellentia potestatis erwachsen, die doch nichts als Täuschung sei, sondern aus der göttlichen Beauftragung. Gregor I. warnt vor den Versuchungen der Macht – Ungerechtigkeit, Habgier, Gewalt, Bestrafung von Unschuldigen; aber es gebe die Chance, die Herrscher durch Ermahnung zum guten Handeln zu führen. Die Anwendung von Liebe sei auch für die Herrscher möglich, mehr sogar als in den Familien. Aber die Erwartung, Verbesserungen im Staat zu erzielen, sei nichts als eitler Wahn. Gregor mahnt, geduldig und demütig den Willen Gottes anzunehmen, der den Mensch ins Elend stürzen könne, so wie dies Hiob widerfahren sei, um seine Hingabe an Gott zu erproben. Gregor warnt davor, Liebe häuslich und familiär einzuhegen. Es seien die Sünder, die ihr Bestreben auf Besitz, Ehe und Kinder begrenzten und dabei nicht mehr in der Lage seien, alle Menschen zu lieben. Liebe habe sich dort zu entfalten, wo eigener Nutzen und eigenes Wohlbefinden unwichtig seien, also außerhalb des eigenen Hauses. Auch die Beschränkung der Liebe auf den Freundeskreis gelte es zu überwinden. Die Ablösung der Liebe aus einer familiären und freundschaftlichen Beschränkung und ihre Ausweitung auf eine politische Tätigkeit, die uneigennützig ausgeübt werden müsse, seien besonders vom gläubigen Herrscher verlangt. So werde das Gebot der Liebe erfüllt.429 Gregor der Große blieb aber skeptisch gegenüber der Möglichkeit einer guten Herrschaft. Der Herrscher gleiche, so Gregor im Buch Moralia, dem Rhinozeros, das in seiner Wildheit auf die Menschen zurase und sie zertrampele. Die Zerstörungswut richte sich auch gegen Herrscher, auch sie stünden in Gefahr, dass das Nashorn, diesmal Sinnbild konkurrierender Machthaber, sie zu Boden stampfe. Die ungestüme Rohheit sei aber nicht nur verwerflich; sie ermögliche auch, die Übeltäter zu bestrafen, welche die Milde und die Demut der Kirche nicht zur Umkehr hätten bewegen können. Aber tierisches Ungestüm bleibt gleichwohl als Makel an den Herrschern haften. Herrschaft ist unlösbar mit Wut verbunden, die die Menschen in Furcht versetzt. Daran ändert auch die göttliche Einsetzung von Herrschaft nichts.430 Indem Gregor die Antriebskraft der Machtausübung als ungestümes Ausleben von Furcht einflößenden Impulsen vorstellt und die Furcht gleichwohl als notwendige, von Gott gewollte und eingesetzte Antriebskraft erachtet, belässt er die Verbindung von Macht und Ethik in einem Dilemma. Die Furcht erregende Macht der Herrscher sei zwar verwerflich, aber subsidiär zu einer liebenden Zuwendung eingesetzt und daher unabwendbar, jedoch solle sie vorsichtig und nur selten eingesetzt werden, damit eher die Sorgfalt, basierend auf der Demut 429 Ebda., S. 122, 139; Rosenwein, Emotional Communities, S. 83–85, 126, 38 Epp, Amicitia, S. 38f. 430 Gregor der Große, Moralia, S. 1533.

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des Herrschers, angewendet werden könne, weil sie geeigneter erscheine, die Menschen, die alle miteinander Brüder seien, auf den rechten Weg zurückzuführen.431 Gregor gelangt in seiner exegetischen Schrift In librum primum Regum zu einer deutlicheren Kritik an der Institution des Königtums und jeder weltlichen Herrschaft. Die im ersten Buch Samuel des Alten Testaments enthaltene abschätzige Bewertung der königlichen Herrschaft greift Gregor als einer der wenigen Autoren der Bibelexegese auf. Der Wunsch, einen König zu installieren, wie im Buch Samuel berichtet, bedeute eine Abwendung von der Herrschaft Gottes, die die Menschen leiten solle und keine intermediäre Instanz der weltlichen Herrscher bedürfe. Anstatt sub spirituali regimine zu leben und von den Propheten geleitet zu werden, hätten die Juden auf der Einrichtung eines Königtums nach dem Vorbild der umgebenden heidnischen Völker bestanden, damit sich aber als unvernünftig erwiesen. Sie hätten Gottes Missfallen erregt. Nicht als Repräsentation der göttlichen Herrschaft, sondern als deren Konkurrenz war Königsherrschaft gedeutet. Um ihre fleischlichen Regungen zu befriedigen, hätten die Juden nach einem König verlangt, was Gott ihnen zugestanden habe, was ihnen aber, wie vorhergesagt, keinen Nutzen gebracht habe; vielmehr übten die Könige über sie Schrecken aus. Das Thema der Gleichheit der Menschen wird deutlicher als im Bibeltext und deutlicher noch als in den anderen Schriften Gregors ausgeführt. Während Propheten und Richter mit den ihnen Anempfohlenen auf der Grundlage einer prinzipiellen Gleichheit handelten, drückten die Könige die Beherrschten in eine Unterordnung. Die prelatio von Priestern, die Gregor als die Nachfolger der Propheten des Alten Testaments ansieht, sei hingegen dazu bestimmt, die Gläubigen in brüderlicher Nächstenliebe, ohne eigene Vorteile erlangen zu wollen und ohne die prinzipielle Gleichheit der Menschen zu zerstören, zu leiten.432 Weil Gregor Herrschaft als Abirrung von der ursprünglichen Gleichheit der Menschen bewertet, verweist er auf eine Entstehung, die durch einen langgestreckten historischen Verfallprozess entstanden sei und die er nicht als das einmalige Ergebnis des Sündenfalls deutet. Die Geschichte bringt somit eine Realität hervor, die letztlich der Natur widerspricht. Die Diskrepanz zwischen ursprünglicher natürlicher Bestimmung und historischem Resultat kann aber durch politisches Handeln nicht aufgehoben werden. Auch die Liebe ist nicht geeignet, auf den Weg zur Herstellung der ursprünglichen Gleichheit zu lenken, sie vermag nur zur Milderung der Macht hinzuführen. Das Königtum, zwar durch den Willen des Volkes ursprünglich eingerichtet, gleichwohl auf einer Usurpation beruhend, weil Gottes Liebe entgegenstehend, gebiert Unrecht, 431 Ebda., S. 1301. 432 Gregor der Große, In librum primum Regum, S. 297, 301–315, 437f.

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welches unausrottbar in die Institution des Königtums eingewoben ist. Tyrannei wird daher von Gregor nicht als Abirrung, sondern als Charakteristikum des Königtums erachtet; eine Unterscheidung zwischen beiden gibt es nicht. Dies schließt nicht aus, dass die moralische Anleitung der Herrscher notwendig ist, denn wie jedes Individuum ist auch der Mächtige zum guten Handeln aufgefordert. Eine religiöse Legitimierung der weltlichen Gewalt ist damit freilich nicht verbunden. Ein Dulden Gottes ermöglicht lediglich ihr faktisches Vorhandensein. Gregor urteilt in einer Weise, die ihn als politischen Denker ausweist, insofern er Ursprünge und Verfahren von Herrschaft darlegt,433 wohingegen er die Lösung politisch inhärenter Fehlentwicklungen aus dem politischen Handeln herauslöst und in die Obhut der Priester legt. Das politische Problem wird zum seelsorgerischen. Die die Machtentfaltung argwöhnisch betrachtenden Beurteilungen Gregors haben indes eine Verwendung von Textausschnitten seiner Werke im hohen Mittelalter nicht verhindert, die die Herrschaft rechtfertigte und auch deren Einsatz von Furcht als günstig vorstellte. Die Kirchenrechtssammlungen seit dem 9. Jahrhundert, vornehmlich die Pseudo-Isidorischen Dekretalen, stellten die Furcht vor dem Herrscher als notwendig und gottgefällig dar, damit die rectores die Übeltäter durch den Schrecken vom böten Tun abhalten könnten. Zitate aus den Werken Gregors des Großen dienten als Argumente für den empfohlenen Einsatz des Schreckens. Was Gregor als Kritik formuliert hatte, wurde zur Anweisung.434 Gregor galt seit dem endenden 8. Jahrhundert und vor allem seit der Zeit der karolingischen Herrscher als derjenige, der den Primat der römischen Kirche verbürgte, was die Rezeption seiner Schriften im Mittelalter beförderte. Seine Briefe waren eingetragen in einem am päpstlichen Hof aufbewahrten Register, wurden dort abgeschrieben und trugen neben der breiten Rezeption der übrigen Texte Gregors dazu bei, ihn als den wichtigsten Gewährsmann des Christentums, als »Kirchenvater«, vorzuführen.435 Seine große Autorität verhinderte freilich nicht eine Umdeutung seiner Auffassungen hinsichtlich der Bewertung der Herrschaft, hielt aber auch umgekehrt eine Argumentation intakt, um der weltlichen Herrschaft militant entgegenzutreten. Im 11. Jahrhundert wird Papst Gregor VII. (der angenommene Name ist bereits Progamm) das kritische Potential reaktivieren.436

433 Gregor als a-politischen Interpreten seiner Zeit erachtet hingegen: R. A. Markus, Gregory the Great on Kings: Rulers and Preachers in the Commentary on I Kings, in: The Church and Sovereignty c. 590–1918. Essays in Honour of Michael Wilks, hg. v. Diana Wood, Cambridge (Mass.) 1991, S. 7–21. 434 Siehe Kapitel V.5. 435 Judic, Production, S. 77ff. 436 Siehe Kapitel VII.1.

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9.

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Engel sind die Boten Gottes zu den Menschen. Es gibt eine Hierarchie unter den Engel. Sie waren einsetzbar als verbindendes Glied zwischen himmlischer hierarchischer Ordnung und irdischer hierarchischer Ordnung. Sie bildeten ein Vorbild für die Ungleichheiten unter den Menschen. Als von Gott geschaffene Geistwesen waren sie mit Emotionen ausgestattet. Die Universalität der Liebe und ihre Integration in eine alles Geschaffene erfassende Ordnung tränkten das Konzept der Nächstenliebe. Als Grundlage solcher Vorstellungen stand ein Werk zur Verfügung, das dem in der Apostelgeschichte genannten Dionysius Areopagita zugeschrieben wurde, das tatsächlich aber ein am Ende des 5. oder zu Anfang des 6. Jahrhunderts wohl im Osten des Römischen Reiches lebender, unbekannter Autor in griechischer Sprache schrieb. Vor allem nachdem die Rezeption des Werkes von Pseudo-Dionysios zu den himmlischen und irdischen Hierarchien seit dem 9. Jahrhundert dank einer Reihe verbesserter lateinischer Übersetzungen in das westliche Europa vorgedrungen war, wurden die beiden Hierarchien in eine Beziehung der Analogie und der Kausalität gestellt. Gedeutet wurden Abstufungen in der Erkenntnis von Gott, in der liebenden Annäherung an ihn und in der religiösen Begründung kirchlicher und dann auch weltlicher sozialen Differenzen und Machtungleichheiten. Die Erkenntnis, die die Engel besaßen, entsprang einer jenseits der Vernunft angesiedelten Intuition, eines unvorgreiflichen Wisssens; die Erkenntnis der Menschen bedurfte hingegen der Anstrengung. Ungachtet des Unterschieds vereinte die Liebe Engel und Menschen. Die Texte der beiden aufeinander bezogen pseudo-dionysischen Schriften – in den lateinischen Übersetzungen Celestis hierarchia und Ecclesiastica hierarchia bezeichnet – entwarfen ein von neuplatonischem Gedankengut inspiriertes Konzept der stufenweisen Annäherung an Gott, die zur Ausbildung von Hierarchien im Himmel und auf Erden führte, von Hierarchien der Engel und der Geistlichen. Die Bedeutung der beiden Werke war umso größer, als sie dem Kanon der göttlichen Offenbarung zugehörig erachtet waren. Die Schriften stellten dar, dass die Engel unterschiedlich seien je nach dem Grad von Erkenntnis, Wirksamkeit und participatio am göttlichen Wesen und sie neun hierarchisch abgestufte Gruppen bildeten. Dies galt auch für die kirchliche Rangordnung, gekennzeichnet durch unterschiedliche Grade der Vollkommenheit und der Aufgaben und gleichfalls in neun Gruppen gegliedert. Die Verfassung der Kirche galt als Widerspiegelung der himmlischer Ordnung.437 Bereits Gregor der Große und nach ihm mittelalterliche Theologen wie Hil437 Die mittelalterlichen lateinischen Übersetzungen der Schriften von Pseudo-Dionysius sind ediert in: Dionysiaca. Recueil donnant l’ensemble des traductions latines des ouvrage attribu8s au Denys l’Ar8opagite, hg. v. P. Chevalier, 2 Bde., Paris 1937/50.

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duin von St. Denis und Johannes Eriugena im 9. Jahrhundert, Honorius Augustodunensis (ca. 1080-ca. 1137), Rupert von Deutz (ca. 1070–1129) und Hugo von St. Viktor (ca. 1096–1141) führten diese Gedanken weiter aus, indem sie sowohl die unterschiedliche Annäherung der Menschen an Gott und dessen unterschiedlich weitreichende, durch eine Lichtmetaphorik gekennzeichnete und begründete Teilhabe am metaphysischen Wissen darlegten, zugleich auch eine hierarchische Abstufung der Menschen als grundlegendes anthropologisches Prinzip einführten, das für alle Lebensbereiche galt, auch außerhalb der Kirche, damit auch für die weltliche Herrschaft anwendbar gehalten wurde. Das Thema fand seine Fortsetzung in der scholastischen Universitätstheologie seit dem 13. Jahrhundert.438 Nicht einmal die von dem irischen Theologen Johannes Eriugena (ca.815– 877) in seinem Werk De divisione naturae behauptete unmittelbare Anbindung jedes einzelnen Menschen an Gott, ohne dass ein anderes geschaffenes Wesen dazwischentritt – nulla interposita creatura –, schränkt das allgegenwärtige hierarchische Arrangement ein. Der Hierarchie unterliegt jedes geschaffene Wesen in allen Stadien der Heilsgeschichte. Die Ordnungen der irdischen Existenzen beruhen stets auf Über- und Unterordnungen. Indes führt Johannes eine Dynamik der Annäherung an Gott ein, so dass dank der göttlichen Liebe das Schwache zum Guten gelenkt wird und die Menschen zu einer Stufe emporgehoben werden, die sie den Engeln angleicht. Die Starrheit der Hierarchie hat Johannes aufgebrochen. Als Bindeglied aller geschaffenen Weisen setzt er die Liebe ein. Sie bildet die Einheit aller Wesen. Die Liebe bewegt, und sie führt alle Dinge zur letztlich unbewegten Ruhe: amor est naturalis motus omnium rerum quae in motu sunt finis quietaqu statio, ultra quam nullus creaturae progreditur motus. Die Liebe ist die alles und alle gleichermaßen bewirkende Kraft. Sie strahlt von Gott und erfasst alle Wesen. Sie verbindet sie. In der Erlösung kommt 438 Leopold Kurz, Gregors des Großen Lehre von den Engeln, Rottenburg 1938; P.G. Th8ry, Etudes Dionysiennes, vol. 1: Hilduin, traducteur de Denys (Etudes de philosophie m8di8vale 16), Paris 1932; Hyacinthe- FranÅois Dondaine, Le corpus dionysien de l’universit8 de Paris au 13e siHcle (Storia e letteratura. Raccolta di studi e testi 44), Rom 1953; Ren8 Roques, L’univers dionysien. Structure hi8rarchique du monde selon le Pseudo-Denys, Paris 1954; Inglis Patrick Sheldon-Williams, The Ecclesiastical Hierarchy of Pseudo-Dionysius, in: The Downside Review 82 (1964), S. 293–302; 83 (1965), S. 20–31; Garret J. Roche, Hierarchy. From Dionysius to Trent to Vatican II, in: Studia canonica 16 (1982), S. 367–389; Ps. Dionigi l’Areopagita, Gerachia celeste, teologia mistica, lettere. Traduzione, introduzione e note a cura di Salvatore Lilla (Collane di Testi patristici 56), Rom 1986, S. 5–16; Marie-Dominique Chenu, La th8ologie au 12e siHcle (Etudes de philosophie m8di8vale 45), Paris 1966, S. 129– 135; Goltz; Hiera mesiteia; Padellaro de Angelis, L’influenza; Luscombe, Some Examples; Ders., Conceptions of Hierarchy before the Thirteenth Century, in: Soziale Ordnungen, I, S. 1–19; Dominique Iogna-Prat, Penser l’Eglise, penser la soci8t8 aprHs Pseudo-Denys, in: Hierarchie et stratification sociale dans l’Occident medieval 400–1100, hg. v. Dominique Iogna-Prat, Turnhout 2008, S. 55–82; Burger, Lex divinitatis, S. 317f.

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sie zur Erfüllung, die das Ende der Unruhe und der Bewegung ist. Die Erlösung löst die hierarchische Ordnung indes nicht auf. Johannes verweist ausdrücklich auf Pseudo-Dionysius wenn er die Belebung der Welt durch die Liebe ausführt.439 Die Hierarchie als grundlegendes Strukturelement jedweder sozialen Konstellation war ein im Mittelalter etabliertes Deutungsschema. Die Legitimität der Ungleicheit der Menschen war von einem im Himmel hergestellten Modell abgeleitet und fand in ihm seine Rechtfertigung.440 Schließlich war der Stiftskanoniker aus Paris, Hugo von Saint-Victor ( ca. 1097–1141), der erste, der in seinem didaktischen Werk Didascalion das hierarchische Konzept von Pseudo Dionysius ausdrücklich der weltlichen Ordnung der Ungleichheit unterlegte und eine Stringenz sozialer Gliederung einführte, die als Imitation der Engelshierarchie und als abgestufte Hinwendung zur Liebe Gottes gedeutet wurde und damit eine Fixierung erfuhr, die legitimerweise nicht aufgebrochen werden konnte. Die alle Menschen durchdringende Liebe Gottes sei stets vorhanden, wirke sich aber unterschiedlich aus und führe zu einer Verortung der Menschen in einem Gefüge der Ungleichheiten. Hugo hat seine Interpretation des dionysischen Werkes zur himmlischen Hierarchie auf die soziale Gliederung der Menschen heruntergebrochen, damit aber auch die irdische Beschaffenheit der Menschen an die himmlische Ordnung angeschlossen und somit aufgewertet.441 Der Pariser Universitätsmagister und einflussreiche Theologe, Wilhelm von Auxerre (†1231), entfaltet in seiner Summa aurea zu den Sentenzen von Petrus Lombardus eine Lehre zu der Hierarchie der Engel, deutet sie als rationale und heilige Verteilung von Macht über die Untertanen, verweist auf Dionysius und begründet damit menschliche Hierarchien, bei ihm aber auf die Kirche beschränkt. Als Bindeglied der hierarchischen Gruppen setzt auch Wilhelm die Liebe ein. Die gegenseitige Liebe und die Liebe zu Gott charakterisiert Wilhelm als dilectio naturalis, die in primo statu, d. h. vor dem Abfall Luzifers von Gott, bestanden habe und weiterhin für die Engel unveränderlich vorhanden sei. Die jeweils höher gestellten Positionen lenkten die niederen durch die Liebe, denn sie motiviere ohne Zwang zur Unterwerfung und ohne Gewinnstreben zur Leitung, so dass eine harmonische Relation entstehe, gerade auch weil die Liebe mehr als die Erkenntnis vermöge, um die Engel und Menschen an Gott heranzuführen. Die richtige Liebe sei stets auf einen anderen gerichtet, sonst wäre sie nur Eigenliebe, die Wilhelm als libidinös abwertet. Erkenntnis und Liebe ver439 Johannes Eriugena, Periphyseon=De divisione naturae, hg. v. I. P. Sheldon-Williams, 3 Bde., Dublin 1968–1981, I, S. 43–46, 210–212; Veronika Limberger, Eriugenas Hypertheologie, Berlin 2015, bes. S 181–191. 440 Eine soziologisch-strukturelle Interpretation des Hierarchie-Konzepts bei Dionysius: Goltz; Hiera mesiteia. 441 Hugo von Saint-Victor, Didascalicon; David Edward Luscombe, The »Commentary« of Hugh of Saint-Victor on the »Celestial Hierarchy«, in: Die Dionysius-Rezeption, S. 159–175.

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knüpft Wilhelm in der Weise, dass die Engel aufgrund eines vollkommenen Wissens zur Gottesliebe gelangen, während die Menschen Gott jenseits ihres Wissens lieben sollen. Zur höchsten Stufe der Liebe gelangen die drei oberen Ränge der Engel, während die drei mittleren die Menschen belehren und die drei unteren die Menschen durch Wunder anleiten und die Heiligen im Vollbringen der Wunder unterrichten. Erzengel und Engel, in den beiden untersten Rängen angesiedelt, leiten die Unterrichtung an Propheten respektive die oberen Priester – deren Gruppen als episcopatus bezeichnet ist – weiter. Die hierarchische Unterscheidung benennt Wilhelm mit dem Begriff ordo. In einem neuen Anlauf der Erörterung zu den Engeln unterscheidet Wilhelm deren status, von denen er vier nennt, also von der dionysischen Struktur abweicht. Auch hier gibt es Verbindungen zu den Menschen. So werden die simplices sacerdotes an die untere Engelsgrupe angebunden; diejenigen, die die Menschen vor den Versuchungen des Teufels reinigen, stehen an der zweiten untersten Stelle. Die dritte Gruppe gilt als die, die perfectiores sind und Wunder bewirken, so wie der heilige Martin. Der vierten Gruppe, der am höchsten stehenden, weist Wilhelm die Aufgabe zu, durch einen geistigen Krieg das geistige Reich Gottes zu verteidigen und zu leiten. Die Gottesfurcht leitet Wilhelm von der Liebe zu Gott ab, denn je mehr einer Gott liebe und dessen Süße spüre, umso mehr fürchte er ihn. Die Furcht – anders als die Liebe – bewirke nicht alle Tugenden und bringe nicht jede Glückseligkeit hervor. Als Wächter sieht Wilhelm sie an. Die hierarchische Struktur ist stärker bei den Engeln als bei den Menschen ausgeformt; die Vollkommenheit der himmlischen Ordnung gelangt nur teilweise zu den Menschen. In dem Abschnitt, in dem Wilhelm die Anleitung der Menschen durch die Engel darstellt, fehlt gänzlich eine hierarchische Anordnung unter den Menschen.442 In anderer Weise geht ein weiterer Pariser Universitätsmagister und Theologe, Wilhelm von Auvergne (ca. 1180–1249), vor. Er verknüpft die irdischen Chöre sehr eng mit den himmlischen – dies auf dreierlei Weise: durch die Analogie, durch die Liebe und durch die Kommunikation. So werden die distinkten Gruppen zusammengeführt sowohl untereinander als auch zwischen Engeln und Menschen. Nicht allein Erkenntnisfähigkeit verbindet bei ihm Engel und Menschen, sondern auch eine Vertrautheit: familiaritas. Die Darlegung Wilhelms nähert sich einer Vorstellung an, bei der emotionale Einwirkungen der Engel sich auf die Menschen erstrecken. Die politische und soziale Verfassung der Ungleichheit, nicht allein der kirchlichen, ist theologisch fundamentiert; sie ist – da auf einer göttlichen Einsetzung beruhend – unveränderlich und stellt die Engel und die Menschen in ihren Beziehungen untereinander und miteinander in eine Harmonie, die sie zu Gott führt. Die Harmonie ist die einer Herrschaft. Den Engeln sind regimen und gubernatio zugewiesen, die sie zwischen ihnen 442 Wilhelm von Auxerre, Summa Aurea. Liber secundus, t. 1, S. 31–45, 85–123.

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und gegenüber den Menschen ausüben. Instructio und relevatio werden dabei eingesetzt. Konkret hat Wilhelm die Relation des Gehorsams beschrieben, wenn er die Geltung des mosaischen Gesetzes ausführt: Sie gelingt, weil die Engel die Anwendung des Gesetzes verordnet und es in die Hände eines Vermittlers gelegt haben und weil sie in die Seele des Menschen die Regungen einpflanzen, es zu befolgen – durch ein lebendiges und stark leuchtendes Licht.443 Aber die Begründung der Hierarchien kann auch anders geleistet werden. Albertus Magnus, der wenig später zur dionysischen Hierarchienlehre zwei Kommentare vorlegte, erachtet die Erkenntnis als das Band zwischen den Engeln und den Menschen. Eine Relation des Intellekts erkenntnisfähiger Wesen setzt Albert ein und drängt die Bedeutung der Liebe zurück. Aber auch er stellt die Weitergabe des göttlichen Lichts und Wissens in harmonische Relationen. In ihnen walte Schönheit. Sie beruhe auf einer perfekten Konfiguration. Sie stößt indes keine Emotion an und setzt sie nicht voraus. Auch bei Albertus sind die Relationen starr. Ein Aufrücken in höhere Hierarchiestufen ist ausgeschlossen.444 Die Beziehungen zwischen den Stufen der Hierarchien – von Engeln und von Menschen – hat Thomas von Aquin (1225–1274) hingegen durch die Liebe gestaltet interpretiert. In seinem Werk Summa theologiae, sich auf Pseudo-Dionysius berufend, definiert er die Liebe als willentliche Aktivierung von jedem tugendhaften Antrieb; weil dieser sich auf ein Gutes richte und die Anziehung auf ein Gutes stärker wirke als eine Abstoßung von einem Schlechten, sei die Liebe die stärkste und am umfassendsten wirkende Kraft. Die Liebe der Menschen bezeichnet Thomas als eine Emotion, eine passio; ihnen gelinge indes nur potentiell und dann nur annähernd die Verwirklichung des Guten. Dieses immer zu verwirklichen, sei Gott vorbehalten, bei dem die Liebe actus sei, die Neigung übersteige und zum Handeln werde und folglich den Status der passio übertreffe. Bei Gott allein sei es die ratio, die die Liebe bewirke. Damit die Liebe Gottes auf seine beseelten und vernunftbegabten Geschöpfe einwirke, bedürfe sie der Transmissionen: Die Chöre der Engel nehmen die Liebe Gottes auf und leiten sie an die jeweils tiefer gestellten Chöre weiter. Die Engel reichten die Liebe an die ebenfalls hierarchisch geordneten Chöre der Menschen. Die vollkommene, als 443 Wilhelm von Auvergne, De universo, S. 141, 1006–1008; dort: Lex Hebraeorum ordinata fuit per Angelos in manu mediatoris sowie: Effulgere faciunt in humanis animabus signis vivis et luminisossimis; vergl. Berthold Vallentin, Der Engelstaat, Zur mittelalterlichen Anschauung vom Staate bis auf Thomas von Aquin, in: Grundrisse und Bausteine zur Staats- und Geschichtslehre. Festschrift Gustav Schmoller, hg. v. Kurt Breysig u. a. Berlin 1908; Luscombe, Hierarchy, S. 14f.; Burger, lex divinitatis, S. 330. 444 Albertus Magnus, Super Dionysium. De ecclesiastica hierarchia, hg. v. Maria Buger, Münster 1999; Ders., De caelesti hierarchia, hg. v. Paul Simon, Wilhelm Kübel, Münster 1993, bes. S. 46–48; Burger, Lex divinitatis, S. 316–320; zu Albertus Magnus unten Kapitel XI.2.

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ekstatisch bezeichnete Liebe Gottes setzt sich, abgeschwächt, aber doch wirksam auf den untergeordneten Hierarchiestufen fort. Diese sind also bei Thomas von Aquin nicht in erster Linie durch eine Weitergabe der Erkenntnis Gottes gekennzeichnet, sondern durch eine Durchdringung der Liebe. Obwohl Thomas durchweg beklagt, der Text und der Stil des Textes von Dionysius Areopagita seien obskur, sieht er dessen Hierarchienkonzeption als eine notwendige Voraussetzung an, um zu verstehen, wie Gott mit den Menschen und die Menschen untereinander in die Beziehungen der Liebe eintreten.445 Im Kommentar von Thomas zu dem anderen dionysischen Hauptwerk Super de divinis nominibus verknüpft dann Thomas Liebe und Erkenntnis miteinander : Liebe (amor) ist die Bedingung für die Erleuchtung (illuminatio). In allen Texten von Thomas, die das dionysische Werk deuten, aktiviert die Liebe Gottes die Liebe dessen, auf den sie einwirkt, und befähigt diesen, selbst wiederum andere zu lieben. Die Liebe ist unterschiedlich stark. Sie erwächst aus einer hierarchischen Ordnung und sie bringt sie zur Entstehung. Zu einer breiten Rezeption des Konzeptes der Engelhierarchie außerhalb des Milieus von Universitätstheologen trug vor allem die Enzyklopädie des Franziskaners und Leiters der Magdeburger Schule seines Ordens in Magdeburg, Bartholomaeus Anglicus (ca. 1190–1250), bei. Er war es auch, der anders als Albertus Magnus und deutlicher als frühere Autoren die Liebe als Bindeglied der Relationen einführte. Dass soziale Beziehungen geordnet sein müssten und diese Ordnung nur hierarchisch sein könne, war kombiniert mit der Auffassung, dass die Liebe Gottes sich in der Liebe der von ihm geschaffenen Vernunft- und Seelenwesen fortsetze, dies aber in abgestufter Verwirklichung.446 Der Franziskanertheologe Bonaventura (1221–1274) erweiterte das Schema auf weitere soziale Gruppen auch außerhalb kirchlicher Amtsträger und entfaltete eine Deutung der durch Über- und Unterordnung vermittelten Relationen der Menschen, die durch die Liebe, die den beiderseitigen Nutzen fördere, eingebunden sind.447 Das Thema der hierarchischen Gliederung, die in Analogie zu den Engelchören gesetzt wurde, fand – wohl vermittelt über die Enzyklopädie von Bartholomaeus Anglicus – Eingang in eine Predigt von Berthold von Regensburg († 1272). Er entwickelte eine Moral für eine arbeitsteilige Gesellschaft, 445 Thomas von Aquin, Summa theologiae, Prima pars (Opera omnia 4), S.252f.: prima pars, q. 20, art. 1; zu Thomas von Aquin siehe Kap. IX 6. 446 Bartholomaeus Anglicus, De rerum proprietatibus, Frankfurt a. M. 1601, Ndr. Ebda. 1964, S. 18–45; Georg Steer, Die Gottes- und die Engellehre des Bartholomäus Anglicus in der Übertragung des Michael Baumann, in: Würzburger Prosastudien, Bd. 1: Wort-, begriffsund textkundliche Untersuchungen (Medium Aevum. Philologische Studien 13) München 1968, S. 81–101. 447 Werner Dettloff, Himmlische und kirchliche Hierarchie bei Bonaventura, in: Soziale Ordnungen, I, S. 41–55.

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deren innerer Zusammenhalt durch gegenseitige Dienste gewährleistet sei, aber durch den moralischen Appell stets erneut in Erinnerung gerufen werden müsse.448 Das Thema wurde auch in Lehrschriften für Laien, die in den Volkssprachen verfasst wurden, behandelt.449 Mit der Aktivierung der Engel waren nicht allein Kommunikatoren zwischen Gott und den Menschen eingesetzt, sondern auch Vorbilder für menschliche Relationen. Die Hierarchie der Engel präfigurierte alle Systeme der Ungleichheit und der Befehlsgewalten.450 Diese Auffassung blieb aber im späten Mittelalter nicht unwidersprochen. Der bedeutende Theologe und Philosoph unter den Franziskanern, Johannes Duns Scotus (†1308) hat eine Erleuchtung der Engel nur im metaphorischen Sinne akzeptiert und die hierarchische Abstufung der Geistwesen deswegen verworfen, weil sie durch die Liebe miteinander verbunden seien, was Unterordnung und Ungleichheit ausschließe.451 Sein Ordensbruder, Petrus Johannis Olivi (†1296/98), ging in seiner theologischen Deutung noch weiter, indem er hierarchische Positionierung der Engel für die Relationen unter den Menschen für irrelevant erklärte. Durch die erste Sünde sei die intakte und konfliktfreie Hierarchie, die alle Geschöpfe Gottes vereint habe, für die Menschen zerstört worden. Olivi formulierte, dass der Platz der Menschen an der zehnten Position unter den neun Graden der Engelshierarchie angesiedelt gewesen sei, die Menschen also ursprünglich nicht in einer von den Engeln getrennten, sondern in einer mit ihnen gemeinsamen Ordnung verbunden gewesen seien. Diese Integration sei aber nun nicht mehr vorhanden; die Strahlen des Lichtes, die einst – vor der Erbsünde – auch sie erreicht hätten, seien ihnen nun verdunkelt. Die Absonderung der Menschen von den Engeln macht eine Legitimierung menschlicher Hierarchie unmöglich. Als Gemeinsames von Engeln und Menschen bleibt aber die Liebe. Der actus amoris et amativa bringe sie hervor und sie schaffe die Verbindungen zwischen den Engeln und zwischen den Menschen. Die Liebe sei allen geschaffenen vernunftbegabten Wesen eingepflanzt und von Natur aus vorhanden, auch unter den Bedingungen nach der ersten Sünde. Aber diese Liebe vermag nicht, Institutionen der Herrschaft unter den Menschen zu formen, genausowenig wie die Engelshierarchien Abbilder auf

448 Berthold von Regensburg, Deutsche Predigten, I, S. 136–147; Schmidt, Arbeit, S. 261–296. 449 Wolfgang Heinemann, Zur Ständedidaxe in der deutschen Literatur des 13.–15. Jahrhunderts, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur (Halle) 88 (1967), S. 109–190; 89 (1968), S. 290–403; 92 (1970), S. 188–437; Eckart Conrad Lutz, In nium schar insunder geordnet gar. Gregorianische Angelogie, Dionysius-Rezeption und volkssprachige Dichtungen des Mittelalters, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 102 (1983), S. 335– 376. 450 Georges Tavard, Engel. Teil 5: Kirchengeschichtlich, in: Theologische Realenzyklopädie Bd. 9, Berlin, New York 1982, S. 599–609, S. 604–609. 451 Roling, Locutio, S. 178–191.

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Erden besäßen.452 In einer der Quaestionen von Olivi, die die Liebe behandeln, unterscheidet er Engel und Menschen nicht hinsichtlich ihrer Befähigung zur Liebe. Die Liebe sei eine affectio, die nach Vorteilen im diesseitigen Sein und nach der ewigen Glückseligkeit strebe. Desweiteren beruhe die Liebe auf der Gerechtigkeit, verweist also auf eine Tugend, die soziale Beziehungen gestaltet. Realisiert und zu ihrem Ziel, das in der Erlangung des Glückes bestehe, werde die Liebe durch die Gegenseitigkeit der Liebenden gelenkt. Der amor habitualis ist Engeln und Menschen eigentümlich und bringe sie dazu, zum Wohle des Mitgeschöpfes tätig zu werden. Bei Olivi fehlt sine hierarchische Stufung der liebenden Geschöpfe.453 Die Konzeption von Olivi wich von der dionysischen Hierarchienlehre mit ihrer Doppelung der Ordnungen ab. Aber sie blieb marginal und verdrängte nicht die Rezeption der anderen Texte zu Dionysius, allein schon deshalb, weil die Schriften und die Person von Olivi am päpstlichen Hof zu Avignon als häretisch verurteilt wurden, was die Anerkennung in den Universitäten und unter Theologen verhinderte.454 Waren auch die Deutungen zu den Gruppierungen der Engel und Menschen unterschiedlich, schälte sich doch die vorherrschende Auffassung heraus, dass ein allgemeines Schema der hierarchische Differenzen bestehe. Der pseudodionysische Text unterschied irdische Hierarchieebenen voneinander, legte ihnen einen unverrückbaren Platz zu, beschrieb aber auch Kommunikationen, die die Mächte unterhielten und miteinander verbanden. Erkenntnis und Liebe galten als die Treiber der Kommunikationen. Die Harmonie konfliktfreier Beherrschung unter den Engeln war indes unter den Menschen nicht zu wiederholen.455 Gleichwohl: indem Hierarchien an Gott und an dessen Schöpfung von Geistwesen angebunden waren, wurde Macht vom Makel verwerflicher Usurpation gereinigt. Indem das Hierarchiekonzept seit dem 12. Jahrhundert auch auf Anordnungen weltlicher Ungleichheit ausgedehnt wurde, bestand die Möglichkeit, dass nicht allein hohe Geistliche, sondern auch laikale Herrscher und ihre Untertanen in die Analogie der himmlischen Rangordnung eingereiht 452 Petrus Johannis Olivi, Quaestiones in Secundum Librum Sentantiarum, S. 757–763; Die Differenzierung der Engel, nicht aber eine Gruppenzugehörigkeit untersucht Tiziana Suarez-Nani, Individualität und Subjektivität der Engel im 13. Jahrhundert. Thomas von Aquin, Heinrich von Gent und Petrus Johannis Olivi, in: Das Mittelalter. Perspektiven mediävistischer Forschung 11 (2000), S. 29–45. 453 Petrus Johannis Olivi, Quaestiones in Secundum Librum Sentantiarum, S. 151–155. 454 Theo Kobusch, Petrus Johannis Olivi. Ein franziskanischer Querkopf, in: Querdenker, Visionäre und Außenseiter in Philosophie und Theologie, hg. v. dems. u. Markus Knapp, Darmstadt 2005, S. 106–116. 455 Tiziana Suarez-Nani, Les anges et la philosophie. Subjectivit8 et fonction cosmologique des substances s8par8es au 13e siHcle (Etudes de philosophie m8di8vale), Paris 2002; Dies., Hi8rarchie, miracles et fonction cosmologique des anges au 13e siHcle, in: Les anges et la magie au moyen .ge. M8langes de l’Ecole franÅaise de Rome 114, hg. v. Henri Bresc, Beno%t Gr8vin, Paris 2002, S. 717–751.

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wurden. Der Text der dionysischen Schriften und der der meisten mittelalterlichen Interpretationen lösten die Herrschaft von einer Abwertung, weil die Liebe als vermittelnde Kraft zwischen den Hierarchieebenen eingepflanzt war und weil irdische Ungleichheiten an eine himmlische Hierarchie anknüpften. Es war eine mystische Verbindung hergestellt, in der Engel und Menschen untereinander in Beziehungen traten. Um das Jahr 500 ist ein langfristig wirksames Deutungsschemata für das okzidentale Europa grundgelegt worden, das hierarchische Differenz als unumstößliche und unangreifbare, weil himmlisch präfigurierte und eingerichtete Ordnung begründete. Liebe gestaltete diese Ordnung, und sie gab diese Ordnung an die Menschen.

V.

Schrecken und Liebe des Königs im frühen Mittelalter

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Beutegemeinschaften und Gewalthaufen

Auf dem Boden des römischen Reiches entstanden seit dem 4. Jahrhundert Königreiche germanischer Herrscher. Die Herrschaft der Könige beruhte u. a. auf der Loyalität und der Kooperation von Gefolgsleuten. Sie war zu gewinnen durch die Beteiligung an Beute und Erwerbungen. Um dies zu leisten, waren eine beständige Gewaltbereitschaft und Gewaltanwendung erforderlich. Nur durch Expansion war die Stabilität der Herrschaft zu erhalten.456 Dies galt insbesondere für das Frankenreich, dessen erster König, Chlodwig, seine Herrschaft am Ende des 5. Jahrhunderts in Gallien errichtete. Zusätzlich entfachte die übliche Aufteilung des Erbes der Könige unter mehrere Söhne und Brüder Kämpfe zwischen den verschiedenen Königen und Prätendenten. Die von Georg Scheibelreiter bezeichnete »barbarische Gesellschaft«457 entbehrte freilich nicht einer theoretischen Begleitung. Anders wäre ja auch keine historiographische Überlieferung möglich gewesen, die wertete und entwertete. Die Gewalt, die die Könige ausübten, traf auf Kritik. Zu den kritischen Beobachtern und Berichterstattern gehörte der Geschichtsschreiber Gregor von Tours (ca. 538–594). Er entstammte einer gallo-römischen Senatorenfamilie, war mit Venantius Fortunatus befreundet, wurde 573 Bischof von Tours, war in dieser Eigenschaft auch in die politischen Ereignisse des Frankenreichs verstrickt, ohne dass er aber als Gefolgsmann einer der Könige in Erscheinung trat. Er stand in Distanz zu den Herrschern, war aber über ihre Taten anscheinend gut informiert.458 Die von ihm detailreich geschilderten Kämpfe zwischen den Angehörigen der Königsdynastie und zwischen konkurrierenden Herrschern im Frankreich sind das Gegenbild eines von ihm selbst gezeichneten und einge456 Karl Kroeschell, Gefolgschaft, in: HRG, 2. Aufl., Bd. 2, Sp. 1991–1995; Hans K. Schulze, Grundstrukturen der Verfassung im Mittelalter, 4. Aufl. Stuttgart 2004, Bd. 1, S. 47–50. 457 Scheibelreiter, Barbarische Gesellschaft, S. 1–22. 458 Heinzelmann, Gregor von Tours.

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Schrecken und Liebe des Königs im frühen Mittelalter

forderten Ideals der Eintracht. Gregor beschreibt eine Herrschaft, die heimliche und listenreiche Gewalt anwendete, die ihre Berechtigung aus dem Erfolg bezog und die die Insignien der Macht, die in der Ansammlung von Schätzen bestand, vorführte, hingegen eine für die Unterworfenen nützliche Herrschaft und eine rechtlich festgelegte Güterverteilung einzurichten, nicht einmal behauptete. Aber dies hieß keineswegs, dass Herrschaft anerkannte Ansprüche ausklammerte, die auch gegen den König erhoben werden konnten. Die Gefolgschaft, die der König um sich scharte, verlangte, an den Vorteilen von Eroberungen und Erwerbungen zu partizipieren.459 Dies setzte voraus, dass der König sie mit der Aussicht auf Beute an sich band. »Folget mir, und ich werde euch in ein Land führen, wo ihr Gold und Silber finden werdet, so viel eure Begierde nur verlangen kann.« Mit diesen Worten soll, nach der Darstellung von Gregor von Tours, Chlodwig die Gefolgsleute zum Krieg unter seiner Führung angespornt haben. »Er versprach den Seinen wieder und wieder – iterum et iterum – dass sie Beute gewinnen können«, so setzt Gregor von Tours den Bericht fort.460 Der König hatte die Aufgabe, seinen Getreuen Gelegenheiten zur Plünderung zu bieten. So band er sie an sich, so gelangen ihm militärische Erfolge und so erwarb er Schätze. Zugleich aber behinderte die Plünderung die Bildung des Schatzes des Königs. Sein Wunsch auf Erwerbungen hatte gegenüber den Ansprüchen seiner Gefolgsleute auf Beute zurückzustehen. Selbst König Chlodwig musste dies akzeptieren. Nach seinem Sieg über Syagrius, den letzten römischen Provinzialstatthalter in Gallien, musste er alles Beutegut mit den Kriegern teilen: Alle Schätze wurden auf einen Haufen öffentlich zusammengetragen, und das Los entschied, wer welchen Gegenstand besitzen sollte. Das ausdrückliche Begehren Chlodwigs, ein wertvolles Gefäß zu erhalten, welches er einer geplünderten Kirche zurückerstatten wollte, stieß auf entschiedenen Widerspruch eines Kriegers, den der König indes zunächst nicht zurückzuweisen und zu ahnden wagte, so dass seine grausame Rache, die Tötung desjenigen, der auf seinem Anspruch beharrte, auf später verschoben wurde, als der König dessen unzureichende Rüstung zum Vorwand nahm, ihn umzubringen. Diese Tötung verbreitete nach der Darstellung Gregors große Furcht unter allen seinen Getreuen und steigerte die Anerkennung seiner Befehlsgewalt, was ihn dazu befähigte, viele Kriege zu führen und viele Siege zu erringen.461 459 Geoffrey Koziol, Begging Pardon and Favor. Ritual and Political Order in Early Medieval France, Ithaca, London 1990, S. 117; Werner Hechberger, Adel im fränkisch-deutschen Mittelalter, Zur Anatomie eines Forschungsproblems, Ostfildern 2005, S. 129–132. 460 Gregor von Tours, Historiae, S. 107f. 461 Gregor von Tours, Historiae, S. 71, 268; Scheibelreiter, Barbarische Gesellschaft, S. 285– 300; Timothy Reuter, Plunder and Tribute in the Carolingian Empire, in: Transactions of the Royal Historical Society, 5th ser., 35, London 1985, S. 75–93 mit Rückblicken auf die Zeit der Merowingerherrscher ; Althoff, Ira regis, S. 63.

Beutegemeinschaften und Gewalthaufen

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Sowohl Beteiligung an der Beutegemeinschaft als auch Furchteinflößung durch den König bildeten die Grundlagen der Herrschaft. Beide waren an Ansprüche der Gefolgsleute gebunden, beide waren Regeln unterworfen, über die auch der König sich nicht hinwegsetzen konnte. Wenn Chlodwig seine willkürliche Verfügungsgewalt erfolgreich ausdehnte, geschah dies, so Gregor von Tours, in einem konfliktreichen Spannungsverhältnis mit seiner Gefolgschaft. Indem Chlodwig Schrecken und Furcht verbreitete, strebte er offensichtlich an, sich den Zwängen des Beuteteilens zu entwinden. In Gallien erklärte der Zeitgenosse und Freund von Gregor von Tours, Venantius Fortunatus, dass Zuneigung aus der Beteiligung an dem Gewinn materieller Güter entstehe. Liebe und Freundschaft waren Begriffe, die die Beutegemeinschaft von König und seinen Getreuen bezeichneten und als Voraussetzung der Macht galten. Die Begriffe seien, so Venantius, verfälscht, ja in ihr Gegenteil verkehrt.462 Liebe und Freundschaft waren eng mit Gewalt verbunden. Der Zusammenhalt der Gefolgschaft, die durch Begriffe der Zuneigung beschrieben war, beruhte auf dem gemeinsamen Gewinnstreben. Die Beutegemeinschaft war indes instabil und musste kurzfristig stets durch neuen Erwerb hergestellt werden. Deswegen unterlag die Herrschaft dem Druck, zu expandieren. Dies gelang, indem durch grausame Taten den Gegnern Schrecken eingeflößt wurde und auch den eigenen Anhängern die Wirkung der Macht durch den Schrecken vor Augen zu führen war. Daher war es wichtig, dass die Gewalt nicht nur zur Aneignung von Gütern führte, sondern dass auch durch deren Zerstörung die Unermesslichkeit von Gewinn und Gewalt demonstriert wurde. Willkürlich schlug die Gewalt zu, sie war nicht berechnend und konnte nicht berechnet werden. Dies erzeugte Schrecken. Niemand konnte sich diesem entziehen. Nicht einmal das Streben nach materiellem Gewinn hemmte ihn. Dies galt selbst dann, wenn der Schrecken des Königs die eigene Gefolgschaft heimsuchte. Vor allem aber traf er Außenstehende. Chlodwig ließ die besiegten Heerführer und Könige töten, damit deren einstige Gefolgsleute in Schrecken verfielen.463 Selbst wehrlose Menschen wurden getötet, Vieh weggetrieben, Häuser zerstört, Schätze vernichtet. Nicht einmal der König konnte dem Treiben Einhalt gebieten. Chilperich I. musste hinnehmen, dass ein friedliches Arrangement mit seinem Bruder Gunthram, vom Reimser Bischof Egidius im Jahre 583 vermittelt, an dem Unwillen seiner Krieger – von Gregor von Tours als populus minor bezeichnet – scheiterte, die darauf bestanden, den Kampf auszufechten, weil nur so Beute gemacht werden konnte. Die Gewaltanwendung entglitt der Kontrolle des Königs, der vielmehr zum Erfüllungsgehilfen der ihm Untergebenen wurde, die die 462 Venantius Fortunatus, Carmen, S. 46–48, 57; Ders., PoHmes, 2, S. 1–6, 53–57. 463 Gregor von Tours, Historiae, S. 71–73, 75f., 85–88, 89–91.

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Brutalität selbst dann verlangten und ausübten, wenn sie sich als schädlich erwies. Die Grausamkeit der Gefolgsleute konnte nicht gebändigt werden, sofern der König nicht die Akzeptanz seiner Macht aufs Spiel setzen wollte. Die Nähe zum König versprach Partizipation an Gewinn, aber nur wenn Gewalt ausgeübt wurde.464 Gregor von Tours verurteilte den Frankenkönig Chilperich, Enkel Chlodwigs und Herrscher in Neustrien, als besonders grausam und sah in ihm eine Imitation von Nero und Herodes. Sein gewaltsamer Tod durch die Hand eines subalternen Dieners ließ seine ungerechte Seele dem Leib entweichen. Die Auflistung von dessen Eitelkeiten, Gewalttaten, Beraubungen, Prassereien und Peinigungen beschloss der Chronist mit der Aussage, dass Chilperich niemanden geliebt und niemand ihn geliebt habe.465 Aber Chilperich war keine Ausnahme. Liebe war nicht vorgesehen im Verhältnis zu den fränkischen Königen aus der Dynastie der Merowinger. Jeder König war in die Verkettung von Gewalt, Gewinn und Macht eingebunden und abhängig von Loyalitäten, die kurzfristig zu erzeugen waren und auch nur kurzfristig in das mündeten, was Venantius Fortunatus als Freundschaft und Liebe bezeichnete, aber zugleich als Zerrbild dieser beiden Werte verurteilte, da sie Gewalt auslösten. Die Gefolgsmänner ließen sich nur mit der Aussicht auf Eroberungen zur Unterordnung gegenüber dem König bewegen. Nachdem seit der Wende zum 7. Jahrhundert die Expansion des Frankenreiches zu einem Ende gekommen war und folglich den Königen Angebote zur Beuteverteilung fehlten und überdies die innerdynastischen Konflikte die Macht der Könige minderten, war die Bereitschaft, als Gefolgsleute Krieg zu führen, geschwächt, was, wie Friedrich Prinz meint, dazu geführt hätte, dass »erstmalig die Macht des Adels auftauchte, der jetzt ein Mitspracherecht erlangte« wie Friedrich Prinz formulierte.466 Dass dies »erstmalig« geschah, ist zu bezweifeln, dass die Macht des Adels vorhanden war, ist indes offensichtlich. Die Macht des Königs ruhte stets auf unsicherem Fundament, insofern er auf die Permanenz von Erfolg, Gewinn von Beute und unermesslich scheinender Furcht angewiesen war. Die Drohung und die Anwendung von Gewalt zielten nicht auf die Durchsetzung einer rechtlichen Ordnung; es ging nicht um die Bestrafung von Verbrechern, nicht um die Abschreckung von Verfehlungen, sondern um die Aus464 Ebda., S. 129, 299–302. 465 Gregor von Tours, Historiae, S. 319f.; die Hintergründe der Ermordung, die wohl auf eine Verschwörung seiner Verwandten verweisen, sollen hier nicht ausgeführt werden; hierzu: Eugen Ewig, Die Merowinger und das Frankenreich, 4. Ergänzte Aufl. Stuttgart u. a. 2001, S. 47. 466 Friedrich Prinz, Europäische Grundlagen deutscher Geschichte (4.–8. Jahrhundert) (Gebhardt Handbuch der deutschen Geschichte, 10. Aufl., Bd. 1), Stuttgart 2004, S. 314.

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schaltung der Feinde. Mitunter genügte die Androhung von Gewalt, um über die Feinde zu siegen. Nicht allein gegen äußere Feinde, sondern auch gegen diejenigen innerhalb des Reiches richteten sich die Drohungen. Auch durch List war vorzuführen, dass niemand der Gewalt des erfolgreichen Königs widerstehen könne. Die Getreuen Chlodwigs zeigten dem Sohn des ripuarischen Frankenkönigs Sigibert, der die Umgebung von Köln beherrschte, einen Schatz voller Goldmünzen; dieser griff mit vollen Händen in die Masse des Goldes, beugte tief seinen Kopf hinein. Dieser Moment der Ahnungslosigkeit wurde ihm zum Verhängnis: Chlodwigs Getreue schlugen ihm den Kopf ab. In der von Gregor von Tours erzählten Rede des Königs vor den nunmehr unterworfenen ribuarischen Franken wies er zwar die Schuld an dieser Tat von sich, hielt aber die Drohung aufrecht und gab allen den Rat, sich ihm zu unterwerfen, um unter seinem Schutz in Sicherheit zu leben. Die List, die auf der Ausnutzung der Gier beruhte, berichtet Gregor von Tours auch von Mitgliedern des merowingischen Königshauses, die in den Haufen voller Gold, Silber und Geschmeide hineinwühlten, ihre Aufmerksamkeit allein auf die Schätze richteten und so gegen heimtückische Angriffe wehrlos gemacht wurden.467 Die List bedeutete das geschickte Operieren mit sozial üblichen Verhaltensmustern, wobei aber deren ursprüngliche Bedeutung hinsichtlich ihrer Absicht und Wirkung ins Gegenteil verkehrt wurde.468 Die Ansprache, die Gregor von Tours dem fränkischen König Theudebald (ca. 537–555) in den Mund legt, erzählt in der Form einer Fabel von einer Schlange, die in eine Flasche voller Wein schlüpft, ihn gierig trinkt, daraufhin anschwillt, deswegen sich nicht mehr hinauszwängen kann und vom Eigentümer des Weins erfährt, dass sie erst das, was sie verschlungen habe, wieder herauswürgen müsse, bevor sie wieder in Freiheit entlassen werden könne. Die Parabel diente der Einschüchterung eines Getreuen, den der König verdächtigte, sich an seinem Gut bereichert zu haben. Die Rede erregte nicht nur bei dem Angesprochenen, so schrieb Gregor von Tours, sondern bei allen Furcht. Die Rede Theudebalds sollte seine Entschlossenheit zeigen, nach seinem Belieben Verderben über seine Gegner und über die Untreuen zu bringen. Die Drohung bedurfte nicht stets der Ausübung der Gewalt, aber die Abschreckung musste glaubhaft gehalten werden, und deswegen wurde die Vernichtungsabsicht erzählt und deswegen musste das Vernichtungshandeln stets neu ausgeführt werden.469 Mochte Gregor von Tours auch die Gewalt der Könige verurteilen, so erachtete er sie doch für eine wirksame Herrschaft als unumgänglich, da es ihr nicht gelang, beständige Loyalität zu erreichen. Umso mehr waren die 467 Gregor von Tours, Historiae, S. 455f. 468 Gerd Althoff, Gloria et nomen perpetuum. Wodurch wurde man im Mittelalter berühmt?, in: Person und Gemeinschaft im Mittelalter. Karl Schmid z. 65. Geburtstag, hg. v. Gerd Althoff u. a., Sigmaringen 1988, S. 297–313. 469 Gregor von Tours, Historiae, S. 140f.

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Geistlichen aufgerufen, in eine unheilvolle Welt einzugreifen, indem sie dem Wüten und dem Schrecken der Herrscher ein Korrektiv gegenüberstellten, das Liebe und Zuneigung versprach.470 Gregor von Tours sah es als die Aufgabe der Bischöfe an, Verbrechen zu untersuchen. Auf diese Weise erwiesen sie auch ihre Nützlichkeit für die Könige.471 Liebe war vom König abgetrennt, sie war den Geistlichen vorbehalten. In dem zeitgenössischen Formelbuch Markulfs war in einem Musterbrief an einen Bischof dessen amor civium genannt.472 Vom König war dabei nicht die Rede. Die Verbindung von List und Schrecken war angebracht, um Macht durchzusetzen, indes für den König nicht ausreichend, um langfristige Bindungen mit den Gefolgsleuten und den Untertanen zu knüpfen, die auch Misserfolg und Schwäche überdauerten. Langandauernde Bündnisse zwischen den Mächtigen und den Königen, von Gregor von Tours und in der Chronik Fredegars mitunter als amicitia bezeichnet, sollten Stabilität schaffen, besonders wenn sie durch Heiratsverbindungen gestärkt wurden. Dennoch verfehlten diese Bündnisse durchweg ihre Wirkung, weil rasch wechselnde Konstellationen und schnell sich verändernde Hoffnungen auf Beute jede Verfestigung von Loyalität konterkarierten, so dass Freundschaftsbündnisse eher zu Auflehnungen gegen den König, als zu dessen Unterstützung führten und in den Quellen meist abseits königlicher Herrschaft angesiedelt und ihr bedrohlich waren.473 Gregor von Tours stellte eine gestörte Ordnung der weltlichen Herrschaft dar. Sie war gestört, nicht nur weil sie ungerecht war, sondern auch, weil die Herrschaft Einbußen hinsichtlich ihrer Wirksamkeit erlitt und nicht auf einer stabilen Akzeptanz beruhte. Der ideale König hätte gerecht regieren, die Priester verehren, die Kirchen beschenken und die Armen unterstützen müssen. Gregor von Tours nahm nur wenige Herrscher von seiner durchgehenden Kritik aus. Dazu gehörte der Enkel von Chlodwig, Gunthram; Gregor bezeichnete ihn als »guten König«.474 Auch König Theudebert, ein Enkel Chlodwigs, kam dem Ideal des guten Königs nahe, meinte Gregor, weil er die Tugenden von bonitas, iustitia, pietas und clementia verwirklicht habe. Sein Urteil begründete Gregor mit den materiellen Schenkungen zugunsten der Kirche und aufgrund der Verteilung von Gütern aus seinem Schatz.475 Also auch das Verhältnis der Geistlichen zum König beruhte auf der Überlassung von materiellen Gewinnen. Verweise auf Zuneigung und Freundschaft fehlten hingegen auch bei der Charakterisierung 470 471 472 473

Heinzelmann, Gregor von Tours, S. 136–141. Gregor von Tours, Historiae, S. 260, 302f. MGH Formulae Merovingici et Karolini aevi, hg. v. Karl Zeumer, Hannover 1882–86, S. 119. Gregor von Tours, Historiae, S. 51, 84, 90, 91, 116, 360, 479, 511, 512, 521, 571; Fredegar, Chronicae, S. 142, 146, 164. 474 Gregor von Tours, Historiae, S. 123, 156. 475 Gregor von Tours, Historiae, S. 123; Erkens, Herrschersakralität, S. 17f., 98, 104–106.

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von König Theudebert. Als fernes Vorbild und damit letztlich als Anachronismus führte Gregor den römischen Kaiser Tiberius ein, dem – obwohl ein heidnischer Herrscher –, es gelungen sei, durch seine Liebe zu allen Menschen von ihnen selbst wiederum geliebt zu werden. Er habe Almosen gespendet, gerecht geurteilt, sei milde gewesen, habe so Zuneigung gewonnen und auf ihr aufbauend seine Herrschaft errichtet. Eine emotional grundierte Beziehung zwischen Herrscher und Volk wurde vorgestellt – als ferner Spiegel einer vergangenen und offensichtlich unerreichbaren Vortrefflichkeit, deren Fehlen in der eigenen jüngsten Vergangenheit und in der Gegenwart Gregor beklagte.476 Liebe unter den Frankenherrschern konnte Gregor nicht feststellen. Wer nach der Macht strebte, verbreitete Furcht: dies galt auch für den am Ende des 7. Jahrhunderts herrschenden neustrischen Hausmeier Ebroin, den die Menschen fürchteten und sich ihm deswegen unterwarfen – so berichtet es die Passionsgeschichte des ihm feindlich gesinnten und von ihm getöteten heiligen Leodegar, des Bischofs von Autun. Beklagt war die Verbreitung der Furcht durch einen Unberufenen, wohingegen der legitime König dazu nicht einmal mehr in der Lage war und dieses Machtmittel dem ihm formal unterstellten Hausmeier überließ. Auch weil der König Furcht nicht erregen konnte, war er nur noch ein scheinbarer König, nur dem Namen nach. Die Usurpation des eigentlich ihm vorbehaltenen Schreckens wurde kritisiert. Faktisch war sie aber erfolgreich; die Dominanz der Hausmeier gegen die merowingischen Könige setzte sich durch.477 Fielen Furcht und Schrecken weg, war die Herrschaft verloren. Auch die Geistlichen waren der willkürlichen Gewalt der Könige und der Furcht, die sie verbreiteten, ausgeliefert, und nicht einmal der in der Nachwelt als vorbildlicher Herrscher hingestellte König Dagobert (ca. 608–639) machte davon eine Ausnahme, wie die zeitgenössische Fredegar-Chronik berichtete, die dem Wirken der Könige nur Durchsetzungskraft zubilligte, wenn sie Furcht erregten.478 Freundschaft und gar Liebe verbanden die Herrscher nur mit einzelnen Personen, die als enge Vertrauensleute wichtige Positionen am Hofe innehatten, wie dies bei Bischof Desiderius von Cahors der Fall war, der König Dagobert als thesaurarius, als Vorsteher des königlichen Schatzes, diente. Die Vita von Desiderius berichtete, dass ihn der König liebe – ihn, der durch Gottesfurcht gekräftigt, stark und treu sei. Mit ihm gebe es Vertrautheit; er sei in die Pfalz Dagoberts aufgenommen worden. Die Vita begrenzte ausdrücklich die 476 Gregor von Tours, Historiae, S. 298. 477 Gesta et passio sancti Leudegarii episcopi et martyris, hg. v. Bruno Krusch (CCSL 117), Turnhout 1957, S. 527–586, S. 534f.; Friedrich Prinz, Von Konstantin zu Karl dem Großen. Entfaltung und Wandel in Europa, Düsseldorf, Zürich 2000, S. 212. 478 Fredegar, Chronicae, S. 146–150; Georges Bischoff, Le bon roi Dagobert entre Vosges et Rhin. Une m8moire militante, in: Le pouvoir au moyen .ge. Id8ologies, pratiques et repr8sentations, hg. v. Claude Carozzi u. a., Aix-en-Provence 2005, S. 51–67.

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Anwendung der Liebe, so weit es den König betrifft, auf seinen Hof und dort auf wenige persönliche Beziehungen. Die Freigiebigkeit des Königs beglückte aber alle Länder des Reiches. Dem Thesaurar Desiderius war anvertraut, diese Freigiebigkeit zu gestalten, indem er aus der Fülle des Schatzes die Gaben verteilte. Ein Brief an Dagobert, der in der Vita inseriert war, hat eine Güterverteilung beschrieben, die viele begünstigte.479 Auch hier war das grundlegende Muster die Beuteverteilung, aber nunmehr in einer entscheidenden Veränderung: Die Verfügung über den Schatz war allein dem König anvertraut, der die Verteilung an einen Bischof delegierte. Die Beteiligung am materiellen Gewinn, die Partizipation am Schatz des Königs erschlossen Loyalität. Aus dem Schatz schöpfte der König die Mittel, im Unterstützung zu erhalten. Der Schatz war mehr als die Ansammlung materieller Güter ; er war das soziale Kapital, das dank der Transfers der Güter eingesetzt und realisiert wurde. Das soziale Kapital war nur dann stabil, wenn das materielle Substrat fluide gehalten wurde. Es war in einen Prozess des Austausches einzubringen. Die Gaben schufen die Voraussetzung, Nutzengemeinschaft zu begründen und dies auf eine Weise, die beständiger gehalten war als durch die Verteilung von Beute, weil der Schatz und seine Veräußerung institutionalisiert, unter der Kontrolle des Königs gehalten waren und unter der Verwaltung einer beauftragen Person standen. An ihn waren zwar Erwartungen gerichtet, Gaben zu gewähren, aber der König allein war der Verursacher der Gabe.480 Den ungeregelten Beuteverteilungen stellte König Dagobert eine regulierte Gabenzuteilung entgegen. Nur weil König Dagobert noch einmal und letztmalig die Macht der merowingischen Königsdynastie vereinte, besaß er die Voraussetzung dieser Verfügungsgewalt. Seinen Nachkommen und Nachfolgern entglitt sie; gelangte an die Hausmeier.481 Wie für die weltlichen Großen waren auch für die Geistlichen Angebote zur gemeinsamen Nutzenmehrung zu machen. Die Könige waren auf die Bischöfe angewiesen als Experten des Regierungshandelns und als Anbieter von Legitimierungen. Nur im Kontakt mit ihnen wurde die Liebe genannt, die neben der Furcht bestand und sie hinsichtlich ihrer Wirkung übertraf. Der amor in ae479 Vita Sancti Desiderii episcopi Cadurcensis, hg. v. Bruno Krusch, in: CCSL 117, Turnhout 1957, S. 344–401, S. 349f., 350; Jean Durliat, Les attributions cilies des 8vÞques m8rovingiens. L’example de Didier, 8vÞque de Cahors (630–655), in: Annales du Midi 93 (1979), S. 237–254. 480 Hans-Joachim Schmidt, Le roi et son tr8sor. Fonction de la puissance royale pendant le haut moyen .ge, in: Thesis. Cahier d’histoire des collections 2 (2003), S. 5–25; Matthias Hardt, Gold und Herrschaft. Die Schätze europäischer Könige und Fürsten im ersten Jahrtausend (Europa im Mittelalter 6), Berlin 2004, Gerd Althoff, Barbara Stollberg-Rilinger, Die Sprache der Gaben. Zu Logik und Semantik des Gabentauschs im vormodernen Europa, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 63 (2015), S. 1–22. 481 Sebastian Scholz, Die Merowinger, Stuttgart 2015, S. 204–215.

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clesiis, wie Gregor von Tours schrieb, gab sich als Fürsorge der Könige für die Armen aus, meinte aber im Konkreten den Schutz und die Vermehrung des kirchlichen Besitzes, wozu die Herrscher verpflichtet seien. Gregor präsentierte eine semantische Erfassung des Gütertransfers durch die Begriffe von amor, desweiteren von reverentia und pietas, damit einen Kontrast zur Bindung der Gefolgsleute entwarf, dabei indes die auch mit den Geistlichen eingegangene Erwerbungsgemeinschaft einforderte.482 Was Gregor von Tours und die wenigen anderen Autoren frühmittalterlicher Zustände darstellten, war eine gestörte Affilation, die keine affektive Bindung kannte, die jenseits unbeständiger Nutzenoptimierung hinausgeragt hätte. Den Zustand zu beklagen, reichte aber nicht – weder um moralische Forderungen hinsichtlich des politischen Handeln vorzustellen noch um Optimierungen zu dessen Gunsten einzusetzen. Legitimierungsstrategien mussten aber mehr bieten als die Aussicht auf Nutzenpartizipation, die nur kurzfristig gewährt wurde und daher stete Wiederholung verlangte. Machtausübung in Institutionen zu binden, setzte die Anerkennung von Verfahren voraus, welche wiederum die Bereitschaft verlangte, nach Normen zu handeln, deren Einhaltung alle band, die in den Institutionen wirkten. Eine einvernehmlich begründbare Herrschaftsausübung musste auf der Stabilisierung von sozialen Bindungen und auf der Konservierung von materiellen Ressourcen bestehen, was die Eindämmung unvermittelter Gewalt und eine Bändigung des Strebens nach kurzfristigem Gewinn bedingte. Um die Effizienz von königlicher Macht zu steigern, war die Verstetigung von Handlungsmustern vorausgesetzt. Der Anspruch auf Beute stand dem entgegen. Eine ethisch argumentierende Herrschaftsbegründung war statt dessen gefordert. Das Operieren der Wörter von Furcht, Schrecken und Liebe wurde Bestandteil dieser Begründung. Emotionale Motivierungen und emotionale Resultate waren eingesetzt. Die Furcht vor Gott galt als Präfiguration und Vorbild der Furcht vor dem König, der damit in einen Bereich eingerückt wurde, der ihn als Inhaber der Macht unangreifbar machte und seinem Handeln zwar moralische, aber keine institutionellen Schranken auferlegte.483 Die Aufladung der Herrschaftspraxis mit Begriffen der Emotionalität bedeutete indes nicht das Eindringen von Empathie, vielmehr handelte es sich um die semantische Einbettung legitimatorischer Praktiken, also um den Gebrauch der Sprache zwecks Akzeptanz der Macht. In diesem Punkt sehe ich einen Unterschied gegenüber den Auffassungen, wie sie in zwei jüngst erschienenen Pu482 Gregor von Tours, Historiae, S. 393–397; siehe hierzu die Überlegungen zu den weiter bestehenden Praktiken unter den karolingischen Herrschern: Timothy Reuter, Plunder and Tribute in the Carolingian Empire, in: Warfare in the Dark Ages, hg. v. John Frane, Kelly R. DeVries, Aldershot 2007, S. 57–94. 483 Yitzhak Hen, The Uses of the Bible and the Perception of Kingship in Merovingian Gaul, in: Early Medieval Europe 7/3 (1998), S. 277–290.

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blikationen R8gine Le Jan vorgestellt hat, geht es ihr doch um die Einwirkung, weniger um die Inszenierung von Emotionen.484 Manifestation von Emotion, nicht deren Realisation war verlangt. Dies geschah durch die Belehrung, durch die Ermahnung und durch das Zeigen von Vorbildern.

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Eine intellektuell anspruchsvolle Deutung des Königtums germanischer Herrscher erfolgte erstmals auf der iberischen Halbinsel, wo die Könige der Westgoten ihre Herrschaft etablierten. Der Unordnung der Gewalt wurden Angebote entgegengestellt, die eine Ordnung auf der Grundlage von Transfers der Emotionen vorsahen. Es waren Antworten verlangt auf die Frage, wie Herrschaft begründet und gerechtfertigt werden könne, wenn unter den geänderten Bedingungen einer herrschaftlichen Pluralität, deren Legitimität nicht vom römischen Kaiser abgeleitet war, die Einheit der Kirche nicht mit der eines Königreiches übereinstimmte. Der Legitimitätsbedarf für die Könige war hoch. Kirchliche Institutionen und Personen stillten ihn. Es war zu klären, ob die Anerkennung der christlichen Religion und die Einbindung in Institutionen des Imperiums und der seit dem 4. Jahrhundert auf ihm entstandenen germanischen Königreiche die einst in der christlichen Antike vorgebrachte kritische Position gegenüber der weltlichen Herrschaft obsolet machten. Der Strom der Erörterungen zur Herrschaft entsprang im Mittelalter zunächst aus der Quelle der Theologie. Die Sakralisierung des Königtums, gekennzeichnet durch die Salbung und die Krönung, beides liturgische Akte, die die Mitwirkung von Bischöfen verlangten, führte zu einer Annäherung von Kirche und Königtum. Die Kirche bot sowohl Legitimierung des Königs an als auch dessen Belehrung. Die beiden Themen verlangten Reflexionen, die in Texten festgehalten wurden. Die Deutung des Königtums fußte auf einem Verständnis, das ältere Auffassungen aufgriff, die der Bibel und der Kirchenväter der christlichen Antike, ohne freilich die in ihnen enthaltenen Abwertungen der Herrschaft zu übernehmen. Vielmehr war eine produktive, d. h. auch opportunistisch ausgerichtete und umdeutende Verwendung von Textpassagen erforderlich, um das Königtum zu begründen, zu rechtfertigen und normativ zu formen. Weil die Geistlichen beanspruchten, dass nur sie eine liturgische Kompetenz ausübten, die sie als Mittler zwischen Gott und den Herrschern positionierte, gaben sie sich als befugt aus, Herrscher durch Rat anzuleiten.485 Große, insbesondere konzeptionelle 484 Le Jan, Entre amour; Dies., Quem decet. 485 Otto Höfler, Der Sakralcharakter des germanischen Königtums, in: Das Königtum. Seine geistigen und rechtlichen Grundlagen (Vorträge und Forschungen 3), Lindau 1956, S. 75–

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Anstrengungen unternahmen die Kirchenmänner, wenn sie nach Einfluss und Gestaltungsmacht strebten und sie an der weltlichen Herrschaft mitzuwirken versuchten. Ein Einfallstor für ihre Beteiligung an der Machtausübung war die Verbindung zur göttlichen Sphäre, die die Könige beanspruchten, gerade auch, wenn sie als Spender eines Heils auftraten, was von diesen ein erhöhtes Maß an Verpflichtungen, die zu definieren geistliche Autoren bereit standen, verlangte.486 Ein intellektuelles Substrat, das in der Antike geformt worden war, war dabei zu aktivieren. Als einer der folgenreichsten Übermittler antiken Bildungsgutes für das Mittelalter erwies sich der Bischof Isidor von Sevilla (ca. 560–636), insbesondere durch sein zahlreich kopiertes und umfangreich zitiertes enzyklopädisches Werk der sogenannten Etymologiae. Der Autor, der in der – auch durch die kurzfristige Eingliederung in das Römische Reich durch Kaiser Justinian nach 552 – intensiv romanisierten einstigen Provinz Baetica, im Süden der iberischen Halbinsel, lebte, seit 600 Bischof von Sevilla war, unter der Herrschaft der seit 587 katholisch gewordenen Westgoten die Kultur der Antike und die Rechtgläubigkeit, wie sie die ökumenischen Konzilien definiert hatten, verteidigte und die Kooperation mit dem königlichen Hof suchte und fand487, verfasste diese Schrift, um ein breit aufgefächertes Wissen zusammenzustellen, das er an Wörtern anheftete, und um durch deren etymologische Ableitungen die Wesensbestimmungen der Dinge aufzudecken.488 Das Werk bildete die Grundlage für den Gebrauch der lateinischen Sprache und ihrer Terminologie zumindest bis in das 13. Jahrhundert, als neue Enzyklopädien gebräuchlich wurden.489

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104; Klaus von See, Kontinuitätstheorie und Sakraltheorie in der Germanenforschung. Antwort an Otto Höfler, Frankfurt a. M. 1972; Adalbert Erler, Königsheil, in: HRG 2 Berlin 1978, Sp. 1040. Erkens, Herrschersakralität, S. 5–7, 215–225, 259, 260–270; Kosuch, Abbild, S. 9–26, 37–47, 103–107; Coronations; Achim Thomas Hack, Zur Herkunft der karolingischen Königssalbung, in: ZKG 110 (1999), S. 170–190: Josef Semmler, Der Dynastiewechsel von 751 und die fränkische Königssalbung (Studia humaniora. Series minor 6), Düsseldorf 2003, Wolfram Drews, Die Karolinger und die Abbasiden von Bagdad. Legitimationsstrategien frühmittelalterlicher Herrscherdynastien im transkulturellen Vergleich, Berlin 2009, S. 79– 81. Hans-Joachim Diesner, Isidor von Sevilla und das westgotische Spanien, Berlin 1977; John Henderson, The Medieval World of Isidore of Seville. Truth from Words, Cambridge 2007. Arno Borst, Das Bild der Geschichte in der Enzyklopädie Isidors von Sevilla, in: DA 22 (1966), S. 1–62; Hans-Joachim Diesner, Isidor von Sevilla und das westgotische Spanien, Berlin 1977; Udo Kindermann, Isidor von Sevilla, in: Lateinische Lehrer Europas, hg. v. Wolfram Ax, Köln 2005, S. 273–290; Gerd Kämper, Isidor von Sevilla und das Königtum, in: Antiquit8 tardive 23 (2015): Isidor de S8ville et son temps, S. 123–132. Christel Meier-Staubach, Grundzüge der mittelalterlichen Enzyklopädie. Zu Inhalten, Formen und Funktionen einer problematischen Gattung, in: Literatur und Laienbildung im Spätmittelalter und in der Reformationszeit, hg. v. Ludger Grenzmann, Karl Stackmann, Stuttgart 1984, S. 467–500; Dies., Über den Zusammenhang von Erkenntnistheorie und

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In dem Kapitel dieses Buches, De religione et fide, führt Isidor die Unterscheidung zwischen amor, dilectio und caritas ein – Begriffe, die Augustinus unterschiedslos und willkürlich verwendet hatte. Allein die beiden letzten Wörter, so Isidor, bezeichneten Formen der Liebe, die verdienstvoll seien; ohne sie seien alle Werke des Menschen nichtig. Während die dilectio allen Menschen zugänglich sei, so sei die caritas den Christen vorbehalten und von ihnen gefordert und spiegele die Liebe Gottes wider. Die dilectio carnalis hingegen sei in Wahrheit keine dilectio, sondern müsse eher als amor bezeichnet werden. Sie nenne die libidinösen Triebe der Menschen. Das Wort verwendet Isidor auch dazu, eine den Frauen angeborene Schwäche zu erklären, die sie wesenhaft den Tieren angleichen würde. Unruhe bringe der amor hervor, weil er von Affekten gesteuert werde. Etymologisch und terminologisch verbindet Isidor den Begriff amor mit dem Begriff amicitia, dem Isidor zwar einen ethischen Wert zuerkennt, weil aus der Freundschaft Schutz und gegenseitige Unterstützung hervorgehe, aber doch tiefer als die dilectio hinsichtlich der Wertigkeit einzureihen sei. Denn aus der amicitia entstehe lediglich eine durch Verwandtschaft oder durch die Gemeinsamkeit des Nutzens begründete Verbindung, während die dilectio eine umfassende, alle Menschen einschließende Zuneigung und Unterstützung einrichte. Freundschaft zu schließen, sei durchaus verdienstvoll. Jede Anstrengung, sie zu erringen, sei gerechtfertigt. Isidor meint, dass nicht jeder zur Freundschaft fähig und nicht jeder ihr würdig sei. Aber gleichwohl: Die Freundschaftsliebe schließe lediglich wenige ein und sei dem Streben nach persönlichen Vorteilen verhaftet. Dilectio und caritas hingegen seien selbstlos. Anders der amor. Aus diesem könne nicht einmal eine gemeinschaftsbildende Kraft entspringen, die Menschen in den diesseitigen Angelegenheiten verbinde. Im Gegenteil: Isidor meint, nur der Verzicht auf eine solche Art der minderwertigen Liebe habe es den Amazonen einst ermöglicht, eigene Reiche zu begründen, zu verteidigen und zu erhalten, so wie derselbe Verzicht den Jungfrauen zu seiner Zeit erlaube, sich ganz dem geistlichen Kampf, d. h. dem Dienst der Kirche und dem Streben für das Seelenheil, zu widmen. Deswegen hat der amor einen geringeren Wert als die amicitia, die ja immerhin sozial nützlich sei und aus der Natur des Menschen herrühre.490 Isidor schließt hingegen aus, dass es eine natürliche Begründung von dilectio und caritas gebe; er verneint, dass sie gar spontan entstünden; vielmehr gingen sie aus der Befolgung einer religiösen Pflicht hervor, die z. T. auch die Heiden zu befolgen hätten. Auf die politische Ebene übertragen, unterliegt auch die Machtausübung des Königs einer Regelbefolgung, sofern sie rechtmäßig geenzyklopädischem Ordo in Mittelalter und Früher Neuzeit, in: Frühmittelalterliche Studien 36 (2002), S. 171–192. 490 Isidor von Sevilla, Etymologiae, VIII, 2,8; X, 4–5; XI,2, 20–24.

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handhabt wird und damit im eigentlichen, d. h. vom Wortursprung abgeleiteten Sinn, mit dem Begriff kohärent ist. Indem Isidor das Wort rex in der Weise definiert, das es denjenigen bezeichnet, der recht handeln soll – recte agenda –, verwendet er auch an dieser Stelle eine Argumentationsweise, die von der Etymologie auf den Begriffsinhalt schließt. Die Ableitung aus dem Wort regendo, an anderer Stelle von Isidor vorgeführt, ist nicht weniger geeignet, Normen zu begründen, insofern etymologisch und damit auch semantisch die gleiche Bedeutung des rechten Handelns enthalten ist. Dieses verlange vom König, die Verfehlungen der Menschen zu korrigieren – und zwar streng; nur so könne der König die Tugend der Gerechtigkeit erlangen. Die Könige seien von ihren Untertanen gefürchtet. Diese Furcht verbindet Isidor wesensmäßig mit dem Begriff und der Sache des Königtums. Ja, der König sei verpflichtet, dass von ihm terror erzeugt wird. Der Schrecken beruhe auf der Furcht. Aber beide sollten nicht auf die Person des Königs gerichtet sein, sondern eine Verfahrensordnung in Kraft setzen, die das Verhältnis zu den Untertanen gestaltet. Der König selbst müsse modestus und temperatus sein. Die Einflößung von Furcht und der Schrecken gelten nicht als persönlicher Makel, denn sie werden ent-individualisiert und statt dessen relational konzipiert und für die Institution des Königtums nutzbar gemacht. Deswegen solle sich der König davor hüten, dass die Grausamkeit, crudelitas, ihn umgebe, ansonsten wäre er ein Tyrann. Denn die Grausamkeit schließe den Einzelnen von anderen aus und lasse keine Beziehung zu.491 Der Tyrann ist aber mehr noch charakterisiert und definiert als überheblicher Herrscher, der die Gewalt Gottes nicht anerkennt. Nicht eine politische Bewertung, sondern eine persönliche Kennzeichnung und mehr noch eine religiöse Bewertung nimmt Isidor vor. Als Prototyp des Tyrannen nennt er den im Buch Genesis als Jäger vorgestellten König Nimrod (Gen. 10,8–12), den Isidor als König von Babylon bezeichnet. Nicht nur gegen die Menschen, auch gegen Gott habe sich Nimrod versündigt. Aus Hochmut habe er den Turm zu Babylon errichtet. Aus der Bibelstelle, die lediglich die Tätigkeit als Jäger erwähnt, leitet Isidor eine ethische Bedeutung ab. Isidor unterscheidet deutlich zwischen König und Tyrann. Nimrod ist für ihn nicht der Ahnherr der Könige, sondern ausschließlich der Tyrannen. Der Tyrann wird nicht durch den Schrecken, den er über seine Untertanen verbreitet, charakterisiert, schließlich verbreiten ihn die Könige auch, sondern durch seine Hybris, die ihn zur Auflehnung gegen Gott verführt. Die politische Bewertung tritt hinter der religiösen zurück. Der Schrecken, damit er gerechtfertigt und gar eingefordert werde, sei, so Isidor, in den Dienst Gottes zu stellen. Der gute Schrecken müsse in rechter Weise geformt werden. Denn die Gewalt, die ihn auslöst, solle moderiert werden und nicht willkürlich wüten, er müsse ein Ziel haben, nämlich die Untertanen auf das ewige 491 Ebda., I, 29, 3; I, 31, 25; IX, 3,1–7.

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Heil zu leiten. Die Gewalt wird deswegen nicht geringer. Ihre religiöse Intentionalität hält die ethische Qualität des Herrschers, der sie ausübt, intakt. Obwohl der Schrecken einem religiösen Zweck dient, nicht der Herrschaft, führt er ihr Gestaltungsmacht zu. Anders als Augustinus reserviert Isidor den Schrecken nicht auf den Kampf gegen die Ketzer. Stets ist Herrschaft der göttlicher Einsetzung und Weisung unterstellt und mit der Ausübung des Schreckens beauftragt. Herrschaft sei unvermeidbar ; denn wegen der Sünde der ersten Menschen habe Gott sie mit der Knechtschaft gestraft, und obwohl durch die Gnade der Taufe die Erbsünde erlassen werde, verfüge Gott in seiner Gerechtigkeit die Einteilung der Menschen in Herren und Diener, damit letztere durch die Gewalt der ersteren von üblem Tun abgehalten würden. Es ist der Zorn Gottes, der den Zorn des Königs ermöglicht – mehr noch: ihn verlangt. Nicht die Imitation göttlichen Handelns und Wollens, ist vorgesehen, sondern die Bevollmächtigung durch Gott. Isidor nimmt Vorstellungen, die im Alten Testament und bei Laktanz formuliert worden waren, auf.492 Die Bewertung und die Definition des Königs entwickelt Isidor aus der Beschreibung der Beziehungen zwischen Gott, König und Volk. Die Beziehungen sind unumstößlich, so dass keine Motive dargelegt und keine Strategien der Macht gezeigt werden. Die statische Unverrückbarkeit, die an den Wörtern haftet, lässt kein Ausweichen von der Herrschaft zu. Die moralischen Werte werden in die politische Sphäre nur eingefügt, insofern sie den religiösen Anliegen dienen. In der Schrift Etymologiae wird daher nicht deutlich, in welcher Weise der König recte handeln soll. Dies erläutert Isidor genauer in seiner Schrift Sententiae. Sie gehört der Gruppe der Texte zur Fürstenbelehrung an. Der König sei als ein Werkzeug Gottes eingesetzt, um das Verhalten seiner Untertanen zum Guten hin zu leiten und für die Sicherheit der Kirche zu sorgen. Dazu sei die Furcht vor dem Herrscher nötig. Nichts als die Furcht könne die Menschen vom Bösen abhalten. Wie sollten die Menschen von bösen Handlungen ablassen, wenn sie keine Furcht hätten? – so die rhetorische Frage Isidors, damit die Selbstverständlichkeit der Furcht als Disziplinierungs- und folglich auch als Herrschaftsinstrument herausstellend.493 Verbote genügten nicht, sie müssten auch durchgesetzt werden – durch die Furcht. Die Furcht hat Gott aus Barmherzigkeit den Menschen auferlegt, um sie mit einem Schutz vor der Versuchung zum üblen Handeln auszustatten. Der König habe zwar keine Gewalt in der Kirche, aber Gewalt für die Kirche. Er sei verpflichtet zu strafen, sofern es den Priestern nicht gelinge, durch die Predigt der christlichen Lehre die Sünder zur 492 Ebda, VIII, 6,22; Stürner, Peccatum, S. 34, 98; Buc, Pouvoir, S. 691–713, Ders., Ambiguit8, S. 108–117, 141, 225, 237, 345. 493 Isidor von Sevilla, Sententiae, S. 295–298.

Die Unterscheidung von König und Tyrann: Isidor von Sevilla

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Umkehr zu bewegen. Bei Versagen der geistlichen Anweisung trete der terror disciplinae in Aktion. Der Schrecken, den der König verbreite, gehöre zu seiner Herrschaft, und er sei eine Pflicht, der er nachkommen müsse, dies umso mehr, je größer seine Macht sei. Am höchstens habe die Strenge – rigor – zu sein, wenn der König diejenigen vernichte, die sich gegen Glauben und Disziplin der Kirche erheben. Isidor räumt dem König in den Momenten höchster Gefahr für das Christentum sogar Befugnisse gegenüber Priestern ein, denn nur ihm sei es möglich, die Schlechten unter ihnen durch die Furcht in die Schranken zu weisen. König und Kirche wirken ansonsten arbeitsteilig, um gegen die Verbrechen und den Unglauben vorzugehen. Der Schrecken des Königs ist allein schon deswegen notwendig, um die Kirche von dieser Aufgabe zu entlasten.494 Der Schrecken, der mit dem Königtum in Verbindung steht, hat eine Funktion, wird zur institutionellen Praxis und wird ethisch aufgeladen, indem er nicht ein bestenfalls hinzunehmendes Übel, mehr als nur ein schädigendes, aber notwendiges Werkzeug in der Hand des Königs, sondern Voraussetzung von dessen tugendhaftem Handeln ist. Der institutionalisierte und ethisch geformte Schrecken wird zum Terror. Er kennzeichnet das Wesen des Königs – nicht seiner Person, aber seines Amtes. Isidor von Sevilla erachtet die wahre christliche Religion als Voraussetzung für den rechten Gebrauch des Schreckens. Wenn dies nicht der Fall ist, ist er verwerflich. Die Bewertung des Schreckens hängt von seiner Intention ab. In der Chronik zur Geschichte der Westgoten, die Isidor von Sevilla verfasste, gilt ihm der Schrecken als ein Kennzeichen derer, die eigennützig vorgehen, unrecht Gewalt verüben, plündern und morden. Dies ist so, weil die nach Spanien eindringenden Invasoren und damit auch die Westgoten der Vergangenheit, die noch dem Heidentum anhingen oder in dem arianischen Irrglauben verhaftet waren, die Furcht und den Schrecken verbreiteten. Bei den Ungläubigen waren Furcht und Schrecken nicht Aufgabe, sondern Verfehlung. Genauso wenig wie Freundschaft und Liebe begründen sie eine rechtmäßige Gewalt. Sie kann allein durch die Kirche und durch die Taten für den wahren Glauben entstehen. Aber das Legitimationsdefizit, das Isidor für die einstigen Westgoten feststellt, dehnt er bis in seine Gegenwart aus. Das Handeln der westgotischen Könige bildet ein undurchschaubares Geschehen, eine Abfolge von Zufälligkeiten, deren Sinn einzig Gott zu erkennen vermöge, wie der Autor am Ende seines Werkes resigniert feststellt. Nicht einmal die Konversion des westgotischen Königs Rekkared I. zum katholischen Glauben, die zu Lebzeiten Isidors geschah, ändert etwas an der Weigerung Isidors, politische Geschichte und Heilsgeschichte zusammenzuführen. Insofern steht der Chronist Isidor von Sevilla in der Tradition von Augustinus. Es ist nicht allein die lakonische chronikalische Darstellungs494 Ebda., S. 298–304.

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weise, die die Erörterung von Herrschaftslegitimationen ausschließt, nicht allein die Faktizität der berichteten Ereignisse, sondern eine allgemeine Weigerung Isidors, der Geschichte eine Bedeutung oder gar eine Lehre abzuringen.495 Eine an Normen ausgerichtete Bewertung der Herrscher und der Herrschaft fehlt in der Darstellung der Geschichte. Aus der Geschichte zu lernen, ist nicht vorgesehen. Die Belehrung zum rechten Tun und zur Verbindung von Herrschaft und Seelenheil sahen andere Textgattungen vor. Zu ihnen gehörten die theoretischen Werke Isidors zum Wissen und zur Ermahnung. Zu ihnen gehörten auch genuin normative Texte. Die westgotischen Gesetze benennen nicht allein Regeln, sondern sie verbinden sie mit Emotionen und begründen sie. Die Gesetze behandeln ähnlich den Ausführungen Isidors in seinen theoretischen Schriften den Schrecken. Er ist eine Pflicht, welcher der König nachzukommen hat. Die Leges Visigothorum, seit der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts kodifiziert und in den folgenden Jahrhunderten erweitert, befestigten eine Vorstellung königlicher Gewalt, die den Schrecken als legitimes Mittel einsetzt, um Vergehen zu ahnden, insbesondere um Aufstände niederzuschlagen. Dem Knecht, der ungehorsam sei, sollten zweihundert Peitschenhiebe verabreicht werden – zur Abschreckung der anderen. Auch in den Gesetzen war der Schrecken gemäß seines Gebrauchs ethisch unterschiedlich bewertet. Der aliorum terror, also der Schrecken der Abtrünnigen, der Feinde und der Ungläubigen, könne nur bekämpft werden, wenn der Gegen-Schrecken verbreitet werde. Deswegen sollten die Strafen vor aller Augen vorgeführt werden.496 Der Schrecken sollte durch seine intendierte Publizität gegenüber allen Untertanen wirken, sie vor Verbrechen abhalten und sie überdies zur Unterwerfung unter die Gewalt der Herrscher führen. Der Schrecken bedurfte der Inszenierung. So gelang die Prävention gegen Auflehnung. Ohne Schrecken gab es keine Herrschaft. Isidor von Sevilla knüpfte an die Überlegungen der christlichen Autoren der späten Antike an. Anders aber als diese war er aber entschlossen, das von ihnen konstatierte definitorische Defizit der Herrschaft durch Optimierungsanforderungen aufzuheben, um eine friktionsfreie Verbindung von christlicher Religion und weltlicher Herrschaft zu erreichen.

495 Isidorus Hispalensis, Chronica maiora, in: MGH AA 11, hg. v. Theodor Mommsen, Berlin 1894, S. 391–481, S. 86, 481. 496 Leges Visigothorum, hg. v. Karl Zeumer (MGH LL 1), Hannover 1902, S. 200, 220, 313.

Die Ordnung von Furcht, Schrecken und Liebe

3.

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Die Ordnung von Furcht, Schrecken und Liebe

Die Gewalt des Königs bedurfte der Legitimierung und der Normierung der Machtausübung. Die Bösen waren mit Furcht und Schrecken zu bessern. Furcht zu verbreiten, war die Pflicht des Königs. Im Frankenreich wurden seit seinem Beginn am Ende des 5. Jahrhunderts Vorstellungen entwickelt, die Schrecken und Furcht mit der Liebe verknüpften und sie den Königen empfahlen. Die Verbindung wurde zur Norm und zur Definition des Königtums. Wohl der erste, der die widersprüchlich erscheinende Verknüpfung von Furcht und Liebe vorsah und für die folgenden Jahrhunderte ein Konzept entwickelte, das Nachahmungen und Modifizierungen erfuhr und auf die Kombination von Schrecken und Liebe erweitert wurde, war Remigius von Reims, der in seiner Eigenschaft als Bischof von Reims den ersten König der Franken, Chlodwig, vermutlich zu Weihnachten 498 taufte.497 Von ihm ist ein Brief überliefert, der vermutlich um die Jahre 481 oder 482 verfasst wurde, vielleicht ihm aber nur zugeschrieben war, in jedem Fall aber als Dokument der Fürstenbelehrung Autorität beanspruchte und erlangte. Der Brief war an den König adressiert und sprach ihn als bereits christlichen Herrscher an. Er ermahnte ihn, die Bürger zu richten, die Verbrecher zu strafen, den Unterdrückten zu helfen, die Witwen zu unterstützen und die Waisen zu ernähren, so dass ihn alle liebten und fürchteten: ut omnes te ament et timeant. So gelinge es ihm, die Provinzen besser zu beherrschen. Remigius verlangte eine Bindung des Herrschers an Taten, die die christliche Gemeinschaft verbessern und die Menschen zum guten Tun anleiten sollten und im Ergebnis seine Macht stärkten – eine Aussicht, die die Hinwendung zum Christentum lohnend erscheinen ließ. Liebe und Furcht hatten keine distinkten Anwendungen. Sie bildeten einen Komplex, der den König umgab und nicht von außen entwirrt werden konnte. Beide waren Instrumente und sollten angewendet werden, um zu herrschen, gut zu herrschen. Der affektive Gehalt der Begriffe sah keine gegenseitige Bindung mit den Untertanen vor, sondern einseitige Einwirkung. Die Untertanen mussten die Liebe dem König erbringen; dieser die Untertanen nicht fürchten. Ausdrücklich empfahl Remigius aber, dass Chlodwig von den Armen, denen zu helfen er verpflichtet sei, keine Liebe erwarten solle. Auch die anderen Beziehungen des Königs waren unilateral gerichtet: Der König solle mit allen, die an seinen Hof kommen, gütig verfahren, so dass niemand traurig wegziehe. Belehrung solle er von den Geistlichen annehmen. Offensichtlich war von ihnen eine Anweisung zu erwarten, wie Liebe und Furcht geordnet verbreitet werden sollten. Mit Si497 Michel Rouche, Die Bedeutung der Taufe Chlodwigs, in: Die Franken. Wegbereiter Europas. Vor 1500 Jahren. Chlodwig und seine Erben. Katalog der Ausstellung Mannheim 1996, Mainz 1996, Bd. 1, S. 183–199.

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cherheit flossen aus der Kirche die Quellen seiner Legitimität, die ihn berechtigte, seine Macht auch durch Gewalthandeln auszuüben.498 Der Brief stimmte das Thema an, das in den folgenden Jahrhunderten Furcht, Schrecken und Liebe als Aufgaben der Herrscher anmahnte und dabei zugleich die Fähigkeit, Distanz zwischen Herrschern und Beherrschten einzuhalten, voraussetzte. Die Furcht wurde als positiver Wert vorgestellt, er war nicht mehr Kennzeichen einer tyrannischen Herrschaft, nicht mehr – im besten Falle hinzunehmende – Begleiterscheinung jeder Herrschaft, nicht mehr ein zu erduldendes Übel, auf das auch eine religiös legitimierte Herrschaft nicht verzichten konnte. Nein: Sie hervorzurufen, wurde zur Pflicht. Die Permanenz der Macht beruhte auf Liebe und Furcht. Aus dem Gegensatz wurde eine Kombination geformt. Die Emotionen waren institutionell angebunden, sollten nicht die Person des Königs kennzeichnen, sondern die Wirkungen benennen, die er in seiner Umgebung hervorrufen sollte und in der Summe die Institution des Königtums formten. Aus der unabwendbaren Furcht, die Augustinus und Gregor der Große dem Handeln von Herrschern und ihren Beamten untergelegt hatten und sie als inhärenten Fehler bewerteten, wurde die gewollte und angemahnte Furcht. Aus einer Heimsuchung Gottes, den Menschen nach dem biblischen Sündenfall auferlegt, wurde ein Mittel zu Besserung der Menschen. Der Einsatz war nunmehr didaktisch ausgerichtet. Die Ausübung von Furcht wurde zur Tugend. Die Exklusivität der Einflößung von Liebe und Furcht reservierte dem König ein Instrument der Macht, das anderen vorenthalten war. Weil die Furcht nicht einmal eindeutig in einzelnen Situationen, etwa denen der Bestrafung, zu verbreiten war, vielmehr unbestimmt, unvorhersehbar und überraschend drohte, jeden treffen konnte, verbreitete sie Schrecken. Es gab keine spezifische Aufteilung der Anwendung von Furcht und Schrecken, lediglich die Anweisung, sie in den Dienst der Gerechtigkeit zu stellen. Remigius bezeichnete die geordnete Anwendung mit ordinatio; sie lag allein in den Händen des Königs. Dieser hatte die Sehnsucht nach moralischer und sozialer Geborgenheit, die eine intakte Persönlichkeit gewährleisten sollte, zu erfüllen. Die Persönlichkeit war dann intakt, wenn sie mit der Institution, die sie leitete, konform war. Der Herrschaftsantritt von Chlodwig und seine Taufe nährten bei Remigius die Hoffnung, dass diese Sehnsucht in Erfüllung gehen könne.499 Die Aufforderung von Remigius stand neben anderen, die weiterhin verlangten, der König solle keine Furcht erzeugen. Angelehnt an das Ideal von Freundschaften, wie sie in der Antike besonders Cicero in seiner Schrift Laelius 498 Remigius von Reims, Epistolae austrasicae, hg. v. Wilhelm Gundlach (CCSL 117), Turnhout 1957, Nr. 2, S. 408f.; William Daly, Clovis, how Barbaric, how Pagan?, in: Speculum 69 (1994), S. 619–664, S. 631–636. 499 Erkens, Herrschersakralität, S. 103–105.

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konzipiert hatte, sollten die Herrscher in Freundschaftsbande einbezogen werden. Eine Herrschaftsausübung, die die Mitwirkung vieler vorsah und nicht die Macht allein dem König reservierte, war das Ideal, das Caesarius von Arles (469– 542) vorstellte. Er, geistlicher Oberhirte von Arles, einen Primat über Gallien anstrebend und in einer konfliktbeladenen Beziehung zu den Königen der Burgunder stehend500, erachtete Freundschaften als Mittel, Frieden zu stiften. Die amicitia, sofern sie gottgefällig und auf die Gestaltung der Gemeinschaft der Christen ausgerichtet sei, sei der Vernunft gemäß und müsse vom Herrscher mit seinen Untertanen geknüpft werden. Eine solche amicitia, die ich als politische Freundschaft kennzeichnen möchte, übersteige eine amicitia, die sich damit begnüge, der Gewohnheit zu folgen und die Zuneigung nur auf den Nahbereich zu richten. Die Freundschaft der Herrscher motiviere sie, ihre Macht zum Nutzen der ihnen Untergebenen auszuüben. Caesarius formulierte eine Forderung. Es war wohl aber nur ein Wunsch. Er gehe nur selten in Erfüllung, schreibt er. Caesarius meint, dass die amicitia nicht in erster Linie bei den Herrschern bestehe. Er erachtet vielmehr die Klöster als den ertragreichen Nährboden von Freundschaften, sofern sie sich abseits liebender Begierden entfalteten und aus diesem Grund den Notwendigkeiten der weltlichen Bedürfnisse enthoben seien. Eine klösterliche Freundschaft übertraf die politische hinsichtlich ihres Wertes und ihre Realisierungschance. Caesarius schrieb eine Nonnenregel, die regula virginum, die dieses Ideal formulierte. Der Text fand in den Frauenklöstern weite Verbreitung im frühen und hohen Mittelalter.501 Durch die Rückführung der Freundschaft auf Gott löse sie sich, wie Caesarius in einem Predigttext ausführt, von allen Versuchungen und Verstrickungen der Welt und sei davor gefeit, ihr Wesen zu verfehlen und sich in irdische Nichtigkeiten zu verlieren und nur nach eigenen Vorteilen zu streben. Menschliche Eigenschaften und Anstrengungen allein seien nicht in der Lage, Freundschaften zu stiften. Eine Erweiterung hin zu den Einrichtungen der Macht scheint bei einer solchen Deutung der Freundschaft fast ganz ausgeschlossen. Aber emotionale Zuwendung sei auch bei Herrschern und ihnen gegenüber möglich, doch glimme sie nur als ein schwacher Abglanz von dem Licht einer wahrhaftigen Freundschaft, die bar jeden Bestrebens nach Eigennutz rein gehalten sei.502 Wie die Freundschaft als ideale Verbindung zwischen den Menschen auch den König einbezieht und dabei auch die Herrschaft selbst erfasst, suchte hingegen 500 Rosemarie Nürnberg, Caesarius von Arles, in: Reallexikon für Antike und Christentum, Supp.-bd. 2, Stuttgart 2002, Sp. 267–283. 501 El Khali, Lektüre in Frauenkonventen des ostfränkisch-deutschen Reiches vom 8. Jahrhundert bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts, Würzburg 1997, S. 64f. 502 Caesarius Arelatensis, Sermones, Bd. 1 (CCSL 103), Turnhout 1953, S. 90–9; Epp, Amicitia, S. 124f.; Reydellet, Royaut8, S. 321–339; Reinhard Steiger, Die Ordnung der Welt. Eine Völkerrechtsgeschichte des karolingischen Zeitalters (741–840), Köln, Weimar 2010, S. 686.

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Venantius Fortunatus darzulegen und einzufordern, ohne Freundschaft in den Klöstern einzuschließen. Venantius verband pagane Vorstellungen zur Freundschaft und christliche Gebote zur Nächstenliebe und machte sie für eine Ethik des Handelns von Herrschern fruchtbar. Venantius Fortunatus lebte während der zweiten Hälfte des 6. Jahrhunderts, stammte aus Italien, verfügte über einen breiten Kanon der lateinischen klassischen Bildung, erfuhr in Gallien die interfamiliären Kriege der merowingischen Könige, trat in engen Kontakt zu Radegundis, der Witwe König Chlotars I., die in Poitiers ein klösterliches Leben führte und wurde in dieser Stadt Priester und schließlich ihr Bischof. In den Briefen knüpft Venantius an die spätantiken Preisungen der Freundschaft an, leitet die Liebe aus der Natur des Menschen ab, so dass er eine emotionale Neigung vorzustellen in der Lage ist, die nicht einzig aus der Pflichterfüllung entsteht, gleichwohl nur wenigen Menschen vorbehalten bleibt – solchen, die die Reste klassischer Bildung bewahrt haben und in wohlformulierten Sätzen die rhetorischen Regeln anzuwenden wissen, wie dies für seinen Freund Gregor von Tours gelte, wie Fortunatus meint. Obwohl nur wenige Freundschaften knüpften, hätten sie große Auswirkungen. Für Fortunatus betreffen sie nicht allein den Austausch von poetischen Texten. Die Freundschaft könne ein ganzes Königreich erreichen, vor allem dann, wenn sie sich mit Liebe anreichere: Sie schaffe die Voraussetzung für den Frieden im gesamten Königreich, sei unerlässlich für das Gelingen der Herrschaft, die sich nicht darin erschöpfen dürfe, die Gegner durch Gewalt und durch die Androhung von Gewalt einzuschüchtern. Mehrere Briefe und Gedichte panegyrischen Inhalts und Stils an die Könige fordern, dass der König Quelle der Freude, nicht der Furcht für sein Volk sein müsse; allein deswegen verdiene er, König zu sein, wie Venantius in seinem sechsten Lied, in einem Brieftext enthalten, zum Lob von König Sigibert schrieb. Ein anderes Gedicht, das er zu Ehren von König Charibert I. (561–567) verfasste, preist ihn als vorbildlich, weil er anders als seine Vorgänger nicht durch den Krieg, sondern durch die Liebe des Friedens (pacis amore) herrsche. Ob der Frieden Resultat der Liebe oder die Liebe aus dem Frieden hervorgeht, lässt die Genetivform offen, es wird wohl beides gemeint sein. Die Liebe ist jedenfalls an ein Abstraktum gebunden. Sie verbindet auch Personen. Der Brief fordert die Bewohner von Paris auf, den König zu lieben. Liebe ist wechselseitig. Eine ins Religiöse gewendete Idealisierung zeigt ein an König Childebert adressierter Brief. Darin verknüpft Venantius durch den Verweis auf den im Buch Genesis genannten Priesterkönig Melchisedek königliches Amt und Priestertum, die beide dazu bestimmt seien, die Fürsorge zugunsten der Schutzbedürftigen zu gewähren, ohne dass Venantius eine personale Fusion beider Funktionen voraussetzt. Schutzbedürftige Personen sind für Venantius die Priester, schützenswerte Güter die der Kirche. Der Nutzen der Herrschaft ist zunächst auf die Geistlichkeit beschränkt. Aber die Geistlichen sorgen für die Verbreitung des

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Nutzens für alle. Der panegyrische Text evoziert ein Ideal, das den König in eine emotional begründete Beziehung zu einem Teil der ihm Untergebenen stellt und – vermittelt über die Geistlichen – dann doch alle Untertanen in den Genuss des Friedens und der Gerechtigkeit führt. Venantius beschreibt den Kontrast zu einer zeitgenössischen Situation, in der eine allgegenwärtige Gewaltanwendung die Menschen heimsuchte, ohne dass die Gewalthaber von moralischen Skrupeln gehemmt wurden. Die Briefe von Venantius fordern von den Königen, dass sie den Frieden bewahren, Fürsorge gewähren, Liebe spenden, Freundschaften pflegen. Durch misericordia und durch caritas übe der König seine Herrschaft aus. Er sei wie ein Vater. Er verbessere die Sitten seines Volkes, erziehe es, leite es durch sein Vorbild. Deswegen sei der König gehalten, sich selbst Zügel anzulegen. Die Könige gewährten Liebe; umgekeht solle die Liebe den König leiten. Diese Liebe ist bei Venantius durchaus triebhaft angelegt. Dies zeigt sich darin, dass die Aufforderung als Rede der Gestalt von Cupido gehalten ist, womit er eine allegorische Figur einführt, die die von der Natur verursachte und inbrünstige Liebe benennt. König Sigebert liebe alle und er werde von allen geliebt – so Venantius. Auf dieser wechselseitigen Beziehung beruhe die Macht. Die serenitas des Königs sei die öffentliche Zurschaustellung seiner inneren Einstellung und sie wecke die Anhänglichkeit seiner Getreuen. Sie sei vor allem durch die Freigebigkeit zu gewinnen, so dass die Verteilung der Schätze des Königs ihm die Zuneigung des Volkes zuführe, wie Venantius in dem Lobgedicht zu König Charibert ausführt. Aus einer an antiken Vorbildern ausgerichteten Gelehrsamkeit und literarischen Formung schöpft der Autor, um eine Fülle von Lobpreisungen der Könige zu formulieren. Sie zeigen die Anstrengungen von Venantius, an den Höfen der merowingischen Könige Aufnahme zu finden oder doch mindestens Aufmerksamkeit zu erregen. Ungeachtet der recht ausgiebig verwendeten Topoi und des poetischen Manierismus nutzte Venantius seine Brieftexte, um ein Herrscherideal zu konzipieren, das Liebe, Friede und Gerechtigkeit vereint.503 Furcht und Schrecken dem König zu empfehlen, lehnte Venantius ab, andere nicht. Auf Isidor von Sevilla sich berufend, verlangte das Mahnschreiben eines unbekannten Geistlichen, zu Beginn des 7. Jahrhunderts an einen Enkel des fränkischen Königs Chlotars II. gerichtet, die Ausübung der strafenden Gerichtsbarkeit, die die Feinde des Glaubens und ebenso die des Königs in Furcht zittern lässt, die guten Menschen aber zu Dank an diesen bewegt.504 503 Venantius Fortunatus, Carmen, hg. v. hg. v. Marc Reydellet, Paris 2004, S. 46–48, 57; Venantius Fortunatus, PoHmes, Bd. 2, hg. v. Marc Reydellet, Paris 1998, S. 1–6, 53–57; Cristina La Rocca, Venanzio Fortunato e la societ/ del VI secolo, in: Venanzio Fortunato e il suo tempo. Convegno internazionale si studio, Treviso 30 nov.–1 dic. 2001, Treviso 2003, S. 15– 36; Thielen, Frieden, S. 808–829. 504 MGH Epp. 3: Epistolae Merovingici et Karolini aevi, S. 458; Anton, Fürstenspiegel, S. 51f.

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Außerhalb des Frankenreiches bewertete der Angelsachse Beda Venerabilis (672–735) einer der einflussreichsten Autoren für das Mittelalter, auch auf dem Kontinent, den Einsatz der Furcht für die Herrschaft. Er war Mönch in einem Kloster im Norden Britanniens und schrieb zahlreiche theologische, naturkundliche, mathematische, didaktische und historiographische Texte.505 Er formulierte in seinem Genesis-Kommentar die Mahnung an die Herrscher, durch Furcht zu herrschen. Nur durch die Furcht ließen sich die Menschen bändigen und vom schlechten Tun abhalten. Die Abfolge von Gewalt, angefangen beim Brudermord an Abel bis hin zu den tyrannischen Königen Babylons, sei unausweichlich mit dem menschlichen Geschick verbunden, aus dem es kein Entrinnen – nicht einmal durch das Wirken gerechter Herrscher – gebe, weswegen auch tyrannische Herrschaft erduldet werden müsse. Aus der Notwendigkeit von Herrschaft entspringt bei Beda kein Programm ihrer Verbesserung. Von der die Furcht einflößenden Gewalt vermöge sich allein die Gemeinde der Christen zu befreien, die aber nur eine Parallelgesellschaft etablierten, sich in Klöstern einrichteten, die aber nicht die Gewaltherrschaft über alle Untertanen abschaffen könnten. Für einen guten Herrscher sieht Beda lediglich eine Moderierung der allgegenwärtigen Furcht vor, nicht deren Überwindung.506 Wenn gegen äußere Feinde Furcht zu verbreiten ist, ist nicht einmal Mäßigung verlangt. An einigen Beispielen zeigt dies das umfangreiche und breit – auch auf dem Kontinent – rezipierte historiographische Werk Bedas, die Historia ecclesiastica. Die Furcht, die die angelsächsischen Könige auslösen, ist nach außen gerichtet, entsetzt die heidnischen Feinde und ist das Gegenmittel gegen diejenigen, die Schrecken unter den Rechtgläubigen verbreiten. Zusammenfassend schreibt Beda, dass, seitdem die Angeln nach Britannien gekommen seien, glückliche Zeiten angebrochen hätten, weil dank dieses Volkes starke und christliche Könige regierten, was sich darin zeige, dass sie allen heidnischen Völkern ein Schrecken seien. Eine Binnenwirkung von Furcht und Schrecken zur Errichtung und zum Erhalt der Herrschaft stellt Beda nicht vor. Auch Liebe ist nicht für die Gewinnung von Loyalität vorgesehen. Beda reserviert sie für die Beziehung zu Gott, gegenüber dem König wird sie höchstens als individuelle Zuneigung zu einer einzelnen Person erwähnt, so von König Oswin für den Bischof Colman wegen dessen Weisheit. Die Liebe, die »alle« dem Konkurrenten von Oswin entgegengebracht hätten, beruhe nur auf Freigiebigkeit und körperlicher Schönheit und erweise sich letztlich sogar als schädlich für den Frieden, weil sie zum Kampf gegen die legitime Königsherrschaft und zu Blutver505 Luuk A. J. R. Houwen, Beda Venerabilis. Historian, Monk and Northumbrian (Mediaevalia Groningana 19), Groningen 1996. 506 Beda Venerabilis, In principium Genesis, hg. v. Charles W. Jones (CCL 118 A), Turnhout 1967; S. 26, 35, 39, 73, 78, 131, 145f., 156f., 78, 87, 90–93, 156–159; Stürner, Peccatum, S. 104f.

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gießen führe. Zur Begründung und zur Ausführung von legitimer Herrschaft zieht Beda Liebe nicht heran. Wirksam und gerecht wird sie hingegen durch die Furcht.507 Eine geordnete Beziehung von Furcht und Liebe ist bei Beda nicht erforderlich. Die Deutungen zur Herrschaft folgten aber doch anderen Wegen. Was der Brief, der Remigius von Reims zugeschrieben worden war, als Herrschertugend vorführte, nämlich Liebe und Furcht in geordneter Beziehung anzuwenden, wurde von anderen zugespitzt auf Liebe und Schrecken, wodurch mehr als nur eine aktuale kurzfristige Einwirkung benannt war, sondern eine beständige affektive Einwirkung, die vom König ausgehen sollte, also zur institutionalisierten Praxis wurde. Die Normierung der Einwirkung verlangte Belehrung. Die Pflicht zu Liebe und Schrecken wurde ein Thema von Texten, die als Fürstenspiegel bezeichnet sind. Ein frühes Beispiel eines Textes, der diese Unterrichtung und Beratung bot, entstand im 8. Jahrhundert in Irland; er war von einem anonymen Autor, der als Cyprian, nordafrikanischer Martyrer, vorgestellt wurde, verfasst und unter den Titel Duodecim abusivis saeculi gestellt.508 Die Schrift hatte beträchtliche Wirkung auf die politischen Vorstellungen folgender Jahrhunderte, insbesondere auch auf dem europäischen Kontinent und wurde von den Autoren späterer Fürstenspiegel rezipiert und zitiert. Ohne hier die in der Schrift ausgeführte allgemeine Konzeption zum Königtum darstellen zu wollen509, gilt es auf die Aussage hinzuweisen, dass königliche Autorität aus dem Zwang entspringe, die den Untertanen auferlegt werde. Auf die von Gott verliehene Gewalt, die der Römerbrief darlegte (Röm. 13,1), und auf Aussagen zum Schrecken von Isidor von Sevilla sich berufend, nennt der anonyme Autor drei Dinge als unerlässlich für den König: terror, amor et ordinatio.510 Der Text verändert die Begriffe, die einst Erzbischof Remigius in das Zentrum seiner Überlegungen stellte, da nun statt der Furcht explizit der Schrecken eingeführt ist, welcher wiederum in ein geordnetes Verhältnis eingebunden und somit institutionalisiert wird. Es sind Wörter genannt, die in den folgenden Jahrhunderten das Nachdenken über die Begründung und über die Ausübung der königlichen Gewalt prägen sollten.511 Ohne die Antinomie zwischen Schrecken und Liebe zu 507 Beda Venerabilis, Historia ecclesiastica, hg. v. Bertram Colgrave, Roger A. B. Mynors, Oxford 1969, S. 62, 150f., 202–206, 254–260, 308–310, 332–334; C. H. Beeson The Manuscripts of Bede, in: Classical Philology 42 (1947), S. 73–87; M. R. James, The Manuscripts of Bede, in: Bede. His Life, Times, and Writings, hg. v. Alexander Hamilton Thompson, Oxford 1966, S. 230–54; James E. Cross, Bede’s Influence at Home and Abroad, in: Beda Venerabilis. Historian, Monk, and Northhumbrian, hg. v. Luuk A. J. R. Houwen, A. A. MacDonald, Groningen 1996, S. 17–30. 508 Pseudo-Cyprianus, De duodecim abusivis saeculi. 509 Siehe hierzu: Anton, Fürstenspiegel, S. 67–71. 510 Pseudo-Cyprianus, De duodecim abusivis saeculi, S. 43. 511 Siehe Kapitel V.5.

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negieren, war das Verhältnis zwischen beiden in eine funktionale Einheit überführt, insofern beide als gleichwertige, situativ einzusetzende Instrumente des Einwirkens auf die Menschen vorgestellt sind, die wegen ihrer Sündhaftigkeit der Anleitung bedürfen. Sie den sündigen Menschen zu verweigern, liefe darauf hinaus, gegen Gott zu handeln. Wenn die Herrscher diese Aufgabe aber erfüllten, näherten sie sich Gott, so wie sich Moses durch sein Sprechen mit Gott ihm angenähert habe und mit ihm vertraut geworden sei. Die Anleitung der Menschen – auch mit dem Einsatz des Schreckens – geschehe aus Liebe zu Gott. Was Augustinus einst allein für die Ketzerbekämpfung vorgesehen hatte, dass der Schrecken aus dem Motiv der Liebe ausgeübt werden müsse, war zur allgemeinen Herrschaftslehre erweitert, wobei in der anonymen Schrift auch ein Konsekutiv- und Kausalitätsverhältnis eingeführt wurde, so dass Liebe und Schrecken, nebeneinander gestellt, die Herrschaftspraxis formen sollten. Vernunftgründe müssten beide gestalten, was mit dem Begriff ordinatio umschrieben ist. Der Herrscher verfüge über diese Vernunftgründe, sofern er die Kraft der Tugend besitze. Die Kraft entspringe nicht äußeren Gewaltmitteln, sondern der inneren Stärke. Deren Verlust könne, so der anonyme Autor, auch zum Verlust der Macht führen. Liebe und Schrecken sind reziprok bewirkend vorgestellt. Der Text führt aus: Die Liebe gebiert den Schrecken, und der Schrecken verlangt die Liebe. Aus einem Gegensatz ist doppelte Konsequenz geformt. Sowohl terror als auch amor gehen vom König aus und bezeichnen Verhaltensweisen gegenüber seinen Untertanen. Dass er umgekehrt von diesen geliebt werden könne oder gar solle, ist nicht ausgeführt. Die aktive Rolle liegt allein beim König, der als Adressat der didaktischen Schrift erscheint. Das Betätigungsfeld von Schrecken ist vor allem die Rechtsprechung. Der Schrecken des Königs ist ein Mittel, den Schrecken der Verbrecher abzuwehren; er ist reaktiv. Gleichwohl ist der königliche Schrecken nicht als bedauerliche, wenngleich unvermeidliche Nebenwirkung gedeutet, von den Verbrechern hervorgerufen, denn er gehört zum Wesen guter königlicher Regierung und ist neben die Liebe gestellt, die in gleicher Weise ihr essentiell ist. Damit leistet der Text mehr als nur eine situative Anwendung von Liebe und Schrecken, sondern eine Definition des Königtums. Die Anweisung an den König wird konkretisiert durch eine lange Liste der Vergehen, wie Ehebruch, Meineid, Vatermord, Aberglaube u. a., die mit dem Schrecken zu ahnden seien, und eine nicht minder lange Liste der liebenden Zuwendung, wie Unterstützung der Armen, Verteidigung des Königreiches gegen äußere Feinde, Schutz der Kirchen u. a., die dem König aufgetragen seien. Nie dürfe er von der Strenge der Strafen abweichen; selbst Grausamkeiten müsse er begehen. Ansonsten würde das Reich in ungeordnete Auflösung versinken, Wohlstand zugrunde gehen. Wie Bestien würden die Menschen aufeinander losgehen; Feinde in das Land einfallen; Stürme und Kälte die Felder verwüsten. Die Erde brächte keine Früchte mehr hervor. Und am

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schlimmsten: Eine geordnete Nachfolge der Herrschaft an Söhne oder Neffen wäre unmöglich; die Dauer der Macht zerstört. Dem Schrecken der Zerrüttung sei daher der Schrecken der Herrschaft vorzuziehen. Er gilt dem Autor durch biblische Vorbilder – David und Salomon – begründet und als Voraussetzung des guten Tuns gerechtfertigt und soll Katastrophen menschlicher und natürlicher Ursprünge abwenden. Damit war ein Thema vorgestellt, das spätere Texte aufgreifen sollten: die Integration des Schreckens in das vorbildliche Handeln und in die institutionelle Ordnung. Der Schrecken war zur Aufgabe des guten Königs geworden.512 Die Brutalisierung der Bestrafungen in diesem Text aus Irland hat ihre Entsprechung in den rigiden, körperliche Züchtigungen einschließenden Sanktionen, die die monastischen Regeln des irischen Heiligen Kolumban (540–615) vorsahen. Dieser habe nach Ausweis seiner Vita auch selbst, von Zorn entflammt, handgreiflich zur Rute gegriffen und Schrecken verbreitet.513 Regeln und Lebensbeschreibung setzten auf die Brechung des Willens, da nur so das üble Tun ausgemerzt werden könne. Anders aber als der monastische Text, der das Leiden, den körperlichen Schmerz und die Kasteiungen als Nachahmungen des Leidens Christi religiös überhöht und als Bußleistung vorsieht, beharrt das an einen König gerichtete Mahnschreiben des Pseudo-Cyprian auf einer Überwältigung, die eine christliche Sinngebung nur insofern bereitstellt, als sie die Hinführung zu einer von Gott gewollten Ordnung der Herrschaft durch einen Laien vorsieht, ohne freilich dem unter Zwang stehenden Menschen Zugang zur Verwirklichung eines liebenden Gemeinschaftslebens zu bieten und die Abkehr vom Bösen nicht durch Buße, wie im Kloster, sondern durch Strafe vorsieht, also Reue, innere Abwendung vom Bösen und Einsicht in das Gute nicht voraussetzt. Die ethische Berechtigung und Ausübung von Herrschaft, die sich des Schreckens bediente, stellte ein Problem dar, dessen Lösung die Kooperation mit den Vertretern der Kirche erforderte, die Legitimierungsangebote unterbreiteten und moralisch begründete Verhaltensweisen einforderten. Eine Einbettung 512 Pseudo-Cyprianus, De duodecim abusivis saeculi, S. 43 f, 51–53, zur Frage des Verfassers, den Entstehungsbedingungen und der Wirkung der Schrift: Eugen Ewig, Zum christlichen Königsgedanken im Frühmittelalter, in: Das Königtum. Seine geistigen und rechtlichen Grundlagen, hg. v. dems. (Vorträge und Forschungen 3), Sigmaringen 1956; Hans-Hubert Anton, Pseudo-Cyprian De duodecim abusivis saeculi und sein Einfluss auf den Kontinent, insbesondre auf die karolingischen Fürstenspiegel, in: Die Iren und Europa im frühen Mittelalter, hg. v. Heinz Löwe, Bd. 2, Stuttgart 1982, S. 568–617. 513 Ionae Vitae sanctorum Columbani, in: MGH SRG 37, hg. v. Bruno Krusch, Hannover 1905, S. 1–294, so S. 190f.; Regel Kolumbans in: Sancti Columbani opera, hg. v. G. S. Murdoch Walker, in: Scriptores Latini Hiberniae 2), Dublin 1975, S. 122–169; Adalbert de Vogüe, Saint Columban. RHgles et p8nitentiels monastiques, Bellefontaine 1989; Walter Berschin, Columban versus Gallus oder der Zorn des Heiligen, in: Liebe und Zorn. Zu Literatur und Buchkultur in St. Gallen, hg. v. Andreas Härter (Buchwissenschaftliche Beiträge 77), Wiesbaden, S. 9–14.

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des Königtums in die Kirche war geboten. Für den König ergab sich daraus der Vorteil, von der Bereitstellung von Kooperationsangeboten, etwa durch den Erwerb und die Teilung von Beute, und durch Anteil an dem Schatz, zum Teil wenigstens enthoben zu sein. Beständige Herrschaft war umso eher möglich, je weniger sie unmittelbaren Nutzen herstellen musste, vielmehr durch die Repräsentation von Zeichen, die auf Emotionen verwiesen, Erwartungen und Befürchtungen weckte, als deren Auslöser die Herrscher galten. Die Verstetigung der Erwartungen, die der Herrscher weckte, ohne dass Ansprüche an ihn begründet wurden, verlangte die Einbettung königlicher Würde und königlichen Handelns in einen rituellen Handlungskomplex, den die Geistlichen bei der Salbung und der Krönung gestalteten, und in einen ethischen Normenkomplex, den sie einforderten. Sie machten es notwendig, den König über die Regeln seines Tuns zu informieren, weil nur so auch die Effizienz der Macht gewährleistet werden konnte, die langfristige Loyalität voraussetzte, die wiederum auf ethischen Anforderungen beruhte. Die Anforderungen waren abgelöst von einer kruden Gier nach Beute, die der König zu befriedigen hätte. Die Anforderungen waren vielmehr einer Gerechtigkeitsethik zu unterstellen, zu dessen ausführendem Organ der König eingesetzt war. So sollte der König aus den Abhängigkeiten von Gefolgschaften herausgelöst werden, die gewaltsames Handeln, Zerstörungen und Tötungen forderten, um an den Gewinnen von Eroberungen zu partizipieren. Nicht Angleichung von Priestertum und Königtum, sondern Aufgabenteilung war vorgesehen. Seitdem die Verbindung zur Kirche die Inszenierung der Macht durch die Liturgie der Kirche ermöglichte und die Deutung von Macht deren dogmatischer Kompetenz zur Legitimierung anvertraut war, waren Aufgaben vorgesehen, die die Könige auszuführen hatten oder doch auszuführen beanspruchten. Mit dem Aufstieg der Dynastie der Karolinger drangen vermehrt geistliche Inhalte in die Sprache der Herrschaftsausübung ein, ohne die Autonomie der Kirche in Abrede zu stellen. Vorgesehen war Zusammenarbeit, basierend auf Aufgabenteilung.514 Alkuin († 804) legte Begründungen zur Herrschaft und für ihren rechten Gebrauch vor. Er, der Angelsachse und hohe Geistliche, den Karl der Große als Mitarbeiter an seinen Hof zog und dessen Rat er nach Aussage Einhards in dessen Biographie von Karl nachsuchte515, drängte in mehreren seiner Briefe seinen Gönner zu einer engen Zusammenarbeit mit dem Bischof von Rom, zu 514 Raimund Kottje, Einheit und Vielfalt des kirchlichen Lebens in der Karolingerzeit, in: ZKG 76, 1965, S. 323–343.; Rosamond McKitterick, The Frankish Church and the Carolingian Reform, 789–895, London 1977; Thomas F. X. Noble, Secular Sanctity. Forging an Tehos fort he Carolingian Nobility, in: Lay Intellectuals in the Carolingian World, hg. v. Patrick Wormald, Janet L. Nelson, Cambridge 2007, S. 8–36. 515 Einhard, Vita, S. 30.

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einer christlichen Ausrichtung seines Handelns und zu einer Gerechtigkeit, welche Belohnungen und Bestrafungen gewährt, bzw. verhängt, also reaktiv und distributiv handelt.516 Der König habe sich zu rechtfertigen durch die Aufgabe, die in der Repression der Verbrecher bestehe: Karl müsse der Bestrafer der Verbrecher und der Aufseher der Irrenden (vindex scelerum, rector errantium) sein, und zugleich seien die Guten zu erhöhen (exaltatio bonorum). Die letztlich banale Ermahnung suchte einen moralisch akzeptablen Anwendungsbereich von Machtausübung abzustecken, so dass ein nicht zu vernachlässigendes Legitimierungsangebot unterbreitet wurde, das aber nur dank der Kooperation mit der Kirche genutzt werden konnte. Die Briefe Alkuins an Karl sollten die Fehler der Herrschaft heilen. Nur ein belehrter König war befugt und befähigt, Macht in gerechter Weise auszuüben. Dem König war, um dieses Ziel zu erreichen, die Verbreitung von Furcht aufgetragen. Liebe und Freundschaft waren bei Alkuin hingegen den eng eingegrenzten persönlichen Nahbeziehungen reserviert, wie er in einem Brief an einen abwesenden Freund ausführte. Die Verengung der Beziehung auf wenige Personen und die Auffassung, dass Freundschaft die Gleichheit der Freunde voraussetze und kennzeichne, entfernte die Freundschaft von der Herrschaft. Freundschaft und Gleichheit waren unvereinbar in einem großen sozialen Verband. In einem auf kurze Fragen und Antworten basierenden didaktischen Text hat Alkuin diese Auffassung knapp vorgestellt: Freundschaft galt nur für wenige, eine Weiterung zu den Machtverhältnissen fand nicht statt.517 Ebenso schied Alkuin Freundschaft im Verhältnis zwischen Lehrern und Schülern aus.518 Freundschaften der Herrscher erfassten nur wenige ausgewählte Personen, die in enger Verbindung zum Hof standen. Freundschaft war durchaus nützlich, führte dem Herrscher Machtmittel zu, war aber nicht Voraussetzung der Herr516 Michel Lauwers, Le glaive et la parole. Charlemagne, Alcuin et le modHle du rex praedicator. Notes d’eccl8siologie carolingienne, in: Alcuin. De York / Tours. Ecriture, pouvoir et r8seaux dans l’Europe du haut moyen .ge, hg. v. Philippe Depreux, Rennes 2004, S. 221–244; Rudolf Schieffer, Alkuin und Karl der Große, in: Alkuin von York und die Europas. Akten der Tagung St. Gallen 30. Sept.-2. Okt. 2004, hg. v. Ernst Tremp, Karl Schmuki, St. Gallen 2010, S. 15–32; Fried, Karl, S. 281–283; Rosenwein, Generations, S. 67–87. 517 Alcuini carmina, hg. v. Ernst Dümmler (MGH PP 1), Berlin 1881, S. 160–351, 266–268; Alkuin, Epistolae, S. 20–128, 145–147, 150, 157, 228, 303, 315, 329, 335, 397, 401; Ders., Opera didascalia: Pippini regalis et nobillisimi juvinis disputatio, in: PL 101, Sp. 975–979, Sp. 978. Barbara Frenz kritisiert Gerd Althoff, dass dieser fälschlicherweise eine umfassende Gleichheit in der Gesellschaft bei Alkuin herausgelesen habe – was Althoff gar nicht behauptet. In der Tat handelt es sich allein um eine allein in der kleinen Gruppe der Freunde vorhandene Gleichheit; Gerd Althoff, Friendship and Political Order, in: Friendship in Medieval Europe, hg. v. Julian Haseldine, Stroud 1999, S. 91–105, S. 93; Barbara Frenz, Gleichheitsdenken in deutschen Städten des 12. bis 15. Jahrhunderts. Geistesgeschichte, Quellensprache, Gesellschaftsfunktion, Köln, S. 141. 518 Steckel, Kulturen, S. 511.

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schaft.519 Die Tätigkeit, in Zuneigung, Liebe und Unterstützung das Volk Gottes in Gänze zu leiten, nicht allein wenige Menschen einzubeziehen, überantwortete Alkuin vor allem den Geistlichen. Die Besserung des Volkes durch Rechtsprechung und furchteinflößender Bestrafung überließ er den weltlichen Herrschern. Alkuin bestand auf einer Scheidung der Aufgaben von geistlichen Führern und weltlichen Leitern. Er stellte die bischöfliche auctoritas und die königliche potestas gegenüber. Die Auffassung war durch eine seit der späten Antike begründete Tradition eingeführt und hatte auch über Akkuin hinaus weiterhin Bestand.520 Um gerechte Urteile zu fällen, sei, so schrieb er, aber stets auch die Barmherzigkeit, die misericordia, verlangt. Sie sei Bestandteil der iustitia. Die misericordia fließe, so Alkuin, sowohl aus der Liebe als auch aus der Strenge, insofern jene sie mildere, sie aber zugleich auch wirkmächtig mache. Die Strenge der Sanktion sei in Beziehung zu setzen zur liebenden Zuwendung, da sie in der Herrschaft nur dann eine Berechtigung habe, wenn sie die Rigidität des Strafens hervorbringe. Nicht die Scheidung von Liebe und Furcht, aber die Scheidung der Gewalten ist vorgesehen: Die Geistlichen sollen von allen Aufgaben des Richtens, Strafens, Drohens befreit sein, die vielmehr in die Zuständigkeit des weltlichen Herrschers fallen. Nur so kann die Sonderstellung der Geistlichen gewahrt werden. Die tötende Gewalt bleibt dem König überlassen. Die correctio ist eine Aufgabe, die dieser durch das Schwert, die Priester durch das Wort leisten. Die Komplementarität der Tätigkeiten beruht aber nicht auf einer Trennung der Motive der Handlungen, die stets von der Liebe hervorgerufen werden. Der Gegensatz von gladium und lingua sieht folglich nicht trennscharf die Scheidung zwischen weltlicher Herrschaft und Kirche vor. Dem König sind beide anvertraut, den Geistlichen nur die letztere.521 Gewalt sollte auf ein Ziel hin geführt werden, das sowohl die Effizienz als auch die Legitimität der Herrschaft sicherte. Auch Herrscher traten in die Rolle von Schülern, welche von den Meistern, d. h. Klerikern und den Inhabern der Gelehrsamkeit, Belehrung erfuhren. Die Fürstenspiegel der karolingischen Epoche, alle von Geistlichen verfasst, waren die Resultate eines Strebens, dem Klerus eine machtnahe Position zu verschaffen, ohne die gewaltsame Lenkung der Untertanen zu vereinnahmen. Die Texte waren daher auch nicht nur – vielleicht nicht einmal in erster Linie – als politische Konzeptionen und nicht als politische Normierungen zu verstehen, sondern als Selbstvergewisserung von Geistlichen, die ihren spezifischen Handlungsraum definierten und ihn als höherwertig 519 Anton, Fürstenspiegel, S. 123–127. 520 Patzold, Bischöfe, S. 143. 521 MGH Epp. Karol. 4, S. 288, 361, 413; Hans-Werner Goetz, Beatus homo, qui invenit amicum. The Concepts of Friendship in Early Medieval Letters oft the Anglo-Saxon Tradition on the Continent (Boniface, Alcuin), in: Friendship in Medieval Europe, hg. v. Julian P. Haseldine, Stroud 1999, S. 124–136, S. 129f.

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ausgaben.522 Ideale Herrscher wurden vorgestellt; die Vorbilder zeigten, was zur Nachahmung aufforderte. Die Vorführung von Herrschern bot aber auch Gelegenheit, vor den Verfehlungen und den Fehlern der Machtausübung zu warnen.

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Vorbildliche Herrscher verbanden Liebe und Schrecken in richtiger Weise. Sie wurden in historiographischen Texten vorgestellt, die geistliche Autoren schrieben. Vorbilder wurden auch in den Texten der Herrschaftsausübung dargestellt, in Urkunden und Kapitularien, deren Abfassung ebenfalls Geistliche besorgten. Ideale wurden konkretisiert durch die Präsentation idealer Personen. Die Anwendung des Schreckens war zunächst Mittel des Krieges, war normativ auch eine Bestrafungsaktion, die umso notwendiger erachtet wurde, wenn ein Abfall vom wahren christlichen Glauben zu ahnden war. Die quantitativ hypertrophe Bestrafung rebellischer Sachsen durch Karl den Großen, über die sein Biograph Einhard (um 770–840) lobend berichtete, mag zwar faktisch auf unsicherem Fundament beruhen, erfüllte aber die Absicht, den Frankenkönig als unbeugsamen Verteidiger des rechten Glaubens und der gerechten Herrschaft vorzuführen. Der hohe Sinn und die Unwandelbarkeit der Entschlüsse bewahrten Karl davor, so Einhard, von seinem Eifer in der Verfolgung seiner Feinde abzulassen. Rache und gerechte Strafe gab Einhard gleichermaßen als Beweggründe an, die zu grausamem Handeln führten, als Karl die zwangsweise Umsiedlung von 10.000 Sachsen anordnete.523 Immerhin legte Einhard Wert darauf, die Erzählung von der summarischen Tötung von 4500 aufständischen Sachsen, über die die Reichsannalen zum Jahr 782 berichten524, abzumildern. Unabhängig von der Faktizität der Maßnahme525, ist die Darstellung entscheidend, die die Vorstellung von Karl dem Großen prägte: Er galt als Herr über Leben und Tod, als Auslöser des Schreckens. 522 Tilmann Struve, Regnum und Sacerdotium, in: Pipers Handbuch der politischen Ideen, Bd. 2, hg. v. Iring Fetscher, Herfried Münkler, München, Zürich 1993; S. 189–242, S. 192– 200; Steckel, Kulturen, S. 156. Die Bedeutung der Herrscherberatung sieht hingegen gering an: Miethke, Politische Theorien, S. 50–55. 523 Einhard, Vita, S. 9f. 524 Annales regni Francorum, S. 62; Scharff, Der rächende Herrscher, S. 242; Martin Lintzel, Die Vorgänge in Verden im Jahre 782, in: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte 15 (1938), S. 1–41; Stefan Weinfurter, Karl der Große. Der heilige Barbar, München, Zürich 2013, S. 107. 525 Johannes Fried, Karl, S. 160 schreibt, dass »der Sachverhalt nicht zu bezweifeln« sei.

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Die rigide Strafverfolgung gegen die die heidnische Riten weiter praktizierenden und christliche Feiertage und Liturgien verweigernden Sachsen, wie sie in dem Kapitular De partibus Saxoniae, wahrscheinlich um das Jahr 782 erlassen, vorgesehen war, setzte auf Einschüchterung und Abschreckung, wobei die theologisch verlangte Freiwilligkeit der Bekehrung zum Christentum beiseite geschoben war. Im Prolog war die Absicht formuliert, dass der honor und die excellentia der jüngst unter den Sachsen begründeten Kirche zu stärken seien. Das Kapituar sah vor, die Übertretung der Fastengebote, die Feuerbestattung, die Verweigerung der Taufe mit der Todesstrafe zu ahnden. In der Forschung wird diskutiert, ob der überlieferte Rechtstext vielleicht aus zwei oder drei Teilen zusammengefügt worden sei. Die Argumentation stützt sich auf die willkürlich scheinende Zusammenfügung von religiösen und weltlichen Themen. Unabhängig von dieser Diskussion gilt es festzuhalten, dass die Schutzmaßnahmen zugunsten der christlichen liturgischen Praktiken die herrscherliche Gewalteinwirkung rechtfertigten und offensichtlich auf Strafbestimmungen im Alten Testament Bezug nahmen. Die rigiden Strafen sollten die Implantierung des Christentums fördern und dienten zugleich der Stärkung der weltlichen Macht. Offensichtlich riefen die Bestimmungen aber unter den gelehrten Klerikern am Hofe Karls des Großen, nachweislich durch Alkuin, Kritik hervor. Dieser verlangte in einem Brief an Karl im Jahre 796 Geduld, bevor den Sachsen alle Pflichten, die die Christen erbringen müssten, einschließlich des Zehnten, auferlegt werden könnten. Die Sachsen seien zwar barbarisch, hingten häufig ihrem alten Irrglauben an, seien wild und gewalttätig, aber dies berechtige nicht, gleichermaßen grausam gegen sie vorzugehen. Der König müsse die Tugend der Milde auch gegenüber den erst kürzlich missionierten Sachsen ausüben. Die Ermahnungen haben wohl den Erlass der weniger harten Strafandrohungen in dem Capitulare Saxonum, am 28. Oktober 797, verfasst, nach sich gezogen. Den Frieden für die Kirchen, die am wenigstens in der Lage seien, sich zu verteidigen, wurde darin als Absicht verkündet und an die Spitze der neuen Bestimmungen gestellt. Die vorgesehenen Strafen beschränkten sich diesmal auf Geldbußen, womit die Sanktionierung des Kapitulars an die der germanischen Volksrechte angeglichen war, welche die Rache eindämmen sollten und stattdessen einen friedlichen Ausgleich anstrebten, um weitere Gewaltakte und weitere Vergehen gegen die Kirchen auszuschließen.526 526 MGH Cap 1, hg. v. Alfred Boretius, Hannover 1883, S. 68–72; Alkuin, Epistolae, Nr. 110, S. 157–159; Ernst Schubert, Die Capitulatio de partibus Saxoniae, in: Geschichte in der Region. Festschrift für Heinrich Schmidt, hg. v. Dieter Brosius u. a., Hannover 1993, S. 3–28; Hans Martin Weikmann, Hoheitliche Strafbestimmungen als Instrument fränkischer Eroberungs- und Missionspolitik, in: Hoheitliches Strafen in der Spätantike und im frühen Mittelalter, hg. v. Jürgen Weitzel (Konflikt, Verbrechen und Sanktion in der Gesellschaft Alteuropas. Symposien und Synthesen 7), Köln u. a. 2002, S. 153–174; Lutz E. Padberg,

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Unumschränkte Gewalt war gleichwohl das Kennzeichen der Herrschaft. Nachdem Karl der Große gegen die Muslime in Spanien, die zugleich Feinde des Glaubens und des Reiches waren, im Jahre 778 eine Niederlage erlitten hatte und seine Hoffnung, sie zu unterwerfen, hinfällig geworden war, überfiel er die Stadt Pamplona und die Basken – seine Gewalt richtete sich also gegen Christen –, offensichtlich um nachdrücklich vorzuführen, dass er die Verfügung über die Gewalt in der Hand behielt. Die erlittene Niederlage sollte die weiter bestehende Fähigkeit zur Überwältigung nicht schmälern.527 Diese Fähigkeit war auch ansonsten vorzuführen. Bei der Bestrafung der Aufrührer gegen Papst Leo III. habe, so aus dem zeitlichen Abstand von ungefähr hundert Jahren dargestellt, Karl das Vergehen des crimen laesis maiestatis zur Anklage gebracht und zur Strafe zahlreiche Personen hingerichtet.528 Aus der räumlichen Ferne berichtet eine angelsächsische Quelle, Karl habe grausam gehandelt, wenn er von seiner Emotion angetrieben sei: consternatus animo.529 Nicht allein Opportunität, nicht allein die Absicht, Gewalt zur Manifestion der Herrschaft einzusetzen, vielmehr auch individuelle Gewaltdisposition war Karl dem Großen zugeschrieben. Die Gewaltbereitschaft war wachgehalten. Aber der Herrscher, der Furcht und Schrecken verbreitete, riskierte indes auch, seine Vortrefflichkeit einzubüßen. Die Selbstzuschreibung der Geistlichen als die Spender von Wohltaten und als Mahner der weltlichen Herrscher, die Schrecken und Furcht verbreiten würden und sollten, traf offensichtlich auf Vorbehalte. Denn die Verwendung der Begriffe der Furcht und sinnverwandter Wörter in der Sprache der Urkunden der Könige ist selten. In der Arenga einer Urkunde Karls des Großen wird im Gegenteil seine Pflicht genannt, seine Gewalt dafür einzusetzen, die Schrecken, die der Streit unter den Großen seines Reiches hervorgerufen habe, zu beenden. Aus dem Wort terribilia ist als Ergebnis eines Bedeutungswandels die Bezeichnung der irdischen Angelegenheiten geworden, wie dies in einer Urkunde Karls deutlich wird, in der es heißt, dass ein gerechter Capitulatio de partibus Saxoniae, in: HRG, 2. Aufl., Bd. 2, Berlin 2008, Sp. 813–815; Ders., Christianisierung im Mittelalter, Darmstadt 2006, S. 77; Matthias Becher, Der Prediger mit eiserner Zunge. Die Unterwerfung und Christianisierung der Sachsen durch Karl den Großen, in: Schwertmission, Gewalt und Christianisierung im Mittelalter, hg. v. Hermann Kamp, Martin Kroker, Paderborn 2013, S. 23–52; Fried, Karl, S. 156–159; Hans-Werner Goetz, christlich-abendländische Wahrnehmung anderer Religionen im frühen und hohen Mittelalter (5.–12. Jahrhundert), Berlin 2012, S. 168f.; Robert Flierman, Religious Saxons. Paganism, Infidels and Biblical Punishment in the Capitulatio in partibus Saxoniae, in: Religious Franks. Religion and Power in the Frankish Kingdom, Dorine van Espelo u. a., Manchester 2016, S. 181–201. 527 Annales regni Francorum, S. 51. 528 Libellus de imperatoris potestate in urbe Roma, hg. v. Roberto Valentini, Giuseppe Zucchetti (Fonti per la storia d’Italia 88), Rom 1942, S. 199. 529 Annales Nordhumbrani, in MGH SS 13, hg. v. Georg Waitz, Hannover 1886. S. 154–156, S. 155.

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Urteilspruch das Mittel sei, um cuncta terrebilia in eine Ordnung der Herrschaft zu überführen. Die stabilitas regni zu mehren und zu sichern, war als Ziel des Handelns in vielen Urkundenarengen vorgeführt.530 Die Gewalt und der Schrecken wurden verworfen. Die Arengen wiesen auf eine Modifizierung von Herrschaftsbegründung hin, welche die Strenge an die Durchsetzung von religiös fundierten Geboten band. Die Liebe galt hingegen nur wenigen: den engeren Familienmitgliedern, einzelnen Vertrauten, mitunter auch einzelnen Kirchen, wie in einer Urkunde Karls des Großen zugunsten des Klosters Farfa festgehalten wurde.531 Durch die Beratung mit den Großen des Reiches sollte die Gewalt des Herrschers eingedämmt werden, um eine Verfahrensordnung zu etablieren, die eine beständige Rechtssetzung ermöglichte, deren Anerkennung nicht notwendigerweise mit Furcht erzwungen werden musste. Die Positionierung Karls in Opposition zum Schrecken, den er sogar zurückzudrängen beanspruchte, eröffnete Möglichkeiten, die Loyalität aller Untertanen von seiner Fürsorge abzuleiten. Geistliche hörten indessen nicht auf, den Schrecken der Herrscher als deren Proprium zu behaupten. Selbst Einhard, ein Vertrauter Karls und Autor von dessen Vita, fügte in das harmonische Bild, das er von dem Kaiser zeichnete, den Schrecken ein, der unerlässlich sei, um regieren zu können. Die Erhebung seines einzigen überlebenden Sohnes als Kaiser habe dazu gedient, den fremden Völkern Schrecken einzuflößen. Einhard erachtete den Schrecken offenbar auch als das geeignete Mittel, um die Macht Karls über seinen Tod hinaus zu sichern. Der Schrecken, falls er von den Gegnern verbreitet wurde, war hingegen verwerflich.532 Die Vita Karls des Großen, die Einhard aus eigener Anschauung und eigener Erfahrung verfasste, wie er selbst schrieb, mag typisiert sein, mag in manchen Passagen an dem Werk des antiken Biographen Sueton ausgerichtet sein, sie war um nichts weniger erstens ein mit Stolz vorgeführtes Ergebnis der Gelehrsamkeit eines Franken, der als einer der ersten in lateinischer Sprache ein Buch schrieb, und zweitens eine Präsentation eines vorbildlichen Herrschers, in dessen Nähe zu stehen, Einhard mit nicht minderem Stolz erfüllte. Einhard stellte eine einträchtige Kooperation im engen Umkreis Karls dar. Er schrieb, dass Karl nicht in erster Linie Furcht errege und dadurch die Menschen sich gefügig mache, sondern Zuneigung erwecke. Wichtiger als durch Abschreckung zu wirken, sei Karl die Gewinnung von Freundschaft; an ihr halte er mit Beständigkeit fest; die adfinitas mit seinen Getreuen sei von ihm gepflegt. Der Begriff meint Vertraulichkeit und Anhänglichkeit. Auch liebe Karl die 530 MGH DD Karl der Große, Nr. 66f., 76, 83f., 102, 198, S. 95–99, 109–121, 119f., 146f., 266f.; Peter Stotz, Handbuch zur lateinischen Sprache des Mittelalters, Bd. 2: Bedeutungswandel und Wortbilder, München 2000, S. 174. 531 Einhard, Vita, S. 23–25; Thegan, Gesta, S. 180; MGH DD Karl der Große, Nr. 98, S. 141f. 532 Einhard, Vita, S. 34.

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Fremden, die er mit großer Fürsorge aufnehme. Die liberalitas Karls innerhalb seines Reiches beweise er durch das Spenden von Almosen zugunsten der Armen. Dank der Schönheit der körperlichen Erscheinung habe Karl Zuneigung gewinnen können. Einhard beschreibt die wohlgeformten und wohlproportionierten Glieder seines Körpers, den er vielen seiner Großen und Getreuen gezeigt habe, vor allem wenn Karl sie in Aachen zum gemeinsamen Bad einlud, damit eine Intimität des engen körperlichen Kontaktes schaffend.533 Durch die langanhaltende Rezeption der Schrift Einhards war die Darstellung des Kaisers über das gesamte Mittelalter hinweg wirkmächtig. Ein Vorbild war präsent gehalten.534 Karl war als pater vorgestellt, dessen Fürsorge gleichermaßen seine leiblichen Kinder als auch die Angehörigen seines Reiches erfasst habe.535 Die amicitia, die Karl pflegte, reichte zu einzelnen Personen, zielte aber hinsichtlich ihrer Wirkung auf die Macht im gesamten Reich, begründete politische Bündnisse, die auch zwischen Herrschern und Untergebenen geschlossen werden konnten. Wegen der Reziprozität verkleinerten die Emotionen den hierarchischen Abstand, aber sie schmälerten nicht die Macht, der sie vielmehr durch Kooperationen starke Kräfte zuführten. Verträge oder vertragsähnliche Vereinbarungen mit einzelne Getreuen waren mit der Freundschaft in Verbindung gebracht.536 Das Vorbild Karls des Großen war geschmeidig einsetzbar. Ohne fixierte Regelungen vorzusehen und persönliche Beziehungen übersteigend, vielmehr das ganze Reich erfassend, schloss Karl Einvernehmen mit allen, um seine Herrschaft auszuüben. Es habe ein consensus omnium bestanden; es wurde zum Ideal, das, aus der Rückschau betrachtet, mit den politischen Wirren der Wende zum 9. Jahrhundert kontrastierte und eine Sehnsucht nach einer guten Vergangenheit weckte, die die Annalen von Regino von Prüm (ca. 840–915) ausmalten.537 533 Ebda., S. 23–27, 31f. 534 Zur Überlieferungsgeschichte und langfristigen Fortwirkung des von Einhard entfalteten Herrscherideals: Walter Berschin, Biographie und Epochenstil im lateinischen Mittelalter, Bd. 3 : Karolingische Biographie 750–920, Stuttgart 1991, S. 199–220; Matthias Tischler, Einharts Vita Karoli. Studien zur Entstehung, Überlieferung und Rezeption, 2 Teile, Hannover 1999; Gereon Brecht-Jördens, Einharts Vita Karoli und die antike Tradition von Biographie und Historiographie. Von der Gattungsgeschichte zur Interpretation, in: Mittellateinisches Jahrbuch 40 (2011), S. 335–369; Sverre Bagge, The model emperor. Einhard’s Charlemagne in Widukind and Rahewin, in: Viator. Medieval and Renaissance Studies 43,2 (2012), S. 49–78; Steffen Patzold, Ich und Karl der Große. Das Leben des Höflings Einhard, Stuttgart 2014, S. 292–300, 351–353. 535 Le Jan, Entre amour, S. 404; Johannes Fried, Karl der Große als Mensch, in: Zwischen Rom ud Santiago. Festschrift für Klaus Herbers, hg. v. Claudia Alraum u. a., Bochum 2016, S. 361–381, S. 365–367. 536 Le Jan, Entre amour, S. 404f. 537 Regino von Prüm, Chronicon, S. 148.

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Die Rezeption von Einhards Werk anlässlich der Heiligsprechung Karls, welche auf Betreiben Kaiser Friedrichs I. der von ihm anerkannte Papst Paschalis III im Jahre 1165 vornahm, konzentrierte die Erzählung auf die Verdienste Karls für die Kirche und rückte sie weg von Krieg und Gewalt. Die Aachener Karlsvita aus der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts folgte einem hagiographischen Schema, war mit Wunderberichten angereichert und zeigte wenig Herrschaftshandeln. Aber gerade diese Entrückung sollte die Position aller Kaiser, und damit auch von Friedrich I., stützen. Verbreitung von Furcht und Schrecken hatte in der Darstellung daher keinen Platz. Die Steigerung von Karls Prestige zog eine Minderung von dessen Wirken als Machthaber und Gewaltherrscher nach sich, was aber die Akzeptanz der Institution der Herrschaft im 12. Jahrhundert erhöhte, die von Furcht, Schrecken und Gewalt abgehoben sein sollte. Um die institutionelle Vervollkommnung plausibel zu machen, war aber notwendig, einen vollkommenen und vorbildlichen Herrscher vorzuführen, als deren Nachfolger und Nachahmer die späteren Könige und Kaiser auftraten.538 Freundschaftsbeziehungen einzugehen, sie gar explizit zu verkünden, war indes selten. Die Historiographie wusste nur wenig über amici Karls und seiner Nachfolger zu berichten, und die Bezeichnung familiares war für Verwandte reserviert.539 Es scheint sogar ein Bewusstsein vorhanden gewesen zu sein, dass politische Freundschaft mit affektiv besetzter Freundschaft nicht gleichgesetzt werden könne. Nur so ist die Aussage der Annales Fuldenses zu verstehen, dass Kaiser Karl der Dicke (†888) zwar ein Bündnis mit dem Normannen Gottfried schloss und ihm mehrere Grafschaften überließ, ihn aber nur als quasi amicum erachtete, um nicht eine Freundschaft, die auf affektiver Nähe beruhte, auf einen offenbar nur widerwillig hingenommenen Verbündeten aus einem ursprünglich feindlichen Volk auszudehnen.540 Freundschaft war sparsam einzusetzen, denn sie barg das Risiko, Relationen unter Gleichen zu schaffen. Liebe hingegen setzte eher eine Dominanz voraus. Die Liebe zum Herrscher war ein Thema bei Autoren, die Dankbarkeit dem Kaiser gegenüber und ihre Abhängigkeit von ihm als Empfänger von Gunst und von Gütern ausdrückten. Angilbert von Saint-Riquier († 814), Dichter am Hof zu 538 Die Aachener Vita Karoli Magni des 12. Jahrhunderts, hg. v. Helmut u. Ilse Deutz, Sieburg 2002; Ludwig Vones, Heiligsprechung und Tradition. Die Kanonisation Karls des Großen, die Aachener Karlsvita und der Pseudo-Turpin, in: Jakobus und Karl der Große. Von Einhard Karlsvita zum Pseudo-Turpin, hg. v. Klaus Herbers, Tübingen 2003, S. 89–106. 539 Gerd Althoff, Verwandte, S. 85–119; Roman Deutinger, Königsherrschaft im ostfränkischen Reich. Eine pragmatische Verfassungsgeschichte der späteren Karolingerzeit (Beiträge zur Geschichte und Quellenkunde des Mittelalters 20), Ostfildern 2006, S. 309. 540 Annales Fuldenses. Continuatio Moguntina, in: MGH SRG 7, hg. v. Friedrich Kurze, Hannover 1891, S. 98f.; Schieffer, Zeit des karolingischen Großreichs, S. 153.

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Aachen, versicherte Karl den Großen seiner Loyalität und Liebe, genauso wie dies Theodulf von Orl8ans († 821), Abt des Benektinerklosters Fleury und Bischof von Orl8ans, zugunsten von König Karl dem Kahlen (843–877) tat.541 Aber in den Genuss der persönlichen Vertrautheit gelangten meist nur die Mitglieder der eigenen Familie, die Karl der Große und seine Nachfolger an der Herrschaft beteiligten.542 Das Ideal verlangte indes Ausdeuhnung über den engen Kreis der Vertrauten hinaus. Außerhalb des Hofes der fränkischen Herrscher stehend, hat Paulus Diaconus (ca. 725–799) in seiner Geschichte der Langobarden die Liebe als Wert vorgestellt, der jenseits persönlicher Vorlieben bestehen solle. Der amator pacis galt ihm als derjenige, der die Herrschertugenden verwirklichte; zugleich sollte er aber belli praepotens sein. Verwirklicht habe, so Paulus, die beiden Eigenschaften der langobardische König Luitprand. Milde gegenüber Verbrechern, Freigebigkeit für die Bedürftigen, Schutz des Volkes und Vermehrung des Rechts seien so möglich geworden.543 Auch die langobardischen Fürsten von Benevent verwendeten den Begriff der Liebe. Der insolubilis amor zum oströmischen Kaiser ließ man durch einen Gesandten am Hof zu Konstantinopel mitteilen.544 Das Ideal von Liebe und Schrecken blieb erhalten, auch während der Jahrzehnte nach Karls des Großen Tod. Beide gehörten zum Repertoire der weltlichen Herrschaftsausübung, wie geistliche Autoren – im Gegensatz zu den Deutungen der Königsurkunden selbst – nicht nachließen zu behaupten. Die Historiographie zu Karl stellte ihn als Vorbild dar, auch viele Jahre nach seinem Tod. Die Texte wurden in königsnahen Klöstern geschrieben. Notker der »Stammler«, Mönch von St. Gallen (ca. 840–912), berichtete in seinem Werk Gesta Karoli Magni, dass Karl an adelige Klosterschüler eine Rede richtete, die Schrecken einflößen sollte, unterstützt von seinen Blicken, die er auf diejenigen richtete, denen er Verzärtelung und Verweichlichung vorwarf. Der anekdotische Erzählstil trug nicht wenig zum Erfolg der Gesta bei und prägte neben der Vita von Einhard das Bild von Karl dem Großen in der Nachwelt.545 Deutlicher noch 541 Jaeger, Ennobling Love, S. 2. 542 Fried, Karl, S. 375–383. 543 Paulus Diaconus, Historia Langobardorum, hg. v. Georg Waitz (MGH SRG us. schol. 48), Hannover 1878, S. 249f.; Walter Pohl, Paulus Diaconus und die Historia Langobardorum. Text und Tradition, in: Historiographie im frühen Mittelalter, hg. v. Anton Scharer, Georg Scheibelreiter (Veröffentlichungen des Österreichischen Instituts für Geschichtsforschung 32), Wien, S. 375–405. 544 Translatio Sancti Heliani, in: MGH SRL, hg. v. Georg Waitz, Hannover 1878, S. 581–583, S. 582. 545 Notker der Stammler, Taten Kaiser Karls des Großen, hg. v. Hans F. Haefele (MGH SRG NS 12), Berlin 1959, S. 4f.; Helmut Hupertz, Einhard und Notker Balbulus, in: Weltbild und Realität. Einführung in die mittelalterliche Geschichtsschreibung, hg. v. Ulrich Knefelkamp, Pfaffenweiler 1992, S. 73–84.

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auf das Handeln als Herrscher bezog am Ende des 9. Jahrhunderts der Corveyer Mönch, als Poeta Saxo benannt, seine Darstellung. Er erzählte die Taten Karls des Großen aus der Rückschau und präsentierte ihn als Vorbild des guten Herrschers, gerade weil der terror von ihm verbreitet worden sei. Aus Furcht vor dem Schrecken, den Karl androhte, sei der Langobardenkönig Desiderius vor ihm geflohen. Karl sei in die Gebiete, die an die Rebellen gefallen waren, eingedrungen und dort sei zu Recht – merito – der terror ausgeübt worden. Um gegen Herzog Tassilo von Bayern vorzugehen, habe Karl das Blut von dessen Anhängern vergossen, um allen Überlebenden Furcht einzuflößen. Dasselbe berichtet der anonyme Geschichtsschreiber für das Jahr 801, als der terror von Karl in Italien verbreitet worden sei, um die sich ihm widersetzenden Städte zu unterwerfen. Heftiger noch wütete der Schrecken des Kaisers gegen diejenigen, die Heiden waren. Allein der terror könne die Wut von Barbaren, zu denen die heidnischen Sachsen gehört hätten, niederringen. Mit Feuer und Schwert sei Karl gegen diejenigen vorgegangen, die sich wiederholt seiner Herrschaft zu entziehen getrachtet hätten. Der Schrecken war glaubhaft zu machen durch tatsächliche Gewalt, konnte sich aber auch mit einer Androhung begnügen. Karl der Große habe daher richtig gehandelt, als er, statt die Feinde zu töten, ihnen Schrecken einflößte: Quod terrore magis fieri quam morte volebat. Aber nicht allein auf den Schrecken gelte es zu setzen. Mehr habe Karl der Große durch seine Güte und seine Freigebigkeit – genannt sind pietas et munificentia – erreicht. Der Schrecken war offensichtlich nur dann einzusetzen, wenn Milde zu nichts führte. Dies geschehe aber doch so oft, wie der anonyme Autor behauptete, dass der Schrecken unumgänglich sei. Der Schrecken entspringe indes nicht dem Willen Karls, sondern dem Handeln seiner Feinde. Sie begingen Verrat und Ungehorsam. Der Schrecken war die Reaktion auf eine gestörte Ordnung. Er beflecke nicht die Person Karls, sondern die Feinde, die anders als durch den Einsatz von Schrecken nicht zu bezwingen gewesen seien.546 Schrecken zu verbreiten, verlangte eine zielgerichtete Anwendung. Ein willkürlicher Einsatz sollte ausgeschlossen sein. In der Chronik des westfränkischen Klosters Moissac, in der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts entstanden, schrieb der unbekannte Autor, dass die regni utilitas, die zu erhalten jeder Herrscher angehalten sei, und seine maiestas rechtfertigten, Schrecken zu verbreiten, der gemäß dieser Aussage nicht das Ergebnis von Rache, Willkür und persönlicher Verärgerung sein dürfe, vielmehr zur Staatsnotwendigkeit erhoben wurde. Der Nutzen des Königreiches, so definitorisch unbestimmt er auch war, rechtfertige 546 Poeta Saxo, Annalium de gestis Caroli Magni imperatoris libri quinque, in: MGH SS 1, hg. v. Georg Heinrich Pertz, Hannover 1826, S. 225–279, S. 229, 243, 245, 251, 259, 261, 271; Rosamond McKitterick Charlemagne. The Formation of an European Identity, Cambridge, 2008, S. 23f.

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und verlange einen Einsatz, der auf die Anliegen der Untertanen keine Rücksicht zu nehmen brauche, vielmehr maximale Effizienz der Gewalt hervorbringen dürfe. Mäßigung war vom Verursacher des Schreckens, dem Herrscher, verlangt, keine Mäßigung gab es aber hinsichtlich der Wirkung.547 Der Geschichtsschreiber Nithard (ca. 795–845), der selbst der Dynastie Karls des Großen entstammte, kein Geistlicher war und die Position Karls des Kahlen, des Enkel Karls des Großen, verteidigte, vertrat ein Konzept der Einheit des Reiches auf der Grundlage brüderlicher Eintracht.548 Er konzipierte ein Ideal des guten Herrschers, der Schrecken ebenfalls mit Mäßigung verband, dabei aber dessen Wirkung nicht minderte. In der Einleitung seines Geschichtswerkes stellte er Karl den Großen als denjenigen vor, der dieses Ideal verwirklicht habe. Gegenüber allen Bewohnern des Erdkreises sei er zugleich schrecklich, liebenswürdig und bewundernswert erschienen. So sei es ihm gelungen, die wilden Franken und Barbaren und das mächtige Rom zu beherrschen. Durch einen gemilderten Schrecken – moderato terrore – habe er Schaden vom Reich abgewendet. Wie der Schrecken moderiert wird, wird nicht gesagt, wozu der Schrecken nützt aber durchaus: zur Beherrschung.549 Die Chronik von Regino von Prüm (ca. 840–915), Abt des gleichnamigen Klosters und Unterstützer der ostfränkischen Könige, berichtet, wie schon die Reichsannalen, dass die Hilfe Gottes es Kaiser Karl ermöglicht habe, Schrecken zu verbreiten und somit die heidnischen Feinde, die Awaren, in die Flucht zu schlagen.550 Die Unterscheidung von Innen und Außen erlaubte eine Differenzierung von Schrecken und Furcht, die zusätzlich zu der nach Verdiensten und Vergehen anzuwenden waren. Dem Nachfolger Karls des Großen, Kaiser Ludwig dem Frommen, wurde in der frühmittelalterlichen Historiogeraphie nachgesagt, dass er die Liebe vermehrt vielen Personen in seinem Reich, nicht allein in kleinen Familien- und Freundeskreisen gewährt habe. Schrecken und Furcht habe er, sofern nicht nach außen gerichtet, als Übel erachtet, die es möglichst zu vermeiden galt. Das Oszillieren zwischen Liebe und Gewalt, zwischen Nutzengemeinschaft und Feindschaft haben die historiographischen Berichte vorgeführt, die ein diffuses Bild der Unschlüssigkeit des Kaisers zeichneten, das nachträglich

547 Chronicon Moissiacense, in: MGH SS 1, hg. v. Georg Heinrich Pertz, Hannover 1826, S. 280– 313, S. 310; Philippe Buc, Ritual and Interpretation: The Early Medieval Case, in: Early Medieval Europe 9 (2000), S. 183–210. 548 Janet L. Nelson, Public Histories and Private History in the Work of Nithard, in: Speculum 60 (1985) S. 251–293; Bernard S. Bachrach David S. Bachrach, Nithard as a Military Historian of the Carolingian Empire, ca. 833–843,in. Francia 44 (2017), S. 29–59. 549 Nithard, Historiarum libri, S. 1. 550 Annales Laurissenses, in: MGH SS 1, hg. v. Georg Heinrich Pertz, Hannover 1826, S. 124– 219, S. 17; Regino von Prüm, Chronicon, S. 57.

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in ein intentionales Programm einzufügen, offensichtlich die Autoren beabsichtigen.551 Ludwig selbst präsentierte als Leitgedanken seiner Herrschaft – vor allem im Proemium der im Jahre 823 erlassenen Admonitio ad omnes regni ordines –, dass er die Witwen und Waisen versorge, die übrigen Armen unterstütze, die Kirchen beschenke und sie fördere. Keiner seiner Getreuen dürfe diese Aufgabe vernachlässigen und weder durch Vergünstigung noch durch Furcht sich davon abbringen lassen, die von Ludwig erteilten Aufträge auszuführen. Zugleich stellte Kaiser Ludwig in Aussicht, dass eine strenge correctio eingesetzt werde, um seine ministri davon abzuhalten, ungerecht zu handeln und die Armen zu bedrücken. Die ministri müssten Gott lieben und fürchten, deswegen sie gehalten seien, die Diener der Kirche zu ehren und das Volk zu lieben, dessen Frieden zu stören unterbunden werden müsse. Furcht und Schrecken waren als die Kennzeichen unrechter Gewalt vorgeführt, gegen die einzuschreiten Kaiser Ludwig versprach, allein schon um die Existenz der von Unfreiheit bedrohten und damit dem Königsdienst entfremdeten Bevölkerungsgruppen zu bewahren.552 Ludwig der Fromme stellte die utilitas omnium in zahlreichen seiner Urkunden als Ziel seiner Maßnahmen vor, deren Motivierung durch die Gottesliebe erfolge, so dass er dereinst den himmlischen Lohn zu empfangen hoffe.553 Die auch in der Folgezeit übliche Begründung in den Arengen setzte die Herrschaftslegitimierung Ludwigs gleichwohl von der seines Vaters ab: Die Funktionalisierung des Königsamtes im Hinblick auf den Gewinn im Diesseits und im Jenseits verschaffte dem König eine Position, die ihn als Spender von Vorteilen zugunsten aller auswies. Nicht mehr allein die Herrschaft selbst, als regnum und imperium bezeichnet, sondern alle Menschen, die dem Kaiser unterstanden, sollten in den Genuss des Nutzens, den es zu mehren galt, ge551 Ernst Tremp, Zwischen stabilitas und mutatio regni. Herrschafts- und Staatsauffassungen im Umkreise Ludwigs des Frommen, in: La royaut8 et les 8lites dans l’Empire carolingienne (d8but 9e siHcle aux enviroons de 920), hg. v. R8gine le Jan; Villeneuve-d’Asq 1998, p. 111– 127. 552 MGH Cap. 1, hg. v. Albert Werminghoff, Ndr. Hannover 1997, Nr. 150, S. 303f.; Karl Bosl, Potens und pauper. Begriffsgeschichtliche Studien zur gesellschaftlichen Differenzierung im frühen Mittelalter und zum »Pauperismus des Hochmittelalters, in: Alteuropa und die moderne Gesellschaft. Festschrift für Otto Brunner, Göttingen 1963, S. 60–87; Johannes Schmitt, Untersuchungen zu den Liberi homines des Karolingerzeit (Euopräische Hochschulschriften 3: Geschichte und ihre Hilfswissenschaften 82), Frankfurt a. M., Bern 1977; Carlo Cammarosano, Potentes et pauperes. Stratification et mobilit8 sociale dans le monde carolingien, in: Le monde carolingien. Bilan, perspectives, champs de recherches. Actes du colloque international de Poitiers 28–30 nov. 2004, hg. v. Wojciech Falkowski, Yves Sassier, Turnhout 2009, S. 323–332. 553 Die Urkunden Ludwigs des Frommen, hg. v. Paul Kehr (MGH DD Karol. 2), Berlin 1932, Nr. 2, 4, 6–8,11, 15, 25, 29, 47, 55, 68, 70, 98–100, 154, 163–169 162; S. 2, 4–10, 13, 17f., 22, 30, 36, 63, 75f., 95f., 99f., 142–144, 216f., 227–233, 237f., 243.

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langen. Aber nicht den Anspruch auf den Nutzen, sondern dessen einseitige Gewährung sah Ludwig vor. Der amor Dei begründete und motivierte das Handeln des Kaisers. So drang die Liebe in die Beziehung zu seinem Volk vor. Die Transmission der Liebe auf alle leisteten die Diener des Kaisers. Die Liebe war hierarchisch geordnet und dehnte sich über Etappen der Hierarchie aus. Im historischen Gedächtnis der unmittelbaren Nachwelt galt Ludwig als vorbildlicher Kaiser, der in rechter Weise Milde und Strenge zeigte. Die Untertanen verharrten dabei um nichts weniger in Furcht. Sie sei dem Herrscher entgegen zu bringen, auch wenn dieser die Furcht nicht selbst beabsichtige und sie angeblich auch nicht auslöse. Mit dem Verweis auf eine Passage des ersten Petrusbriefes (2,17–18) verurteilte Thegan (ca. 800–852) in seiner von ihm verfassten Vita Ludwigs jeden Widerstand gegen den legitimen Herrscher, da Rebellion gegen alle Herren untersagt sei, denen vielmehr Furcht geschuldet werde, um ihnen umso besser gehorsam zu sein, und dies gelte sogar gegenüber den unwürdigen Vorgesetzten.554 Thegan schreibt, die Herrschaftsordnung, nicht das Verhalten des individuellen Herrschers, solle die Furcht erregen. Dies ermögliche dem vorbildlichen Kaiser, sich persönlich als mildtätig zu erweisen, und die der Herrschaft inhärente Furcht mit Liebe zu überdecken. Thegan entstammte einer fränkischen Adelsfamilie, trat in die geistliche Laufbahn, wurde Chorbischof in Trier und gegen Ende seiner Lebens Propst des Stiftes St. Cassius Bonn. Die Lebensbeschreibung Ludwigs ist durchweg bewundernd, spart aber auch nicht an Kritik.555 Die Bestrafung des aufrührerischen Neffen Bernard durch Blendung, die sofort zum Tode führte, habe Ludwig, so die Darstellung Thegans, zu Schmerz und Reue bewegt; die Schuld, die er auf sich geladen habe, indem er seinen Ratgebern nicht widersprochen und, wie von ihnen gefordert, die grausame Strafe habe vollstrecken lassen, habe er durch Buße abzutragen gesucht, die in Schenkungen zugunsten der Armen bestanden habe. Gegenüber den Untertanen und den Getreuen lege Ludwig Wert darauf, durch die Schönheit seines Körpers und seines Körperschmuckes anziehend und liebreizend zu sein. An seinem Hof habe er Annehmlichkeiten durch Feste, Schauspiele und Musikdarbietungen geschaffen und die Menschen an sich gebunden. Den Schatz, vom Vater ererbt, habe er den Armen und den Kirchen gegeben und lediglich einen silbernen Tisch aus Liebe zu seinem Vater behalten. Täglich teile er den Armen Almosen aus; er gründe Hospitäler. Ludwig schreite gegen zu harte Bestrafung ein, suche das Los der durch Gerichtsurteile Bedrängten zu lindern, statte das Erbe derjenigen, denen die Grafen und andere kaiserliche Beauftragte es entzogen hätten, zurück und korrigiere dabei aus554 Theganus, Gesta, S. 232. 555 Ernst Tremp, Studien zu den Gesta Hludowici imperatoris des Trierer Chorbischofs Thegan (Schriften der MGH 32), Hannover 1988.

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drücklich die Anordnungen, die zur Zeit seines Vaters verfügt worden seien, handele aber dennoch in seinem Sinne, weil er die Anweisungen des väterlichen Testaments erfülle, das verlange, wie Thegan schreibt, sein Volk so wie seine Söhne zu lieben. Liebe war aus dem familiären und höfischen Kokon auf das gesamte Reich und alle seine Bewohner ausgedehnt. Statt durch die Furcht, die durch Strafen und Strafandrohungen hervorgerufen würden, strebe Ludwig danach, so weiter Thegan, die Treue seiner Untertanen und den Frieden in seinem Reich ohne Zwang, vielmehr durch freiwilligen Dienst – spontaneum obsequium – zu erreichen. Vertraute Gespräche und freundlicher Umgang pflege er. Er handle nicht im Zorn.556 Thegans Beurteilung von Ludwig war panegyrisch eingefärbt und reflektierte ein Ideal, das den Kaiser als Förderer der Kirchen und als Wahrer des Friedens vorstellte und damit ein Vorbild schuf, das dem Aufruhr seiner Söhne gegen ihn und den internen Kriegen im Frankenreich gegenübergestellt war. Thegan nahm eine Transformation vor : Unmittelbare familiäre Beziehung zwischen wenigen Personen wurde zu einer umfassende Ordnung der Herrschaft. In ihr sollte die Liebe eine kollektive, das ganze Reich erfassende Wirkung erhalten. Der anonyme Biograph Ludwigs, der als Astronomus in der wissenschaftlichen Literatur bezeichnet wird, zeichnete ebenfalls ein überwiegend positives Bild eines exemplarisch guten Herrschers und stellte noch stärker als Thegan die Emotionen der Zuneigung heraus, die den Kaiser leiteten. Der Geschichtsschreiber lobte den affectus Ludwigs zugunsten der eremitisch lebenden Mönche in Aquitanien, deren Leben selbst nachzueifern ihm freilich verwehrt sei, weil er als Herrscher angehalten sei, das Seelenheil möglichst vieler Menschen zu befördern, so dass er mit vielen Kontakt halten müsse. Aber die Aufgabe, für die Ordnung im Reich und für den Schutz der Kirchen zu wirken, ließe ihm keine Gelegenheit, stets in Liebe zu handeln; vielmehr sei er mitunter gezwungen, wenn er die Feinde seiner Herrschaft, d. h. damit auch der gerechten Ordnung, besiegen wolle, Schrecken zu verbreiten. Den Aufrührer Hunald habe nur der terror, den Ludwig erzeugt habe, in die Schranken gewiesen. Der Gegensatz zwischen Liebe und Schrecken war als ein moralisches Dilemma gekennzeichnet. Verursacht wurde es von den Gegnern Ludwigs. Ludwig selbst blieb in der Aura der Liebe eingehüllt. Es sei Ludwig gelungen, lange Zeit durch Milde über die Untertanen zu herrschen. Das Volk erwarte ihn ohne Furcht – absque metu –, um sein Gerichtsurteil zu empfangen. Selbst bei Untreue und bei Verbrechen gegen die kaiserliche Majestät verzichte Ludwig auf die Verhängung der dafür vorgesehenen Todesstrafe. Die Lebensbeschreibung Ludwigs erachtete dieses Verhalten als ungewöhnlich, meinte, dass es den Erfordernissen der Herrschaft widerspreche; umso größer sei das Verdienst des Kaisers. Die Vortrefflichkeit 556 Theganus, Gesta, S. 182, 188, 190, 194, 196, 202–205, 212; Althoff, Ira regis, S. 65.

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betraf die individuellen Eigenschaften, dank derer er barmherzig sei – sogar gegenüber seinen Feinden, selbst auf die Gefahr hin, dass die Gegner seine Milde missbrauchen würden, und selbst gegenüber den Rebellen, die ihn zeitweise gefangen gesetzt hatten. Den Vorwurf der Schwäche, der gegen Ludwig erhoben wurde, wendete der Autor in eine vorbildliche Verwirklichung der Milde um, ohne indes die grundsätzliche Berechtigung der strafenden Härte und Unbarmherzigkeit gegenüber den Gegnern der Herrschaft in Frage zu stellen. Ludwig verlange von seinen Grafen unerbittliche Unterdrückung und Ausmerzung der Räuber, weil Gerechtigkeit zu lieben sei und deswegen die Übeltäter bestraft werden müssten. Die krisenhafte Schwächung der Herrschaft Ludwigs durch den Aufstand seiner Söhne erklärt der anonyme Autor mit einem aufopferungsvollen, selbst eigene Interessen vernachlässigenden Gewaltverzicht. Dieses Verhalten machte Ludwig offensichtlich zu einer Ausnahme, die umso löblicher in den Augen seines Biographen war, als er selbst Einbußen seiner Macht hinzunehmen bereit war. Indessen klingt beim Astronomus auch Kritik gegenüber zuviel Nachgiebigkeit an, eben weil sie die Herrschaft und damit auch den Kampf gegen die Übeltäter schwächt. Ludwig mangele es an einer richtigen Dosierung von Schrecken und Milde, so urteilt der anonyme Autor.557 Spätere Texte hoben Ludwig den Frommen gänzlich in die Höhen idealer Herrschaft. Die Milde habe er verwirklicht, die als Ergebnis einer alle Untertanen liebenden Zuneigung vorgestellt wird. Selbst rechtlich gebotene, von seinen Söhnen und vom Volk gewollte Bestrafungen seiner Feinde lehne er ab; er wandle die Todesstrafen in Verbannungen um. Die solita pietas des Kaisers zeige sich bei vielen Gelegenheiten, wie die westfränkischen Annalen von St. Bertin berichten. Dieses Geschichtswerk erachtet die Liebe innerhalb der Familie als Ursprung einer dem ganzen Königreich Nutzen bringenden Sorge des Kaisers, welcher – paterno affectu und paterno animo – stets zum Ausgleich mit seinen Söhnen bereit sei, um die Eintracht in der Familie und den Frieden im gesamten Reich herzustellen. Die Transformierung von familiärer zu öffentlicher Zuneigung, von affektiven Beziehungen im kleinen Kreis zu großen, das Reich erfassenden Vereinigungen hätte die Macht stabilisieren sollen. Das Vorgehen Ludwigs war anders gedeutet als das seines Vaters Karl, der genau diese Transformierung vermied. Ludwig indes scheiterte – sowohl innerhalb seiner 557 Astronomus, Vita Hludowici imperatoris, hg. v. Ernst Tremp, in MGH SRG in us. schol. 64, Hannover 1995, S. 279–555, S. 284, 286, 334, 336, 348–350, 398–400, 460–465; Ernst Tremp, Thegan und Astronomus. Die beiden Geschichtsschreiben Ludwigs des Frommen, in: Charlemagne’s Heir. New Perspective on the reign of Louis the Pious (814–840), hg. v. Peter Godman, Oxford 1990, S. 691–700; Hans-Werner Goetz, The perception of »power« and »state« in the Early Medieval Ages. The Case of the Astronomer’s »Life of Louis the Pious«, in: Representations of Power in Medieval Germany, 500–1500, hg. v. Björn Weiler, Simon McLean, Leiden 2006, S. 15–35.

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Familie als auch im Reich. Selbst die Annalen von St.Bertin, Karl den Kahlen günstig darstellend, verhehlten nicht, dass allein von dessem Bruder Pippin die paterna amor ac reverentia erbracht worden sei. Nur selten seien die anderen Söhne – auch Karl – bereit, sich dem Vater zu unterwerfen, und meist weigerten sie sich, Verzeihung für ihre Rebellion zu erbitten. Eine Ausnahme betraf die Zeremonie der Vergebung, die für das Jahr 839 dargestellt ist, als der älteste Sohn Lothar, aus Italien kommend, in Worms sich vor den Kaiser auf die Knie warf, ihn um Vergebung bat, worauf dieser – wie schon oft zuvor – in paterna benignitate ihm dessen jahrelangen Ungehorsam verzieh, ihn an der Reichsherrschaft beteiligte und dessen Getreue mit Geschenken überhäufte. Der Versuch, eine langfristige Verständigung zu erzielen, war indes erneut vergeblich. Herrschaft und Einheit des Reiches zu retten, gelang nicht, und damit war auch die Verbindung von väterlicher Autorität und väterlicher Zuneigung unmöglich, wie die Annalen von St. Bertin einräumten.558 Die Bereitschaft Ludwigs, in öffentlicher Weise Fehler einzugestehen und Buße zu leisten, wie 830 und im folgenden Jahr geschehen, hat seine Authorität nicht wiederherstellen können, sie vielmehr als zu schwach vorgeführt, was die Rebellion seiner Söhne gegen ihn noch weiter anfachte.559 Die spätere historiographische Tradition ließ aber nicht davon, ab darzustellen, dass Kaiser Ludwig die Liebe innerhalb der Familie zunächst verwirklicht, dann auch aus ihr herausgeführt, sie auf eine herrscherliche Zielsetzung ausgerichtet, vor allem auf den Klerus erstreckt und als Voraussetzung ausgegeben habe, den Frieden zu schaffen. Die Schwäche von Kaiser Ludwig hinsichtlich der Durchsetzung seiner Gewalt wurde weiterhin als dessen Stärke hinsichtlich der Liebesfähigkeit umgewertet. Andreas von Bergamo, der am Ende des 9. Jahrhunderts eine Fortsetzung der Historia Langobardorum von Paulus Diaconus († 797/799) verfasste, charakterisierte Ludwig als weise, als klug in der Beratung, als mildtätig und als ein amator pacis. Die Friedensliebe beruhe darauf, dass Ludwig die Lektoren, die Kantoren und alle Diener der Kirche Gottes geliebt habe. Aus einer speziellen Liebe sei der Nutzen für alle im Königreich entstanden.560 Die Liebe und die Milde Ludwigs auch gegenüber gefährlichen Feinden waren letztlich inopportun, und sein Misserfolg drohte die Bewertung Ludwigs zu verdunkeln. Um sein Tun dennoch zu rechtfertigen, wurde es als Nachahmung, ja als Nachfolge Christi ausgestaltet, wurde als Leiden stilisiert, war damit entpolitisiert, religiös überhöht, einem Martyrium gleichgesetzt und – selbst bei 558 Annales Bertiniani, S. 3f. , 9f., 13f., 20. 559 Mayke de Jong, The Penitential State, Authority and Atonement in the Age of Louis the Pious, 814–840, Cambridge 2009. 560 Andreae Bergomatis, Historia, in: MGH SS rer Lang 1, hg. v. Georg Waitz, Hannover 1898, S. 220–230, S. 225.

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einem Verlust der Macht – als vorbildlich hingestellt. Die Zersetzung der Herrschaft Ludwigs, der im Kampf gegen seine Söhne unterlag, sollte die christlich intendierte Idealisierung nicht antasten. Die Liebe Ludwigs wurde gewürdigt, die er zunächst im Familienverband zu verwirklichen und schließlich für das gesamte Reich zur Blüte zu bringen suchte, um – in beiden Anwendungen freilich vergeblich – emotional grundierte Beziehungen für die Herrschaft nutzbar zu machen. Opportunität und Nutzen habe er hingegen beiseite geschoben.561 Das Scheitern Ludwigs hielt weitere Geschichtsschreiber im Umfeld der Karolinger nicht davon ab, eine auf Liebe basierende Gewalt zu loben, die auch nach Ludwigs Tod bestehen sollte. Prudentius von Troyes († 861) beschrieb die Liebe zwischen den Söhnen Ludwigs, d. h. zwischen Karl dem Kahlen und seinem Bruder Ludwig (dem Deutschen), so dass sie wegen dem vinculo fraterni amoris einmütig verbunden seien und im Jahre 849 eine Vereinbarung brüderlicher Liebe, als caritas bezeichnet, geschlossen hätten und öffentlich die Ringe miteinander getauscht und ihre Frauen und Kinder gegenseitig dem Schutz des anderen anvertraut hätten, was zum Ergebnis geführt hätte, dass sie dem gesamten Frankenreich großen Nutzen gestiftet hätten. Aus der familiären Liebe sei ein gesamthafter, die Herrschaft bestärkender Gewinn erwachsen.562 Die Darstellung beruhte auf einer illusionären Einschätzung. Tatsächlich tobten heftige Kämpfe zwischen den Brüdern, als nach dem Tod des ältesten Bruders Lothar 855 die Kämpfe um dessen Erbe ausbrachen.563 Die Diskrepanz zwischen dem Ideal und der Realität haben andere Autoren deutlich gemacht. Dass zwischen den Brüdern Liebe bestehen müsse, aber so oft fehle, war ein wiederkehrendes Thema, das die Historiae von Nithard (†845) darstellten. Bereits der Vater, Ludwig der Fromme, habe vergeblich die liebende Einigkeit unter seinen Söhnen zu stiften versucht. In fraterno amore zu handeln, gab Nithard als Ideal vor, das verwirklicht worden sei, als sich Karl der Kahle und Ludwig der Deutsche in Straßburg im Jahre 842 trafen und als sich deren beider Heere durch Eid gegenseitig zu Hilfe verpflichteten. Eine sancta concordia zwischen den beiden Brüdern habe zu dieser Zeit bestanden und zur Vereinigung des Volkes geführt. Karl und Ludwig hätten vertrauten Umgang, schliefen in einem Haus, äßen gemeinsam. Königreich und Familie gestalteten sie in gegenseitiger Übereinstimmung. Die Idealisierung der brüderlichen Eintracht war das Gegenbild zu einer verfälschten Liebe: Wo diese abgeschlossen, aus der Herrschaftsordnung abgesondert war, galt jene als Voraussetzung, das Ver561 Le Jan, Quem decet, S. 402f., 409. 562 Prudentii, Trecensi episcopi, annales, in: MGH SS 1, hg. v. Georg Heinrich Pertz, Hannover 1826, S. 429–454, S. 444. 563 Schieffer, Zeit des karolingischen Großreiches, S. 142–146.

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hältnis der Könige untereinander und zu ihren Getreuen und Untertanen zu verbessern. Nur wenn Liebe und Zuneigung über die königliche Familie hinauswirkten, gewannen sie einen Wert, da sie die Einheit des fränkischen Reiches wahrten. Die Liebe aber, die sich in die Intimität zurückzog, galt Nithard als gefährlich. Durch Zauberkünste sei König Lothar Liebe eingeflößt worden, so dass er blindlings seiner Konkubine Waltrada verfallen sei.564 Die Ausdehnung brüderlicher Liebe auf das ganze Reich auszudehnen, war auch in einem Kapitular Karls des Kahlen aus dem Jahre 860 verlangt. Es rückte die brüderliche Liebe in die Nähe der allgemeinen christlichen Liebe, so dass sie erreichen sollte, die Liebe im Reich und somit die Einheit herzustellen.565 Auch in den Annalen von Saint-Bertin, die für den westfränkischen Reichsteil die Reichsannalen fortsetzten und ebenfalls eine herrschaftskonforme Geschichtsdeutung vorstellten, wurde Liebe im familiären Kontext beschrieben, womit ein Potential geweckt wurde, sie auf alle Untertanen und alle Angelegenheiten im Reich auszuweiten, was tatsächlich aber nicht geschah. Dies war als Schuld dem Bruder des westfränkischen Königs Karl des Kahlen, Ludwig dem Deutschen, angelastet.566 Die brüderliche Liebe zwischen beiden währte ja tatsächlich nur kurze Zeit.567 Die Forderung, Liebe, Freundschaft und Zuneigung in der Familie zu verwirklichen und dem Ganzen des Reiches zuzuführen, war in den historiographischen Texten und in den überlieferten Rechtstexten ausgeführt.568 Selbst der fehlende Erfolg minderte nicht die Vorbildlichkeit des Herrschers, dem Liebe abverlangt war und sie auch erbrachte. Damit Liebe politisch effizient gestaltet werden konnte, musste sie aus der Emotion in ein Verfahren, aus dem kleinen Kreis von Vertrauten in die Beziehungen des Reiches, aus der brüderlichen Liebe hin zur Vereinigung der Könige transformiert werden. Liebe sollte die drohende Instabilität abwenden und die Einheit des Reiches wahren; gegen die Zerwürfnisse der Brüder galt sie als Band der institutionellen Gemeinsamkeit.569

564 Nithard, Historiarum libri, S. 11, 14, 35f. 565 MGH Cap 2, hg. v. Alfred Boretius, Viktor Krause, Hannover 1890–97, S. 48f. 566 Annales Bertiniani, S. 60–64; Janet L. Nelson, The Annals of St.-Bertin. Ninth-Century Histories, Bd. 1, Manchester, S. i–xvi.; Diess., Charles the Bald, Court and Kingdom, London 2. Aufl., 1990, S. 23–40. 567 Ebda., passim; Schieffer, Zeit des karolingischen Großreiches, S. 142–146. 568 Mit zahlreichen Hinweisen auf die Quellen: Reinhard Schneider, Brüdergemeinde und Schwurfreundschaft. Der Auflösungsprozeß des Karolingerreiches im Spiegel der caritasTerminologie in den Verträgen der karolingischen Teilkönige des 9. Jahrhundert (Historische Studien 388), Lübeck, Hamburg 1964, S. 49–54, 86f. 569 Franz-Reiner Erkens, Divisio legitima und unitas imperi. Teilungspraxis und Einheitsstreben bei der Thronfolge im Frankenreich, in: DA 52 (1996), S. 423–485; Ders., Teilung und Einheit. Wahlkönigtum und Erbmonarchie. Vom Wandel gelebter Normen, in: Verfassungsänderungen, hg. v. Helmut Neuhaus, Berlin 2001, S. 9–44; Sören Kaschke, Die

Herrscherideale: Karl der Große, Ludwig der Fromme und ihre Nachfolger

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Nur wenn die Liebe mit Tugend, Pflicht und Amt verbunden wurde, ließ sie die Enge familiärer und freundschaftlicher Bindung hinter sich und erfasste das gesamte Königreich. Der politische Gebrauch des Wortes Liebe bedurfte aber einer stetigen Revitalisierung, um nicht in eine matte Beliebigkeit abzusinken. Deswegen war Liebe in Freundschaftsbünden zu verwirklichen, denn so war Liebe konkret gemacht, zugleich aber auch verfügbar gehalten für die Herrschaft, wenn die Freundschaftsbünde die Mächtigen einschloss. Wie Claudia Garnier ausführte, waren Freundschaftsbünde Zweckgemeinschaften, die eines emotionalen Kerns entkleidet waren und zur »Ergänzung der sozialen Struktur« dienten. Die Instrumentalisierung der Freundschaft, die Garnier zu Recht feststellt, soll aber nicht vergessen lassen, dass sie nur gelingen konnte, wenn ein einvernehmliches Reden über Emotionen stattfand, deren Authentizität gewiss zweifelhaft und wohl auch gar nicht intendiert war, die aber doch in den inszenierten, manifestierten und schriftlich tradierten Beteuerungen der Beteiligten an den Freundschaftsbündnissen emotional eingehüllt war und glaubhaft gehalten werden musste. Da, um ein Bündnis zu schließen, mehr als Interessenkonvergenz behauptet wurde, waren Semantiken von Zuneigung unerlässlich, um den Beziehungen Stabilität zu verleihen.570 Die Potentialität der Freundschaftsbündnisse sollte sich vermehrt im 11. und 12. Jahrhundert erweisen und zur Festigung königlicher Macht beitragen.571 Die behauptete Zuneigung machte den Schrecken nicht entbehrlich. Mehr als an die westfränkischen war er an die ostfränkischen karolingischen Könige angeheftet und ihnen als Verdienst oder auch als Verfehlung zugeschrieben. In einem Schreiben Ludwigs des Deutschen an Papst Hadrian II. vom Jahre 870 wurde die Aufgabe des Königs als Schützer der Kirchen beschrieben, wozu die disciplina secularis und der terror mit Gottes Hilfe eingesetzt werden müssten. Der Brief rechtfertigte beide mit dem Hinweis auf den Nutzen für die Kirche – also mit dem Ziel – und mit dem Eingreifen Gottes – also mit der Verursachung. Als Ergebnis war auch der weltlichen Herrschaft gedient.572 Die Annales Bertiniani berichten zum Jahr 841 über den Krieg, den Ludwig der Deutsche gegen die germanischen Völker östlich des Rheins führte, um sie unterwerfen. Teils terror, teils gratia seien eingesetzt worden. So beschrieben die Annalen auch sein Vorgehen gegen die Slawen. Bei der Bekämpfung der Sachsen waren offenbar allein Gewalt und Schrecken angebracht: Die vom christlichen Glauben und von seiner Herrschaft abgefallenen Aufständischen ließ Ludwig köpfen, am Galgen karolingischen Reichsteilungen bis 831. Herrschaftspraxis und Normvorstellugen in zeitgenössischer Sicht (Schriften zur Mediävistik 7), Hamburg 2006. 570 Garnier, Amicus, S. 3–13. 571 Siehe Kap. VI. 3. 572 Epistolae Colonienses, hg. v. E. Dümmler, in: MGH Epp. Karol. 6, Berlin 1925, S. 241–256, Nr. 6, S. 248.

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aufhängen und eine große Menge unter ihnen verstümmeln. Die Deutung zum westfränkischen König Karl den Kahlen war gänzlich anders. Er bevorzuge, wie die ihm wohlgesonnenen Annalen von Saint-Bertin berichten, die Liebe gegenüber der Furcht. Durch Freundschaft und Bündnisse suche er die Großen seines Herrschaftsgebietes an sich zu binden, so wie dies auch der ältere Bruder Lothar versucht habe, damit aber gescheitert sei. Dessen Sohn Lothar (II.) und Karl seien zeitweise, so im Jahre 865, in Freundschaft miteinander verbunden. Mit dem Begriff amicitia waren auch andere Bündnisse zwischen den karolingischen Königen bezeichnet. Das Verhalten Karls und Lothars des Älteren setzten die Annalen von Saint-Bertin, die Fortsetzung der Reichsannalen, in Gegensatz zu dem des mit ihnen konkurrierenden Bruders Ludwig, der allein Gewalt und Einschüchterung ausübe und deswegen als verwerflich zu gelten habe.573 Die Unterschiede der Wertungen entsprangen zunächst einmal der Parteinahme der Annalen von Saint-Bertin, bildeten darüber hinaus tatsächliche Herrschaftspraktiken ab, da Karl der Kahle im westfränkischen Reich gegenüber den mächtigen Adelsfamilien, deren Herrschaftsgrundlagen sich stabiler erwiesen als im wenig romanisierten ostfränkischen Reichsteil, auf ihre Unterstützung angewiesen war. Die Großen des Reiches traten daher sowohl als Konkurrenten als auch als Kooperationspartner gegenüber König Karl auf, der, wollte er sie für sich gewinnen, ihnen Partizipations- und Konsensangebote machen musste, die sich im Konzept der confraternitas zwischen König und Großen des Reiches manifestierten und die im Vertrag zu Coulaines im Jahre 843 institutionell verfestigt wurden.574 Die Effizienz des Schreckens stellten die Fuldaer Annalen hingegen bei den ostfränkischen Königen als so wirksam heraus, dass damit auch »freiwilliger Gehorsam« erzwungen werden könne. Als König Arnulf (von Kärnten) im Jahre 894 nach Italien gezogen sei, habe ein solcher terror totam Italiam erfasst, dass besonders die Städte und unter ihnen vor allem Mailand und Pavia, sich freiwillig – sponte – dem heranziehenden Herrscher unterworfen hätten.575 Der offensichtliche Widerspruch zwischen Schrecken und Freiwilligkeit wurde 573 Annales Bertiniani, S. 27–32, 44f., 48–51, 78, 145. 574 Janet L. Nelson, The Intellectual in Politics. Context, Content and Authorship in the Capitulary of Coulaines, November 843, in: Intellectual Life in the Middle Ages. Essays presented to Margaret Gibson, hg. v. Janette Lesley Smith, Benedicta Ward, London 1991, S. 1–32; Adelheid Krah, Die Entstehung der potestas regia im Westfrankenreich während der ersten Regierungsjahre Kaiser Karls II., Berlin 2000; Olivier Guillot, Dans l’avant 10e siHcle du royaume de l’ouest franc. Autour de Coutaines (843) et de Quierzy (877), in: Arcana imperii (4e-11e siHcle), hg. v. Olivier Guillot (Cahiers de l‹Institut d’anthropologie juridique 10), Limoges 2003, S. 455–510. 575 Annales Fuldenses, in: MGH SS 1, hg. v. Georg Heinrich Pertz, Hannover1826, S. 337–416, S. 409.

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aufgehoben, indem der Schrecken nicht allein den wirksamen Vollzug des herrscherlichen Willens erreichen sollte, sondern auf die Disposition derjenigen einwirkte, die diesen Willen zu folgen hatten, so dass die Willensfreiheit durch den Schrecken nicht geschmälert sei. Der Gehorsam erwuchs aus der eigenen Absicht des Gehorsamen, um sich vor der Gewalt abzuschirmen. Das Ziel, die Untertanen von Unrecht zu befreien, wie es in den Arengen von König, bzw. Kaiser Karl III. dem Dicken († 888), dem Herrscher über das Ostfrankenreich, behauptet wurde, oder ihnen subsidia zu reichen, wie sein Nachfolger, König Arnulf († 899), in den Arengen seiner Urkunden verkündete576, stand ebenfalls nicht im Gegensatz zum Einsatz des Schreckens. Er galt nicht als hinderlich für die Freiwilligkeit des Tuns und für die Gewährung von Gunst und Nutzen. Liebe, Furcht und Schrecken umgaben die Herrscher. Einige von ihnen galten der Nachwelt als Vorbilder : Karl der Große und Ludwig der Fromme. Die Historiographie hat die Vorbilder gestaltet, die aber nicht in einer kanonisierte Fixierung geformt waren, sondern unterschiedlichen Deutungen offenstanden. Eindeutiger war eine theoretisch fundierte Reflexion. Sie war herausgefordert, um zu erklären, wie die Verbindung von Liebe und Schrecken gestaltet war und wie sie geordnet werden sollte. Texte der Didaktik traten neben die der historischen Narration und der rechtlichen Normierung. Eine theoretisch anspruchsvollere Durchdringung der schwierigen Gestaltung von Liebe und Schrecken, als diese in den historiographischen Werken und in den Urkunden geleistet wurde, war offenbar erforderlich.

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Geistliche Autoren formulierten Mahnungen an die Herrscher, die Argumentation und Normierung kombinierten und ein höheres Reflexionsniveau als die der Geschichtsschreibung erreichten, um widersprüchliche Anforderungen zu erörtern, Handlungen anzuleiten und Legitimationen anzubieten. Die Herrscher sollten belehrt werden, um sie dazu zu bringen, Tugenden zu verwirklichen. Zur Ausübung der Tugenden gehörten Liebe und Schrecken. Die von Remigius von Reims und von Pseudo-Cyprian vorgestellte Kombination dieser beiden Emotionen haben Geistliche des 9. Jahrhunderts ausführlich erörtert und mit Gründen versehen. Dass die Verbreitung von Furcht notwendigerweise zur Herrschaft gehörte, unterlag für Agobard, Erzbischof von Lyon († 840), keinem Zweifel. In einem 576 Die Urkunden Karls III., hg. v. Paul Kehr (MGH DD 2), Berlin 1936–37, Nr. 49, 52f., S. 81f., 87–89, 268f.; Die Urkunden Arnolfs, hg. v. Paul Kehr (MGH DD 3), Berlin 1940, Nr. 18, 36, 77f., 89, 95, 141; S. 27 f, 52 f, 116f., 131, 139, 215f.

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Brief an einen Grafen verlangte er, dass der timor regum, genauso wie der timor legum nicht abgeschwächt werden dürfe. Indem Agobard die Furcht vor der Person des Herrschers mit der vor der entpersonalisierten Ordnung, gestaltet durch die Gesetze, erweiterte, band er Königtum an ein Normengefüge, in das auch der Herrscher gestellt wurde, gab ihm im Gegenzug zusätzliche Machtmittel in die Hand, die den Gehorsam erzwangen.577 Es ist daher nur folgerichtig, dass Agobard einen Brief an Kaiser Ludwig den Frommen richtete, um ihn aufzufordern, gegen die Juden kämpferisch vorzugehen, sie aus weltlichen Ämtern auszuschließen und ihnen die Strenge des Gesetzes der Christen aufzuerlegen. So sei die Voraussetzung gegeben, dass sich die Christen in Treue und Liebe zu ihren Herren verhalten könnten, ohne dazu herabgewürdigt zu werden, Feinde der Herrschaft und des Glaubens als Freunde anzunehmen.578 Die Liebe war den Beziehungen unter den Christen reserviert. Für Juden sah Agobert nur die Furcht vor. Die religiöse Differenz führte zu emotionaler Differenzierung. Wie gute Herrschaft gestaltet und wie sie mit Emotionen angereichert werden sollte, war Gegenstand mehrerer Schriften, die in der Forschung als Fürstenspiegel bezeichnet werden. Sie waren von Klerikern verfasst und reagierten auf erhöhte moralische Standards, die sich aus der Integration des fränkischen Königtums in die christlich geprägte Herrschaftslegitimation, -konzeption und -intention ergaben und suchten Verallgemeinerungen von Pflichten neben Idealisierungen von Personen zu stellen. Dem König, der seine Gewalt von Gottes Gnaden empfing, waren Aufgaben anvertraut, die sich aus diesem Anspruch ableiteten. Im Lichte der christlichen Lehre zum moralischen Verhalten und des allgemeinen Liebesgebotes konnten sowohl Gebote an den König als auch Bedingungen seiner Herrschaft formuliert werden, die erklärten, wie die Machtausübung gehandhabt wurde, gehandhabt werden sollte und warum sie gerechtfertigt war. Aus den Erörterungen sprossen Keime politischer Reflexionen und sozialer Ordnungsvorstellungen.579 Die gut etablierte Forschung zu den karolingischen Fürstenspiegeln beschäftigt sich u. a. mit der Frage, wie eine Tugendlehre, die in den Texten vorgestellt ist, auf eine Standardisierung des Verhaltens zielt, wie die Katalogisierung der Tugenden gestaltet ist und wie die Tugenden in eine religiöse Sinnstiftung von Herrschaft münden. Gefordert wurden u. a. die Anbindung des karolingischen Herrscherhauses an das Papsttum, die Positionierung der fränkischen Könige als Helfer der Kirche und die Einhaltung von Regeln, die als Voraussetzung der Gerechtigkeit angesehen waren.580 Das ministerium des Königs war das Konglomerat der Pflichten, welche 577 578 579 580

Le Jan, Entre amour, S. 402. MGH Epp. Karol. 5, hg. v. Ernst Dümmler, Karl Hampe, Berlin 1899, Nr. 7, S. 182–185. Anton, Gesellschaftsspiegel, S. 51–120. Berges, Fürstenspiegel; Anton, Fürstenspiegel; Miethke, Politische Theorien, S. 50–54; Specula principum; Boureau, Prince, S. 25–50.

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rechtes Tun mit religiöser Zielsetzung verbanden und ausschließlich dank diesem Ziel den Tugenden zugeordnet waren.581 Die in den Fürstenspiegeln dargelegten Themen sollen indes hier ausschließlich in Bezug zum Untersuchungsgegenstand in diesem Buch, nämlich zu Schrecken, Furcht und Liebe, erörtern werden. Es ging den frühmittelalterlichen Autoren darum, den offensichtlichen Widerspruch zwischen Schrecken und Furcht einerseits und Liebe andererseits aufzulösen und das, was ein Jahrhundert zuvor nur knapp als ordinatio bezeichnet worden war, die die Verbindung zwischen den genannten Begriffen herstellen sollte582, zu präzisieren, um Handlungsanweisungen und Handlungsmuster zu konzipieren, die sowohl religiös gerechtfertigt als auch politisch verfügbar gemacht werden konnten. Ethik und Effizienz waren in Übereinstimmung zu bringen. Die karolingischen Fürstenspiegel formulierten Anweisungen, um Emotionen in Tugenden zu überführen und ebenso aus ihnen abzuleiten. Zu Lebzeiten von Karl dem Großen und im Umfeld des aquitanischen Hofes seines Sohnes Ludwig, des späteren Kaisers, schrieb Smaragd von Saint-Mihiel einen Fürstenspiegel, der den Titel Via regia trägt und die Pflichten für einen Herrscher darstellt, die dieser wie jeder andere Christ zu erfüllen habe, also nicht von einer politischen Problemerörterung ausgeht, sondern ein ethisches Programm entfaltet, dessen Spezifik für den Herrscher nur selten aufscheint, sofern nicht eine Steigerung bei der Verwirklichung der allen auferlegten Gebote vorgeführt wird, damit die Herrscher für alle anderen Vorbild werden. Smaragd von Saint-Mihiel stammte vermutlich aus dem ursprünglich westgotischen Gebiet Septimanien, in der Umgebung von Narbonne gelegen, wurde an die Pfalzkapelle Karls des Großen in Aachen berufen, unterstützte die Klosterreformen Karls und seines Sohnes Ludwig und diente letzterem wohl als Ratgeber – auch in Vorbereitung zu Synoden des Reiches in Aachen, die Reformen von Kirche und Herrschaft verfügten. Die hierarchische Differenz sei, so schrieb Smaragd, Ergebnis des Sündenfalls der Menschen und könne im irdischen Leben auf keine Weise aufgehoben werden. Aus der Differenz zwischen Herrschern und Beherrschten folgt für Smaragd aber keine Differenzierung der moralischen Forderungen. Auch zwischen Geistlichen und Laien ebnet er die Unterschiede ein. Die Regeln monastischer Lebensführung werden an den König herangetragen, so dass die Leitungsaufgaben von geistlichen und weltlichen Anführern ähnlich geformt sind, damit aber auch die moralische Verpflichtungen des Königs emporgehoben werden, ohne dass sie aber – anders als die Mönche – in exklusiver Absonderung tätig sein durften. Das Gebot der Liebe, das alle Menschen zu 581 Margalhan-Ferrat, Concept, S. 139. 582 Pseudo-Cyprianus, De duodecim abusivis saeculi, S. 43.

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befolgen hätten, stellt Smaragd an den Anfang seines Textes. Die Aufforderung ist abgelöst von allen familiären Bindungen, verweist vielmehr auf eine universale Geltung, die die Liebe zu Gott und zu allen Menschen als die Grundlage jedweder sozialen Beziehung machen soll. Einige wenige spezifische Anweisungen an den Herrscher enthält der Text gleichwohl: Weil der König seine Untertanen lieben solle, sei es geboten, den Unfreien die Freiheit zu schenken, denn alle Menschen seien ursprünglich von Natur aus gleich. Dass durch die Erbsünde die Knechtschaft entstanden sei, enthebe den König nicht von der Aufgabe, die Unfreien aus ihrem Status herauszuführen, weil er auch sie mit Liebe behandele. So könnte eine ungerechte Unterdrückung beendet werden. Es gibt weitere Anwendungen der Liebe: zur Ehegattin, zu den Kindern, zu den Knechten, unter Freunden und schließlich auch zu den Feinden, so dass sich der Kreis schließt zur allgemein gültigen christlichen Forderung, alle Menschen zu lieben. Der König habe alle Formen der Liebe in unterschiedlichen sozialen Gruppierungen auszuüben. Trotz der Einheitlichkeit der Ethik übernehmen die Adressaten der ethischen Forderungen gemäß der Unterschiede zwischen ihnen verschiedene Aufgaben. Aber nicht die Begründung der Ethik, wohl aber die Wirkung der Liebe differenziert Smaragd. Wegen des Mangels an Konkretisierung der geforderten Handlungen hat die Aufforderung an den König, zur Durchsetzung einer guten Herrschaft den Schrecken einzusetzen, in der Schrift keinen Platz.583 Stärker arbeitet Jonas von Orl8ans die Spezifik herrscherlicher Gewalt und die besonderen Anforderungen an den Herrscher heraus in einem Text, den die Forschung ebenfalls als Fürstenspiegel bezeichnet. Jonas war bis zu seinem Tod 842/43 Bischof dieser Stadt, unterhielt enge Beziehungen zum westfränkischen König Karl den Kahlen und richtete an ihn ein Mahnschreiben, das den Titel De institutione regia trägt. In dieser Schrift bringt Jonas göttliche und königliche Autorität eng zusammen. Gott gebühre Furcht und Liebe, welche Jonas in erster Linie als eigene Verpflichtung ansieht (die er so lange vernachlässigt habe, wie er bekennt); umso mehr sei es seine Pflicht, dem König Ratschläge zu erteilen, damit er die göttlichen Gebote einhalte. Jonas leistet, wie er in Aussicht stellt, dem König den Dienst der Klugheit. Er fordert, dass der Herrscher die Unfreien unterstütze, eingedenk, dass alle Menschen der Natur nach gleich seien, eingedenk aber auch, dass durch die göttliche Strafe nach dem Sündenfall dem Herrscher die Obhut der Untertanen und die Gewalt über sie anvertraut seien. Deren Unterwerfung unter die adeligen Herren ist unerbittlicher und unab583 Smaragd, Via regia, in: PL 102, Paris 1851, Sp. 931–970, Sp. 936, 968; Anton, Fürstenspiegel, S. 154–157; Stürmer, Peccatum, S. 108; Fidel Rädle, Studien zu Smaragd von Saint-Mihiel (Medium Aevum 29), München 1974; Otto Eberhardt, Via Regia. Der Fürstenspiegel Smaragds von St. Mihiel und seine literarische Gattung, München 1977.

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wendbarer vorgestellt als bei Smaragd, weil keine Korrektur, keine Befreiung vorgesehen ist, sondern nur Hilfe. Jonas, der die Legitimität von Kaiser Ludwig dem Frommen gegenüber der Rebellion seiner Söhne, auch von Karl dem Kahlen, verteidigte und wie andere hohe Geistliche und insbesondere kirchliche Synoden die Einheit des Reiches zu bewahren verlangte, drängte auf eine starke Kohäsion aller Gläubigen, die im Leib Christi vereinigt sein sollten, dessen Haupt Christus selbst sei und dessen herausgehobene Personen die Bischöfe und neben ihnen die Könige seien. Die Aufgaben der beiden letzteren Personengruppen unterscheidet Jonas deutlicher als Smaragd von Saint-Mihiel. Jonas verlangt, dass die Könige durch Anleitung und Gewalt Gehorsam erzwingen sollten, damit die Untertanen in Frömmigkeit leben könnten. Auch durch ihr Vorbild brächten die guten Könige ihre Untertanen zur Unterwerfung unter Gottes Befehle. Göttliche und königliche Autorität seien miteinander verschränkt und bestärkten sich gegenseitig. Für das Verhalten ihrer Untertanen müssten die Könige Rechenschaft vor Gott ablegen. Die Bischöfe sollten hingegen keine Gewalt ausüben. Nur mittelbar sollten sie auf sie einwirken. Sie sollten, wie dies auch Jonas zu tun beansprucht, die Könige ermahnen, ihren Pflichten nachzukommen. So entstehe gerechte Herrschaft. Hätten die antiqui die Herrscher als tyranni bezeichnet, so zu seiner Zeit als reges, weil und insofern sie recte handelten. Jonas verweist bei dieser etymologischen Ableitung neben Isidor von Sevilla auch – indes ohne Berechtigung – auf Augustinus als Quelle seiner Auffassung584 Die Ablehnung der Tyrannei beeinträchtigt aber in keiner Weise die für die Untertanen zwingende Herrschaft, sondern setzt die Anwendung von Drohungen und die Einflößung von Furcht voraus. Ausdrücklich ermahnt Jonas den König dazu, dass von ihm terror ausgehe, der darauf gerichtet sein müsse, Ungerechtigkeiten, so weit wie möglich, abzuwenden und, falls sie doch eingetreten seien, abzustellen. Allen solle bekannt sein, dass der König Übeltäter mittels der Strafen auf den rechten Weg zurückführen werde. Er müsse die Anliegen der Armen, d. h. der Schutzbedürftigen, vor Gericht gründlich untersuchen. Lenkten die Bischöfe durch Ermahnungen und durch die Predigt die Gläubigen, so der König durch den Schrecken der Unterordnung: per disciplinae terrorem. Mit Gewalt sorge der Herrscher für den Schutz der Kirche und für die gute Ordnung der Gläubigen. Die Gewalt könne auch an Beauftragte delegiert werden. Der rigor principum, die Strenge der Fürsten, erhalte die Herrschaft und das rechte Verhalten und sogar die Regeltreue in den Kirchen. Sofern die Geistlichen ihre Pflichten vernachlässigten, sei auch ihnen gegenüber von dem Schrecken Gebrauch zu machen. Durch den Schrecken entstünden iustitia und misericordia. Die Dichotomie von Schrecken und Fürsorge ist aufgehoben in einer gemein584 Isidor von Sevilla, Etymologiae, I, 29, 3; I, 31, 25; IX, 3,1–7.

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samen Intention des Handelns. Schrecken und Liebe sind sowohl Instrumente des Handelns als auch dessen Ergebnisse. Deswegen sei es, meint Jonas, nicht erlaubt, aus Rache zu handeln, was hieße, sich von persönlichen Launen treiben zu lassen, statt die institutionelle Aufgabe, die unabhängig von individuellen Anliegen und Antrieben bestehe, auszuführen. Aus dem alttestamentarischen Buch der Weisheit zitierend, schärft Jonas dem König die Pflicht ein, gerechte Urteile zu fällen. Die rigide Strafandrohung diene dazu, so seine Aussage, Gottes Geboten zu folgen; das Volk habe zu gehorchen. Dem Volk Nutzen für das irdische Leben darzubringen, ist für Jonas hingegen kein Ziel des herrscherlichen Handelns. Dies ist insoweit konsequent, als Gottesliebe wichtiger als Menschenliebe sei; und sofern beide gegeneinander stünden, müsse dem irdischen Wohl für die Untertanen wenig Beachtung eingeräumt werden. Der König verbreite Schrecken, er selbst unterliege aber auch dem Schrecken, den Gott ihm androhe, sollte er seine Pflichten vernachlässigen. Das härteste Gericht werde über die gehalten, die regieren. Gott verhänge den Starken schwerere Strafen als den Schwachen. Damit die Könige in die Lage versetzt werden, ihre Pflichten zu erfüllen, schuldeten die Untertanen ihren Herren Gehorsam und müssten sie mit materiellen Gütern versorgen. So sehe es die göttliche Ordnung vor. Jonas verweist zur Begründung auf die Stelle des Römerbriefes (Röm 13,1), in der es heißt, dass alle Herrschaft von Gott eingerichtet sei. Auch der erste Petrusbrief (1 Petr 2,17) setzt er als Argument ein, wenn er schreibt: So wie Gott gefürchtet werden müsse, so auch der König. Furcht gegenüber dem König wird gemäß der Bibelstelle aber gar nicht verlangt, aber offenbar ist dies unerheblich. Die Furcht sei unverzichtbar, um Gehorsam zu erzwingen. Der Gehorsam gegenüber dem König ist unbegrenzt, entbehrt jeder Einschränkung, ist auch bei einer eventuellen Ungerechtigkeit geschuldet und ist auch zu leisten, wenn dies zu Lasten des eigenen Vorteil geschieht.585 Die Ausübung des Schreckens, der die Furcht verbreitet, ist für Jonas ein durchgehendes Verhaltensmuster auf allen hierarchischen Stufen, wird von den oberen zu den niederen Stufen weitergeleitet und trifft, sofern von Gott ausgehend, den König und, von ihm ausgeübt, alle Untertanen, die Kleriker und Mönche nicht ausgenommen. Der Schrecken des Königs ist ein Mittel des Schrecken Gottes. Wer als Herrscher sich dem Gebot, 585 Jonas d’Orl8ans, De institutione regia, 8dition, traduction, commentaire par Alain Dubreucq, Paris 1991, S. 172–175, 184–203, 220–225; Anton, Fürstenspiegel, S. 222–225; Etienne Delaruelle, En relisant le De institutione regia de Jonas d’Orl8ans. L’entr8e en scHne de l’8piscopat carolingien, in: M8langes d’histoire du moyen .ge d8di8s / Louis Halphen, Paris 1951, S. 185–192; Yves Marie Le Clanche, La position de Jonas d’Orl8ans vis-/-vis de l’empereur Louis le Pieux. Un 8vÞque loyaliste ou subversif ?, Antwerpen 1988; Patricio Zamora Navia, Teoria del poder en le de institutione regia de JoÇas de Orl8ans (siglo IX). Construccijn ideoljgica y ordenamiento social en la alta edad media, in: Intus – legere. Historia 1 (2007), S. 81–98.

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den Schrecken zu verbreiten, entzieht, unterliege selbst dem Schrecken Gottes. Jonas insistiert auf der Arbeitsteilung zwischen König und Klerus, die bereits Alkuin vorgesehen, Smaragd aber abgeschwächt hatte, und entlässt die Priester ausdrücklich von der Pflicht, Schrecken zu erzeugen, unterstellt sie aber dem Schrecken, den der König ausübt. Die Absichten Gottes zu interpretieren und zu künden, sei indes ausschließlich den Geistlichen anvertraut, die die Ehrfurcht vor Gott und den Schrecken vor ihm auch für das Geschehen im Diesseits zu deuten, nicht aber selbst auszuüben hätten. Den Geistlichen war jeder Zugriff auf weltliche Herrschaftsmittel abgeschnitten. Die komplizierte Verschränkung von Schreckensherrschaften von Gott und König, verwoben mit der Motivierung und Gewährung von Liebe, erachtete Jonas von Orl8ans als Voraussetzung des guten Gelingens einer christlichen Herrschaftsordnung.586 Waren die Geistlichen befugt, mit der Liebe die Menschen zu leiten, hatten die Herrscher eine doppelte Beauftragung: durch Liebe und durch Schrecken den Menschen zu befehlen. Die Geistlichen waren von den Zumutungen brutaler Gewalt befreit, die Könige hatten sie hingegen auszuüben. Der Schrecken war für die Bestrafung einzusetzen, sollte die Sanktionsdrohung beständig halten. Ihn zur Errichtung und Ausübung der Macht zu verwenden, sah Jonas nicht vor. Aber weil die Könige über ihn verfügen sollten, war in der Konsequenz deren Macht gestärkt. Die Vorstellung einer notwendigen, weil von Gott verlangten Herrschaft mittels des Schreckens war auch auf dem Pariser Konzil des Jahres 829 verkündet worden, deren Beschlüsse vermutlich von Jonas stark beeinflusst waren und jedenfalls mit Formulierungen seines Fürstenspiegels übereinstimmten. Der vornehmliche Zweck des Schreckens sei, so der Konzilstext, Unrecht abzuwenden; allen, nicht allein den Übeltätern müsse öffentlich vorgeführt werden, dass der Kühnheit, schlecht zu handeln, jegliche Hoffnung auf Gelingen entzogen werde, vielmehr jedes Unrecht niemals ohne Sanktion bleiben werde. Auch das Konzilsdekret droht dem Herrscher mit Schrecken – vor dem Jüngsten Gericht –, sollte er seiner Pflicht, den Schrecken für die Durchsetzung der Gerechtigkeit einzusetzen, nicht nachkommen.587 Mehr noch als im Fürstenspiegel war die Funktion des Schreckens als Instrument der Prävention gegen Verbrechen vorgestellt. In beiden Texten war der Schrecken auch ein Sanktionsschrecken. Er war situationskonform einzusetzen. Die Disziplinierung des Königs durch den von Gott ausgeübten Schrecken war Voraussetzung für die Disziplinierung der Untertanen durch den vom König verbreiteten Schrecken. Das Ziel bestand in der Unterdrückung derjenigen natürlichen Antriebe, die zu schlechten Taten führten. Dies kündete auch der 586 Lorenz Weinrich, Wala. Graf, Mönch und Rebell, Lübeck 1963, S 60–62, 92f.; Concilia aevi Carolini, II, S. 606–680. 587 Concilia aevi Carolini, II, S. 651f.

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gebürtige Ire und in Lüttich lebende Kleriker Sedulius Scottus († 880). Er verfasste theologische und didaktische Schriften sowie Lobgedichte für mehrere der karolingischen Könige, des lotharingischen und des west- und des ostfränkischen Reiches.588 Er schrieb in seinem vermutlich dem fränkischen König Lothar II. (855–869) gewidmeten Fürstenspiegel De rectoribus christianis, dass das rechte Handeln mit dem königlichen Namen, so wie dies Isidor festgestellt und etymologisch abgeleitet hatte, übereinstimmen müsse. Aber nicht allein der rex sei dem recte agere verpflichtet; für alle Menschen gelte dies. Genuin politisch argumentiert Sedulius dann, wenn er die besondere Pflicht des Königs nennt, gegenüber sich selbst, seiner Familie, seinen Dienern und seinem Volk Befehlsgewalt auszuüben. Die Existenz der Herrschaft sei von Gott eingesetzt. Deswegen sei Herrschaft vernünftig. Der hier erkennbare Anklang an aristotelische Konzepte vernunftgeleiteter Politik589 schließt die Anwendung von Schrecken nicht aus. Die bereits bei Pseudo-Cyprian angesprochene Dreiheit von terror, amor et ordinatio wird von Sedulius aufgegriffen. Der Schrecken ist das Mittel, um Verfehlungen abzuwenden, die ewige Höllenqualen nach sich ziehen, so dass der König, der als imago Dei charakterisiert ist, im Diesseits den Schrecken evoziert, den Gott durch die Drohung mit ewigen Strafen gleichfalls, nur noch potenziert und perpetuiert, hervorruft. Gott wird als höchster König bezeichnet, dem der irdische König, von Furcht und Liebe zu ihm entflammt, diene und diese Furcht und Liebe seinen Untertanen weitergebe. Die Parallelität des Wirkens von Gott und König fundamentiert eine Konzeption der Gewalt, der niemand widerstehen könne und es auch nicht erst versuchen solle. Übeltäter vor der ihnen gebührenden Strafe zu bewahren, sei ein schändliches Verhalten. Mit väterlicher Autorität solle vielmehr der König streng die Verbrecher verfolgen, die die Gerechten heimsuchten. Noch schlimmere Verheerungen und Verwüstungen seien abzuwenden, wenn sie durch die Invasion äußerer Feinde drohten, die von der inneren Schwäche des Königreiches angelockt seien. Nicht süße Reden sollten die Könige führen, sondern mit der Unerbittlichkeit ihrer Strenge die Menschen behandeln. Wie ein furchteinflößender Panther solle der König über die Feinde und Verbrecher herfallen. Furcht solle er aber nur bei den Drachen erregen, Freude aber spende er allen anderen Lebewesen. Der König solle der Freund der Guten und der Feind der Tyrannen sein. Sowohl terribilis als auch amabilis werden als Eigenschaften dem guten Herrscher zugeschrieben. Von Furcht verschont werden sollten vor allem, so meint Sedulius, diejenigen, die heilig, enthaltsam, nicht grausam, nicht den Herrscher schmeichelnd, nicht lügnerisch seien, also – so seine Schlussfolgerung – die Geistlichen. Anders als 588 Richard Düchting, Sedulius Scottus, in: Die Iren und Europa im frühen Mittelalter, hg. v. Heinz Löwe, 2 Bde., Stuttgart 1982, II, S. 549–598. 589 So die Auffassung von Margalhan-Ferrat, Concept, S. 142f.

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Jonas entzieht Sedulius die Kleriker dem Schrecken der Könige. Die Sonderstellung der Kirche zu wahren, ist ein wichtiges Anliegen des Autors. Eine Oberaufsicht, die Sedulius dem König gleichwohl über die Kirche einräumt, ist an die Voraussetzung gebunden, dass der König Gottes Anweisungen befolge und dass die Kirche, sofern in Verfehlungen verstrickt, einer Anleitung bedürfe. Gewalt, Furcht und Schrecken waren gegenüber den Geistlichen aber ausgeschlossen, nicht indes die Liebe. Sie gelte es gleichermaßen bei den Geistlichen und bei allen Untertanen zu wecken, um sie, soweit möglich, ohne Zwang zum Guten zu leiten. Sedulius fordert vom Herrscher, die Mitwirkung der Untertanen anzustreben, um durch eine allgemeine Anstrengung eines jeden das gewaltfreie Zusammenleben aller zu erreichen. Sedulius zielt auf eine Beförderung des Wohles der Menschen im Königreich, das zwar die Zurückdrängung der schlechten Antriebe, nicht aber immer die Intervention des Königs erfordere, vor allem nicht gegenüber solchen, die bereits aus eigenem Antrieb, ohne Zwang, gut handelten. Ein weiteres Werk von Sedulius, das das antike Grammatiklehrbuch von Donatus kommentiert, stellt die Soziabilität der Menschen in einen allgemeinen Freundschaftsbund, den der grammatische Fall des Vokativs zum Ausdruck bringe. Derjenige, der als amicabilis wertgeschätzt wird, könne durch den Vokativ angesprochen werden – anders als Gegenstände und nichtmenschliche Lebewesen und anders als Fremde und Feinde. Die humane Eigenschaft zeigt sich in der Sprache.590 Die gegenseitige Zuneigung der Menschen sei – so wiederum im Fürstenspiegel – keine Ausnahme, sondern Ergebnis der allen Menschen von Gott eingegebenen Natur, die sie zu zwei Dingen dränge: zur Religion und zur Weisheit. Aus beiden entstehe das einträchtige Zusammenleben. In der weiteren Ausführung sieht Sedulius die Weisheit indes vor allem beim König vorhanden, während das Volk nur in passiver Weise in den Genuss von dessen Weisheit gelangt. Immerhin: Die Grundlage und das Ziel der königlichen Gewalt sind zum Nutzen des Staates (ad utilitatem rei publicae) eingerichtet, nicht als Folge einer menschlichen Verfehlung. Die Zuneigungen im Staat werden auch gefördert durch eine ästhetische Einwirkung, die von der Schönheit der Königin ausgeht – freilich unter Vermeidung einer eitlen Zurschaustellung. Die Schönheit soll vielmehr die der Seele sein. Sie erfasst die gesamte Familie, so dass auch der König an ihrem Glanz teilhat.591 590 Sedulius Scottus, In Donati artem maiorem, hg. v. Bengt Löfstedt (CCSL 40 b), Turnhout 1977, S. 147. 591 Sedulius, Liber de rectoribus christianis, in: Sedulius Scotus, hg. v. Siegmund Hellmann (Quellen und Untersuchungen zur lateinischen Philologie des Mittelalters 1,1), Münster i. W. 1906, S. 19–91, S. 21f., 25–27, 33–37, 39f., 46f., 81, 85f.; die neuere Edition und Übersetzung von R. W. Dyson, Rochester 2010, stellt keine Verbesserung des Textes dar, im Gegenteil: die Ausgabe bezieht sich auf das Werk von Migne und meint auf dieser Grundlage Hellmann kritisieren zu können; siehe auch: Dean Simpson, Reszension in

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Deutlicher als Jonas von Orl8ans besteht Sedulius auf dem Vorteil, den die Herrscher ihren Untertanen erbringen müssten, und dieser Vorteil gebe es nicht erst im Jenseits, sondern dank der Gerechtigkeit und des Friedens bereits im diesseitigen Leben. Der Schrecken ist bei Sedulius in eine Ordnung eingebunden: sie reguliert den Einsatz, der subsidiär vorgesehen ist, sofern Vorbild, Zuneigung und Spontaneität nicht hinreichen, um schlechte Taten abzuwenden. Der König solle erkennen und entscheiden, ob er Liebe oder Schrecken einsetzen solle. Beide sind weniger als bei Jonas von Orl8ans definitorisch mit der Herrschaft verbunden, sondern situativ abgeleitet und dem Handeln zugeordnet. Der Schrecken ist auch bei Sedulius ein Mittel der Sanktion; durch die Monopolisierung seiner Handhabung wird er auch ein Mittel der Macht. Hinkmar von Reims (845–882) war der einflussreichste der Autoren, die Texte zur Fürstenbelehrung im frühen Mittelalter schrieben. Er war seit 845 Erzbischof von Reims, verteidigte die Metropolitanrechte seiner Kirche, war in die Reichsverwaltung des westfränkischen Königs Karl des Kahlen (843–877) und seines Sohnes und Nachfolgers Ludwig des Stammlers (877–879), involviert, verteidigte die königliche Macht gegen den Adel, förderte die Expansion des westfränkischen Königs nach Lothringen. Unter den Autoren der als »karolingische Fürstenspiegel« bezeichneten Schriften stand Hinkmar am engsten in Kontakt zum Königshof, kannte ihn aus eigener Anschauung, wusste von den Taten des Königs.592 Hinkmar verteidigt nachdrücklich in seinen Schriften die Gewalt des Königs. Er sieht in seinem Fürstenspiegel De regis persona et regio ministerio im Zwang das geeignete Mittel, um das gute Verhalten, die geordnete Gesellschaft und die Hinführung auf das ewige Seelenheil zu erreichen, ohne dass vom Zwang Ausnahmen vorgesehen sind. Hinkmar stellt den Schrecken in die Verfügung des Königs, den er ausübe, um den Pflichten der von Gott gewollten Herrschaft nachzukommen. Nicht allein reaktiv, sondern pro-aktiv, die Macht steigernd, ist der Schrecken eingesetzt, nicht allein als Instrument der Strafe, sondern auch der Herrschaft gilt ihm der Schrecken. Er ist mehr als nur Sanktionsdrohung; er ist Stabilisator der Macht. Der Reimser Erzbischof, der an den westfränkischen

Catholic Historical Review 98 (2012), S. 530; zur Schrift von Sedulius: Anton, Fürstenspiegel, S. 272–275; Stürmer, Peccatum, S. 114f.; Monette Dalley, Le Liber de rectoribus christianis de Sedulius Scottus et les vertus du roi comme moyen d’action politique, in: Les philosophes morales et politiques au moyen .ge. Actes du 9e CongrHs international de philosophie m8di8vale, Ottawa 17–22 ao0t 1992, 3 Bde, hg. v. Carlos Bernardo Baz#n, New York 1995 III, S. 1486–1492. 592 Jean Devisse, Hincmar, Arch8vÞque de Reims 845–882), 3 Bde. (Travaux d’histoire 8thicopolitique 29), GenHve 1975/76, Margaret McCarthy, Hincmar’s Influence during Louis the Stammer’s reign, in: Hincar of Rheims. Life and Work, hg. v. Rachel Stone u. a., Manchester 2015, S. 110–128.

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König Karl den Kahlen seine Schrift adressierte593, versicherte, der König, der gegen schlechte und perverse Menschen streng vorgehe, handele nicht aus Hass oder Abneigung, nicht aus Neid oder Rachsucht, sondern aus Liebe zur Gerechtigkeit – amore iustitiae – und um die Rache Christi zu vollstrecken, so dass er nicht allein einzelne Menschen bestrafe, sondern die Ordnung der Herrschaft verteidige. Den Zwang und den Schrecken des Königs hat Hinkmar religiös aufgeladen. Hinkmar beruft sich auf Augustinus, wenn er die Notwendigkeit von Zwang herausstellt. Dieser Zwang sei unterschiedslos allen aufzuerlegen, unabhängig von eventuellen Verdiensten der einzelnen Menschen. Der generalisierte Zwang und der nicht minder generalisierte Schrecken seien die Garanten, dass das Gute getan werde und dass das Königreich gedeihe. Es wird nicht deutlich, ob der Nutzen für das Königreich auch den Gewinn irdischer Güter einschließt; jedenfalls wird er nicht ausdrücklich erwähnt. Das Wohl im Königreich meint aber in jedem Fall die Hinwendung zum ewigen Heil. Den Versuch, durch Überzeugung die Menschen zum rechten Tun anzuhalten, schließt Hinkmar zwar nicht aus; er ist aber misstrauisch, ob dies gelinge. Den Irrenden die Wahrheit zu künden, sei sinnlos, wenn die Bereitschaft zur Einsicht fehle, so dass dann die Macht eingreifen müsse, die von Gott den Königen verliehen sei, damit sie den Bösen Furcht einflößen könnten. Es sei erlaubt, dass ein frommes Anliegen zu Zorn entflamme. Hinkmar meint, eine Predigt von Ambrosius zitierend, dass es eine unangebrachte Form des Mitleids sei, wenn Verbrecher nicht durch einen gerechten Urteilsspruch bestraft würden und wenn nicht gegen die Feinde des Glaubens mit allen Machtmitteln vorgegangen würde. Der Herrscher müsse notwendigerweise die severitatem legis anwenden, um die Menschen zum Frieden zu zwingen und um die, die in Frieden leben wollten, vor dessen Verletzung zu schützen. Gottes Gebot, dem Sündigen zu verzeihen, gelte nur für Unrecht, das den Menschen zugefügt werde, nicht aber, wenn es sich gegen die Ordnung Gottes richte, zu der auch die Einrichtung der Herrschaft gehöre, weswegen Hinkmar die ungehemmte Durchsetzungsgewalt des Herrschers rechtfertigt. Die Mahnung Jesu an die Jünger, von strafender Gewalt abzusehen, da sie zu ihrer Ausübung unfähig und unwissend seien (Luk 9,54– 55), sei, so meint Hinkmar, durch das Wirken Jesu obsolet geworden, da er als Ergebnis seiner Erlösungstat die Christen zur Herrschaft und zur Zwangsgewalt befähigt, ja sogar eingesetzt habe, so dass die ursprüngliche Unfähigkeit und Unwissenheit nun beendet seien.594 In dialektischer Verstrickung wird der Gehorsam gegenüber dem Gebot Jesu zur Voraussetzung zu dessen Aufhebung. Hinkmar verweist auf Vorbilder von heiligen Männern, die durch die Abschreckung schuldige Verbrecher heimgesucht und mit dem Tod bestraft hätten. 593 Anton, Fürstenspiegel, S. 292f. 594 Hinkmar von Reims, De regis persona, Sp. 855–856.

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Zwar sei der Tod, der die Seele vom Leib trenne, von den Frommen nicht zu fürchten, hingegen verbreite er Furcht bei den Frevlern, die allein diese Furcht vor üblen Taten abschrecke. Auch das Gebot des Neuen Testaments, seinen Nächsten wie sich selbst zu lieben, dürfe nicht vor strengen Strafen abhalten. Sie zu verhängen, verlange lediglich Mäßigung, die ausschließe, dass sich der König von seinen Impulsen, Vorlieben und Abneigungen antreiben lasse. Vielmehr müssten aus Liebe die Strafen angeordnet und der Schrecken verbreitet werden. Liebe initiiert den Schrecken, und Liebe ist sein Ziel. Einen Widerspruch zwischen Schrecken und Liebe schließt Hinkmar aus. Gewalt sei zulässig, um die Seele des Verderbten zu retten, vor allem wenn die Gewalt in Befolgung der Gesetze ausgeübt werde, so dass Willkürlichkeit und damit Eigennutz des Herrschers ausgeschlossen seien, vielmehr der Nutzen für den bestraften und dem mit Furcht bedrohten Menschen gemehrt werde. Die Befolgung der Gesetze sei notwendig, denn ein Volk ohne Gesetz sei ein Volk ohne Christus. Die politische Ordnung ist an die göttliche angeschlossen und gewinnt damit sowohl an Legitimität, an Wirksamkeit und an Bedrohungspotential, das zu aktivieren eine dem Herrscher von Gott befohlene Pflicht ist. Der König ist der corrector ; er tritt in Aktion, wenn er Schlechtes abzuwehren hat, auch dann, wenn das Schlechte noch nicht eingetreten ist. Er bewahrt so präventiv die bestehende Ordnung und verteidigt sie gegen eventuelle, noch nicht aktuale Angriffe. Ausdrücklich sei, so Hinkmar, der Herrscher berechtigt und verpflichtet, den Willen der Untertanen zu brechen, soweit sie sich nicht seinen Anweisungen fügten. Hinkmar verweist zu seiner Beweisführung auf einen exegetischen Text von Augustinus zur Bergpredigt und auf einen seiner Briefe, die indes nicht die Gewalt zur Steigerung der weltlichen Herrschaft thematisieren, sondern die Annahme der Wahrheit des christlichen Glaubens behandeln und die Geistlichen und nicht die Herrscher als diejenigen vorstellen, die die Furcht vor der Strafe – und diese im Jenseits – verbreiten. Den Zwang stellt Hinkmar also entgegen der Intention der augustinischen Vorlagen auf ein Feld, das ursprünglich theologisch besetzt und der Kirche übereignet war. Augustinus hatte in den beiden von Hinkmar zitierten Schriften der weltlichen Gewalt noch nicht einmal eine dienende Rolle gegenüber der Kirche eingeräumt und lediglich den Kampf gegen die Häretiker behandelt. Die Pflicht des Königs, den wahren christlichen Glauben vor Irrtümern zu schützen, ist hingegen für Hinkmar die argumentative Basis, die Gewalt der Herrschaft in alle Lebensbereiche einzusetzen. Deswegen sei, so Hinkmar, die von Gott befohlene, von Propheten und Aposteln – Augustinus nennt explizit Elias und die Apostel – ausgeübte Gewalt auch dem König anvertraut. Hinkmar schließt sich einer nunmehr tatsächlichen Auffassung von Augustinus an, wenn er meint, dass die Todesstrafe den Übeltätern nütze – zwar nicht im diesseitigen Leben, wohl aber im Jenseits, denn sie hielten von weiteren Verbrechen ab, wohingegen die Gesetzestreuen bereits auf Erden dank der herrscherlichen

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Gewalt und der Abschreckung vor dem Verbrechen den Frieden genießen würden. Hinkmar rechtfertigt die Furcht, die der Herrscher verbreitet, indem er behauptet, dass die durch die Furcht und durch den Zwang abgewendeten Sünden nicht mehr am Jüngsten Gericht bestraft werden müssten. Allein deswegen, so Hinkmar in einem Brief an eine Synode, sei dem König aufgetragen, Ehebrecher, Diebe und Mörder zu strafen. Das Gesetz, das verlange »Auge um Auge, Zahn um Zahn« zu vergelten, sei weiterhin gültig, nicht um die Menschen stets tatsächlich an ihrem Leib zu verletzen, sondern um sie in Furcht zu halten und Schrecken über sie auszubreiten. Nicht aus Grausamkeit geschehe dies, sondern um den Nächsten zu helfen. Die Furcht vor dem König sei ja auch nur ein schwaches Abbild von der Furcht vor Gott. Beide aber dienten demselben Ziel: Sie lenkten zum ewigen Heil. Der König handelt wie Gott.595 Hinkmar führt seinen Gedanken in seinem Werk zur Organisation der königlichen Herrschaft, De ordine palatii, weiter aus: Der Herrscher bedürfe dreier Dinge, erstens der Liebe der Untertanen, zweitens, wenn sie fehle, der Furcht, die sie ihm gegenüber hegen, und drittens der Ordnung, um die beiden ersten Elemente der Herrschaft in ein rechtes Verhältnis zu setzen und angemessen bei unterschiedlichen Menschen und Situationen anzuwenden. Erneut wird der Dreiklang der drei Begriffe vorgestellt. Durch Gnadenerweise und durch freundliche Worte solle der Herrscher danach trachten, Zuneigung zu gewinnen; durch sein Handeln wider die Ungerechten, die gegen das Gesetz Gottes verstoßen, solle er Furcht erregen. Die Strenge seiner Festigkeit müsse dafür sorgen, dass nicht die Sünden zum Ruin der Menschen führten. Hinkmar weist dem König die Aufgabe zu, die Untertanen von Sünden abzuhalten, was nicht allein mit geistlichen Mitteln, sondern auch mit Androhung, Furcht und Strafe geschehe.596 Die Vermischung von Sünde und Verbrechen, von Jenseitsstrafen und Gerichtsstrafen, von Gottesfurcht und Furcht vor dem Herrscher ermöglicht dem Reimser Erzbischof, die königliche Zwangsgewalt weit auszudehnen, sie theologisch aufzuladen, mit Mitteln auszustatten, die ausdrücklich den Willen der Untertanen brechen sollen, und in die Herrschaftsgestaltung einzubinden. Der Schrecken ist nicht ein Makel, der an der weltlichen Herrschaft haftet, ist nicht, wie insbesondere Augustinus ausführte, das Kennzeichen einer nicht abzulegenden Schuld jeder Machtausübung und ein Gebrechen jeder staatlicher Organisation; er ist vom Herrscher verlangt, der mit dem Schrecken seine Tugend erweist, ist seine Pflicht. Der Schrecken soll stets drohend den Menschen vor Augen stehen und auch dann wirken, wenn eine Bestrafung nicht erreicht 595 Hinkmar von Reims, De regis persona, Sp. 834–839, 844–850: cap. 1, 3, 5, 17–20 , 23, 24; Hincmari archiepiscopi Remensis epistolae, Teil 1, hg. v. Ernst Perels (MGH Epp. Karol. 8), Berlin 1939, Nr. 135, S. 85. 596 Hinkmar von Reims, De ordine, S. 67–83, S. 52.

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werden kann, und beständig sein auch gegen solche, die keine Verbrechen begannen haben, aber vor jeder Versuchung gefeit werden sollen. Die Permanenz des Schreckens ist der Garant der Effizienz der Sanktion, die wirksam selbst dann droht, wenn sie nicht verhängt wird. Die Tat des Bestrafens wird ausgedehnt zur ihrer Potentialität. Die Repression stärkt, weil sie mehr als nur Sanktion ist, die Macht des Herrschers. Er handelt aber nur ordnungsgemäß, wenn er nicht willkürlich über die Untertanen den Schrecken verbreitet. Diese hingegen erleben den Schrecken unvorhersehbar. Denn, mag auch das Eingreifen gegen unrechtes Handeln selten sein, so wird die Drohung des Eingreifens stabil gehalten. Durch die Verknüpfung des Schreckens mit der Liebe ist seine ethische Berechtigung gegeben, damit die Widersprüchlichkeit der Verbindung aufgelöst, vielmehr eine kausale Abfolge des Schreckens von der Liebe behauptet. Die Steigerung der Gewalt durch den Schrecken, der zur institutionellen Praxis und damit zum Terror wird, muss auf moralische und religiöse Ziele gelenkt werden, um gerechtfertigt zu sein. Die dem Schrecken gesetzten Schranken sind nicht institutionell verankert, sondern beruhen auf der Absicht des Herrschers und bedürfen zu ihrer rechten Einrichtung der Anleitung der Geistlichen. So wie der Schrecken ist auch die Liebe des Herrschers für die Untertanen unvorhersehbar. Beide werden als potentielle Einwirkungen vorgestellt. Königliche Amtsleute und Diener erwarteten, so Hinkmar, dass der König sie beschenke, aber ein Anrecht stehe ihnen nicht zu. Die königliche Huld gewähre ohne Abwägung von Verdiensten Vorteile. Der Ort der Huld ist der Hof des Königs. Hinkmar führt daher aus, dass im Nahverhältnis zu den Getreuen mehr als im gesamten Königreich eine Beziehung der Zuneigung bestehe. Wenn Hinkmar schrieb, die Großen des Reiches sollten jährliche Geschenke erhalten, da nur so ihre Zuneigung – ausdrücklich wird der amor genannt– zum König geweckt werden könne, so zeigt sich der Zweck der Liebe, die am königlichen Hof, im Verhältnis der Nahbeziehung und der Anwesenheitsherrschaft, Gewinnbeteiligung und Gabentausch verlangte, um den Erwartungen genüge zu tun, die gegenüber dem König gehegt wurden. Weil der Transfer von Gütern und von Gunst sein Wohlwollen voraussetzte, konnten die Gunsterweise aber nie eingefordert werden, blieben sie stets unvorhersehbar. Es gab unterschiedliche Anforderungen für das Handeln im Palast und für das Herrschen im gesamten Königreich. Ist die Liebe im Palast inklusiv und opportunistisch, so im Königreich generalisiert und religiös normiert.597 Herrschaft im Haus hatte stärker als im Königreich die Reziprozität des Nutzens im Auge zu behalten. Umso wichtiger war für das Herrschen im Königreich eine Aufladung der Handlungsmotivierung und Kompetenzbegründung mit der Begrifflichkeit von Emotionen und von Tugenden. Sie sollten alle erreichen. Die Realisierungschance der Liebe 597 Hinkmar von Reims, De ordine, S. 17, 21f.; Erkens, Herrschersakralität, S. 218–222.

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des Königs nahm mit der Entfernung vom Hof ab, die Potentialität blieb indes gleichmäßig. Dies waren die Erwartung und die Forderung, die Hinkmar vorgab. Unter den Bedingungen der Königsherrschaft des frühen Mittelalters war es nicht möglich war, faktisch überall Gewalt auszuüben. Mentale und emotionale Platzhalter waren einzusetzen: Schrecken und Liebe. Wie sie zu dosieren waren, sollte gelehrt werden. Darin bestand die Aufgabe der Bischöfe. Die Texte, die sie verfassten und die als Fürstenspiegel bezeichnet werden, dienten der SelbstLegitimierung von Bischöfen, die nicht allein dank einer Arbeitsteilung mit den weltlichen Herrschern, sondern auch dank der von ihnen vorgenommenen Definition von Kompetenzen an der Macht partizipierten. In origineller Weise formte Christian von Stablo († nach 880) die Anwendung des Schreckens, die die Könige verbreiten. Er erachtete die enge Verbindung von König und Kirche als notwendig. Christian war Mönch im königsnahen, von der Forschung als »Reichskloster« bezeichneten benediktinischen Kloster Stablo. Er übernahm die seit Isidor von Sevilla übliche etymologische Verbindung der Wörter rex und regendo, ebenso die an Isidor angelehnte Unterscheidung von König und Tyrann, indem letzterer als derjenige gekennzeichnet war, der das gute Regieren vernachlässige. Notwendig und nützlich sei der Schrecken, den der König verbreitete, wie er in seinem Kommentar zum Matthäus-Evangelium schrieb. Christian stand damit den Auffassungen seiner Zeitgenossen Jonas von Orl8ans, Smaragd von Saint-Mihiel und Hinkmar von Reims598 nahe, unterschied sich aber deutlich von ihnen, da er nicht eine Verbindung von Liebe und Schrecken vorsah, die er den Herrschern zur Ausübung empfahl. Denn Liebe war gar nicht erst vorgesehen für die Königsherrschaft. Ihr blieb einzig der Schrecken. So abträglich er den Menschen auch sei, so müsse er doch notwendigerweise ihnen zugefügt werden, denn er sei von Gott eingesetzt. Den Schrecken zu verbreiten, geschehe wegen der Sünden und sei eine Geißel für die Unterworfenen, aber erforderlich, um sie vor üblen Taten abzuhalten. Die Arbeitsteilung zwischen Herrschern und Geistlichen war strikt. Jenen war allein die Ausübung des Schreckens aufgetragen, sofern es um Machtausübung ging, diesen war bei der Ausübung ihres Amtes die Liebe anbefohlen. Die Könige sollten den Schrecken aber vor allem gegen die richten, die das Volk unterdrückten und die ihre servi ausbeuteten. Der Schrecken ist von Christian als Gegenmittel gegen Herrengewalt in der Grundherrschaft eingesetzt. Ein König, der bei dieser Aufgabe des gewaltsamen Schutzes der Untertanen versagt, gilt Christian von Stablo als Tyrann. Damit ist der Tyrann als derjenige gekennzeichnet, der es versäumt, Schrecken einzusetzen. Die sanktionierende Gewalt des Königs sei

598 Kapitel V.5.

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hingegen vor Verfehlungen gefeit, weil er einen göttlichen Auftrag ausführe.599 Die Ausscheidung der Liebe aus der Herrschaft stärkt die Position von Geistlichen, die keiner Ausübung des Schreckens bedürfen. Sie stärkt aber auch die Herrscher, die von den Fesseln, die die Liebe ihnen anlegen, befreit sind. Die frühmittelalterlichen Fürstenspiegel sind Zeugnisse einer Ethik, die das Handeln von Tugenden ableitete. Die Ableitungen sahen keine Dilemmata vor, die auch nicht hinsichtlich der Vereinbarkeit von Liebe und Schrecken auftraten. Letztlich hafteten die Anweisungen der Fürstenspiegel an Etikettierungen, so dass sie einer theoretisch anspruchsvollen Reflexion entbehrten. Begründungen erfolgten, indem auf kanonische Texte der Bibel und der Kirchenväter verwiesen wurden. Die Fürstenspiegel gewährten nur wenig Freiheitsgrade, da Automatismen auferlegt waren. So blieb die politische Analyse in einer normativen Didaktik stecken. Das theoretische Defizit, das eine Analyse von Herrschaftsverhältnissen verhinderte, führte dazu, dass ihre Rezeption auf die Zeitspanne bis zum 12. Jahrhundert beschränkt blieb. Sobald durch die Aneignung der aristotelischen politischen Philosophie seit dem 13. Jahrhundert die Erörterung der Herrschaft, ihrer Begründung, ihrer Legitimation und ihres Nutzens ein anspruchsvolleres theoretisches Niveau erlangte, schwanden die frühmittelalterlichen Texte aus dem Gedächtnis.600

6.

Die Belehrung des Königs bei seiner Krönung

Das sichtbare Zeichen für die Verbindung von König und Kirche war die liturgische Inszenierung der Königseinsetzung durch Krönung und Salbung, wie sie offenbar erstmals der westgotische König Rekkared im Jahre 587 empfing, nachdem er vom Arianismus zum Katholizismus konvertiert war. Eindeutig in den Quellen nachweisbar geschahen Krönung und Salbung aber erst am Herrschaftsbeginn des westgotischen Königs Wamba im Jahre 672 und dann seit der Erhebung des ersten karolingischen Königs Pippin I. im Jahre 751 im Frankenreich – vielleicht durch die Übernahme des westgotischen Vorbildes, wahrscheinlich durch päpstliche Intervention seitens Stephans II., der 754 in Saint-Denis die Zeremonie vornahm. Diese politische Liturgie wurde im Frankenreich und im übrigen okzidentalen Europa üblich. Durch die Krönung und 599 Die neue Edition des Matthäuskommentars: Christian von Stablo, Expositio super librum generationis, hg. v. Robert C. Huygens (CCCM 224), Turnhout 2008, S. 212, 294, 382; FranzGerhard Cremer, Christian von Stablo als Exeget, in: RevB8n 77 (1967), S 328–341. 600 Jürgen Miethke, Politische Theorie in der Krise der Zeit. Aspekte der Aristotelesrezeption im frühen 14. Jahrhundert, in: Institutionen und Geschichte. Theoretische Aspekte und mittelalterliche Befunde, hg. v. Gert Melville (Norm und Struktur 1), Köln u. a. 1992, S. 157– 186, S. 159f.

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die Salbung galt der König als Inhaber der von Gott verliehenen Macht und als Mittler zwischen Gott und den Menschen; ja gar als Abbild und Stellvertreter Gottes; das Königtum war als ein vom Heiligen Geist inspiriertes Amt angesehen, das folglich einem gesteigerten Grad der Anforderungen genügen musste.601 Die Salbung und die Krönung waren verbunden mit Gebeten und Belehrungen, die die Stellung des Königs darstellten und ihm Gebote auferlegten. Der Liber ordinum im westgotischen Königreich sah anlässlich der Krönung Gebete für den König vor, damit er sine culpa regiere und damit er seine Herrschaft mit guten Taten schmücke. Erst mit geistlicher Unterstützung standen die Könige offensichtlich innerhalb der von Gott gewollten Ordnung und nur in Zusammenarbeit mit den Geistlichen konnten sie von den bösen Werken ablassen. König und Königin sollten, so der liturgische Text des westgotischen Spaniens, in den göttlichen Schutz aufgenommen werden, der dank der Intervention der Kirchen erbeten wurde. Die Könige galten in ihrer Weisheit und Demut als Nachfolger von David, dem König der Juden.602 Der Beitrag der Kirchen galt auch im Frankenreich spätestens seit der Königsherrschaft Pippins als unerlässlich. Papst Stephan II. bezeichnete ihn als neuen David und Moses, der königliche Berater Alkuin als Salomon. Alkuin lobte Karl den Großen, der wie der süße David ihn in seine Liebe einschließe. Die Könige des Alten Testaments waren auch in den folgenden Jahrhunderten als Vorbilder und Präfigurationen der Könige des Mittelalters eingeführt.603 Der König stand im Dienst

601 Carlrichard Brühl, Fränkischer Krönungsbrauch und das Problem der » Festkrönungen « in: HZ 194 (1962), S. 265–326; Arnold Angenendt, Rex et Sacerdos. Zur Genese der Königs, in: Tradition als historische Kraft. Interdisziplinäre Forschungen zur Geschichte des frühen Mittelalters, hg. v. Norbert Kamp, Joachim Wollasch, Berlin, New York 1982, S. 100–118; Roger Collins, Julian of Toledo and the Royal Succession in Late Seventh-Century Spain, in: Early Medieval Kingship, hg. v. Peter H. Sawyer, Peter Hayes, Ian N. Wood, Leeds 1977, S. 30–49; Janet L. Nelson, Inauguration Rituals, ebda., S. 50–71; Michael Zimmermann, Les sacres des rois wisigoths, in: Clovis, Histoire et m8moire. Actes du colloque international d’histoire de Reims, 19–25 sept. 1996, hg. v. Michel Rouche, Bd. 2. Le baptÞme de Clovis, son 8cho / travers l’histoire, Paris 1997, S. 9–27; Joachim Ott, Die Frühgeschichte von Krone und Krönung, in: Krönungen. Könige in Aachen. Geschichte und Mythos I, 2 Bde., hg. v. Mario Kramp, Mainz 2000, S. 122–133; Alain Dierkens, Krönung, Salbung und Königsherrschaft im karolingischen Staat und in den nachfolgenden Staaten, ebda, S. 131–139; Jörg Jarnut, Wer hat Pippin 751 zum König gesalbt?, in: Ders., Herrschaft und Ethnogenese im Frühmittelalter. Gesammelte Aufsätze, Münster 2002, S. 187–199; Kosuch, Abbild, S. 97– 103; Patzold, Bischöfe, S. 137f.; Erkens, Herrschersakralität, S. 89–155; Genet, Pouvoir, S. 23f., Drews, Monarchische Herrschaftsformen, S. 208–213. 602 Le Liber ordinum en usage dans l’Eglise wisigothique et mozarabe d’Espagne du cinquiHme au onziHme siHcle, hg. v. Anthony Ward, Cuthbert Johnson, Ndr. Rom 1996, S. 227; MGH Epp. 3, Epistolae Merovingici et Karolini aevi, Nr. 15, S. 457–461. 603 Ebda., Nr. 11, S. 504–506; Nr. 33, S. 539f.; MGH Epp. Karol. 4, Nr. 29, 171f., S. 71, 281–285; Hubert Herkommer, Typus Christi, typus regis. König David als politische Legitimationsfigur, in: König David. Biblische Schlüsselfigur und europäische Leitgestalt, hg. v. dem.,

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Schrecken und Liebe des Königs im frühen Mittelalter

Gottes. Die Formulierung, der König handele pro amore Dei, fand Eingang in die Urkundensprache des fränkischen Königs.604 Die Liturgie der Krönung präsentierte zugleich den Schrecken, die Furcht und die Liebe des Königs. Das zur Mitte des 10. Jahrhunderts in der Benediktinerabtei St. Alban bei Mainz verfasste Pontifikale, das erstmals aus einem heterogenen Bestand diverser bischöflicher Texte einen für das Königreich der ottonischen Herrscher einheitlichen Ritus formte und das auch an der päpstlichen Kurie angewandt wurde, enthielt einen Abschnitt zur Krönung des Königs. Darin waren Musterpredigten der konsekrierenden Bischöfe eingefügt: Sie trugen dem König auf, nach dem Vorbild der biblischen Könige David und Salomon das Volk mit Milde zu regieren. Auf Seiten des Volkes hingegen solle die Furcht gegenüber dem König walten. Herrscher und Volk unterlagen unterschiedlichen affektiven Anforderungen. So war garantiert, den König auf einem festen Thron der Herrschaft – robustum regiminis solium – zu setzen. Durch Freigiebigkeit solle der Herrscher die Zuneigung der Untertanen erringen. Den gegenüber seiner Herrschaft Untreuen war hingegen – so der Text einer weiteren Predigt im Krönungsordo – der Schrecken empfohlen. Noch deutlicher war ein anderer eingefügter Predigttext. Der König habe die Aufgabe, die Aufrührer und die Heiden zu unterdrücken. Hinreichend schrecklich (terribilis) solle er ihnen sein. Dies gelinge durch den Einsatz der größten Stärke seiner Gewalt. Andererseits solle er die mächtigen und reichen Gefolgsleute seines Königreiches lieben und ihnen gegenüber großmütig sein, so dass er schließlich von allen Untertanen, auch von denen, die ihm fernstünden, geliebt werde. Von allen solle er aber auch gefürchtet werden. Waren Liebe und Furcht auf Seiten des Königs hinsichtlich ihrer Ausübung differenziert, so auf Seiten der Untertanen zu einem ununterscheidbaren Amalgam zusammengepresst. Den Untertanen war keine Unterscheidung hinsichtlich von Situationen zugestanden. Durch die Liebe und die Furcht, die der König gewährt, bzw. verbreitet, aber auch vorenthält oder verweigert, werde die Macht des Königs erhalten; durch sie könne sie auch für die Nachfahren gesichert werden, und so werde auch die ewige Glückseligkeit im Jenseits den Königen offenstehen. Die Kombination von Furcht, Schrecken und Liebe war in der fürstenbelehrenden Literatur als Anforderung an die Herrscher etabliert und wurde während der Krönung vor vielen und dem Krönenden selbst verkündet. Die Nutzengemeinschaft mit Gefolgsleuten war indessen nicht vollständig ausgeschieden. Jedoch war auch sie in eine Beziehung der Liebe Walter Dietrich (Kolloquien der Schweizer Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften 19), Freiburg (Schweiz) 2003, S. 367–382. 604 Die Urkunden Pippins, Karlmanns und Karls des Großen, hg. v. Engelbert Mühlbacher (MGH DD Karol. 1), Hannover 1906, Nr. 7, 24; S. 11, 32f.; Ytzhak Hen, The Christianisation of Kingship, in: Der Dynastiewechsel on 751. Vorgeschichte, Legitimationsstrategien und Erinnerung, hg. v. Matthias Becher, Jörg Jarnut Münster 2004, S. 163–177.

Die Belehrung des Königs bei seiner Krönung

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eingewoben, so dass eine Fixierung der durch sie begründeten Loyalität verlangt war.605 Der in der wissenschaftlichen Literatur als Pontificale germano-romanum bezeichnete Text fand, vermittelt durch die Verwendung an der römischen Kurie, weite Verbreitung über Deutschland hinaus in ganz Europa und war dort für die Krönungszeremonie verwendet. Die Standards der königlichen Pflichten waren im Zeremoniell festgelegt und waren vielen Personen während der folgenden Jahrhunderte aufgrund der öffentlichen Präsentation bekannt. Offensichtlich erschien aber späteren Zeiten die Verbindung von Schrecken und Liebe nicht akzeptabel. Das seit dem 13. Jahrhundert an einer profunderen Kenntnis der politischen Philosophie geschulte Bewusstsein machte eine Neubewertung erforderlich. Dies leistete der französische Kanonist und Theologe Wilhelm Durandus in dem von ihm verfassten Pontifikale, das als Rationale divisorum officiorum bezeichnet ist. Der dort aufgenommene Text zur Gestaltung der Königskrönung und der Salbung verzichtet darauf, genaue Anforderungen an den König zu formulieren, ja selbst Tugenden zu benennen, verfestigt indes die Aufgabentrennung zwischen dem Herrscher und den Geistlichen. Der Text verweist auf die durch das Wirken Christi bewirkte Vorrangstellung der Bischöfe und Priester, die am Haupt gesalbt werden, wohingegen die Stelle, wo die weltlichen Herrscher ihre Salbung empfangen, vom Haupt zum Arm verlegt ist, wodurch das Führen der Waffen symbolisiert wird. Die Passage zitiert den prophetischen Text Isaias, der aussagt, die Kraft der Fürsten liege im Oberarm (Is. 9.6).606 Das königliche Amt wird dem geistlichen untergeordnet. Die Gewaltausübung kennzeichnet den König, verweist ihn deswegen in eine mindere Position. Daniel von Wichterich, ein dem Orden der Karmeliter angehörender Weihbischof des Trierer Erzbischofs Balduin von Luxemburg, hat in seinem kurz vor 1342 verfassten Pontifikale das Zeremoniell der Königskrönung ausführlich dargestellt und ebenfalls vermieden, in den programmatischen Aussagen, die der Kölner Erzbischof dem künftigen König zu verkünden hat und die dieser mit dem Krönungseid bekräftigen muss, die frühmittelalterlichen Vorstellungen zu den pflichtgemäßen Verwendungen von Liebe, Schrecken und Furcht aufzunehmen. Dieser Text verzichtet aber auch darauf, Gewalthandeln als Grund für eine Herabsetzung des königlichen Amtes gegenüber der Geistlichkeit vorzu605 Le Pontifical romano-germanique du 10e siHcle, hg v. Cyrille Vogel, Reinhard Elze (Studi e testi 226, 227, 269), Citt/ del Vaticano 1963, Bd., 1: Le texte, S. 250, 251, 253; zur Entstehung und zur Rezeption des Pontifiale: ebda, Bd. 3, S. 3–57. 606 Guillelmus Durantus, Rationale divinorum officiorum, hg. v. Anselme Davril, Thimothy M. Thibodeau (CCCM 140), Turnhout 1995–2000, Bd. 3, S. 106f.; Thimothy M. Thibodeau, Canon Law and Liturgical Exposition in Durand’s Rationale, in: Bulletin of Medieval Canon Law NS 22 (1998), S. 41–52.

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Schrecken und Liebe des Königs im frühen Mittelalter

stellen. Vielmehr ist nun die rechtlich geformte Kooperation des Königs mit den Kurfürsten angemahnt, die als Legitimatoren und als Regulatoren der königlichen Herrschaft ausführlich gewürdigt werden. Der Krönungsordo fand Anwendung in der Königskrönung Karls IV. 1346 und seiner Wiederholung drei Jahre später.607 Zugleich Schrecken und Liebe zu verbreiten, hatte spätestens im 14. Jahrhundert selbst für einen so traditionsbehafteten Text der Liturgie wie zur Krönung keine Berechtigung mehr, ging es doch vielmehr um eine institutionelle Einbindung der königlichen Macht, ohne sie mit der Ausübung des Schreckens in Verbindung zu bringen und mit einem Makel zu belasten. Die Herrschaftsbegründung des frühen Mittelalters, die den Schrecken reklamierte, war im späten Mittelalter zum Anachronismus geworden. Wohl aber war die Gewaltausübung definitorisch mit dem König verbunden und war das Argument, ihn gegenüber den Geistlichen auf eine tiefere Stufe der Wertschätzung zu stellen. Zusätzlich wurden rechtliche Bedingungen des Königtums ausgeführt, die im römisch-deutschen Reich eine Machtteilung mit den Fürsten, vor allem mit den Kurfürsten verpflichtend machten.608

607 BibliothHque Municipale de Verdun, Ms. 90; Hofbibliothek Aschafffenburg, Ms. 12; Marc Dykmans, Le pontifica romain revis8 au 15e siHcle (Studi e testi 311), Citt/ del Vaticano 1985, S. 51–53; Walter Goldinger, Das Zeremoniell der deutschen Königskrönung seit dem späten Mittelalter, in: Mitteilungen des Oberösterreichischen Landesarchivs 5 (1957), S. 91–111, S. 95f.; Schmidt, Politisches Handeln, S. 135–141. 608 Peter Moraw, Das Reich und die Territorien, der König und die Fürsten im späten Mittelalter, in: RVJB 63 (1999), S. 187–203.

VI.

Die Eigenen, die Anderen und die richtige Unterscheidung von Freundschaft und Gewalt (10. und 11. Jahrhundert)

1.

Getreue und Feinde

Den fränkischen Herrschern war auferlegt, Schrecken und Liebe unter ihren Untertanen zu verbreiten. Die Mahnung erfuhr schon seit dem 10. Jahrhundert eine Korrektur. Die Kombination von Schrecken und Liebe war problematisch. Eine Lösungsoption bestand in der Scheidung von Innen und Außen hinsichtlich der Anwendungen. Die Verbreitung von Schrecken sollte externalisiert, vom Herrscher abgesondert, den Gegnern zur Last gelegt, ihm im schlimmsten Fall durch äußere Not auferlegt, von Feinden aufgezwungen, von fremden Völkern provoziert sein. Auch die Gefolgschaften, die sich der Herrschaft nicht unterordneten, galten als verwerfliche Auslöser des Schreckens. Dieser verlor seinen Wert als Herrschertugend. Gerbert von Aurillac, der spätere Papst Silvester II., beklagte im Jahre 988 in einem Schreiben an den niederlothringischen Herzog Karl, dessen Gefolgsleute verbreiteten auf den Straßen seines Herzogtums Schrecken, nahm aber den Herzog selbst von dem Vorwurf aus. Gerbert schrieb: Der terror sollte den Herrscher nicht beflecken; dieser sollte ihn von sich fern halten, ihn nicht erregen; vielmehr war er aufgefordert, gegen ihn einzuschreiten. Was einst die karolingischen Fürstenspiegel empfohlen hatten, galt als verwerfliches Tun.609 Gerbert von Aurillac, ein Berater von Kaiser Otto III., der ihn protegierte und der seine Erhebung zum Papst unterstützte610, nahm eine in 609 Die Briefsammlung des Gerberts von Reims, hg v. Fritz Weigle (MGH Epp. DK 2), Weimar 1966, S. 141 f; Michel Parisse, Gerbert d’Aurillac et l’Empire, in: Gerbert l’Europ8en. Actes du colloque d’Aurillac 4–7 juin 1996, hg. v. Nicole Charbonnel, Jean-Eric Hung, Aurillac 1997, S. 123–133; Flavio Nuvolone, Gerbert d’Aurillac et la politique imp8riale ottonienne en 983, in: Faire l’8v8nement au moyen .ge, hg. v. Claude Carozzi, Huguette Taviani-Carozzi, Aix-en-Provence 2007, S. 235–274. 610 Bertrand Fauvarque, Sylvestre II et Otton III. Politique, r8forme et utopie. Aspects eschatologiques, in: Gerberto d’Aurillac. Da abate di Bobbio a papa dell’anno 1000. Atti del congresso internazionale Bobbio 28–30 sett. 2000, hg. v. Flavio G. Nuvolone, Bobbio 2001, S. 545–598; Anna Marie Flusche, The Life and Legend of Gerbert of Aurillac. The Organbuiler who became Pope Sylvester II, Lewiston 2006.

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Die Eigenen, die Anderen und die richtige Unterscheidung

der späten Antike verbreitete Vorstellung wieder auf, die den Schrecken der Herrscher verwarf. Anders als in der späten Antike hingegen galt nunmehr der Verzicht der Herrschaft auf den Schrecken für möglich; er war gar gefordert. Eine widerspruchsfreie Verwendung von Liebe und Schrecken, wie in den karolingischen Fürstenspiegeln ausgeführt, war unmöglich. Der Schrecken der Herrscher war als überwundenes Übel vergangener Epochen aufgefasst. Oder er war ein Schrecken, als dessen Auslöser andere Völker und fremde Herrscher angegeben wurden, unter denen die Frommen zu leiden hätten. Aus der Herrschaft der Christen wurde der Schrecken zunehmend ausgeschieden. Die Sachsengeschichte von Widukind von Corvey († 973), selbst ein Sachse und Anhänger von Kaiser Otto I., stellt die Grausamkeit der einst heidnischen Sachsen dar, die die Thüringer bekämpft, unterjocht, beraubt und viele von ihnen getötet und sich dabei als gottlose Barbaren aufgeführt hätten. Durch das Volk der Sachsen sei der terror unter ihren Nachbarn verbreitet worden. Die Absicht Widukinds, die Geschichte der Sachsen als Prozess einer zivilisatorischen Veredelung darzustellen, die mit der Eingliederung in das Reich Karls des Großen und mit der Tätigkeit christlicher Missionare eingesetzt und mit der Erhebung zum Königtum von sächsischen Herrschern ihren wahrlich »krönenden« Höhepunkt erreicht habe611, sollte den Schrecken, den die Sachsen einst verursacht hätten, zum Verschwinden bringen oder nur noch im Kampf gegen die verbleibenden Heiden, also die östlich siedelnden slawischen und ungarischen Völker, akzeptabel erscheinen lassen. König Heinrich I. (919–936), der erste Sache auf dem Königsthron, wird als unnachgiebig und rachsüchtig gegen seine Feinde beschrieben, seine kämpferische Grausamkeit bleibt aber den Heiden vorbehalten. Gegenüber den Untertanen, die Widukind cives nennt, erweist sich hingegen König Heinrich als milde. Nur als Reaktion gegen die brutalen und barbarischen Gewalttaten der Glaubensfeinde hätten König Heinrich I. und sein Sohn und Nachfolger Kaiser Otto I. (936–973) den Schrecken ausgeübt, besonders als sie dem Wüten der heidnischen Ungarn Einhalt geboten hätten. So stellt es eine Generation nach Widukind der Chronist Thietmar von Merseburg (975–1018) dar.612 Die Emotionen von Gunst und Furcht, von favor und timor werden von Widukind und Thietmar ethnisch und religiös differenziert. Mit Gunst sucht der König die Loyalität unter seinen Getreuen und unter den Christen zu erlangen. Die ungehemmte Gewalt ist nach außen gerichtet: gegen Feinde und Heiden. Gezeigt wird der Schrecken aber auch in diesem Fall allen, 611 Sachsengeschichte des Widukind, S. 58, 126–128; Gerd Althoff, Widukind von Corvey. Kronzeuge und Herausforderung, in: FMASt 72 (1993), S. 253–272. 612 Chronik Thietmars, S. 106, 107; Scharff, Der rächende Herrscher, S. 243–246; dort auch Hinweise auf Belegstellen aus Widukinds Sachsengeschichte.

Getreue und Feinde

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auch den eigenen Leuten, wie Widukind schreibt. Aber nur die äußeren Feinde werden von ihm heimgesucht, den eigenen nur vorgeführt. Konstitutiv und definitorisch, nicht indes exzeptionell, nicht distinktiv, nicht reaktiv und nicht demonstrativ ist hingegen der Schrecken, den die unchristlichen Barbaren verbreiten und dabei keine Schonung und keine Unterscheidung von Gut und Böse kennen. Widukind fügt eine Rede Ottos I., angeblich während der Schlacht gegen die Ungarn 955 gehalten, in seine Erzählung ein. Otto habe seine schon zurückweichenden Krieger angespornt, indem er sie an die jüngst errungenen Siege gegen die Heiden, die Furcht und Schrecken über das Volk der Christen ausgebreitet hätten, erinnert habe. Vor diesem Schrecken dürften die Christen nicht zurückweichen.613 Anders als Remigius von Reims und die fränkischen Fürstenspiegel, die Furcht, Schrecken und Liebe gleichermaßen für die Beziehung innerhalb des Herrschaftsverbandes vorsahen, wurde nunmehr eine Schranke errichtet, durch die der terror für die Angehörigen der christlichen Völker ausgeschlossen sein sollte.614 Aus dem Schrecken, der Herrschaftsinstrument war, wurde der Schrecken, der die Feinde kennzeichnete. Auch der polnische Herzog Boleslaw galt als Feind und Heide, denn er sei nur scheinbar ein Christ und sein furor wüte, so schreibt Thietmar von Merseburg, gegen das Volk der Bayern.615 Thietmar, Angehöriger des Sachsenvolkes, war als Bischof eingebunden in die Herrschaftsausübung der ottonischen Kaiser, stand ihrem Hof nahe, hatte mehrmals Kontakt zu ihnen. Ähnlich wie bereits Widukind von Corvey stellte er die Sachsen in eine anerkannte Position christlicher Zivilisation und kleidete die sächsischen Herrscher in die Würde des Römertums.616 Nur der einstigen Wildheit der Sachsen heftete Thietmar den Schrecken an, wohingegen dieser nun überwunden sei. Furcht und Schrecken zu verbreiten, war für Widukind und Thietmar die Verfehlung der anderen. Wenn die eigenen Herrscher den Schrecken einsetzten, war er externalisiert und bedrohte die äußeren Feinde und war dann gerechtfertigt. Liebe und Schrecken wurden nicht kombiniert, sondern segregiert nach religiöser und ethnischer Zugehörigkeit. Die Heiden gehörten nicht zum Volk Gottes, deswegen verdienten sie es nicht, vom Schrecken verschont zu werden.

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Sachsengeschichte des Widukind, 126–128. Ebda., S. 7, 19f., 50, 54–57, 69. Chronik Thietmars, S. 280. Knut Görich, Otto III. Romanus Saxonus. Kaiserliche Rompolitik und sächsische Historiographie, Sigmaringen 1995, S. 62–82.

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2.

Die Eigenen, die Anderen und die richtige Unterscheidung

Attila – die Geißel Gottes

Die Externalisierung des Schreckens knüpfte an die Deutung einer historischen Figur an, die prominent im hohen Mittelalter vorgestellt war – und dies für viele Jahrhunderte hinweg. Attila, der Hunnenkönig, wurde über eine lange Zeit hinweg, nachdem er im 5. Jahrhundert in Europa und im Römischen Reich geherrscht und in der ungarischen Ebene das Zentrum seiner Herrschaft etabliert hatte, in den Geschichtsbüchern beschrieben. Das Erinnern an ihn blieb präsent und formte die Vorstellung eines Schreckensherrschers, der als Gegenbild zum vorbildlichen christlichen Herrscher galt. In einer in Italien entstandenen Passage, die die Historia Romana von Paulus Diaconus (725–799) ergänzte, war die Grausamkeit Attilas vorgeführt: Mit gezücktem Schwert drohe er auf schreckenerregende Weise den Christen den Tod an. Aber auch er könne in Schrecken versetzt werden – nicht durch Gewalt, aber auf den Wink Gottes: so geschehen, als er Papst Leo I. traf.617 Die Magdeburger und Passauer Annalen, die kurz vor und nach 1200 über die Einfälle der Hunnen und ihres Königs Attila berichten, verwiesen auf die ferne Vergangenheit und auf die den Christen fern stehenden Menschen und platzierten in diese doppelte Ferne Furcht und Schrecken. Beide Gefühle waren in der okzidentalen Christenheit gegenwärtig, sie kamen aus einer undeutlichen Ferne, sie bedrängten die einheimischen Bewohner Galliens und die Germanen. Sie standen in Kontrast zu den christlichen Herrschern und Völkern. Über ganz Europa hätten die heidnischen Hunnen Schrecken verbreitet; kein benachbartes Volk sei ihm entronnen, die Christen litten unter ihm. Die Hunnen in ihrer Gänze und unterschiedslos seien ein Schrecken erregendes Volk.618 Die Erinnerung an sie grundierte das im hohen Mittelalter anhaltende Misstrauen gegen die Ungarn, die als Nachfolger der Hunnen gedeutet wurden, die noch nicht oder nur halbherzig und unvollkommen den christlichen Glauben angenommen hätten und deren Wendung von barbarischer Wildheit zu zivilisatorischer Zähmung steckengeblieden sei. Luitprand von Cremonoa sah in den Ungarn die Nachfahren der Hunnen; sie seien barbarisch und heidnisch. Brun von Querfurt bezeichnete die Ungarn kurz nach deren Bekehrung zum Christentum nur als quasi fideles.619 Eine Kontinuitätslinie wurden gezogen, bei

617 Paulus Diaconus, Historia Romana, in: MGH AA 2, hg. v. Heinrich Droysen, Berlin 1879, S. 183–224, hier : Appendix, S. 385. 618 Annales Magdeburgensis, in: MGH SS 16, hg. v. Georg Heinrich Pertz, Hannover 1859, S. 105–196, S. 127; Annales S. Iustinae Patavini, in: MGH SS 19, hg. v. Georg Heinrich Pertz, Hannover 1896, S, 148–193, S. 191. 619 Luitprand von Cremona, Antapodesis, in: Opera omnia, hg. v. Paolo Chiesa (CCCM 156), Turnhout 1998, S. 3–150, S. 36; Brun von Querfurt, Passio Sancti Adalberti, in: Monumenta

Attila – die Geißel Gottes

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der die Schrecken erregende Herrschaft nicht einfach in der Vergangenheit abgelegt wurde, sondern zur Verunglimpfung eines Volkes in der Gegenwart weiterbestand. Am Ende des 12. Jahrunderts hat Goswin in der Lebensbeschreibung des heiligen Alban von Mainz den Angriff der Hunnen auf die Stadt Mainz und die Zerstörung der dortigen Klöster als Urteil Gottes gedeutet, das er über die Christen verhängt habe, um die der arianischen Irrlehre anhängenden Christen zu bestrafen. Attila war als Werkzeug Gottes vorgestellt. Sein Schrecken sei notwendig und die Folge des üblen Tuns der Christen.620 Der italienische Chronist Gottfried von Viterbo ( 1125–1192) bezeichnete Attila in seinem als Universalgeschichte konzipierten Werk Pantheon erstmals als Geißel Gottes, Dei flagellum, verlieh dem Hunnenkönig eine von Gott gewollte Strafgewalt und leitete die Grausamkeit von einer historisch notwendigen Fügung ab, bei der das Leiden der Christen, die der Hunnenkönig hätte gänzlich austilgen wollen, nur durch Gottes Eingreifen, nicht durch militärische Gegenwehr ein Ende gefunden habe. Der Schrecken, von außen hereingebrochen, wurde als Prüfung und Stärkung der Gläubigen ins Positive gewendet, ohne die frevelhafte Anmaßung und Grausamkeit des Verursachers zu bestreiten.621 Die italienische und französische Chronistik des 13. und 14. Jahrhunderts folgte dieser Beurteilung. Das in französischer Sprache am Ende des 13. oder Anfang des 14. Jahrhunderts verfasste Werk Histoire de Atile, war in vielen Handschriften verbreitet, wurde ins Lateinische und Italienische übersetzt und verfestigte das Bild des nach dem Leben der Christen trachtenden Schreckensherrscher. Der Schrecken wurde als ein von außen hereinbrechendes Geschehen gedeutet, verursacht von Attila, einer Missgeburt, gezeugt von Mensch und Hund, also von einer Person, die nicht nur als Heide den Christen, sondern auch als Mischwesen den natürlichen Menschen entgegengestellt wurde. Als Geißel Gottes gedeutet, war Attila aber auch in eine christliche Konzeption eingebunden; er galt als eine ferne, zeitlich entrückte, aber in der Erzähltradition präsente Bedrohung, die Gott den Menschen zugefügt habe, um ihren Glauben zu stärken, so dass der Schrecken eines Tyrannen und Invasoren in die göttliche Planung aufgenommen war. Nur der oberste Hirte der Christenheit war Attila überlegen. Vor ihm, vor dem römischen Bischof Leo I., erfasste den Hunnenkönig selbst der Schrecken, wie auch noch

Poloniae historica ; NS 4/1, hg. v. Jadwiga Karmasinska, Warschau 1962, S. 3–47, 51–67, 71– 84, hier S. 61. 620 Passio Sancti Albani martyris, in: MGH SS 15,2, hg. v. Georg Heinrich Pertz, Hannover 1846, S. 984–990. 621 Gottfried von Viterbo, Pantheon, S. 289.

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Die Eigenen, die Anderen und die richtige Unterscheidung

Jakob Twinger von Königshofen zu Anfang des 15. Jahrhunderts zu berichten wusste: »erschrak von dem bobeste«.622 In Deutschland trugen bereits die Chronisten Ekkehard von Aura (ca. 1085– 1125) und Otto von Freising (ca. 1112–1158) das Wissen über Attila weiter, ohne ihm indes eine historische und moralische Notwendigkeit als Geißel Gottes zuzubilligen: Alle Länder versetze Attila in Furcht und Schrecken; durch welche Zauberei ihm dies gelungen sei, wisse niemand, so Ekkehard. Der Schrecken war unvorhersehbar, schlug überraschend zu, konnte jeden treffen.623 In Deutschland gab es – anders als in Italien – daneben ein dem Hunnenkönig günstigeres Urteil, welches ihm neben Grausamkeit und Hinterlist auch Treue und Milde attestierte, so wie im Nibelungenlied ausgeführt.624 Die ungarische historiographische Tradition war kompliziert. Sie kombinierte einen angeblich glorreichen Ursprung mit einer christlichen gegenwärtigen Beurteilung von Attila, die ihn einerseits als Schrecken erregend, andererseits als Schöpfer des ungarischen Königreiches einordnete. Sie berichtete von einer fernen Vergangenheit, in der durch König Attila und seine Hunnen talis timor et tremor über die Menschen hereingebrochen seien, dass alle zur Unterwerfung gezwungen worden seien. Diese Zeit sei aber nun überwunden. Wenn die Ursprünge der ungarischen Königsherrschaft der Dynastie der Arpaden erzählt wurden, wurde behauptet, dass propter amorem die ersten Könige Ungarns Macht ausgeübt hätten, wohingegen die Furcht als Ursache der Macht verschwunden oder doch abgeschwächt sei. Lediglich zur Motivierung einer freiwilligen Unterwerfung – libera sponte – war die Einflößung von Furcht eingeräumt, was Arpad I. (896–907), den Begründer der Dynastie, erfolgreich gemacht habe. Furcht und Schrecken waren durch Liebe abgelöst, genauso wie das Heidentum durch das Christentum. Die behauptete historische Kontinuität, die die Ungarn an die Hunnen band, bot Anlass, einen Vorgang der Zivilisierung zu behaupten, bei der Heiden zu Christen, Schreckensherrscher zu Liebesherrschern wurden. Aber die Vorstellung, dass eine furchterregende und auf Furcht basierende Herrschaft auch weiterhin bestehe und auf Attila zurückzuführen sei, war nicht gänzlich beendet; im 13. Jahrhundert ist sie erneut eingeführt worden: Attila und die Hunnen galten als Vorgänger und als Vorbilder des Königs und Volkes der Ungarn, und der Vorwurf, Schrecken zu verbreiten, wurde zum Lob umgestaltet. Aus der Sicht des bedeutendsten ungarischen 622 Chronik des Jacob Twinger von Königshofen (Die Chroniken der oberrheinischen Städte 1,2), Stuttgart 1961, S. 11. 623 Ekkehard, Chronicon universale, hg. v. Georg Waitz, in: MGH SS 6, S. 33–231, S. 124; Otto von Freising, Chronica, S. 220. 624 Ernst Cordt, Attila – Flagellum Dei. Etzel, Atli. Zur Darstellung des Hunnenkönigs in Sage und Chronistik, Pordenone 1984, S. 48–52; Magdalena Badde-Revue, Le personnage d’Attila dans le Nibelungenlied et la Thidreksage, in: Histoire et litt8rature, S. 7–14.

Freundschaftsbünde, konsensuelle Herrschaft und Abschreckung

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Historiographen Simon K8zai, der sein Werk Gesta Hunnorum et Hungarum in den achtziger Jahren des 13. Jahrhunderts schrieb und dem ungarischen König Ladislaus IV. (1272–1290) widmete, war der Schrecken Attilas Ausweis seiner Tugend und Grundlage für die Macht aller späteren Könige Ungarns. In diesem Text kommt es nun zu einer bemerkenswerten Umdeutung. Die externae nationes, d. h. die Völker der Christen, hätten Attila geliebt. Die Integration Attilas als Vorläufer eines christlichen Königreiches erforderte eine eigenartige Ausrichtung des Schreckens, die Innen und Außen in der Weise kombinierte, dass nach Innen, also gegen die heidnischen Hunnen, der Schrecken Attilas wütete, während die Liebe – gegenüber den Christen – nach Außen gerichtet wurde, also hinsichtlich der religiösen Zugehörigkeit Innen und Außen gegenüber einer ethnischen Zugehörigkeit vertauscht waren.625 Die Inversion von Liebe und Schrecken machte die Figur von Attila anschlussfähig sowohl an eine Ursprungsgeschichte des Königreiches und des Volkes der Ungarn als auch an eine christliche Fundierung von Herrschaft. Der Schrecken war in zweierlei Weise eingeführt: als Werkzeug – Geißel – des Wirkens Gottes und als Begründung eines christlichen Königreiches Ungarn. Der Schrecken war eingepasst in eine Dichotomie des Eigenen und des Fremden, die an den Grenzscheiden von Religion und Volk bestand und den Einsatz zwischen Innen und Außen variierte. Die Vertauschung betraf auch die Liebe. Die Ambivalenz der Figur von Attila war ein Anzeichen, wie der Schrecken als Merkmal der Herrschaft in einer Mischung von Abscheu und Bewunderung, von Verurteilung und Zustimmung geformt war. Den Schrecken zu rechtfertigen, war in einer besonderen Konstellation, in der historischen Rückführung des Königreiches Ungarn, möglich, die Attila sogar mit Liebe ausstattete – im Verhältnis zu den Christen.

3.

Freundschaftsbünde, konsensuelle Herrschaft und Abschreckung

Die Herrschaft durch Schrecken wurde zunehmend im 10. und 11. Jahrhundert verworfen. Stattdessen wurde eine Herrschaft durch Einverständnis und Zuneigung eingerichtet. Für die Etablierung von Königsherrschaften, die auf der Zustimmung der nicht-königlichen Mächtigen beruhte, waren Verfahren er625 Gesta Hungarorum, hg. v. Aemilius Jakubovich, in: Scriptores rerum Hungaricarum, hg. v. M#rton György Kovanich, Budapest 1798, Bd. 1, S. 13–118, S. 51, 60, 75, 79; Simon de K8za, Gesta Hungarorum, hg. v. Alexander Domanovsky (Scriptores rerum Hungaricarum tempore ducum regumque stirpis Arpadianae gestarum 1), Budapest 1937, S. 141–194, S. 151; Janos Bak, K8zai, Simon, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 5, München, Zürich 1991, Sp. 1119.

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Die Eigenen, die Anderen und die richtige Unterscheidung

forderlich, die die Festigkeit von personalen Bindungen und deren Zuverlässigkeit für die Machtausübung herzustellen vermochten. Dazu war nicht die Einflößung von Schrecken, sondern die Gewinnung von gemeinsamen Nutzenerwartungen einzusetzen. Aber anders als bei den Gefolgschaften waren sie ethisch, religiös und emotional geformt. Ihnen sollten Stützen eingezogen sein, die Freundschaftsbande schufen. Sofern Herrschaft konsensuell gedeutet wurde und tatsächlich auf den Konsens mit denjenigen angewiesen war, die auf ihren autogenen Herrschaftsrechten beharrten und die ihre Macht nicht lediglich vom König delegiert erachteten, in dem Maße war es nicht opportun, auf die Eigenschaften des Königs, der selbstwirksam zur Herrschaft befähigt sei, und auf seine Taten, die er in eigenständiger Weise ausübe, zu verweisen: also auf Eigenschaften autochthoner Gewalt, die eingesetzt sei, um mittels des Schreckens Unterwerfung zu erzwingen. Das konsensuelle Handeln, das Vertrauen erzeugen sollte, d. h. die Erwartung stabilisierte, dass Handlungen zum gegenseitigen Nutzen und zur Aufteilung der Macht geschähen, beruhte auf der Pflege von Freundschaften. Freundschaft wurde der Kernbegriff von Verhältnissen, die dem Herrscher Gestaltungsmöglichkeiten eröffneten, indem er, statt auf seine Suprematie zu pochen, auf der Basis von gleichwertigen Beziehungen seine Macht ausübte. Das Dilemma, das Freundschaft eine prinzipiell gleichberechtigte Beziehung oder doch zumindest eine Einebnung des hierarchischen Abstandes voraussetzte und zugleich beförderte und damit Herrschaft zu unterminieren drohte, ließ sich beheben, indem eine religiöse Ebene eingezogen wurde durch die Gebetsverbrüderungen, in die Könige, Adelige und Klöster eingebunden waren. Der geistliche Bund überragte weltliche Nutzenerwägungen und er stärkte gleichzeitig die Herrschaft. Denn der König war eingebettet in eine soziale Verbindung, die ihm Loyalität zuführte, die die Praxis der Machtausübung unterstützte, sie auf die Klöster, Stifts- und Domkirchen ausdehnte, sie mit einer religiös motivierten Begründung versah, vor allem die räumliche und zeitliche Wirksamkeit verstetigte dank einer liturgisch inszenierten Präsenz auch in der Ferne und einer durch das Totengedächtnis hergestellten Vergegenwärtigung der gesamten Herrschaftsdynastie, als deren Exponent und aktuell wirksamer Vertreter der König vorgestellt war.626 Weil, wie Klaus van Eickels formulierte »Freundschaft Freiraum konstituiert, in dem Fragen von Rang und Rangdemonstrationen keine Rolle spielen«627, war durch das Sprechen über Freund626 Manfred Groten, Von der Gebetsverbrüderung zum Königskanonikat. Zur Vorgeschichte und Entwicklung der Königskanonikate an den Dom- und Stiftskirchen des deutschen Reiches, in: HJb 103 (1983), S. 1–34; Wolfgang Eric Wagner, Die liturgische Gegenwart des abwesenden Königs. Gebetsverbrüderung und Herrscherbild im frühen Mittelalter (Brill’s Series on the Early Middle Ages 19), Leiden 2010. 627 Klaus van Eickels, Verwandtschaft, Freundschaft und Vasallität: Der Wandel von Konzepten

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schaft eine neben der Unterwerfung und der Unterordnung bestehende Ordnung von Gleichen abgebildet und ebnete die hierarchischen Unterschiede ein – und dies stärker als dies bei der Thematisierung der Liebe der Fall gewesen wäre, die Unterordnung eher ermöglicht. Wie die neuere Forschung ausführt, sind es diese Verfahren und nicht allein die rechtlich genormten Konstellationen des Lehnswesens, die zum Gelingen der Herrschaft im 10. und 11. Jahrhundert führten. Treue ist in diesem Fall nicht als Vollzug einer juristischen Norm, sondern als Realisierung einer sozialen Praxis der Freundschaft aufzufassen.628 In der Tat: König Heinrich I. und seine Nachfolger aus der sächsischen und der salischen Herrscherdynastie erreichten im 10. und 11. Jahrhundert die Stabilisierung der königlichen Herrschaft, indem sie eine enge Kooperation mit den Fürsten einrichteten, deren Rechte als originär und zugleich durch Belehnungen anerkannt waren und die als Freunde der Könige vorgestellt wurden. Die von Bernd Schneidmüller als »konsensuale Herrschaft« bezeichneten Regelungen, die Stefan Weinfurter als »gratiale Ordnung« benannte und Gerd Althoff als »Königsherrschaft ohne Staat« charakterisierte, setzten rituelle Handlungen voraus, die belohnten, beschenkten, beförderten, vor allem aber Verzeihung gewährten und darauf verzichteten, die Unerbittlichkeit und Strenge einer Gewalt einzusetzen, die wohl – mangels hinreichender Machtmittel – auch gar nicht realisierbar gewesen wäre.629 Zusätzlich zur Behauptung der Königsmacht durch zeremonielle Überhöhung traten Freundschaftsbündnisse, die Heinrich I. (919– 936) mit den Mächtigen des Reiches sowie mit dem westfränkischen König Karl vereinbarte. Mit Karl geschah dies bei dem Treffen auf einem Schiff auf dem Rhein am 7. November 921. Das Instrument der amicitia, in Parallele gesetzt zu den Gebetsverbrüderungen geistlicher Gemeinschaften, bildete das Band, das die Kohäsion der Herrschaft sichern sollte, so dass vertikal-egalitäre Relationen zu den horizontal-hierarchischen hinzutraten.630 König Heinrich I. verschmähe den Schrecken, um das Verhältnis zu seinen Getreuen zu gestalten; er suche über personaler Bindung im 12. Jahrhundert, in: Lehnswesen im Hochittelalter, S. 402–411, S. 407. 628 Stefan Weinfurter, Lehnswesen, Treueid und Vertrauen. Grundlagen der neuen Ordnung im hohen Mittelalter, in: Lehnswesen im Hochittelalter, S. 443–462, S. 447–451, 454. 629 Bernd Schneidmüller, Konsensuale Herrschaft. Ein Essay über Formen und Konzepte politischer Ordnung im Mittelalter, in: Reich, Regionen und Europa im Mittelalter und Neuzeit. Festschrift für Peter Moraw, hg. v. Paul-Joachim Heinig u. a. (Historische Forschungen 67), Berlin 2000, S. 53–88; Weinfurter, Investitur, S. 105–124; Gerd Althoff, Rituale, S. 177–197; Ders., Friendship and Polical Order, in: Friendship in Medieval. Europe, hg. v. Julian P. Haseldine, Stroud 1999, S. 91–105; siehe auch: Karl J. Leyser, Rule and Conflict in an Early Medieval Society. Ottonian Saxony, Oxford 1979, S. 35–38. 630 Gerd Althoff, Amicitia und Pacta. Bündnis, Einung, Politik und Gebetsgedenken im beginnenden 10. Jahrhundert (MGH. Schriften 37), Hannover 1992, S. 8–11, 16–17, 23–31; Gerd Althoff, Hagen Keller, Heinrich I. und Otto der Große. Neubeginn und karolingisches Erbe, Göttingen, Zürich 1985, S. 66–81; Steckel, Kulturen, S. 263f.

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sie vielmehr, gemäß einer von dem Chronisten Thietmar von Merseburg (975– 1018) wiedergegeben Rede Heinrichs, dank der Zuneigung zu herrschen, um zusammen mit allen den Nutzen des Reiches zu bewahren und die Zustimmung der mächtigen Adeligen zu seinem Handeln zu erlangen. Dies sei die Folge davon, dass er nur mit ihrer Zustimmung zur königlichen Würde aufgestiegen sei, wie Heinrich in seiner Rede eingeräumt habe.631 Die Erweiterung familiärer Eintracht auf eine weitere Personengruppe, die den Kreis der durch Privilegien Begünstigten überstieg, schied hingegen die Liebe aus und legte vielmehr das Fundament für eine Herrschaft, die nicht durch spontane Regungen, sondern durch Übereinkommen abgesichert werden sollte. Bündnisse, Schwurvereinigungen, Gebetsverbrüderungen und Patenschaften knüpften neben den verwandtschaftlichen Bindungen ein Netz, das umso tragfähiger war, als der Verzicht auf Furcht die Gewinnung von Loyalitäten mittels gemeinsamer Anliegen notwendig machte, so dass nicht einmal dann, wenn Aufrührer und Abtrünnige zum Gehorsam gezwungen werden sollten, ihnen harte Bestrafungen auferlegt wurden, vielmehr in rituellen Demütigungen und ebenso rituellen Versöhnungen die Bedingungen der Konfliktbeilegung ausgehandelt wurden und die Huld des Herrschers erneut gewährt wurde und damit ein konfliktfreies Kooperieren wieder hergestellt war. Die hierarchisch abgestuften Beziehungen waren eingekleidet in eine Diktion von Freundschaften, die die Superiorität des Herrn nicht in Frage stellte, sie aber durch Reziprozität der Bindungen ergänzte.632 Mit der Pflege von Freundschaften zur Stabilisierung von Herrschaft endete gleichwohl nicht der Gebrauch des Schreckens durch die Herrscher. Die englische Historikerin Susan Reynolds ist skeptisch, dass im 10. und 11. Jahrhundert allein auf der Grundlage konsensbasierter Bündnisse Macht durchgesetzt werden konnte.633 Die Skepsis ist aufgrund der Quellenzeugnisse berechtigt. Die herrscherliche Gewalt war, so zeigen es zahlreiche Belege, erkennbar zu demonstrieren und auszuüben, auch in ihrer brutalen Anwendung keineswegs zu verbergen, wenn die königlichen und mehr noch die imperialen Grundlagen der Macht gefestigt werden sollten, also eine aus der Antike herrührende, dem Konsens enthobene Gewalt zu begründen war. Kaiser Otto III. (983–1002) sammelte zwar Freundschaften: zu Burchard von Worms, zu dem Geistlichen Tammo, mit dem er ostentativ vertrauten Umgang pflegte, zu seinem Berater Adalbert von Prag, mit dem er Tag und Nacht zusammen verbrachte. Wer unter den Getreuen indes aus dem Vertrauensverhältnis ausbrach und den Eid brach, 631 Chronik Thietmars, S. 294. 632 Epp, Amicitia, S. 130–133, Krüger, Freundschaft, S. 53f. 633 Susan Reynolds, The Historiography of the Medieval States, in: Dies., The Middle Ages without Feudalism. Essays in Criticism and Comparision on the Medieval West, Farnham 2012, S. 117–138.

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den traf nicht allein die ungehemmte Gewalt der Strafe; sie war exemplarisch zur Abschreckung eingesetzt. Crescentius, Patrizier der Römer, der in Rom den von Kaiser Otto III. protegierten Papst Gregor V., abgesetzt und ihm einen eigenen Kandidaten entgegengestellt hatte, wurde im Februar 998 von kaiserlichen Truppen in der Engelsburg belagert, gefangengenommen und zur Strafe enthauptet. Seine Leiche ließ der Kaiser an den Beinen aufhängen. Dadurch versetzte Otto, wie Thietmar von Merseburg in seiner Chronik schrieb, alle, die dies sahen, in unauslöschliche Furcht. Furcht diente der Abschreckung, erfasste also nicht allein diejenigen, die bestraft wurden. Der Schrecken war situativ eingesetzt – bezogen auf eine konkrete Tat des Aufstandes. Der Schrecken sollte auch über die Bestrafung der Tat hinaus wirken. Er war gleichwohl exzeptionell, charakterisierte nicht die Gesamtheit der Herrschaftsausübung, sondern war die Folge einer Unordnung, die die Herrschaft herausforderte und zeitweise außer Kraft zu setzen drohte. Der Schrecken richtete sich auch nicht gegen einen engen Gefolgsmann, war an der Peripherie der Macht eingesetzt. Aber der Schrecken sollte gleichwohl alle beindrucken, alle von der Abweichung von der Unterordnung abhalten. Sich der Liebe und Zuneigung des Herrschers, der pietas, wie Thietmar schrieb, zu entsagen und zu widersetzen, aktivierte ein Verhalten, das den Schrecken verbreitete; es war also nicht der Kaiser, der dies beabsichtigte, sondern Folge des Aufruhrs und den Aufrührern anzulasten.634 Leo von Vercelli (ca. 965–1027), der Gefolgsmann und Vertraute der Kaiser der ottonischen Dynastie, hat in seinem an Kaiser Otto III. und Papst Gregor V. adressierten panegyrischen Gedicht die klassische Aufgabenteilung beschworen, bei dem der Papst für die Seelen, der Herrscher für die Körper zuständig sei, und letzterem dazu das geeignete Gewaltmittel an die Hand gegeben: das unbezwingliche Schwert, das zur Züchtigung der Sünder aus der Scheide gezogen werde. Durch das Eisen wirke der Kaiser, durch das Wort der Papst. Furcht solle der Herrscher verbreiten, sie solle die Untertanen heimsuchen und erstarren lassen. Aber die Furcht stellte Leo doch als die Differenz zum Normalfall dar, sie erfasse nur diejenigen, die sich der guten Ordnung widersetzten, und sei kein allgemeines Mittel der Abschreckung gegenüber allen Untertanen. In einem weiteren Gedicht schrieb Leo, dass die Herrscher die Armen unterstützen, dass sie über das Elend der Welt Tränen vergießen sollten. Er lobte den Nachfolger Ottos III., Kaiser Heinrich II., der ohne Blutvergießen die Herrschaft errungen habe. Nichtsdestoweniger gehe er mit Gewalt gegen die Untertanen vor, wenn sie

634 Chronik Thietmars, S. 167–169; Percy Ernst Schramm, Kaiser, Rom und Renovatio. Studien zur Geschichte des römischen Erneuerungsgedankens vom Ende des Karolingischen Reiches bis zum Investiturstreit, Leipzig, Berlin 1929; S. 116–135; Gerd Althoff, Otto III. (Gestalten des Mittelalters und der Renaissance), Darmstadt 1997, S. 100–125.

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ihm Tribut und Gehorsam verweigerten. Die Sanktion sei gerechtfertigt, da Heinrich dank der Gnade Gottes herrsche.635 Die Furcht indes gehörte nicht zur Tugend des Herrschers, wurde von ihm zwar faktisch verbreitet, war ihm aber nicht aufgetragen, vielmehr seinen Gegnern angelastet. Liebe entfaltete sich in seinem Nahbereich.636 In der Ausdehnung von Freundschaft durch Freundschaftsbündnisse verlor die Liebe aber ihre Wirkung. Der Unterschied zur Lehre der Fürstenspiegel des 9. Jahrhunderts ist evident. Der Schrecken war keine Tugend; er sollte nicht beständig ausgeübt werden, er war kein Korrelat zur Liebe. Mehrere Autoren unterschieden die Freundschaft, die weit ausgriff, und die Liebe, die eng die nächsten Getreuen umschloss und dem engen familiären Verband reserviert war und nur ausnahmsweise und dann als Steigerung der Gunst vorgeführt wurde. Sie erfasste auch den verstorbenen Vorgänger, so dass in inter-generationeller Relation eine Einheit des Handelns hervortreten sollte, die die Herrscher befähigte, Vergünstigungen zu verstetigen, die der geliebte Vorgänger angeordnet hatte. König Otto I. (936–973) berief sich auf seinen Vater Heinrich, als er die freie Abtwahl im Kloster St. Maximin bei Trier bestätigte und gab die Verfügung als Ergebnis der Liebe zu seinem Vater aus.637 Dem Kaiser Heinrich II. (1002–1024), versprach Meinwerk von Paderborn, ein mit ihm kooperierender Bischof, die Flamme seiner innigen Liebe. Heinrich II. war in zeitgenössischen und späteren Texten als ein Herrscher vorgestellt, der um Zuneigung bei seinen Getreuen nachsuchte.638 Als Beispiel sei die Darstellung in der Chronik von Thietmar von Merseburg herausgegriffen: Heinrich II. hat den Konflikt mit dem Herzog von Schwaben Hermann II., der 1002 als sein Konkurrent bei der Königswahl aufgetreten war und Kirchen des Bistums Straßburg verwüstet hatte, gütlich beigelegt. Hermann zeigte Reue (humiliter presentatur), Heinrich daraufhin Barmherzigkeit und Gnade. Als Ergebnis nahm Heinrich den Herzog als treuen Kämpfer und Freund auf. Die Koppelung von miles und amicus verband die Funktion mit der Emotion. Freundschaft setzte Anwesenheit voraus. Als Heinrich II. nach Bayern zog, zeigte er durch seine Ankunft vielen 635 Leo von Vercelli, Versus de Gregorio et Ottone, in: MGH Poetae latini 5,2, hg. v. Karl Strecker, Berlin 1939, S. 477–480; Ders., Versus de Ottono et Heinrico, ebda., S. 480–483. 636 Richard Jaeger, Amour, S. 549f. 637 MGH DD Otto I, hg. v. Theodor Sickel, Hannover 1879–84, Nr. 31, S. 117f. 638 Vita Burchardi episcopi Wormatiensis, hg. v. Georg Waitz, in: MGH SS 4, Hannover 1891, S. 829–846, S. 833; Petrus Damiani, De omnibus ordinibus omnium hominum, in: PL 145, Paris 1853, Sp. 974–980, Sp. 975, Sp. 975; Vita Adalberti, in: MGH SS 4, hg. v. Georg Heinrich Pertz, S. 574–620, S. 591; Vita Meinwerci, hg. v. Franz Tenckhoff (MGH SRG 59), Hannover 1893, S. 17; Gerd Althoff, Das Bett des Königs in Magdeburg. Zu Thietmar II,28, in: Festschrift Berent Schwineköper, hg. v. Hans-Martin Maurer, Hans Patze, Sigmaringen 1982, S. 141–153; Für Königtum und Himmelreich. 1000 Jahre Meinwerk von Paderborn. Katalog der Ausstellung Paderborn 23. Okt. 2009–21. Febr. 2010, Regensburg 2009.

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seine Liebe; sie galt als Steigerung der Freundschaft, wurde als Ausnahme und besondere Bevorzugung bezeichnet. Freundschaft konnte aber auch zur Täuschung vorgeführt werden, was die Bewaffneten von Herzog Hermann II. taten, als sie singend (cantantes) vor eine Burg zogen und sich als Freunde ausgaben, dann aber plötzlich die Waffen zückten und mit lautem Rufen sich als Feinde zu erkennen gaben (magna voce se hostes manifestant).639 Die Beispiele zeigen, dass Freundschaft und Liebe gezeigt wurden, dass das Zeigen aber nicht die Authentizität garantierte. Die Ambivalenz von Emotion und Performanz abzuwenden, kennzeichnete den idealen Herrscher, als der Heinrich II. vorgestellt war. Schrecken zu verbreiten, gehörte aber um nichts weniger zum Repertoire auch der Handlungen von Heinrich II. Auslöser war aber das Handeln der Gegner seiner Herrschaft und der Christenheit. Die Person des Kaisers war vom Makel des Schreckens nicht befleckt. Brun von Querfurt (974–1009) verlangte in einem Brief an seinen Verwandten, Kaiser Heinrich II., die Ausübung des Schreckens, was er nicht mit der Mehrung der Macht begründete, indem er auf einen religiösen Zweck verwies, da der Schutz der Christen zu den Aufgaben des Kaisers gehöre. Der Schrecken war in den Dienst des Glaubens gestellt, nicht in den der Macht. Um den Frieden zu sichern, setzte Heinrich II. die Rechtsprechung ein, um diejenigen zu entmutigen, die den Frieden missachteten, weil sie ansonsten in ihrer Verstocktheit zu Aussöhnungen nicht bereit wären. Brun nahm Aufträge der Kaiser der sächsischen Dynastie, der er selbst angehörte, wahr, führe Verhandlungen, widmete sich als Erzbischof und Missionar der Verbreitung des Glaubens unter den Böhmen, Petscheneggen und Pruzzen. Brun empfahl, den Schrecken gegen Glaubensfeinde, insbesondere gegen hartnäckige Verweigerer der Taufe, einzusetzen.640 Der Schrecken war auch bei ihm gegen äußere Bedrohung einzusetzen. Sowohl Heiden als auch Feinde des Friedens sollten ihn spüren. Dem guten Herrscher stand der Schrecken fern. Nur als Ausnahme und als 639 Thietmar von Merseburg, Chronik, S. 247; Hagen Keller, Schwäbische Herzöge als Thronbewerber. Hermann II. (1002), Rudolf von Rheinfelden (1077) und Friedrich von Schwaben (1125). Zur Entwicklung von Reichsidee und Fürstenverantwortung, Wahlverständnis und Wahlverfahren im 11. und 12. Jahrhundert, in: ZGO 131 (1983), S. 122–162, S. 124–133. 640 Brun von Querfurt, Epistola ad Henricum regem, hg. v. Jadwiga Karwasinska, in: Monumenta Poloniae Historica. Series Nova 4, Warschau 1973, S. 102f.; ; Reinhard Wenskus, Studien zur historisch-politischen Gedankenwelt Bruns von Querfurt, Münster i. W. 1956; Hans-Werner Goetz, »Potestas«. Staatsgewalt und Legitimität im Spiegel der Terminologie früh- und hochmittelalterlicher Geschichtsschreiber, in: Von Sacerdotium und Regnum. Festschrift für Egon Boshof, hg. v. Franz-Reiner Erkens, Hartmut Wolff, Köln u. a. 2002, S. 46–66; Karol Kollinger, St. Bruno of Querfurt and His Account of a Mission to the Pechenegs, in: Conversio. Looking for Ideological Changes in the Early Medieval Ages, hg. v. Leszek Pawel Supecki, Wien 2012, S. 187–202.

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aufgezwungen schien er akzeptabel. Dem ersten Kaiser aus der Dynastie der Salier, Konrad II. (1027–1039), widmete sein Hofkaplan Wipo eine Lebensbeschreibung, die vor allem die inneren Beweggründe des Herrschers zu entdecken verspricht. Belehrung oder Beratung bedürfe er angeblich nicht. Konrad habe am Tag der Krönung verkündet, selbst zu wissen, was gerecht sei, und sofort Gerechtigkeit herstellen zu wollen. Wipo weist auf die Barmherzigkeit hin, mittels derer Konrad das Recht pflege. Gegenüber allen Untertanen habe er Mitleid gehegt. Dem Beispiel Christi folgend, habe Konrad II. den untreuen Aufrührern verziehen, sie in seine Huld wieder aufgenommen und ihnen ihre Besitzungen zurückerstattet. Seine Gerechtigkeit behindere den ungehinderten Lauf herrscherlicher Strenge, unterdrücke den Zorn, der nur noch als emotionale Regung aufschien, zu der ihn die Übeltäter anstacheln wollten, die indes auf das Handeln des Kaisers keinen Einfluss erlangten und seine Person nicht befleckten. Im Gegenteil: Der Kaiser halte seine Person vor Verfehlung intakt. Dies zeige sich auch in seiner äußeren Erscheinung. Konrad sei schön. Die Schönheit sei mit seiner Würde und deren Zeichen verbunden: pulcher sua sub corona – so verherrlichte Wipo den Kaiser in den sein Werk abschließenden Versen. Ein Werk, das dem Genre der Heiligenviten angeglichen war, hat die Tugenden eines Geistlichen dem Kaiser zugesprochen.641 Aber es gab mehr als die Anforderungen einer literarischen Gattung. Konrad II. war der erste König aus der Dynastie der Salier und er war auf die Kooperation mit den Großen des Reiches angewiesen, mit denjenigen, denen er seine Wahl verdankt hatte. Die Aufgabe des Königs und Kaisers zeigte sich wenig in der des Richters, vielmehr in der des Spenders von Straferlassen und Gnadenerweisen, sofern nur die Bereitschaft der Schuldigen vorhanden war, Wiedergutmachung zu leisten und Versöhnung anzubieten, also reconciliatio und satisfactio stattfanden. Die Erwartung, dass die Gnade gewährt wurde, entwand dem Herrscher Entscheidungsfreiheit, verschaffte ihm aber umgekehrt auch Machtoptionen, da die ihm die Unterwerfung zu leisten war.642 Das von Gerd Althoff untersuchte Verhalten und die von ihm zahlreich analysierten Verfahren von einvernehmlicher Streitschlichtung und von zeremoniellen Unterwerfungen müssen hier nicht ausgebreitet werden, hingewiesen sei aber auf die Tatsache, dass die »bedingungslose Unterwerfung auf Gnade und Ungnade« sich nicht nur als »Ritual, als eine Inszenierung, deren Akte bereits abgesprochen waren«, entpuppte643, sondern auch mitunter durchaus brutale 641 Wipo, Gesta Chuonradi, in: Die Werke Wipos, hg. v. Harry Breslau (MGH SRG 61), Hannover, Leipzig 1915, S. 1–62, S. 23, 26, 61. 642 Leyser, Rule and conflict in an Early Medieval Society. Ottonian Saxony, Oxford 1989, S. 98– 107. 643 Gerd Althoff, Verwandte S. 199; Ders., Huld. Überlegungen zu einem Zentralbegriff der mittelalterlichen Herrschaftsordnung, in: Frühmittelalterliche Studien 25 (1991), S. 259–

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Niederwerfung, Zerstörung von Burgen und dauernden Ausschluss von der Macht für die besiegten Rebellen vorführte, damit der Kontrast zwischen verdienter Strafe und der Verzicht auf sie, zwischen Gewalt und Milde umso deutlicher hervortreten konnte. Kaiser Konrad II. operierte mit diesem Gegensatz. Der Vorzug gebührte dabei der Nachsicht. Die bedrohliche königliche Strafgewalt habe, so die Chronik von Thietmar von Merseburg, zunächst auch Graf Heinrich von Schweinfurt erfahren müssen, dessen Burg Konrad II. bis auf den Grund abzubrechen befohlen habe. Aber Christi amorem folgend und nicht timorem verbreitend, habe sich Konrad umstimmen lassen: Die Anhänger Heinrichs hätten erreicht, dass dem Grafen auf Bitten seiner Mutter die Strafe teilweise erlassen worden sei und der König Gnade gewährt und von der weiteren Zerstörung abgesehen habe. Heinrich sei später sogar vollständig rehabilitiert worden. Alle Untertanen des Kaisers sollten gemäß der von Thietmar wiedergegebenen Predigt des Freisinger Bischofs Gottschalk die zweifachen Bande der Liebe, die zu Gott und die zur weltlichen Herrschaft, beachten, wobei bezeichnenderweise diese Verdoppelung nicht für die Furcht galt, die allein Gott geschuldet sei. Der König sei zur Liebe verpflichtet, weil er dem Vorbild Christi nacheifern müsse, und im Vollzug dieser Liebe sei er gehalten, zur Verzeihung der Übeltäter bereit zu sein. Liebe war hier ausgeweitet, verließ den engen Kreis der Getreuen, umgriff alle im Reich, betraf auch diejenigen, die schlecht handelten. Andererseits müsse die Strafe, so Thietmar, die die Rebellen ereile, entschieden streng sein.644 Die Drohung mit Sanktionen, die effektive Zerstörung von Besitz und die Verwirkung von Leben standen dem König in vollem Umfang zu und, auf sie zu verzichten, durfte offensichtlich nicht fest eingeplant und erwartet werden, damit der Gnade des Königs der unberechenbare Charakter erhalten blieb, die Furcht präsent gehalten wurde und der Herrscher unumschränkt über Leben und Gut verfügen konnte; so war der Ungehorsam erfolgreich zu unterdrücken oder zu ahnden. Thietmar von Merseburg berichtete von Gunzelin, dem Markgraf von Meißen, der sich der Machtgrundlagen und der Verhaltensweisen königlichen Handelns bewusst war. Er lehnte die Beteiligung an einer Revolte gegen den König ab, weil er, wie er mitteilen ließ, befürchten müsse, von seinem Herrn, dem König, mit dem Entzug seiner Güter und mit dem Tod bestraft zu werden.645 Trotz der Möglichkeit und vermutlich auch der Anforderungen, Gnade walten zu lassen, war die Gefährlichkeit des

282; Steffen Patzold. Von den Spielregeln ritueller Kommunikation zur sozialen Praxis. Ein Versuch über praktisches und diskursives Wissen im frühen Mittelalter, in: Alles nur symbolisch? Bilanz und Perspektiven der Erforschung symbolischer Kommunikation, hg. v. Barbara Stollberg-Rilinger, Köln 2013, S. 53–68. 644 Chronik Thietmars, S. 261–265, 276, 291f. 645 Ebda., S. 261f.

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Königs zumindest latent vorhanden und von den Zeitgenossen so auch eingeschätzt worden. Auf den Schrecken stets zu verzichten, war trotz einer durch geistliche Autoren und Historiographen empfohlenen Liebe und Milde daher keineswegs immer angebracht. Der Schrecken war am wenigsten problematisch, wenn er nicht zugunsten der Macht, sondern zum Schutz der Kirche verbreitet wurde. Eine Briefsammlung aus dem endenden 11. Jahrhundert sah vor, dass der König einen allgemein verbreiteten Schrecken gegen alle diejenigen richten solle, die die geistlichen Gerichtsurteile missachteten. Sie sollten streng bestraft werden angesichts des Ausmaßes ihrer Verbrechen. Die Bestrafung richtete sich allein gegen die Übeltäter, der durch das Handeln des Königs hervorgerufene Schrecken aber gegen alle. Den communem terrorem omnium zu empfehlen, wie dies in der Briefsammlung geschah, hieß den König auf Ziele zu lenken: auf die Geltung der Gerichtsbarkeit, die Sicherung des Friedens, den Schutz der Kirchen. So war der Schrecken gerechtfertigt. Er war kein allgemein einsetzbarer Schrecken. Er sollte die Herrschaft nicht befördern.646 Diese Art des Schreckens war abgewertet. Eine weitere, zeitgenössische Briefsammlung, anscheinend in Worms zusammengestellt, stellte in deutlicher Opposition zu dem zu verurteilenden Schrecken, der zwecks der Herrschaft eingesetzt wurde, den terror dominationis, die pia miseratio und die caritas. Die Terminologie und die Argumentation zeigen, dass die Anmaßung der Herrschaft, Schrecken auszuüben, zum Teil wenigstens auf Kritik stieß, sofern er zur Verfestigung der Herrschaft gebraucht wurde und damit nach dem Urteil des Anonymus ein schändliches Ziel verfolgte.647 Die Herrscher riskierten, wenn sie den Schrecken als Instrument ihrer Herrschaft beanspruchten, einer zunehmend ablehnenden Beurteilung ausgesetzt zu werden. Die Anwendung des Schreckens sah der Chronist und in wechselnden Klöstern des Westfrankenreiches lebende Benediktiner der Jahrtausendwende Radulf Glaber als Übel an, das er gleichwohl für notwendig erachtete, weil zu seiner Zeit zahlreiche Fürsten die legitime Herrschaft bekämpften und herausforderten, so dass nun, weil nichts anderes helfen würde, der terror des Königs wüte und zu wüten erlaubt sei, um die Rebellen zurückzuschlagen. Der Schrecken sei zwar zu bedauern, aber doch unumgänglich, indes nur ausnahmsweise akzeptabel. Denn nicht in erster Linie ex timore et ferocitate, sondern ex amore piae humanitatis pflegten, so Radulf, die Könige die Tugenden, deren Befolgung Christus allen Menschen, auch den Herrschern, 646 Die jüngere Hildesheimer Briefsammlung, hg. v. Rolf de Kegel (MGH DK 7), München 1995, Nr. 85, S. 139f., Rolf de Kegel, Jüngere Hildesheimer Briefsammlung, in: Verfasserlexikon. Die deutsche Literatur des Mittelalter, 2. Aufl. Berlin, New York 2004, Bd. 11, Sp. 818–821. 647 Die ältere Wormser Briefsammlung, hg. v. Walter Bulst (MGH Epp. DK 3), Weimar 1949, S. 75.

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aufgetragen habe.648 Auf Unordnung und Gewalt der Gegner sollten Gegengewalt und aus ihr folgend Ordnung, hergestellt durch die Herrscher, folgen. Die Berechtigung des Schreckens der Könige leitete sich aus dem Schrecken ihrer Feinde ab. Der berechtigte Schrecken war reaktiv, galt als lediglich opportun und blieb moralisch anrüchig. Der Schrecken, sofern er akzeptabel erschien, bedurfte der Kombination mit einem hohen Wert. Aber nicht eine Ordnung von Liebe und Schrecken, wie sie im 9. Jahrhundert vorgesehen war, sondern die Ergänzung mit der Demut war verlangt. Thietmar von Merseburg bewertete in seiner Chronik, dass der Schrecken, den der König gegen seine Feinde richte, zur Zierde des Reiches, zum Trost des Landes und zur Hoffnung der Gequälten gereiche und den König zur Vortrefflichkeit führe, sofern nur der Schrecken in Demut ausgeübt werde.649 Aber der Schrecken musste Ausnahme bleiben; nur als Konsequenz einer gestörten Ordnung war er hinnehmbar. Der Graf von Flandern Balduin sei nach Auskunft der in Cambrai verfassten Bischofschronik dazu berechtigt, alle Übeltäter durch Schrecken zur Umkehr zu zwingen, ohne dass er durch Schmeicheleien oder durch Bitten davon abgebracht werden dürfe. Die Bischofschronik lässt den Schrecken des Grafen über das Gebiet Flanderns wüten, indem der Graf ihn öffentlich verkünde.650 Nur durch Furcht ließen sich die Menschen vom schlechten Handeln abbringen, wie der Benediktiner Hugo von Fleury an der Wende zum 12. Jahrhundert formulierte. Solche, die die Gebote Gottes missachteten, gelte es zu strafen und zu bessern, damit sie vor den ewigen Strafen im Jenseits bewahrt werden. Die Herrschaft des Königs sei von allen zu beachten, selbst die Priester schuldeten Gehorsam, so wie der Sohn dem Vater untertan sein müsse. Die Bestrafung und die Sicherung des Friedens berechtigten dazu, Schrecken auszulösen. Hugo schreibt, dass die Herrscher die Aufgabe hätten, die Seelen zu retten. Dies leisteten sie, indem sie Frieden herstellten, da nur im Frieden die Priester Seelsorge leisten könnten. Umso notwendiger sei es, die Widersacher des Friedens mit Gewalt zu bekämpfen und mit Schrecken niederzuringen.651 Auch hier waren es diejenigen Menschen, die sich außerhalb der Gemeinschaft des Glaubens und des Friedens stellten, die den Schrecken erfahren sollten. Externer Schrecken stand gegen internen Frieden. 648 Radulfus Glaber, Historiae, in: MGH SS 7, hg. v. Georg Heinrich Pertz, Hannover 1846, S. 48–72, S. 54; John France, War and Christendom in the Thought of Rudolfus Glaber, in: Studia Monastica 30 (1988), S. 105–119. 649 Chronik Thietmars, S. 228f. 650 Chronicon s. Andreae castri Cameracesii, hg. v. L. C. Bethmann, in: MGH SS 7, Hannover 1846, S. 526–550. S. 547; Chronicon episcoporum Cameracensium, hg. v. dems., ebda. 389– 525, S. 508. 651 Hugo de Fleury, Tractatus de regia potestate et sacerdotali dignitate, in: MGH LdL. 2, hg. v. Ernst Dümmler u. a. Berlin 1892, S. 465–494, S. 467f., 472.

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Die Berechtigung zum Schrecken sollte nicht aus der weltlichen Ordnung entspringen, nicht ihrer Einrichtung und ihrem Schutz dienlich sein, sondern in den Dienst des göttlichen Heilsplans gestellt sein. Nicht mehr wie in den karolingischen Fürstenspiegeln als Attribute der guten Herrschaft, sondern als situativ eingesetzte, nach Verbrechen differenzierte und gegen äußere Gegner gerichtete Impulse war der Schrecken einzusetzen. Der Schrecken war nicht mehr Pflicht, sondern Nebenwirkung des Befehlens, Richtens und Bestrafens – mitunter unumgänglich, weil gerechtfertigt durch besondere Umstände. Aus dem Schrecken der Herrschaft, wie er zur Zeit der Karolinger empfohlen war, entwickelte sich ein Schrecken der Gerechtigkeit. Nicht als Auswirkung der Herrschaft, sondern des Verbrechens galt er. So behielt der Schrecken der Herrscher auch unter der Oberfläche eines Freundschaftsideals seine Wirkung. Der Bereich der durch Freundschaften gestalteten Beziehungen war der des Friedens. Wer ihn missachtete, stellte sich außerhalb der Ordnung und der Gemeinschaft und gegen ihn sollte der legitime Schrecken gerichtet sein. Um den Frieden zu schützen, bedurfte es gewaltsamer Mittel, die gerechtfertigt galten wegen der guten Absicht und des guten Ziels. Die königliche Gewalt gewann eine Legitimität, die aus ihrem Handeln, ihrer Beabsichtigung und ihrer Wirkung, nicht in erster Linie aus ihrer Entstehung durch göttliche Einsetzung hervorging. Ihr Wert unterlag nicht einmal notwendigerweise einer moralischen Bewertung. Honorius Augustodunensis (†1137) behauptete die Legitimität königlicher Gewalt, selbst wenn sie in die Hände eines Schismatikers, Häretikers, Apostaten oder Tyrannen fiele. Sogar ihnen sei zu gehorchen, denn selbst sie vollbrächten Gutes, sofern sie den Frieden schützten. Die weltliche Macht und ihre Berechtigung blieben auch bei Verfehlung des individuellen Machthabers intakt. Das den weltlichen Herrschern anvertraute materielle Schwert bestrafe diejenigen, die gegen das Gesetz Gottes rebellieren. Ausnahmsweise und nur um das Seelenheil zu bewahren, solle der Kontakt mit schlechten Herrschern abgebrochen werden, was aber den Gehorsam ihnen gegenüber in den weltlichen Angelegenheiten nicht verringern solle.652 Die für das Königtum günstige Bewertung von Honorius Augustodunensis war umso erstaunlicher, als er die Klosterreformen, die Papst Gregor VII. anmahnte, unterstützte. Offensichtlich bewog ihn aber nicht einmal der Konflikt Gregors mit den Königen zu einer gegen die Könige gerichteten Parteinahmen. Das wenige, das zu Honorius Augustodunensis bekannt ist, war seine anfängliche Zugehörigkeit zum Benediktinerorden; er verbrachte seine letzten Lebensjahre aber im Schottenkloster Regensburg und schrieb anscheinend dort mehrere, breit rezipierte theologische und 652 Honorius Augustodunensis, Summa glora, in: MGH Ldl 3, S. 63–80, S. 75f.; Hans-Werner Goetz, Die Summa Gloria. Ein Beitrag zu den politischen Vorstellungen des Honorius Augustodunensis, in: ZKG 89 (1978), S. 307–353.

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didaktische Werke. Sie übten für die folgenden Jahrhunderte große Wirkung aus und wurden häufig rezipiert und zitiert.653 Instrumental war der Schrecken des Herrschers vorgesehen und bewertet. Er war nicht personal dem Herrscher angeheftet. Nur eine Palliativordnung war auf ihn angewiesen, wenn die Ordnung einer »konsensualen Herrschaft« bedroht war von denjenigen, die sich abseits der Freundesbande stellten und den Konsens aufkündigten, der den Frieden stiften sollte. Der Widerspruch zwischen Zustimmung und Zwang war aufgelöst durch die Manifestation von Freundschaft und Frieden. Sie sollte die Zusammenarbeit zwischen den Herrschern und den der Herrschaft Unterworfenen begründen. Damit diese »kooperative Herrschaft«, wie ich sie bezeichnen will, funktionierte, wurden ihr Konzepte der Freundschaft unterlegt. Sie wurden aus persönlichen Vorlieben abgelöst, institutionell eingebunden und verfestigt. Die Hinführung zu einem gemeinsamen Nutzen, den der Frieden darstellte, knüpfte an Vorstellungen an, die einst Cicero vorgestellt hatte, so dass Freundschaft in die politische Organisation eingewoben wurde. Weil die Freundschaft ein so hoher Wert war, mussten ihre Missachtung und gar Verletzung umso unerbittlicher geahndet werden: nicht allein durch den Entzug der Freundschaft, sondern durch die Auslösung von Schrecken. Der Ursprung des Schreckens lag dann außerhalb der Herrschaft. Er galt nicht als das Mittel, um ihre Existenz zu sichern, auch nicht um Verbrechen zu sanktionieren, sondern um die Fremdheit der Bedrohung zu markieren und auszumerzen. Die Ordnung bedurfte der Einrichtung eines eigenen Bereichs, dessen Innenstabilisierung gelingen sollte durch den Einsatz des Schreckens gegen die äußere Einwirkung. Der eigene Bereich war eine Ordnung des Friedens. Innerhalb dieser Ordnung hatte der Schrecken keinen Platz, aber umso mehr außerhalb von ihr.

4.

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Nicht allein den Königen und den weltlichen Herrschern war der Schutz des Friedens anvertraut. Im frühen Mittelalter waren Verfahren üblich, die die Kette von Gewalt und Gegengewalt durch Vereinbarung und Kompensation für die Opfer bzw. für deren Familienangehörige zu beenden suchten. Neben der Abschreckung und der Belohnung, neben der Furcht und der Liebe war es möglich, einen Ausgleich von Ansprüchen zu erreichen, damit auf Rache verzichtet wurde. Die germanischen Volksrechte enthielten standardisierte Listen der Entschädigungsleistungen, meist in Geld tarifiert, die indes sehr wahrscheinlich 653 Valerie J. J. Flint, The Career of Honorius Augustodunensis, in: Dies., Ideas in the Medieval West. Texts and their Contexts, London 1988, S. 63–86.

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in Naturalien zu entrichten waren. Der Prolog der Lex Salica, des Gesetzes für die salischen Franken vom Beginn des 6. Jahrhunderts, benennt die Absicht: den Frieden untereinander zu sichern, Streitigkeiten zu unterbinden, Gewalt zu verhindern, um so Kräfte freizusetzen, die zur Beherrschung anderer Völker verwendet werden können. Gewalt sollte nach außen gerichtet werden und nur in diesem Fall war sie der Leitung durch den König unterstellt.654 Wie in dem Gesetz der salischen Franken wird auch in dem Pactus Alamannorum, dem Gesetz für die Alemannen, vom beginnenden 7. Jahrhundert detailliert festgelegt, welche Leistungen der Gewalttäter dem Geschädigten oder seiner Familie zu übergeben habe, wobei diese Leistungen nach der Schwere des Schadens, häufig auch nach dem sozialen Rang abgestuft sein sollten. Diese Abstufung gab es auch in den Bestimmungen der Lex Ribuaria vom Beginn des 7. Jahrhunderts. Die Quantifizierungen werden wohl darauf beruht haben, was in zahlreichen Sühneverhandlungen zwischen verfeindeten Gruppen ausgehandelt wurde. Jedenfalls gab es auch gesetzliche Regelungen, wie im Edictum Rotarii für die Langobarden, im Jahre 643 erlassen, die die Höhe der Entschädigungen nicht quantitativ fixierte, sondern den Beteiligten überließ – sub extimationem pretii. Die Gesetze der germanischen Völker zielten darauf ab, die Gewalt hinsichtlich ihrer Auswirkung zu bewerten, nicht der Intention, und sahen daher vor, die Täter mit der Entschädigung zu belasten und sie weder der Gegengewalt der Gewaltopfer noch der ordnenden Gewalt des Königs auszusetzen. Ziel war der Gewaltverzicht.655 Auch die Heiligenviten der fränkischen Epoche stellten ausführlich dar, wie das in der Bibel begründete allgemeine Friedensgebot den Gewaltverzicht nach erlittenem Unrecht verlange. Die Vorführung der Wehrlosigkeit des Heiligen und seine Weigerung, an ihm verübte Gewalt abzuwehren und sie gar zu rächen, imitierten das Verhalten der antiken Märtyrer, zeigten zugleich ein Ideal des Friedens, welches den eigenen Nachteil und schlimmstenfalls den Untergang zu akzeptieren verlangte und damit zwar religiöse Vorbildlichkeit bewies, für die 654 Lex Salica, hg. v. Karl August Eckardt (MGH LNG 4,2), Hannover 1969, S. 2–8. 655 Pactus legis Alamannorum, hg. v. Karl Lehmann, in: MGH LDM 5,1, Hannover S. 21–34; Edictus Rothari, in: MGH LL 4, Hannover 1868, S. 3–90, S. 65, 88; Lex Ribuaria, hg. v. Franz Beyerle, Rudolf Buchner (MGH LDM 3,2), Hannover 1954; Heinrich Brunner, Sippe und Wergeld nach norddeutschen Rechten, in: ZRG GermAbt 78 (1882), S. 1–65; Rudolf His, Das Strafrecht des deutschen Mittelalters, Bd. 1, Weimar 1920, S. 302–304., 583–585; Friedrich Prinz, Europäische Grundlagen deutscher Geschichte (4.–8. Jahrhundert) (Gebhardt. Handbauch der deutschen Geschichte 1), Stuttgart 2004, S. 485-487; Christoph Camby, Wergeld ou uuergildus. Le rachat p8cuniare de l’offense entre continuit8s romaines et innovations germanique, Genf 2013; Emanuel Seitz, Der Wert des Menschen und sein Preis. Das Verhältnis von Person und Eigentum bei Brautpreis, Wergeild und Sklaverei, in: Embodying Value? The Transformation of Objects in and from Ancient World, hg. v. Annabel Bokern, Oxford 2014, S. 11–22.

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breite Anwendung in Konflikten aber ungeeignet war und wohl auch zu sein hatte, sollte die außerordentliche Stellung des Heiligen nicht angetastet werden. Das Verhalten des Heiligen, der die Gewalttat erduldet und keine Gegengewalt ausübt, ist u. a. vorgestellt in der Lebensbeschreibung von Bischof Praiectus von Clermont aus dem 8. Jahrhundert, dessen passio als Quintessenz seines heiligmäßigen Lebens vorgestellt wird: Gegenüber dem Adligen Agricius, der zusammen mit seinen Anhängern den Bischof töten will, verzichtet der fromme Oberhirte auf Gegenwehr, bereitet sich durch Gebete auf sein Martyrium vor und stirbt schließlich durch das Schwert seines Feindes. Das Verhalten kontrastiert mit dem seines Torwächters, der es vorzieht, mit der Waffe in der Hand kämpfend zu sterben.656 Das hier knapp vorgestellte Repertoire des Austarierens von Entschädigungen sowie der hagiographischen Überhöhung der Wehrlosigkeit wurde zunehmend überlagert durch den akzeptierten und verlangten Einsatz von Gewalt, der berechtigt, ja sogar gefordert war, um den Frieden zu schützen, weil ja nicht allein das Individuum, sondern ein Kollektiv von Individuen gegen den Einbruch der Gewalt beschirmt werden sollte. Darin lag auch die Aufgabe des Königs. Aber alle, auch diejenigen, die keine Herrschaft ausübten, waren zum Schutz des Friedens aufgerufen.657 Diese Veränderung zeichnete sich am frühesten in Frankreich seit der ersten Jahrtausendwende ab; sie führten dazu, der Gewalt wirksam entgegenzutreten, sie möglichst auszumerzen, die Wehrlosen und Friedfertigen zu beschützen und die Urheber der Gewalt zu strafen, ohne ihnen die Möglichkeit einzuräumen, durch ein inszeniertes Arrangement oder durch eine rechtlich fixierte Kompensation mit den Geschädigten gewaltsame Gegenmaßnahmen abzuwenden. Vielmehr wurde es üblich, den Frieden als einen von allen zu verteidigenden Wert anzuerkennen und seine Verletzung nicht allein als Beeinträchtigung von einzelnen Personen und Personengruppen zu begreifen, sondern als Missachtung der geordneten Relation aller in einer gesellschaftlichen Gruppierung lebenden Personen zu verurteilen, gar als Störung einer von Gott gewollten Ordnung des menschlichen Zusammenlebens, als Negierung der Eintracht zwischen den Christen. Viele waren berechtigt und sogar aufgefordert, gewaltsam zu agieren, damit die Gewalt ein Ende nähme. Die religiös aufgeladene Konnotation von Frieden ließ Gewalt als abweichendes Verhalten erscheinen, dessen Urheber außerhalb der christlich definierten Ge656 Passio Praeiecti, in: Passiones vitaeque sanctorum aevi Merovingici, vol. 3, hg. v. Bruno Krusch (MGH SRM 5), Hannover 1910, S. 20–27; Frantisˇek Graus, Volk, Herrscher und Heilige im Reich der Merowinger. Studien zur Hagiographie der Merowingerzeit, Prag 1965; Paul Fouracre, Richard A. Gerberding, Late Merovingian France. History and Hagiography 640–720, Manchester 1996, S. 254–270. 657 Barbara Rosenwein, Feudal War and Monastic Peace. Cluniac Liturgy and Ritual Agression, in: Viator 2 (1971), S. 129–157.

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meinschaft standen und gegen die Sanktionen verhängt werden mussten, die ebenfalls gewaltsam waren. »Militante Friedensstifter« traten auf den Plan.658 Diese Entwicklung erfuhr den entscheidenden Anstoß zunächst abseits königlicher Herrschaft. Sie war nicht beteiligt an der Einrichtung von Friedensbündnissen, die gegen Ende des 10. Jahrhunderts im Süden des regnum Francie, fern der Region unmittelbarer Herrschergewalt des westfränkisch-französischen Königs, Verfahren vorsahen, die auf der Zustimmung »aller« – von Geistlichen und Laien, von Reichen und Armen und von Männern und Frauen, wie die Quellen berichteten, – beruhten, um Gewalt einzudämmen.659 Die Initiative ging von Geistlichen aus – so auch beim Frieden von Charroux in der Kirchenprovinz Bordeaux von 987, der als erster der als Gottesfrieden bezeichneten Friedensbündnisse gilt, von dem die Statuten überliefert sind. Vor Gewalt sollten geistliche Personen und kirchliche Gebäude geschützt werden. Geschützt werden sollten auch diejenigen, die keine Waffen trugen – ausdrücklich die Kleriker und implizit die Bauern, deren Gut, Haus und Vieh gleichfalls unter dem Schutz standen. Die genannten Personengruppen ließen sich unter den Begriff der pauperes subsumieren, zu verstehen als diejenigen, die – weil ohne Waffen – des Schutzes bedurften. Der Status der Geistlichen wurde von dem der Laien deutlich abgehoben, was Verbindungen zeigt zu der zeitgleich sich entfaltenden Kirchenreform, deren Protagonisten auf der Scheidung von Aufgaben zwischen Geistlichen und Laien, auf dem Zölibat der Priester, auf dem Verbot von Simonie und Laieninvestitur sowie auf der Ächtung von Waffengebrauch durch Kleriker bestanden und die Vorrangstellung der Kirche und des priesterlichen Amtes durchzusetzen trachteten.660 Intendiert war kein allgemeines Gewaltverbot, wohl aber eine Eindämmung der Gewalt, die personal, sachlich und zeitlich begrenzt werden sollte. Diejenigen, die das Friedensgebot missachteten, waren mit der Strafe der Exkommunikation bedroht. Sie sollte freilich nur dann verhängt werden, wenn die Angreifer den Opfern eine Entschädigung verweigerten. Strafe war also noch als subsidiäre Handlung vorgesehen, die erst dann eingreifen sollte, wenn der Ausgleich zwischen den Beteiligten ausblieb. So verfügte es die Synode in Charroux im Jahre 987.661 Statt allein die personale Relation zwischen Gewalt658 Buc, Heiliger Krieg, S. 86. 659 Bernd Schneidmüller, Nomen patriae. Die Entstehung Frankreiches in der politisch-geographischen Terminologie (10.–13. Jahrhundert) (Nationes. Historische u. philologische Untersuchungen zur Entstehung der europäischen Nationen im Mittelalter 7), Sigmaringen 1987. 660 Anne Lewellyn Barstow, Married Priests and the Reforming Papacy. The Eleventh-CenturyDebates, New York/Toronto 1982; Laudage, Gregorianische Reform, passim. 661 Giovanni Domenico Mansi, Sacrorum conciliorum nova et amplissima collectio, Bd. 19, Venedig 1774, S. 89–91; Hartmut Hoffmann, Gottesfriede und Treuga Dei (Schriften der Germaniae historica 20), Stuttgart 1964, S. 25–27.

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ausübenden und Gewalterleidenden zu regulieren, stand nun die Stabilisierung einer normativen Ordnung auf dem Plan. Sich ihr zu entziehen, zog den Ausschluss aus der Gemeinschaft des Friedens und der Christengemeinde nach sich. Den Friedensbund schufen die Beteiligten meist durch ihren Eid.662 Die Gottesfrieden erhielten eine sakrale Legitimierung. Die Anwesenheit der Heiligen, aktualisiert in Gestalt ihrer Reliquien, war notwendig, sollte die Akzeptanz der Pflichten durchgesetzt werden. Die Heiligen vollbrachten Wunder.663 Unzählige Reliquien und Leiber der Heiligen waren versammelt – wie Sigebert von Gembloux schrieb – um zusammen mit den lebenden Gläubigen den Frieden in Flandern und Brabant zu errichten.664 Die sichtbaren leiblichen Überreste der Heiligen wurden den Anwesenden der geistlichen Versammlungen vorgeführt, ja sogar innerhalb des Gebietes des Friedensschutzes aus den Kirchen zu den Wohnstätten der Gläubigen hinausgetragen, um die Wirksamkeit der auf den Synoden beschlossenen Friedensgebote durchzusetzen. So geschehen in Flandern während des 11. Jahrhunderts, als die Gebeine des heiligen Ursmar von Ort zu Ort transportiert und überall gezeigt wurden.665 Der Eid wurde abgelegt, indem die Reliquien berührt wurden; so war die Öffentlichkeit erweitert und in die himmlische Sphäre verlängert.666 Die Geltung des Friedens hing von der Zustimmung der Beteiligten ab. Sie galt es zu erringen. Zu den Beteiligten gehörten auch die Heiligen. Die Gemeinschaft der Verteidiger des Friedens war fest begründet und verband die Lebenden und die Toten. Wer außerhalb von den Friedensbündnissen stand, setzte sich des vollständigen Ausschlusses aus allen sozialen und kirchlichen Beziehungen aus. Der Frieden sah die Selbstbindung all derer vor, die die Einschränkung der Gewaltanwendung versprachen und durchzusetzen hatten. In dem Schreiben der französischen Bischöfe an ihre italienischen Kollegen aus dem Jahre 1041

662 Ebda., passim; Hans-Werner Goetz, Die Gottesfriedensbewegung im Licht neuerer Forschungen, in: Landfrieden. Anspruch und Wirklichkeit, hg. v. Arno Buschmann, Elmar Wadle, Paderborn 2002, S. 31–54; Thomas Gergen, Pratique juridique de la paix et trÞve de Dieu / partir du concile de Charroux (989–1250), Frankfurt u. a. 2004. 663 Constanze Rendtel, Hochmittelalterliche Mirakelberichte als Quelle zur Sozial- und Mentalitätsgeschichte und zur Geschichte der Heiligenverehrung, Diss. FU Berlin 1985; Hans Hattenhauer, Gottesfrieden und Heiligenverehrung. Das Wunder bei St. Florentin, Hamburg 1998; Mirakel im Mittelalter. Konzeptionen , Erscheinungsformen, Deutungen, hg. v. Martin Heinzelmann u. a., Stuttgart 2002. 664 Sigeberti Gemblacensis Chronographiae Auctarium Affligemense, hg. v. Pieter Gorissen, (Verhandelingen van de Koninklijke Vlaamse Academie voor Wetenschappen, Letteren en Scone Kunsten van Belgie. Klasse der Letteren 15), Brüssel 1952, S. 113. 665 Miracula S. Ursmari in itinere per Flandriam facta, hg. v. Oswald Holder-Egger, in: MGH SS 15/2, Hannover 1887, S. 837–842. 666 Acta Sanctorum, hg. v. Jean Bolland u. a., 3. Aufl. Paris/Rom 1863–1870, Bd. 3, 23. Jan ., S. 160f.

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wurde der Frieden definiert: Es war ein von »allen« versprochener Friede.667 Er war auch ein Frieden ohne den König. Ohne die Mächtigen ging es gleichwohl nicht. Indessen war ihre Beteiligung zunächst nicht das Ergebnis ihrer Herrschergewalt und nicht ihrer hierarchischen Position, sondern entsproß ihrer Selbstverpflichtung und vor allem ihrer Fähigkeit, durch Waffengewalt den Frieden durchzusetzen. Zunehmend begannen aber die weltlichen Herrscher die Friedenssynoden zu dominieren. Der südfranzösische Mönch Ademar von Chabannes († 1034) berichtet in seiner Chronik zu Aquitanien, dass Wilhelm (V.), Herzog von Aquitanien, die Synode im Jahre 1028, die ebenfalls in Charroux stattfand, einberufen habe. Beteiligt seien desweiten der Erzbischof von Bordeaux und die anderen Bischöfe der Kirchenprovinz sowie »alle« Fürsten gewesen. Der kirchliche Charakter blieb zwar gewahrt, denn der Kampf gegen die Häretiker sei das Thema, indes sei es der Herzog gewesen, der befahl, dass der Frieden zu wahren sei. Außerdem hätten die beteiligten Laien, unter ihnen besonders die Fürsten, versprochen, den Frieden gegen seine Feinde durchzusetzen. Das Versprechen sei durch den Eid bekräftigt worden.668 Der Eid begründete eine coniuratio, die neues Recht schuf, weil die Eidgenossen sich selbst die Pflichten auferlegten und sie in gegenseitigem Versprechen verbindlich machten. Zu den Pflichten gehörte es, Gewalt einzusetzen, um den Frieden zu verteidigen. Stets war die Beteiligung einer groben Anzahl von Personen notwendig. Den Normen sich zu entziehen, schien geradezu unmöglich, angesichts einer Mobilisierung einer großen und gedrängten Masse von Menschen beiderlei Geschlechts und der ebenfalls dichten Präsenz von Heiligen. Besonders eindrücklich zeigt der aufmerksame Zeitgenosse und Beobachter Radulf Glaber († 1047), der Mönch von Cluny war und dennoch weite Reisen durch Frankreich unternahm, das Zusammenwirken der vielen und die Massierung der menschlichen Körper. Der aus unzähligen Mündern ausbrechende Schrei pax, pax, pax, das Zusammenströmen der Gläubigen, die Exaltiertheit, die durch die Prediger noch angefacht und durch die Gegenwart der Reliquien weiter gesteigert wurde, brachten eine massensuggestiv aufgestaute Erwartung hervor, den Frieden zu verlangen und durchzusetzen und damit sich auch des ewigen Heiles zu versichern.669

667 MGH Const 1, S. 596f.; Ludwig Huberti, Studien zur Rechtsgeschichte der Gottesfrieden und Landfrieden. Erstes Buch: Die Friedensordnungen in Frankreich, Ansbach 1892. 668 Ademar von Chabannes, Chronicon, S. 189. 669 Radulf Glaber, Historiarum libri, S. 194–197, 270f.; Bernhard Töpfer, Volk und Kirche zur Zeit der beginnenden Gottesfriedensbewegung in Frankreich (Neue Beiträge zur Geschichtwissenschaft 1), Berlin 1957; John France, Radulfus Glaber and the French Politics in the Early Eleventh Century, Francia 16/1 (1989), S. 101–112; Edmond Ortigues, Dominique

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Die gesellschaftlichen und politischen Ziele der als Gottesfrieden bezeichneten Bündnisse mögen diffus gewesen sein und sich als Ausmerzung der nicht spezifizierten Missstände ausgegeben haben, die Anbindung des Friedensgebotes an eine von Gott gegründete und damit nicht bezweifelbare und legitimerweise nicht angreifbare Ordnung war um nichts weniger eindeutig und sollte kein Ausscheren Einzelner dulden. Der Eid band die Beteiligten, zu denen auch die Mächtigen gehörten, und unterstellte sie den Bestimmungen der durch den Eid begründeten Gemeinschaft. Der Frieden hatte mehr als nur die Eindämmung von Gewalt zum Ziel. Er sollte zur Eintracht unter allen Christen führen, er war die Voraussetzung für ein allgemeines Gedeihen der christlichen Gemeinschaft. Selbst die Natur erblühe; sie bringe reichere Ernten hervor als Folge der Besserung durch die Friedenssynoden, so Radulf Glaber. Gegen den beschlossenen und beschworenen Frieden zu handeln, sei gleichbedeutend damit, die Schwurgenossen zu bekämpfen und – da ihnen die Geistlichen und die Heiligen zugesellt seien – ein himmlisch begründetes Gebot zu missachten.670 Da die Norm nicht individuell galt, sondern ein Kollektiv erfasste, war die Sanktion auch ein Mittel, die Stabilisierung dieses Kollektivs zu erzwingen. Deswegen wurden die Verfahren, die die Konflikte durch eine Versöhnung der Streitgegner herbeizuführen suchten – sei es durch ritualisierte Handlungen, sei es durch materielle Entschädigungen – zurückgedrängt. Strafen waren zu verhängen, für die nicht einmal mehr behauptet wurde, Schaden abzuwenden oder eingetretenen Schaden zu entschädigen, sondern Eliminierung und Ausschluss der Gewalttäter aus der Gemeinschaft der Schwurgenossen, ja der Christen vorsahen. Nicht das Faktum der singulären als rechtswidrig definierten Gewalt, sondern die Verletzung einer umfassenden, durch das Handeln von Geistlichen und Heiligen religiös legitimierten Ordnung zog die Sanktion nach sich. Im Kölner Gottesfrieden von 1083, von Erzbischof Sigwin initiiert und von der Diözesansynode beschlossen, waren Strafen vorgesehen, die – sozial zwar gestaffelt, aber alle treffend – jedes Handeln ahndete, das den vereinbarten Geboten entgegenstand.671 Aus der Kriminalisierung der Taten folgte die Militanz gegen die Täter. Gewalt war gerechtfertigt. Die Disziplinierung der Gesellschaft war das Ziel. Die Ausmerzung der Übel verlangte unnachgiebige Strenge.672 Militärische Aktionen Iogna-Prat, Raoul Glaber et l’historiographie clunisienne, in: Studi Medievali 3/26/2 (1985), S. 537–572. 670 Radulf Glaber, Historiarum libri, S. 194–197. 671 MGH Const 1, S. 602–605; Nr. 425; Dietmar Willoweit, Die Sanktionen für den Friedensbruch im Kölner Gottesfrieden von 1083. Ein Beitrag zum Sinn der Strafe in der Frühzeit der deutschen Friedensbewegung, in: Recht und Kriminalität, hg. v. Ellen Schlüchter, u. a., Köln 1990, S. 37–52. 672 Amy Remensnyder, Pollution, Purity and Peace. An Aspect of Social Reform between the

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gegen die Friedensbrecher waren verlangt, wollten die Initiatoren der Gottesfrieden sich nicht allein mit geistlichen Strafen begnügen, sondern in Strafexpeditionen diejenigen überwältigen, die sich des Angriffs auf den vereinbarten Frieden schuldig gemacht hatten. Die Darstellung des Benediktiners Andreas von Fleury über die Ereignisse des Jahres 1038 in seiner Heimatdiözese Bourges in Zentralfrankreich zeigt deutlich die Paradoxie eines Friedens, welcher zur Legitimierung von Krieg führte. Der Erzbischof von Bourges, Aimon, errichtete das Friedensbündnis durch den über den Reliquien abgelegten Eid, verfügte, dass alle erwachsenen männlichen Bewohner seiner Diözese sich gegen die Friedensbrecher zu bewaffnen hätten und gegen sie mit Gewalt vorgehen müssten. Die solcherart geschaffenen Friedensmilizen wurden auch eingesetzt. Dass sie mit besonderer Grausamkeit vorgingen, dass sie die castra perfidorum zerstörten, dass sie die rebelles verfolgten, geschehe gemäß den Anweisungen Gottes, sei als eine Tat seines Volkes anzuerkennen, welches, ähnlich dem der Israeliten, den Zorn gegen die Widersacher Gottes richtete und dank ihrer großen Menge erzwinge, dass das pactum eingehalten werde, mit dem der Frieden vereinbart worden sei. Aber – so die Darstellung von Andreas –, rasch schlug das wohltätige Werk in eine nicht zu rechtfertigende Aggression um, zunehmend motiviert durch Habgier, Rachsucht und Zerstörungswut. Der Frieden sei zum Vorwand für ungerechte Gewalt geworden. Die Niederlage des Friedensheeres sei, wie Andreas von Fleury meinte, nur die gerechte Folge eines Abgleitens von der ursprünglichen guten Absicht in Zerstörungswut und Tötungslust.673 Die Dialektik von Friedenswillen und Gewaltbereitschaft war in den Augen des Benediktiners Andreas von Fleury freilich nicht als solche beschrieben worden, sondern als Abweichen von moralischen und religiösen Geboten gedeutet. Tatsächlich war aber die exzessive Gewaltanwendung in der Logik des Gottesfriedens selbst begründet, dessen Wahrung als Gottesdienst galt, welcher Maßnahmen gegen alle verlangte, die sich außerhalb der christlichen Gemeinschaft stellten. Denn das Vorhaben, Ideale zu verwirklichen, schob moralische Hemmungen beiseite. Adalbero (977–ca. 1030), Bischof von Laon in Nordfrankreich, bot in der Schrift Carmen ad Robertum regem dazu eine kritische Reflexion an und erachtete die Entfesselung der Gewalt in der Friedensintention selbst angelegt; er Tenth Century and 1076, in: The Peace of God. Social Violence and Religious Response in France around the Year 1000, jg. V. Thomas F. Head u. a., Ithaca (NY.) 1992 S. 280–307. 673 Les miracles de saint Beno%t 8crits par Adrevald, Aimon, Andr8, Raoul Tortaire et Hugues de Sainte-Marie, moines de Fleury, hg. v. EugHne Certain, Paris 1858, S. 192–1988; Georges Duby, Les trois ordres ou l’imaginaire du f8odalisme, Paris 1978, S. 223–235; Roger Bonnaud-Delamare, Les institutions de paix en Aquitaine au 11e siHcle, in: Recueil de la Soci8t8 Jean Bodin pour l’histoire comparative des institutions, vol. 14 (1962), S. 415–487.

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meinte, die kirchlichen Institutionen und Personen maßten sich Aufgaben an, die nicht ihnen, sondern dem König zustünden. Die angebliche Vollstreckung des Willen Gottes führe dazu, die Hemmnisse abzulegen, die sowohl das Streben nach eigenem Nutzen als auch die Erwägung von Schadensbegrenzungen auferlegten, so dass im Ergebnis kein Frieden, sondern Gewalt entstehe. Den Schrecken zu verbreiten, sollte den weltlichen Machthabern, insbesondere dem König, überlassen sein. Den Schrecken hat Adalbero als Instrument der weltlichen Herrschaft angesehen. Es dürfe ihr nicht entwunden werden. Die Arbeitsteilung zwischen Geistlichen und Weltlichen einzuhalten, war das Anliegen.674 Adalbero war einer der frühesten Autoren des Mittelalters, die eine gesellschaftliche Gliederung vorsahen, die den Betenden, den Kämpfenden und den Arbeitenden getrennte Aufgaben und Nützlichkeiten zuwies, die nicht vermischt werden dürften. Auf diese Weise war die Gewalt einzig den Mächtigen, d. h. den Adeligen und den Herrschern, anvertraut.675 Die Militanz, die der Schaffung einer religiös begründeten Ordnung diente, war für viele Ziele abrufbar, nicht allein für die Verteidigung des Friedens. Auch die bewaffneten Scharen und Heere, die nach der Predigt Papst Urbans II. vom 27. November 1095 in Clermont, in der er zur Eroberung des Heiligen Landes aufrief, sich formierten, galten als militia, die sich durch ihren Eid selbst zum Kampf verpflichteten und in den Dienst Gottes stellten.676 Das Ziel bestand auch hier in der Wiederherstellung des Friedens diesmal in der Ferne, in den heiligen Orten, wo einst Jesus gewirkt hatte, nun aber die Ungläubigen die Gläubigen gewaltsam heimsuchten, weswegen Papst Urban II. – soweit die unterschiedlichen Versionen seiner Predigt dies belegen – die Herrschaft der Muslime über Jerusalem nicht allein als Unterdrückung der Pilger und der einheimischen Christen und nicht allein als Usurpation verurteilte, sondern auch als den Einbruch einer Unordnung deutete, welche der Herrschaft Gottes widerspreche, den Frieden zerstöre und die Christen der Gewalt der Ungläubigen ausliefere. Dem Schrecken, den die Muslime unter den Christen im Orient verbreiteten, gelte es entgegenzutreten. Der Friede unter den Christen war als eine Voraussetzung für den Dienst an Gott und für das von Gott gewollte gewaltsame Vorgehen vorgestellt. Der religiöse Auftrag bedurfte einer persönlichen Verpflichtung. Diejenigen, die sich zu den Kreuzfahrerheeren einfanden, legten einen Eid ab, der einem Gelübde – ähnlich denen der Mönche – angenähert war, jedenfalls – da von Laien abgelegt – eine Schwurgenossenschaft begründete und eine Gruppe schuf, die sich Regeln und Zielen unterwarf, welche nicht durch herr-

674 Adalb8ron de Laon, PoHme. 675 Le Goff, Note sur la soci8t8 tripartie; Duby, Trois ordres; Oexle, Funktionale Dreiteilung. 676 Gerd Althoff, Nunc, S. 36–67.

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schaftliche Weisung auferlegt waren, vielmehr, ähnlich den Friedensbündnissen, auf der Selbstverpflichtung der Beteiligten beruhten.677 Der Benediktiner Guibert von Nogent, Zeitgenosse der Ereignisse in Frankreich, wenngleich kein Teilnehmer des Konzils von Clermont und des ersten Kreuzzuges, beschrieb die Vereinigung der Christen, die sich auf den Weg nach Jerusalem machten. Gleichgültig welchem Volk, ob Franzosen, Italienern oder Schotten, sie angehörten, hätten sie das selbe Ziel im Sinn: den Kampf gegen die Ungläubigen.678 Mehrere Jahrzehnte nach dem Kreuzzugsaufruf Urbans II. berichtete Wilhelm von Tyrus (ca. 1130–1186), Erzbischof dieser Stadt im Orient und Kanzler des Königs von Jerusalem, dass die Predigt Papst Urbans II. eine soziale Amalgamierung angestoßen habe, die die Unterschiede des Alters, der ständischen Zugehörigkeit und der Aufgaben in der Kirche eingeebnet, die bestehenden hierarchischen Differenzen niedergelegt und eine homogene Gruppe hervorgebracht habe, für die einzig die Zugehörigkeit zur Christenheit wichtig gewesen sei. Die vereinte Masse habe sich gegen die Muslime gewendet. Diese seien Feinde der rechtmäßigen Herrschaft und des wahren Glaubens, da sie in das Gebiet der Christen eingefallen, deren Herren entmachtet, die Menschen an dem Dienst Gottes gehindert und die heiligen Stätten entweiht hätten. Wer einst als Christ andere Christen heimgesucht und sich wie ein Räuber aufgeführt habe, sollte nun die Gewalt gegen Ungläubige und Friedensfeinde richten, wie Papst Urban II. bei seinem Kreuzzugsaufruf verkündet haben soll.679 Die Gewalt war nach außen gerichtet und setzte die Gewaltlosigkeit im Inneren der Christenheit voraus. Ebenfalls einige Jahrzehnte nach dem Beginn des ersten Kreuzzuges klagte der Abt von Cluny, Petrus Venerabilis (ca. 1092–1156), in seiner Beschreibung des Islams, dass Mohammed und die Muslime üble Machenschaften, Raubzüge, 677 James A. Brundage, Medieval Canon Law and the Crusader. London 1969, S. 30–114; Ders., The Army of the First Crusade and the Crusade Vow, in: Medieval Studies 33 (1971), S. 334 343; Richard Sommerville, the Council of Clermont and the First Crusade, Studia Gratiana 20 (1976), S. 323–337; Hans Eberhard Mayer, Geschichte der Kreuzzüge. Stuttgart 1985, S. 40f.; Conor Kostick, The Social Structure of the First Crusade, Leiden, Boston 2008, S. 183–188. 678 Guibert von Nogent, Dei Gesta, S. 85–89; Jay Rubenstein, Guibert of Nogent. Portrait of a Medieval Mind, New York 2006. 679 Guillelmus Tyrensis Chronicon, hg. v. R. B. C. Huygens u. a. (CCCM 63), Turnhout 1963, S. v ; Fulcheri Carnotensis Historia Hierosolymitana, hg. v. Heinrich Hagenmeyer, Heidelberg 1913, S. 130–138, bes. S. 136; Athoff, Nunc, S. 36–67; Militia Christi e Crociata nei secoli XI– XIII. Atti della undecima Settimana internazionale di studio, Mendola 18 ag.–1 sett. 1989 (Miscellanea del centro di studi medievali 13), Mailand 1992; Le concile de Clermont de 1095 et l’appel / la croisade (Collection de l’Ecole FranÅaise de Rome 236, Rom 1997; Jonathan Riley-Smith, The First Crusaders 1095–1131, Cambridge 1997; Ders., Christian Violence and the Crusades, in: Anna Abulafia (Hg.), Religious Violence between Christian and Jews. Medieval Roots – Modern Perspectives, Basingtoke 2002, S. 3–20.

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Gewalttaten und Morde verübten – teils heimlich, teils öffentlich –, um Schrecken unter den Christen zu verbreiten. Anders als bei den Christen diene der Schrecken bei diesen Ungläubigen nicht der Abwehr von unrechter Gewalt und beschränke sich nicht zeitlich und räumlich und sei nicht auf Abwehr gegen Verbrechen gerichtet, sondern wüte von Anfang an, durch das Wirken von Mohammed ausgelöst, stets und überall und ohne Grund und Berechtigung, ja mache auch vor den eigenen Anhängern nicht halt.680 Der Schrecken der Muslime war definitorisch, haftete ihnen als unablöslicher Makel an, hatte keinerlei Nutzen. Gegen sie den reaktiven Schrecken anzuwenden, war von den Christen gefordert. Das Gebot des Gewaltverzichtes war geändert in eine vehemente Ahndung von Gewalttätern, erlaubte wiederum Gewalt, diesmal ausgegeben als Mittel zur Durchsetzung der Ordnung, wie sie Gott vorgesehen habe, und mündete schließlich in eine militante Gewalt gegen die Feinde der Christen – seien es Friedensbrecher oder Ungläubige. Die religiös gerechtfertigte Gewalt sollte Verhandeln ausschließen, welches durch einen Ausgleich der Interessen Konflikte hätte lösen können. Das Ziel bestand in der Überwältigung des Täters, der als Krimineller, als außerhalb der Rechtsgemeinschaft Stehender, als Ungläubiger, als Bedrücker der Christenheit galt. Ihn traf die ungehemmte Gewalt der Rechtgläubigen. Sie bedurfte keiner Abwägung. Die summarische Tötung aller muslimischen und jüdischen Einwohner von Antiocheia und Jersualem nach der Eroberung durch die Kreuzfahrer (von den okzidentalen Quellen glaubhaft belegt) hatte ein Vorbild in der im Alten Testament dargestellten Eroberung von Jericho durch die Israeliten und sollte die Reinheit der beiden heiligen Städte wieder herstellen.681 Indem die Könige sich nicht allein – seit dem zweiten Kreuzzug 1148 und 1149 – am Kampf gegen die Ungläubigen, sondern auch an den Friedensbündnissen in ihrer okzidentalen Heimat zu beteiligen begannen und Frieden schließlich durch eigene Verfügungen in Kraft setzten, gewannen sie nicht allein Anschluss an bestehende Verfahren, nicht allein die Verfügung über ein neues Herrschaftsinstrument und öffnete sich ihnen nicht allein ein Tor, neues Recht zu schaffen und Gesetze zu erlassen, sie wurden nunmehr auch in die Lage versetzt, die gewaltsame Sanktionierung von Regelübertretungen mit gesteigerter, religiös begründeter Rechtfertigung zu versehen. Bereits Herzog Wilhelm V. von Aquitanien hatte aus eigener Machtvollkommenheit den Frieden auf der Synode

680 Petrus Venerabilis, Summa totius haeresis Saracenorum, hg. v. James Kritzeck, Princeton 1964, S. 26f.; Christian Saßenscheid, Die Konstruktion des Anderen am Beispiel des Islam in der Summa totius haeresis Saracenorum des Petrus Venerabilis, in: Integration und Desintegration der Kulturen im europäischen Mittelalter, hg. v. Michael Borgolte u. a. (Europa im Mittelalter 18), Berlin 2011, S. 228–237. 681 Nikolas Jaspert, Die Kreuzzüge, Darmstadt 2003, S. 38–43.

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Die Eigenen, die Anderen und die richtige Unterscheidung

von Charroux im Jahre 1028 angemahnt.682 Die Friedensordnung, die sowohl durch Verfügung Kaiser Heinrichs IV. als auch durch den Eid mehrerer der großen Reichsfürsten in Mainz im Jahre 1103 errichtet wurde, erweiterte die Sanktionen. Weltliche Strafen und Gewaltmaßnahmen waren vorgesehen. Die Burgen derjenigen, die den Frieden nicht befolgten, sollten zerstört werden; die Friedensbrecher sollten Auge oder Hand verlieren; kleinere Übertretungen sollten mit Rutenschlägen und Haarabschneiden geahndet werden; den Lehensmännern sollten ihre Lehen entzogen werden. Die Sanktionsgewalt war aber ausdrücklich nicht allein dem Kaiser zugestanden, sondern lag in den Händen aller, die den Frieden beschworen.683 Der im folgenden Jahr in Fortführung des Mainzer Friedensbündnisses geschlossene schwäbische Frieden stand unter der Leitung des Herzogs Friedrich; auch er verdankte seine Geltung dem Eid der Beteiligten. Auch hier waren Gewalthandlungen und körperliche Strafen angedroht, die zu verhängen wiederum allen am Friedensabkommen Beteiligten zugestanden war. Anders als in Mainz ausgeführt, galt die Friedensordnung ausdrücklich als subsidiär zu den bisher angewandten gerichtlichen Verfahren, die also nicht außer Kraft gesetzt wurden und damit die Kompensationen zwischen Tätern und Opfern weiterhin ermöglichten.684 Auch in Frankreich begann die weltliche Gewalt auf die Instrumente zu setzen, die die Friedenssicherung bereitstellte. König Ludwig VII. versammelte im Juni 1155 geistliche und weltliche Fürsten aus dem Norden und Osten des Königreiches in Soissons und erließ eine Urkunde zur Vereinbarung eines Friedens. Noch war es nicht allein die Kompetenz des Königs, die wirksam war ; er reagierte auf Bitten des Klerus, und er erhielt die Zustimmung seiner Lehnsmannen, um die Bestimmungen in Kraft zu setzen. Der Eid war ausdrücklich kein Gehorsamseid ihm gegenüber, sondern ein Eid für den Frieden, der also ähnlich wie bei den Gottesfrieden eine Eidgemeinschaft konstituierte. Die Kombination von königlicher Gewalt und gemeinschaftlicher Rechtssetzung stellte einen Übergang dar zur Einrichtung genuin königlicher Gesetzgebung zur Sicherung des Friedens. Die Sanktionsandrohung in Soissons war nicht konkretisiert und kündigte lediglich an, dass der König von seiner Gerichtsbarkeit Gebrauch machen werde.685 Im Landfrieden, den König Friedrich I. unmittelbar nach seiner Thronbe682 Ademar von Chabannes, Chronicon, S. 189. 683 MGH Const 1, S. 125f.; über den Frieden berichten mehrere erzählende Quellen; zum Kontext: Elmar Wadle, Heinrich IV. und die deutsche Friedensbewegung, in: Investiturstreit und Reichsverfassung, hg. v. Josef Fleckenstein (Vorträge und Forschunen 17), S. 141– 173, S. 153. 684 Ebda., S. 614f. 685 Recueil des historiens des Gaules et de la France, Bd. 14, Paris 1806, S. 387f.; Yves Sassier, Louis VII, Paris 1992, S. 257–269.

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steigung 1152 für Deutschland verkündete, reservierte er für sich Kompetenzen der Sanktionierung der Friedensbrecher : Derjenige, der einen Menschen tötete, sollte selbst getötet werden; dem, der einen anderen verwundete, sollte die Hand abgeschlagen werden; wer einen anderen gefangen nahm, sollte eine hohe Geldbuße entrichten.686 Damit war die Reziprozität von Verbrechen und Strafe vorgesehen, was eine Einigung mit dem Gewalttäter ausschloss. Die Autorität des Königs war herausgefordert, um die Strafen zu verhängen. Ihm war die Aufgabe anvertraut, ein hohes Gut, den Frieden, zu schützen. Damit entfielen Schranken der Mäßigung, denn wo Gewalt und die Verletzung des Friedens zu ahnden waren, durfte keine Gnade und durfte kein Bemühen um Ausgleich walten, sondern es galt allein die Erfüllung des Auftrages, die der Herrscher sich selbst auferlegte in öffentlicher Versammlung. Die abschreckende Wirkung von Strafen war umso durchgreifender zu gestalten, als diese zugunsten der gegenwärtigen und künftigen Opfer von unrechter Gewalt zu verhängen waren. Der Schrecken stand nicht in Gegensatz zur Fürsorge; er diente ihr. Anders als in den karolingischen Mahnschriften galt nun das Gesetz des Friedens als Auslöser des Schreckens und der Liebe, nicht die Person des Herrschers. Die königliche Rechtsprechung in Konsequenz des Mainzer Landfriedens blieb eigentümlich vage und schlecht dokumentiert. Hingegen war die Verbreitung des Schreckens weitausgreifend, sollte jegliches Handeln des Herrschers erfassen und sich nicht nur auf die Gerichtsbarkeit beschränken, sondern alle treffen, um sie zur Einhaltung der Friedenssatzung zu bewegen.687 Könige und weltliche Herren traten in die Funktion, den beeideten Frieden durchzusetzen. Sie erweiterten auf diese Weise ihre Macht, verstärkten ihre Sanktionsgewalt, statteten sie mit gesteigerte Strenge aus. Ausgehend von einer religiösen Bewertung der Friedenssicherung vollzog sich der Übergang zu einer nicht mehr durch Konsens auszuhandelnden Ahndung von Verbrechen und Rebellionen, hin zur unerbittlichen Strenge der Gerechtigkeit. Die Entwicklung, die von den Gottesfrieden zu den Landfrieden überleitete, sah statt geistlicher Strafen vermehrt Körperstrafen, schließlich auch Todesstrafen vor.688 Entschädigung und Versöhnung, die von der conciliatio vorgesehen waren, wichen der strikten Sanktionierung von Vergehen, weil nicht mehr die Relation zwischen Täter und Opfer, sondern die zwischen Täter und der gesamten Gemeinschaft in Ordnung zu bringen war. Es gab folglich auch keinen Platz mehr für die gütliche 686 MGH Const 1, Nr. 140; Elmar Wadle, Frühe deutsche Landfrieden, in: Ders., Landfrieden, Strafe, Recht, Berlin 2001, S. 75–102. 687 Johannes Fried, Mündlichkeit, Erinnerung und Herrschaft. Zugleich zum Modus »De Henrico«, in: Political Thought, S. 9–32, S. 14. 688 Joachim Gernhuber, Die Landfriedensbewegung in Deutschland bis zum Mainzer Landfrieden von 1235, Bonn 1952; Hans Hattenhauer, Die Bedeutung der Gottes- und Landrieden für die Gesetzgebung in Deutschland, Marburg 1958.

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Die Eigenen, die Anderen und die richtige Unterscheidung

Versöhnungsbereitschaft des Königs.689 Aus einer gleichberechtigten Bindung, die auf dem gegenseitigen Eid beruhte, formten die Herrscher Bestimmungen zur rigiden Gewalteindämmung, die paradoxerweise die Gewalt, die sie selbst ausübten, rechtfertigten. Aus den Friedensbündnissen entsprangen Quellen ihrer Macht. Eine größere Gewaltbereitschaft folgte daraus. Um der strafenden Gewalt nicht allein zusätzliche Rigorosität einzuflößen, sondern ihr eine präventive Wirkung zu verleihen, war der Schrecken einzusetzen. Aus dem Streben zum Frieden folgte die Steigerung der Gewalt.690 Der Schrecken richtete sich gegen die Muslime, die sich ungerechterweise des Heiligen Landes bemächtigt hätten; er richtete sich zugleich gegen die Christen, die Friedensbrecher seien. Die Scheidung der Eigenen und der Anderen galt im Inneren der Christenheit und außerhalb von ihr. Erst die Aussonderung derjenigen, gegen die der Schrecken verbreitet werden sollte, rechtfertigte ihn. Die Rechtfertigung war aber gefährdet, wenn die Erfüllung der Aufgaben, die die Geistlichen und der Papst stellten, von ihnen bewertet wurde.

689 Gerd Althoff, Genugtuung (satisfactio). Zur Eigenart gütlicher Konfliktbeilegung im Mittelalter, in: Modernes Mittelalter. Neue Bilder einer populären Epoche, hg. v. Joachim Heinzle, Frankfurt a.M., Leipzig 1999, S. 247–265; Hagen Keller, Die Idee der Gerechtigkeit und die Praxis königlicher Rechtwahrung im Reich der Ottonen, in: La giusticia nell’alto Medioevo (secoli, IX–XI). Settimane di studio del Centro Italiano di studi sull Alto Medioevo 44), Spoleto 1997, S. 91–128. 690 Roger I. Moore, The Formation of a Persecuting Society. Power and Deviance in Western Europe 950–1250. Oxford 1987; Robert Bartlett, The Making of Europe. Conquest, Colonization, and Cultural Change 950–1350, London 1993.

VII. Negation der Legitimität der Herrschaft (von der Mitte des 11. bis zur Mitte des 12. Jahrhunderts)

1.

Fundamentalkritik der Kirchenreformer: Könige als Schreckensherrscher

Die Friedenssicherung erweiterte im 11. Jahrhundert die Legitimität der Könige. Aber deren rechtliche und ethische Bewertung war Angriffen ausgesetzt, eben weil sie in den religiösen Bereich ausgriffen, so dass die Geistlichen die Legitimierung von Herrschaftshandeln an sich ziehen konnten. Dadurch dass den Königen die Ausübung des Schreckens aufgetragen war und dass sie diese Aufgabe durchaus weiterhin, obgleich hinsichtlich der Zugehörigkeit zur Christenheit differenziert, wahrnahmen, bestand die Option, die Verbindung von Schrecken und Herrschaft kritisch zu bewerten und letztlich zur Abwertung des von der Herrschaft ausgeübten Schreckens zu verwenden, also ein Argumentationsmuster aufzugreifen, dass in der späten Antike Christen zur Kritik an der weltlichen Herrschaft eingesetzt hatten.691 Im hohen Mittelalter waren die Könige erneut Polemiken ausgesetzt, die ihre Legitimität in Frage stellten. Zwei Argumente wurden vorgetragen: Das erste verwies auf den Schrecken der Könige, und das zweite auf ihre nicht hinreichende oder minderwertige oder gar fehlende Nützlichkeit. Mit der Koppelung dieser Argumente war dem Anspruch, der Schrecken sei den Menschen förderlich – ein Anspruch, den insbesondere die karolingischen Fürstenspiegel erhoben hatten692 –, der Boden entzogen. Indem aber zugleich die prinzipielle Existenzberechtigung der Herrschaft nicht negiert wurde, war die Diskrepanz zwischen der guter Einwirkung und der schädlichen Macht nicht aufzulösen. Sie überließ die weltliche Herrschaft einem Verdikt, aus dem es kein Entrinnen gab oder doch nur eine Abmilderung des negativen Urteils, sofern Unterwerfung unter die Autorität der Geistlichen geleistet wurde. Die von den Königen beanspruchte Aufgabe der Friedenssicherung forderte eine Bewertung der erbrachten Leistungen und Ergebnisse. Viele 691 Siehe Kap. IV.3–5. 692 Siehe Kap. V.5.

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Negation der Legitimität der Herrschaft

geistliche Autoren erachteten sie als ungenügend, mitunter gar als schädlich für die Christenheit. Sie bestritten und entwerteten eine Herrschaft, die als Gegenbild und zum Teil auch als Gegenmacht zur geordneten Hierarchie der Kirche vorgestellt wurde. Nachdem seit der Mitte des 11. Jahrhunderts die Eingriffe weltlicher Herren in kirchliche Angelegenheiten als Unrecht bezeichnet und abgewehrt wurde, ging die Kritik an den Königen dazu über, die Legitimität des königlichen Amtes insgesamt in Zweifel zu ziehen und seine Funktion in der Friedenssicherung als dysfunktional abzuwerten. Dem Schrecken des Königs einen Nutzen zuzubilligen, ihn als Instrument des Kampfes gegen das Unrecht zu rechtfertigen, wurde problematisch. Der Schrecken wurde zum Makel. Anders als in der Antike wurde dieser Makel nicht nur definitorisch in die Institution der Herrschaft eingesetzt, sondern als Beweis einer moralischen Verfehlung der Herrscher verwendet, deren Fehler gleichwohl mit dem Amt verbunden waren und nicht einfach abgestreift werden konnten. Ein unbekannter Autor, vermutlich ein Geistlicher aus Frankreich im 11. Jahrhundert, verurteilte die weltlichen Herrscher, die – ohne Ausnahmen – mit Schwert und Blut vorgingen, dabei von Gott verworfen seien, hingegen vom Teufel angestachelt seien und sich von den Geistlichen unterschieden, die in Liebe sich den gläubigen Christen zuwendeten.693 Der Ton war angestimmt, den auch andere anklingen ließen, wenn sie die weltliche Gewalt als minderwertig abqualifizierten, selbst wenn sie einen Nutzen, aber minderer Art, der Herrschaft zubilligten. Den Gegensatz von priesterlicher Fürsorge und herrscherlicher Gewalt, die – mag sie noch so notwendig sein – denjenigen, der sie ausübte, als Verbreiter von Elend und Schrecken verurteilte, hat Petrus Damiani (1007–1072) besonders nachdrücklich ausgeführt. Er war Eremit aus Mittelitalien, beteiligte sich an den Auseinandersetzungen zur Reform von Kirchen, forderte deren Befreiung von laikalen Eingriffen, bekämpfte Simonie und Priesterehe und wurde am Ende seines Lebens Kardinalbischof.694 Petrus Damiani verteidigte zwar die prinzipielle Nützlichkeit der weltlichen Herrscher, da sie die Übeltäter straften, aber ihre Tätigkeit verlange doch stets den Schrecken und sei deswegen mit einem Fehler behaftet, wohingegen das andere Amt in der Christenheit, das der Priester, durch Milde und Barmherzigkeit ausgezeichnet sei. Den Geistlichen gelinge es, die Menschen liebend und ermahnend auf den rechten Weg zu führen. Die weltliche Gerichtsbarkeit ist abgewertet, nötig sei sie dennoch, denn durch die leibliche Bestrafung habe der Sünder die Chance, der ewigen und göttlichen zu entrinnen. 693 De ordinando pontifice auctor Gallicus, in: MGH LdL 1, S. 8–14, S. 14. 694 Stephan Freund, Studien zur literarischen Wirksamkeit des Petrus Damiani (MGH. Studien und Texte 13), Hannover 1995; Lorenzo Paolini, Teocrazia e riforma, in: Pier Damiani. L’eremita, il teologo, il riformatore (1007–2007), hg. v. Maurizio Tagliaferri, Bologna 2009, S. 295–324.

Fundamentalkritik der Kirchenreformer: Könige als Schreckensherrscher

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Aus der nicht abzustreifenden Verfehlung von weltlicher Gewalt gab es also keine Ausflucht, vielmehr galt die Verkettung der Herrscher an den minderwertig bewerteten Aufgaben als unlösbar und auch noch als notwendig. Deswegen seien gemäß der Auffassung von Petrus Damiani, die er in einer Herzog Gottfried von Lothringen, dem Gatten von Mathilde von Tuszien und Förderer der Kirchenreform, gewidmeten Schrift ausführt, Nachsicht und Milde bei den weltlichen Herrschern unangebracht, vielmehr sei die Ausübung von Furcht verlangt, um das Unrecht auszumerzen. Wer viel Honig zu sich nehme, erleide Schaden. Die Sünder dürften nicht geschont werden, da sonst die Sünden zunähmen. In einer monarchia, wo so viele rohe Menschen lebten, seien ihnen Fesseln anzulegen. Der vigor iusticiae müsse die Geltung des Gehorsams erzwingen. Strenge Strafen nicht zu verhängen, führe nur dazu, die tollkühne Freiheit der Verbrecher hemmungslos ausleben zu lassen. Die schwankende Hand des Arztes vergrößere nur die Wunde des Kranken. Eine ungeordnete pietas nähre doch nur die impietas; deswegen seien Zuneigung und Liebe seitens der Herrscher unangebracht, um die Untertanen anzuleiten. Der angesprochene Herzog solle nicht davon ablassen, mit Strenge und Gewalt zu strafen, denn unterschiedlich seien die Aufgaben in der Christenheit, in der die Priester mit mütterlicher Barmherzigkeit, die Richter indes mit väterlicher Grausamkeit, ohne zu zögern, die Verbrecher verfolgten. Petrus Damiani breitet eine Fülle von Bibelstellen aus, um die strafende und ungezügelte Gewalt der weltlichen Herrscher einzufordern. Er zitiert u.a das Buch Ecclesiasticus: Wer seinen Sohn liebt, traktiert ihn mit Geißeln; man korrigiert ihn nicht, indem man ihm nicht Leid zufügt (Eccl 30). Wenn, so die Folgerung von Petrus Damiani, dies für einen Vater gelte, dann umso mehr für einen Fürsten, der sein Volk unterdrücke, damit die Menge nicht durch die Tollheit der ungezügelten Freiheit zugrunde gehe. Was gibt es, so die rhetorische Frage, in der christlichen Religion besseres, als den unrecht Handelnden die Disziplin der gesetzlichen Strenge aufzuerlegen? Diese Strenge soll sich gegen die Gegner der Kirche und die Unterdrücker der Menschen richten. Gibt es etwas Süßeres – so die weitere Frage –, als die Kinder aus den Klauen der ungerechten Gewalthaber zu entreißen, Witwen zu verteidigen, Unterdrückte zu erheben, Beraubte und Enteignete wieder in ihre Rechte einzusetzen? Der Nutzen der Gewalt gilt Petrus als gesichert, wenn sie gegen eine schlechte Gewalt gerichtet ist; dann soll sie unbeschränkt sein. Aber dies verhindere nicht, dass den Herrschern stets eine Gewalt übergeben sei, deren Ausübung sie erniedrige und die sie von dem Guten entferne, das zu pflegen vielmehr den Geistlichen vorbehalten sei. Nicht mehr wie zur Zeit der Karolinger sowohl Liebe als auch Schrecken, sondern nur noch der Schrecken war der weltlichen Herrschaft anvertraut. Wenn die Ausübung eines Amtes betroffen war, galt nunmehr die Liebe als Alleinstellungsmerkmal der Geistlichen. Je mehr die Fürsten in die gewaltsamen, strafenden und unterdrückenden Funktionen

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Negation der Legitimität der Herrschaft

abgedrängt wurden, umso leuchtender trat das Amt der Priester hervor. Die Legitimität der Könige und Fürsten wurde zwar von Petrus Damiani nicht angetastet; ihre Aufgabe, in der Christenheit Schrecken zu verbreiten, mahnte er vielmehr ausdrücklich an, aber Petrus sah in den Herrschern gleichwohl gewaltsam handelnde Personen, die sich mit Blut befleckten und in minderer Position im Vergleich zu den Geistlichen verharrten.695 Dies galt selbst für einen Fürst, wie Gottfried, der in Opposition zu König Heinrich IV. stand und den Petrus als Verteidiger der Kirche würdigte.696 Indem die Gewalt auf eine Sanktions- und Gewaltkompetenz beschränkt wurde, bedurfte sie zu ihrer Rechtfertigung und guten Handhabung der Priester. Der Priester bedurfte sie aber vor allem zu ihrer Kompensation, um auch die Liebe auf die Menschen einwirken zu lassen, damit sie nicht allein dem Schrecken überlassen wurden. Die scharfe Aufgabentrennung entzog den Herrschern die Liebe. Haben Isidor von Sevilla und andere Autoren bis zum 9. Jahrhundert weltliche Gewalt komplementär zu geistlichen gesetzt, dann in der Weise, dass die Gewährung von Liebe und die Ausübung von Schrecken den Königen aufgetragen seien. Petrus Damiani aber weist der Herrschaft einzig den Schrecken zu. Ihr ist die Unordnung zu eigen, allein in der Kirche gibt es die Ordnung. Herrschaft ist einer komparativen Abwertung ausgesetzt. Andere Autoren gingen noch weiter. Sie kritisierten die Gewalt der Herrscher, indem sie ihr auch noch den Nutzen absprachen. Die Unterscheidung zwischen König und Tyrann wurde als Argument weiterhin verwendet, wurde indes ausgeführt, um an das Königtum eine definitorische Zuschreibung anzuheften, die realiter nicht abgewendet wurde. Machterweiterung und die Gewalt, die die Könige einsetzten, führten fast immer zum Schaden der Kirchen und der Christen. Statt den Dienst für die Kirche zu leisten, handelten sie meist gegen sie. Die Legitimität war ausgezehrt, weil den weltlichen Herrschern ein genuiner, nicht verliehener, nicht abgeleiteter Anspruch vorenthalten war, dass ihr Handeln und dessen Ziele dem Nutzen der Kirche und der Christen dienlich gemacht werden könnten. Die Steigerung einer Macht, der sich des Schreckens bediente, selbst wenn dieser den Frieden verteidigen sollte, stand unter dem Verdacht, nichts anderes als Unterdrückung zu beabsichtigen und zu erreichen. Dies war die Thematik, die Humbert von Silva Candida (ca. 1006–1061) in seiner Schrift gegen die Simonie ausführte. Er war Benediktiner im lothringischen Kloster Moyenmoutier, wurde vom Bischof von Toul, Bruno, gefördert, kam mit ihm, nachdem dieser Papst geworden war und den Namen Leo IX. angenommen 695 Petrus Damiani, De principis officio, Sp. 820, 825f. 696 Fridolin Dressler, Petrus Damiani. Leben und Werk, Rom 1954, S. 138–144; Egon Boshof, Lothringen, Frankreich und das Reich in der Regierungszeit Heinrichs III. in: Rheinische Vierteljahresblätter 42 (1978), S. 63–127.

Fundamentalkritik der Kirchenreformer: Könige als Schreckensherrscher

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hatte, nach Rom, war seit 1051 Kardinal, häufig als Legat eingesetzt und war einer der eifrigsten Verteidiger der kirchlichen Rechte und der vehementeste Kritiker der Simonie. Für Humbert war der Schrecken das Kennzeichen all derer, die gegen die Kirche und den wahren Glauben in den Kampf zogen; ihre Liebe hingegen sei nur vorgetäuscht. Dies gelte für alle Mächtigen. Ihnen war jede Rechtfertigung verwehrt, sofern sie sich mit der Ausübung der Macht beschäftigten. Die Motive und Wirkungen ihres Handelns seien entweder verwerflich oder beruhten auf Heuchelei, sofern sie sich nicht der Kirche unterwürfen und in ihrem Auftrag handelten und dann vom Erwerb und von der Sicherung der Macht abließen. Legitimität konnte nicht aus dem weltlichen Handeln selbst entstehen, sie sollte von der Kirche verliehen werden, ansonsten sie zu einem Nichts verschwände. Die Herrschaft war das Ergebnis der Sünde, und sie wurde sündhaft ausgeübt. In einer Welt ohne Sünde wäre die weltliche Zwangsgewalt, so Humbert, gänzlich überflüssig. Dass dies auch von der Kirche hätte gesagt werden können, lässt er beiseite.697 Die Überlieferung des Werkes von Humbert war gering (nur eine überlieferte Handschrift), aber die Wirkung seiner Auffassungen muss allein schon wegen seiner Beteiligung an zahlreichen römischen Synoden als hoch eingeschätzt werden, und die von ihm aufbereiteten Argumente stützten die päpstlichen Ansprüche, die berechtigt galten, um einer weltlichen Gewalt gegenüberzutreten, deren Wesen weniger aus einer kirchlichen Delegierung, sondern mehr aus einem humanen Fehler abgeleitet wurde. Aus ihm erwuchsen Furcht und Schrecken.698 Sofern die Geistlichen den rechten Gebrauch der Macht steuern, entbehren die Herrscher einer ihnen eigenen, von ihnen selbst hergestellten Legitimität. Eine Tugend, die den Herrschern eigen wäre, entfällt ebenfalls. Die Herrschaft ist zu bändigen, nur so kann sie Gutes hervorbringen. Erst aus der Negation der weltlichen Gewalt erwächst das Gute. Dies war der Tenor der Kritik. Im 11. Jahrhundert, in den Auseinandersetzungen zwischen den Päpsten und den 697 Humberti Cardinalis libri III adversus simoniacos, in: MGH LdL1, S. 95–253, S. 206–224; John Thomas Gilchrist, Humbert of Silva Candida and the Political Concept of Ecclesia in the 11th-Century Reform Movement, in: Journal of Religious History 2 (1962), S. 13–28, Uta-Renate Blumenthal, Humbert von Silva Candida, in: Theologische Realenzyklopädie 15, Berlin, New York 1986, S. 682–685. 698 Gerd Tellenbach, Die westliche Kirche vom 10. Bis zum frühen 12. Jahrhundert (Die Kirche in ihrer Geschichte 2,1), Göttingen1988, S. 152; Tilmann Struve, Die Stellung des Königtums in der politischen Theorie der Salierzeit, in: Die Salier und das Reich, hg. v. Odilo Engel u. a., Bd. 3, Sigmaringen 1991, S. 163–171; Laudage, Gregorianische Reform, S. 23– 26; Margrit Dischner, Humbert von Silva Candida. Wirkung und Nachwirkung des lothringischen Reformmönches, Neuried 1996; skeptisch zur Rezeption: Wilfried Hartmann, Der Investiturstreit, München 1993, S. 62: die Werke »erreichten wohl nie ein größeres Publikum«.

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Negation der Legitimität der Herrschaft

weltlichen Herrschern, wurde bestritten, dass Liebe mit Macht verbunden sein könne. Der Schrecken, den die Macht verbreitet, wurde zum Merkmal des verwerflichen Ursprungs und der schädlichen Zielsetzung des Handelns der Mächtigen. Das Gewalthandeln sei kein Instrument, um zu strafen, sondern um Schaden zu stiften. Es wurde als Ergebnis einer grundsätzlich verderbten institutionellen Komposition gedeutet, deren schädliche Auswirkung allein durch die Besserung einzelner Individuen dank priesterlicher Einwirkung korrigiert werden könne, ohne die Institution selbst zu rechtfertigen. Der rechte Gebrauch der Herrschaft verlange die Unterordnung unter die Fürsorge der Priester, was bedeutet, dass das eigenständige Handeln der Könige nichts hervorzubringen in der Lage sei, was den Menschen nützlich wäre. Die Verweigerung der Legitimität knüpfte an Augustinus an. Sie verband diese Auffassung nun aber mit einem Appell, der an die Person des Herrschers gerichtet war, nicht aber dessen Herrschaft rechtfertigen konnte. Der Makel der Herrschaft blieb haften. Diese Aufassung fand Eingang am päpstlichen Hof. Papst Gregor VII. (1073–1085) stellte das Königtum in Gegensatz zum Priestertum. Weder für Gott noch für die Menschen sei es dienlich. Selbst die Einsetzung durch Gott bestritt Gregor. Seine Briefe sind in einem Register überliefert. Gregor schrieb in einem dieser Briefe: »Das Königtum ist gegründet von Männern, die von Gott nichts wissen, die sich erdreisten, über ihre Mitmenschen Herrschaft auszuüben, wozu sie der Teufel angestiftet hat.«699 Gregor verneinte, dass der König – es handelte sich um Philipp I. von Frankreich – Frieden stifte; vielmehr verursache er selbst den Unfrieden in seinem Königreich. Nicht allein die Person, nein die Institution war getroffen, da sie schlicht keinen Nutzen hervorbringe. Die Person selbst war ebenfalls Beschuldigungen ausgesetzt. In einem Schreiben vom 10. September 1074 an die französischen Bischöfe warf Gregor VII. König Philipp eine Vielzahl von Verbrechen vor, deren Opfer nicht allein Kirchen und Geistliche seien, sondern alle Bewohner des Königreiches. Nicht genug, dass überall Raub und Mord wüteten, dass die Menschen, angetrieben von Habsucht, ihren Nachbarn und Brüdern deren Gut entwendeten, so dass diese in Elend ihr Leben fristen müssten; der König selbst sei Urheber all dieser Schändlichkeiten, so dass man ihn in Wahrheit weniger als rex, sondern mehr als tyrannus bezeichnen müsse. Eine Geißel sei er seinen Untertanen, weit davon entfernt, ihnen Nutzen zu bringen. Die Gewalt, die er ausübe, diene nicht dem Wohl des Königreiches, sondern führe zu Raub, Ungerechtigkeit und Betrug. Statt Verteidiger von Gesetz und Gerechtigkeit zu sein, sei er ein Jäger von Beute; wie ein Wolf durchstreife er das Land; sein Schwert habe er mit Blut beschmiert. Es sind die Bischöfe, die aufgerufen seien, das Recht zu verteidigen, und davon dürften sie sich auch nicht aus Furcht abhalten lassen. 699 Register Gregors VII., II, S. 552.

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Nichts bleibt von der Aufgabe des Königs, Frieden zu sichern und zu wahren. In einem weiteren Brief an Erzbischof Manasse von Reims wiederholte Gregor den Vorwurf, Philipp sei ein räuberischer Wolf und ein ungerechter Tyrann. Papst Gregor stellte den König außerhalb der Beziehungen der Liebe. Sie bestehe stattdessen zwischen den Bischöfen und dem Papst. Der König hingegen verbreite Furcht. Gregor erachtet die Furcht als schädlich, erstens, weil sie einem Menschen gegenüber unangemessen sei, seinem Wesen widerspreche, und zweitens, weil sie zu nichts Gutem führe.700 Die persönliche Beschuldigung verwies auf die Dichotomie von König und Tyrann. Aber die Kennzeichnung als tyrannisch war mehr als nur ein Abgleiten des Königtums in Ungerechtigkeit, sondern war die Feststellung einer Unmöglichkeit, den König in die Beziehungen der Liebe einzuführen. Nicht andere Personen, sondern andere Amtsträger, die der Kirche, waren – unabhängig von persönlichen Verdiensten – in der Liebe eingebunden. Deutlicher noch negierte Gregor in einem Schreiben vom 25. Juli 1076 an alle Geistlichen und Herrscher im Römischen Reich einen Gewinn, den die Furcht vor dem König erbringen könnte. Im Gegenteil, sie sei die Quelle von Ungerechtigkeit. Der Papst ermahnte alle, gegen König Heinrich IV. einzuschreiten, ihn von seinem üblen Tun abzuhalten. Gregor warnte davor, sich durch Furcht oder durch Gnadenerweise von der Befolgung seines Befehls, des obersten Seelsorgers der Christenheit, abhalten zu lassen. Alle müssten den Umgang mit dem vom Papst abgesetzten König Heinrich IV. beenden. Mit ihm solle keine Gemeinschaft, keine Freundschaft bestehen. Alle Emotionen, die von Schrecken und Liebe, Furcht und Gunst, von Freundschaft und Zuneigung, jede Treue und jede Unterwerfung im Verhältnis zu allen Königen hielt Gregor für gefährlich, weil sie die weltlichen Herrscher gebrauchten, um der Christenheit zu schaden und um Gehorsam gegenüber der Kirche zu verhindern. Gregor benennt die herrschaftlichen Einwirkungen, gegen die es sich zu widersetzen gelte: Schrecken und Liebe. Sofern von den Königen eingesetzt, seien beide verwerflich, denn sie störten die gute Ordnung der Gemeinschaft der Christen und die Autorität der Kirche.701 In einem Brief an Lanfranc, Erzbischof von Canterbury, verlangt Gregor, dass nicht der mundane potestatis terror und genauso wenig der cuiusquam persone superstitionis amor die Anhänglichkeit zur römischen Kirche und zu ihm selbst, als dessen obersten Hirten, verringern dürften. Um dies zu verhindern, solle Lanfranc sich beeilen, die vorgeschriebene Reise an den päpstlichen Hof nun endlich zu unternehmen.702 Was die Herrscher einforderten, Liebe, Furcht und Schrecken, galt als 700 Ebda., I, S. 129–133, 168f. 701 Ebda., I, S. 289–292. 702 Ebda., II, S. 443.

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schädlich. Auch der Papst habe sich vor Schrecken und Liebe gegenüber den Königen zu hüten, wie er in einem Brief an die geistlichen und weltlichen Fürsten Deutschlands vom 31. Mai 1077 verkündete; er selbst lasse sich – auch in der Bedrängnis durch die Angriffe der Könige – weder durch deren Schrecken noch durch deren Liebe von seiner Anstrengung, die Gerechtigkeit zu mehren, abbringen. Das Schreiben war offensichtlich weithin bekannt gemacht worden. Das dem Papst wohlgesonnene Buch Brunos über den Sachsenkrieg hat es zitiert und als Argument für die Verwerflichkeit König Heinrichs IV. verwendet.703 Sofern der König im Krieg gegen seine Feinde erfolgreich sei, so Bruno, geschähe dies nur, weil er Furcht verbreite.704 Papst Gregor VII. hat vor allem in dem Brief an Bischof Hermann von Metz die tradierte Berechtigung des Königtums gründlich demontiert. Nicht allein wurde die sakrale Würde der Könige verneint, nicht allein bestritten, die Herrscher könnten Wunder vollbringen, nicht nur die Existenz heiliger Könige als seltene Ausnahme hingestellt, noch einschneidender war der Angriff auf die legitime Abfolge des Amtes vom Vater auf den Sohn. Die elterliche Sorge für die Kinder, deren Verehrung für den Vater und die Erbfolge wurden als Regungen des Fleisches abgetan. Liebe in der Familie sei keine Tugend; ja, sie sei schädlich. Denn sie verhindere, dem Besten zu gehorchen und für alle zu sorgen. Mehr als die leiblichen, sei es geboten, die geistlichen Eltern zu ehren. Wer wüsste nicht, so fragt Gregor, dass die Könige und Fürsten von Menschen abstammten und solche seien, die fern von Gott stünden und Gewalttaten, Plünderungen, Verrat, Raub, Mord verübten. Statt in jedem Fall den eigenen Sohn an die Spitze der Herde zu stellen, für die Christus sein Blut vergossen habe, sei es besser, den Geeigneteren und Nützlicheren zum Herrscher zu bestellen. Das hier erkennbare Amtsverständnis verträgt sich nicht mit einer familiär begründeten Herrschaft. Sie allein durch die Fortsetzung des Amtes innerhalb der Familie zu übertragen, berge die Gefahr, dass sie in die Hand von schlechten Menschen gerate. Die res publica verlange aber doch andere Gesetze als die der Familie. Aber bedauerlicherweise kämen sie in Wirklichkeit nicht zur Anwendung. Die kirchliche Hierarchie forme das Gegenbild, bei der die Bischöfe allen Menschen in Zuneigung verbunden seien, nicht die Mitglieder der Familie liebten, nicht die eigenen Nachkommen förderten und das Heil der Christenheit nicht vor den Nutzen der leiblichen Verwandten stellten. Gehorsam gegenüber Anführern sei vielmehr verlangt, die – wie dies in der Kirche geschehe – durch eine normen703 Ebda., II, S. 336–338; Brunos Buch vom Sachsenkrieg, S. 95f.; Gerd Althoff, Stephanie Cou8, Pragmatische Geschichtsschreibung und Krisen. Zur Funktion von Brunos Buch vom Sachsenkrieg, in: Pragmatische Schriftlichkeit im Mittelalter. Erscheinungsformen und Entwicklungsstufen, hg. v. Hagen Keller (Münstersche Mittelalter-Schriften 65), München 1992, S. 95–107. 704 Brunos Buch vom Sachsenkrieg, S. 45.

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gebundene Nachfolgeregelung und aufgrund der Wahl der Besten eingesetzt seien. Die vom Papst konzipierten Ideen laufen darauf hinaus, abstrakte, von Personen unabhängige, allein über Institutionen, Bestenauslese und Amtsinhaber verwaltete Herrschaft zu begründen und eine dynastisch begründete Einsetzung der Herrscher zu entwerten. Aus der derart konzipierten kirchlichen Herrschaft entspringe das Gute, aus der weltlichen das Böse. Gregor schrieb: Alle Könige und Fürsten, sofern sie nicht fromm lebten, in ihren Taten keine Gottesfurcht erkennen ließen und den Geistlichen nicht gehorchten, brächten das Elend der Knechtschaft über ihre Untertanen. Angetrieben von ihrer eigenen Lust suchten sie andere Menschen zu beherrschen. Königliche Würde – dignitas – sei gefährlich und eine Quelle von Furcht, so dass von deren Inhabern nur wenige zum ewigen Heil kämen, wohingegen unter den Dienern der Kirche viele die ewige Seligkeit erlangten. Unter den wenigen zum ewigen Heil emporgehobenen Herrschern nennt Gregor die Kaiser Konstantin, Theodosius, Honorius, Karl den Großen und Ludwig den Frommen, die die christliche Religion geliebt und verteidigt hätten. Aber wo sind andere Beispiele von vorbildlichen Herrschern? Die rhetorische Frage lässt offensichtlich nur eine Verneinung zu; jedenfalls wird niemand genannt. Das Schreiben an Hermann von Metz gehört zu den am besten überlieferten Briefen Gregors VII. Es kursierte in mehreren Exemplaren. In Chroniken und Streitschriften wurde es zitiert. Die größte Wirkung erzielte es seit dem 12. Jahrhundert. Vor allem durch die Aufnahme von Passagen in die Kirchenrechtssammlungen, auch in die von Gratian, formte es während der folgenden Jahrhunderte die Auffassungen von Kanonisten und Theologen.705 Damit war auch die Überlegung in den folgenden Jahrhunderten präsent, dass die Furcht und der Schrecken, die dem Herrscher zukämen und die er verbreite, keinen Nutzen brächten, vielmehr Unheil schüfen. Nichts anderes gelte auch für die Liebe des Herrschers und für die Liebe zum Herrscher. Sie seien schädlich, seien von der wahren Liebe der Christen nicht nur verschieden, sondern verhinderten sie. Die Ent-Sakralisierung von weltlicher Herrschaft beließ den Königen nur noch die grausame Macht, die durch fehlgeleitete Gefühle ausgeübt würde und nur dann gerechtfertigt sei, sofern die Geistlichen ihr zu Sinn, Ziel und Berechtigung verhalfen.706 Dass Gregor der königlichen Macht

705 Register Gregors VII., II, S. 544–63; zur Aufnahme in Kirchenrechtssammlungen und kanonistischen Kommentaren siehe ebda., S. 544f.; das Dekret Gratians hat aus dem Brief zitiert und ihm damit die folgenreichste Rezeption gesichert; Corpus iuris canonici, I, Sp. 756; Stürner, Peccatum, S. 136–138. 706 Franz-Reiner Erkens, De pia Dei ordinatione rex und die Krise sakral legitimierte Königsherrschaft in spätsalisch-frühstaufischer Zeit, in: Vom Umbruch zur Erneuerung? Das 11. und beginnende 12. Jahrhundert. Positionen der Forschug, hg. v. Jörg Jarnut, Matthias Wemhoff (Mittelalter-Studien 13), München 2006, S. 71–101.

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eine teuflische Ursache unterstellt hätte, wie einst Otto von Gierke annahm707 und mit einem einzigen Schreiben belegte, ist freilich nicht erwiesen; das von ihm angeführte Schreiben beharrt vielmehr darauf, dass der Fehler der weltlichen Herrschaft notwendig sei, allein schon um den Vorrang der geistlichen umso höher erstrahlen zu lassen. Beide trennte ein tiefer Graben der Nützlichkeit und der Gottesnähe, nicht aber einer, der strikt zwischen Berechtigung und Nicht-Berechtigung unterschied. So verwerflich die weltliche Herrschaft auch galt und so sehr sie auch in ihrem Wesen als verwerflich gedeutet war, so wenig war ihre Existenzberechtigung negiert. Ähnlich haben auch andere Zeitgenossen Gregors – ebenfalls mit großer Nachwirkung – die weltliche Herrschaft abgewertet. Sie haben Tugend gegen Abstammung, verdienstvolles Handeln gegen Würde und Rang, das Sein gegen den Namen ausgespielt. »Es ist etwas anderes, durch Verdienst heilig zu sein, als wegen eines Ranges heilig genannt zu werden«, schrieb Petrus Damiani und griff mit der Aussage den Anspruch auf sakrale Würde der Könige an. Manegold von Lautenbach († vermutlich 1103), der gelehrte Augustinerchorherr und Gegner Heinrichs IV., dessen Anhänger das Stift Lautenbach, in das er eingetreten war, 1085 zerstörten, trennte die Funktion des Amtes von seinem personellen Träger. Nicht aus der Person, sondern aus dem Amt leite sich die Macht ab. Der Herrscher müsse sich dabei genauso an seinen Leistungen messen lassen wie ein Schweinehirt. Genauso wie dieser verjagt werden könne, wenn er seine Aufgabe vernachlässige, habe auch jener kein Anrecht darauf, sein Amt der Herrschaft auszuüben oder gar zu vererben, wenn er seinen Pflichten nicht genüge. In diesem Fall werde er zum Tyrann, höre er auf, König zu sein, und entlasse ipso facto seine Untertanen aus der Gehorsamspflicht. Der Tyrann sei nicht nur grausam, sondern auch nutzlos. Die Untertanen, die nichts Gutes von ihm erwarten könnten, zwinge er mit Gewalt zum Gehorsam. Manegold führt darüber hinaus sexuelle Perversionen als Merkmale der ihr Amt verleugnenden Könige ein. Wie so viele unwürdige Bischöfe abgesetzt worden seien, sei es nur richtig, dies auch mit unwürdigen Königen zu tun.708 Wurde auch grundsätzlich die Legitimität des Königs anerkannt, so doch eine beständige Akzeptanz eingesetzter Herrschaft verweigert. Denn die Ausübung 707 Otto Gierke, Johannes Althusius und die Entwicklung der naturrechtlichen Staatstheorie, Breslau 1912, S. 62. 708 Petrus Damiani, Liber gratissimus, in: MGH LdL 1, S. 15–75, S. 31; Manegold von Lautenbach, Ad Gebehardum Liber, hg. v. K. Francke, ebda., S. 300–430, S. 365f.; Wilfried Hartmann, Manegold von Lautenbach und die Anfänge der Frühscholastik, in: DA 26, 1970,S. 47–145; Horst Fuhrmann, »Volksouveränität« und »Herrschaftsvertrag« bei Manegold von Lautenbach, in: Festschrift f. Hermann Krause, hg. v. Sten Gagn8r u. a., Köln 1975, S. 21–42; Horst Fuhrmann, Zur Biographie des Manegold von Lautenbach, in: Ovidio Capitani: Quaranta anni per la storia medievale, hg. v. Maria C. de Matteis, Bologna 2003, S. 37–62.

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von Gewalt wurde nur gerechtfertigt, wenn sie sich gegen die Ungerechtigkeit wendete und die Kirche vor ihren Verfolgern schützte. Aber diese Gewaltausübung stehe nicht in der Verfügung der weltlichen Herrscher, sondern müsste von Geistlichen angeordnet werden. Dies war die Auffassung von Bonizo von Sutri, Bischof dieser Stadt und Anhänger Papst Gregors VII.709 Er schrieb: »Selig sind diejenigen, die Verfolgung ausüben.« Sowohl der Ursprung der Gewalt (angeordnet von den Priestern) als auch ihre Zielsetzung (die Verfolgung der Feinde der Kirche) rechtfertigten nach seiner Auffassung, Gewalt zu gebrauchen. Mit einer Pervertierung der Lobpreisungen der Bergpredigt formte Bonizo das Argument, die Verfolgung der Feinde der Kirche zu verlangen, die Beauftragung hierzu den Geistlichen zuzuweisen und die Ausführung den Laien aufzutragen. Mehr noch als andere gregorianische Reformer entzog Bonizo der weltlichen Herrschaft, auch der des Königs, eine autonome, von der Kirche unabhängige Berechtigung. Die Folge war : Nun traten die Kirche und an ihrer Spitze der Bischof von Rom unmittelbar in die Position derer ein, von denen die Gewalt ausging. Nicht einmal in einer arbeitsteiligen Gewaltanwendung fand das Königtum seine Berechtigung, nur in der Unterordnung unter die Befehle der Priester. Die Tötung der Feinde war verlangt, sofern dies der Kirche nützte und sie es befahl, so wie dies auch Papst Gregor VII. vorsah, als er die zähringischen Herzöge Rudolf und Berthold zur Verfolgung simonistischer Priester und zur Gewaltanwendung gegen sie aufforderte. Der Verweis auf das erste Buch Samuel, häufig eingefügt in den Briefen Gregors VII. und in der Schrift von Bonizo Liber ad amicum sowie in den Invektiven gegen Heinrich IV., die ein weiterer Vertrauter des Papstes, Anselm von Lucca (1036–1086) verfasste, diente nicht dem Beweis, dass die Könige verwerflich seien, weil sie grausam handelten, vielmehr galt die in der Bibel berichtete Weigerung von König Saul, alle seine Feinde ausnahmslos zu töten, wie von Gott befohlen (1 Sam 15,3–22), als Beleg für die Minderwertigkeit des Königs und mit ihm aller Könige, da sie nicht den Anweisungen Gottes gehorcht hätten. Nicht massenhaftes Töten und Brutalität entwerteten das Königtum, sondern die nicht vollständig ausgeführte Grausamkeit galt als Missachtung des Gehorsams gegenüber Gott und als Verfehlung der Aufgaben, die dem König aufgetragen seien. Gregor VII. und seine Vertrauten verlangten auf der Grundlage ihrer Interpretation der Bibelstelle nunmehr einen Gehorsam, den alle dem Papst leisten müssten, weil er es sei, der den Willen Gottes kundtat, und er die Gewalt befahl, die ausdrücklich das massenhafte Töten vorsah.710 Kirche und Papst okkupierten einen Handlungsbereich, der unbarmherziges, grausames Tun verlangte, suchten so die weltlichen Herrscher sogar aus der 709 Thomas Förster, Bonizo von Sutri als gregorianischer Geschichtsschreiber, Hannover 2011. 710 Althoff, Selig, S. 46–51, 76–84, 89–92.

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ihnen bis zum 11. Jahrhundert anerkannten alleinigen Kompetenz des Gewalthandelns herauszudrängen. Aber der Schrecken haftete als Makel weiterhin an ihnen; und sogar auch noch die Liebe wurde, so die Anhänger der Päpste, in ihrer Umgebung als schändlich angesehen. Schrecken und Liebe setzten die Herrscher verfehlt ein. Im Liber canonum contra Heinricum quartum schrieb um das Jahr 1080 der mutmaßliche Autor, Bernhard von Konstanz, eine Aussage Augustins übernehmend, dass der terror temporalium potestatum die Gerechten heimsuche und die Schwachen in Versuchung führe. Jede Macht weltlicher Herrscher werde gefürchtet und sie verbreite Schrecken. Deswegen sei jede Macht schlecht. Sicherlich, dies sei kein Grund, ihr ungehorsam zu sein, weil jede Macht von Gott eingesetzt sei; ihr zu widerstehen, hieße Gott zu widerstehen.711 Der Schrecken war das offensichtliche Zeichen der Minderwertigkeit der weltlichen Herrschaft im Vergleich zur geistlichen, war eine nicht abzuschüttelnde Eigenschaft der Könige, aber nichtsdestoweniger hinzunehmen. Der Benediktiner und Geschichtsschreiber Lampert von Hersfeld († 1082/85), auch er ein vehementer Gegner von König Heinrich IV., sah an dessen Hof sowohl Schrecken als auch Schmeicheleien walten; dort hoffe der Abt von Fulda Unterstützung gegen aufrührerische Mönche zu finden, genauso wie diese gegen die Strenge des Abtes vom König Hilfe erwarteten.712 Für den Geschichtsschreiber Adam von Bremen (†1081/85), war der terror das Anzeichen der übel handelnden Machthaber. Dieser Autor wertete aber nicht summarisch alle Herrscher ab. Der der terror war vielmehr das distinktive Merkmal, um zwischen guter und schlechter Herrschaft zu unterscheiden.713 Für religiöse Ziele sollten sich die Mächtigen einsetzen. Der Kampf gegen die Muslime war ihnen befohlen. Für diese hoch angesehene Anstrengung konnte sogar auf den Schrecken verzichtet werden, um das religiöse Ziel nicht zu beflecken. Der nordfranzösische Benediktiner und aufmerksame Beobachter der Neuerungen seiner Zeit, Guibert von Nogent († 1125), deutete den Beginn des ersten Kreuzzuges als Ankündigung einer besseren Epoche, in der anders als in der Vergangenheit, während der die weltlichen Herrscher Schrecken verbreitet hätten, um fremde Länder zu erobern und ihren Ruhm zu steigern, so wie dies die Perserkönige Xerxes und Darius sowie Alexander der Große und Pompeius einst getan hätten, nunmehr durch einen gemeinsamen Willen und dank der 711 Liber canonum contra Heinricum quartum, hg. v. Friedrich Thaner, in: MGH Ldl 1, S. 471– 516, S. 493. 712 Lamperti monachi Hersfeldensis Annales, in: Opera, hg. v. Oswald Holger-Egger (MGH SRG 38), Hannover, Leipzig 1894, 5, S. 1–304, S. 87; Tilmann Struve, Lampert von Hersfeld, in: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 19 (1969), S. 1–123; 20 (1970), S. 32–142. 713 Adam Bremensis Gesta Hammaburgensis ecclesiae pontificum, in: MGH SS 7, hg. v. Georg Heinrich Pertz, Hannover 1847, S. 267–389, S. 330, S. 330.

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durch den Heiligen Geist bewirkten Begeisterung die Menschen zur Wiedergewinnung von Jerusalem gewonnen worden seien. Während früher der Schrecken die Menschen heimgesucht und unter die Herrschaft gepresst habe und einst die weltlichen Herrscher zum Vergießen unschuldigen Blutes aufgerufen hätten, versammelten sich nunmehr die Christen vieler Völker, dem Aufruf des Papstes folgend, zu einer gemeinsamen Unternehmung. Nicht die Unterwerfung unter die königliche Gewalt, nicht die Furcht vor Sanktionen, sondern das Streben nach Erreichen eines von Gott gewollten Zieles leite sie an und führe sie dazu, in das Heilige Land aufzubrechen. Nicht einmal die Sorge um das allgemeine Wohl oder die Bereitschaft, das Vaterland zu verteidigen – Anliegen, die Guibert durchaus als gerechtfertigt erachtet – könnten sich an dem Ziel der Wiedergewinnung der heiligen Stadt Jerusalem messen lassen, die ganz ohne das Mitwirken der Könige wieder in die Macht der Christen gekommen sei. Die Könige hingegen verbreiteten nur Schrecken, ohne an dem von Gott gewollten Werk sich zu beteiligen. Die frommen Christen würden ohne Könige und ohne Schrecken kämpfen. Gewalt war keineswegs ausgeschlossen bei dem Kreuzzug, wohl aber der Schrecken.714 Der in Paris lebende Gelehrte und Stiftskleriker Hugo von Saint-Victor (ca. 1096–1146), einer der bedeutendsten und einflussreichsten Theologen mit einer zeitlich weit reichenden Rezeption, verband zwar nicht den Schrecken mit den Herrschern, aber er schloss sie von der Liebe aus. Der Gehorsam ihnen gegenüber und die Steuern an sie seien notwendig. Den Herrschern müssten die Untertanen Abgaben zuführen, so wie die Menschen dem Magen Speisen einflößten. Hugo meinte, dass das Mästen der Herrscher zur Demut der Untertanen gereiche, das des Magen hingegen zur Völlerei. Liebe gebe es nur zwischen Gleichen, die in brüderlicher Liebe verbunden seien. Daran hätten die Herrscher keinen Anteil. Höherwertiger Gehorsam sei den Prälaten zu erweisen.715 Liebe und Schrecken werden nicht miteinander kombiniert. Der Schrecken befleckt zwar nicht die weltlichen Herrscher, aber eine günstige Bewertung wird ihnen gleichwohl vorenthalten. Deutlicher noch hat Peter von Blois (1135–1204) die Könige ausdrücklich als Schreckensherrscher abgewertet. Er erfuhr eine gründliche theologische und an den Vorbildern der Antike ausgerichtete literarische Bildung in Tours und Paris, war zeitweise Schüler von Johannes von Salisbury, erwarb Kenntnisse des Kirchenrechts in Bologna und schrieb rechtswissenschaftliche Abhandlungen, wurde Kanzler des Erzbischofs von Canterbury und hatte Beziehungen zum englischen Königshof, vermutlich durch die Königin Eleanore von Aquitanien 714 Guibert von Nogent, Dei Gesta, S. 85–89; Jay Rubenstein, Guibert of Nogent. Portrait of a Medieval Mind, New York 2006. 715 Hugo von Saint-Victor, De archa Noe, S. 77–79.

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vermittelt, was ihn aber von einer kritischen Beurteilung des Königs nicht abhielt.716 Ähnlich wie Johannes von Salisbury, auf den weiter unten eingegangen werden wird717, kritisierte Peter scharf den König und seinen Hof. Er beschrieb in einem fingierten Dialog mit König Heinrich II. von England dessen ungehemmte Gewaltbereitschaft. Er lasse sich von seinem Zorn hinreißen, seine Gegner zu töten. Das Verhalten der Verräter berechtige ihn, so ließ Peter den König argumentieren, sie grausam zu bestrafen. Nicht anders hätten ja die Könige des Alten Testaments gehandelt, die sich an ihren Feinden gerächt hätten, und genauso würden es die Tiere tun, die gewöhnlich gegen ihre Artgenossen wüteten. Alle Lebewesen seien von der iracundia angetrieben; diese müsse als quidam virtus animae et potentia naturalis angesehen werden. Von Natur aus sei der Zorn eingerichtet, und von Natur aus müsse er zum Schrecken eingesetzt werden. Aus diesen Bedingungen gebe es kein Entrinnen. Jede Herrschaft sei notwendigerweise schrecklich. Die Argumente schöpften aus Natur und Bibel. Gegen diese Auffassung richtet sich freilich der fiktive Gesprächspartner, der offensichtlich den argumentativen Part des Autors einnimmt. Den Herrschern sei von Gott aufgetragen, den Antrieben der Natur nicht zu folgen, damit sie weder von Jähzorn noch von Rachegelüsten überwältigt würden, vielmehr ihre Gefühle und Handlungen selbst beherrschten und sie sich nicht von äußeren Eindrücken antreiben ließen. Als Folge seiner Weihe solle der König sich nicht von den Regungen des Fleisches leiten lassen. Contra sanguinem müsse er nun handeln. Die als Mahnschrift konzipierte Schrift verlangt vom König, dass er seinen Launen widerstehen solle, dass er gar Gewalt seinem Herzen antun müsse, damit er den Hass in die Gnade, die Feindschaft in die Liebe umwandle. Aber die Realisierung eines idealen Königtums sei wegen der moralischen Schändlichkeiten, die an den königlichen Höfen anzutreffen seien, nicht zu erwarten. Die gute normative Ordnung an den Herrscherhöfen ist – wie Peter einräumt – irreal, dies allein schon wegen der persönlichen Unvollkommenheit des Königs, vor allem wegen seiner in ihm innewohnenden Wut, die ihn davon abhielten, die Fehler seiner Herrschaft durch gute Institutionen zu heilen.718 Ähnlich wie Johannes von Salisbury sah Peter von Blois wenig Chancen für die Herstellung einer guten Herrschaft, denn sowohl die Person des Königs als auch die Institution seines Hofes verhinderten dies. Die Kritik am Hof des Königs formulierte Peter von Blois auch in einem Brief, den er an den jungen König 716 Michael Markowski, Peter of Blois and Reform, Syracuse 1988 ; Stephen Hanaphy, The Classical Erudition of Peter of Blois, Dublin 2009. 717 Kapitel X.3. 718 Peter von Blois, Dialogus inter regem Henricum II et abbbatem Bonaevallensem, in: PL 207, Paris 1855, Sp. 975–988, bes. Sp. 979 und 982f.; Senellart, Arts, S. 111–121; John D. Cotts, Peter of Blois and the Problem of the »Court« in the Late Twelfth Century, in: AngloNorman Studies 27, Proceedings of the Battle Conference 2004, Woodbrigde 2005, S. 68–84.

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Heinrich II. richtete. Die institutionellen Bedingungen der Gewalt hat er darin verurteilt. Die miseriae curialium stünden nicht allein der guten Herrschaft des Königs entgegen, sondern verkleinerten auch seine Macht, da sie die Widerstände gegen ihn aufstachelten. Die Gewalt des Königs, ausgeführt von seinen Gefolgsleuten, könne zu nichts Gutem führen, sie gefährde das Heil der Seelen der Hofleute und auch des Königs. Der König handele unvorhersehbar, niemand könne sich auf ihn verlassen, wohin er gehe, sei unbekannt, die Absichten versuchten die Höflingen, bei Dirnen und Schankwirten zu erfragen. Als ob man Würfel werfe, gingen die Könige vor; sie folgten den Einflüsterungen der Höflinge; und umgekehrt richte sich der schwankende Wille der Könige gegen sie. Konfus und tumultuös ginge es am Hofe zu. Peter von Blois fasst zusammen: Wie aus der Hölle stießen die Eruptionen aus den Königshöfen hervor. Sie versetzten die Menschen in Zustände der Beklemmung, in angustias.719 Der Schrecken, den der König verbreitet und den Peter als Ergebnis der Willkür kennzeichnet, zeigt eine verfehlte herrschaftlichen Ordnung, aus der sich zu retten nur durch die Flucht vom Hof gelingen könne. Die Rettung biete das Kloster. Dort walteten, wie Peter von Blois in seiner Schrift De amicitia christiana et de charitate, die an Cicero anknüpft, schrieb, die wahre Freundschaft und die wahre Liebe unter den Menschen, die Christus von der Deformation durch die Erbsünde befreit habe. Sie stünden abseits weltlicher Begierden, verlangten die Absonderung der Guten, die von den Nachstellungen der Bösen befreit sein müssten. Damit aber verließ Peter von Blois eine politische Argumentation, was aber nicht verhinderte, dass er die Liebe in eine hierarchische Beziehung stellte. Je nach der Positionierung der Menschen gebe es unterschiedliche Grade und unterschiedliche Anforderungen der Liebe. Die Oberen müssten die Unteren korrigieren und zur Tugend führen, während die Unteren die Oberen beraten, ihnen helfen und gehorchen und an sie Bitten richten würden. Eine Einbindung in eine weltliche Hierarchie fehlte indes.720 Der Schrecken war bei Peter von Blois als Kennzeichen der unvorhersehbaren, unkalkulierbaren Macht eingesetzt. Er war ein Einwirkung beschrieben, die jedes Zutrauen in den Nutzen der Herrschaft und jede Vorausschau auf das Handeln der Herrscher zerstörte. Der Anspruch der Herrscher, den Schrecken zur Verwirklichung der Gerechtigkeit einzusetzen, war als Verfehlung gekennzeichnet. In England haben andere Autoren dieses Thema weiter verfolgt. Außerhalb der Liebe, vielmehr als Auslöser und als Ergebnis eines beständigen Schreckens stellte Walter Map (ca. 1140–1209) das Königtum vor. Er, aus Wales stammend, studierte in Paris

719 Peter von Blois, Epistula 14, in: PL 207, Paris 1855, Sp. 42–51. 720 Peter von Blois, De amicitia christiani et de charitate Dei et proximi tractatus, in: PL 207, Paris 1855, Sp. 871–958, Sp. 933–936, 938f.; Jaeger, Origins, S. 58f.

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und trat als Geistlicher in die Dienste des englischen Königs Heinrich II.721 Dies hinderte ihn aber nicht daran, die Könige und ihre Höfe in beißender Schärfe zu veruteilen. In seiner teils satirischen, teils polemischen Schrift De nugis curialium bewertete er das Handeln von König und Hof. Hierzu führte er ein Beispiel der Vergangenheit ein: König Knut den Großen († 1035), der einst über den Norden der britischen Insel geherrscht hatte. Liebe habe er zwar zu seinen Gefolgsleuten gehegt, aber nur damit sie, von trügerischen Versprechungen verführt und zu den Tücken der Grausamkeit angespornt, ihn imitieren und mit unnachgiebiger Härte gegen Feinde und Untertanen vorgehen sollten. Dass Walter Map den König als ein Hammer der Gerechtigkeit (malleus equitatis) bezeichnete, war offensichtlich eine ironische Pointe, war überdies sprachlich zweideutig, insofern der Hammer als Instrument zugunsten oder zum Schaden der Gerechtigkeit bezeichnet sein konnte. Verlässlich sei Knut lediglich in seinen Androhungen von Gewalt gewesen, wenn er sie in die Tat umgesetzt habe. Von Knechten umgeben, habe er gegen die Freien gewütet. Walter Map zeichnete das Bild eines verwerflichen Herrschers, der aber auch als potentieller Prototyp jedes Mächtigen vorgestellt war und somit als Warnung vor den Versuchungen der Macht diente, die auch am Hofe König Heinrichs II. zu Gewalt und Rechtsverletzung führten. Liebe sei zum Instrument der Unterdrückung geworden und damit pervertiert, Gerechtigkeit diene als Vorwand für Grausamkeit, Treue sei zur Nachahmung von Frevel verformt. Aus der Grausamkeit und aus der Androhung mit ihr entstehe der Schrecken. Auf ihm beruhend, könne keine gute Herrschaft entstehen, lediglich die Steigerung ihrer Durchsetzungsfähigkeit, was sich aber als Heimsuchung der Untertanen auswirke. Die Strenge der Herrschaft als Strenge der Gerechtigkeit auszulegen, sei verlogen. Verlogen sei aber noch mehr der Anspruch, dass die Herrscher Liebe spenden und empfangen könnten. Freundschaften seien nur im Abstand zum Hof möglich, hätten sich aus dessen Intrigen zu befreien, was Sadius und Galo, zwei von Walter eingeführte literarische Gestalten, versucht hätten, die in wahrer, wechselseitiger Zuneigung verbunden gewesen seien und ein Gegenbild zur Verderbtheit des Hofes dargestellt wurden. Der Hof indess, so Walter Map, sei eine Hydra mit vielen Köpfen. Kein Herkules sei zur Stelle, sie abzuschlagen, niemand, um die Menschen vor den Nachstellungen der Höflinge zu schützen.722 Die vielen negativen Urteile demontierten den Anspruch des Königtums, in Gerechtigkeit und zum Nutzen der christlichen Untertan zu herrschen. Als Mittel der Herrschaft verbreiteten die Könige und andere Herrscher den 721 Freudenberg, Irarum nutrix. 722 Walter Map, De nugis curialium, hg. v. M. R. James, überarbeitet von C. N. L Borooke, R. A. B. Mynors, Oxford 1983, S. 2f., 210–212, 422; Patrick Schwietermann, Fairies, Kingship, and the British Past in Walter Map’s »De nugis curialium« and »Sir Orfeo«, Berkeley 2010.

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Schrecken, der, wenn auch noch verfehlt eingesetzt, zur Unterjochung und zur Gewalt führte und einer Herrschaft eigentümlich war, die sich gegen Gott wendete. Nicht einmal Liebe, von den Herrschern gehegt und gewährt, vermochte Gutes zu stiften. Die Mängel der Herrschaft waren jenseits persönlicher Verfehlungen vorhanden. Die Untertanen mussten unvorhersehbar den Schrecken erdulden; sie waren den Launen und wechselnden Entscheidungen der Herrscher ausgeliefert. Aufgabenteilung mit den Geistlichen war nicht empfohlen, denn ein Beitrag zum Guten konnten die Herrscher gar nicht erst erbringen.

2.

Könige als Figuren des Antichrist

Die Kritik an der königlichen Gewalt, die Schrecken hervorruft, wurde verschärft, wenn ihr das Walten des Antichrist unterlegt wurde. Schrecken, Ungerechtigkeit, Zerstörung des Friedens und Abwendung vom Glauben galten als Kennzeichen einer Herrschaft, die wider die göttlichen Heilspläne vorging – vergeblich zwar, aber für die Menschen bedrückend. Die militante Gewalt derjenigen, die gegen die als Antichristen gebrandmarkten Herrscher kämpfen und die in einer spirituellen Überhöhung ihren Einsatz leisten, und die Rechtfertigung dieses Kampfes sind von der Forschung jüngst untersucht worden.723 Hier geht es in umgekehrter Perspektive um die Herrschaft, die von ihr ausgeübte Gewalt und den von ihr hervorgerufenen Schrecken. Die historische Konkretisierung des Antichrist stellte Personen vor, die Macht besaßen. Die Konkretisierung suchte indes mehr als nur die kämpferische Identifizierung der Gegner. Sie strebte nach einer Gesamtdeutung der Geschichte, die angeblich einem notwendig vorgegebenen Verlauf unterliegt und von ihrem Ursprung zu einem vorherbestimmten Endziel strebt. Ein solches Konzept setzte die Multiplizierung des Antichrist voraus, der – an markanten Einschnitten der Geschichte wirkend – die Diener Gottes zu vernichten versucht, letztlich aber in paradoxer Intervention und anti-intentional auf den endgültigen Sieg Gottes über alle Widersacher der Gläubigen hinwirkt. Die Geschichte ist beladen mit Konflikten, angefüllt mit repetitiven Kämpfen, in die einzutreten die Christen aufgerufen sind. So lautete der in didaktischer Absicht verkündete Appell der Theologen. Der Benediktiner Rupert von Deutz (1075–1129), Abt dieses Kölner Klosters, dem hohe Autorität als Theologe und Exeget biblischer Schriften zukam und dessen Werk in den folgenden Jahrhunderten oft rezipiert wurde, beschreibt in 723 Hierzu Buc, Heiliger Krieg, S. 84f., 93f., 108–110; Ders., Religion, Coercion and Violence, in: State, Power and Violence, Bd. 2, hg. v. Bernd Schneidmüller, Wiesbaden 2010, S. 157– 170.

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seinen Commentaria in Apocalypsim, um das Jahr 1120 geschrieben, die sieben Häupter des apokalyptischen Tieres als Figurationen von sieben regna. Der Begriff verweist auf chronologisch konkrete Epochen und auf weltliche Einrichtungen. Die regna sind charakterisiert durch eine politische Herrschaft, die institutionalisiert ist, d. h. »staatlich« verfasst ist; ja sie ist überwältigend und allumfassend, stellt also eine hypertrophe Steigerung der Gewalt weltlicher Herrscher dar, die weder durch moralische Bedenken noch durch Anleitung der Priester, weder durch Nutzenmehrung für die Untertanen noch durch das Streben nach Gerechtigkeit und Frieden beschränkt wird. Das von Rupert vorgestellte regnum ist daher nicht nur im Sinne von Königsherrschaft zu denken, sondern als eine von jeglichen Fesseln moralischer Bedenken und religiöser Aufgaben abgelöste Gewaltanwendung, die eine perfekt organisierte Konzentration aller herrscherlichen Befugnisse erreicht. Die Vollkommenheit des Staates, der mit Totalinstitutionen ausgestattet ist, macht ihn umso gefährlicher, als er keine legitimen Gegenkräfte im Machtgefüge duldet und auch nicht vorfindet, sofern nicht Gott eingreifen würde. Angefangen von Ägypten über das götzendienerische Israel, Babylon, das Perserreich, die Seleukidenherrschaft, besonders unter Antiochus, das Imperium Romanum, auch das in der mittelalterlichen, zeitgenössischen Epoche, und schlieblich das erst noch kommende letzte Reich des letzten Antichrist – alle diese Machtgebilde verfolgen brutal das Volk Gottes und suchen es mit Schrecken heim. Rupert konstruiert eine Kausalität des politischen Handelns, das im genuinen und allumfassenden Bösen seinen Ursprung hat. Auch die eigene Gegenwart Ruperts ist die Szene des Kampfes. Die Herrschaft der römisch-deutschen Könige sei dem Antichrist anheim gefallen und führe zur Verfolgung der Frommen. In der Abfolge der sieben Reiche steigere der Antichrist von Etappe zu Etappe seine Macht. Die Leiden der Christen nähmen zu. Die Rettung durch Gottes Eintreten erfolge erst am Ende der Weltgeschichte und werde keineswegs durch das Handeln der Herrscher und auch nicht durch das der frommen Christen herbeigeführt, so sehr die Ausmalung von militärischen Kampfszenen das Werk von Rupert ausfüllt, denn die Anwendung von Gewalt ist stets den Feinden des Glaubens vorbehalten, den Gläubigen hingegen das Martyrium. Das Mittel der Bedrückung ist der Schrecken. Der historische Prozess entfaltet sich als antithetische Paarung. Der Kampf zwischen den Schreckensherrschern und den Verteidigern des Glaubens durchzieht die gesamte Geschichte. Er ist ein ungleicher Kampf, bei dem die Gewalt nur von den Adepten des Antichrist ausgeübt wird. Auch in seiner Schrift De victoria verbi Dei stellt Rupert diesen Kampf dar, der vom Beginn der Welt an tobe und bis zu deren Ende anhalten werde.724 Auch wenn die 724 Rupert von Deutz, De victoria verbi Dei; Rupertus Tuitiensis, De glorificatione Trinitatis et processus sancti Spiritus, in: PL 169, Paris 1859, Sp. 13–200; Ders., Commentaria in

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Taten des Antichrist zunächst eine Geschichte des Unheils gestalteten, führen sie gemäb den Plänen Gottes letztlich zur Erlösung, wie Rupert in der Schrift zum Wirken des Heiligen Geistes ausführt. Die Unausweichlichkeit der von Gott vorgesehenen Unterdrückung setze sogar die Allmacht der weltlichen Herrscher voraus. Deren Schrecken ist zwar das Argument, um die Herrschaft zu verurteilen, er wird aber auch als Antriebskraft eines eschatologischen Geschehens und als Wirkprinzip der Geschichte vorgestellt, die einen unabwendbaren Verlauf nimmt. Der Schrecken der Herrscher entspringt aus dem des Antichrist. Sein Wirken manifestiert sich in verschiedenen Figuren, die zu verschiedenen Zeiten auftreten.725 Diese Auffassung einer permanenten und sich sogar steigernden Wirksamkeit des Antichrist, bevor er endgültig besiegt würde, sollte für die Folgezeit eine grobe Wirkung entfalten und zu einer Reflexion über Geschichte anregen, die nach geheimen Kräften suchte und sie in eschatologischen Figuren fand. Damit war Geschichte sinnvoll, weil eingebunden in eine Heilsgeschichte, die indes von einer bedrückenden Unheilsgeschichte überdeckt war. Die Abfolge von historischen Etappen zu präzisieren war auch das Anliegen von Hugo von SaintVictor (ca. 1096–1141). Er stammte vermutlich aus Sachsen, war Stiftskleriker in Paris und dort einer der führenden Lehrer in Theologie und Philosophie. In seinem exegetischen Werk De arca Noe mystica, in einem weiteren Werk, De sacramentis christianae fidei, und in anderen Schriften stellte er die künftigen Geschicke der Menschheit vor. Die Texte von Hugo haben eine große handschriftliche Verbreitung; sie prägten auch für die folgenden Jahrhunderte das Geschichtsdenken. Die Vorausschau von Geschichte leitet Hugo aus der Deutung der Bestandteile der Arche Noahs und aus der Apokalypse von Johannes ab. Hugo bietet eine Zeiteinteilung der Geschichte bis hin zum Weltenende und Weltengericht: Der Antichrist würde die Christenheit verfolgen, in einer ultima tribulatione würden die Gläubigen leiden, aber die Gewaltherrschaft würde auf dreieinhalb Jahre begrenzt sein. Christus würde nicht eher kommen, als wenn diese Zeit erfüllt sei, in der der Antichrist die Gläubigen auf die Probe stellen würde. Danach erst würde Christus den Antichrist töten und Gericht über die Lebenden und Toten halten. Hugo öffnet ein Einfallstor, das bereits Rupert von Deutz aufstieß, als er die Trinität der Personen Gottes in der Geschichte walten Apocalypsin, ebda., Sp. 827–1214; Bernard McGinn, Apolalypticism in the Western Tradition, Aldershot 1994, III, S. 277; Horst Dieter Rauh, Das Bild des Antichrist im Mittelalter : Von Tyconius zum deuschen Symbolismus (Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters NF 9), Münster i. W. 1973, S. 206–233; Rusconi, Profezia, S. 54f., 68, 102f., 121; John H. van Engen, Rupert of Deutz, Berkeley u. a. 1983. 725 Rupert von Deutz, De sancta trinitate et operibus eius, hg. v. Hrabanus Haacke, 4 Bde. (CCCM 21–24), Turnhout 1971–1972; Winfried Leichtfried, Trinitätstheologie als Geschichtstheologie. De sancta Trinitate et operibus eius von Rupert von Deutz (ca. 1075– 1129) (Studien zur systematischen und spirituellen Theologie 37), Würzburg 2003.

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sah und damit einen Prozess der Vervollkommnung annimmt, der sich indes noch im Verborgenen, unterdrückt durch die Verfolgungen des Antichrist, entfalte. Hugo entlässt, anders als Rupert von Deutz, die weltlichen Herrscher aus der Wirkungsgeschichte des Antichrist, seine Macht bedürfe keiner Mittler und Handlanger. Sein Schrecken wirke unmittelbar.726 Dies ist konsequent, da Hugo den Herrschern Gewalt und Schrecken zuschreibt, sie aber rechtfertigt und nicht in den Dienst des Widersachers Gottes stellt, sondern als unumgänglich erachtet, um die Untertanen vom Bösen abzuhalten. Für Hugo von Saint-Victor sind die weltlichen Herrscher keine Figuren der Geschichte des Unheils. Das Unheil vollzieht sich außerhalb der Herrschaft.727 Die Integration der politischen Ereignisgeschichte in die eschatologische Unheilsgeschichte wurde freilich weitergeführt. Dies leistete Gerhoch von Reichersberg († 1169). Er war – ebenso wie Hugo von Saint-Victor – reformierter Säkularkleriker, der für die Erneuerung von Kanonikergemeinschaften eintrat, die politische Situation seiner Zeit kritisch bewertete und das Machtstreben der Großen, einschließlich der Kaiser, verurteilte. Er knüpfte an Rupert von Deutz an und verband weltliche Herrschaft mit dem Walten des Antichrist. Gerhoch präsentierte eine Abfolge der Frevel, die der Antichrist durch seine Anhänger, die Macht ausübten, hervorbringe und die sich über die gesamte Geschichte erstreckten, also nicht erst auf deren Ende reserviert seien, wobei Phasen der Verfolgungen mit denen der Ruhe wechselten. Die Kennzeichnung der Simonisten als vom Antichrist gesteuerte Verderber griff ein Argument auf, das zuvor, während des vorangegangen Jahrhunderts im Verlaufe Investiturstreites, bereits verwendet worden war und nun für die Charakterisierung eines ganzen Zeitabschnitts diente, als der Kaiser, als oberster Simonist, die Kirche verfolge. Die geheimen Taten des Antichrist aufzuspüren, war das Anliegen Gerhochs, der damit Aufklärung zur Vergangenheit und Gegenwart leisten wollte. Die historische Analyse sollte Gegenkräfte wecken, sollte zur Tat aufrufen. Der Titel seiner Schrift, De investigatione Antichristi, verdeutlichte sein Anliegen, verborgene Kräfte zu entdecken. Seine wechselnde Parteinahme im Papstschisma, dem Alexander III. ausgesetzt war, hielt ihn nicht davon ab, die jeweiligen Gegner als Gefolgsleute des Antichrist zu verurteilen. Aber er ging über eine polemische 726 Hugo von Saint-Victor, De archa Noe, S. 23–27; Ders., De sacramentis christianae fidei (Corpus Victorinum. Textus historici 1), Münster 2008, S. 572f.; Ders., Quaestiones et decisiones in Epistolas S. Pauli, in: PL 176, Paris 1854, Sp. 431–632, Sp. 591–593; Joachim Ehlers, Hugo von St. Viktor. Studien zum Geschichtsdenken und zur Geschichtsschreibung des 12. Jahrhunderts (Frankfurter Historische Abhandlungen 7), Wiesbaden 1973; Robert S. Lerner, Refreshment of the Saints: The Time after Antichrist as a Station for Earthly Progress in Medieval Thought, in: Traditio 32 (1976), S. 97–144; Goetz, Endzeiterwartung, S. 316–320. 727 Siehe Kapitel IX.1.

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Identifizierung hinaus, indem er zu einer Deutung seiner eigenen Epoche ausholte und viele Anzeichen des verderblichen Wirkens des Antichrist ausmachte, sie vor allem in dem ersten Aufblühen der hochmittelalterlichen Geldwirtschaft zu finden meinte, die Gier und Gewinnstreben entfache.728 Nicht allein Herrscher galten als Promotoren des Antichrist. In einer weiteren, etwas später, um das Jahr 1167 verfassten Schrift, De quarta vigilia noctis, bestimmte Gerhoch vier Epochen der Verfolgungen: angefangen von der im antiken römischen Reich, über die der Gefährdungen durch Häresien während der Spätantike, zu der des Streites zwischen Kaiser und Papst, dem er ebenfalls eine extreme Antinomie im Kampf zwischen Gut und Böse anheftete, zu seiner eigenen Zeit, in der der antichristus avarus die Menschen dazu antreibe, Reichtum und Macht an sich zu raffen, und das Papstschisma herbeiführe, breitete er ein historisches Panorama von Nachstellungen durch den Antichrist aus.729 Gerhoch verband das Wirken des Antichrist mit grundlegenden sozialen und religiösen Konstellationen und Situationen, weniger an Personen. Aber auch die Institutionen der weltlichen Herrschaft rückte er als unterstützende Kräfe dem Antichrist zu. Gerhoch sah gar in den Institutionen selbst den Ort der Bedrohung; jede weltliche Gewalt galt ihm als Unterstützer des Antichrist. Die Gewalt, die Furcht einflöße und Schrecken verbreite, verderbe stets die weltliche Herrschaft, schrieb er. Es sei die Aufgabe der Christen, dem Schrecken zu widerstehen, um ihr Seelenheil zu bewahren. Von einer präventiven Wirkung des Schreckens, der die Übeltäter von ihrem Handeln abhalten sollte, sah der Autor gänzlich ab. Jede weltliche Herrschaft entspringe der Sünde und sei tyrannisch.730 Ein grundsätzliches Entrinnen aus diesen Verfehlungen gebe es nicht, nur eine Überwindung, die aber nicht durch das Handeln der Herrscher und der Untertanen erreicht werden könnte, sondern einzig im göttlich vorherbestimmten und unausweichlichen Voranschreiten der Zeiten bis zum Jüngsten Gericht gelingen werde.731 Der Antichrist wurde historisiert und damit politisiert. Aus dessen singulärer Existenz leitete Gerhoh eine stets wiederkehrende Aktivität ab. Aus dem Bösen, das einzelne Herrscher hervorbrachten, wurde das Böse der Herrschaft selbst. 728 Gerhoch von Reichersberg, Libri tres de investigatione Antichristi; Peter Classen Gerhoch von Reichersberg. Eine Biographie, Wiesbaden 1960; Horst Dieter Rauh, Das Bild des Antichrist im Mittelalter : Von Tyconius zum deuschen Symbolismus (Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters NF 9), Münster i. W. 1973, S. 446– 465; Bernard McGinn, Visions of the End. Apocalyptic Traditions in the Middle Ages, New York 1979, S. 96–107, 308–310; Goetz, Endzeiterwartung, S. 306–332. 729 Gerhoch von Reichersberg, De quarta vigilia nocti, hg. v. Ernst Sackur, in: MGH Ldl, 3, S. 503–525; Rusconi, Profezia, S. 103 f, 121f. 730 Gerhoch von Reichersberg, Commentarius in psalmum 51, in: PL 193, Paris 1854, Sp. 1614– 1628, Sp. 1621; Stürner, Peccatum, S. 157–159. 731 Gerhohus Reichersbergensis, Libri tres de investigatione Antichristi, S. 323, 328f., 343.

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Einer politischen Erörterung noch näher trat Gerhoch von Reichersberg in seinem Werk De aedificio Dei, das eine Gesamtschau der tatsächlichen und der idealen Vereinigung der Christen bot. Gerhoch beklagte, dass die Christen die Herrscher, die alle Tyrannen seien, mehr als Gott fürchteten. Die Konkurrenz der Furcht war ein Argument, das gegen die weltlichen Herrscher ins Feld geführt wurde. Doch ihnen gebühre in Wahrheit keine Furcht, ebenso wenig wie sie sich anmaßen dürften, die Aufgaben der Geistlichen auszuüben. Die Herrscher zu fürchten, sei lächerlich, denn sie selbst seien feige; wie Mäuse verhielten sie sich, stets bereit, sich bei Gefahren zu verstecken. Wenn dies oft geschehe, sei es das sichere Anzeichen, dass die Welt dem Ende nahe sei. Die Furcht, wie sie die weltlichen Herrscher zu erregen erstrebten, habe keine Berechtigung, nicht einmal zur Eindämmung der Übeltäter sei sie angebracht. Sicher, die Herrscher übten de facto Befehlsgewalt aus. Sie erregten tatsächlich Schrecken. Aber Nutzen stifteten sie nicht und Wirkung auf die guten Christen übten sie ebenso wenig aus. Die römische Kirche werde nur insofern Opfer des Schreckens, insofern ihre Autorität bedroht werde; der Schrecken pralle aber an der Tapferkeit und Unerschrockenheit der Frommen ab. Die Kirche gegen die weltliche Gewalt zu verteidigen, war das Anliegen von Gerhoch. Dem Kaiser als Urheber der Schreckensherrschaft gebühre kein Gehorsam durch fromme Christen. Die Furcht, die der Herrscher ausübe, mache ihn zum Tyrannen, weil er das einfordere, was doch allein Gott zustehe.732 Gerhoch unterscheidet zwischen Verursachung und Adressierung von Furcht und Schrecken; sie seien allein Gott geschuldet, dem Herrscher hingegen zu verweigern. Diese würde einzig Furcht und Schrecken erzeugen, Gott hingegen auch nocht Liebe gewähren. Gerhoch zielt auf Institutionen. Ihnen ist unablösbar der Schrecken eingesetzt. Die Herrscher selbst sind die Ausführenden der in der Herrschaft liegenden Gewalt. Petrus Comestor (ca. 1100–1179), ebenfalls ein Regularkanoniker, der in Paris als Lehrer tätig war, entfaltet in seinem Werk Historia scholastica, einer an die Bibel und antiken Autoren angelehnten Darstellung der Weltgeschichte, das Panorama eines ununterbrochen Kampfes, dessen Gewinner, Gott und die Erlösten, erst am Ende der Geschichte offen hervortreten würden. Das Wüten des Antichrist wecke aber schon zu allen Zeiten Gegenkräfte, die die periodisch auftretenden Versuchungen, Gefährdungen und Gewalttaten eindämmten und zurückwiesen. Auch Mathaeus Parisiensis, der englische Benediktiner, schrieb zur Mitte des 13. Jahrhunderts dem Antichrist Einfluss auf die Geschichte zu und verlieh ihm Macht durch den Schrecken, den er unter allen Menschen verbreite. Als Exekutoren des Schreckens handelten die Herrscher, allerdings nur die 732 Gerhoh praepositi Reicherspergensis Liber de aedificio Dei, Id., Opera omnia (PL 194), Paris 1855, Sp. 1187–1336, Sp. 1999f.; Ders., De edificio Dei (Auszüge), in: MGH LdL. 3, S. 131–202, S. 144.

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schlechten unter ihnen. Der Schrecken ist als distinktives, nicht definitorisches Merkmal eingesetzt. Anders als bei Augustinus und Gregor dem Großen ist die weltliche Herrschaft nicht essentiell dem Schrecken anheimgefallen, und anders als Gerhoch von Reichersberg ist die weltliche Herrschaft nicht in einer institutionellen Fixierung in den Dienst des Antichristen gestellt, sondern nur einzelne Personen. Das Böse ist nicht als ein Fehlen des Guten gedeutet, das jede Herrschaft kennzeichnete, sondern als das Ergebnis eines zeitlich befristeten, von Gott geduldeten Wirkens von schlechten und zugleich mächtigen Menschen, die vom Antichrist angetrieben sind. Zu deren Erfüllungsgehilfen werden einige – aber eben nicht alle – weltliche Herrscher erklärt.733 Mit diesen Zuschreibungen zum Antichrist war indes die politische Erörterung behindert, die nach innerweltlichen Kausalitäten und Bewertungen gesucht hätte, wie dies Gerhoch von Reichersberg tat, indem er Bewertungen des Handelns der Individuen mit der der Institutionen verband. Gemeinsam war aber das Deutungsmuster, das den Schrecken der weltlichen Herrschaft mit Figuren repetitiver Manifestationen des Anti-Christ verknüpfte. Geschichte war in Eschatologie eingetaucht und schöpfte aus ihr Bedeutung. Der historische Prozess lag außerhalb menschlicher Verfügung, war unabwendbar, und genauso unabwendbar war der Schrecken, den die Herrscher verbreiteten. Erlösung kam von Gott. Was die Christen zu tun hatten, war Bereitschaft zum Leiden, die Überwindung ihrer Furcht, nicht die Beendigung des Schreckens der Herrscher. Das Auftreten des Antichrist war repetitiv, nicht auf das Ende der Zeiten begrenzt. Aber der Endkampf erforderte den höchsten Einsatz aller Christen, war die Zeit der größten Bewährung, weil dann die Gewalt am schlimmsten wüten und von den Gerechten den größtmöglichen Kampfeswillen im »letzten Gefecht« verlangen würde. Die Gewalt war dann nicht immer nur allein Angelegenheit der Herrscher, sondern auch von denjenigen verlangt, die ihnen widerstanden um des Dienstes Gottes willen. Die Wendung gegen jedwede etablierte Herrschaft war in dem Joachim von Fiore zugeschriebenen Text In Ieremim, der kurz vor 1250 verfasst wurde, ausgeführt: Gegen die bösen miteinander verbündeten Mächte des römischen Kaisers, eines falschen Papstes, eines tyrannischen Königs, der Mächte der Muslime und der Häretiker siegten in einem apokalyptischen Kampf schließlich die Gläubigen. Aber nicht Furcht, sondern Liebe solle die Kämpfer im Dienste Gottes antreiben; nicht Schrecken verbreiteten sie, sondern Hoffnung auf die nahe Erlösung. Der Militanz und der Grausamkeit war damit kein Abbruch getan.734 Aber sie eigneten sich nicht für die Sicherung und Steigerung von 733 Petrus Comestor, Historia scolastica; Mathaeus Parisiensis, Chronica maior, S. 50 und VI, S. 80. 734 Pseudo Joachim von Fiore, In Ieremiam, Köln 1577, S. 123.

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Herrschaft. Der institutionelle Schrecken war den Figurationen und Präfigurationen des Antichrist reserviert. Der Endkampf brachte die Befreiung vom Schrecken der Herrschaft. Joachim von Fiore, der süditalienische Abt, der an der Wende zum 13. Jahrhundert lebte, stand am Beginn eines Geschichtsdenkens, das Etappen größerer Vollkommenheit und Gottesnähe konzipierte. Die Wechsel der Epochen waren mit Gewalthandlungen ausgefüllt. In sie waren Herrscher und Christen in Opposition zueinander verstrickt.735

3.

Jäger, König, Tyrann: Die Gestalt von König Nimrod

Der Schrecken war das Werkzeug der Feinde Gottes, um die Gläubigen zu verfolgen. Der Schrecken war aber auch das Werkzeugt Gottes, um die Menschen vor Verfehlungen abzuhalten. Die Menschen waren unausweichlich dem Schrecken ausgeliefert. Dies galt als die Folge der Erbsünde. Die politischen Implikationen der Vorstellung von der Erbsünde während des Mittelalters müssen angesichts der ausführlichen Forschungen von Wolfgang Stürner736 nicht erneut ausgebreitet werden. Hier soll die Bewertung des Schreckens erörtert werden, die ihn als verwerflich und zugleich als unausweichlich präsentiert. Eine historische Kontinuität des Schreckens war an eine Person angeknüpft, die im Alten Testament als Nimrod benannt wurde. Die unscheinbare Aussage, dass er der Enkel von Noah und der Sohn von Han sei, dass er der König der Assyrer, ein Mächtiger auf Erden und ein starker Jäger vor dem Herrn, d. h. Gott, gewesen sei (Gen. 10,8–12), bot die Grundlage für eine Deutung, die die biblische Vorlage weit hinter sich ließ und Weiterungen hinsichtlich der Vorstellungen zur Herrschaft führte. Bereits die jüdische und frühe christliche Exegetik formte ein Bild von Nimrod, das die Aussage im Buch Genesis umformte. Das Werk von Flavius Josephus (100 n. Chr.), Antiquitates Judaicae, und die exegetischen Schriften von

735 Töpfer, Das kommende Reich, S. 149–153; Bernard McGinn, The Significance of Bonaventure’ Theology, in: Journal of Religion, Suppl. 58 (1978), S. 64–81; Ders., Influence, S. 15–36, 30; Lerner, Joachim of Fiore’s Breakthrough to Chiliasm, S. 489–512; Reeves, Influence, S. 308–334; Les textes proph8tiques et la proph8tie en Occident (12e–16e siHcle). Actes de la table ronde, Chantilly 30–31 mai 1988, hg. v. Andr8 Vauchez in: M8langes de l’Ecole franÅaise de Rome – Moyen Age 1990, S. 291–685; Emmerson, Erzman, Apolyptic Imagination; Apocalypse in the Middle Ages, hg. v. Richard Kenneth Emmerson, Ithaca (N.Y.), London 1992; Crocco, Gioacchino da Fiore 6; Martin Haeusler, Das Ende der Geschichte in der mittelalterlichen Weltchronistik, Köln, Wien 1980 (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte 13), S. 85–72, 220–225; Rusconi, Profezia, S. 54f., 68, 102f., 121; 141–160. 736 Stürner, Peccatum.

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Philo von Alexandrien († 40 n. Chr.) boten dazu die Grundlage. Nimrod war bei diesen jüdischen Autoren als ungerechter Gewaltherrscher präsentiert.737 Christliche Autoren übernahmen die Vorstellung. Der pseudo-clementinische Text aus dem 2. Jahrhundert, als Recognitiones in der lateinischen Übersetzung von Rufinus von Aquileia († 411/12) bezeichnet, und mehrere Bibelkommentare von Hieronymus († 420) interpretierten Nimrod als Jäger und zugleich als Sünder und Aufrührer gegen Gott, politisch gedeutet auch als denjenigen, der als erster mit Gewalt andere Länder erobert und deren Bewohner vertrieben habe.738 Eusebius von Caesarea († 339/340) hingegen hat in seinem historiographischen Werk Onomastikon diese Deutungsangebote nicht aufgegriffen. Für ihn war Nimrod lediglich als König von Babylon bezeichnet, eine politisch-moralische Wertung fehlte. Auch die lateinische Übersetzung dieses Werkes durch Hieronymus behielt diese Darstellung bei. Die insgesamt positive Bewertung der Herrschaft durch Eusebius schloss offensichtlich eine Präfiguration von Nimrod als Ahnherr der Gewaltherrschaft aus.739 Anders Augustinus. Er kennzeichnete Nimrod als Feind Gott. Dabei veränderte er die Formulierung des von Hieronymus verfassten Vulgata-Textes des Ersten Buches Moses (Gen. 10,8–12). In seinem Werk De civitate Dei, kritisierte Augustinus die lateinische Übersetzung ausdrücklich als unzutreffend, verwies auf die griechische Vorlage der Septuaginta und machte deren Mehrdeutigkeit dahingehend eindeutig, indem er den Satz erat robustus venator ante Deum umformte in: contra Deum. Nur so könne der sprachliche Widerspruch vermieden werden, da es in den Psalmen heisse, Ploremus ante Dominum (Ps. 94,6), also das Wort ante stets eine Verehrung Gottes einschließe und ausschließlich für diese Bedeutung verwendet werden müsse. Augustinus folgerte aus der Bezeichnung Nimrods als Jäger (venator), dass er nichts anderes sein könne als ein deceptor, oppressor und extinctor der Tiere. Die Gewalt gegen die Geschöpfe Gottes schloss die Auflehnung gegen Gott selbst ein. Augustinus sah in Nimrod gar einen Verschwörer (coniurator) gegen Gott, da er in Hochmut dessen Herrlichkeit herausgefordert habe, als er die Stadt Babylon gründete. Hochmut und Verschwörung hat Augustinus entgegen der biblischen Vorlage der Charakterisierung Nimrods hinzugefügt. Indem Augustinus auch das in der Vulgata, der maßgeblichen lateinischen Bibelübersetzung, verwendete Wort robustus durch gigantius ersetzte, bezeichnete er Nimrod außerdem als Riesen, machte 737 Siehe Kap. II.1. 738 Pseudoklementinen, Bd. 2: Rekognitionen in Rufins Übersetzung, hg. v. Bernhard Rehm, Franz Paschke, Leipzig 1965, S. 159–161; Hieronymus, Tractatus in Psalmo XC (CCSL 78), Turnhout 1958, S. 127; Commentarii in Isaiam (CCSL 73), Turnhout 1963, S. 43; Der Commentarii in prophetas minores (CCSL 76), Turnhout 76, S. 556; Haynes, Noah’s Curse, 46–49. 739 Eusebius, Werke, Bd. 3: Das Onomastikon, hg. v. Erich Klostermann, Leipzig 1904, S. 5.

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ihn groß und gefährlich. Er habe seine furchteinflößende Gestalt zur Steigerung seiner Macht verwendet.740 Obwohl die meisten der späteren Autoren die Umformulierungen des Textes der Vulgata, die Augustinus vornahm, nicht übernahmen, führten sie die Tradition fort, Nimrod als schreckenerregend, mächtig, herrschsüchtig, gewalttätig, hochmütig und Gott herausfordernd zu charakterisieren und ihn als Begründer ungerechter Herrschaft auf Erden vorzustellen. Isidor von Sevilla in seiner enzyklopädischen Schrift Etymologiae sowie die im 7. Jahrhundert verfasste prophetische Schrift des Pseudo-Methodius, beide weit verbreitete Schriften, steigerten den politischen Gehalt, indem sie die Gestalt von Nimrod zur Bewertung der zeitgenössischen Könige verwendeten. Aus der simplen Zuschreibung Nimrods als Jäger, wie im Bibeltext dargestellt, wurde eine Lehre geformt, die zu allen Zeiten gültig war und Personen und Institutionen bewertete, d. h. verurteilte. Nimrod galt als Tyrann. Diese Kennzeichnung entließ aber die gerechten Herrscher aus der Kontinuität von Nimrod. Aber das Abgleiten des Königtums in die Tyrannei war in der Bibel vorgeprägt. Es bedurfte der Mahnung und der Anstrengung, diesem Abgleiten entgegenzuwirken.741 Es war folgerichtig, dass die Figur Nimrods aus der biblischen Exegese in das kirchliche Recht eingestellt wurde. Dabei wurde die deutliche Scheidung von König und Tyrann aufgegeben. Die strafende Gewalt der Könige und Fürsten wurde als Folge der ungerechten und selbstsüchtigen Herrschaft bezeichnet und Nimrod als Begründer dieser Herrschaft vorgeführt. Im Decretum Gratiani, um die Mitte des 12. Jahrhunderts, nach der Abfassung einer ersten Redaktion als geordnete Kompilation des kirchlichen Rechts zusammengestellt, wurde König Nimrod in der Weise gedeutet, dass von ihm die weltliche Gewalt, einschließlich ihrer Ungerechtigkeit, ihrer Gewalt und ihres Schreckens ihren Anfang genommen habe. Mit Nimrod war der historische und begriffliche Archetypus des Herrschers vorgestellt, der den Schrecken verbreitet, die Menschen unterdrückt, sie tötet. Der Schrecken nahm seinen Ursprung von Nimrod. Aber Herrschaft durch Schrecken hatte noch einen anderen Ursprung. Auch die Bereitschaft der Schwachen, sich der Herrschaft zu unterwerfen, habe den Schrecken hervor740 Augustinus, De civitate Dei, S. 505. Eine theologische, auf das 19. Jahrhundert und die Gegenwart bezogene Deutung bieten: Haynes, Noah’s Curse, S. 46f.; Dorothy Farisani, Nimrod and the South African Context, in: Religious Life and the Story of Nimrod, hg. v. Anthony B. Pinn, Allen Dight Callahan, New York 2008, S. 121–132, bes. S. 132. 741 Isidor von Sevilla, Etymologiae, VIII, 6,22; Pseudo-Methodius, Revelationes, S. 64; Die syrische Apokalypse des Pseudo-Methodius, hg. u. übersetzt von G. J. Reinink (Corpus scriptorum christianorum orientalium 220) Löwen 1994; Die Apokalypse des PseudoMethodius, Die ältesten griechischen und lateinischen Übersetzungen, hg. v. W. H. Aerts, G.A.A. Kortekass (Corpus scriptorum christianorum orientalium. Subsidia 98) Löwen 1998; Hannes Möhring, Der Weltkaiser der Endheit. Entstehung, Wandel und Wirkung einer tausendjährigen Weissagung, Stuttgart 2000, S. 54–56.

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gebracht. Unterdrückung und Bedrohung seien das Ergebnis einer doppelten menschlichen Unvollkommenheit, die des Königs und die der Untertanen. Die Doppelung personaler Verursachung war mit einer weiteren Doppelung konzeptioneller Art verbunden: Erbsünde und Dummheit brachten die Schreckensherrschaft hervor. Moralisches und intellektuelles Versagen waren als die Quellen des Unheils vorgestellt. Aus der biblischen Passage, die Nimrod lediglich als Jäger vorstellt, war die Figur des Tyrannen abgeleitet. Aus demjenigen, der den Tieren nachstellt, war derjenige geworden, der die Menschen unterjocht. Aus dem Tyrann, der unrecht herrscht, war der König abgeleitet, der nicht minder mittels des Schreckens herrscht. Die Unterjochung und der Schrecken müssten aber hingenommen werden, da die menschliche Bereitschaft zum Bösen keinen anderen Ausweg lasse, als dass die Menschen durch Furcht im Zaum gehalten werden. An anderer Stelle heißt es im Decretum, die Gesetze seien erlassen worden, um kraft der Furcht vor ihnen die Menschen vor der Frechheit abzuhalten, Böses zu tun, und um sie der Hoffnung zu berauben, dass Verbrechen ohne Strafe blieben. Durch das Entsetzen vor der Strafe sei die Möglichkeit des üblen Tuns abzuwenden. Die einstigen Kaiser, sofern sie die Wahrheit des Glaubens erkannt hätten, hätten gute Gesetze erlassen, die aber nicht darauf verzichteten, die Rasenden in Schrecken zu versetzen, die Verständigen aber korrigierten: constituent bonas leges, terrentur sevientes et corriguntur intelligentes.742 Selbst ungerechte Richtersprüche seien zu fürchten. Diese Auffassung wird Papst Gregor zugeschrieben, die Quelle kann aber nicht weiter identifiziert werden. Im Widerspruch zu diesen Aussagen steht die aus der Bibel entlehnte Aussage im Decretum, dass allein der allmächtige Gott gefürchtet werde.743 Zuneigung zu gewinnen, war zur Etablierung der Herrschaft nicht notwendig. Aber nicht die Herrscher als Person sollten gefürchtet werden; die Furcht galt dem Recht. Allein die Unterstellung unter die geistliche Autorität war geeignet, die eschatologische Perspektive intakt zu halten, um das Wohl der Menschen zu erreichen, das erst im Jenseits verwirklicht würde, im Diesseits aber außerhalb der Reichweite des menschlichen Handelns läge. In dieser Weise deuteten die Kanonisten die Aussage im Dekret zu Nimrod und begründeten damit den Ausschluss weltlicher Herrschaft aus jeglichem Prozess der Verbesserung der Lebensumstände oder gar der Erlösung. Das Recht als Quelle von Furcht und Schrecken bot keine Aussicht, ein gutes Leben zu führen. Der Nutzen der Gesetze war gering, war auf die Abwendung von Übeln begrenzt, wie die Kommentierung des Dekrets in der Glossa ordinaria zum Dekret 742 Corpus iuris canonici, I, Sp.6, 11, 16: Pars I, Dist. IV, c. 1; Pars I, Dist VI, c. 3; Pars I, Dist. IX, c.1. 743 Ebda. Sp. 655f., 669: C. 11, q. 3, c. 40; C. , q. 3, c. 96; Anders Winroth, The Making of Gratian’s Decretum (Cambridge Studies in Medieval Life and Thought IV), Cambridge 2000, S. 91–97.

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von Johannes Teutonicus (vor 1200–1245) und Bartolomaeus Brixensis (ca. 1200–258) ausführte: Die Gesetze zwängen niemanden, gut zu handeln, lediglich hielten sie alle davon ab, Schlechtes zu tun. Gesetze und Gesetzgebung galten als die unvollkommenen Mittel, auf Erden dem Verbrechen Einhalt zu bieten. Der Kardinal und bedeutendste Kanonist des Mittelalters mit der am weitesten reichenden Wirkung auf die folgenden Jahrhunderte, Henricus de Segusio (kurz vor 1200–1271), verband König Nimrod nicht allein – wie im Dekret Gratians – mit Unterdrückung, sondern führte ihn auch als Gesetzgeber ein, der die rechtlich fixierten Pflichten gemäß den nach Regionen unterschiedlichen Ausformungen des ius gentium geschaffen habe. Obwohl nach der Sintflut nur wenige Menschen lebten, habe Nimrod angefangen, Städte zu erbauen und für deren Bewohner Gesetze zu erlassen. In der Kanonistik war die Verbindung hergestellt zwischen menschlicher Gemeinschaftsbildung, Staat, Unterdrückung und Rechtsordnung durch Gesetze. Auch einen innerweltlichen Nutzen der Herrscher, die alle in der Nachfolge Nimrods stünden, hat Henricus zugestanden. Zuneigung und Abstoßung, gemeinsamer Nutzen und Zwang, Liebe und Schrecken hat der Kanonist zusammengezogen; er erachtete sie als die Kräfte, die die unterschiedlichen Ausformungen des Rechts hervorbrächten. Aber der Nutzen des Rechts lag auch bei Henricus nicht in der Beförderung des individuellen und allgemeinen Glücks; er beschränkt ihn auf die Abwehr von Verbrechen. Die Gesetze müssten der Zunahme des üblen Handelns der Menschen folgen und dementsprechend erweitert werden. Die Anwendung des Rechts sei den Mächtigen anheimgegeben. Sie müssten die sündhafte Natur der Menschen korrigieren. Sei es auch den Königen verwehrt, so Henricus de Segusio, die Menschen zu unterdrücken und ihnen die Freiheit zu rauben, so hätten sie doch um nichts weniger die Aufgabe, die Menschen zu zwingen und sie von ihrem Hochmut und ihrer Neigung, Böses zu tun, abzuhalten. Deswegen sei der terror iuris notwendig – um die Geltung der Gesetze zu erreichen, um Verbrechen zu bekämpfen. Gesetze sollten Inhibition statt Promotion vorsehen. Dass das Recht und nicht die Herrscher Nutznießer des Schreckens sein sollten, zeigt sich daran, dass ihnen Schranken auferlegt werden sollten, um sie an willkürlichen Urteilssprüchen und ungesetzlichen Gewährungen von Rechten zu hindern. Die Anwendung der Gesetze, nicht den Vollzug des Willens des Herrschers hat Henricus vorgesehen. Nicht als politisches Instrument, sondern als juristisches Verfahren war der Schrecken einzusetzen, nicht der Unterwerfung, sondern der Beachtung des Rechts diente er. Aus der Gestalt von Nimrod leitete Henricus die Strenge und den Schrecken der Gesetze ab, nicht der des Herrschers.744 744 Johannes Teutonicus, Bartholomaeus Brixensi, Glossa ordinaria, Rom 1582, Sp 14; Hinweise zu weiteren Kommentaren: Stürner, Peccatum, S. 162f.; Henricus de Segusio, Com-

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Der positiven Wertung, die Henricus de Segusio bei der Deutung von Nimrod vornahm, folgten, trotz der weiten Verbreitung seines Werkes, andere Autoren nicht. Sie wendeten vielmehr die Deutung in eine Richtung, bei der die Gestalt von Nimrod noch stärker entwertet, ihr aber gleichwohl eine historische, juristische und politische Notwendigkeit zugeschrieben wurde. Dies galt vor allem für die Historiographie. Otto von Freising (ca. 1112–1158) stellte Nimrod in seiner Chronik nicht nur als gewaltsamen Herrscher vor, sondern – verwerflicher noch – als Widersacher Gottes. Um dies zu begründen, übernahm Otto die Umdeutung, die einst Augustinus vorgenommen hatte: Nimrod handele contra Deum. So wie Augustinus erachtete Otto den König Nimrod als denjenigen, der den Turm zu Babylon errichtet habe. Nimrod sei von Hybris getrieben, und er lehne sich gegen Gott auf. Otto bewertete die religiöse Einstellung zu Gott, nicht das Handeln gegenüber den Untertanen. Eine politische Deutung fehlte. Die grausame Gewalt des Herrschers heftete Otto hingegen an den späteren assyrischen König Ninus an. Er sei der erste Herrscher gewesen, der nach vielen Jahren des Friedens von der Lust angetrieben gewesen sei, seine Herrschaft auszudehnen. Für dieses Ziel habe er sich nicht gescheut, das Blut der Menschen zu vergießen und überall in der Welt Krieg zu führen. Wie ein Wolf sei er in die Herde der Schafe eingefallen. Und Ninus habe Erfolg gehabt. Er habe fast über den gesamten Osten seine Herrschaft errichtet. Dies sei ihm gelungen, weil die anderen Menschen roh und bäuerisch gewesen seien, ungeübt im Gebrauch der Waffen, unerfahren mit dem Führen von Kriegen, unfähig, ihm zu widerstehen. Zuvor ohne Disziplin und Gesetzestreue, seien die Menschen damals in die Gewalt der Herrschaft hineingezwungen worden. Otto stellte die Entstehung von Gewaltherrschaft als zivilisatorischen Prozess dar, der aber ein Vorgang der Gewalt und des Zwanges ist. Er wies auf Cicero und Eusebius hin, die einen Zustand des herrschaftsfreien, aber auch ungezähmten und wilden Lebens vorstellten, das dem der Tiere geglichen habe und abseits von Städten und ohne Vergemeinschaftung geführt worden sei.745 Die Unterwerfung unter die Gesetze, der Zwang, die Gewalt, der Krieg und das Blutvergießen hätten diesen Zustand beendet. Die Vorteile der Vergesellschaftung und der Herrschaft waren teuer erkauft. Der nordfranzösische Kanoniker Petrus Comestor (ca.1100–1179) stellte in mentaria, fol. 6r, 61r, 170v, 176r ; Rudolf Wiegand, The Development of the Glossa ordinaria to Gratian’s Decretum, in: The History of the Medieval Canon Law in its Classical Period 1140–1274), hg. v. Wilfried Hartmann, Kenneth Pennington, Washington 2008, S. 55–97; Martin Bertram, Handschriften und Drucke des Dekretalenkommentars (sog. Lectura) des Hostiensis, in: ZRG KA 75 (1989), S. 177–201; Jörg Müller, Enrico Bartolomei di Susa, Henricus da Segusia, genannt Hostiensis = Einleitung zum oben genannten Neudruck. 745 Otto von Freising, Chronica, S. 42, 44; Marek Thue Kretschmer, »Drinking the Golden Cup of Babylon«: Biblical Typology and Imagery in the Chronicle of Otto of Freising, in: Viator. Medieval and Renaissance Studies S. 67–84, 47 (2016), S. 71–73.

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seiner als Universalgeschichte angelegten Schrift Historia scholastica ebenfalls die Entstehung der Herrschaft als Geschichte der Gewalt und der Unterdrückung dar. Aber nicht Ninus, sondern bereits Nimrod galt ihm als ihr erster Verursacher. Der amor dominandi habe Nimrod angetrieben, sich gegen Gott aufzulehnen und die Menschen zum Götzendienst und zur Anbetung des Feuers zu zwingen. Die Zwangsgewalt verfolge, so meint Petrus, verwerfliche Ziele. Von der Anerkennung des wahren Gottes habe die rohe Gewalt des Herrschers abzuhalten versucht. Petrus stellt sogar eine genealogische Kontinuität vor, die alle Könige als Nachfolger von Nimrod mit ihm verknüpft. Die dynastisch-genetische Ableitung weist auf die Verwerflichkeit aller Könige, die nicht allein die Menschen unterdrückten und ihnen Gewalt zufügten, sondern sie häufig von Gott abzuwenden versuchten. Die Furcht, die Nimrod und mit ihm andere Könige verbreiteten, führe dazu, dass die Menschen beständig in Schrecken gehalten würden. Der Schrecken unterwerfe den Willen der Menschen, so dass sie, auch wenn sie ursprünglich anderes beabsichtigten, schlechte Taten verübten. Der Königsherrschaft war nicht einmal wie bei Otto von Freising ein Zugewinn an Zivilisation zugebilligt. Der Schrecken war kein Mittel, um von Verbrechen abzuhalten, nein, um sie auszuüben.746 Johannes von Salisbury († 1180) präsentierte in seinem Hauptwerk Policraticus die Gestalt von Nimrod nicht nur als zur Argumentation eingesetztes Exempel zur Verurteilung der Jagd747, sondern leitete von ihr auch eine politiktheoretische Erörterung ab, in der er Nimrod als Personifikation brutaler Herrschaft, basierend auf Gewalt und Schrecken, vorführte, wie weiter unten gezeigt werden wird.748 Die Gestalt von Nimrod war indes vieldeutig einsetzbar. Nicht als Personifikation des Bösen, sondern als Präfiguration jeder Herrschaft, die nicht prinzipiell als verwerflich vorgestellt ist, wird Nimrod am Ende des 12. Jahrhunderts durch Gottfried von Viterbo (ca.1125–1192) eingeführt. Dieser Autor wurde an der Bamberger Domschule ausgebildet, war den Kaisern aus der Stauferdynastie eng verbunden, leistete ihnen auch politische Dienste. Seine Einbindung in die Praxis der Herrschaft motivierte offensichtlich die positive Bewertung. Er zieht in dem von ihm verfassten Fürstenspiegel eine genealogische Verbindungslinie von Nimrod zu allen späteren Königen und reklamiert ihn sogar als Ahnherrn der mittelalterlichen Kaiser, auch seiner eigenen Zeit, also von Friedrich I., aber eine Verurteilung der gegenwärtigen Könige entfällt, weil sie den erstmals von Nimrod eingeführten Schrecken für wertvolle Ziele, die Zurückdrängung des 746 Petrus Comestor, Historia scholastica, Sp. 1088. 747 Johannes von Salisbury, Policraticus, hg. v. Keats-Rohan, S. 29–42; Von Moos, Geschichte, S. 320. 748 Kapitel X.3.

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Bösen, einsetzten und den Schrecken milderten.749 Zur Milderung gehöre es, dass der Schrecken, so Gottfried, sich nicht gegen das eigene Volk richten dürfe. Deswegen habe Kaiser Nero schändlich gehandelt, als er, der in seiner Jugend noch vor seinen Lehrmeistern Furcht gehegt habe, nach seiner Kaiserkrönung die anderen Römer dazu gebracht habe, ihn zu fürchten; nicht einmal sein einstiger Lehrer Seneca sei von der Furcht verschont geblieben, der ihn doch zur Milde hätte leiten sollen.750 Gottfried nimmt Nimrod aus der Reihe der schlechten Herrscher heraus, stellt in diese stattdessen in prominenter Weise Nero ein. Nimrod gilt als Begründer der Königsherrschaft und der guten Regierung. Die negative Sicht auf Nimrod war indes nicht abzuschütteln. Dante Alighieri (1265–1321) platzierte Nimrod in die Hölle. Im einunddreißigsten Gesang des Inferno seines Hauptwerkes der Divina Comedia beschreibt er die furchteinflößende, riesige Gestalt – selbst drei Friesen könnten ihm nicht bis zum Kopfhaar reichen. Dante stellt ihn als Diener des Kriegsgottes Mars dar ; er habe Gewalt eingesetzt, Furcht verbreitet; seine schlimmste Verfehlung aber bestehe im Turmbau zu Babel, was die Sprachverwirrung unter den Menschen herbeigeführt habe. Nimrod selbst könne, in der Hölle hockend, nur unverständliche Laute lallen. Dante hat weniger die Furcht, den Schrecken und die Gewalt, die Mittel von Eroberung und Herrschaft seien, mit Nimrod assoziiert, sondern die Zerstörung einer weltumspannenden Kommunikation, die ihm als Voraussetzung Glück bringender Kooperation so wichtig war.751 Dante entfernte sich von der Tradition der Vorstellungen zu Nimrod insofern, als er seine Herrschaft als schädlich für eine weltumgreifende Gemeinschaft der Menschen ansah, folgte ihr aber doch in der Weise, als er Nimrod als Quelle der Zerstörung einer guten politischen Verfassung präsentierte.752 Außerhalb der theologischen, juristischen und historiographischen Texte war Nimrod auch in der fiktionalen Literatur als Sujet etabliert. Das im späten Mittelalter sehr weit verbreitete Werk der fiktiven Reisen des John Mandeville – um die Mitte des 14. Jahrhunderts von einem Anonymus verfasst – beschrieb Nimrod als riesig und monströs. Er sei der erste König gewesen, der den Götzendienst eingeführt und Standbilder von sich errichtet habe, die die Untertanen verehren müssten. Spätere heidnische Herrscher hätten sein Tun nachgeahmt. Von seinem Geschlecht stammten die deformierten Gestalten – manche ohne Kopf, manche mit großen Ohren, manche einäugig. Die Ausbreitung exotischer Absonderlichkeiten stellt die politische Bewertung zurück. Die Nachfahren von 749 Gottfried von Viterbo, Speculum regum, S. 22, 31f.; Maria E. Dorninger, Gottfried von Viterbo. Ein Autor in der Umgebung der frühen Staufer, Stuttgart 1997. 750 Ebda., S. 72. 751 Siehe hierzu Kapitel XII.7. 752 Dante Alighieri, Divina Comedia, Bd. 2: L’inferno, S. 530–535.

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Nimrod waren in eine weite zeitliche und räumliche Ferne gerückt. Nimrod war aber doch auch der Prototyp der erfolgreichen Herrscher, die aber ebenfalls aus der heimischen okzidentalen Christenheit entfernt waren; bereits sein Vater habe mittels der Grausamkeit den besten Teil des Orients erobert. Die Mongolenherrscher seien die Nachfolger.753 Die Gestalt von Nimrod fand Eingang in die populäre Literatur, verlor dabei aber eine deutliche Konturierung als König und als Tyrann und wurde zum exotischen und abscheulichen Fremden. Der Reiseroman von Mandeville entfernte ihn aus dem Okzident, entließ ihn so einer politischen Bewertung. Die lange Traditionsgeschichte zu Nimrod hinterließ ein facettenreiches Bild. Er galt einerseits als Beleg für die Verwerflichkeit der Herrschergewalt, andererseits für deren Notwendigkeit. Er war sowohl die charakteristische und definitorische Figur des Herrschers, d. h. jeden Königs, oder die distinktive Gegenfigur in Opposition zum Vorbildlichen. Im zweiten Fall eignete er sich auch zur pädagogischen Intervention bei den Fürsten, wie dies der portugiesische Franziskaner Alvaro Pelayo in seinem Fürstenspiegel kurz vor der Mitte des 14. Jahrhunderts vorführte.754 Nimrod wurde im späten Mittelalter schließlich als Kriegsherr und Begründer des Adels vorgeführt. Für Johannes Rothe, den Autor der Thüringischen Landeschronik aus dem 15. Jahrhundert, gilt er als erster, der ein Heer aufgestellt habe. Die stärksten Männer habe er ausgesucht, habe sie angeleitet, sie in geordnete Reihen gestellt, sie siegen gelehrt.755 Diese Wendung ins Positive zeigt sich auch in fiktiven Genealogien der Luxemburger und der Habsburger Dynastie seit dem 14. Jahrhundert. Nimrod wird zum Ahnherrn jeder Herrschaft stilisiert, für das eigene Geschlecht reklamiert und als Vorbild der guten Herrschaft in Anspruch genommen. Aber es ist ein Urteil, das offensichtlich nicht allgemein akzeptiert wurde. Dies zeigte sich in der ausdrücklichen Zurückweisung einer Abstammung von Nimrod durch Kaiser Maximilian, Angehöriger der Habsburgerfamilie.756 753 Le livre des merveilles du monde. Jean Mandeville, hg. v. Christine Deluz, Paris 2000, S. 140, 379; Christine Deluz, Le livre de Jean de Mandeville. Une g8ographie au 14e siHcle, Louvainla-Neuve 1988, S. 292, 294; Rosemary Tzanaki, Aspects of Mandeville’s Audiences, in: Jean de Mandevill in Europa. Neue Perspektiven in der Reiseliteraturforschung, Paderborn 2007, S. 79–92; Miguel Angel Ladero Quesada, Reale und imaginäre Welten: John Mandeville, in: Legendäre Reisen im Mittelalter, hg. v. Feliciano Novoa Portela u. a. Stuttgart 2008, S. 55–76. 754 Schrick, Königsspiegel des Alvaro Pelayo, S. 19f., 204–209; Morais Barbosa, Teoria. 755 Johannes Rothe, Thüringische Landeschronik und Eisenacher Chronik, hg. v. Sylvia Weigelt (Deutsche Texte des Mittelalters 87), Berlin 2007, S. 16; Christian Huber, Die Ritterweihe Landgraf Ludwigs IV. bei Johannes Rothe. Textbausteine und poetologische Aspekte, in: Literatur und Macht im mittelalterlichen Thüringen, hg. v. Ernst Hellgardt u. a., Köln u. a. 2002, S. 165–178. 756 Haynes, Noah’s Curse, S. 240f.; Jörg Jochen Berns, Maximilian und Luther. Ihre Rolle im

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Das changierende Bild erlaubte auch den sozialen Protest: Nimrod sei der Begründer des Adels, daher derjenige, der Gewalt und Unterdrückung und die Ausbeutung der Bauern begonnen habe. Das kritische Potential, das die Figur von Nimrod anbot, war in einem spätmittelalterlichen Text, der die Anliegen der Bauern vorstellte, zur De-Legitimierung sozialer Ungleichheit aktiviert.757 In den Traditionsschichten war – bis auf wenige Ausnahmen – ein Bild von Nimrod geformt, der niemanden – weder Tier noch Mensch – aus seiner Gewalt und seinem Schrecken entließ. Nimrod war nicht einzigartig, viele Herrscher folgten ihm. Die Deutung der biblischen Gestalt und ihre Einkleidung in eine Erzählung eigneten sich zum Verständnis von politischer Verfasstheit. Damit trat Nimrod auch in eine philosophische Erörterung ein, so bei Johannes von Salisbury in seinem Werk Policraticus.758 Die Argumentation, die der franziskanische Theologe und Philosoph Johannes Duns Scotus an der Wende zum 14. Jahrhundert präsentierte, lenkte die Deutung noch mehr in eine institutionell-politische Konzeption, verließ die Bewertung einer Person und machte Nimrod zum Prototyp der Herrschaft selbst, nicht allein der Herrscher.759 Aus der Narration des Vergangenen erwuchsen Konzeptionen des Gegenwärtigen. Die Interpretation beruhte auf einer produktiven Umformung des Bibeltextes. Im Mittelalter war ein Modell angeboten, um die weltliche Herrschaft zu kritisieren und zu entwerten. Aber die Gestalt von Nimrod eignete sich auch für eine Apologie der Gewalt der Herrscher und war die Grundlage dafür, Gewalt und Unterdrückung im Staat als seit dem Beginn der Geschichte unabänderliches Faktum anzusehen, das nicht geändert werden könne, weil während aller Zeiten die Gestalt von Nimrod Herrschaft auf einen biblischen Ursprung zurückführte. Die Geburt der Herrschaft aus der Gewalt war fest etabliert. Was als kritisches Potential gegenüber der Herrschaft übrigblieb, riskierte durch eine religiöse Deutung – die Auflehnung gegen Gott – verloren zu gehen. Das Ergebnis war paradox: Die religiös begründete Abwertung der Gewalt entlastete von ethisch-politischen Anforderungen, die der guten Herrschaft die Sorge für die Untertanen auferlegt hätte. Sofern die Herrschaft definitorisch unheilbar (der Begriff in seiner religiösen und juristischen Bedeutung) aus dem Bösen entsprang und dem Bösen verhaftet war, waren Anforderungen hinsichtlich einer den Nutzen für die Menschen herstellenden Herrschaft nichtig.

Entstehungsprozess einer deutschen National-Literatur, in: Nation und Literatur im Europa der Frühen Neuzeit. Akten des ersten internationalen Osnabrücker Kongresses zur Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit, hg. v. Klaus Garber, Tübingen 1989, S. 640–668, S. 655. 757 Eva Kiepe Willm, Der Bauern Lob, in: Verfasserlexikon. Deutsche Literatur des Mittelalters, 2 Aufl., Bd. 1, hg. v. Kurt Ruh, Berlin, New York 1978, Sp. 635–637. 758 Kapitel X.3. 759 Kapitel XII.2.

VIII. Verteidigung der Herrschaft (12. und 13. Jahrhundert)

1.

Die Behauptung des guten Schreckens der Herrscher

Die gregorianischen Kirchenreformer, gerade weil sie dem Königtum eine religiöse Zielsetzung entzogen, lockerten für die Herrschaft die Verantwortlichkeit für die Kirche und gaben den Anstoß, für sie eine eigene Legitimität zu suchen, die – so die Auffassung von Jean-Philippe Genet – dazu beitrug, ein Konzept des »modernen Staates« zu begründen, das die Fähigkeit voraussetzte, Zustimmung und Unterwerfung der Untertanen unvermittelt, ohne die Kirche einzusetzen, zu erreichen.760 Das Ergebnis war widersprüchlich: Um die königliche Herrschaft gegen die Entwertung ihrer Legitimität durch geistliche Autoren zu verteidigen, wurde deren Argument, dass sie den Schrecken verbreitete, umgedreht: Der Schrecken wurde als Herrschaftsinstrument ins Positive gewendet, indem er als unumgänglich behauptet und mit der zwingenden Geltung der Gesetze verbunden wurde. Legislative und jurisdiktionelle Perfektionierung erforderten die Anwendung des Schreckens. Er wurde von einer individuellen Verursachung und Auswirkung abgelöst und institutionalisiert. Anders als in den Fürstenspiegeln des 9. Jahrhunderts, die vorsahen, dass die Ausübung von Herrschaft sowohl Liebe als auch Schrecken erfordere, ging es nunmehr um eine definitorische Kennzeichnung, also nicht um eine Handlungsanleitung. Wenn der Schrecken unumgänglich und notwendig war, dann bedurfte es einer rechtlich anerkannten Instanz, die ihn ausübte, nicht aber einer Ableitung von religiös begründeten Autoritäten, die mit der Verursachung des Schreckens ja auch gar nicht belastet werden wollten. Es war auch mehr vorausgesetzt als nur die Verbesserung eines persönlichen Handelns und mehr als nur eine Anwendung von Tugenden. Institutionelle Grundlagen waren zu definieren. Es waren einige geistliche Autoren, die die Legitimität weltlicher Herrschaft verteidigten, auf die Negierung ihrer Legitimität durch die Anhänger der Päpste und der Kirchen760 Jean-Philippe Genet, Pouvoir symbolique, l8gtimit8 et genHse de l’Etat moderne, in: La l8gitimit8 implicite, hg. v. dems., Rom 2015, Bd. 1, S. 9–48.

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Verteidigung der Herrschaft (12. und 13. Jahrhundert)

reformer reagierten und Schrecken als anerkannten Bestandteil der Herrschaft behaupteten. Geistliche, die mit den Höfen in engem Kontakt standen und Dienste für die Könige erbrachten, leisteten die intellektuelle Arbeit, um eine Entwertung der Herrschaft abzuwenden und um ihr einen legitimen Handlungsbereich abzustecken. Gegen die Versuche von Geistlichen, ihre Zuständigkeiten zu erweitern und die königliche Macht zu de-legitimieren, bestand Adalbero von Laon (977– ca. 1030) in seiner König Robert II. von Frankreich gewidmeten Schrift Carmen ad Robertum Regem. Er vertrat ein Konzept der Aufgabenteilung, die die jeweilige Legitimität von König und Priestern nicht antastete. Adalbero war Bischof von Laon, unterstütze die kapetingische Königsdynastie, insbesondere die Könige Hugo und Robert, die sich gegen die Angehörigen der bislang regierenden karolingischen Herrscher im Westfrankenreich durchgesetzt hatten, hielt aber am Ende seines Lebens Abstand zu ihnen und begann sie zu kritisieren. Seine Auffassung, die die institutionelle Position des Königtums verteidigte, war von diesen Wendungen unbeeinflusst. Er suchte zu beweisen, dass die Kompetenz der Könige gegenüber der der Geistlichen abzuschirmen und ihr ein eigener Bereich zuzuweisen sei, in den Kirchenleute und insbesondere die Mönche von Cluny nicht einzudringen befugt seien. Deren Einrichtung von Friedensbünden und deren Kampf gegen Friedensbrecher761 beschädigten, so Adalbero, die königliche Gewalt. Die hierarchische Ordnung, einschließlich der Positionierung des Königs, sei notwendig vorgegeben und habe eine theologisch abgesicherte Begründung. Dionysius Areopagita habe ihre Geltung dargelegt.762 Die irdische Ordnung sei nach dem Vorbild der himmlischen gestaltet. In ihr seien die Menschen in drei Gruppen aufgeteilt, die der Betenden, der Kämpfenden und der Arbeitenden.763 Die funktionale Differenzierung setzt die Menschen als Glieder einer Nutzengemeinschaft ein, die nach ihrer Machtausstattung und Tätigkeit unterschiedlichen Lebensbedingungen unterliegen und die unterschiedliche Anforderungen erfüllen müssen. Die grundsätzliche Gleichheit der Menschen zeigt sich darin, dass alle Aufgaben wahrnehmen, die nützlich sind. Indes werden die Aufgaben arbeitsteilig erbracht. So entsteht Ungleichkeit hinsichtlich der Lebensbedingungen, unter denen die Aufgaben geleistet werden. Adalbero schreibt, Gott forme alle Menschen aequali conditione, aber deren natura vel ordo unterscheide sich hinsichtlich ihrer sozialen Stellung. Nicht auf ontologischen Differenzen von Menschen, sondern auf relationalen Konstella761 Siehe Kapitel VI.4. 762 Siehe Kapitel IV.9. 763 Robert T. Coolidge, Adalbero, Bishop of Laon, Oxford 1965; Le Goff, Note sur la soci8t8 tripartite; Duby, Trois ordres; Oexle, Funktionale Dreiteilung; Claude Carozzi, Adalb8ron et les servi, in: Histoire et soci8t8. M8langes offerts / Georges Duby, 4 Bde., Aix-en-Provence 1992, II, S. 159–168.

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tionen beruht also die Ungleichheit. Deswegen ist die gesellschaftliche Position nicht ein Ergebnis persönlicher Verdienste, sondern willkürlich scheinender, aber um nichts weniger unausweichlicher und gerechtfertigter Zuweisungen. Die Brutalität einer solchen Ordnung wird gar nicht erst verheimlicht. Adalbero beschreibt die unerträglichen Lebensbedingungen der Arbeitenden: Ihnen seien nie enden wollende Mühen aufgetragen; sie stellten den Reichtum für die anderen Gruppen bereit; sie zerlegten die Schweine; sie kochten das Fett; sie reinigten die Kleider, sie bearbeiteten die Äcker ; sie arbeiteten im Schmutz. Ihre Klagen und Tränen nähmen kein Ende. Indes, nichts könne sie von ihrem Schicksal befreien; es sei von Gott eingerichtet; jeglicher Widerstand sei verwerflich. Das gesellschaftliche Elend wird durchaus wahrgenommen und dargestellt, aber als Ergebnis von Gottes Willen bezeichnet. Was sozial verwerflich ist, ist theologisch gerechtfertigt. Um die Arbeitenden in ihre Lebensbedingungen herabzudrücken, ist nicht ihre Einsicht vorausgesetzt, denn das Wissen ist in einem mystischen Gesamtplan (intentio mystica) verborgen, den zwar Adalbero zu deuten sich befähigt erachtet, ansonsten aber den Arbeitenden nicht bekannt ist. Es sei also, so schreibt Adalbero, die Androhung von Gewalt, nicht Einverständnis erforderlich, um die Ordnung aufrechtzuerhalten und die laboratores zu bezwingen. Die Furcht vor Gott ist gepaart mit der Furcht vor den Herren und dem König, um die Arbeitenden zur Pflichterfüllung anzuhalten und um die soziale Ordnung zu bewahren. Die prinzipielle Gleichheit aller Menschen bezieht Adalbero auf die nicht unterschiedene Erlösungsfähigkeit zum himmlischen Heil. Dies hat keine sozialen Auswirkungen. Dass die Könige, Adeligen und Geistlichen in Abhängigkeit derer lebten, die für sie arbeiteten und ihnen materielle Güter abtreten müssten, ändere nichts an den Herrschaftsverhältnissen, die die Arbeitenden in Unterdrückung hielten. Nur wenn die Menschen in drei Gruppen aufgeteilt seien, könne es Frieden geben. Gegen die heraufbrechende Gefahr, dass die Wahrnehmung der unterschiedlichen Aufgaben gestört werde, warnt Adalbero. Dieser Gefahr müsse der König mittels seiner legitimen, weil von Gott verliehenen Gewalt Einhalt gebieten. Ihm sei zu Recht aufgetragen, die Zügel zu führen, er solle mit der Knute zuschlagen, um diejenigen, die Schaden stifteten, d. h. sich Aufgaben, die ihnen nicht zustünden, anmaßten, von ihrem Tun abzuhalten.764 Dass die Cluniazenser die Autoriät weltlicher Herrschaft gemindert hätten, wie Adalbero von Laon behauptete, war aber eine nicht gerechtfertigte Unterstellung, die Adalbero wohl aus dem Ressentiment eines Diözesanbischofs vorbrachte. Selbst eine durch die Kirchenreform angefachte Opposition gegen

764 Adalb8ron de Laon, PoHme, S. 16–25.

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Verteidigung der Herrschaft (12. und 13. Jahrhundert)

die weltliche Gewalt war nicht vorhanden.765 Vielmehr hat der langjährige Abt von Cluny, Petrus Venerabilis (ca. 1092–1156), die Aufgaben der Könige zur Verteidigung der Christenheit herausgestellt, ja sie zur einer extremen Mobilisierung der Gewalt aufgefordert, sofern sie sich gegen diejenigen richtete, die Petrus als Feinde der Christen erachtete. Zu diesen Feinden würden neben den Muslimen auch die Juden gehören. In einem Brief an den französischen König Ludwig VI. empfahl er, gegen diese gewaltsam vorzugehen und den Schrecken als König gegen sie einzusetzen. Ihnen solle er das Eigentum wegnehmen, das er zur Unterstützung der Kreuzzüge verwenden würde; er solle die Juden zu Knechten der Christen herabdrücken; er solle sie – falls dem König dies opportun erscheine – aus dem Königreich vertreiben. Die anti-jüdische Gewaltmilitanz sollte nur noch im Verbot, sie zu töten, eine Grenze finden. Petrus stellte die Juden außerhalb einer allein durch die Christen gebildeten vollständigen Gesellschaft; die Juden hingegen würden parasitär zum Schaden der Christen ihr Leben fristen. Weil die Juden kein eigenes regnum besäßen, wie Petrus in einer Predigt ausführt, seien sie zur Unterwerfung unter die Herrschaft von Christen zu zwingen. Die königliche Gewalt war in all ihrer Brutalität gegen die religiöse Minorität aufgerufen. Sie sollte sie aussondern, um die Superiorität der Christen zu erhalten.766 Außerhalb einer in drei Gruppen gegliederten Gesellschaft gab es nur die Beziehung von Gewalt und Unterjochung. Beide waran aber keineswegs nur nach außen gerichtet. Die gesellschaftliche Dreigliederung legitimierte ebenfalls königliches Gewalthandeln. In diesem Fall war es aber an eine natürliche, von Gott eingesetzte Ordnung angebunden, die ihm eine soziale Funktion zuwies, die darin bestand einen Nutzen zugunsten der gesamten Gesellschaft zu erzeugen. Diese Ordnung erlaubte keinen Ausbruck aus ihr. Jeder Widerstand gegen sie entbehrte einer Berechtigung, weil sie nicht auf Konvention, nicht auf Treue und nicht auf Unterwerfung, sondern auf fixierte, unauflösbare Bindungen beruhte. Weil die Funktionalisierung an hierarchische Ungleichheiten angeheftet wurde, schloss sie die Beförderung eines individuellen Wohls aus. Die gesellschaftliche Dreigliederung gewährte denjenigen, die das Schwert führten, eine unmittelbare Legitimierung, die von den Geistlichen weder bestritten noch durch sie delegiert werden konnte. Deswegen gab es auch kein Hemmnis für ungehinderte, mit Schrecken behaftete königliche Gewalt, die einzusetzen war, um den Frieden zu behüten und um die Christen vor den Nachstellungen ihrer 765 Yves Sassier, Structures du pouvoir, royaut8 et res publica, (9e-12e siHcles, Mont-SaintAignan 2004, S. 38–41. 766 The Letters of Peter the Venerable, hg. v. Giles Constable, Cambridge (Mass.) 1967, S. 327– 330; Petrus Venerabilis, Sermones tres, hg. v. Giles Constable, in: Revue B8n8dictine 64 (1954), S. 232–271, S. 232–254 ; Dominique Iogna-Prat, Ordonner et exclure. Cluny et la soci8t8 chr8tienne face / l’h8r8sie, au juda"sme et / l’Islam 1000–1150, Paris 199i, S. 114, 161.

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Feinde zu beschirmen, damit die Ordnung vor Störung bewahrt wurde, die als eine Störung der göttlichen und natürlichen Einrichtung der Dinge dargestellt war. Schrecken und Gewalt als anerkannte Grundlagen der Macht des Königs anzusezten, genügte aber nicht. Aus der Herrschaft Liebe auszugliedern, wie dies die Kirchenreformer vorstellten, traf auf Widerstand. Die Ablehnung dieser Vorstellung war deutlich am Ende des 11. Jahrhunderts formuliert worden – in einem Traktat, den der Italienier Benzo von Alba († 1086/90), Vertrauter Kaiser Heinrichs III. und dann seines Sohnes und Nachfolgers Heinrichs IV., verfasste. Er war Mitglied der kaiserlichen Hofkapelle und Bischof in Italien. Er formulierte Argumente, um das Königtum während des Streites zwischen den Päpsten und Heinrich IV. mit Legitimationen auszustatten. Der König galt ihm als derjenige, der die Liebe zu seinen Untertanen verwirkliche. Die Realisierung war nicht einmal auf seine Person beschränkt, sondern erfasste das Königtum in Gänze. Benzo vertrat die Auffassung, dass der König in Ausübung seines Amtes – also im rechten Gebrauch der Macht – stets diejenigen liebe, die auch ihn liebten, so dass er die Untergebenen am besten zur Liebe untereinander und für alle durch den Dienst zu seinen Gunsten führen könne und die Liebe im ganzen Reich durch den König gefördert werde. Anders als bei früher konzipierten Auffassungen war Liebe hier nicht als Instrument vorgestellt, das der Akzeptanz der Herrschaft dienlich sei, nicht als Pflicht auferlegt, sondern als Wesensmerkmal des Königs und des königlichen Amtes festgelegt und als diesem innewohnendes Ziel vorgesehen, war also definitorisch begründet und intentional auf Wirkung hin ausgerichtet. Die Liebe war nicht akzidentiell oder normativ an den König herangetragen. Die Liebe war eingewoben in die Person und in das Amt. Benzo von Alba suchte die Liebe innerhalb des Herrschaftsverbandes zu installieren, indem er sie als eine die gesamte Menschheit durchdringende Kraft darstellte, die am höchsten ausgeprägt sei in der Liebe Gottes zu den Menschen, absteigend bis zum amor proximi, die jeden einschließe, dann zur familiär eingegrenzten fraterna dilectio führe, um schließlich zur – nach seiner Auffassung – untersten Stufe, zur Feindesliebe, herabzusteigen, die darauf verzichte, Böses mit Bösem zu vergelten, damit aber einer gegenseitigen, Vorteil gewährenden Liebe entzogen sei und für die Herrschaft wenig nützlich und gar verwerflich sei. Politisch bedeutsam hingegen erscheint bei Benzo die Liebe zwischen den Herrschern, wenn sie Bündnisse vereinbarten, und die zwischen Herrschern und Untertanen, die für den gemeinsamen Nutzen wirkten.767 Benzo 767 Benzo von Alba, Ad Henricum IV., S. 108, 170, 224; ebda Einleitung vom Hg., S. 1–72; Georg Strack, Antagonistische Positionen zur politischen Redekultur im 11. Jahrhundert. Benzo von Alba und Rangerius von Lucca, in: Brief und Kommunikation im Wandel. Autoren, Kontexte und Debatten des Investiturstreits, hg. v. Anja-Lisa Schroll, Köln 2016, S. 243–260.

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schloss eine erschreckende Gewalt aus, die als notwendig und daher als günstig andere Autoren behaupteten, die die königliche Herrschaft vor den Angriffen der Kirchenreformer verteidigten.768 Er reklamierte für den König das, was viele Geistliche für sich zu monopolisieren beanspruchten: die Liebe. Die Verteidiger des Königtums meldeten sich überall in Europa zu Wort und nicht nur im Zusammenhang mit dem Konflikt zwischen Kaiser und Papst. Wilhelm von Conches († 1154), Lehrer und Philosoph an der Kathedralschule in Chartres, enger Mitarbeiter des Grafen Gottfried von Plantagenet und Erzieher von dessen Sohn und dem künftigen englischen König Heinrich II., suchte der weltlichen Herrschaft Legitimität zu sichern. Er bot in seiner kommentierenden Schrift zu Platon ebenfalls eine Deutung der Herrschaft an, die auf einer von Gott begründeten Aufgabenteilung beruht, die Wilhelm mit Metaphern organologischer Kooperation ausstaffiert. Die Ordnung der Gesellschaft verlange, dass die Beherrschung der Antriebe nicht den Individuen anvertraut werden könne, vielmehr einer Kontrolle durch die Mächtigen bedürfe. Wilhelm entfaltet eine Erzählung des historischen Fortschritts, der darin bestehe, dass herrscherliche Gewalt einst zur Zügelung der barbarischen Wildheit entstanden sei, dass es ihr gelinge, ihre Wirksamkeit zunehmend zu erweitern, indem sie den Willen der Untergebenen niederringe, und dass sie so die Voraussetzung schaffe, zur Entfaltung des Guten beizutragen. Es sei erreicht worden, eine ursprüngliche, rein sinnliche, bar jeden Gebrauchs der ratio handelnde Menschheit zu stets höheren Stufen der Entwicklung zu führen, so dass zugleich die Ausübung von Herrschaft verbessert werde, ohne dass sie von ihrer ursprünglichen Grausamkeit ablasse. Ihr falle die Aufgabe zu, die spontanen Triebe zurückzudrängen und dazu auch zwingende Gewalt einzusetzen. Gleichwohl bleibe das, was die weltliche Herrschaft erreichen könne, weit hinter den Zielen zurück, die Gott gesetzt habe, so dass die iusticia positiva, über die die weltlichen Herren verfügten, sich mit der Zuweisung eines jedem angemessenen Ranges und Platzes in der Welt zu begnügen habe, was erfordere, Gewalt und Schrecken auszuüben, die natürlichen Regungen niederzuringen und den Willen der Menschen zu brechen, wohingegen die naturalis iustitia abseits der weltlichen Herrschaft stehe, sie nicht von ihr ausgeübt werde, vielmehr die göttliche und kosmische Harmonie widerspiegele, die in autonomen Bewegungsabläufen keiner Intervention und keines Zwanges bedürften. Die Aufgabe der weltlichen Herrscher bestehe im Gegensatz dazu in der Oktroyierung der ratio, die den Menschen abzutrotzen sei, weil sie ihnen nicht natürlicherweise eingegeben sei. Ein organologisches Modell ist zugrunde gelegt und sieht die Leitung durch den Kopf über die Glieder vor, denen rational zu handeln nicht vorbestimmt ist, sondern die erst durch den Empfang der Befehle in ihre jeweiligen Arbeiten eingewiesen werden. Ähnlich 768 Kapitel VII.1.

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wie die Körperteile von Armen und Augen können die Gruppenzugehörigkeiten der Gesellschaft nicht verändert werden. Das Funktionieren des gesamten Organismus unterliegt einer Lenkung, die mit Verstandeskraft ausgestattet ist. Aber der Verstand ist auf die Herrscher beschränkt. Den Untertanen muss er aufgezwungen werden. Wilhelm von Conches entwirft ein Bild des Herrschers, dessen Aufgabe nicht auf einzelne Teilbereiche beschränkt wird, vielmehr über umfassende Zuständigkeit verfügen muss, um allen Personen des Reiches sowohl ihre Aufgaben aufzuerlegen als auch um deren triebhafte Unbeständigkeit zurückzudrängen. Herrschaft ist notwendig, kennt keine Schranken, und sie ist, weil sie nicht Anteil hat an der konfliktfreien Konstellation der naturalis iustitia, zur Unterdrückung berechtigt. Die von Platon abgeleitete Argumentation verweist zwar auf eine natürlich begründete Ordnung, aber sie ist nur in unvollkommener Verwirklichung auf Erden realisiert und steht abseits der Herrschaft. Diese ist hingegen instabil, ist stets gefährdet, bedarf großer Anstrengung und des Zwanges, um sie zu erhalten. Dies zu leisten, sei den Herrschern aufgetragen, schreibt Wilhelm. Freie Entfaltung der natürlichen Bewegungen ist im Staat nicht vorgesehen. Da die politische Organisation als Konglomerat der Organe einen vollständigen Leib bilde, sieht Wilhelm nicht vor, dass die Könige auf Anweisungen geistlicher Personen angewiesen seien und auch nicht für die Anliegen der Kirche tätig zu sein hätten. Die Vorstellung einer Doppelung der höchsten Autorität entbehre jeder Vernünftigkeit, meint Wilhelm. Auf die Lehre der zwei Schwerter, des geistlichen und des weltlichen, zu verweisen, sieht er nicht vor. Herrschaft ist nicht nur instrumentell und final, sondern von seinen Ursprüngen notwendig, also nicht auf ein außer ihr bestehendes Ziel ausgerichtet, sondern von dem Entstehungsgrund, von der Ordnung der Schöpfung Gottes, abgeleitet. Eine weitere Legitimation ist entbehrlich. Der König soll die Vernunft an die Untertanen weiterleiten. Ihnen ist Unterwerfung unter die Notwendigkeit verlangt. Dies geschieht nicht durch Einsicht, vielmehr hat der Herrscher den Vollzug der Notwendigkeit seinen Untertanen durch Zwang aufzuerlegen.769 Die Komposition des Staates in Analogie zum Körper wird wenig später auch Johannes von Salisbury vorstellen – dann aber nicht apologetisch, sondern kritisch gegen die weltliche Herrschaft.770 Der Schrecken des Königs, der terror, wurde von dem nordfranzösischen Benediktiner Hugo von Flavigny († nach 1111) in seinem Traktat zur königlichen Gewalt als Teil des königlichen Handelns vorgestellt. Hugo, anfänglich ein An769 Wilhelm von Conches, Glossae, S. 23–25, 233–254; Andreas Speer, Die entdeckte Natur. Untersuchungen zu Begründungsversuchen einer scientia naturalis im 12. Jahrhundert, Leiden 1995, S. 130–221; Nigel F. Palmer, Wilhelm von Conches, in: Verfasserlexikon. Die deutsche Literatur des Mittelalters, 2. Aufl, hg. v. Kurt Ruh, Berlin, New York 1978–2008, Bd. 11, Sp. 1663–1668. 770 Kapitel X.3.

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hänger der von Papst Gregor VII. und seinen Nachfolgern unterstützten Klosterreform, wandelte sich – wohl aufgrund der Konflikte, die er als Abt mit der Konventsgemeinschaft seines Klosters Flavigny (in der Nähe von Orl8ans) auszufechten hatte – zu einem entschiedenen Gegner der Päpste und suchte und fand Unterstützung auch bei Kaiser Heinrich V. Hugo knüpft an die Argumentationen der karolingischen Fürstenspiegel an. Er bezeichnet den Schrecken zwar als Pflicht des Königs, aber er räumt ein, dass er das Königtum beflecke, indes notwendig sei wegen der Verwerflichkeit vieler Untertanen. Hugo unterscheidet zwischen Amt und Person und verlässt somit eine von den frühmittelalterlichen Fürstenspiegel eingeführte Tugendethik. Eine mögliche Kritik an der moralischen Qualität des individuellen Königs beeinträchtigt für ihn nicht die Rechtfertigung von dessen Handeln als Inhaber der Herrschaft. Person und Institution werden nach disparaten Kategorien bewertet: einerseits Ethik des persönlichen Handelns, andererseits Effizienz der Institution. Sie ist erforderlich, damit die Frevler in ihre Schranken gewiesen werden. Eine Arbeitsteilung zwischen Königen und Geistlichen sieht auch Hugo vor, was zur Folge hat, der weltlichen Herrschaft zwar Nützlichkeit zuzubilligen, gleichwohl an sie auch das Verwerfliche anzuheften. Aber ohne diese Befleckung könnten die Herrscher nicht agieren. Hugo sichert ihnen eine genuine Legitimität zu. Eine Einsetzung durch die Priester lehnt er ab. Denn die königliche Gewalt sei nicht von den Menschen verliehen, sondern unmittelbar von Gott. Sie führe nicht zum Nutzen auf Erden, sondern stelle lediglich den notwendigen Schutz dar, um das Wirken der Priester in Vorbereitung zum ewigen Heil zu ermöglichen. Aber aus dieser Aufgabe erwächst keine Befugnis der Priester über die Herrscher. Die Herrschaft bediene sich unterschiedlicher Einrichtungen, ähnlich der Organe eines Körpers. Der König habe sich nicht weniger als seine Untertanen dem Körper einzufügen. Sein ministerium bestehe darin, Irrtümer zu korrigieren und Gerechtigkeit zu gewähren. Er müsse das Volk von Unbesonnenheit abhalten. Sein terror verhindere das üble Handeln der Bösen, und durch Gesetze leite er zum richtigen Leben an. Lenkten die Priester durch die Lehre der Predigt, so führten die Könige durch den Schrecken des Zwanges (dum sacerdos praevalet efficere per doctrinae sermonem, regia potestas hoc agit vel imperat per disciplinae terrorem).771 Der König selbst müsse sich durch die Furcht vor Gott und vor der Hölle leiten lassen. Hugo leitet den Schrecken, den der König verbreitet, von der Furcht vor der ewigen Verdammnis ab, weswegen der Schrecken prinzipiell berechtigt, zugleich doch nur subsidiär und in moralisch und theologisch minderwertiger Positionierung einzugreifen befugt ist, wenn andere, geistliche 771 Hugo von Flavigny,Tractatus de regia potestate et sacerdotali dignitate, hg. v. Ernst Sackur, in: MGH LdL 2, S. 465–499, S. 468; Mathias Lawo, Studien zu Hugo von Flavigny, Hannover 2010.

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Mittel ihre Wirkung verfehlten. Wegen der Erbsünde müssten die Menschen auch schlechten Herrschern gehorchen, denen zu widerstehen sie aus Furcht vor ihnen nicht wagten. Die Macht des Königs sei vervielfältigt durch seine Diener, die zu ehren seien, nicht weil die Ehre ihrer Person gebühre, sondern weil sie Glieder einer Ordnung und einer Hierarchie bildeten, die Gott eingesetzt habe. Auch die königlichen Beauftragten verbreiteten Schrecken. Er walte überall. Hugo begrenzt ihn nicht, um Verbrechen zu verhindern und zu ahnden. Er ist ebenso und undifferenziert das Mittel, mit dem die Könige, nicht weniger als die Tyrannen, ihre Macht durchsetzen. Widerrechtliche Gewalt könne allein durch die Ermahnung der Bischöfe gegenüber den Herrschern gelindert oder vielleicht sogar gänzlich abgestellt werden, hingegen nicht durch die Befehlsgewalt der Bischöfe und schon gar nicht durch den Widerstand oder den Ungehorsam der Untertanen.772 Der Schrecken ist das Mittel, um die organologische Gestaltung von Herrschaft und Gesellschaft durchzusetzen, denn trotz der Imitation der Natur bedarf die politische und soziale Organisation eines strengen Eingreifens. Von der Liebe des Königs ist bei Hugo von Flavigny nicht einmal mehr die Rede. Anders als bei den karolingischen Fürstenspiegeln gibt es keine Doppelung der Einwirkungskräfte, von Schrecken und Liebe, die in die Verfügung der Könige gestellt sein sollten. Schrecken und Liebe sind vielmehr in gesonderten Institutionen angesiedelt und geschieden, in die der Könige und der Geistlichen. Der Schrecken ist das Instrument einer Palliativordnung, die ein Minimum an normativer Geltung aufrechterhält, die durch die Liebe nicht erreicht werden kann. Indem die Herrschaft durch Schrecken von der Anforderung, Liebe zu gewähren, befreit ist, ist die Herrschaft vor der Beeinträchtigung ihrer Legitimität durch Geistliche gefeit. Die Handlungen und Handlungsberechtigungen der Könige und der Geistlichen interferieren nicht miteinander, sie stehen in keinem Abhängigkeitsverhältnis zueinander, sie sind komplementär, sie sind nur zur gegenseitigen Unterstützung aufgerufen, und ihre jeweilige Berechtigung kann nicht entzogen werden. Die weltliche Herrschaft ist unangreifbar. Vor geistlicher Kritik ist sie abgeschirmt. Person und Institution getrennt zu halten, wirkte sich auf die Auslösung des Schreckens aus. Es gab auch die umgekehrte Verbindung, als sie Hugo von Flavigny vorsah. Nicht die Institution der Herrschaft, sondern die Person des Herrschers galt als Auslöser des Schreckens. Das Königtum als Institution sollte vom Schrecken hingegen nicht befleckt sein. Dies war die Einschätzung des Benediktinerabtes von Saint-Denis, Suger († 1151), des engen Mitarbeiters der französischen Könige, besonders von Ludwig VI., dessen Ratgeber er war, für

772 Ebda, S. 467–476; Hartmut Hoffmann, Die beiden Schwerter im hohen Mittelalter, in: DA 20 (1964), S. 78–114, S. 81.

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den er diplomatische Missionen ausführte und über den er eine Vita schrieb.773 Der Schrecken, den Ludwig verbreite, schmälere, so schreibt Suger, nicht sein Verdienst und nicht seinen Rang. Suger lobt die Taten Ludwigs, weil er bereits vor seiner Thronbesteigung gegen das Wüten der Gewalttäter eingeschritten sei, sie niedergerungen habe, sie – obgleich dem königlichen Tun nicht angemessen – in den Fluss hinabgestoßen und ihnen durch harte Strafen und lange Gefangenschaft Schrecken zugefügt habe, um alle anderen, die in ähnlicher Weise unrechte Gewalt auszuüben im Sinn hätten, einzuschüchtern. Überall solle sich die Kunde verbreiten von dem Schrecken, den Ludwig einflöße.774 Der Schrecken ist indes den Taten vor der Thronbesteigung vorbehalten. Anscheinend sollte er den amtierenden König selbst nicht herabwürdigen. Vielmehr zeichne den König die Freundschaft aus, die Suger indes auf das enge Umfeld seiner Mitarbeiter begrenzt. Sie entstehe, wie er schreibt, aus der Belohnung der guten Taten. Die zugestandene Eigennützigkeit der Getreuen widerspreche nicht der Liebe – als caritas bezeichnet –, denn weil es das Gebot gebe, seine Feinde zu lieben, sei es umso mehr geboten, auch seine Freunde zu lieben. Die Freundschaft sieht Suger in hervorragender Weise in der Beziehung Ludwigs zu ihm und zu den Mönchen seines Klosters Saint-Denis verwirklicht.775 Suger schließt die Liebe und die Freundschaft indes aus dem Herrschaftshandeln aus; sie kennzeichnen zwar die Person des vorbildlichen Königs, aber sie wirken nicht auf die Beziehungen zu den Untertanen ein; sie sind personell und institutionell eng gefasst, sie reichen nur zu wenigen Personen. Der Schrecken ging, anders als dies Suger vorsah, aber nicht nur von der königlichen Person aus. Er sollte auch mit der Institution des königlichen Amtes fest verbunden sein. Daher wurde der Schrecken vervielfältigt dank des Wirkens der Beauftragten der Herrscher. Viele der die königliche Autorität unterstützenden Autoren bestanden darauf, dass zwingende, Furcht einflößende, Schrecken verbreitende Gewalt das Königtum nicht allein kennzeichne, sondern – anders als Hugo von Flavigny meinte – sogar auszeichne. Gegen Ende des 12. Jahrhunderts verteidigte Arnulf von Lisieux († 1184), der sowohl mit den englischen als auch mit den französischen Königen kooperierte, die Eignung des Schreckens, den die Könige gegenüber den Übeltätern zu verbreiten haben, um die Ruhe der Rechtschaffenen zu sichern. Der Schrecken verschaffe der weltlichen Herrschaft unübertreffliche Ehre. Die ungestüme Strenge und die stets drohende, aber unberechenbar einwirkende Gewalt trügen dazu bei, dass überall die Gottesfurcht blühe und von der Versuchung zum Verbrechen abgeschreckt 773 Michel Bur, Suger. Abb8 de Saint-Denis, regent de France, Paris 1991, S. 142–170, 211–230. 774 Suger, Vie, S. 80f., 96f.; Michel Bur, Suger, abb8 de Saint-Denis, r8gent de France, Paris 1991, S. 142–171, 211–230. 775 Suger, Vie, S. 2, 4.

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werde. Die Gewalt solle aus der Gerechtigkeit entspringen. Weil die Gewalt gerechtfertigt sei, solle sie ungehemmt wirken. Weil der Schrecken ein Instrument der Gerechtigkeit sei, stellt Arnulf sie in den Dienst der Institution und ihrer Stabilität. Sie sei kein Ergebnis impulsiver Emotion. Es bedürfe, so Arnulf, einer stetigen Einschränkung der Freiheit der Untertanen; sie müssten durch Schrecken gelenkt werden, weil nur so das Ausleben ihrer schlimmen Antriebe abgestellt werden könne.776 Arnulf gibt Beispiele von verbrecherischen Taten, die es gewaltsam zu ahnden gelte. Auch seinen eigenen Neffen nennt er als Urheber von Verbrechen und sieht keine Schonung für ihn vor.777 Furcht einflößende Gewalt galt als Ausweis einer guten Verfassung. Aus der Kritik an der Herrschaft durch Schrecken wurde provokant die Bestätigung geformt, dass der Schrecken gut für die Herrschaft sei. Die auf das Zusammenwirken mit den mächtigen Fürsten abzielende, herrscherliche Milde gewährende und auf Bestrafungen häufig verzichtende Herrschaftskonzeption, die auf Freundschaften beruhte, wurde abgelöst durch Verfahren, die nicht allein Sanktion, sondern mittels Drohung mit den Sanktionen die Abschreckung einsetzte, um Herrschaft durchzusetzen, Aufrührer niederzuringen und künftige Bedrohungen der Herrschaft abzuwenden. Nicht mehr allein zur Zurückdrängung des Bösen, zur Bestrafung, sondern zunehmend auch zur Sicherung der Herrschaft wurde der Schrecken eingesetzt. Damit ging keineswegs eine Abkehr von christlichen Vorstellungen einher ; auch fand keine Hinwendung zu weltlichen ritterlichen Idealen, die sich in der höfischen Kultur manifestierten, statt, wie Heinz Krieg ausführt778, vielmehr blieb die Berufung auf göttliche Einsetzung und die Sakralisierung von Herrschaft und Herrscher intakt, weil Gott als unmittelbarer Urheber der Herrschaft selbst vorgestellt war : Gott gebe den Schrecken in die Hand der Könige, so dass die Herrschaft sicher bestehe. Arnulf stellte nicht einen Sanktionsschrecken, sondern einen Machtschrecken vor. Gegen die drohende Mediatisierung zur himmlischen Sphäre durch die geistliche Kritik wurde argumentativ vorgegangen.779 Den Königen waren durchsetzungsfähige Instrumente in die Hand zu geben, um den Willen der Untertanen niederzuringen. Nicht allein gegenüber den Angriffen seitens 776 Arnulfi Sagiensis archidiaconi, postea episcopi Lexoviensis, Invectiva in Girardum Engolismesnem, hg. v. I. Dieterich, in: MGH Ldl 3 (Anm. 374), S. 81–108, S. 98; Carolyne Poling Schriber, The Dilemma of Arnulf of Lisieux. New Ideas versus Old Ideals, Bloomington 1990. 777 Julia Barrow, The Clergy in the Medieval World. Secular Clerics, Their Families and Careers in North-West Europe, c. 800-c.1200, Cambridge 2015, S. 130–132. 778 Krieg, Herrscherdarstellung, S. 12f. 779 Gottfried Koch, Sacrum Imperium. Bemerkungen zur Herausbildung der staufischen Herrschaftsideologie, in: Ideologie und Gesellschaft im hohen und späten Mittelalter, hg. v. Klaus-Peter Matschke, Ernst Werner, Berlin 1988, S. 187–214.

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geistlicher Autoren war die weltliche monarchische Herrschaft herausgefordert, ihre Berechtigung argumentativ zu befestigen; auch durch den Aufstieg der Stadtgemeinden – in Italien seit dem 11., nördlich der Alpen seit dem 12. Jahrhundert – war sie bedroht. In den Kommunen erschien durch kollegiale Kompetenzzuweisungen und durch Statuten, die als Ergebnisse von Konsens und Schwurgemeinschaft entstanden oder zumindest vorgestellt waren, das hierarchische Modell nicht mehr allzuständig und allgegenwärtig zu sein. Sofern sich Stadtgemeinden gegen die Könige erhoben, waren Furcht und Schrecken gegen die Aufrührer einzusetzen. Begründet wurden sie mit der Notwendigkeit, die Strenge der Gerechtigkeit, die in der Obhut der Monarchen stehe, zur Geltung zu bringen.780 Strenge und Gerechtigkeit waren enger als vor dem 12. Jahrhundert miteinander verknüpft, als die kaiserliche und königliche Gewalt durch die Versuche, das römische Recht wieder anzuwenden und auf hochmittelalterliche Verhältnisse zu übertragen, neue Grundlagen erhielt, die nicht auf Kompetenzzuweisungen aus der geistlichen Sphäre angewiesen war, sondern der inhärent weltliche Begründungen zugeführt wurden. Die weltliche Herrschaft gewann Legitimationen aus dem Recht.781 Die Strenge der Gerechtigkeit haben Philosophen, Juristen, Geschichtsschreiber und auch die Herrscher selbst während des 12. Jahrhunderts ausführlich begründet und erstmals als Kennzeichen einer Herrschaftsausübung vorgestellt, die nicht durch Reduzierungen von Strafen und durch Konsensangebote, sondern durch den unerbittlichen Vollzug des Rechts wirken sollte, als dessen Exekutor der König erachtet wurde. Die Sicherung des Rechts verlangte die Steigerung der königlichen Gewalt. Die Strenge der Gerechtigkeit hat auch der Kanonist Ivo von Chartres (ca. 1040–1115) erörtert. Es gelte eine Balance zu halten zwischen der pietas und der iusticia, die beide trotz des Versuchs, sie anzunähern, für ihn Gegensätze sind. Wenn einer der beiden Werte verwirklicht werde, ginge dies nicht ohne negative Auswirkungen auf den anderen. Es gelte also, sich vor Übertreibungen bei der Verwirklichung einer der beiden Werte zu hüten. Die Aufgabe des 780 Haverkamp, Frühbürgerliche Welt, S. 571–602; Schulz, Denn sie liebten; Maurizio Viroli, From Politics to Reason of State. The Acquisition and Transformation of the Language of Politics 1250–1600; Cambridge u. a. 1992; Klaus Schreiner, Teilhabe, Konsens und Autonomie. Leitbegriffe kommunaler in der politische Theorie des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit, in: Theorien kommunaler Ordnung in Europa, hg. v. Peter Blickle (Schriften des historischen Kollegs. Kolloquien 36), München 1996, S. 35–61. 781 Johannes Fried, Die Rezeption Bolognoser Wissenschaft in Deutschland während des 12. Jahrhunderrts, in: Viator 21 (1990), S. 103–145; Emanuele Conte, Diritto romano e fiscalit/ imperiale nel XII secolo, in: Bulletino dell’Istituto storico italiano per il Medio Evo 107 (2005), S. 169–206; Kenneth Pennington, Roman Law, 12th Century Law and Legislation, in: Von der Ordnung zur Norm. Statuten in Mittelalter und Früher Neuzeit, hg. v. Gisela Drossbach, Paderborn 2009, S. 17–40.

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Herrschers bestehe darin, die Bösen zu schrecken und die Guten zur Liebe zu ihm zu bewegen, womit ein Motiv der karolingischen Fürstenspiegel reaktiviert wurde. Die Aktualität Ivos bestand darin, dass in einem nunmehr anders geformten Umfeld der kritischen Bewertung und teilweisen Abwertung königlicher Gewalt deren Rechtfertigung nun mit der Strenge der Gerechtigkeit in Verbindung gebracht wurde, die nicht allein in Gerichtsverfahren, sondern in der Gesamtheit des herrscherlichen Handelns verwirklicht werden müsse. Ivo hob die Strenge aus einer Tugendlehre heraus und band sie an die rechtliche Begründung an.782 Das Thema des rigor iustitiae, wie er sich im 12. Jahrhundert entfaltete, hat Theo Broekmann untersucht, einschließlich der unterschiedlichen Deutungen der Zeitgenossen.783 Hier seien einige weitere Hinweise angefügt. Die Bekämpfung der Verbrechen war mit der Ausmerzung der Sünde verbunden. Beide sollten durch einen grausamen Kampf gelingen, wie der Stiftskanoniker und Gelehrte Richard von Saint-Victor († 1173) schrieb. Andere Autoren folgten ihm in dieser Ansicht, wobei sie diesen Kampf als Aufgabe der weltlichen Herrscher bezeichneten, deren Ziel rechtlich geformt war, aber auch in ein religiöses Programm eingebunden wurde, damit als notwendig begründet galt und auch die Aussicht bot, die Macht zu erweitern, ohne sie in den Dienst der Kirche zu stellen.784 Die Legitimität weltlicher Herrschaft konnte gerade deswegen verteidigt werden, weil sie hinsichtlich ihrer Ursprünge, Mittel und selbst gesteckten Ziele als prinzipiell Furcht einflößend und Schrecken erregend galt, aber deswegen keineswegs als verwerflich entwertet wurde, vielmehr als notwendig und als nutzbringend und daher verdienstvoll vorgestellt war, worauf selbst Wilhelm von Conches beharrte. In diesem Sinne argumentierte der Engländer Gervasius von Tilbury († ca. 1235) in seiner Schrift Otia imperialia, die er Kaiser Otto IV. (1198–1218) widmete, in dessen Diensten er stand. Die Schrift war als Belehrung für den Kaiser konzipiert.785 Im Prolog kennzeichnet Gervasius, vermutlich Vorstellungen aus seiner Heimat in England rezipierend, jede weltliche Gewalt als Unterdrückungsgewalt. Die Definition verbindet der Autor mit der paradox erscheinenden Folgerung, dass aus der Gewalt nichtsdestoweniger Gutes erwachse. Trotz der belehrenden Absicht zur Verbesserung der Gewalt, die ja hinsichtlich ihres Erfolges keineswegs von vornherein illusorisch sein müsse, geht Gervasius argumentativ zunächst von einer negativen Bewertung von Herrschaft aus. Er definiert sie als eine Einrichtung, die eingesetzt sei, um Zwang 782 783 784 785

Ivo von Chartres, Epistolae, in: PL 162, Paris 1855, Sp. 11–288, Sp. 268. Broekmann, Rigor, S. 96–110. Ebda. Lutz, Schreiben, S. 163–168; Bernd Ulrich Hucker, Kaiser Otto IV. (MGH Schriften 4), Hannover 1990, S. 421f.

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auszuüben, den Willen der Untertanen zu brechen, ihnen gegenüber körperliche Gewalt auszuüben, sie zu unterdrücken, den menschlichen Leibern Qualen anzutun, das Leben der Menschen auszulöschen. Der Ursprung im Negativen solle aber die Zielsetzung im Positiven nicht verhindern. Dass das Ziel der Herrschaft in der Errichtung einer gerechten Ordnung bestehe, erfordere sogar, dass der rigor des Königs, die Summe zwingender Gewalt bezeichnend, zur Geltung komme. So entstehe aus der schlimmen Unterdrückung die gute Regierung. Obwohl die Herrscher Gewalt und Zwang ausübten, stellt Gervasius sie als Friedensstifter vor. Den Frieden herzustellen, erweise die Nützlichkeit königlicher Macht. Sie wird in Parallele zur geistlichen Zuständigkeit gestellt. Die Komplementarität der beiden Gewalten ist eine harmonisierende Verbindung, obwohl deren Wirkungen höchst unterschiedlich sind. Zerstörung stehe gegen Aufrichtung, Unterdrückung gegen Fürsorge, Strafe gegen Belohnung, Furcht gegen Liebe. Mit eisernen Knüppeln schlügen die Könige auf die Menschen ein, die verstockt seien und die die Könige ansonsten nicht anleiten könnten. Inmitten von Feinden zu regieren, sei den Königen beschieden. Wachsam müssten sie sein, nur so könnten sie sich den Angriffen erwehren. Königliche Milde sieht Gervasius nicht vor. Sie ist in einer Aufgabenteilung den Geistlichen vorbehalten, die die Hitze des strafenden Feuers der Könige abkühlen sollten, nicht indem sie sie in ihrem Tun bremsten, nicht indem sie sie korrigierten, sondern indem sie sie durch eigenes Tun in ihrem eigenen Kompetenzbereich kompensierten. Die Geistlichen sollten anders handeln als die Könige. Das Königtum beruhe darum nicht minder als die Kirche auf Gottes Einsetzung. Damit der König seine Gewalt richtig gebrauche, d. h. zur Sicherung des Friedens, bedürfe er der Ratgeber, die ihn anleiten sollten, dieses Ziel zu erreichen, ohne indes zu verlangen, eine grausame Herrschaftspraxis aufzugeben.786 Das Königtum ist defizitär, aber nützlich. Umso wichtiger ist die Ergänzung durch Einrichtungen, die Wissen bereitstellen und Anleitung geben. Das Wesen des Königtums bleibt davon indes unberührt. Es höre nicht auf, auch nach der Beratung, auf Gewalt aufzubauen und Gewalt auszuüben. Es verfolge die Menschen mit Schrecken. Die Körper der Untertanen seien den Züchtigungen ausgeliefert. Das Werk von Gervasius setzte eine lange Kette von Bewertungen fort, die Königsgewalt aus einem Defizit, dem der menschlichen Schwäche, Bosheit und grundsätzlichen Verderbnis ableitete, was aber nicht verhinderte, dass die grausame Gewalt die Vortrefflichkeit der Strenge hervorbringe. Von den Herrschern erwartet Gervasius, dass er aus der Gewaltenfülle und aus der Gewaltsteigerung das rechte Handeln ableite, damit eine gerechte Ordnung geschaffen und verteidigt werde. Durch den Schrecken gelingt der Zwang. Aus dem Schlechten solle das Gute entspringen. Als Verursacher dieser Umformung ist der König vorgesehen. 786 Gervasius von Tilbury, Otia, S. 2–8.

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Nicht allein theoretische Schriften verteidigten die Legitimität der Herrscher und den Einsatz des Schreckens. Auch die Herrscher selbst reklamierten den Schrecken, der sie dazu befähigen sollte, ihre Macht auszuüben. Einige Beispiele sollen hier vorgestellt werden. Dabei geht es um mehr als nur um die Strenge der Könige, die Theo Broekmann gründlich untersucht hat.787 Mit der Strenge war der Schrecken gekoppelt. Diese Koppelung soll hier untersucht werden. Am deutlichsten zeigte sich die demonstrative Verwendung des Schreckens in den Königreichen der normannischen Herrscher, in England und besonders im Königreich Sizilien. Für Sizilien war dies gewiss kein Zufall, denn abgesehen von den dort weiter kräftig wirkenden Herrschaftskonzepten des oströmischen Kaiserreiches einschließlich der Geltung umfassender Kompetenzen, die das dort kontinuierlich angewandte Recht der Kodifikationen Kaiser Justinians I. bereitstellte, verlangte die Unterwerfung einer fremdreligiösen Bevölkerung, die der Muslime, aber auch der übrigen Bewohner, ein Handeln der Herrscher, das unabhängig von den Fesseln des Lehenswesens und seiner gegenseitigen Bindung, einschließlich eines Widerstandsrechts der Lehensmannen, Durchsetzungsfähigkeit bewies. Die Belehnung des Normannenherrschers mit Sizilien durch Papst Nikolaus II. im Jahre 1059 gewährte zwar Legitimität, aber keine Herrschaft. Sie war erst noch zu erringen. Die Insel musste gegen die Muslime erobert werden.788 Die Drohung mit Gewalt und Ausmerzung richtete sich indes nicht allein gegen die Feinde und die kürzlich Unterworfenen, sondern auch gegen die eigenen Anhänger und Gefolgsleute. Der normannische Herzog Robert Guiscard († 1085) hat nach Ausweis der ihm wohlgesonnenen und kurz nach dessen Tod verfassten Tatenerzählung mit einer Rede zum Kampf gegen die griechischen Truppen aufgerufen. Wenige Worte habe er gesprochen – aber immerhin dies: Er drohte denen unter seinen Rittern, die vor dem Feind zu fliehen wagten, dass er sie wie das Vieh abschlachten würde – trucidandum pecorino more minatur. Ungehemmte Gewalt war ebenso den Besiegten beschieden: Sie würden ihr Leben als Gefangene fortsetzen; dieses Leben wäre so elend, dass es dem Tod gleichen würde.789 Die Furcht vor Robert Guiscard sollte zur Gewalt gegen die Feinde antreiben, und ebenso diese einschüchtern. Verbreitet war sie unter den eigenen Mannen wie unter den Gegnern. Hingegen habe sich unter seiner 787 Broekmann, Rigor, passim. 788 Richard Bünemann, Robert Guiscard 1015–1085. Ein Normanne erobert Süditalien, Köln u. a. 1997. 789 Guillaume de Pouille, La Geste de Robert Guiscard, S. 226.

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Führung niemand vor den Drohungen der Feinde geängstigt, niemand sei vor dem Kampf gegen sie furchtsam zurückgewichen. Die Furcht vor dem Feind sollte ausgeschlossen sein, diejenige vor ihm selbst sollte alle niederwerfen.790 Guiscard stand am Anfang der Herrschaft seiner Familie; er unterlegte sie nicht den Bedingungen kooperativer Partizipation. Mit Gewalt und Schrecken setzte er seine Macht durch. Dies haben die Zeitgenossen und späteren Chronisten berichtet. Die Kunde drang bis nach Nordfrankreich. Der dort lebende Benediktiner Guibert von Nogent berichtet in seiner Geschichte des ersten Kreuzzuges, dass Robert Guiscard ein homo novus gewesen sei und von ihm ein terror mundi ausgehe. Weit reiche der Schrecken. Nicht eine einzelne Handlung, sondern seine Person und seine Herrschaft verbreiteten den Schrecken. Als Personifikation des Schreckens habe Robert seine Erfolge erzielt.791 Auch lange nach seinem Tod bestätigte die spätmittelalterliche Darstellung, einschließlich in literarischen Texten, das Urteil und stellte Robert Guiscard als tapfer und als freigiebig dar, zeigte aber auch seine Furcht und Schrecken einflößende Gewalt.792 Es mag dahingestellt sein, ob die Darstellung von Wilhelm von Malmesbury († 1143), dem englischen Chronisten, zutrifft, dass Robert Guiskard, der Begründer der normannischen Herrschaft in Süditalien und in Sizilien, sich ein Epitaph habe errichten lassen, auf dem er als terror mundi bezeichnet war, seine Siege gegen »Ligurer, Römer, Deutsche« sowie gegen »Parther und Araber« feiern ließ und den Schrecken, den er überall und bei allen verbreitete, als Ursache der Erfolge seiner Herrschaft herausstellte.793 Aufschlussreich ist jedenfalls, dass die aus der Ferne und aus der Rückschau beschreibenden Chronisten eine Herrschaftsbegründung im Königreich Sizilien für fest etabliert erachteten, die auf dem Schrecken beruhte. Der Schrecken war nicht auf die Anfänge der normannischen Herrschaft in Sizilien und in Süditalien beschränkt. Die folgenden Herrscher, Roger I. († 1101) und Roger II. († 1154), letzterer seit 1130 gekrönter König von Sizilien, setzten ausdrücklich auf die Wirkung des Schreckens, um alle Untertanen, seien sie westliche oder östliche Christen oder Muslime, unter ihre Herrschaft zu zwingen. Aber auch gegenüber den normannischen Adeligen, d. h. gegenüber den wohl gefährlichsten Konkurrenten der Herrscher, war Abschreckung eingesetzt. Der terror war vorgesehen, um eine an keine Schranken sich haltende Machtausübung durchzusetzen, was nicht einmal verheimlicht wurde, vielmehr in Historiographie und Selbstdarstellung offen zur Schau gestellt war. Der Schrecken steigerte die Effizienz der Macht, vor allem aber, so in der Darstellung des 790 Ebda., S. 252, 254. 791 Guibert von Nogent, Dei Gesta, S. 137f. 792 Huguette Taviani-Carozzi, La terreur du monde. Robert Guiscard et la conquÞte normande en Italie. Mythe et r8alit8, Paris 1966, S. 212–222, 297–321, 487–500. 793 Wilhelm von Malmesbury, Gesta, S. 484.

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zeitgenössischen Chronisten Ugo Falcando, sollte er den Mangel an Legitimität einer neuen Monarchie kompensieren, insofern die Königswürde, die von dem letztlich als Gegenpapst abqualifizierten römischen Pontifex Anaklet II. anerkannt und gebilligt wurde, gegenüber dem normannischen Adel, der einheimischen Bevölkerung und gegenüber den anderen okzidentalen Königreichen zu verteidigen war. Der Anspruch auf Gerechtigkeit war hierbei nicht vordringlich. Ugo räumte ein, dass sich die Herrscher nicht an die Gesetze hielten, sie sie nicht einmal kannten, wenn es darum ging, die Aufrührer niederzuringen.794 Es ist hier nicht notwendig, die von Theo Broekmann sorgsam analysierten Beispiele brutaler Unterdrückung von Aufständen auszubreiten795, es soll vielmehr die konzeptuelle Herrschaftsbegründung untersucht werden, bei der das Wort terror mit dem Handeln von Roger I. und seinem Sohn und Nachfolger Roger II. verknüpft war. Die angemessene Bezeichnung von wirksamer, eben weil grausamer Herrschaft war gefunden, insofern der Schrecken, den die Könige verbreiteten, zum Sieg über die Rebellen führte und als Instrument der Herrschaft, galt. Die Strenge der Gerichtsbarkeit und die Strenge der Gesetze waren nicht eingesetzt, um eine gute Ordnung herzustellen, sondern um Macht durchzusetzen. Mittels des Schreckens sollten Erfolge errungen werden, und dank ihrer fanden die Herrscher Zustimmung bei den Untertanen. Der Mangel an Legitimität war aber offensichtlich nicht gänzlich ausgeräumt, vor allem nicht in der Außenwahrnehmung. Für den die staufischen Herrscher favorisierenden Chronisten Otto von Freising (1112–1158) galt es als selbstverständlich, dass der Makel der Tyrannei die normannischen Könige Sizilien beflecke – indessen nicht wegen deren Grausamkeit und Schreckensherrschaft, sondern weil sie sich der Autorität des Kaisers widersetzten. Die Grausamkeit war nach seinem Urteil nicht in den Dienst der Gerechtigkeit, sondern der Macht eines Rebellen gestellt.796 Aber es gab auch die Möglichkeit, der als tyrannisch bezeichneten Herrschaft mit ihrer Gewaltanwendung und Furcht einflößenden Wirkung günstige Urteile entgegenzustellen. Schrecken musste in diesem Fall für Gerechtigkeit und Frieden in Anspruch genommen werden. Roger II. galt in der sizilianischen Historiographie als tyrannus utilis, weil es ihm gelinge, den Frieden zu sichern.797 Das traditionelle Tyrannenbild wurde umgedeutet, insofern eine un794 Hugo Falcandus, Liber de Regno Siciliae, hg. v. G. B. Siragusa (Fonti per la storia d’Italie. Scrittori secoli XII,) Rom 1897, S. 6. 795 Broekmann, Rigor ; Hubert Houben, Roger II. von Sizilien. Herrscher zwischen Orient und Okzdent, Darmstadt 1997. 796 Otto von Freising, Chronica, S. 88–90, Hans-Werner Goetz, Otto von Freising, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 10, Berlin 1999, S. 684–686. 797 Helene Wieruszowski, Roger II of Sicily. Rex Tyrannus in Medieval Political Thought, in: Speculum 38 (1963), S. 46–78; die Autorin verwendet die Bezeichnung »reign of terror« für

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beschränkte Gewalt und die Furcht, die sie erzeugten, zwar als bedenklich, gleichwohl als gerechtfertigt, weil nützlich angenommen wurden. Der Not gehorchend, nicht aus eigenem Antrieb verbreiteten die Herrscher Furcht, was sogar Bernhard von Clairvaux anerkannte, der zunächst das Königtum Rogers II., weil von einem in seinem Augen schismatischen Papst eingesetzt, bekämpft hatte, der ihm aber später Freigebigkeit zugunsten der Kirchen seines Reiches bescheinigte, durch die er irdische Güter zum Erwerb himmlischen Lohns eingesetzt habe. Aus dem von ihm einst verurteilten sizilianischen Tyrannen war nunmehr der Spender der Gerechtigkeit geworden.798 Aus der Tyrannei konnte noch mehr entspringen: Liebe. Roger wurde als amator iustitiae von seinem Biograph Alexander von Telese vorgestellt, damit das Thema des rigor iustitiae umdeutend, ohne indes dabei die furchteinflößende Wirkung zu verheimlichen; sie galt als Ergebnis und als Voraussetzung der Liebe. Sie bringe eine Herrschaft der Gerechtigkeit hervor, die streng zu sein habe und durch Drohung und durch Furcht entstehe. Daher habe Roger II. darauf geachtet, keine zu große Vertraulichkeit und Zuneigung im öffentlichen Wirken aufkommen zu lassen, da sie die Untertanen dazu verführten, ihn nicht hinreichend zu achten und zu schlechtem Tun verführten. Vielmehr sei er bemüht gewesen, Furcht zu verbreiten, damit überall, bis zu den Grenzen des Königreiches, die Ungerechtigkeit ausgemerzt werde. Aber vor allem habe er mit der Furcht Feinde niedergerungen. Dies sei mitunter ohne Blutvergießen gelungen, sofern sein Ruhm alle eingeschüchtert und sie vom Kämpfen abgehalten habe.799 Die Potentialität der Gewalt war die Voraussetzung einer Wirkung, die nicht einmal mehr der tatsächlichen Ausübung der Gewalt bedurfte. Der Schrecken galt nicht allein der Durchsetzung einer gerechten Herrschaft, sondern der Herrschaft selbst, die effektiv war, weil sie die Untertanen in Furcht hielt. Der König suchte nicht in erster Linie Taten zu verhindern, sondern zu Taten zu bewegen und jegliche Trägheit zu unterbinden, damit der Dienst und die Abgaben für ihn stets geleistet würden. Der Schrecken sollte nicht abschrecken, sondern antreiben.800 Romuald von Salerno (1115–1181), ebenfalls ein enger Mitarbeiter am sizilianischen Königshof, steigerte in seinem historiographischen Werk noch die Wirkung des Schreckens. Er sei beständig, er begründe das Verhältnis zwischen König und Volk. Romuald schrieb, König Roger II. werde von seinen Untertanen die Herrschaft von Roger ; Broekmann, Rigor, passim verweist hingegen auf den rigor, der als Instrument einer königlichen Gerechtigkeit eingesetzt wird. 798 Bernhard von Clairvaux. Sämtliche Werke, Bd. 3: Briefe, hg. v. Gerhard B. Winkler, Innsbruck 1992, S. 176–179. 799 Alexander Telesinus, Ystoria Rogerii, S. 82; f.; Eleni Tounta, Terror and Territorium in Alexander of Telese’s Ystoria Rogeriii regis. Political Cultures in the Norman Kingdom of Sicily, in: Journal of Medieval History 40 (2014), S. 142–158. 800 Alexander Telesinus, Ystoria Rogerii, S. 82.

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mehr gefürchtet als geliebt.801 Hier gab es eine Dissoziation von Schrecken und Liebe. Roger II. umgab eine permanente Aura des Schreckens. Falco von Benevent, auch er in den Diensten der sizilianischen Herrscher stehend, berichtete in seiner zeitgenössischen Chronik, dass die terribilis fama des Königs Gegner und Aufständische zur Unterwerfung zwinge. Das Verbot, die Münze, als romesina bezeichnet, zu verwenden, bezeichnete Falco als edictum terribile, das in ganz Italien gefürchtet, ja gar als Ursache für Tod und Krankheit gehalten werde, offensichtlich wegen der damit einhergehenden Münzverschlechterung, enthielt doch die neu eingeführte Münze des ducatus mehr Eisen als Silber.802 Die Bestimmung stand in Zusammenhang mit der Rechtssammlung des Königreiches, die in den Assisen von Ariano von 1140 festgehalten wurde. Das Gesetzbuch leitete aus dem römisch-rechtlich begründeten Majestätsverbrechen auch die Berechtigung zur Todesstrafe ab, die weder revidiert noch gemildert werden dürfe. Dass die Maßnahmen des Königs schrecklich waren, minderte nicht ihre Anerkennung.803 König Roger II. galt in Sizilien als der Prototyp einer Person, die mittels des Schreckens herrschte. Die Deutung änderte sich in den folgenden Jahrzehnten, als von der Furcht die Untertanen des eigenen Königreiches ausgenommen wurden. Die zu Beginn des 13. Jahrhunderts verfasste panegyrische Lebensbeschreibung des staufischen Kaisers und Königs von Sizilien Heinrich VI., geschrieben von Petrus de Ebulo († 1220), präsentierte Roger als Ahnherr der sizilischen Könige und lobte ihn, weil das wilde Barbarenland ihn gefürchtet habe; die Furcht reiche bis zum Nil und bis zum Ozean. Die Furcht war geographisch weit reichend, aber doch nach außen gerichtet, galt nicht als Instrument der Herrschaft innerhalb des Königreiches, war offensichtlich fast achtzig Jahre nach dem Tod Roger als nicht mehr opportun im Verhältnis zu den eigenen Vasallen und Untertanen erachtet.804 Die Beschreibung war nicht allein nachträgliche Beschönigung. In der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts wurde in der Tat der Schrecken limitiert. Eine Urkunde König Wilhelms I. von Sizilien vom Jahre 1157 führte aus, dass der terror die Grundlage des rigor iustitiae sei, der wiederum den Frieden garantiere. Die Drohung mit dem Schrecken verhinderte aber nicht Angebote an die treuen Helfer, ja an alle Untertanen, die der König von Sizilien behauptete zu lieben, damit sie umso fester ihre schuldige Pflicht leisteten, wie dies in einer Urkunde 801 Romualdi Guarnae Salernitani Chronicon, hg. v. Wilhelm Arndt, in: MGH SS 19, Hannover 1866, S. 387–461, S. 422–424. 802 Falconis Beneventani Chronicon Beneventanum, hg. v. Edoardo d’Angelo, Florenz 1998, S. 95, 101; gemäß der Angabe der Chronik konnte ein Brot mit sechs romanae erworben werden, dies freilich während einer Teurerung; ebda., S. 99. 803 Broekmann, Rigor, S. 6. 804 Petrus de Ebulo, Liber ad honorem Augusti, S. 37.

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von Tankred I. von 1190 festgehalten wurde. Zu den Untertanen bestehe ein affectus, den er stets und jeden Tag gegenüber den Untertanen hege und der die Durchsetzung seine Befehle befördere. So entstehe die beständige Treue. Die Herrschaft war emotional und normativ fundiert. Durch die Gerechtigkeit werde die Macht gestärkt – so die Aussage in einer Urkunde von Kaiserin Konstanze, der Erbin des Königreiches, von 1195.805 Der englische Chronist Wilhelm von Malmesbury stellte Ähnlichkeiten fest, wie die Herrscher im Königreich Sizilien und in seiner Heimat den Schrecken einsetzten, nachdem der Herzog der Normandie Wilhelm seit dem Jahre 1066 England unterworfen hatte und König geworden war. Er habe es erreicht, durch Grausamkeit und Furcht seine Gegner niederzuringen. Allein seine imposante Körperstatur und seine bedrohlichen Blicke flößten seiner Umgebung Furcht ein, die noch durch seine Wildheit gesteigert sei. Gemildert sei seine Herrschaft nur durch die Gottesfurcht.806 Der Sohn und Nachfolger, König Wilhelm II. (1087–1100), lehnte es nach der Darstellung des über die englische Geschichte gut informierten normannischen Geschichtsschreibers und Benediktiners Ordericus Vitalis (ca. 1075–1142) ausdrücklich ab, nach dem Vorbild des alttestamentarischen Königs David gegenüber besiegten Aufständischen Milde walten zu lassen; er ließ sie vielmehr aufhängen, um gegenwärtige und künftige Menschen vor Auflehnung gegen ihn abzuschrecken.807 Dessen Nachfolger, König Heinrich I. von England (1100–1135), bescheinigte Wilhelm von Malmesbury eine fundierte Bildung, strich seine Belesenheit heraus, was ihn dazu befähigt habe, seine Macht kraftvoll auszuüben. Aber auch den Schrecken wisse er einzusetzen. Er sei fähig, dank der Furcht, die die Menschen vor ihn hegten, Schrecken zu verbreiten, um seinen Willen durchzusetzen. Die Instrumentalisierung des Schrecken galt dem Chronisten als die Anwendung von Rezepten antiker Philosophen, insbesondere von Platon. Er meinte, der Schrecken dürfe sich nicht in einer rigorosen und rücksichtslosen Gewalt erschöpfen, nicht durch Wut hervorgerufen werden, nicht spontan sein, sondern er verwirkliche sich in einer beständigen Anwendung und verfolge das Ziel, die Dauer der Herrschaft herzustellen. Dank der Furcht, die der König einflöße, gelinge es ihm, die zu Tumulten aufgelegten Normannen im Zaum zu halten und den Frieden in 805 Guillelmi I. regis diplomata, hg. v. Horst Enzensberger (Codex diplomaticus regni Siciliae. Series prima: Diplomata regum et principum e gente Normannorum 3), Köln, Wien 1996, Nr. 22, S. 61–64; siehe auch S. 11-Series prima: Diplomata regum et principum e gente Normannorum 5), Köln, Wien 1982; Nr. 1, S. 3–5; Constantiae imperatricis et reginae Siciliae diplomata (1195–1198), hg. v. Theo Kölzer (Codex diplomaticus regni Siciliae. Series prima: Diplomata regum et principum e gente Normannorum 1/2); Köln, Wien 1983, Nr. 11, S. 40–48. 806 Wilhelm von Malmesbury, Gesta, S. 554–556. 807 Hinweis bei Broekmann, Rigor, S. 202f.

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England zu bewahren. Der Schrecken war der Herrschaft dienlich; er beschränkte sich nicht darauf, vor Verbrechen abzuschrecken und Verbrecher zu strafen.808 Auch in England schloss der Schrecken die Liebe nicht aus. In den König Heinrich I. zugeschriebenen Gesetzen wurde der Grundsatz verkündet, dass die freie Vereinbarung oberhalb des Gesetzes und die Liebe oberhalb des Gerichtsurteils gestellt werden sollten.809 Recht und Liebe standen dem König zur Verfügung – aber in gestufter Anwendung. Die Liebe stand außerhalb der juristischen Ordnung, aber sie war ihr Ursprung, und sie barg die Möglichkeit, ihre Anwendung in bestimmten Fällen entbehrlich zu machen. Die Erzählungen von strafenden Handlungen und von den verübten Grausamkeiten der Könige führen die Kombination von Zuneigung und Furcht vor, die die Könige von England in die Lage versetzten, ihre vortreffliche Sorge um die Gerechtigkeit zu beweisen, so dass selbst ihre spontan erscheinenden und dargestellten Gewaltakte gerechtfertigt seien, weil sie der Beständigkeit einer guten Herrschaftsordnung günstig seien. Die Beispiele, die Klaus van Eickels zur Gewalt der englischen Könige untersucht, zeigen ein Herrscherideal, das den Anschein der wutentbrannten Tat bedurfte, die aber institutionell eingebunden war und zur Effizienz der Machtausübung beitrug, ohne die die Errichtung einer gerechten Herrschaft nicht möglich wäre. Der bei den Zeitgenossen und späteren Chronisten als schwach geltenden und angeblich dem Adel zu freie Hand gewährenden Königsherrschaft von Stephan von Blois (1135–1154) waren Gegenbeispiele von Herrschern entgegenzustellen, deren ungehemmte Gewaltanwendung Tatkraft, Durchsetzungsfähigkeit und Wirksamkeit beweisen sollte. Auch die späteren englischen Königen erbrachten hierzu Beweise.810 Ungehemmtes Ausleben von Emotionen galt als für jeden Menschen, den König nicht minder, aber als ungebührliches Verhalten. Aber die Verbreitung des Schreckens auf ein Ziel zu lenken, fand Lob. Er war institutionell gebändigt und zugleich gesteigert. Die Strenge der Gerechtigkeit war derjenige Wert, der dem Schrecken das anerkannte und legitime Ziel vorgab und ihn aus der emotionalen Spontanität herauslöste. Die Normierung von Emotionen bei dem englischen Geschichtsschreibern und dem Kritiker des Hofes, Walter Map, trug dazu bei, die Emotionen – vor allem die des Zorns – zwar abzuwerten, sie aber doch zugleich als Ausweis von exklusiver sozialer Stellung anzuerkennen. Sofern der Zorn auf die Verteidigung der Gerechtigkeit ausgerichtet war, war er gerechtfertigt. Die 808 Wilhelm von Malmesbury, Gesta, S. 710, 740–746. 809 Leges Henrici Primi, hg. v. L. J. Downer, Oxford 1972, S. 164; The treatise on Laws and Customs of the Realm of England commonly called Glanvill, hg. v. G. D. G Hall, London 1965, S. 129; Michael Clanchy, Law and Love in the Middle Ages, in: Disputes and Settlements. Law and Human Relations in the West, hg. v. John Bossy Cambridge 1983, S. 47–68. 810 Van Eickels, Hingerichtet, S. 81–104.

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unbeherrschten Launen der Könige markierten ihre hohe Position; ihnen unterworfen zu sein, galt als Ausweis ihrer Macht.811 Zorn, Schrecken und Furcht besaßen einen hohen Wert bei den Herrschern besonders dort, wo sie an der Peripherie der Christenheit, gegen Ungläubige kämpften und sie beherrschten. Unverhohlen hat die Chronik von Lucas de Tuy (†1249), die im Auftrag der Königin Berenguela die Geschichte der Königreiches Lejn auf der iberischen Halbinsel darstellte, den Schrecken des Königs verteidigt. Im Kampf gegen die Muslime – ähnlich wie in Sizilien – sollten die leonesischen Könige terribles sein, wie an vielen Stellen der Chronik ausgeführt ist. Der Schrecken entspringe dem wilden Ungestüm der Könige: Ferossimi reges quasi ferossimi leones. Die etymologische Verbindung vom tobenden Löwen mit dem Namen des Königreiches – Lejn – war dem Autor ein Argument mehr, Schrecken, Wut und Wildheit als Tugenden der Könige zu reklamieren, in deren Dienst Lucas de Tuy stand und deren Lob er vortrug. Der Schrecken war vernünftig. Er sollte die Herrschaft einzurichten helfen.812 Seit dem endenden 11. Jahrhundert rückte die strafende und niederdrückende Gewalt des Königs in das Zentrum der Christenheit. Die Erhabenheit von Kaiser und König duldete keinen Widerstand. Das einst im römischen Recht der Antike entwickelte Konzept des crimen laesis maiestatitis fand Eingang in die mittelalterliche Vorstellung zur Herrschaft. Von der Neuerung war auch die Herrschaft der römisch-deutschen Kaiser und Könige erfasst. Die zunehmende Gewaltbereitschaft war mehr als nur inszeniert.813 Bereits Kaiser Heinrich III. verfügte am Ende seines Lebens auf dem Hoftag zu Zürich 1052, dass jeder Widerstand gegen ihn als crimen laesis maiestatis erachtet und mit der Todesstrafe geahndet werden müsse, ohne dass indes, angesichts der Krise des römischen Königtums nach seinem Tod, die Rechtsbestimmung sofort angewendet werden konnte.814 Aber ein Insistieren auf Strenge und Furcht drängte Freundschaften, die bis zur Mitte des 11. Jahrhunderts das Agieren der Kaiser gekennzeichnet hatten, zunehmend zurück. Nur noch in der Intimität persönlicher Beziehungen hielt sich der Diskurs der Freundschaft. In der vita des Heiligen Ulrich von Zell war beschrieben, dass Heinrich III. für ihn Freundschaft und dann Liebe empfunden habe, was den Kaiser dazu bewogen habe, ihn zu seinem Kapellan zu erheben und an seinen Hof zu ziehen, wo er 811 Freudenberg, Irarum nutrix. 812 Lucas de Tuy, Chronicon mundi, hg. v. Emma Falque Rey, Turnhout 2003, S. 24. 813 Gerd Althoff, Königsherrschaft und Konfliktbewältigung im 10. und 11. Jahrhundert, in: FMAS 23 (1989), S. 265–290; Ders., Macht der Rituale, S. 146–159, 222–227; Hagen Keller, Herrscherbild und Herrscherlegitimation. Zur Deutung ottonischer Denkmäler, in: FMAS 19 (1985), S. 290–311. 814 MGH DD Heinrich III., hg. v. Harry Breslau, Paul Kehr, Berlin 1931, Nr. 293, 295, S. 397– 400; Broekmann, Rigor, S. 12f.

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auch die Zuneigung der Kaisergattin Agnes habe erringen können. Politische Weiterungen fehlten aber.815 Unter Heinrich III. und seinem Sohn und Nachfolger Heinrich IV. (1056–1106) war es, wie zuvor im 10. Jahrhundert, zwar weiterhin üblich, Freundschaften zu benennen, aber sie waren zunehmend ihrer Funktion entkleidet, Macht abzustützen. Die Freundschaft wurde stattdessen als exzeptionelle, angeblich emotional herbeigeführte Bindung beschrieben. Freundschaftsbündnisse zogen hingegen nicht die Fäden der Loyalität, knüpften keine Netzwerke von Mächtigen, sondern waren auf ausgewählte, geradezu abgesonderte Beziehungen von wenigen beschränkt. Die Akzeptanz der Herrschaft ruhte ja zunehmend auf einer anderen Grundlage, auf der Durchsetzung des Friedens. Dazu war Strenge verlangt. Er war gegen die Feinde des Friedens anzuwenden.816 Gerd Althoff geht zwar von einer auch noch unter Heinrich IV. weiter geltenden konsensualen Ordnung des Streitschlichtens, der Beratung und der inszenierten Unterwerfung aus, meint aber auch, dass die ordnungsstiftenden Rituale teilweise ihre Wirkung verloren hätten. Ein Wendepunkt habe sich während der Herrschaft Heinrichs IV. abgezeichnet. Heinrich selbst habe sich über die bislang gültigen Praktiken der gütlichen Streitbeilegung hinweggesetzt, wie der zeitgenössische Bericht Brunos zum Sachsenkrieg berichtet.817 Indem Heinrich seine Wut zur Schau stellte, wollte er die aufständischen Fürsten zum Gehorsam und zur Anerkennung seiner Ansprüche zwingen. Viele Fürsten aus Deutschland beklagten in einem Brief an Papst Gregor am Ende des Jahres 1078, dass der König den Schrecken des sündigen Menschen vor ihm selbst statt der Gottesfurcht verbreite.818 Die Geltungsansprüche einer Herrschaft wurden demonstriert, die die gestörten Ordnungen auch mit Gewalt wiederherzustellen beanspruchte. Die Störung haben Heinrich IV. und die ihn favorisierenden Texte seinen Feinden angelastet, diese aber wiederum Heinrich vorgeworfen.819 Der König reklamierte die Kampfbereitschaft, wie sie die beschworenen Friedensbündnisse vorsahen. Von der Pflicht zum Frieden durfte niemand entlassen werden. Milderungen der Sanktionen waren ausgeschlossen. Der Weg war von Heinrich IV. angebahnt, transpersonale, institutionell verankerte Herrschaftsmethoden einzuführen, die ostentativ Gewalt, Furcht und Schrecken einsetzten, ohne sie als persönliche

815 Ex vita S. Udalrici prioris Cellis, hg. v. Roger Wilmans, in: MGH SS 12, Hannover 1866, S. 251–267, S. 254–256. 816 Stefan Weinfurter, Das Jahrhundert der Salier (1024–1125), Ostfildern 2006, S. 101–104. 817 Brunos Buch vom Sachsenkrieg, S. 33, 95f. 818 Gerd Althoff, Heinrich IV., Darmstadt 2006, S. 263. 819 Monika Suchan, Königsherrschaft im Streit. Konfliktaustragung in der Regierungszeit Heinrichs IV. zwischen Gewalt, Gespräch und Schriftlichkeit (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 42), Stuttgart 1997.

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Regungen vorzustellen.820 Konsens genügte nicht. Nicht einmal die Kaiser Heinrich IV. wohlgesonnene, nach seinem Tod von einem unbekannten Autor verfasste Vita Heinrici verhehlte die entschlossene Gewaltanwendung Heinrichs. Entgegen der Erwartung der unterworfenen aufständischen Adeligen in Sachsen, dass Heinrich Milde und Gnade gewähren würde, habe er diese verweigert; vielmehr habe er die Strafe der Verbannung verhängt oder gar die Besiegten in harter Gefangenschaft gehalten. Die Gerechtigkeit herzustellen, sei sein Anliegen.821 Dies behaupteten auch andere Heinrich günstig beurteilenden historiographischen Texte, neben der bereits genannten Vita das Carmen de bello saxonico. Die anscheinend bis dahin übliche Erwartung auf Milde und Wiederherstellung der Huld wurde enttäuscht.822 So wie in den historiographischen und theoriegeleiteten Texten fand auch in den Urkunden der Könige eine Umwertung des Schreckens statt. Er galt als Beweis, dass die Herrschaft die Gerechtigkeit herstellte. Zunehmend trat die Begrifflichkeit des Schreckens in die Sprache der königlichen und kaiserlichen Herrschaft selbst ein. Dies war ein Novum in der Praxis der königlichen Kanzleien. Heinrich IV. setzte, vermutlich in provokanter Erwiderung der Versuche der Päpste, die weltliche Gewalt als Schreckensherrschaft abzuwerten823, entschieden auf eine ihm zustehende Befugnis, Schrecken zu verbreiten; keineswegs verleugnete er dies. Er verkündete im April 1090, als seine Machtbasis geschmälert war und er sich isoliert in Nordwestitalien aufhielt, dass er mittels des kaiserlichen Schreckens seine Befehle durchsetze: imperiali terrore sanctimus.824 Die Selbstbeschränkung, die sich einst Kaiser Otto III. auferlegt hatte, als er die Ausübung des Schrecken ablehnte und die strenge Bestrafung dem höchsten Richter, also Gott, überließ825, war abgelegt. Die amici, die ihm zugetan seien und ihm vertrauten, sah Heinrich IV. als seine Gehilfen an, um das Schwert gegen die Übeltäter zu richten, die ihre gebührende Strafe erleiden sollten, wie in der Urkunde zugunsten der Stadt Mantua, ebenfalls im Jahre 1090 erlassen, ausgeführt war. Nicht ohne Grund gehe er grausam vor – in einer Zeit, in der das Reich mit kriegerischer Anstrengung gegen seine Feinde verteidigt werden müsse.826 Dem Versuch der Päpste und ihrer Anhänger, seiner Herrschaft die Legitimität zu entziehen, stellte Heinrich dezidiert ein Programm der furcht820 Sverre Bagge, Kings, Politics, and the Righ Order of the World in German Historiography, Leiden 2002; Philippe Buc, Die Krise des Reiches unter Heinrich IV. mit und ohne Spielregeln, in: Spielregeln der Mächtigen. Mittelalterliche Politik zwischen Gewohnheit und Konvention, hg. v. Claudia Garnier, Hermann Kamp, Darmstadt 2010, S. 61–93. 821 Vita Heinrici IV imperatoris, hg. v. Wilhelm Eberhard (MGH SRG 58), Hannover 1899, S. 15. 822 Althoff, Ira, S. 69f. 823 Kapitel VII.1. 824 MGH DD Heinrich IV, Nr. 413, S. 549f. 825 MGH DD Otto III, hg. v. Theodor Sickel, Hannover 1893, Nr. 237, S. 653f. 826 MGH DD Heinrich IV., Nr. 421, S. 563f.

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einflößenden Macht entgegen, die eine Sakralisierung der Herrschaft nicht ausschloss, sie vielmehr mit der Aneignung der Gottesfurcht befestigte. Daher war die konventionelle Gestaltung der Urkundenarengen, die die Erwartung auf Belohnung im Jenseits, die göttliche Beauftragung des Königs, die Benennung der Tugenden von Gerechtigkeit und Frömmigkeit, die Wahrung der Einheit des Reiches und den Schutz der Kirchen thematisierten, nicht nur Fortsetzung einer etablierten Praxis der königlichen und kaiserlichen Kanzlei, sondern Selbstbehauptung in einem Umfeld, in dem die einst – vor dem Streit mit den Päpsten – selbstverständlich erachteten Grundlagen königlicher Herrschaft nun in Frage gestellt wurden und deshalb dezidiert verteidigt werden mussten. Die Einfärbung des Schreckens in einen traditionellen Bewertungsrahmen sollte den neuen Anforderungen und Abwertungen standhalten und die königliche Herrschaft ihre bisherige Legitimität sichern.827 Den Schrecken als Herrschaftsinstrument einzusetzen, war mehr als ein Ausschöpfen von Konzepten, die in Sizilien und in England, in den Reichen von normannischen Herrschern, ausgestaltet waren. Für die römisch-deutschen Könige und Kaiser waren die Begründung spätantiker Herrschaft durch das römische Recht und die frühmittelalterlichen Fürstenspiegel wirkmächtiger. Konzepte der Antike wurden reaktiviert und der Entwertung kaiserlicher und königlicher Herrschaft entgegengestellt. In der Zeit vom Beginn des 12. bis zum Beginn des 13. Jahrhunderts galt der Schrecken der Herrschaft anders als zuvor nicht als Makel, nicht als Ausnahme, nicht als Instrument des Kampfes gegen die Übeltäter, nicht als Sanktionsinstrument, sondern wurde als eine dem König zustehende Berechtigung vorgeführt, die seiner Herrschaft unmittelbar nützen sollte, also als Instrument der Macht. Dass ihr aufgetragen sei, die Gerechtigkeit – auch gegenüber den Unwilligen – zu verwirklichen, berechtigte zur Strenge. Am wenigsten umstritten war die Anwendung des Schreckens gegen die muslimischen Glaubensfeinde. Ihn verbreitete Kaiser Friedrich I. (1152–1190) angeblich nach dem Vorbild seiner Vorgänger gegen die Ungläubigen. Der Schrecken gegen die Muslime galt als die richtige Antwort auf deren Schrecken. Wie die Annalen von Romuald von Salerno (†1181) aus der räumlichen Distanz berichteten, aber bezeichnenderweise im Umfeld des Königsreiches Sizilien, sollten den Sarazenen Schrecken, Verwirrung und Not zugefügt werden: terror, confusio et egestas. Allen Christen hingegen und besonders denjenigen, die sich auf den Weg zum Heiligen Grab in Jerusalem begäben, sei Sicherheit zu gewähren.828 Die Opposition im Glauben führte zu gegensätzlichen Wirkungen der 827 Bernd Schütte, Herrschaftslegitimierung im Wandel. Die letzten Jahre Kaiser Heinrichs IV. im Spiegel seiner Urkunden, in: Die Sakralität von Herrschaft. Herrschaftslegitimierung im Wechsel der Zeiten und Räume, hg. v. Franz-Reiner Erkenz, Berlin 2002, S. 165–180. 828 Romoaldi Annales, in: MGH SS 19, hg. v. Georg Heinrich Pertz, Hannover 1866, S. 387–461, S. 457.

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Herrschaft. Die Taten des Kaisers bereiteten den Christen Freude, bei den Sarazenen erzeugten sie Schrecken – so die Aussage der Historia de expeditione Frederici imperatoris über den Kreuzzug Friedrichs I.829 Für den Benediktiner und Chronisten Otto von St. Blasien, der zu Anfang des 13. Jahrhunderts eine Fortsetzung der Chronik von Otto von Freising schrieb, galt es als erwiesen, dass Friedrich I. im ganzen Orient Schrecken verbreitet hätte, wäre er nicht zu früh auf dem Weg ins Heilige Land verstorben. Die kontrafaktische Ausmalung eines Geschehens, nicht untypisch für die Chronik Ottos von St. Blasien, zeigt die Wesensbestimmung eines vorbildlichen Herrschers, zugleich dient sie dem Ausweis der militärischen Tüchtigkeit aller Deutschen, die im Jahre 1187 Jerusalem gegen Saladin erfolgreich verteidigt hätten, sofern sich nur einige von ihnen in der Stadt aufgehalten hätten.830 Aber der Schrecken war keineswegs auf die Ungläubigen begrenzt. Er wurde auch den Christen und eigenen Untertanen zugefügt. Friedrichs I. Sohn und Nachfolger, Kaiser Heinrich VI. (1190–1197), regiere mit Strenge, so dass ihn alle fürchteten – in cismarinis et transmarinis, d. h. sowohl unter den Christen als auch unter den Ungläubigen, so schrieb Otto von Sankt Blasien.831 Alle, die sich in verwerflicher Weise abseits der von Gott eingesetzten natürlichen Ordnung befänden, nicht allein die Glaubensfeinde, sollten den Herrscher fürchten. Bereits die Historia de expeditione Friderici schreibt, dass der terror gottgefällig sei, wenn er sich auch gegen diejenigen richte, die lüstern ihrer perversen Sexualität frönten, wider die Natur Unzucht trieben und sich nackt zeigten.832 Als unnatürliche und zugleich abseits der Zivilisation stehende Menschen konnten, ähnlich den Ungläubigen, auch Christen gekennzeichnet werden, gegen die dann folglich auch der Schrecken zum Einsatz kommen sollte. Rahewin verweist in der Fortsetzung der Chronik von Otto von Freising auf den Schrecken, den Kaiser Friedrich I. gegen die Polen, die als unerschrocken, wild, barbarisch und stets zum Kampf bereit beschrieben werden, auslöst, nachdem er mit seinem Heer die Oder, die doch als unüberwindliche Grenze erachtet worden sei, überschritten und das ganze Land der Polen verwüstet habe. Der dem Kaiser wohl gesonnene Chronist lobt dessen gewaltsames Handeln.833 Der Schrecken des Herrschers richtete sich auch gegen die politischen Gegner in den eigenen Königreichen, sofern sie sich einer Herrschaft entgegenstellten, deren Geltung durch hohes Alter und ehrwürdige Gesetze vor jeder Gefährdung hätte gefeit sein sollen. Es ist gewiss kein Zufall, dass die Chronisten den 829 Historia de expeditione Friderici, S. 126. 830 Otto von Sankt Blasien, Chronica, hg. v. Adolf Hofmeister (MGH SRG 47), Hannover, Leipzig 1912, S. 52, 62. 831 Ebda., S. 61. 832 Historia de expeditione, S. 60. 833 Otto von Freising und Rahewin, Gesta, S. 398–403.

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Schrecken insbesondere im Kampf Friedrichs I. gegen die Stadtgemeinden in Italien vorstellten, dort also, wo die Entfaltung kommunaler Institutionen am weitesten vorangeschritten war. Der Schrecken der Herrscher wütete gegen die neuen Akteure im Kampf um die Macht, gegen diejenigen, die unter einem Defizit an Legitimation litten, und gegen die, die sich einer Rechtsordnung entzogen, die doch auch dank der Anwendung des römischen Rechtes gestärkt werden sollte.834 Aus dem Kampf gegen die Glaubensfeinde, gegen die Verbrecher, gegen die widernatürlich handelnden Perversen war der Schrecken entstanden, der auch im Kampf gegen die neuen Machthaber im politischen Geschehen eingesetzt wurde, gegen die Kommunen. Der Einsatz des Schreckens war aber nicht nur reaktiv. Er entsprach einer neuen Herrschaftsvorstellung, die auf Konsens und Ausgleich zunehmend verzichtete und das Streben nach Gerechtigkeit als Grund für die Strenge ausgab. König Friedrich I. kündete von Anfang an, bereits während seiner Königskrönung, dass er unnachgiebige Gewalt auszuüben berechtigt sei, um seine Macht zu stärken, die er in den Dienst der Gerechtigkeit zu stellen behauptete. Sein Onkel Otto von Freising schreibt in den Gesta zu Friedrich I., dass während der Krönungsfeierlichkeit im Jahre 1152 sich ein Bittsteller in der Kirche zu Aachen vor dem König zu Boden geworfen und von ihm Gnade für seine früheren Vergehen erbeten habe. Aber statt wie seine Vorgänger Zeichen der Barmherzigkeit zu zeigen, habe Friedrich auf dem Vollzug der Strafe beharrt, die er nicht abwenden könne, obwohl ihn dazu sein Gefühl angetrieben habe. Aber die constantia animi habe ihn davon abgehalten, die Beachtung der Gerechtigkeit zurückzustellen, so Otto von Freising. Dieser Geschichtsschreiber entstammte dem Staufergeschlecht, hatte in Frankreich eine vertiefte Bildung erfahren, war mit den zu seiner Zeit zur Verfügung stehenden Texten der Antike vertraut, erachtete die Tugenden des Herrschers als Basis von dessen Macht und verband diese Macht mit der Realisierung einer christlichen Gesellschaft, in der Kirche und Herrschaft miteinander versöhnt sein sollten.835 Dazu sei der rigor iustitiae geltend zu machen, wie Otto schrieb. Nicht persönlicher Hass, nicht schwankende individuelle Affekte, sondern die beständige Verpflichtung auf prinzipielle Ansprüche und Machtinstrumente habe das Verhalten von Friedrich I. geleitet. Otto stellte die Strenge seiner Tugend gegen die Milde.836 Ostentativ wurde 834 Schulz, Denn sie liebten, S. 21–48; Hans-Joachim Schmidt, Societas christiana in civitate. Städtelob und Städtekritik im 12. und 13. Jahrhundert, in: HZ 257 (1993), S. 297–354, S. 306f.; Ders., Legitimität von Kommunen in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts, in: Die Freiburger Handfeste von 1249. Edition und Beiträge zum gleichnamigen Kolloquium 1999, hg. v. Hubert Foerster, Jean-Daniel Dessonaz, Freiburg (Schweiz 2003), S. 281–321. 835 Joachim Ehlers, Otto von Freising. Ein Intellektueller im Mittelalter. Eine Biographie, München 2013. 836 Otto von Freising und Rahewin, Gesta, S. 104–105; Otto von Freising, Chronica, S. 286–288.

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ein neuer Ton angeschlagen, der die Herrschaft Friedrichs I. von der seiner Vorgänger unterscheiden sollte. »Die Ehre des Königs sollte nicht mehr seine Gnade sein« – so beschreibt Knut Görich die Haltung Friedrichs. Sie war nunmehr begründet in der strengen Durchsetzung des Rechts, die sich als Durchsetzung seiner Macht realisierte.837 Die Entscheide, die Kaiser Friedrich I. auf dem Hoftag zu Roncaglia in der Nähe von Mailand im November 1158 verkündete, stellten ihn in die Tradition der antiken Kaiser, deren Rechte als Gesetzgeber er für sich beanspruchte; er verlangte, in Italien Steuern zu erheben und Amtsleute einzusetzen.838 Diejenigen, die sich gegen die kaiserlichen Prärogativen wandten, galten als Verräter und Widersacher der kaiserlichen Würde.839 Das crimen laesis maiestatis duldete keine Schonung, setzte die investigative Strafverfolgung in Gang und war mit Strenge zu ahnden.840 Konflikte durch Vereinbarung zu lösen, war ausgeschlossen. Aufgrund der Vorgaben des Gesetzes war zu entscheiden. Nicht einzelne Maßnahmen zur Verfolgung von Verbrechern berechtigten und verlangten den Schrecken, sondern die Geltung der kaiserlichen Gewalt erforderte seinen beständigen Einsatz. In dieser Weise gestalteten die römischen Könige und Kaiser die Programmatik ihrer Herrschaft. In der von Otto von Freising berichteten Rede Friedrichs I. vor den Römern verteidigte er seine alleinige Gesetzgebungskompetenz und die Strenge, die aus ihr folge, und 837 Knut Görich, Die Ehre Friedrich Barbarossas. Kommunikation, Konflikt und politisches Handeln im 12. Jahrhundert, Darmstadt 2001, S. 327–330; Althoff, Ira, S. 70f.; Weinfurter, Investitur, S. 121. 838 Renato Bordone, I comuni italiani nella prima Lega Lombarda. Confronto di modelli istituzionali in un’esperienza politico-diplomatico, in: Kommunale Bündnisse Oberitaliens und Oberdeutschlands im Vergleich, hg. v. Helmut Maurer (Vorträge und Forschungen 33), Sigmaringen 1987, S. 45–58; Gerhard Dilcher, Lega lombarda und Rheinischer Städtebund. Ein Vergleich von Form und Funktion mittelalterlicher Städtebünde südlich und nördlch der Alpen, in: Europa e Italia. Studi in ononre di Giorgio Chittolini, hg. v. Gian Maria Varanini u. a., Florenz 2011, S. 155–180. 839 Vittore Colorni, Die drei verschiedenen Gesetze des Reichstags von Roncaglia, Aalen 1969; Alfred Haverkamp, Herrschaftsformen der Frühstaufer in Reichsitalien (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 1), Stuttgart 1970, S. 164–171; Gerhard Dilcher, Kaiserrecht, in: Rivista internazionale di diritto commune 5 (1994), S. 211–245; Giovanni Minucci, La dieta di Roncaglia (1158) la lex regalia di Federico Barbarossa e la »Sumula ad legem Juliam maiestatis, in: Gli inzi del diritto pubblico. L’et/ di Federico Barbarossa. Legislazione e scienza del diritto«, hg. v. Gerhard Dilcher u.a , Bologna 2007, S. 199–230; Pierre Racine, Aux origines du droit public. La l8gislation de Fr8d8ric Barberousse / la diHte de Roncaglia (1158), in: Le moyen .ge 114 (2008), S. 361–368. 840 Mario Sbriccoli, Crimen laesae maiestatis. Il problema del reato publico alle soglie della scienza penalistica moderna, Mailand 1974, S. 346–348; Yan Thomas, L’institution de la majest8, in: Revue de SynthHse 112 (1991), S. 331–386; Ders., Arracher la v8rit8. La majest8 et l’inquisition, in: Le juge et le jugement dans les traditions juridiques europ8enes. Etudes d’histoire compar8e, hg. v. Robert Jacob (Droit et soci8t8 17), Paris 1996, S. 15–41; Jacques Chiffoleau, Sur le crime de majest8 m8di8val, in: GenHse de l’Etat moderne, S. 183–213.

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schließlich auch den Schrecken, den er rechtmäßig ausübe. Allein das, was er wolle, solle geschehen. Gegen seinen Willen zu handeln, solle niemandem gestattet sein; der Wille des Kaisers verlange unbedingten Gehorsam. Der gute Herrscher solle Gott nachahmen, die Unschuldigen vor dem Schrecken bewahren, den Schrecken aber gegen die Aufrührer richten, auf dass sie nicht hoffen könnten, den weltlichen und den göttlichen Strafandrohungen und Strafen, die sie heimsuchen würden, zu entgehen.841 Der Schrecken richtete sich nach innen, gegen die eigenen Untertanen. Dies sollte keine leere Drohung sein. Friedrich umgab eine Aura der Furcht. Die norditalienische Stadt Tortosa, im Aufruhr gegen den Kaiser mit Mailand verbündet, habe sich unterworfen, weil sie fürchtete, die ungehemmte Gewalt Friedrichs erleiden zu müssen, schrieb Otto von Freising.842 Im Kampf gegen seine Feinde in Ancona, die als Feinde des römischen Reiches bezeichnet sind, bleibe, so weiterhin Otto, nichts anderes übrig, als sie wegen des Verbrechens der Majestätsverletzung mit dem Tod zu bestrafen. Allein dies anzudrohen, habe die Gegner Friedrichs I. in Schrecken versetzt. Um die Strafe abzuwenden, hätten die nun zur Unterwerfung bereiten Rebellen auf die benignitates hingewiesen, die sie einst dem Kaiser erbracht hätten, so dass die strenge Geltung des antiken römischen Rechts, von dem sie angeblich keine Kenntnisse hätten, abgewendet werden könne.843 Nur widerwillig habe Kaiser Friedrich zunächst seine Neigung bezwungen, den unterworfenen Feinden in der Stadt Tortosa Milde zu gewähren, aber er habe schließlich doch zum Mittel erbarmungsloser Gewal gegriffen, damit ihm nicht Schwäche angelastet werde. Er lasse nicht von seinem bisherigen Verhalten ab, die Beständigkeit seiner Strenge gegen seine Feinde durchzusetzen. In der Chronik führt Otto von Freising den Kaiser als Vollstrecker der Gewalt und der Furcht gegen die feindlichen italienischen Städte vor. Milde könne Friedrich, wie er einer von Otto eingeschobenen wörtlichen Rede ausführt, angesichts des Aufruhrs der Gegner nicht mehr walten lassen. Keine Schonung werde er gewähren. Daraufhin habe er die Gefangenen hinrichten lassen.844 Der Zorn war häufiges Motiv bei der Beschreibung der Taten Friedrichs, war der Person des Kaisers verbunden, war nun sogar – anders als noch am Ende des 11. Jahrhunderts – ein Merkmal der Vortrefflichkeit des Herrschers.845 Nicht der Zorn des Herrschers löste den Schrecken aus, sondern die Anwendung der Gesetze. Der Schrecken umgab nicht allein seine Person, sondern war der institutionellen und beständigen Gewalt zugeordnet. Hervorgerufen war der Schrecken zwar von anderen – von denjenigen, die sich dem Herrscher wider841 842 843 844 845

Otto von Freising und Rahewin, Gesta, S. 138f. Ebda., S. 139. Ebda., S. 193. Ebda, S. 292–294. Althoff, Ira, S. 70–74.

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setzten –, aber der Kaiser hatte darauf die richtige Antwort zu finden: ebenfalls Schrecken zu verbreiten. Mitunter war nicht einmal, um Schrecken zu erzeugen, tatsächliche Gewaltanwendung erforderlich, weil allein deren Potentialität Furcht und Schrecken in den italienischen Städten, die gegen ihn rebellierten, hervorrief. Alle Langobardos habe Friedrich in Furcht versetzt, als er deren Bundesfeste Alessandria belagerte.846 Der furor des Kaisers und seiner Getreuen konnte als Argument der Kritik gebraucht847, aber auch positiv gewendet werden, sobald er als Ausweis des kraftvollen Handelns und der den Frieden einrichtenden Herrschaft, die der rex pacificus gestaltete, galt und darüber hinaus auch noch die kriegerische Tüchtigkeit aller Deutschen vorführte, um die Italiener in Furcht zu halten, wie es in der Chronica Coloniensis hieß.848 Dieselbe Chronik berichtete zum Jahr 1158, dass der Kölner Erzbischof Rainald von Dassel († 1167) und der Pfalzgraf im Auftrag Friedrichs gegen die Feinde des Kaisers in Italien kämpften und dank eines spiritus fortitudinis auch zahlenmäßig überlegene Gegner niederrangen. Als sich das kaiserliche Heer der Stadt Ravenna näherte und von den Bewohnern Geiseln verlangte, drang der Schrecken so tief in die Gemüter der Städter, dass einige von ihnen riefen: »Aus welchen Grund sind die Bürger von Ravenna, die doch zu Recht als Herren des Landes bezeichnet werden, zu Gefangenen geworden? Wer kann den Händen der kaiserlichen Gesandten entrinnen?« Nicht allein Ravenna hatte Grund zur Klage. Das Heer zog zu weiteren Städten Italiens, nach Pisa, Fano, Siena, und verbreitete dort honorem et terrorem, die die Kriegsmannen in Stellvertretung des anrückenden Kaisers hervorriefen, mit der Folge, dass die Städter sich unterwarfen, Verzeihung erbaten und erlangten und nun gezwungen waren, den Treueid für den Kaiser zu schwören, was seit mehr als 200 Jahren nicht geschehen sei.849 Der Schrecken war mit der Ehre verknüpft. Beide waren Mittel und Kennzeichen der Herrschaft. Um den Schrecken zur Wirkung zu bringen, war es erforderlich, ihn zu delegieren, zu institutionalisieren, zu perpetuieren und an vielen Orten zu präsentieren, so dass eine unmittelbare Gegenwart des Kaisers nicht einmal mehr notwendig war, er vielmehr durch seine Gesandten und Beauftragten verbreitet wurde. Den Schrecken übte der Kaiser aber auch selbst aus. Auch die ihm wohlgesonnenen Historiographen aus Italien haben dies nicht verheimlicht. Der Norditaliener Otto Morena († 1174) berichtet von dem Kampf Friedrichs I. gegen die aufrührerische Stadt Verona im Jahre 1155: Friedrich gelang es, tausend Bürger gefangen zu nehmen; zweihundert von ihnen ließ er die Nasen und die 846 Quellenhinweise bei Krieg, Herrscherdarstellung, S. 70–74. 847 So dargestellt bei dem anonymen Mailänder Verfasser der Narratio Langobardie oppressione et subiectione; Beleg: ebda., S. 74. 848 Chronica regia Coloniensis, S. 128; ähnlich auch in: Carmen de gestis, S. 88, 94. 849 Chronica regia Coloniensis, S. 96f.

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Lippen abschneiden und weitere zweihundert ließ er an Bäumen aufhängen. Die Grausamkeiten wurden vor den Mauern der belagerten Stadt vorgeführt, so dass die Städter von Schrecken erfüllt wurden und sich bereit erklärten, Friedrich die Unterwerfung anzubieten und ihm eine hohe Geldsumme zu zahlen. Die Mailänder Bürger waren aber nicht weniger schrecklich im Kampf gegen Friedrich und wüteten gegenüber den benachbarten Städten, die dem Kaiser treu blieben, insbesondere gegen Lodi. Dies war nach Ansicht der Anhänger des Kaisers widerrechtliche Grausamkeit. Die Gewalt des kaiserlichen Heeres bei der Belagerung Mailands drei Jahre hat dagegen Otto von Freising gerechtfertigt. Die Ritter entfesselten eine solche Furcht, dass die Mailänder ihren Widerstand aufgaben und Friedrich den Treueid leisteten. Die Kriegführung war erbarmungslos und bediente sich ungehemmter Gewalt, die Schrecken verbreiten sollte. Es war das Mittel, um Macht durchzusetzen, indem es die Gegner einschüchterte, sie geradezu handlungsunfähig machte. Dass dabei angeblich auch das Recht verwirklicht worden sei, folgte aus der Berechtigung kaiserlicher Herrschaft, die anzugreifen eo ipso widerrechtlich sei. Die Strenge der Gerechtigkeit verlangte eine grausame Ausübung der Gewalt. Bei der Belagerung von Crema, das mit Mailand verbündet war, band Friedrich I. die gefangenen Stadtbürger an die Belagerungsmaschinen und rückte mit diesen menschlichen Schutzschilden gegen die Stadtmauern vor, wie dies unter anderem Otto von Freising berichtete. Die bisher von Friedrich praktizierte humanitas und lenitas hätten seine Gegner nur dazu ermuntert, grausam gegen ihn zu kämpfen. Nun sei die Gegenwehr herausgefordert. Mit nicht minderer Grausamkeit sei vorzugehen: Zur Vernichtung und Ausrottung der Kinder und Enkel sei der Kaiser ursprünglich nicht gewillt gewesen, nun aber dazu entschlossen, weil er von seinen Feinden dazu provoziert worden sei.850 Furcht und Schrecken dienten auch der militärischen Taktik. Sie waren aber nach Auffassung der beiden kaiserfreundlichen Autoren Otto Morena und Otto von Freising vor allem Kennzeichen der rechtmäßigen Herrschaft. Sie konnten, sofern die Unterwerfung angeboten wurde, so durch Crema im Jahre 1160, in Güte und Verzeihung umgewandelt werden – dem Beispiel Gottes folgend, der nicht den Tod des Sünders wolle, sondern dessen Bekehrung, so dass er weiter lebe.851 Das Ziel des Schreckens bestand angeblich in der Wiederherstellung der Liebe. So war die Strenge des Gesetzes gerechtfertigt. Im Jahre 1163 zog Friedrich durch Tuszien, die Marken und die Romania, durchquerte die Städte und erlangte dort den Dienst und die Liebe, die dem Kaiser zustanden, so wie umgekehrt die Städte 850 Otto von Freising und Rahewin, Gesta, S. 292f. 851 Otto Morena, Historia, in: Das Geschichtswerk des Otto von Morana und seiner Fortsetzer über die Taten Friedrichs I. in der Lombardei, hg. v. Ferdinand Güterbock (MGH SRG NS 7), Berlin 1930, S. 1–129, S. 24–29, 38–43, 81f., 91–95.

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durch Unterwerfungen die amorem imperatoris zu erlangen suchten, wie der Sohn von Otto Morena, Acerbus († 1167) in seiner Fortsetzung des Geschichtswerkes seines Vaters schrieb.852 Otto von Freising stellte eine Lehre vor, die der Kaiser und mehr noch seine Untertanen beachten sollten: Es mag richtig sein, sich gegen die unmenschliche Gewalt eines Tyrannen zur Wehr zu setzen, aber gegen einen, wie Friedrich, den nicht allein rechtmäßigen, sondern auch noch gütigen Herrscher, zu kämpfen, ist Unrecht und hat zur Folge, dass die Rebellen sich ins Elend stürzen und dass sie in der Furcht vor der Strafe leben.853 Otto von Freising findet die Ursache der Furcht bei den Aufrührern. Die Furcht hervorzurufen, widerspreche zwar den persönlichen Vorlieben Kaiser Friedrichs I., sei aber notwendig für die Zwecke der Herrschaft. Die Institutionalisierung der Furcht verlange ihre beständige Anwendung. Die angeblich echten und spontanen Emotionen des Herrschers waren dabei unerheblich. Mit der Entkoppelung der Furcht von den persönlichen Gemütsregungen wurde sie umso mehr zu einer politischen Notwendigkeit und zu einem Instrument der Macht. Eine De-Personalisierung und Ent-Emotionalisierung erweiterten die Anwendung von Furcht und Schrecken. Sie wurden an die Institution angebunden. Der Wille des Kaisers galt als Vollzug des Gesetzes, war also institutionell eingebunden, wurde zugleich in seiner Wirksamkeit gesteigert, da er abgelöst von schwankenden Gefühlen war. Milde war nur noch der Person des Herrschers eigen, musste aber bei Verbrechen und Bedrohungen der Macht zurückstehen – wenn auch angeblich widerwillig. Der Kaiser wurde gefürchtet, aber er selbst wandte sich in Liebe der Welt zu. Otto von Freising beschreibt den Konflikt, der zwischen der persönlichen Vorliebe zur Milde und der institutionellen Notwendigkeit der Furchteinflößung im Herzen des Kaisers wogen würde. Der explizite Anspruch Ottos, sein Werk Chronica wie ein Philosoph zu schreiben, befähige ihn, Kaiser Friedrich I. zu belehren und ihn zum Guten zu führen. Otto empfiehlt, von dem Schrecken Gottes den Schrecken des Herrschers abzuleiten. Falls dieser aber seiner Pflicht, Schrecken zu verbreiten, nicht nachkäme und er die ihm anvertrauten Beherrschten nicht gemäß den Anweisungen Gottes mittels des Schreckens zur Gerechtigkeit führte, solle dem Herrscher selbst Schrecken zugefügt werden.854 Der Schrecken ist also mehr als institutionalisiert und perpetuiert, sondern auch religiös legitimiert. Vorbilder des rechten Handelns und des guten Herrschens werden vorgeführt, so dass die Taten Friedrichs exemplarisch gemacht werden – zur Nachahmung

852 Acerbus Morena, Historia, S. 161, 166. 853 Otto von Freising und Rahewin, Gesta, S. 124, 129–131. 854 Otto von Freising, Chronica, S. 1–3, 6.

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empfohlen.855 Der Schrecken ist gut, weil er der Gewalt, die von Gott verliehen ist, zur Wirkung verhilft. Der Schrecken ist reaktiv. Die unabänderliche Verknüpfung zwischen dem Handeln der Untertanen und dem Schrecken bzw. der Wohltat unterstützt die unerbittliche, nicht einmal durch Regungen des Mitleids zu besänftigende Sanktionsgewalt. Der Schrecken lässt sich folglich auch zu Recht durch andere Akteure, sofern sie im Auftrag und zum Nutzen des Königs handeln, hervorrufen, wie dies Friedrich I. den Pisanern ermöglicht: In der Urkunde vom August 1155 gewährt er ihnen Münzrechte und setzt sie außerdem als Vollzugsorgane seines Schreckens ein.856 Der Schrecken konnte delegiert werden, weil er zur Institution wurde und dauerhaft werden sollte. In der historiographischen Tradition, auch in der dem Kaiser wohlgesinnten, blieb der Schrecken stets präsent. Das von einem Anonymus verfasste Carmen de gestis Frederici primi führte aus, dass die Erde bebte und die Menge aufschrie, weil überall ein solch schwerer terror, den der Kaiser verbreitete, wütete, dass er die Menschen aus ihren Dörfern in die Städte oder auf die Berge triebe, ohne dass sie aber dort Schutz vor der Gewalt des Kaisers hätten finden können.857 Wie Heinz Krieg ausführte, galt der terror des Kaisers geradezu als Ausweis seiner maiestas. Die »Aufrechterhaltung der göttlichen Weltordnung« verlangte ihn.858 Die Furcht der Friedens- und Rechtsbrecher vor einer strafenden Gewalt sei enorm, weil, so Acerbus Morena aus italienischer Perspektive berichtend, die Gewalt des Kaisers als terribilis wahrgenommen werde. Gesetze, verstanden als Konglomerat von Herrschaftsbegründungen und Herrschaftspraktiken, sollten durchgesetzt werden, so dass nicht isolierte Akte, sondern die Gesamtheit der Machtentfaltung des Kaisers der Erzeugung der Furcht bedurfte und sie bewirkte. So sehr auch die Furcht vor dem Kaiser aufrechterhalten werden musste, sie konnte doch noch in Milde und Huld gewandelt werden, sofern die gegnerischen lombardischen Städte sich in seine Herrschaft übergaben. Sogar die Liebe (amor) des Kaisers konnten die Bewohner von Piacenza wieder erlangen, aber erst, nachdem sie einer so großen Angst ausgesetzt waren, dass sie am ganzen Leib zitterten, so Acerbus. Die Strenge war dennoch, auch in der Darstellung dieses Autors, nicht auf einzelne Situationen beschränkt, sondern war als ein permanenter Grundzug der Herrschaft Friedrichs I. vorgestellt und erfasste auch seine Person selbst. In der Charakterisierung, die Acerbus Morena von Friedrich I. zeichnete, strich er heraus, dass er schrecklich sei gegenüber den 855 856 857 858

Lutz, Schreiben, S. 200–203. MGH DD Friedrich I., 1, Nr. 119, S. 200–202. Carmen de gestis, S. 66. Krieg, Herrscherdarstellung, S. 69.

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Übeltätern, zugleich aber ein iudex und pietatis amator sei, der Streit beende, indem er den Gesetzen Geltung verschaffe. Er sei ein iustitiae cultor, ein legum amator.859 Die Gesetze waren der höchste Wert. Liebe und Schrecken waren an abstrakte Werte angeheftet. Der Schrecken erfasste alle. Die Gesamtheit der Völker und Königreiche würde, so in der Darstellung eines als Ligurinus bezeichneten Werkes, das vermutlich ein Gefolgsmann Friedrichs aus dem Elsass schrieb, den Kaiser fürchten und ihn mit gebeugten Haupt als Herrscher anerkennen. Die bei vielen Zeitgenossen obsolet erscheinende Universalität der kaiserlichen Macht trat hier als Schreckensregiment in Erscheinung, ohne dass indes die durch Furcht induzierte Unterwerfung über alle Völker hatte realisiert werden können.860 Die Darstellung des Hoftages zu BesanÅon im Oktober 1157 durch Otto von Freising unterschied vielmehr die Völker unter der Herrschaft Friedrichs von den auswärtigen Völkern, die aber alle gleichermaßen Kaiser Friedrich I. Ehre erwiesen und Lob spendeten, angetrieben von Liebe und einer mit ihr vermischten Furcht. Von letzterer befreit seien, so Otto von Freising, nur diejenigen, die Friedrich die Treue hielten. Der Bischof von Piacenza rühmte sich in der von Otto von Freising wiedergegebenen und gestalteten Rede, dass er und andere Bischöfe Friedrich nach Gott am meisten liebten, und verwies zugleich auf die Drohung, die sich gegen die abtrünnigen Mailänder richtete, die in Furcht vor ihrem Herrscher verharren müssten.861 Friedrich jage seinen Feinden Furcht ein, dass sich niemand dem Kaiser zu widersetzen wagte.862 Der Schrecken war dem Kaiser angemessen, war Teil seiner Ehre. Er war stets präsent und diente einer Herrschaftsausübung, die Macht an Recht band, nicht damit sie durch das Recht verringert, sondern gemehrt werde. Die Institutionalisierung und folglich Ent-Emotionalisierung und demzufolge Ent-Personifizierung des Schreckens bedurfte geradezu einer von außen einwirkenden Provozierung, einer Initialisierung, die nicht aus dem Wollen des Herrschers entsprang, gleichwohl in die Institution der Herrschaft eingewoben wurde – sowohl durch die Feinde, aber auch durch das inhärente Merkmal einer Herrschaft, die Gottes Zorn auf Erden imitierte. Die Person gänzlich aus dem Schrecken herauszuhalten, war gleichwohl nicht möglich, denn er war glaubhaft und bedrohlich nur dann, wenn der Kaiser ihn ausübte. Der Schrecken war gleichwohl institutionalsiert, denn er wurde auch durch die kaiserlichen Beauftragten verbreitet. Wenn militärische Erfolge fehlten, wie bei und nach der Niederlage des kai859 Acerbus Morena, Historia, S. 167f. 860 Hinweise bei Krieg, Herrscherdarstellung, S. 70–73, Günther Bernhard, Der Verfasser des Ligurinus, ein Notar aus der K anzlei Kaiser Friedrichs I. Barbarossa ?, in MIÖG 11 (2003), S. 18–43. 861 Otto von Freising und Rahewin, Gesta, S. 129f., 173, 269. 862 Ebda., S. 227f.

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serlichen Heeres gegen das Aufgebot der verbündeten norditalienischen Städte in Legnano im Jahre 1176, war Friedrich gezwungen, Abstriche vom Anspruch der durch Schrecken gestützten Herrschaft hinzunehmen. Der Frieden, den er mit den lombardischen Städten im Jahre 1183 in Konstanz abschloss, verlangte von ihm nicht allein Konzessionen zugunsten der politischen Gewalt der Kommunen, ihrer Möglichkeit, Magistrate zu errichten, eine eigene Gerichtsbarkeit einzusetzen und Bündnisse abzuschließen, sondern auch einen ausdrücklichen Verzicht, gegenüber den Städten wie zuvor Furcht zu erregen und Nutzen aus der bisher zugefügten Furcht zu ziehen. Falls die Städte früher nur aufgrund der Furcht zu ungünstigen Verträgen gezwungen worden seien, sollten diese für ungültig erklärt worden. Die eigentlich verlangte Strenge der Bestrafung sollte zugunsten wohlwollender Zuneigung abgewendet werden. Die lombardischen Städte, obwohl sie gegen den Kaiser rebelliert hatten, sollten nun in die Zahl seiner geliebten Getreuen hinzugezählt werden – in der Erwartung, dass sie künftig Dienste leisten würden.863 Der Vertragstext zeigt, wie sehr der Schrecken Eindruck in den italienischen Städten hinterließ. Der Schrecken, der das Recht des Kaisers durchsetzen sollte, wurde nun durch das Recht des Vertrages für nichtig erklärt. In deutlich weniger Fällen als in Italien war der Schrecken des Kaisers in Deutschland präsent. Wie die Arenga der Urkunde Friedrichs I. vom 10. Januar 1153, mit der er dem ihm getreuen Abt Wibald von Stablo die Vogtei seines Klosters übertrug, darstellte, sei nichts angemessener für die königliche Pracht und nichts dienlicher für die Erhöhung des Reiches, als denjenigen Wohltaten zu gewähren, die gut handelten. Aber der Schrecken hatte gleichwohl seine Berechtigung: Der Schrecken der Bestrafung soll die Schlechten heimsuchen, damit sie künftig von ihrem üblen Tun abgehalten würden.864 Die Parallelisierung im Urkundentext zeigt, dass die Entscheidung, welche Aktion der Herrscher ausübt, nicht die Konsequenz seines eigenen Wollens, sondern des Verhaltens der anderen ist. In der Urkunde war indes nicht die Herrschaft selbst, sondern die Bestrafung angesprochen. Die Strafaktion gegen einen einzelnen war um nichts weniger geeignet, den Schrecken allgemein zu machen. Das, was Friedrich in Italien tat, machte Eindruck in Deutschland. Otto von Freising stellte dar, dass in Deutschland alle 863 MGH DD Friedrich I., 1, S. 58–62; MGH Const. 1, S. 408–418; Alfred Haverkamp, Der Konstanzer Friede zwischen Kaiser und Lombardenbund (1183), in: Kommunale Bündnisse, S. 11–44. 864 MGH DD Friedrich I.,1, Nr. 44, S. 74f.; im Jahre 1148 hat Friedrichs Vetter, Heinrich (VI.), als römischer König dem Abt Wibald von Stablo Privilegien erteilt; die beiden Urkunden benennen eine innige Liebe (intimae dilectionis suae plenitudinem), die der König hege; die Liebe war hier ausdrücklich auf eine persönliche Beziehung beschränkt, besaß offensichtlich keine zu verallgemeinernde Wirkung; MGH Const. 1, Nr. 135f., S. 190f.

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wegen der Taten Friedrichs in Italien Furcht ergriffen habe, so dass, nachdem er im September 1155 wieder nach Deutschland zurückgekehrt war, seine Gegner vor ihm erschienen und jeder einzeln sich bemühte, durch Gehorsam die Gnade der Vertrautheit wieder zu erlangen. Vertrautheit und Freundschaft waren nicht gänzlich obsolet, nunmehr aber mit der Furcht durchtränkt. Otto berichtete von der Strafe, die Friedrich I. 1156 dem Pfalzgrafen Hermann und zehn weiteren Grafen auferlegt habe und die darin bestanden habe, in entwürdigender Weise eine Meile weit einen Hund zu tragen. Die Kunde davon habe einen solchen Schrecken in Deutschland verbreitet, dass nunmehr alle Frieden bewahren wollten; Friedrich habe die Wirkung seines Erfolgs noch weiter verstärkt, indem er zu weiteren Burgen seiner Feinde zog, sie zerstörte, die Gegner teils foltern und teils hinrichten ließ. Aus Furcht hätten sich die noch verbliebenen Feinde unterworfen. Erst dann erlangten alle Gebiete Deutschlands bis auf Bayern die Gnade der kaiserlichen Gewalt.865 Zorn, Furcht, Schrecken und Rache der Könige »widersprachen daher nicht ihrer Verpflichtung zu Selbstbeherrschung« (so Klaus van Eickels), sie waren Zeichen einer Formensprache, die Inszenierungen und Beschreibungen von Gefühlen schuf, welche die Person des Königs emporhob und den Beweis lieferte, dass er seinen Aufgaben dank der Kraft seiner emotionalen Regungen nachkam, sofern er sie in institutionelle Verfestigungen überführte.866 Liebe zu gewähren, haben andere reklamiert. Für das Römische Reich beanspruchten die Bischöfe in Deutschland, dass amor et sollicitudo von ihnen ausgingen; die Treue zur römischen Kirche verlange von ihnen sowohl den Affekt der Liebe als auch die Pflicht der Unterwerfung. Dazu seien die Bischöfe, wie sie in ihrem Schreiben an Papst Urban III. vom Dezember 1186 formulierten, tota mente bereit.867 Sie verlangten und versprachen: Die Liebe ist eine Pflicht, die sie verwirklichten; sie folgten aber nicht eigenen Vorlieben und persönlichen Neigungen, sondern suchten den Gewinn für alle. Die Bischöfe versprachen, das zu leisten, was auch Papst Urban III. täte, nämlich das Leben der Untertanen zum Guten zu führen. Die Parallelisierung zwischen römischem Reich und römischer Kirche verwies auf einen religiösen Gehalt, gar auf ein christlich durchtränktes Ideal; die Bischöfe verbanden damit den perfekten Gehorsam, den kirchliche Amtsträger gegenüber dem Papst zu leisten verpflichtet waren, und suchten die institutionelle Stabilisierung päpstlicher Herrschaft als Alternativmodell zum Reich zu deuten. Aber ein Gegensatz wurde negiert. Die Ordnung der Kirche nütze auch dem Reich.868 865 866 867 868

Otto von Freising und Rahewin, Gesta, S. 150f., 154. Van Eickels, Hingerichtet, S. 85. MGH Const 1, Nr. 315, S. 444–446. Colin Morris, The Papal Monarchy. The Western Church from 1050 to 1250, Oxford 1989, S. 527–549.

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Der Schrecken blieb ambivalent und war nur angebracht, wenn er einer unwidersprochen legitimen Herrschaft nützte. Wenn andere als die römischen Kaiser ihn ausübten, war er in deren Augen und in denen ihrer Anhänger Kennzeichen einer verwerflichen Herrschaft. Dies sei im Königreich Ungarn der Fall, wo nach der Auffassung von Otto von Freising einzig der Wille des Königs sich Geltung verschaffe, kein gesetzlicher Schutz bestehe, so dass ohne Gerichtsurteile durch die Standesgenossen adelige Gefolgsleute gefoltert und in Ketten gelegt würden.869 Die Strenge war nicht an die Gerechtigkeit gebunden. Anders sah dies selbstredend die ungarische Historiographie, die aber um nichts weniger einräumte und gar darauf bestand, dass propter regis timorem die Feinde vor dem König zurückwichen, dem so ermöglicht werde, Frieden zu stiften.870 Die Tautologie lag auf der Hand: die Legitimität des Schreckens leitete sich aus der Legitimität der Herrschaft ab. Gerechtigkeit war durch den Schrecken herbeizuzwingen; dies zu leisten, war dem rechtmäßigen Herrscher vorbehalten, da ansonsten der Schrecken rechtswidrig wäre. Die Machtausübung, die Gewalt einsetzte und Schrecken verbreitete, stellte die Deutung der politischen Herrschaft vor Herausforderungen, da die spezifizierte Anwendung von Schrecken und Liebe, von Bestrafung und Belohnung insofern nicht funktionierte, als die Permanenz des Schreckens, seine essentielle Anbindung an die Herrschaftspraxis und die Entkoppelung von den persönlichen Regungen des Herrschers verlangt waren. Die Vorstellungen zur weltlichen Macht mussten mehr daher bieten als Ermahnungen hinsichtlich der Beweggründe und der Handlungen eines individuellen Herrschers, mehr bieten als die Zurschaustellung der üblen Absichten und Taten der Gegner. Die Deutung der Macht konnte nur dann auf einer ethischen Grundlegung aufbauen, wenn die Wiederherstellung der Ordnung behauptet wurde. Als Instrument eines Verbesserungshandelns war der Schrecken dann nicht mehr Kennzeichen einer gegenüber der geistlichen Gewalt minderwertigen weltlichen Gewalt; er war auch nicht nur das Mittel, um die Bösen im Zaum zu halten, er war auch nicht allein eingesetzt, um die Macht des Königs zu sichern und zu zeigen; er war vielmehr notwendig, um eine gerechte Ordnung einzuführen und zu verteidigen, welche eine Herrschaft voraussetzte und sie zugleich schuf und einer Ordnung, wie sie Gott einrichtete, entsprach. Der Schrecken wurde nicht verborgen, war nicht mehr nur einer Palliativordnung verbunden, sondern ostentativ vorgeführt. Die Selbstaffirmation des Herrschers als Schreckensherrscher ist auffällig. Sie überwand am Ende des 11. Jahrhunderts einen Diskurs der Freundschaft, die den Herrscher umgab. 869 Otto von Freising und Rahwin, Gesta, S. 50f. 870 Chronici Hungarici compositio, hg. v. Alexander Domanovszky, in: Scriptores rerum Hungaricarum, Bd. 1, Budapest 1937, S. 217–505, S. 426.

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Die Verbindung der Strenge mit der Gerechtigkeit bildete eine Etappe auf dem Weg zu einer weiteren Steigerung von institutioneller Gewalt. Sie leitete über zu einer Konzeption, die die Gerechtigkeit dann verwirklicht erachtete, wenn sie festgelegten Verfahren folgte, wenn sie in festgefügten Regeln eingebunden war, die wenig Spielraum für die Darbietung von Liebe und Schrecken beließen. Emotionsarme Verfahren des Befehlens und Gehorchens wurden seit dem Ende des 12. Jahrhunderts eingesetzt und überwanden zunehmend Vorstellungen, die den Schrecken als Voraussetzung und als Ziel des Herrschens angaben.

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Zwang durch die Gesetze und Gewalt durch den Herrscher: Kaiser Friedrich II.

Wenn Emotionen in Regeln gefasst und diese in sie eingepflanzt waren, wurden sie schemenhaft, matt, hinfällig. Je mehr die Herrschaft auf sie zugriff, desto weniger waren sie als authentisch wahrgenommen. Die Emotionen wurden vorgeführt. Liebe und Schrecken büßten an Glaubwürdigkeit ein. Die Herrschaft, die sie stabilisieren sollten, bedurfte eine beständigere Festigkeit und wurde von unzuverlässigen und launenhaften Gefühlsregungen abgetrennt. Was von Liebe und Schrecken dann noch blieb, war oft nicht mehr als ihre Benennung. Erst ein neuer Impuls, der durch die Entdeckung der Texte von Aristoteles zur Politik und zur Ethik zur Mitte des 13. Jahrhunderts im Okzident ausgelöst wurde, brachte das Thema der Liebe wieder in die politische Sprache ein, dann aber unter geänderten Voraussetzungen. Da die Person als Auslöser von Schrecken hinter der institutionellen Bewirkung zurücktrat, war der Weg geebnet, die Herrschaft unmittelbar an Regulierungen anzubinden. Konnte aber auf die Nennung und Vorführung emotionaler Treiber verzichtet werden? War es vorstellbar, die Reglementierung durch das Recht und ohne Transmissionsriemen der Gefühle zu implantieren? Galten Emotionen sogar als Gefahr für die Herrschaft? Entzogen sie ihr Berechtigung? Die Fragen sollen mit dem Verweis auf die Herrschaftsbegründung von Kaiser Friedrich II. († 1250) beantwortet werden. Er reagierte auf die Brüchigkeit emotional fundierter Grundlagen durch die Installation von normativen Ordnungen, die er in Sizilien, Reichsitalien und Deutschland einzusetzen versuchte. Die Regulierung beruhte auf Gesetzen, deren Befolgung durch die Untertanen ohne weitere Voraussetzung emotionaler Disposition geschehen sollte. Die Gesetze bedurften mehr als eines Exekutors, sondern – dies war das Neue seit dem 13. Jahrhundert – eines Herrschers, der die Gesetze schuf. Er galt als Herr der Rechtsordnung in doppelten Sinne: als Initiator ihrer Entstehung und als Akteur

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ihrer Anwendung.871 Aus den Verfahren waren die Emotionen herausgenommen. Gesetze wurden die Mittel einer Herrschaft, die jenseits von persönlichen Vorlieben und Neigungen unabänderlich waren und wirken sollten. Die Strenge der Gerechtigkeit entsprang weniger dem König, sondern dem vom Herrscher geschaffenen und mit Sanktionswirkung ausgestattenen Text. In den Gesetzen, die auf der Grundlagen von Enqueten von Juristen und auf Anweisung von Kaiser Friedrich II. in Melfi im Königreich Sizilien und für dieses Königreich 1231 promulgiert wurden und den bezeichnenden, weil auf die kaiserliche Gesetzgebungskompetenz verweisenden Titel Liber augustalis trugen, war nicht allein die richterliche Gewalt des Kaisers und Königs behauptet worden, sondern in Anknüpfung an die antike Verfügung der Lex regia872 auch die Berechtigung zum Erlass neuer Gesetze reklamiert, so dass die Verbrechen nicht allein durch Urteile, sondern auch durch neue und bessere Gesetze sanktioniert werden sollten. Im Prolog des Gesetzbuches werden die anthropologischen Voraussetzungen der Herrschaft mittels der Gesetze dargelegt: Da die Beschaffenheit des Menschen darin bestehe, als Folge des Ungehorsams der ersten Menschen zum Bösen geneigt zu sein, müsse dieser Neigung ein kräftiges Gegenmittel eingesetzt werden. Die Deformation des Menschengeschlechts erfordere den Einsatz der Gewalt, ausgeübt vom Herrscher, um die Untertanen von ihrer natürlichen Bestimmung, die zum Bösen neige, abzuhalten und sie auf den rechten Weg zu führen. Dass auch der Herrscher selbst von der Erbsünde behaftet sei, wurde nicht in Erwägung gezogen; sein Anspruch, Gewalt auszuüben oder deren Ausübung zu delegieren, war intakt zu halten. Das weltliche Schwert müsse geführt werden, um den Glauben der Kirche und die Ordnung des Reiches zu verteidigen und um Frieden, Gerechtigkeit und Reichtum hervorzubringen. Die Formulierungen in den Konstitutionen von Melfi zur Notwendigkeit der Herrschaft waren traditionell. Neu war etwas anderes: Der Herrscher sollte durch die Schaffung von Gesetzen die Übel ausmerzen, nicht allein durch die Anwendung des Rechts. Außerdem sollten die Gesetzestexte mit einer Wirkung versehen werden, die, zwar vom Herrscher hervorgerufen, aber auch ohne ihn, in seiner Abwesenheit oder nach seinem Tod, weiter bestehen bliebe. Die Permanenz des Zwanges bedurfte nicht mehr einer eingreifenden Person, sie entstand aus der ungebrochenen Beachtung der Gesetze. Vor ihnen dürfe es kein 871 Mario Grignaschi, Quelques remarques sur la conception du pouvoir l8gislatif dans la scholastique, in: Revue belge de philologie et d’histoire 61 (1984), S. 783–801. 872 Corpus iuris civilis, II, S. 117; Eva Sybille Rösch, Gerhart Rösch, Kaiser Friedrich II. und sein Königreich Sizilien, Sigmaringen 1996, S. 99–103; Andreas Kosuch, A deo electus?, Klerus und Volk als Verkünder des göttlichen Willens bei der Königserhebung des frühen Mittelalters. Von Wirkung und Wandel einer alten Vorstellung, in: Das frühmittelalterliche Königtum. Ideelle und religiöse Grundlagen, hg. v. Franz-Rainer Erkens (Reallexikon der germanischen Altertumskunde. Ergänzungsband 49), Berlin u. a. 2005, S. 407–426, S. 422.

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Entrinnen geben; aber mehr noch: Ihr Erlass sei eine Notwendigkeit, sogar der freien Entscheidung des Herrschers entzogen, weil unausweichliche Konsequenz der verderbten Beschaffenheit der Menschen. Als executores des göttlichen Willens bezeichnete Friedrich die Herrscher und Gesetzgeber, deren Macht durch keine irdische Einrichtungen begrenzt sei.873 Das Gesetzbuch von Melfi knüpfte an den Gesetzen an, die der sizilianische König Roger II. kurz nach seiner Krönung im Jahre 1130 promulgiert hatte. Deren Prolog hatte Herrschaft und Erbsünde in gänzlich anderer Weise verknüpft. Die erste Sünde galt als Argument, dass der Herrscher Milde walten lassen müsse, da auch er selbst von der Erbsünde befallen und auch er fehlbar sei. Nicht die Unerbittlichkeit der Strenge des Gesetzes, wie bei Friedrich II., sondern die Abmilderung der gesetzlichen Strafandrohung war angekündigt. Der Prolog von Rogers Gesetzen verwies auf Emotionen des Herrschers, die ihn zum Erbarmen gegenüber den Strafwürdigen leiteten.874 Anders die Bestimmungen des Liber augustalis. Sie sollten von Einwirkungen der Emotionen gereinigt sein. Dies galt für den Gesetzgeber und für die Richter. Die Konstitutionen von Melfi enthielten die Klage, dass die Furcht vor Gefängnisstrafe einen Angeklagten zu Falschaussagen verleite, was dazu führen könne, dass Unschuldige zu Unrecht bestraft würden. Zeugen sollten aber ohne Furcht wahre Aussagen machen können, und insbesondere die Opfer von Gewalt und Vergewaltigung sollten ohne Drohungen und frei von Furcht Anklage erheben. Furcht war nicht anders als Hass, Liebe, Betrug, Aussicht auf Belohnung und Ansehen einer Person von den Gerichtsprozessen fernzuhalten. Die Emotionen und die persönlichen Bindungen sollten den Ablauf einer rational konzipierten Anordnung von normierten Verhalten nicht stören; sie würden die Gerichtshöfe des Kaisers und die der Justitiare korrumpieren.875 Der Automatismus des Rechts lag in den Gesetzen begründet, die die Richter anzuwenden hatten und auf diese Weise dem Willen des Kaisers folgten. Der rigor iustitiae folgte daher nicht der Anweisung des Herrschers, vielmehr entsprang er, wie in einem Exkurs zum Ursprung von Recht und Gesetzgebung erörtert wird, einer umfassenden normativen Ordnung, die individueller Willkür enthoben war. Die Gerichts873 Konstitutionen Friedrichs II., S. 147; zur Vorstellung einer göttlichen Beauftragung an den Herrscher : Andrea Romano, Speculum principum e legislazione regia nell’esperienza dell’Italia meridionale, in: Specula principum, S. 171–192; Wolfgang Stürner, Rerum necessitas et divina provisio. Zur Interpretation des Proemiums der Konstitutionen von Melfi (1231), in: DA 39 (1983), S. 467–554; Ders., Die Konstitutionen Friedrichs II. für sein Königreich Sizilien, Anspruch und Textgestalt, in: Friedrich II., hg v. Arnold Esch, Nobert Kamp, Tübingen 1996, S. 263–273. 874 Kenneth Pennington, Roman Law 12th Century Law and Legislation, in: Von der Ordnung zur Norm. Statuten in Mittelalter und Früher Neuzeit, hg v. Gisela Drossbach, Paderborn 2010, S. 17–38, S. 20f. 875 Konstitutionen Friedrichs II. S.177, 213, 215, 228, 311.

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barkeit beruhte auf der Strenge, die Strenge auf der Gerechtigkeit. Der Kaiser selbst galt hingegen nicht als Verursacher der Strenge, wohl aber als Verursacher von Verfahrensordnungen. Die Aufgabe des Herrschers sei, als Vater und Sohn, als Herr und Diener des Gesetzes zu handeln.876 Eine doppelte Aufgabe kam dem Kaiser zu: Schöpfer des Rechts und Anwender des Rechts zu sein. Dies sollten er und alle seine Beauftragten von Emotionen unbewegt leisten. Friedrich II., der sich als die Verkörperung des Rechts, ja sogar als seelische Repräsentanz des Gesetzes, als lex animata, bezeichnen ließ877, brachte eine Deutung in Umlauf, die eine harmonisierende Übereinstimmung von Gewalt und Recht behauptete, die nicht immer der stetigen Intervention, wohl aber der Initiierung durch die Gesetzgebung der Herrscher bedürfe. Der Kaiser sei der Ursprung und der Garant des Rechts; er handele, als ob er in eine Position hineinschlüpfe, die Gott innehabe, so kündeten mehrere kaiserliche Verlautbarungen Friedrichs II. Der Kaiser war als erster Beweger eingesetzt. Die weltliche Macht war als heilsnotwendig postuliert, sie stehe im Dienst Gottes. Das Wohl der Untertanen hinge vom Herrscher ab. Durch seine Gesetzgebung schaffe er das Wohl.878 Die Herrschaftskonzeption Friedrichs II. setzte sich deutlich von der seines Großvaters Friedrichs I. und der normannischen Könige von Sizilien ab. Die Konstitutionen von Melfi nahmen Abschied von einer Begründung der Macht durch Schrecken, von der Willkürlichkeit des Handelns durch den Herrscher und – für die Untertanen – von seiner Unberechenbarkeit. Indem die Gesetze den Schrecken in die Schranken wiesen, war die Macht auf andere Grundlagen gestellt. Die Steigerung der Macht sollte aus der Unwandelbarkeit des rechtlichen Verfahrens herrühren, so dass der Automatismus im Vollzug des Rechts ein 876 Ebda., S. 185. 877 Gerhard Dilcher, Die sizilische Gesetzgebung Friedrichs. Eine Synthese von Tradition und Erneuerung, in: Probleme um Friedrich II., hg. v. Josef Fleckenstein (Vorträge und Forschungen 16), Sigmaringen 1974, S. 23–41; Franco Tardioli, Le costituzioni de Melfi di Ferderico II, Rom 1985; Gianfranco Vallone, Profili costizionali nel Liber Augustalis, in: (…)Colendo iustitiam et iura condendo. Federico II legislatore di Sicilia nell Euorpa del Duecento. Atti di convegno intern. in Messina e in Reggio di Calabria 20–24 gennaio 1995, Rom 1997, S. 167–184; wenig weiterführend und Stereotypen verhaftet: Peter Weimar, Federico II legislatore del’Impero, ebda., S. 91–108; Arno Buschmann, Lex animata in terris. Friedrich II. von Hohenstaufen als Gesetzgeber, in: Friedrich II. Kaiser und König zwischen Tradition und Moderne, hg. v. Thomas Köhler, Christian Mertens, Wien 2000, S. 45–71. 878 Gunther Wolf, Kaiser Friedrich II. und das Recht, in: ZRG RA 102 (1985), S. 327–343; dort Verweise auf die ältere Literatur zu den Deutungen, dass Friedrich eine vergöttlichte Position eingeräumt oder von ihm beansprucht worden sei, so vor allem bei Ernst Kantorowicz: The King’s two Bodies, Princeton 1957, S. 97–136; Wolfgang Stürner, Das Wesen der herrscherlichen Gewalt im Denken und Handeln Kaiser Friedrichs II., in: Gewalt, S. 15–25, S. 17.

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permanentes Eingreifen des Herrschers entbehrlich machen sollte. Die Beständigkeit der kaiserlichen und königlichen Macht war als ruhend vorgestellt und war in den Gesetzen fixiert. Unumstößliche Verfahren auch ohne die unmittelbare Tat des Herrschers, ohne die Einzelfallentscheidung des Kaisers waren eingesetzt. Sie sollten ohne Drohung und Versprechen gelten. Die Bestimmungen des Liber augustalis sahen harte Sanktionen vor, einschließlich Konfiskationen, Ausweisungen und Todesstrafen.879 Es war eine Ordnung vorgesehen, die einer in Sünde verfallenen, ihre ursprüngliche natürliche Harmonie verleugnenden und in Verderbnis gefallenen Menschheit aufzuerlegen sei, so dass die Übeltäter umso unerbittlicher bestraft werden müssten, um die gebrechliche Ordnung vor dem Verfall zu bewahren. Schwankende emotionale Regungen – von Gesetzgeber und Richter – sollten aus dieser Ordnung ausgeschieden sein. Diese Auffassung bezeugt sogar die spätere, anti-staufisch urteilende Darstellung von Andreas von Ungarn, dem Verfasser der Geschichte des erfolgreichen Feldzuges Karls von Anjou gegen Manfred, den Sohn Friedrichs II. Andreas beschrieb das Brückentor von Capua, an der Grenze des Königreiches Sizilien auf dem Weg nach Rom gelegen und zwischen 1234 und 1239 errichtet. Die Inschrift am Tor kündete, dass allen Untreuen, die das Tor durchschritten, Furcht vor der Strafe und dem Kerker eingeflößt werden solle. Andreas verurteilt zwar die anmaßende Drohung, hält aber fest, dass nicht der Kaiser selbst, sondern das Gesetz die Furcht verursache.880 Die Inszenierung der personifizierten Gerechtigkeit in der Skulptur, umrahmt von zwei Figuren, die Richter darstellten, löste sie von einer unmittelbaren Einwirkung Friedrichs ab, stellte sie vielmehr als Figur einer abstrakten Ordnungskraft vor.881 Nach der Auffassung von David Abulafia war das Brückentor als Visualisierung der Konstitutionen von Melfi errichtet worden.882 Es gibt in der Tat gute Gründe, die dargestellten Personen als Elemente in einem Arrangement von Konzepten zu interpretieren, wobei die Gerechtigkeit zwar unter der Figur des Kaisers stand, von ihr aber 879 Konstitutionen Friedrichs II., S. 150, 175, 193f., 203, 215, 326, 339, 341, 347. 880 Hans-Martin Schaller, Richard von San Germano, in: LexMA 7, München 1995, Sp. 824f. 881 Hinweis bei Broekmann, Rigor, S. 1–5: dort die Zusammenstellung der divergenten Deutungen der Forschung; sowie: Peter Cornelius Claussen, Stauferbilder – Bildnisse der Staufer, in: Verwandlungen des Stauferreiches. Drei Innovationsregionen im mittelalterlichen Europa, hg. v. Bernd Schneidmüller u. a., Darmstadt 2010, S. 350–376; Olaf B. Rader, Friedrich II. Der Sizilianer auf dem Kaiserthron. Eine Biographie, München 2010, S. 218f. 882 David Abulafia, Frederick II. A Medieval Emperor, London 1988, S. 284; Peter Weimar hingegen sieht im Bildprogramm von Capua im Unterschied zum Proemium des Gesetzbuches den Einbruch heidnischer, gar orientalischer Vorstellung: Federico II legislatore del’Impero, in: (…) Colendo iustitiam et iura condendo. Federico II legislatore di Sicilia nell Europa del Duecento. Atti di convegno intern. in Messina e in Reggio di Calabria 20–24 gennaio 1995, Rom 1997, S. 91–108.

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doch unterschieden war. Die Furcht vor Strafe sollte alle erfassen, nicht allein diejenigen, die sich gegen die Gesetze auflehnten. Friedrich war als derjenige dargestellt, der die Ordnung der Gerechtigkeit einsetzte und verteidigte. Die Lobpreisung Friedrichs II., als dessen Verfasser Rudolf Kloos den apulischen Kleriker Nikolaus von Bari identifiziert, bezeichnet ihn als Endkaiser und Erlöser der Menschheit und überhöht unter Verwendung von Bibelzitaten seine Herrschaft als religiös begründet. Auch dieser Text trennt den Kaiser vom Schrecken. Der Schrecken sei vielmehr, so wie die Furcht und die Liebe, Gott vorbehalten. Aber die große Machtfülle des Kaisers ist deswegen nicht vermindert. Nicht allein aus einer prozeduralen Ordnung, sondern aus der kaiserlichen Erlöserherrschaft wird der Schrecken ausgeschieden.883 Dass das Lob Friedrichs nach 1235 verfasst wurde, ist wegen der Nennung Konrads als Nachfolger offensichtlich; es ist wahrscheinlich eine Reaktion auf die propagandistisch aufgeladene anti-kaiserliche Polemik der Papstanhänger, die Friedrich als Feind der Kirche anklagten. In welcher Weise der Text in das Umfeld von Friedrichs Hof eingebunden war, bleibt offen, der handschriftliche Konnex zu Texten der Gesetzgebung Friedrichs zeigt aber doch zumindest eine große Nähe an, vor allem aber eine Kombination juristisch-prozeduraler und eschatologischer Begründungen der Herrschaft Friedrichs II.884 Letztmals formulierte Friedrich II. in seinem Testament, kurz vor seinem Tod, am 17. Dezember 1250 aufgesetzt, die Vorstellung, dass als Folge der Übertretung des göttlichen Gebotes durch Adam allen Menschen eine Strafe auferlegt sei, die weder die Sintflut noch die Taufe hinwegnähmen. Von dieser Wunde der ersten Sünde bleibe stets eine Narbe zurück. Das Ergebnis sei, dass die Menschen in lasziver Weise ihrem Willen freien Lauf lassen würden, wenn ihnen nicht Zügel angelegt würden. Die Launen der Menschen verlangten, dass der Herrscher ihnen beständige Regeln auferlege. Deswegen bestimmte Friedrich, auch nach seinem Tod das fortzusetzen, was er angeordnet habe. Das Testament war mehr als eine Verfügung kraft persönlicher Machtbefugnis, sondern hatte die Geltung eines Gesetzes.885 Der Wille des Herrschers und das Recht sollten die Spanne des individuellen Lebens überschreiten. Aber allein auf die Beständigkeit der Rechtsordnung verließ sich Friedrich 883 Text in: Rudolf Kloos, Nikolaus von Bari. Eine neue Quelle zur Entwicklung der Kaiseridee unter Friedrich II., in: DA 11 (1954/55), S. 166–190, bes. S. 173. 884 Eine frühere Datierung schlägt, anders als Rudolf Kloos, Hans Martin Schaller vor: Die Kaiseridee Friedrichs II., in: Stupor mundi. Zur Geschichte Friedrichs II. von Hohenstaufen, 2. Aufl. Darmstadt 1982, hg. v. Günther Wolf, S. 494–526; zur juristischen Implikation: Peter Landau, Federico II e la sacralit/ del potere sovrano, in: Federico II e il mondo mediterraneo, hg. v. Pierre Toubert, Agostino Paravicini-Bagliani, Palermo 1994, S. 31–47, bes. S. 37. 885 MGH Const 2, hg. v. Ludwig Weiland, Hannover 1896, Nr. 274, S. 382–389, bes. S. 385.

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nicht. Liebe und Schrecken blieben ein Thema, das in den Urkunden Friedrichs II. auftauchte. Aber es war die Liebe Gottes, die verkündet wurde und die Friedrich zum Handeln bewege. Die Liebe regiere sowohl den Himmel als auch die Erde, und sie vermittle zwischen ihnen. Die Relation war hierarchisch. Sie stärkte einen Herrschaftsanspruch, der die Imitation Gottes zu verwirklichen behauptete. Die hier vorgeführte Auffassung nahm eine Thematik auf, die einst Boethius zur kosmologischen Durchdringung der Liebe ausgeführt hatte. Die Liebe durchtränke die Sanktionsgewalt und das Handeln des Herrschers.886 Liebe war als Wirkkraft für die Herstellung der Gerechtigkeit eingesetzt. Die Kanzlei von Friedrich II. erweiterte den Umfang der Liebe. Die Urkunden kündeten davon, dass sie die Personen zu einer gesamthaften Einheit im Staat zusammenfügten. Die Liebe war auch als Motivator für Friedrich vorgestellt, der eine göttliche und kosmologische Liebe weiterreichte. Den Begriff der caritas verwendeten die Urkunden zur Begründung des Handelns, besonders wenn sie Schenkungen und Privilegienbestätigungen für Klöster und Kirchen vorsahen, also für Maßnahmen, die nicht rechtlich zwingend waren, sondern als Ergebnis der besonderen Gunst Friedrichs ausgegeben waren. Liebe stand außerhalb des Rechts, war aber eingebunden in ein Handeln, das Loyalität belohnte und hervorrufen sollte. Wenn Liebe verpflichtend war, dann nicht die, der der Herrscher empfand, sondern diejenige, die die Untertanen ihm gewähren mussten. In einem Rundschreiben Friedrichs an die lombardischen Städte aus dem Jahre 1221 war verkündet, dass die Glut der Liebe die Treuen anfache, ihm zu dienen. Im Besonderen lobte eine Urkunde Friedrichs vom April 1230 die Stadt Como, die durch den Geist der Beständigkeit und durch die Liebe zur Treue sich emporhebe und auf den Vorteil des Kaisers und des Reiches bedacht sei. Auch die Stadt Venedig, obwohl außerhalb des Reiches gelegen, erweise dem Kaiser Liebe. In diesem Fall wurde sie ihr umgekehrt auch gewährt. Aber hierbei handelte es sich um eine Stadt, die dem Kaiser nicht untertan war, deren Gunst also außerhalb einer Herrschaftsordnung gewährt wurde.887 Neben dem Begriff des amor war auch der der dilectio verwendet, die beide eine Kraft bezeichneten, die die Reichsfürsten in Deutschland, als pedes imperialis eminentie oder auch als imperii membra gedeutet, an den Kaiser binden sollten, so dass aus der Zusammenfügung der Glieder ein einziger Körper des Reiches hervorgehe. In ihm walte ein specialis amor. Auch der Sohn Friedrichs, Heinrich (VII.), ließ Urkunden ausstellen, die ein organologisches Modell vorstellten, wobei die Glieder dank der Liebe ein Ganzes formten. Die Liebe war in Deutschland mehr als in Sizilien, wo die Machtbefugnis des Kaisers stärker war, 886 MGH DD Friedrich II., I, Nr. 139, S. 267–269; II, Nr. 320, 349, S. 298–302, 354f.; MGH Const 2,Nr. 116, S. 148–156; Boethius, Consolatio, S. 28f., Imbach, Filosofia. 887 MGH Const 2,Nr. 93, S. 116f.; Nr. 125, S. 169f.

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herausgestellt und sollte im Verhältnis zu den Reichsfürsten gelten, wohl auch um die schwache Durchsetzungsgewalt ihnen gegenüber zu kompensieren. Der Begriff der Liebe war insbesondere jenseits der Herrschaft, im Kontakt zu anderen Königen, eingesetzt. Die Beziehung zum französischen König Ludwig IX. stellte eine Urkunde Friedrichs unter den Leitgedanken der Liebe, die der Kaiser für ihn vor allen anderen hege.888 So wie Friedrich II. von Papst Gregor IX. in einer Phase des Einvernehmens im Sommer 1230 ermahnt wurde, Liebe in Überfülle auszugießen, so forderte der Kaiser, als im Jahre 1242 der Konflikt mit der päpstlichen Kurie auf den Höhepunkt zutrieb, die Kardinäle auf, in Liebe zu handeln und einen Ausgleich zwischen ihm und der römischen Kirche herbeizuführen.889 Liebe und Schrecken wurden weiterhin miteinander verbunden, standen aber außerhalb des Rechts und waren dort platziert, wohin die Macht des Kaisers nicht hineinreichte oder nicht ausreichend war. Die Liebe sollte dazu führen, ohne Erbarmen gegen die Feinde vorzugehen. Sich an ihnen zu rächen und sie zu vernichten, forderte Friedrich auf. Friedrich bescheinigte den Bürgern von Genua die plenam benevoltentiam et amorem, die sie nun beweisen sollten, indem sie die Stadt Gaeta zerstörten, die sich gegen die legitime Herrschaft aufgelehnt habe.890 Die Urkundensprache der Kanzlei Friedrich II. stellte die Liebe in den Dienst des Gehorsams und den Schrecken in den des Kampfes. Sei die Liebe ihm eigen, so der Schrecken ihm aufgezwungen. In der Abwehr gegen als ungerechtfertigt geltende Ansprüche der Päpste gebrauchten die Urkunden die beiden Begriffe. Auf die Exkommunikation des Kaisers durch Papst Gregor IX. antwortend, verkündete die Urkunde Friedrichs vom 6. Dezember 1227, dass nun, in einer Epoche, in der sich das Weltenende nähere, die Liebe erkaltet sei, sich Volk gegen Volk erhebe, ein Königreich das andere bedrohe, Krankheit und Hunger das Herz aller lebendigen Wesen bedränge und der Schrecken von den Feinden des Reiches verbreitet werde, die Liebe jedoch, die doch Erde und Himmel regieren sollte, bis auf die Quellen getrübt sei. Erneut übernahm eine Urkunde die Formulierung von Boethius, die die Liebe als treibende Kraft des Universums bezeichnete, stimmte aber einen elegischen Ton an. Das romanum imperium habe die Pflicht, den christlichen Glauben zu verteidigen. Aber diese Aufgabe in liebender Zuwendung und Zusammenführung der Menschen zu erfüllen, sei nicht mehr möglich. Die caritas sei, so die in derselben Urkunde mehrmals erhobene Klage, sowohl in den Zweigen als auch in den Wurzeln abgestorben, wohingegen der terror die Menschen überall heimsuche. Gegen die 888 Ebda., Nr. 193, 201, 233, 264, 268, S. 236–238, 269–272, 317–321, 370, 433. 889 Ebda., Nr. 13, 33, 91, 146, 180, 238, S. 16f., 42, 114f., 180f., 222f., 327. 890 MGH Epp. sel. 4: Aktenstücke zum Frieden von San Germano, hg. v. Karl Hampe, Berlin 1926, Nr. 2, S. 101.

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Unordnung, die der Schrecken hervorrufe, verkündet Friedrich seinen Wunsch nach Frieden. Die Eintracht unter den Christen werde er wieder herstellen; dann sei es ihm möglich, den versprochenen Kreuzzug zu beginnen. Nur im Kampf gegen die Ungläubigen und die Abtrünnigen sei nach der Auffassung Friedrichs der Schrecken erlaubt. Er solle so groß sein, dass allein die Kunde von ihm die »Barbaren« in Furcht versetzen werde.891 Furcht galt, so eine andere Urkunde Friedrichs II., als Ergebnis der Unordnung, die das Einschreiten Gottes herausfordere, als dessen Werkzeug sich der Kaiser ausgab. Laut eines Diploms, an den König von Ungarn gerichtet, waren es diejenigen, die sich gegen ihn in Norditalien auflehnten, die die Furcht verursachten, nicht er selbst. In einem Brief an den Markgrafen von Brandenburg wurde die Furcht als Ergebnis des Streites mit den Fürsten angegeben, genauso aber auch als Ergebnis der Erwartung der Endzeit, welche Aufruhr und Zerstörung hervorbringe. Selbst der Kaiser sei nicht vor der Furcht gefeit. Sie befalle ihn, denn die res publica christiana und alle weltlichen Herrschaften seien bedroht durch die Machenschaften Papst Gregors IX. Dieser habe sich nicht einmal gescheut, denjenigen Furcht einzuflößen, die den Kaiser bei seinem Kreuzzug gegen die Ungläubigen unterstützten.892 Furcht und Liebe, so ließ Friedrich II. in einem Rundschreiben verkünden, hege er gegenüber Gott. Ihn zu lieben und zu fürchten sei die Pflicht aller Christen.893 Furcht und Liebe waren aber weder als Voraussetzung noch als Ziele der Herrschaft angegeben. War auch die Verursachung von Schrecken den Feinden angelastet und nicht mit dem Kaiser verbunden, gab es keine Veranlassung, auf ihn zu verzichten. Er galt als Mittel, um ihn gegen die Feinde des Friedens einzusetzen. Das Proemium des Reichslandfriedens, den Friedrich II. in Kooperation mit den Fürsten Deutschlands am 15. August 1235 verkündete, enthielt die Formulierung, dass er den Schlechten, als perversi bezeichnet, schrecklich, den Friedfertigen aber milde sein werde, damit die Bewahrung des Friedens und die Ausübung der Gerechtigkeit gelinge. Aber durch den Frieden und die Gerechtigkeit – nicht durch den Schrecken – werde die Macht des Kaisers gestärkt.894 Es war die Perversion, d. h. die Negierung der natürlichen Antriebe, die den Einsatz des Schreckens erforderte und ihn hervorrief. Der englische Benediktiner, Chronist und genaue Kenner der italienischen Angelegenheiten, Mathaeus Parisiensis, der über Friedrich wohlwollend berichtet, schreibt, dass nach dessen Sieg in Cortenuova über den zweiten Lombardenbund Entsetzen und Angst in die Städte Italiens hereingebrochen sei. 891 892 893 894

MGH Const 2, Nr. 116, S. 148–156, hier S. 148f. Ebda., Nr. 122, 206, 224, 232, 233, 235S. 162–167, 277f., 308–312, 317–325. Ebda., Nr. 92, 122, S. 115f., 162–167. MGH Const 2, Nr. 196, S. 241–265, hier S. 241.

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Aber nicht Friedrich, sondern die Aufrührer galten als deren Verursacher. So urteilte auch Pietro da Vinea, der Kanzler Friedrichs, wenn er triumphierend über den Sieg des Kaisers berichtete. Die feindlichen Völker zitterten, über sie sei der Schrecken hergefallen. Friedrich selbst sei aber nicht der Urheber. Pietro verneinte auch in den anderen ihm zugeschriebenen Schreiben eine Verantwortung Friedrichs hinsichtlich einer Schreckensherrschaft; der Schrecken war den Feinden angelastet. Papst Innozenz IV. war in der stauferfreundlichen Historiographie als derjenige benannt, der den Schrecken verbreitete, so mehrmals bei Mathaeus Parisiensis in den Passagen, die die Absetzung des Kaisers durch Innozenz IV. auf dem ersten Konzil zu Lyon darstellten.895 Der Schrecken war externalisiert, nicht der Herrschaft definitorisch und nicht einmal instrumental verbunden; er existierte kontra-intentional und galt als die aufgezwungene Konsequenz des Handelns der Feinde. Der Schrecken stand außerhalb der Herrschaft. Er sollte vor allem die äußeren Feinde, in erster Linie die Heiden, befallen, aber auch die Aufrührer und Widersacher seiner Herrschaft, dann auch die Feinde des Friedens, wohingegen Friedrich II. sich der Pflege des Gesetzes und der Gerechtigkeit widme, so dass den treuen Untertanen die Furcht vor der Gewalt genommen werde. Die Furcht habe der Kaiser ausgemerzt, weil nun die Reisenden unbehelligt von Räubern und die Seefahrer ohne Drohung durch die Piraten sich auf den Weg machen könnten, wie Richard von San Germano (ca. 1165–1244) schrieb, die Errungenschaft Friedrichs preisend.896 Bereits das zum Lob Kaiser Heinrichs VI. von Petrus de Ebulo verfasste Epos Liber ad honorem Augusti stellte das Vorbild seines sizilianischen Vorgängers Roger II. heraus, den allein das wilde Barbarenland fürchte, nicht aber die eigenen Untertanen.897 Die Furcht und der Schrecken waren den Feinden aufgebürdet, sie galten als deren Verursacher. Herrschaft sollte von der Befleckung mit dem Schrecken gefeit sein. Statt der persönlichen Intervention des Kaisers war die Geltung von Ordnung und Recht vorgesehen. Auch die Liebe war weniger mit dem Kaiser selbst in Verbindung gebracht, sondern auf eine allgemeine Weltordnung ausgedehnt, damit jenseits der Herrschaft angesiedelt. Die Gegner Friedrichs sahen dies anders. Friedrich II. persönlich galt ihnen als Urheber des Schreckens. Der italienische Franziskaner Salimbene da Parma 895 Mathaeus Parisiensis, Chronica maior, Bd. 3, S. 409f., 455f.; Historica diplomatica Friderici Secundi,V, S. 137–139; Gr8vin, Rh8torique; Alfonso Sergio Scaramella, La battaglia di Cortenuova 1237, Rom 2015; Thomas Wetzstein, The Deposition of Frederick II (1245) – A Public Lesson in Procedural Law, in: Proceedings of the Fourteenth International Congress of Medieval Law, Toronto 5–11 August 2012, hg. v. Joseph Goering u. a. (Monumenta iuris canonicis, Seris C: Subsidia, 15), Citt/ del Vaticano 2016, S. 949–964. 896 Ryccardus de S. Germano, Chronica, in: MGH SS 19, hg. v. Georg Heinrich Pertz, Hannover 1866, S. 321–384, S. 328. 897 Petrus de Ebulo, Liber ad honorem Augusti, S. 37.

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(† nach 1288), der in seiner Chronik unzusammenhängend und anekdotisch über zeitgenössische Ereignisse berichtete, stellte Friedrich als Ausgeburt von Schändlichkeiten dar ; er kennzeichnete den Kaiser als Schreckensherrscher. Zur Entwertung dieser Gewalt zitierte Salimbene eine Textpassage von Papst Gregor dem Großen: Alle Mächtigen, vornehmlich die der Christenheit, seien dazu anzuhalten, die natürliche Gleichheit aller Menschen zu beachten und ihnen nicht Schrecken einzuflößen. Allein gegenüber den wilden Tieren sei der Schrecken berechtigt. So habe es Gott eingerichtet. Hingegen dürfe sich kein Herrscher herausnehmen, über Menschen Schrecken zu verbreiten. Wer, wie Friedrich, dies tue, stelle sich außerhalb der göttlichen Ordnung.898 Der große Konflikt zwischen Kaiser und Papst brachte gegensätzliche Konzepte hervor. Einigkeit bestand aber darin, den Schrecken abzuwerten und ihn den Gegnern anzulassten. Die Polemik zeigt, dass die Inanspruchnahme des Schreckens und die Berufung auf seinen Einsatz für die eigene Position wenig opportun waren. Kaiser Friedrich II. suchte eine Ordnung von Begründungen und Verfahren zu errichten, um die Stetigkeit seiner Macht herzustellen. Liebe und Schrecken galten nicht als Ergebnisse des Empfindens und des Handelns des Kaisers, sie waren auch nicht die Voraussetzungen und Ergebnisse einer institutionell festgefügten Ordnung. Liebe und Schrecken waren reaktiv eingesetzt, waren das Ergebnis von Ergebenheit und Feindschaft. Sie verloren ihre Willkürlichkeit, waren rechtlich geformt und unweigerlich denjenigen gewährt und bei denjenigen verbreitet, die sie durch ihr Handeln eo ipso auf sich zogen. Der Kaiser war aus der Funktion entlassen, über Liebe und Schrecken zu entscheiden. Dies geschah vielmehr automatisch. Liebe und Schrecken wurden zwar weiterhin in den Urkunden genannt, aber lediglich in isolierter Anwendung, für spezifizierte Beziehungen zu einzelnen; oder aber die Liebe wurde in maximaler Ausweitung, als die gesamte Schöpfung umfassende und belebende Kraft eingeführt. Eine mittlere Position, die die Liebe in die Herrschaft eingestellt hätte, war weitgehend verdrängt. Die Kaiser Friedrich II. und seine Nachfolger als Könige, bzw. Kaiser in Deutschland und als Könige von Sizilien haben in ihren Urkunden Liebe, Hass und Furcht aus der Anwendung der Gesetze und insbesondere aus den Urteilssprüchen nicht selten sogar ausdrücklich herausgenommen. Die Emotionen galten als Störungen einer Ordnung, deren Stabilität vor schwankenden Ein898 Cronica fratris Salimbene de Adam, hg. v. Oswald Holder-Egger (MGH SS 32), Hannover, Leipzig 1905–1923, S. 151f. 273, 382, 623; Isabelle Weill, La cronica de Salimbene, in: La m8moire / l’oeuvre. Fixations et mouvances m8di8vales, hg. v. Caroline Cazanave, BesanÅon 2014, S. 307–320; Thomas Ertl, Pragmatische Visionäre? Die mendikantische Sicht der Welt im 13. Jahrhundert, in: Innovationen durch Deuten und Gestalten. Klöster im Mittelalter zwischen Jenseitsund Welt, hg. v. Gert Melville u. a., Regensburg 2014, S. 253–271, S. 255– 262.

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wirkungen geschützt werden müsse. Sie galten als ebenso schädlich wie Betrug, Bestechung und Bevorzugung. Die Liebe hatte gegenüber der rechtlichen Standardisierung von Normen und Sanktionen zurückzustehen. Mag sie auch zur Kennzeichnung einiger, besonderer Beziehungen verwendet worden sei, vermied es die Kanzlei von Friedrich II. und die der nachfolgenden Herrscher, sie als Fundament und als Erfordernis der Herrschaft vorzustellen. In den Nahbeziehungen zu Einzelnen, in den Beziehungen zu fremden Herrschern oder in der allgemeinen Formung der gesamten Welt war die Liebe eingesetzt. Ihre Wirkung zeigte sich dann auch weniger in Handlungen, sondern in der Begründung von umfassenden Ordnungen, auch jenseits der Herrschaft, in einer die gesamte Welt einbeziehenden Harmonie. Liebe war unter den Nachfolgern Friedrichs als römische Könige und Kaiser eingesetzt, um eine instrumentale Verwendung, als Klebstoff der res publica, vorzusehen.899 Die Liebe war von Personen entfernt und wurde entweder als universale Wirkkraft oder als Bindeglied des Staates bezeichnet. König Karl I. von Sizilien, aus der Dynastie der Anjou stammend, hat, ausgestattet mit der päpstlichen Belehnung, im Jahre 1266 die Nachfahren Friedrichs II. aus der Herrschaft im Königreich Sizilien verdrängt. Gleichwohl übernahm er von seinen Vorgängern deren Herrschaftskonzeption. Er hat in einer Urkunde, die er für sein Königreich Sizilien erließ, die Störungen der Herrschaft zusammengestellt: quod pure et sine fraude, non amore, non odio, non prece, non pretio, nec timore (…) iustitiam ministrabit.900 Die nachfolgenden Könige der Dynastie der Anjou-Herrscher im Königreich Neapel-Sizilien haben die Formulierung übernommen. Wenn doch Liebe vorgesehen war, dann war sie dem König vorbehalten. Sie richtete sich an die Untertanen, die – so der Sohn Karls I., Karl II. von Neapel-Sizilien – wie Söhne und Neffen in die väterliche Zuneigung aufgenommen würden.901 Für alle aber sollte – unabhängig von Gefühlen der Zu- und Abneigung – das gleiche Recht gelten, wie König Robert I. hinsichtlich der Besteuerung der Untertanen am 7. August 1333 verfügte.902 Wie bei Kaiser Friedrich II. war die Liebe eingepfercht in Ordungsvorstellungen. Die emotionale Anrührung fehlte ihr.

899 Siehe Kapitel XIII.1. 900 Documenti per la storia dell’Italia meridionale, hg. v. Romualdo Trifone, Bd. 1, Neapel 1921, Nr. 41, S. 43. 901 Ebda., Nr. 62, S. 120. 902 Ebda., S. 55, 70, 72, 257f.

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4.

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Die Fülle der Gewalt

Kaiser Friedrich II. beanspruchte eine rechtlich geformte Machtfülle, die er als notwendig erachtete, um eine verderbte Menschheit vom üblen Tun abzuhalten. Wenn Verfahren den Vollzug der Macht steuern sollten, bedurfte es der Personen, die sie ausübten und die vom Herrscher eingesetzt waren, um die in den Rechtsordnungen festgelegten Normen umzusetzen. Die Beauftragten sollten als Exekutoren des Willens des Herrschers handeln, ohne von eigenen Antrieben oder gar Gefühlen geleitet zu sein, so wie auch der Kaiser von den unbeständigen Einflüssen der Emotionen abgehoben vorgestellt wurde. Der Anspruch unbegrenzter Macht erforderte Präsenz auch dort, wo der Kaiser nicht real anwesend sein konnte. Um die Präsenz herzustellen bedurfte es der Institutionen, welche nicht allein als Konglomerat von Ämtern zu verstehen sind, sondern als verpflichtende Verständigungen über Regeln und über ihre Berechtigung. Da eine Allgegenwart des Kaisers nicht möglich sei, hätten eine Allgegenwart des geschriebenen Rechts und eine Beauftragung an Personen dafür zu sorgen, dass die Ordnung bestehe. Da nicht Freundschaften, nicht liebende Zuneigung und auch nicht Furcht die Loyalität gewährleisteten, sei eine Ordnung durch Rechtssetzung und durch die Exekution des Rechts herzustellen. So kündeten mehrere Urkunden Friedrichs. Als Vorbild bot sich diejenige zeitgenössische Organisationsstruktur an, die offensichtlich am besten regulatorische Abläufe gestalten und in eine hierarchische Abstufung einbeziehen konnte: die der Papstkirche.903 Sie war für Friedrich II. und seinen Hof eine Quelle der Inspiration und der Imitation. Das Konzept der Vollgewalt, der plenitudo potestatis, die in der Kirche als päpstliche Prärogative in Opposition gesetzt wurde zur Befugnis der dem Papst untergeordneten Bischöfe, denen die pars sollicitudinis anvertraut war, wurde auch für die kaiserliche Herrschaft ein tragfähiges Modell. Das Begriffspaar hat zwar bereits der römische Bischof Leo I. (440–461) in einem Brief zur Kennzeichnung seiner Position herangezogen904, rechtliche Verbindlichkeit verlieh ihr aber als erster Papst Innozenz III. (1198–1216), der die Relation zwischen den kirchlichen Ämtern nicht allein als hierarchische Distanz deutete, sondern auch als funktionale Verknüpfung, die zur Einrichtung einer alle Christen umfassenden Körperschaft notwendig sei. Gott habe den Nachfolger Petri – so wie einst den Propheten Jeremias – über alle Völker und Reiche erhoben: super gentes et regna

903 Pennington, Pope; Colin Morris, The Papal Monarchy. Western Church from 1050 to 1250, Oxford 1989. 904 Leo I. Epistula 14,1, in: PL 54, Paris 1846, Sp. 671.

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(Jer. 1.10).905 Der römische Bischof stehe über allen proceres singularum provinciarum.906 Dass diese Vorstellung päpstlicher Vollgewalt prädestiniert erschien, auch weltliche monarchische Herrschaft zu begründen und zu beschreiben, ist von Ernst Schubert dargelegt worden: Er konnte die Verwendung des Begriffes plenitudo potestatis bei zahlreichen Kaisern, Königen und auch Fürsten des späten Mittelalters nachweisen.907 Entgegen seiner Auffassung indes, es handele sich dabei lediglich um eine Formel, um einen Topos, soll der grundlegende Wandel in der Selbstlegitimierung der weltlichen Herrschaft hervorgehoben werden, der darin bestand, dass eine Verfahrensordnung, nicht eine personale Beziehung und noch weniger eine emotionale Bindung in das Zentrum der Begründung von Macht rückte. Kaiser Friedrich II. war der erste weltliche Monarch, der das hierarchisch-kirchliche Modell zur Perfektionierung seiner eigenen Herrschaft adaptierte. Mit der Verwendung von Begriffen war auch die Übernahme des ihnen zugrunde liegenden Arrangements der Kompetenzen angelegt. Die Konkurrenz der Institutionen von Papsttum und Kaisertum widersprach nicht dem Transfer von institutionellen Begründungen. Formulierungen in den kaiserlichen Urkunden der frühen Stauferherrscher haben den Sprachgebrauch vorbereitet, etwa wenn Friedrich I. an den Landgrafen von Thüringen, Ludwig II., über die bevorstehende Kaiserkrönung in 905 Innocentius III papa, Epistolae, PL 216, Paris 1855, Sp. 1179–82, 1241–1242; Regestum Innocentii III, Nr. 46, S. 13–17; Register Innozenz’ III., I, Nr. 316, 345, 410, S. 447–454, 515– 517, 613–614; Maccarrone, Chiesa; Helene Tillmann, Zur Frage des Verhältnisses von Kirche und Staat in Lehre und Praxis Papst Innocenz’ III, in: DA 9 (1952), S. 136–81; S. R. Packard, Europe and the Church under Innocent III, 2. Aufl., New York 1968, S. 9–11; Friedrich Kempf, Papsttum und Kaisertum bei Innozenz III. Die geistigen und rechtlichen Grundlagen seiner Thronstreitpolitik (Miscellanea Historiae Pontificiae 19/58), Rom 1954, S. 282–303. 906 Regestum Innocentii III, Nr. 18, S. 46–51; Maccarone, Chiesa; Jean RiviHre, In partem sollicitudinis. Evolution d’une formule pontificale, in: Revue des sciences r8ligieuses 5 (1925), S. 210–31; Alfred Hof, Plenitudo potestatis und imitatio imperii zur Zeit Innozenz’ III., in: ZKG 66 (1954/55), S. 39–71; Robert L. Benson, Plenitudo potestatis: Evolution of a Formula, in: SG 14 (1967), S. 193–217; Kurt Schatz, Papsttum und partikularkirchliche Gewalt bei Innozenz III., in: AHP 8 (1970), S. 61–111; Friedrich Kempf, Die Eingliederung der überdiözesanen Hierarchie in das Papalsystem des kanonischen Rechts von der gregorianischen Reform bis zu Innozenz III., in: AHP 18 (1980), S. 57–96; Michel Wilks, The Problem of Sovereignty in the Later Middle Ages. The Papal Monarchy with Augustinus Triumphus and the Publicists (Cambridge Studies in Medieval Life and Thought NS 9), Cambridge 1966, S. 36–39; John Thomas Marrone, The Ecclesiology of the Parisian Secular Masters 1250– 1320, Diss. phil. Cornell Univ. 1973, S. 22–26; Kenneth Pennington, The Prince and the Law 1200–1600. Sovereignty and Rights in the Western Legal Tradition, Berkeley, Los Angeles 1993, S. 43, Krüger, Traktat, S. 178–185. 907 Ernst Schubert, König und Reich. Studien zur spätmittelalterlichen deutschen Verfassungsgeschichte (Veröffentlichungen d. Max-Planck-Instituts f. Geschichte 63), Göttingen 1979, S. 128–39.

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Rom schrieb, durch die ihm die corone nostre plenitudo verliehen werde, oder wenn die plenitudo honoris, die dem Kaiser zukomme, beansprucht wurde. In einer Urkunde, die die Besitzungen des Chorherrenstiftes Interlaken bestätigte, wurde die Verfügung mit der imperialis potestatis plenitudine bekräftigt. Indes ist die letzte Urkunde wegen ihrer Datierung, die die Herrscherjahre falsch angibt und vom Gebrauch der kaiserlichen Kanzlei abweicht, wohl nicht vor dem Verdacht der zumindest teilweisen Fälschung gefeit und vermutlich später angefertigt worden. Weitere Diplome Friedrichs I., die die plenitudo potestatis des Kaisers reklamierten, sind eindeutig spätere Fälschungen des 13. Jahrhunderts, die vermutlich in Italien entstanden und offensichtlich eine nachträgliche Applikation der neuen, erst von seinem Enkel Friedrich II. eingeführten Terminologie darstellten.908 Mehrere Urkunden Friedrichs II. verwendeten nachgewiesenermaßen schon in den Anfangsjahren seiner Herrschaft Formulierungen, die zuvor päpstliche Briefe und Diplome präsentierten. Das Wortfeld von plenitudo wurde variiert, um weltliche Macht zu beschreiben. Die Fülle dessen, was dem König oder Kaiser zustehe und was er gewähren könne, wurde genannt. Bereits in einem Privileg, zugunsten der Domkirche von Palermo im Dezember 1210 ausgestellt, also noch vor der Kaiserkrönung, erscheint der Begriff favoris plenitudo.909 Erstmals reklamierte Friedrich II. vier Jahre nach seiner Kaiserkrönung, im März 1224, eindeutig die plenitudo potestatis. Sie sei ihm von Gott verliehen, und sie solle zur Bekämpfung der Häretiker eingesetzt werden. Der Bezug zur Kirche war offenbar geeignet, dass die kaiserliche Kanzlei diese Formulierung verwendete.910 Die plenitudo potestatis war auch für genuin weltliche Belange eingesetzt. In den Konstitutionen von Melfi von 1231 war auch schon der mit der plenitudo potestatis verbundene Begriff sollicitudo verwendet. Dieses Wort meinte in diesem Fall, dass Friedrich neben der generalis cura, die ihm, dem Kaiser und Gebieter über das römische Imperium, über viele Völker und Königreiche zustehe, zusätzlich eine spezielle Zuständigkeit über sein Erbkönigreich Sizilien besitze. Eine Positionierung von kaiserlichen Beauftragten oder Reichsfürsten war damit nicht vorgenommen.911 Später erst wurde die Verbindung von Kaiser und Reichsfürsten mit der Paarung von plenitudo potestatis und pars sollicitudinis dargestellt und damit das päpstliche Vorbild adaptiert. Am nachdrücklichsten wurde der Anspruch des Kaisers auf die Vollgewalt in der Arenga eines von den Fürsten erbetenen 908 Die Reinhardsbrunner Briefsammlung, hg. v. Friedel Peeck (MGH Epp. sel. 5) Weimar 1952, Nr. 8, S. 8; MGH DD Friedrich I, 1, Nr. 351, 352, 499, S. 190–193, 418, 419; vol. 4, Nr. 850, 1047, 1058, S. 79, 80, 359–361, 381–383. 909 MGH DD Friedrich II., I, Nr. 139, S. 267–269. 910 MGH Const. 2, Nr. 100, S. 126f. 911 Konstitutionen Friedrichs II., S. 350.

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Verbotes der Stadtgemeinden in Deutschland formuliert. Die Urkunde ist auf dem Hoftag in Ravenna im April 1232 ausgestellt worden und nimmt inhaltlich die Bestimmungen auf, die der Sohn des Kaisers, Heinrich (VII.), bereits im Januar 1231 in Worms den Fürsten zugestanden hatte. Mögen Kaiser und König auch den Erwartungen der Reichsfürsten entsprochen haben, mag auch die als Gesetz bezeichnete Anweisung einem Reskript entsprochen haben, also in Reaktion auf eine Anfrage und Bitte der Fürsten ausgestellt worden sein, der Anspruch allumfassender Machtfülle war um nichts weniger deutlich angemeldet. Die Manifestation kaiserlicher Vollgewalt stand in auffälligem Gegensatz zum Mangel an konkretem Durchsetzungsvermögen – sowohl gegenüber den Fürsten als auch gegenüber den Stadtgemeinden, deren Rechte und kommunale Einrichtungen zu bestätigen, Friedrich nur wenige Jahre später nicht zögerte, sofern dies seinen aktuellen Interessen entsprach.912 Aber der Anspruch war unmissverständlich angemeldet: Es war derselbe, den die Päpste seit der Wende zum 13. Jahrhundert reklamierten: auf die plenitudo potestatis.913 Auch die in die Urkunde aufgenommene Formel, der Kaiser sei super gentes et regna gesetzt, zitiert das päpstliche Formular, das wiederum eine Bibelstelle aufgreift, die dem Propheten Jeremias – aber keinem Herrscher – weit ausgreifende Befugnis zuweist (Jer. 1.10).914 Auch in anderen Urkunden nahm die Kanzlei Friedrichs die aus dem Alten Testament entliehene Begrifflichkeit auf, um den Kaiser als Weltenherrscher zu bezeichnen, und eine Reihe von Urkunden stellten ihn als Inhaber einer umfassenden Gewalt vor, die keine Einschränkung dulde.915 Es ist nicht anzunehmen, dass Friedrich II. Illusionen hegte, eine Weltherrschaft tatsächlich zu errichten. Die Formulierungen zeigen nicht einmal einen Anspruch auf sie an. Sie wurden lediglich unverändert von der päpstlichen Kurie entnommen. Sie sollten das Binnenverhältnis der tatsächlich realisierbaren Herrschaft darstellen und nicht allein rechtlich, sondern auch konzeptionell die Machtposition in die Sphäre des Unangreifbaren emporheben. Die Formel von der pars sollicitudinis – mitunter vorgestellt ohne das komplementäre Element der plenitudo potestatis – eröffnete die Möglichkeit der Einbindung der Fürsten trotz ihrer rechtlichen Privilegierung, wie sie das Statutum in favorem principum vom Mai 1232 festlegte. In dieser Urkunde hielt Friedrich fest, diejenigen zu begünstigen, die ihm unmittelbar unterstanden und die Anspruch auf seine besondere Gunst hatten.916 Die Gefahr, dass Rechte des 912 Federico II e le citt/ italiane, hg. v. Pierre Toubert, Agostino Paravicini Bagliani, Palermo 1994. 913 MGH Const 2, Nr. 299, S. 413, 414. 914 Yves Congar Ecce constitui te super gentes et regna in Geschichte und Gegenwart, in: Ders., Etudes eccl8siologiques m8di8vales, Bd. 3, London 1983, S. 671–698. 915 MGH Const 2, Nr. 156, S. 192–194. 916 MGH Const 2, Nr. 156, S. 192–194.

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römischen Kaisers und Königs entfremdet würden, suchte Friedrich zu bannen, indem er die Agierenden auf der politischen Bühne aus dem agonalen Beziehungsgeflecht herausnahm und in ein Gefüge von Kompetenzen stellte, die institutionellen Regeln unterlagen und Kooperationen vorsahen. Die sollicitudo galt als eine allen Fürsten aufgetragene Angelegenheit, die jeder von ihnen indes nur teilweise ausübte, während der Kaiser die Gesamtheit der Macht besaß. Personale Relation wurde in ein institutionelles Gefüge eingesetzt. Friedrich verlangte bei der Verkündung des Mainzer Reichslandfriedens von 1235, dass die pars sollicitudinis von den Fürsten erbracht werde, so dass das regimen des Reiches gesichert sei.917 Als Friedrich II. im selben Jahr Herzog Otto von Braunschweig in den Reichsfürstenstand erhob, delegierte er seinen einstigen Gegner mit der Ausübung der Macht. Die sollicitudo war ihm gewährt und von ihm verlangt.918 Die den Herzögen Österreichs in Aussicht gestellte Erhebung zu Königen erließ Friedrich II. in potestatis plenitudine.919 Der Abstand zu denjenigen, die, selbst wenn sie königliche Würden erhalten hätten, als treue Reichsfürsten bezeichnet wurden, blieb gewahrt. Indem einzig der Kaiser die Vollgewalt besaß, konnten auch Könige, sofern sie der Herrschaft des Kaisers unterstanden, zur Teilhabe an den Geschäften des Reiches herangezogen werden. Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Befugnisse waren in einem Konzept eingebunden, das Herrschaft als Amt für ein transpersonales Gebilde betrachtete. Die pars sollicitudinis war denjenigen vorbehalten, die der Kaiser damit beauftragte. Sie waren die Erfüllungsorgane für die Durchsetzung seines Willens. Dies betraf auch diejenigen, die anders als die Reichsfürsten unmittelbar vom Kaiser eingesetzt waren. Das merum imperium und die gladii potestas waren den Generalkapitänen verliehen, die in definierten italienischen Regionen die kaiserliche Macht gegenüber den Feinden des Reiches verteidigen, die Getreuen schützen und die Geltung des Rechts sichern sollten. Auch die Urkunden seines Sohnes Konrad beschrieben die Stellung von Generalvikaren, die in Italien die Rechte des Reiches ausübten. Die sollicitudo war ihnen aufgetragen.920 Die Formulierung, der Kaiser sei supra gentes et regna eingesetzt, wurde ausschließlich in Urkunden verwendet, die das Verhältnis zu den Reichsfürsten in Deutschland und den kaiserlichen Beauftragten in Italien beschrieben. In den 917 Ebda., Nr. 196, S. 246. 918 Ebda., Nr. 197, S. 263–266; Egon Boshof, Die Entstehung des Herzogtums BraunschweigLüneburg, in: Heinrich der Löwe, hg. v. Wolf-Dieter Mohrmann, 1980, S. 249–74. 919 Konstitutionen Friedrichs II, S. 306–308, 358–360; Friedrich Haussmann, Kaiser Friedrich II. und Österreich, in: Probleme, S. 225–308; Heinrich Koller, Das »Königreich« Österreich (Arbeitsreiche d. Instituts f. europäische u. vergleichende Rechtsgeschichte an d. Rechtsund Staatswissenschaftl. Fakul. d. Univ. Graz 4), Graz 1972. 920 Ebda., S. 450, 451; Historica diplomatica Friderici Secundi, V/2, S. 650–652.

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Schreiben Friedrichs II. an die französischen, englischen, dänischen und anderen Könige war hingegen – so in einem Brief an den König von Ungarn vom Jahre 1228 – die gegenseitige Unterstützung angemahnt und die Hilfe der kaiserlichen Macht für die königliche herausgestellt und ansonsten die beiderseitige Unabhängigkeit vorausgesetzt und zugestanden.921 Friedrich räumte ein, so in einem Brief an den römischen Senat vom Jahre 1241, dass das römische Reich von Grenzen umschlossen sei, es also Gebiete außerhalb seiner Herrschaft gebe.922 Die Vollgewalt war territorial begrenzt. Ihre Fülle erfasste allein das Imperium und das Königreich Sizilien. Auch inhaltlich war die Vollgewalt beschränkt. Die Beobachtung – vielleicht auch Klage – Friedrichs, ihm sei eine unbegrenzte Macht, wie sie die Herrscher des Orients besäßen, vorenthalten, er müsse vielmehr die Freiheit aller Menschen achten923, ließ in seinen Augen eine Herrschaftsvorstellung nur umso wertvoller erscheinen, die das Handeln des Kaisers auf eine stabile Ordnung von Kompetenzen und auf ein Gefüge von Abhängigkeiten zu stellen imstande sein sollte, also auf eine Ordnung der Institutionen. Nicht Personen und Emotionen, sondern Ordnung und Verfahren gestalteten die Macht des Kaisers. Martin Schaller hat bemerkt, die »neue absolutistische, zentralistische und die Person des Herrschers ins Übermenschliche hebende Staatsidee« Friedrichs sei während der Zeit des engeren Einvernehmens mit dem Papsttum in den Jahren nach der Kaiserkrönung ausgeformt worden.924 In dieser Auffassung ist ihm Egon Boshof zum Teil gefolgt, indem er einschränkte, dass anders als in Sizilien die »absolutistische Staatsidee« in Deutschland nicht angestrebt wurde und dass die dem Kaiser reservierte plenitudo potestatis zur Herstellung einer »absolutistischen Macht« einzusetzen, nirgendwo, auch in Italien und selbst in Sizilien nicht, gelang.925 Indes wird bei diesen Urteilen übersehen, dass die Behauptung der plenitudo potestatis nicht eine »absolutistische Herrschaftskonzeption« ausdrückte, denn die Partizipation sollte ja mit der Vollgewalt in Verbindung stehen. Die Formel eignete sich auch nicht vornehmlich für das Königreich Sizilien, sondern für das imperium und in besonderer Weise für das Verhältnis zwischen Kaiser und Reichsfürsten in Deutschland. Es war eine Herrschaftskonzeption vorgestellt, die der Herrschaft Mitwirkende zuführte. Die plenitudo potestatis beruhte also 921 Historia diplomatica, I, S. 227–228, 346–348; V/2, S. 183–185, 840–846, 1123–1125. 922 Ebda., V, S. 1139–1143; Otto Hageneder, Weltherrschaft im Mittelalter, in: MIÖG 93 (1985), S. 257–278. 923 Historia diplomatica, VI, S. 685–686. 924 Hans-Martin Schaller, Die Kanzlei Kaiser Friedrichs II. Ihr Personal und ihr Sprachstil, in: Archiv für Diplomatik 3 (1957) S. 207–286; 4 (1958), S. 264–327. 925 Egon Boshof, Reichsfürstenstand und Reichsreform in der Politik Friedrichs II., in: BDLG 22 (1986), S. 41–66, S. 63–64.

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nicht auf einem übersteigerten Machtanspruch, negierte nicht die Rechte und die Mitwirkung der Fürsten und setzte nicht eine vollständige Unterwerfung voraus, sondern meinte eine Organisationsstruktur aufeinander abgestimmter Kompetenzen, ohne dass Bande der Freundschaft, der Liebe oder der Furcht sie rechtfertigten und herbeiführten und ohne dass eine Gehorsamspflicht, wie sie das Lehnsverhältnis vorsah, vorausgesetzt war.926 Das Konzept war daher weniger das Ergebnis tatsächlicher Macht, sondern der Kompensation fehlender Macht. Die plenitudo potestatis, die Friedrich beanspruchte, war dem Kaiser vorbehalten. Dem Papst hat Friedrich diese Machtfülle, die plenitudo potestatis, nur eingeschränkt – nämlich in spiritualibus – im Jahre 1244 zugestanden, nach seiner Absetzung auf dem Konzil zu Lyon 1245 dann noch dahingehend präzisiert, dass sie nicht für weltliche Angelegenheiten eingesetzt werden dürfe, in denen die Vollgewalt dem Kaiser reserviert sei.927 Es gab weitere Begriffe, die eine institutionell stabile Herrschaft darstellten und von der Papstkirche entliehen wurden. Auch Kaiser Friedrich II. sah sich der res publica christiana verpflichtet. Seine Aufgabe sei es, das populum christianum zu schützen; die christianitas sei ihm anvertraut.928 Der Begriff der res publica christiana, die eine staatliche Existenzform figurierte, ihre Konfiguration aber nicht präzisierte, war zunächst von den Päpsten verwendet, die damit Kirche als quasi-staatliche Institution deuteten.929 Auch dieses Konzept bot sich einer weltlichen Inanspruchnahme an. Anders als beim päpstlichen Vorbild reklamierte Friedrich II. keine allumfassende, die Rechte anderer Königreiche tangierenden Ansprüche, vielmehr akzeptierte er die räumliche Begrenzung seiner Zuständigkeit. Die civitas christiana wurde zwar mit dem imperium romanum verbunden, ohne aber eine territoriale Deckungsgleichheit vorauszusetzen. Bei der Ladung zum Hoftag in Piacenza im Mai 1236 verkündete Friedrich, der ganze Erdkreis lebe im Geist des Imperiums und der Kaiser lasse nicht nur in zeitlichen Angelegenheiten das römische Zepter erleuchten, sondern widme sich auch der Verteidigung des christlichen Glaubens.930 Die Ausdehnung der Befugnisse betraf nicht den Raum der Herrschaft, sondern den Raum, wo der Schutz der Christenheit zu leisten war. 926 Karl-Friedrich Krieger, Die Lehnshoheit der deutschen Könige im Spätmittelalter (ca. 1200–1437), Aalen 1979. 927 MGH Const. Nr. 246, 266, S. 334–336, 360–366. 928 Ebda., Nr. 233–234, S. 317–23. 929 Papsturkunden für Kirchen im Heiligen Land. Vorarbeiten zum Oriens pontificius, Bd. 3, hg. v. Rudolf Histand (Abhandlungen d. Akad. d. Wiss. in Göttingen. Philol.-hist. Kl. II, 116), Göttingen 1985, Nr. 153–154, 157, S. 330–35; Pietro Zerbi, Papato, impero e respublica christiana dal 1187 al 1198, Mailand 1980, S. 48–51, 167–168; Ladner, S. 49–77. 930 MGH Const 2, S. 267; Wolfgang Seegrün, Kirche, Papst und Kaiser nach den Anschauungen Kaiser Friedrichs II., in: HZ 207 (1968), S. 4–41.

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Die Ausübung der Macht bedurfte der Partizipation, was die Delegation der Macht verlangte. Durch die Beauftragung von Legaten und Bevollmächtigten beabsichtigte Friedrich, definierte Gebiete administrativ zu erfassen. Auch hier ist die Anlehnung an das päpstliche Vorbild offensichtlich. Römisch-rechtliche Bestimmungen fanden Eingang in den Kanzleigebrauch Friedrichs II. – aber auch schon zuvor in den seines unterlegenen Konkurrenten, von Kaiser Otto IV.931 Sowohl im kirchlichen als auch im weltlichen Bereich war dasselbe Problem zu meistern: Wie konnte eine weiträumige Herrschaft sichergestellt werden, wie konnte auch fern von der Person des Papstes bzw. des Kaisers die Autorität des Herrschers durchgesetzt werden, wie ließ sich die Herrschergewalt im gesamten Herrschaftsgebiet verwirklichen? Der Sanktionsbereich sollte auf den gesamten Legitimationsbereich ausgedehnt werden – und dies unabhängig von den Zufälligkeiten des Herrscheritinerars und den kurzen Momenten der körperlichen Präsenz. Die römische Kirche deutete das Legatenamt in der Weise, dass die Deutung auch für die weltliche Herrschaft anschlussfähig war. Papst Innozenz III. ließ in einer Legationsurkunde vom August 1198 verkünden, seine Vollgewalt mache ihn zum Schuldner aller Christgläubigen. Indes, da sein Körper nicht um eine einzige Elle weiter ausgedehnt sei, als es die menschliche Natur vorgesehen habe, sei es nicht möglich, gleichzeitig an verschiedenen Orten – und gar an entlegenen – anwesend zu sein. Indem er aber Legaten entsende, die aus seinem Körper entnommen seien, sei es ihm möglich, in einem Augenblick an allen Orten die gesamte Kirche, die in der Einheit eines einzigen Körpers existiere, in all ihren Gliedern zu lenken. Eine dreifache Bedeutung erhielt der Begriff »Körper«: eine materiell-leibliche, eine institutionell-päpstliche und eine universal-kirchliche. Eine Dekretale desselben Papstes formulierte den Grundsatz, dass die päpstliche Sorge in gleicher Weise alle Kirchen erfasse. Da es aber dem Bischof von Rom nicht möglich sei, sich mit allen Angelegenheiten selbst zu befassen, sei er gezwungen, aus seiner unmittelbaren Umgebung Bischöfe auszusenden, die eine Machtbefugnis besäßen, als handelte er selbst. Die Entsendung von legati a latere habe ihr Vorbild in der Beauftragung der Apostel durch Jesus Christus. Den Diözesanbischöfen, die auch weiterhin die apostolische Sukzession beanspruchten, stellte damit Innozenz konkurrierende kirchliche Amtspersonen gegenüber.932 Legaten galten in der kirchlichen Rechtswissenschaft als die reale Verkörperung der Amtsgewalt des Papstes; sie waren als seine Augen gedeutet.933. 931 Ernst Pitz, Papstreskript und Kaiserreskript im Mittelalter (Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom 36), Tübingen 1971, S. 256–261. 932 Register Innozenz’ III., I, Nr. 345, S. 515–516; Corpus iuris canonici, II, Sp. 627–629. 933 Bernardus Parmensis interpretierte den Titel legati de latere im Sinne einer pars corporis

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In ähnlicher Weise hat auch Kaiser Friedrich es bedauert, dass eine Allgegenwart seiner Person nicht möglich sei. Da er nicht an jedem Ort persönlich anwesend sein könne, solle durch besondere Vorkehrungen seine Herrschaft ausgedehnt werden, auch dorthin, wo sein Wille, nicht aber sein Körper sich erstrecke – so die in den Konstitutionen von Melfi präsentierte Vorstellung.934 In mehreren seiner Statthalterprivilegien, auch außerhalb Siziliens, ist dieser Gedanke der leiblichen Begrenztheit des Körpers des Kaisers, die es durch Institutionen auszugleichen gelte, ausgeführt. Es gebe eine Diskrepanz zwischen der gewünschten Allgegenwart und der realen Abwesenheit. Ein Legat solle dort eingesetzt werden, wo der Kaiser personaliter nicht anwesend sein könne, wo er aber doch potentialiter überall herrsche.935 Aber nicht ein spezifisch von Friedrich II. und seinem Hof entwickelter Topos der Allgegenwärtigkeit und Ewigkeit des Herrschers legte den Grund für diese Formulierungen, die Ernst Kantorowicz als Belege für den von ihm behaupteten Allmachtanspruch des Kaisers deutete.936 Es gab vielmehr Anleihen aus dem Sprachgebrauch und der Selbstdarstellung der päpstlichen Kurie, welche die institutionelle Verlängerung des natürlichen Körpers des Herrschers begründeten.937 Die Terminologie der päpstlichen Kurie zitierend, bezeichnete die kaiserliche Kanzlei den Gesandten als denjenigen, der aus der Seite des Kaisers hervorgehe: de latere nostro legatum. Die kaiserlichen Legaten handelten ex parte domini. Mitunter war ihre Aufgabe, anders als bei ihren päpstlichen Pendants, nicht an die Person des Auftraggebers, sondern an das Reich selbst angebunden, indem die Amtsperson als sacri imperii legatus benannt war.938 Ähnlich wie an der päpstlichen Kurie waren auch ihnen besondere Gebiete zugewiesen. Das regimen des Reiches sollte in allen seinen Teilen verwirklicht werden, die Legaten waren den partes universas et singulas totius imperii vorgesetzt.939

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domini pape; Glossa ordinaria decretalium Gregorii papae IX, Paris 1612, zu X 1.30.9; Figueira, Legatus, S. 527–74; Claudia Zey, Die Augen des Papstes. Zu Eigenschaften und Vollmachten päpstlicher Legaten, in: Römisches Zentrum und kirchliche Peripherie. Das universale Papsttum als Bezugspunkt der Kirche, hg. v. Jochen Johrendt, Harald Müller (Neue Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Philologisch-historische Klasse 2: Studien zur Papstgeschichte und Papsturkunden), Berlin u. a. 2008, S. 77– 108; Claudia Zey, Handlungsspielräume – Handlungsalternativen. Aspekte der päpstlichen Legatenpolitik im 12. Jahrhundert, in: Zentrum und Netzwerk. Kirchliche Kommunikationen und Raumstrukturen, hg. v. Gisela Drosbach, Hans-Joachim Schmidt (Scrinum Friburgense 22), Berlin 2008, S. 69–93. Konstitutionen Friedrichs II., S. 350. MGH Const 2, Nr. 223, S. 306. Ernst Kantorowicz, Zu den Rechtsgrundlagen der Kaisersage, in: DA 13 (1957), S. 115–50, S. 133–134. Figueira, Legatus. MGH Const 2, Nr. 217, S. 302; Historia diplomatica, III, S. 65–66, 271–273, 287–289; V/2, S. 83–84, 176–178, 760–762. MGH Const 2, Nr. 77, 78, 89, 104, 117, 224, S. 97–98, 111–113, 130–131, 156–157, 308–310;

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Das ehrgeizige Projekt einer territorial gegliederten Ausdehnung der Herrschergewalt überforderte aber wohl die Möglichkeiten, die Friedrich II. zur Verfügung standen. Verwirklicht werden konnte es nur zum geringen Teil. Es auf Deutschland zu übertragen, wurde wohl gar nicht erst versucht. Es waren italienische Gebiete, vor allem in Reichsitalien, die auf diese Weise für die kaiserliche Herrschaft erfasst werden sollten. Vorbild für die geographische Aufteilung der Kompetenzen war wiederum die Praxis der päpstlichen Administration. Verwendet wurden häufig die geographischen Bezeichnungen, die in den an der Kurie tradierten und aufbewahrten Provinzialien, den Verzeichnissen von kirchlichen Bezirken und Regionen, angegeben waren.940 Indessen konnten die Einsatzgebiete auch, wie dies die Päpste für ihre Legaten vorsahen, flexibel je nach deren Aufgaben definiert werden. Die Zuständigkeit dieser von Friedrich II. vorgesehenen legati a latere war umfassend. Sie erstreckte sich auf den gesamten Umfang der Rechte des Kaisers. Sie waren die Erfüllungsorgane der Fülle der Gewalt. Friedrich verlieh bereits im Laufe des Jahres 1220, noch vor seiner Kaiserkrönung am 22. November, weitreichende Befugnisse an seine Gesandten, wie sie in ähnlicher Weise den päpstlichen Legaten übertragen wurden, und die, indes noch selten, auch schon der Vater Friedrichs, Kaiser Heinrich VI., festgelegt hatte.941 Die plena et perfecta iurisdictio, plena potestas oder die plena auctoritas, den Gesandten verliehen, befähigte sie, in allen Bereichen herrscherlichen Handelns, von der Gerichtsbarkeit, der Finanzverwaltung, dem Erlass von Statuten bis hin zur Friedensstiftung, zu handeln. Die Beauftragung schloss auch die Befugnis ein, Richter für besondere Fälle zu delegieren und einzelne Anordnungen durch Sublegaten erledigen zu lassen, also die Kompetenz weiter zu delegieren, auszudehnen und zu verstetigen – räumlich und zeitlich. Den Legaten sei das regimen populorum anvertraut.942 In Übereinstimmung mit dem römischen Recht und den älteren päpstlichen Dekretalen vor dem 13. Jahrhundert bezeichnete die Vollgewalt in diesem Fall nicht die des Kaisers, sondern die verliehene, abgeleitete Befugnis, die demjenigen anvertraut war, der die kaiserliche Macht stellvertretend in Provinzen und Einsatzgebieten zur Geltung bringen sollte. Es war eine vollgültige Prokura festgelegt. Legaten galten durch antik-römische Prokonsuln Historia diplomatica, I, S. 249–251; III, S. 76–77; V/1, S. 357–359; Acta imperii inedita saeculi XIII et XIV. Urkunden und Briefe zur Geschichte des Kaiserreichs und des Königreichs Sizilien, hg. v. Eduard Winkelmann Bd. 1, Innsbruck 1880, Nr. 227, 415, 429, 430, 706, 708–712, S. 209, 210, 358, 359, 366–368, 560–563; Ficker, Forschungen, IV, Nr. 262, 276, 277, 283–291, 304, 306–307, 323–324, 333, 339–340, 367–369, 372, 380–382, 392, 402–403, 415, S. 306–307, 314–320, 325–329, 339–341, 354–355, 361, 367–368, 377, 389–390, 398–399, 405– 411, 413–414, 416–417, 421–422, 426–427. 940 Schmidt, Kirche, S. 234–250. 941 Text der Urkunde: Ficker, Forschungen, IV, Nr. 176, S. 21–23. 942 MGH Const 2, Nr. 77, S. 97–99; Historia diplomatica, III, S. 271–273.

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vorgeprägt. Das Konzept der plenitudo potestatis war ursprünglich auf sie angewendet worden. Im Corpus iuris civilis war die plenissima potestas die begriffliche Fixierung der den Provinzialstatthaltern und den Gesandten durch die Kaiser übertragenen Handlungsbefugnis. Sie war also untergeordnet und diente der Unterscheidung von den Kompetenzen örtlicher Amtsleute. Gegenüber dieser Gewalt hatte jede andere Zuständigkeit zurückzutreten.943 Die Vorstellungen, die personale Herrschaft in eine institutionelle Ämterhierarchie überleiteten, kamen nicht ohne die Körpermetapher aus, die mehr war als ein rhetorisches Verfahren, sondern eine angemessene Methode, Herrschaft zu beschreiben, verständlich zu machen und zu legitimieren. Die Vorstellungen leiteten sich vom spätantiken römischen Kaiserrecht ab. Vermittelt war die Rezeption außer über das römische Recht über das Kirchenrecht und die päpstlichen Urkunden. Pietro da Vinea, der Kanzler Friedrichs II., übertrug in seinen Briefformularen die übliche Kennzeichnung der Kardinäle, die als Teile des päpstlichen Körpers angesehen wurden, auf die der Senatoren, die als pars corporis des Imperators im Codex Justiniani (Cod. 9,8,5) charakterisiert waren, und in einem weiteren Schritt auf die Beauftragten am Hof Friedrichs II., die Petrus als quasi partes corporis des Kaisers bezeichnete.944 Es gab eine Analogie zwischen der Machtteilung mit den Fürsten und der Machtdelegation an die Legaten. Auch diesen verlieh Friedrich II. die partem sollicitudinis; sie waren nicht Teilhaber der Macht, sondern ihre Ausführenden; sie hatten Anteil an den Besorgungen; sie sollten tätig werden, damit das geschehe, was der Kaiser anordnete.945 Auch Konrad IV., des Kaisers Sohn und Nachfolger als römischer König, leitete aus der Unmöglichkeit der persönlichen Allgegenwart die Notwendigkeit der Stellvertretung ab. Später hat auch die Kanzlei Karls von Anjou, von 1266 bis 1285 König von Sizilien, diese Vorlagen übernommen.946 Die beiden Bedeutungen von plenitudo potestatis – einerseits Bevollmächtigung eines Gesandten und Beauftragten, andererseits Kennzeichnung der herrscherlichen Gewalt selbst – wurden auf eigentümliche Weise in einer Urkunde Kaiser Friedrichs II. vom August 1239 vermischt. Danach war die plenitudo potestatis und die plenaria potestas dem Sohn Konrad übertragen worden. Zum Zeitpunkt der Urkundenausstellung war Konrad gerade einmal

943 Corpus iuris civilis, II, S. 19 (2.13.10). 944 Historia diplomatica, IV, S. 246; Robert C. Figueira, Decretalists, Medieval Papal Legation and the Roman Law of Offices and Jurisdiction, in: Res Publica Litterarum 9 (1986), S. 119– 35. 945 Historia diplomatica, V/2, S. 650–655. 946 MGH Const 2, Nr. 344, S. 451–452; Romualdo Trifone, La legislazione angioina, Neapel 1921, S. 77.

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11 Jahre alt, seit zwei Jahren aber römischer König.947 Ob die Vollgewalt aus seinem königlichen Amt entsprang oder aus der Beauftragung durch seinen Vater herrührte, blieb unentschieden. Die penitudo potestatis wurde nach Friedrichs II. Tod 1250 erst wieder von König Rudolf I. seit dem Jahr 1277 beansprucht, nachdem Papst Gregor X. die Verwendung dieser Formel ihm ausdrücklich zugestanden hatte. Den Gebrauch haben die Nachfolger fortgesetzt948, unter ihnen in beeindruckender Fülle Heinrich VII. (1308–1313) auch schon vor seiner Kaiserkrönung 1312.949 Dessen Enkel, Kaiser Karl IV. (1346–1378) führte die Formel ebenfalls ein, nicht aber für das gesamte Römische Reich, sondern zur Begründung einer kaiserlichen Gesetzgebungskompetenz, deren Anwendung er für sein ererbtes Königreich Böhmen reklamierte und begrenzte. In der Konstitution zum Erbrecht und im Proemium des als Maiestas Carolina bekannten Gesetzbuches, das um 1350 verfasst wurde, handelte Karl im Besitz der romanae regiae plenitudine potestatis.950 Die Vollgewalt war deklamiert, umgesetzt wurde sie nicht: Der Widerstand der böhmischen Stände verhinderte, dass das Gesetzbuch geltendes Recht wurde. Eine rechtlich unangreifbare Vollgewalt war dem Kaiser nicht einmal in seinem durch Erbrecht erworbenen Königreich Böhmen möglich durchzusetzen. Die Formel war nicht sinnentleert, brachte aber keinen Erfolg. Der französische König Ludwig IX. (1226–1270) hat die Formel der Vollgewalt nur einmal verwendet, freilich in einem seiner wichtigsten Gesetzgebungstexte, den 1254 promulgierten Reformordonnanzen, in denen er die königliche Befugnis reklamierte, Gesetze nach seinem Willen zu ändern, zu verbessern, zu ergänzen und einzuschränken. Von seinen Nachfolgern wurde die plenitudo potestatis ebenfalls nur selten in Anspruch genommen.951 Am kastilischen Königshof galt der römische Kaiser mit unbegrenzten Machtmitteln ausgestattet, sofern nicht geistliche Angelegenheiten ihn den Papst unterstellten – so die Vorstellung, die in dem um 1280 promulgierten Gesetzgebungswerk der Siete Partidas ausgeführt wurde. Der Kaiser wurde gar als Stellvertreter Gottes auf Erden bezeichnet – eine Position, die ansonsten die Päpste beanspruchten. In den Besitz der umfassenden Herrschaftsberechtigung 947 MGH Const 2, Nr. 218, S. 302–304; zu König Konrad IV.: Hans-Martin Decker-Hauff, Das Staufische Haus, in: Die Staufer, Bd. 3, Stuttgart 1977, S. 364–365. 948 MGH Cons. 3, Nr. 143, 282, 289, 395, 565S. 139, 288f., 293f., 382f., 529–532; MGH Const. 4, Nr. 28, 213, S. 23, 183f. 949 Ebda., S. 232, 235, 239, 283f., 306, 308, 353f., 365f., 373, 419, 422, 427, 436, 457, 459, 460, 465–467, 496, 523, 592f., 596, 649, 699, 760, 762, 904, 927, 932, 937, 980, 982, 990, 1019, 1021, 1042. 950 Codex Juris Bohemica, Bd. 2 , hg. v. Hermensgild Jirecek, Prag 1870, S. 102, 190–192. 951 Ordonnances des roys, I, S. 65–81, S. 65f.; Recueil g8n8ral des anciennes lois franÅaises, depuis l’an 420 jusqu’/ la r8volution franÅaises de 1789, hg. v. Jourdan u. a., Paris 1822– 1833, I, S. 274, 709; II, S. 795, 808.

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traten, so die Siete Partidas, auch die Könige ein, da sie innerhalb ihres Königreiches alle Rechts eines Kaiser hätten.952 Nicht allein in Frankreich war dieser Anspruch, der auf der Dekretale Innozenz’ III. von 1202 Per venerabilem beruhte, angemeldet.953 Gänzlich fehlte der Gebrauch der Formel von der Vollgewalt am englischen Königshof, was aber – anders als dies P8ter Moln#r annahm – nicht als Resultat eines Sonderfalls in einem dem Papsttum zu Lehen ausgegebenen Königreich angesehen werden kann, sondern als Folge der fehlenden Inanspruchnahme kaiserlicher Rechte innerhalb eines Königreiches gemäß der päpstlichen Dekretale Per venerabilem gedeutet werden sollte. Die Formulierung plenitudo potestatis war dem englischen König nicht einmal unbekannt. Zwei päpstliche Schreiben haben sie König Heinrich III. (1226–1272) angeboten, ohne dass er und seine Nachfolger von der Formulierung Gebrauch machten.954 Die plenitudo potestatis als Kennzeichen aller Könige wurde in der zeitgenössischen Theorie erörtert. Der Aneignung einer ursprünglich päpstlichen Formel durch die Könige hat Thomas von Aquin in seinem Sentenzenkommentar, in der Summa Theologiae und in seinem Politikkommentar zugestimmt.955 Bestritten wurde dieser Anspruch hingegen seit dem Beginn des 14. Jahrhunderts von den Verteidigern einer päpstlichen Vollgewalt, die, weil sie auf geistliche und auf weltliche Angelegenheiten gleichermaßen ausgedehnt sei, einen konkurrierenden Anspruch der weltlichen Herrscher auschließe.956 Das Konzept der Vollgewalt bekräftigte institutionelle Verfahren, die die Herrschaft zwar nicht von den Grundlagen, die die Evokation von Emotionen boten, gänzlich ablösen sollten, wohl aber über diesen Grundlagen ein weiteres Gerüst errichten sollten, das eine Kooperation zwischen Herrschern und den an 952 Siete Partidas, II, S. 3f., 7f.: part 2, tit. 1, ley 1 und ley 5; Michele Macarrone, Vicarius Christi. Storia del titulo papale, Rom 1952; Ian Stuart Robinson, The institution of the Church 1073–1216, in: The New Cambridge Medieval History, Bd. 4: c. 1024–1198, Teil 1, hg. v. David Luscombe, Jonatha Riley-Smith, Cambridge 2004, S. 268–334, S. 370f. 953 Kenneth Pennington, Pope Innocent’s Views on Church and State, in: Law and Society. Essays in Honor of Stephan Kuttner, hg. v. dems., Robert Somerville, Philadelphia 1977, S. 49–67; Otmar Hageneder, Anmerkungen zur Dekretale Per venerabilem, in: Studien zur Geschichte des Mittelalters. Festschrift für Jürgen Petersohn, hg. v. Matthias Thumser u. a., Stuttgart 2000, S. 159–203. 954 Documents of the Baronial Movement of Reform and Rebellion, 1258–1267, hg. v. R. E. Treharne, J. J. Sanders, Oxford 1973, Nr. 33, S. 240–250; P8ter Moln#r, La reprise du terme plenitudo potestatis au profit des souverains la"ques, in: Proceedings of the Fourteenth International Congress of Medieval Canon Law, hg. v. Joseph Goering u. a., Citt/ del Vaticano 2016, S. 965–981, S. 973f. 955 Thomas von Aquin, In quattuor libros Sententiarum, S. 573: IV, ds. 24, qu. 2, ar.1a, ra. 3; Ders., Summa theologiae, S. 263: Prima secundae, qu.105, art. 1; Ders, Sententia libri Politicorum, S. 72, 114: I.1/ und I.10. 956 William D. McCready, Papal Plenitudo potestatis and the Source of Temporal Authority in Late Medieval Hierocratic Theory, in: Speculum 48 (1973), S. 654–674.

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der Herrschaft partizipierenden Fürsten durch eine terminologische Formel erfasste. Die Frage, wie die Kooperation gestaltet werden sollte und wie sie gelingen konnte, blieb letztlich ohne Antwort, was auch gar nicht anders sein konnte, weil jegliche Präzisierung oder gar jegliche Juridifizierung der Vollgewalt ihr ihre Fülle genommen hätte. Hingegen als überwölbende Vorstellung einer Rechtsordnung war die Vollgewalt eingesetzt. Die angestrebte Kooperation, die mit dem Terminus pars sollicitudinis umschrieben war, konnte mit den Vorstellungen liebender Zuneigung assoziiert sein, so wie dies Papst Gregor IX. in einem Brief an Kaiser Friedrich II. vom 15. Juli 1233, also während einer Phase einträchtiger Beziehungen zwischen beiden, ausführte, als er mit dem Begriff der Liebe die Beziehungen umschrieb, welche alle Untertanen zu ihren Herrschern haben sollten, so dass diese Liebe emporrage zu einer uneinnehmbaren Festung der Macht. Der amor civium verlange, so der weitere Wortlaut des Briefes, dass der Herrscher die Zuneigung erwidere und dass er sich für die Untertanen nützlich erweise, was ihn wiederum dazu ermuntern müsse, den Kampf gegen die Häretiker aufzunehmen. Für diesen Kampf habe er die Gewaltmittel seiner Macht ohne Schonung gegen die Feinde des Glaubens einzusetzen. Wieder wurde das so oft verwendete Argument vorgetragen: Aus der Liebe entsprießt die Gewalt, aus dieser der Schrecken. Alle drei dienten der Wiederherstellung der Rechtgläubigkeit, standen also zunächst außerhalb der Herrschaftsordnung und waren geeignet für den Einsatz zugunsten des christlichen Glaubens. Sie speisten um nichts weniger die Fülle der Gewalt.957 Nur die Opportunität des Nutzens und nur den faktischen Vollzug der Ordnung vorauszusetzen, war offensichtlich unzureichend. Die Motivierung der zum Gehorsam angehaltenen Untertanen und der zur Ausführung der Anordnung eingesetzten Personen war zu wecken. Aus ihr erwuchs die Voraussetzung, Herrschaft praktikabel und akzeptabel zu begründen. Emotionen aus der Herrschaft auszuscheiden, war selbst dann nicht möglich, wenn Konfigurationen der Kompetenzdefinition in den Vordergrund geschoben wurden. Es war zwar problematisch, die Ausübung des Schreckens zu reklamieren, da er der Kritik an der Herrschaft ein willkommenes Einfallstor bot; aber wenn dessen Verursachung auf die Gegner übergewälzt wurde, blieb er für die Herrschaft präsent. Noch weniger konnte die Begrifflichkeit der Liebe aus der Sprache der Herrschaft entlassen werden. Dies umso weniger, als seit dem 12. Jahrhundert das Thema der Liebe mehr als in den Jahrhunderten zuvor breit ausgeführt wurde und die Liebe eine gesteigerte Wertschätzung erfuhr, die den Menschen anrührte und angriff. Als Bindekraft in allen sozialen Verhältnissen die Liebe herauszunehmen, war allein deswegen nicht möglich. 957 MGH Epp. Saec. XIII, 1, Nr. 550, S. 444; Karl-Viktor Selge, Die Ketzerpolitik Friedrichs II, in: Probleme, S. 309–343.

IX.

Aufwertung der Liebe im 12. und 13. Jahrhundert

1.

Hierarchien der Liebe – Liebe in Hierarchien

Die Darstellung und die Bewertung Wert der Liebe veränderten sich im 12. Jahrhundert. Wenn Liebe aus emotionaler Dichte, aufwühlender Leidenschaft, großem Verlangen entspringt, nach Erfüllung begehrt und Vereinigung mit dem geliebten Menschen ersehnt, wie dies seit dem 12. Jahrhundert zunehmend in fiktionalen und theoretischen Texten ausgeführt wurde, stieß eine solche Aufwertung der Liebe ein Tor auf, einerseits ihre Wirksamkeit auf alle Lebensbereiche auszudehnen und sie auch der Herrschaft zuzuführen, andererseits die Echtheit der Gefühle der Herrschaft vorzuenthalten.958 Mit dem Konzept einer inbrünstigen, verzehrenden und alles übersteigenden Liebe war es in der Tat schwierig, die Liebe in eine geregelte und normative Ordnung einzubinden, sie zu bändigen, sie zu disziplinieren, ihr die Spontaneität zu entziehen, um sie handhabbar zu halten für die Herrschaft. Eine Möglichkeit zur Lösung des Problems bestand darin, Freundschaft und Liebe deutlicher zu trennen. Dies erlaubte, dass der Liebe zusätzliche Empfindungen zugeführt wurden, dass sie als individuell gelebte Emotion, als innigere Bindung zwischen den Menschen aufgefasst wurde, während die Freundschaft, von der Liebe ausgesondert und als mattere Form der emotionalen Bindung vorgestellt, dafür aber herrschaftlich einsetzbar und nützlich konzipiert wurde.959 Formte die Rede von der Liebe ein Pathos des Gefühls, so verwies die Rede von der Freundschaft auf Tugend, Nutzen, Selbstlosigkeit. Dies schloss indes weiterhin eine Integration des Begriffs der Liebe in die Sprache der Herrschaft nicht aus. Es blieben Deutungsangebote bestehen, die auch mit der Herrschaft Höchstformen der Emotionen in Verbindung brachten. Sie waren geeignet, Loyalität ins Extrem zu steigern, also die Bereitschaft, für die Herrschaft sich einzusetzen und über

958 Siehe hierzu unten VIII, 2. 959 Krüger, Freundschaft, S. 93f., 138.

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Aufwertung der Liebe im 12. und 13. Jahrhundert

persönliche Nutzenerwägungen hinwegsehend für sie Anstrengungen zu erbringen. Liebe als konzentrierte Emotion und Liebe als Garant der Stabilität waren am besten zu vereinbaren, wenn sie in kirchliche Institutionen eingerahmt waren und als Form der christlichen Nächstenliebe vorgestellt waren. So blieben sie in ihrer Reinheit unversehrt. Liebe war dann beides: religiös-christlich begründet und in eine hierarchische Ordnung gestellt. Sie verband auf engste die Menschen und stellte sie zugleich in eine Relation der Differenz. Besonders wenn kollektive Zusammenschlüsse auf Hingabe, Verzicht auf eigene Lebensgestaltung und freiwillige Annahme von Regeln beruhten, wie dies in den Klöstern geschah, war die Wirkung der Liebe aufgerufen. Der Cluniazenerabt Petrus Venerabilis (ca. 1092–1156) verlangte im Prolog der von ihm promulgierten Statuten seines Ordens, dass die Liebe – als caritas bezeichnet – unveränderlich bestehen müsse, sie zum Grundbestand aller Tugenden gehöre, wohingegen monastische asketische Praktiken wie Fasten den sekundären Tugenden angehörten und verändert werden könnten.960 Derjenige Text, der die Lebensweise des am Ende des 11. Jahrhunderts gegründeten Zisterzienserordens rechtlich festlegte und erstmals 1114 erwähnt wurde, trägt den programmatischen Titel Carta caritatis. Dieser Name wird im Text selbst erläutert: Nicht die Beschwernis einer Belastung, sondern die Liebe und die Freude für die Seele sollten gelten. Wenn etwas bei der Beachtung der Regel oder der Ordensstatuten zu verbessern oder zu fördern sei, müsse die gegenseitige Liebe das Handeln leiten.961 Jenseits von normativen Festlegungen, jenseits von Ordensregel und Konstitutionen, vielmehr durch die Liebe sollten alle Glieder des Ordens zusammengebunden sein. Das monastische Ideal und die monastische Praxis waren aber nicht herrschaftsfrei. Die Liebe förderte die Herrschaft des Abtes. Er sollte lieben, alle Mönche sollten ihn lieben.962 Die Liebe in die weltliche Herrschaft zu integrieren, war bei weitem schwieriger, da diese erstens nicht auf Kooperation, sondern auf Konkurrenz angelegt 960 Consuetudines benedictinae variae (saec. XI-saec. XIV), hg. v. Giles Constable (Corpus consuetudinum monasticum 6), Siegburg 1975, S. 22–24; Jörg Sonntag, Die Erklärung des Wesentlichen, Einleitung zur Sektion Identität im Prozess. Mechanismen zur Perfektionierung des Normativen im Spiegel mittelalterlicher Regelkommentare, in: Identität und Gemeinschaft. Vier Zugänge zu Eigengeschichte und Selbstbildern insitutioneller Ordnungen, hg. v. Mirko Breitenstein u. a. (Vita regularis 67), Berlin 2015, S. 3–12, S. 6f. 961 Edition in: Statuta capitulorum generalium ordinis Cisterciensis ab anno 1116 ad annum 1786, hg. v. Joseph-Marie Canivez, Bd. 1, Löwen 193, S. xxvi–xxxi; Monika Dihsmaier, Die Carta Caritatis. Verfassung des Zisterzienserordens. Rechtgeschichtliche Analye einer Manifestation monastischer Reformideale im 12. Jahrhundert, Berlin 2010, S. 46f.; Melville, Welt, S. 134f. 962 Franz Felten, Herrschaft des Abtes, in: Herrschaft und Kirche. Beiträge zur Entstehung und Wirkungsweise episkopaler und monastischer Organisationsformen, hg. Friedrich Prinz (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 33), Stuttgart 1988, S. 147–296.

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war, zweitens ihr Nutzen für alle durchaus umstritten war, und drittens die Liebe, sofern sie als die Leidenschaften aufwühlende und Begehren erzeugende Beziehung zwischen Menschen konzipiert war, einer beständigen rechtlichen Ordnung entgegenstand, deren Zuständigkeiten und Aufgaben ohne launenhafte Neigungen gestaltet waren. Eine Herrschaftsbegründung, die jenseits der Liebe und gänzlich ohne sie auf Regularien setzte, war eine mögliche Antwort auf das Dilemma. Aber die Herrscher von der Förderung, der Gewinnung und der Nutzung der Liebe auszuschließen, barg Gefahren für deren Legitimität in sich, gerade weil im 12. Jahrhundert die Liebe deutlich aufgewertet wurde in Texten von Theologen und von weltlichen Autoren fiktionaler Literatur. Wenn dann auch noch die Liebe als Voraussetzung der besten, dauerhaftesten, friedfertigsten und glücklichsten Beziehungen zwischen den Menschen vorgestellt wurde und sie für das Kloster oder die intime Gemeinschaft zwischen Mann und Frau vorgesehen wurde, war es problematisch, die Herrschaft abseits der Liebe zu stellen. Wenn die Herrschaft dem Guten dienlich sein sollte, hatte sie Anschluss zu halten an das Sprechen über die Liebe. Theologische und kirchenrechtliche Argumente formten Vorstellungen, die als die Triebkraft zum Guten die Liebe einsetzten. Sie sollte zur Grundierung und Motivierung der Beziehung zwischen Gott und den Menschen und der Menschen untereinander führen. Konnten sich aber die Herrscher einreihen in einen Kreis der Liebenden, den ein Ensemble von Texten vorstellte, die die Liebe zwischen den Menschen priesen? Was es möglich, die Liebe in die Herrschaft einzufügen, auch wenn eine geänderte Konzeption der Liebe emotionale Tiefe verlangte? War es für die Herrschaft überhaupt erforderlich, dass die Liebe eine spezifisch politische Gestaltung erfuhr? Oder waren die Herrscher nur als Individuen in liebende Beziehungen eingesetzt, während ihre Herrschaft auf der Beachtung von Reglen beruhte? Letztere Option zeichnete sich ja in den Texten zur Herrschaft im 13. Jahrhundert ab. Aber Liebe auszuschließen, hätte bedeutet, der Herrschaft kräftige Quellen der Legimität vorzuenthalten. Liebe wurde ein bevorzugtes Thema von zahlreichen Schriften, die im monastischen Umfeld während des 12. Jahrhunderts verfasst wurden. Sie stellten die Liebe durchweg in eine hierarchische Differenz. In dem Werk De natura et dignitate amoris zeigte der Zisterzienser Wilhelm von Saint-Thierry (ca. 1075– 1148) die Wirkungen der Liebe. Er war neben Bernhard von Clairvaux und Aelred von Rievaulx einer der herausragenden und einflussreichsten Theologen seines Ordens. Wilhelm war zunächst Benediktinermönch in Reims; er wechselte 1135 in das neugegründete Zisterzienserkloster Signy. Die Aussagen Wilhelms ordnen sich ein in einen Vorgang der Wertschätzung der Liebe, ja einer Wiederentdeckung der Liebe, die die Angehörigen des am Ende des 11. Jahrhunderts entstandenen Zisterzienserordens leisteten und die Bedeutungen und Bewertungen, die antike Texte, vor allem die von Cicero, entwickelt hatten, im

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christlichen Sinne umformten. Die Liebe galt als der höchster Wert. Sie war der Weg der Menschen zu Gott. Die Unterscheidung zwischen fleischlicher und wahrer Liebe führt Wilhelm von Saint-Thierry dazu, die sexuelle Bedeutung aus der gottgefälligen Liebe auszusondern. Die Liebe, die die Natur des Menschen hervorbringe, müsse der Liebende durch Unterrichtung und Lernen steigern. Liebe war in ein Gefüge von Unterscheidungen hineingestellt. Liebe beruhe, so Wilhelm, auf der Beachtung der Anweisungen Gottes, wie sie vor allem in den Zehn Geboten festgelegt seien. Deswegen müsse an der Verwirklichung der Liebe beschwerlich gearbeitet werden; ein Vertrauen auf die Entfaltung spontaner Antriebe sei verfehlt. Wilhelm verlangt eine kämpfende Bemühung, um die Triebe abzutöten, die Laster auszumerzen, den Willen zu brechen. Einzig sich von seinen Affekten leiten zu lassen, sei so, wie wenn ein Blinder mit den Händen fuchtele und er kein Werk verrichten könne. Aus den unterschiedlichen Formen der Liebe entstünden unterschiedliche Ergebnisse mit gestufter Wertigkeit. Der amor naturalis sei nicht die Liebe, die zu Gott hinführe. Sie eigne sich nur, in diesseitigen Gesellschaften Gutes zu bewirken, denn sie mache die Menschen untereinander geneigt. Diese Art von Liebe stellt Wilhelm aber doch oberhalb rein körperlicher Regungen, er verbindet auch sie mit den Regungen der Seele. Die natürliche Liebe richte ihre Ziele auf die Menschheit; keine Verbindungen der Familie und der Verwandtschaft, keine Gemeinschaft und keine sonstigen für die Notwendigkeiten des Lebens notwendige Einrichtungen könnten ohne sie bestehen, freilich unter der Voraussetzung, dass sie in geordneter Weise und maßvoll ausgeführt und in der Mitte zwischen den Extremen von unbändiger und von erkalteter Liebe gehalten werde. Aus einer solcherart verstandenen Liebe entsteht auch eine politische Wirkung. Denn da die Liebe, so Wilhelm, notwendig für jede soziale Verbindung sei, sei sie es auch für eine solche, die weit über den sozialen Nahbereich hinausreiche und Menschen unterschiedlicher Herkunft in einem weit ausgedehnten Verband, den er als societas bezeichnet, vereine. Aber Wilhelm nennt nicht die Herrscher als Nutznießer der Liebe. Die societas scheint ohne sie auszukommen. Sie sind offensichtlich für den sozialen Zusammenhalt entbehrlich, da die Liebe Regungen zum Zusammenleben hervorbringe, ohne des Zwanges zu bedürfen, den die Herrscher ausübten und für den sie zuständig seien. Die Kontrastierung von amor naturalis mit dem amor spiritualis erweist die soziale Potentialität der ersteren Form der Liebe, aber auch ihre Begrenztheit, weil die Mächtigen an ihr nicht teilhaben. Weil die höhere Form der Liebe, der amor spiritualis, auch die Feindesliebe einschließt, verweigert sich diese aber noch mehr der politischen Opportunität, sprengt gar die sozialen Bindungen, hat keine Grundlage in der Notwendigkeit des Lebens selbst, ist nicht eingesetzt, um die Menschen zu Kooperationen zu führen, führt nicht zu weltlichen Gemeinschaften. Der amor spiritualis wird wiederum übertroffen von der caritas, denn sie schließe an Glaube und Hoffnung an,

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während der amor ohne sie bestehe. Die theologische Abstufung, die Wilhelm vorstellt, bietet unterschiedliche Wertigkeiten, belässt aber gleichwohl auch der niederen Stufe, dem amor naturalis, seine Berechtigung, die gerade wegen der Entlastung von religiösen Höchstleistungen sozial praktikabel gehalten wird. Die soziale Ordnung hat in dieser Art der Liebe ihre hinreichende Begründung. Sie benötigt keine anderen Affekte, ja die Furcht soll allein im Verhältnis zu Gott bestehen, zu anderen Menschen ist sie nicht angemessen. Der amor naturalis, zwar Basis der Gesellschaft, schließt den herrschaftlichen Zwang aus, eignet sich nicht als Instrument der Herrschaft. Trotz der Bezeichnung naturalis ist nicht die Entfaltung autochthoner Kräfte des Menschen gemeint; der Terminus verweist nicht auf den Ursprung, vielmehr auf die Zielsetzung.963 Sie besteht in der Herstellung des sozialen Zusammenhalts. Er ist von der Gewalt, die von der Herrschaft ausgeht, abgeschirmt. Herrscher stehen daher außerhalb der Bande der Liebe. Noch größere Wirkung auf die eigene Zeit und die Nachwelt als Wilhelm von Saint-Thierry übte sein Ordensbruder Bernhard von Clairvaux (ca. 1090–1153) aus. Dieser trat im Jahre 1112 in das Kloster C%teaux ein, in die Ursprungszelle des Ordens, gründete 1115 das Kloster Clairvaux, dessen Abt er wurde. Sein Wirken entfaltete sich auch außerhalb der Klostermauern. Als Autor von Schriften, als Prediger und als Briefeschreiber griff er in viele Konflikte seiner Zeit ein, zeigte in polemischer Schärfe die Unterschiede des Zisterzienserordens zu dem älteren Cluniazenserorden, forderte zu Kreuzzügen auf, förderte die Entstehung von Ritterorden und rechtfertigte deren Lebensweise, unterstützte Papst Innozenz II. gegen seinen Konkurrenten Anaklet, den Bernhard als Schismatiker verurteilte, scheute sich nicht, seinen einstigen Ordensbruder, Papst Eugen III., zu belehren, trat für die Verurteilung des Magisters Petrus Abelard ein, dem er eine Umformung und Verfälschung der Glaubenswahrheiten zugunsten rationaler Wahrheitsbeweise vorwarf. Bereits zu Lebzeiten genoss er höchste Autorität; er war als Ratgeber bei Herrschern begehrt. Seine Schriften waren weit verbreitet und galten als Ausweise einer Gelehrsamkeit, die sich in den Dienst des Glaubens und der Kirche stellte.964 Wie Wilhelm von Saint-Thierry sonderte Bernhard von Clairvaux die weltlichen Herrscher aus den Bindungen der Liebe aus. Beide Autoren haben 963 Wilhelm von Saint-Thierry, De natura et dignitate amoris, in: Ders., Opera didactica et spiritualia (CCSL 88), Turnhout, S. 177–212; bes. S. 177–179, 183f., 188–192, 205, 211; Kurt Ruh, Die Augen der Liebe bei Wilhelm von Saint-Thierry, in: Theologische Zeitschrift 45 (1989), S. 100–110; Alberto Sicari, L’amore di Dio e l’amore del prossimo in Guiglielmot di Saint Thierry, in: »Ob regatum meorum sociorum. Studi in memoria di Lorenzo Pozzi«, hg. v. Stefano Caroti, Mailand 2000, S. 123–140. 964 Peter Dinzelbach, Bernhard von Clairvaux. Leben und Werk des berühmten Zisterziensers, 2. Aufl. Darmstadt 2012.

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Kommentare zum Hohen Lied verfasst, in denen sie eine mystische Verbindung von Gott und den Menschen darlegten, die durch die Liebe gestaltet sei.965 Noch weniger als Wilhelm beließ Bernhard der Liebe Einfluss auf die irdischen sozialen Beziehungen. Die Liebe in den Familien habe einen geringen Wert. Bernhard vermochte in der Liebe der Eltern zu ihren Kindern nichts als verwerfliche Neigung und Regung irdischer Begierde zu entdecken. Sie entspringe der Zuneigung zum eigenen Fleisch und verhindere die ungeteilte Hinwendung zu Gott. Nur diese sei wahre Liebe. Diese allein schließe aus, den Lockungen des eigenen oder des fremden Leibes nachzugeben. Die strikte Trennung von fleischlicher und geistiger Liebe mache beide ungeeignet, sich in sozialen Verbänden zu verwirklichen, weil die fleischliche Liebe auf den eigenen Vorteil erpicht sei und sich gegen die Mitmenschen wende. Die geistliche Liebe hingegen erhebe sich aus den Niederungen des diesseitigen Lebens. Diese, die wahre Liebe erfordere die Verachtung der Welt. Gerechtfertigt ist nach Bernhard die fleischliche Liebe nur insofern, als sie, sofern von der Vernunft geleitet, zu ihrer eigenen Überwindung voranschreitet, also einen dialektischen Perfektionsvorgang anstößt, der zu ihrer eigenen Aufhebung führt, zur Zerstörung der fleischlichen Liebe und zur Ablehnung diesseitiger Vernunftgründe. Dieses Voranschreiten, die die Realisierung einer in dieser Form der Liebe eingewobenen Potentialität ist, setzt voraus, dass im humanen Zusammenleben, in der propria conversatione, kein falscher Glaube, keine Leichtfertigkeit und keine Heftigkeit einwirken, welche die Menschen vom Bekenntnis zu Gott abwendeten. Die fleischliche Liebe gewinnt ihren Wert einzig aus der Potentialität ihrer Negation. Die Furcht wird noch stärker entwertet. Sie trägt nichts zur Besserung der Menschen bei. Dies ist allein deswegen nicht gegeben, da ihr Bernhard keine große Wirkung zugesteht. Die Furcht vor dem Tod vermöge die Gerechtigkeit nicht zu vernichten, die in der Wegbereitung zum ewigen Heil bestehe; die Furcht könne auch nichts zum guten Leben im Diesseits beitragen. Die Rettung des Seelenheils gelinge nur, wenn die Menschen von der fleischlichen zur geistlichen Liebe aufsteigen, die sie aus der Welt hinausführe. Eine Brücke zur Regulierung menschlichen Zusammenlebens, gar zur politischen Verfassung, zur Handhabung der Macht, ist damit abgebrochen. Die Texte in dem Werk Sermones super Cantica stellen keine Liebe vor, die in den herrschaftlichen Verfassungen der Welt bestehen kann. Lediglich in den Klöstern, die die himmlische Harmonie präfigurieren, sieht Bernhard die Möglichkeit, Liebe in einen institutionellen Rahmen im Diesseits zu stellen, dessen Intention aber gerade in der Überwindung weltlicher Alltäglichkeiten besteht.966 Deswegen fordert Bernhard von den geistlichen Oberhirten, sich nicht mit der Macht zu 965 Kurt Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik, Bd. 1, München 1990, S. 276–319. 966 Bernhard von Clairvaux, Sermones super Cantica Canticorum, S. 284–290, 456–458.

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befassen und sie von sich fernzuhalten, da sie gehalten seien, die ihnen Unterstellten zu lieben, was nicht möglich sei, wenn sie Macht anstrebten und ausübten. In der Mahnschrift, die er an Papst Eugen III. richtete, gibt er zu bedenken, dass der Papst wohl die Wölfe, aber nicht die Schafe bezwingen solle. Diese solle er weiden, nicht unterdrücken.967 Bernhard warnt auch den Papst vor dem Streben nach Macht; unnütz sei das Handeln, um sie zu erwerben und sie zu erhalten; vergeblich seien die Mühen für sie, und falls sie doch das Ziel, die Erringung der Macht, erreichten, käme für niemand ein Gewinn zustande. Schlimmer noch: Das Streben nach Macht sei gefährlich, da es vom Streben nach dem Seelenheil ablenke. Geistliche Gewalt müsse von der weltlichen Gewalt getrennt bleiben. Letzterer könne keine Legitimität durch Gott zukommen. Sie beruhe auf Zwang, flöße Furcht ein, dränge auf Erweiterung des Machtgebietes, strebe nach Eroberungen, provoziere deswegen Streit, verhindere folglich Frieden, wohingegen der geistlichen Gewalt tatsächlich die Sorge um die Untertanen aufgetragen sei und sie sie auch leiste. Die Geistlichen seien gehalten, ihre Macht zu verkleinern, Zuständigkeiten abzugeben, um nicht durch die Fülle der Pflichten, d. h. der Beantwortung der Bittgesuche, der Entscheidungen zur Verwaltung und der Züchtigung der Ungehorsamen, erdrückt und vom Wichtigen, dem Streben nach der Liebe Gottes, abgelenkt zu werden. Herrschaft über alles und über alle erringen zu wollen, dürfe nicht das Ziel des päpstlichen Amtes sein, wie Bernhard meint; ein solches Ziel möge den weltlichen Herrschern überlassen sein, eitler Wahn sei dieser Wunsch allemal, Liebe könne dabei nicht bestehen und könne aus dem Machtstreben nicht entspringen.968 Bernhard knüpft an die Argumentationen an, die im vorangegangenen Jahrhundert die Verfechter der Kirchenreform gegen die Berechtigung der weltlichen Gewalt vorgebracht hatten, wendet aber die Ablehnung weltlicher Macht nun auch auf das Papsttum an. Der oberste Hirte der Christen müsse darauf bedacht sein, den Unterschied zu den Mächtigen der Welt, die Furcht verbreiten, einzuhalten. Dies gelingt, indem er keine Macht ausübt, von ihrer Ausführung sich nicht einfangen lässt. Bernhard von Clairvaux wiederholt seine Auffassung von der letztlich asozialen Absicht und Wirkung der geistigen, d. h. in seinem Sinne allein gerechtfertigten Liebe, die nicht in die Herrschaft eindringt, ausführlich in seinem Werk De diligendo Deo. Weil die Gottesliebe nicht reziprok sei und nicht sein könne angesichts der unüberwindlichen Distanz zwischen Gott und den Menschen und angesichts der unendlichen Gutheit Gottes, sei die Nächstenliebe nur 967 Ders., De consideratione, S. 611–841, S. 681. 968 Ebda., S. 628–638, 702–704, 762–766; Bernard Jacqueline, Le pape d’aprHs le livre II du De consideratione ad Eugenium Papam de Saint Bernard de Clairvaux, in: Studia Gratiana 14 (1967), S. 219–239.

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ein unvollkommenes Spiegelbild dieser Liebe; sie dürfe nicht einmal auf Lohn hoffen, sondern sie solle sich uneigennützig betätigen. Daher rühre das große Verdienst der Feindesliebe, die bar jeglicher Opportunitätsüberlegung sei und sich einer Optimierung des Nutzens verweigere. Jede Nächstenliebe schließe notwendigerweise den Anspruch einer Erwiderung aus, daher sei sie nur möglich, wenn sie aus der Gottesliebe herrühre. Diese Art von Liebe steht abseits von Kooperationen, die nach einem gemeinsamen und gegenseitigen Nutzen streben. Eine monadisch-monastische Einkappselung der Liebe ist das Ideal, das zwar institutionell eingebunden, aber für eine politische Weiterung gänzlich ungeeignet ist.969 Die exaltierte Position der Liebe entfernte sie aus sozialen Bindungen, selbst innerhalb der Familie und mehr bei großen weltlichen Einrichtungen. Gerade weil ein offenbar neuartiges Bedürfnis von vielen im 12. Jahrhundert sich Bahn brach, die Liebe persönlicher und stärker verinnerlicht zu empfinden, statt sich mit nur äußerlicher Angepasstheit an Gebote, Regeln und Gesetzen zufriedenzugeben, stiegen die Ansprüche an die Liebe, die – so die Protagonisten des monastischen Lebens – nur im Kloster verwirklicht werden könne. Die Liebe verlange, so Bernhard, sich dem Leben in der Welt zu entziehen, und sie sei den exklusiven, weltabgewandten Milieus, den der Klöster, vorzubehalten, weil sie dort von Gott eingepflanzt sei und zu ihm hinführe. Sofern die Liebe ansonsten in menschlichen Gemeinschaften walte, sei sie stets, wie Bernhard in einen Brief an den Prior der Grande Chartreuse ausführt, mit dem Streben nach Vorteilen befleckt und mit der Furcht beschmutzt. Der Gehorsam des Untertanen könne zwar auch mit Furcht erreicht werden, aber sie berühre nicht die innere Gesinnung, verfälsche sie, sei lediglich geeignet, Herrschaft und Unterwerfung herzustellen. Ausgeschlossen bleibe dabei stets eine harmonische Eintracht, beruhend auf der Verschmelzung derer, die, wie in der Apostelgeschichte formuliert, ein Herz und eine Seele seien (Apg 4. 32). Im Gegensatz zu dieser Harmonie stehe eine singularitas. Bernhard sieht in ihr eine Form der Liebe, die nur äußerliche Verrichtung von Taten gewährleistet, genauso wie dies die Furcht bewirkt. In beiden Fällen seien die Menschen voneinander getrennt. Lediglich um gemeinsame Interessen zu verfolgen, gebe es Zusammenarbeit. Dann aber treibe die cupiditas die Menschen an. Aber gleichwohl vermöge die irdische, auf Vorteil erpichte Liebe den Dienst der Untertanen erträglicher, angenehmer und süßer zu machen. Dies gilt sogar als Voraussetzung dafür, dass der Dienst für die Herren überhaupt geleistet wird. Aber diese Art der Liebe – in dem genannten 969 Bernhard von Clairvaux, De diligendo Deo, in: Ders., Sämtliche Werke, Bd. 1, hg. v. Gerhard B. Winkler, Innsbruck 1990, S. 57–151, S. 120–140; allgemein zur mönchischen Existenz in Alternativ-Gemeinschaften: Hubertus Lutterbach, Das Mönchtum, Zwischen Weltverneinung und Weltgestaltung, in: Die Welt des Mittelalters Erinnerungsorte eines Jahrtausends, hg. v. Johannes Fried, Olaf B. Rader, München 2011, S. 433–447; Melville, Welt, S. 303–307.

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Brief als caritas bezeichnet –, begründet Pflichten und ermöglicht ihre Ausführung nur dann, wenn sie mit der Furcht gepaart sei. Dann gilt der Satz: Numquid erit caritas sine timore. Einzig die vollkommene Liebe, die aber außerhalb der Herrschaft steht, vertreibe die Furcht, wie Bernhard, den ersten Johannesbrief zitierend (1 Joh 4.18), schreibt. Er entwirft ein Panorama der gestuften Verwirklichung der Liebe, die von der fleischlichen Liebe ihren Ausgang nimmt, d. h. mit der Eigenliebe einsetzt, über die Liebe zu den Mitgliedern der eigenen Familie voranschreitet, zur Liebe in Gemeinschaften und zur Pflichterfüllung hinführt, in Klöstern gepflegt wird, schließlich durch den Heiligen Geist ihre Vollendung findet und bis zur Gottesliebe gesteigert ist.970 Liebe wird auch vom König gefordert. Aber sie ist eine Liebe, die dem eigenen Vorteil dient, sie ist eine minderwertige Liebe, ja letztlich eine Verleugnung der Liebe. Überdies führe eine solche Liebe, wie Bernhard von Clairvaux in einem anderen Brief schreibt, zu Täuschungen und verhindere dann sogar den angestrebten Nutzen. Deswegen handele König Ludwig VII. von Frankreich widersinnig, indem er diejenigen liebe, die ihn hassten, und diejenigen hasse, die ihn liebten. Er ruiniere so seinen eigenen Vorteil. Bernhards harsche Kritik war motiviert durch die königlichen Eingriffe bei der Ernennung von Bischöfen und durch die Konfiskationen von Kirchengut. Der König mache sich zum Vollstrecker des Vorhabens seiner Feinde, schreibt Bernhard, wohingegen allein die Versöhnung mit der Kirche ihm Gewinn brächte. Aber es ist der Gewinn im Jenseits, den Bernhard in Aussicht stellt. Macht verleiht er nicht.971 Was im Diesseits erreicht werden kann, ist die Spaltung Gesellschaft, die von Missgunst und Eigennutz zerrissen ist. Auch die Liebe vermag die Spaltung nicht zu kitten. Liebe und Furcht sind nach Bernhard von Clairvaux zwar nützliche Instrumente der Machtausübung, aber sie führen nicht auf einen Pfad, der zur Vollkommenheit leitet und nur durch das Abstreifen von Nutzenerwägungen eingeschlagen werden kann. Sofern Bernhard Liebe und Furcht dem weltlichen Handeln belässt, vermag er sie als Instrumente des opportunen Handelns gelten zu lassen, verweigert ihnen aber, wenn sie nicht durch die vollkommene Liebe erhöht, dann aber aufgehoben und getilgt werden, jegliche theologisch begründete Anerkennung und erachtet selbst eine diesseitige Nützlichkeit als gering. Die Differenzierung der Liebe, ihre Sortierung nach Schichten der Perfektion, versperrt ihre Integration in den Bereich der Herrschaft. Die abschätzige Bewertung öffnet aber zugleich und dies trotz des offensichtlichen Widerspruchs einen Spalt zugunsten einer autonomen politischen Reflexion, 970 Bernhard von Clairvaux, Briefe, in: Sämtliche Werke, Bd. 2, hg. v. Gerhard B. Winkler, Innsbruck 1992, S. 241–1155, S. 344–361. 971 Bernhard von Clairvaux, Corpus epistolarum 181–310, in: Sämtliche Werke, Bd. 3, hg. v. Gerhard B. Winkler, Innsbruck 1992, S. 208–213, 1098–1099.

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indem diese von den Bindungen an eine theologische Deutung und an eine von ihr vorangetriebene Steigerung der Liebe herausgenommen wird. Die extreme Positionierung der Liebe belässt derjenigen Liebe, die sozial und herrschaftlich genutzt und daher abgewertet ist, ein eigentümliches Betätigungsfeld, in das die Anforderungen religiöser Höchstleistung nicht hineinragen. Mehr noch als Bernhard von Clairvaux entrückte Aelred von Rievaulx (1110– 1167) die Liebe aus allen irdischen Nutzenoptimierungen. Aelred stammte aus dem Norden Englands, trat in die Dienste des schottischen Königs David I., bevor er 1134 Mönch des nordenglischen Zisterzienserklosters Rievaulx wurde. Zunächst Abt eines von dessen Tochterklöstern, kehrte er 1147 nach Rievaulx zurück, wurde dessen Abt. Weiterhin war er in politische Angelegenheiten involviert; er unterstützte König David I. von Schottland, stand in Opposition zum englischen König Stefan I., dem er die Einmischung in die Besetzung des erzbischöflichen Stuhls von York vorwarf, reiste in dieser Angelegenheit auch an den päpstlichen Hof. Er war Autor von mehreren historiographischen Werken, von Heiligenviten, von Briefen und von zahlreichen Predigten. Am einflussreichsten waren seine Schriften zur Liebe und zur Freundschaft.972 Die Schrift »Spiegel der Liebe« bietet sowohl eine Definition der Liebe und ihrer Ausformungen, als auch eine Belehrung zu ihrer Verwirklichung. Im Prolog widmet Aelred sein Werk Bernhard von Clairvaux. Ihm sendet er es zu.973 Die Unterscheidung, ja Gegensätzlichkeit von zwei Begriffen der Liebe, amor und caritas, durchzieht das gesamte Werk. Gleich zu Beginn setzt er amor mit dilectatio in Verbindung. Liebe führe in diesem Fall nur zur Befriedigung fleischlicher Regungen; cupiditas durchsetze sie; sie entferne den Menschen von Gott. Die caritas hingegen sei ein Affekt, der den Mensch zur Gottesebenbildlichkeit führt. Der caritas fehle nichts an ihrer Vollkommenheit. Sie zu verwirklichen, sei eine Pflicht, die Gott den Menschen auferlegt, wie Aelred durch Zitate aus dem Neuen Testament darlegt. Die drei Arten dieser Liebe – Selbstliebe, Nächstenliebe und Gottesliebe – sind alle gerechtfertigt, aber in gestufter Wertigkeit. Auch der amor habe, so Aelred, Anteil an der caritas, denn diese schließe ihn ein, was umgekehrt nicht gelte. Aus dem amor entstünden natürliche Antriebe und die Vernunft, die den Menschen ein Mindestmaß an Anleitung an die Hand gebe. Einen dritten Begriff führt Aelred ein: dilectio. Damit ist die Liebe zum Nächsten gemeint, die aber nur nach reiflicher Überlegung geleistet werden solle, sei sie doch zwar gottgefällig, trage aber die Gefahr in sich, sich nur mit weltlichen Angelegenheiten zu befassen. Diese Warnung, in Kapi972 McGuire, Friendship, S. 98ff.; Epp, Amicitia, S. 12–15; Krüger, Freundschaft, S. 55, 63–66, 148; Rosenwein, Generations S. 93; Boquet, Ordre de l’affect. 973 Aelred von Rievaulx, Liber de speculo caritatis, hg. v. Charles Hugh Talbot, in: Opera omnia, Bd. 1 (CCCM 1), Turnhout 1971, S. 3–161, S. 3f. ; eine Zusammenfassung dieser Schrift bietet Aelred in: Compendium speculi caritatis, hg. v. R. Vander Plaetse, ebda., S. 171–238.

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tel 26 des dritten Buches formuliert, erwähnt nur knapp den Nutzen der Liebe für das gesellschaftliche Leben. Eine Einbeziehung in hierarchische Verhältnisse in der Welt fehlt aber ansonsten. Die terminologische und definitorische Differenzierung der Formen der Liebe, die Aelred vornimmt, ermöglicht eine unterschiedliche Bewertung, führt aber nicht zu einer sozialen Auffächerung der Verwirklichung der Liebe.974 Die Liebe an die Herrschaft anzuschließen, ist auch im Traktat von Aelred zur Freundschaft nicht vorgesehen. Der Text ist als Gespräche des Autor-Ichs mit drei fiktiven Personen, die vielleicht Formungen realer Gesprächspartner sind, gestaltet und übernimmt weite Passagen der Schrift von Cicero Laelius de amicitia. Aus ihr zitiert er die Definition von Freundschaft: Sie ist eine Übereinstimmung (consensio) hinsichtlich der menschlichen und himmlischen Dinge, begleitet von Wohlwollen und Liebe. Wie Cicero verwendet Aelred hier den Begriff caritas. Die Verwendung des ciceronischen Werkes macht dem Zisterzienser offensichtlich Probleme. Ein Gesprächspartner stellt die Frage, was denn ein Heide (ethicus) wohl mit dem Wort caritas ausdrücken wolle, worauf die Antwort erfolgt, dass damit vielleicht ein Gefühl der Seele (affectus animi) gemeint sein könnte. Die Aussage ist undeutlich, unentschieden. Eindeutig wird hingegen festgehalten, dass eine Freundschaft ohne Liebe unmöglich sei. Der Begriff amor ist in dieser Schrift durchaus positiv bewertet, allein schon weil das Wort sich zu einer etymologischen Ableitung von amicitia eignet, vor allem aber weil es eine vernunftkonforme Verwirklichung des Gefühls der Seele bedeutet: Est amor quidam animae rationalis affectus. Damit gelinge es, das zu erreichen, was gewünscht werde und zum Genuss geeignet sei. Der Freund sei der Wächter der Liebe, womit er auch ein Wächter der Seele für seinen Freund werde. Aus dieser Aufgabe entspringt die Bewertung der Freundschaft als eine Tugend, die bewirkt, dass die Freunde eins werden. Liebe und Freundschaft sind am Beginn des Werkes noch – der ciceronischen Vorlage folgend – ganz in weltliche Verhältnisse eingebunden, freilich ohne jede Weiterung zu einer herrschaftlichen Verwendung. Die Apotheose der Liebe entfaltet Aelred am Ende seines Werkes. Sie sei die Quelle der Freundschaft. Sie löse sich von den Gefühlen, entstehe stattdessen aus der Vernunft, vor allem aber werde sie, wenn sie zu gegenseitigen Fürbitten und Gebeten unter den Freunden führe, religiös überhöht: Aus der heiligen Liebe, die die Menschen mit dem Freund vereine, stiegen sie auf zu Gott und erreichten schließlich die Stufe der geistigen Liebe im Himmel. Dort erst werde Freundschaft wahrhaft verwirklicht, denn auf Erden sei sie auf wenige Personen beschränkt, dann aber im Kreis der Erlösten erfasse sie alle und schließe Gott ein. Aelred verneint hingegen, dass aus der Freundschaft in den irdischen Dingen eine umfassende, weit reichende, gar große Gemeinschaften 974 Ebda., S. 16f., 22f., 31f., 106f., 114, 120–126.

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prägende Bindung entstehen könne. Nicht einmal im Kloster könne die Freundschaft alle einbeziehen; selbst dort erstrecke sie sich nicht auf alle Mönche. Letztlich entzieht sie sich jeder institutionellen Einordnung im Diesseits. Die wahre Freundschaft ist ein fernes Ideal, entrückt in das Jenseits, gleichwohl auf das irdische Leben ausstrahlend.975 Das Thema der Liebe haben auch Theologen außerhalb des Zisterzienserordens während des 12. Jahrhunderts behandelt. Der bereits genannte Stiftskleriker Hugo von Saint-Victor976 erörtert in der metaphorischen Deutung der Arche Noahs das Thema. Für ihn hat die Liebe ebenfalls keinen Platz in der Herrschaftsausübung. Stattdessen ist der Zwang für die Herrschaft reserviert. Der amor Dei und der amor mundi sind von ihm diametral entgegengestellt. Der amor mundi würde, so Hugo, mit Süße einsetzen, aber mit Bitterkeit enden. Indes sah Hugo die Herrscher und ihre Untertanen nicht einmal durch eine solche defizitäre Liebe miteinander verbunden, sondern die Gelehrten. Diese würden sich Christen lediglich nennen wollen, sie gäben vor, mit den übrigen Gläubigen in die Kirche einzutreten und an den Sakramenten teilzunehmen, aber im Herzen hegten sie eine Verehrung für Saturn, Jupiter, Herkules, Mars, Achill, Hektor, Pollux und Kastor, Sokrates, Platon und Aristoteles – eine Verehrung, die die wahren Christen zu Recht doch nur als vanitas erachteten. Die schroffe Ablehnung einer die Antike verehrenden Gelehrsamkeit war das Anliegen Hugos. Dass Herrscher mit der Liebe in Verbindung gebracht werden könnten, wurde nicht einmal in Erwägung gezogen. Im Gegenteil: Liebe könne es, sofern sie schon auf Erden verwirklicht werde, nur zwischen Gleichen geben. Hugo verwendet zur Bezeichnung einer solchen Liebe den Begriff caritas fraterna.977 Die Gleichheit schließt die Herrschaft aus. Auch Richard von Saint-Victor (ca. 1100–1174), der jüngere Kollege von Hugo in der Stiftsschule Saint-Victor, der auch noch in weiteren Pariser Schulen lehrte, entzieht in seiner Schrift zu den Abstufungen der Liebe diese der Herrschaft. Die Hierarchie der Liebe steht außerhalb von ihr. Unterschieden wird der ethische Wert unterschiedlicher Arten der Liebe. Eine Liebe, die emotionale Annäherungen zwischen Herrschern und Beherrschten vorsieht, hat keinen Platz in der Hierarchie der Liebe. Richard führt die Liebe in extreme existentielle Bereiche. In seinem Traktat zu den vier Stufen der Liebe verbindet er sie mit der 975 Aelred von Rievaulx, De spiritali amicitia, S. 291–293, 345–350; McGuire, Friendship, S. 98ff.; Epp, Amicitia, S. 12–15; Krüger, Freundschaft, S. 55, 63–66, 148; Rosenwein, Generations S. 93; Boquet, Ordre de l’affect; John R. Sommerfeldt, Aelred of Rievaulx on Love and Order in the World and the Church, New York 2006; Ders., Aelred of Rievaulx on Friendship, in: Ancient and Medieval Concepts of Friendship, hg. v. Suzanne Stern-Gillet etc, Albany 2014, S. 227–244. 976 Siehe Kapitel IV. 9. 977 Hugo von Saint-Victor, De Archa Noe, S. 3, 77–79, 105f., 116.

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Gewalt. Liebe sei zwingend, ringe den Willen des Menschen nieder und könne daher je nach Hinwendung zum Objekt und zum geliebten Wesen gute wie schlimme Folgen haben. Richard nennt zunächst die am wenigsten verdienstvolle Liebe, die dem Wunsch nach Erfüllung nicht widerstehen kann; an zweiter Stelle steht die Liebe, die nicht vergessen werden kann; an dritter Stelle ist diejenige, neben der nichts anderes gefühlt werden kann; und schließlich stellt Richard auf der höchsten Stufe die Liebe vor, die keine Befriedigung durch irgendeinen Gewinn finden kann und aus sich selbst erwächst. Richard verwendet sowohl die Begriffe amor und caritas, die bedeutungsgleich sind. Richard entwickelt Antinomien, die die Liebe sowohl als schädlich im Zusammenhang der menschlichen Angelegenheiten, zugleich aber als verdienstvoll in der Beziehung zu Gott vorstellen. Richard bietet weitere Klassifizierungen: Die Aussagen zu den menschlichen Gefühlsregungen beginnen mit der Liebe zwischen den Ehegatten. Sie sei gut, da sie das Band des Friedens zwischen den durch die Heirat verbundenen Menschen herstelle: inter federatos pacis vincula adstringit. Sie bewirke, dass die mit der Ehe gestiftete societas unverbrüchlich bestehe und als angenehm empfunden werde; durch die Zeugung von Kindern sei ihr eine langandauernde Wirkung beschieden. Hingegen bewertet Richard diejenige Liebe als schädlich, die den Geist eintrübe, weil sie sich nicht von den Täuschungen durch die geliebte Person zu befreien vermöge, so dass die Erfüllung der Plichten vernachlässigt und die Beschäftigung mit den praktischen Angelegenheiten unmöglich gemacht werde. Noch schädlicher sei eine Liebe, der jegliche Belohnung, selbst im Diesseits, vorenthalten bleibe. Am verhängnisvollsten aber sei eine Liebe, die den Menschen ins Elend stürze, weil er ihr ohne Unterlass anhänge, ohne dass jemals ein Genuss aus ihr entspringen könne, weil der Mensch das Streben nach dem Seelenheil vernachlässigen würde. Die Liebe gilt als potentiell gefährlich für die Gestaltung menschlicher Existenz; nur ihre Hinwendung zu Gott enthebt sie jeglicher Gefahr. Ansonsten bleibt noch die Einbindung in soziale Beziehungen; sie macht die Liebe nützlich, aber doch nur in minderwertiger Ausführung. Am günstigsten ist die Bewertung der irdischen Liebe noch in der Ehe. Sie diene der Erhaltung und der Fortpflanzung des Menschengeschlechts. Liebe ist in diesem Fall universal-anthropologisch ausgerichtet, sogar unabhängig von dem christlich begründeten Liebesgebot. Ansonsten ist die Liebe in der Welt sozial und individuell zerstörerisch. Sie ziehe gewaltsam und zwanghaft die Menschen in ihren Bann; sie verhindere die Erfüllung der praktischen Aufgaben, zerstöre die soziale Ordnung und gefährde die Unterwerfung der Menschen unter ihre Herren. Liebe erweist sich so als schädlich für die Geltung und Wirkung von Herrschaft. Aber auch die wahre Liebe, die zu Gott, kann ihr zu nichts nutzen, denn sie ist nicht weniger sozial destruktiv. Richard von Saint-Victor meint, dass die Auflösung sozialer Bindungen die Voraussetzung für das Streben nach der Nähe zu Gott sei. In einer

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weiteren Liste von Formen der Liebe präsentiert Richard eine andere hierarchische Reihung, die davon abhängt, wie weit ihre Wirkung reicht, so dass nach der liebenden Beziehung zwischen Gott und den Menschen die Beziehungen unter möglichst vielen Menschen den nachfolgenden Rang einnimmt und absteigt bis zu der Liebe in der Familie. Unausgesprochen, aber immerhin potentiell möglich, kann die Liebe in sozialen Bindungen auch politisch eingesetzt werden.978 Rangabstufungen und weit ausgreifende Wirkungen der Liebe zeigt auch das Werk von Bernardus Silvestris, einem der bedeutendsten Lehrer der Kathedrale zu Chartres, über dessen Leben fast keine Informationen vorliegen und der vermutlich in den siebziger Jahren des 12. Jahrhunderts starb. Die neuplatonischen Vorstellungen von Boethius aufgreifend, beschreibt er eine durchgehende Erfassung des gesamten Kosmos durch die Liebe, die in wechselnden allegorischen Figuren agiert und an die Menschen herantritt. In seinem als Gesamtschau des Weltwissens konzipierten Werk Cosmographia, auch als De mundi universitate sive megacosmus et microcosmus benannt, sieht der Autor den Schöpfungsakt Gottes fortgesetzt in den Werken der Liebe, die der Materie ihre Form zu verleihen nicht aufhört. Die Liebe, in unterschiedlichen Metaphern vorgestellt, setzt die Welt in Bewegung. Weit davon entfernt, ein asketisches Ideal der sexuellen Enthaltsamkeit zu preisen, stellt Bernardus ein hierarchisches Gefüge der Schöpfungsakte in der Natur vor, die bis zum Sexualakt der Menschen reicht, die neues Leben schafft. So werde die durch den Tod hinterlassene Lücke in der Natur wieder aufgefüllt und das Menschengeschlecht fortgesetzt; die Waffen der Zeugung ersetzten die Verluste der Natur. Die Schaffenskraft der physis verwirkliche sich in den Werken der Menschen. Deren Leiber trügen die Schönheit und das Gute. Der edelste Körperteil sei das Haupt, als Burg und als Kapitol gedeutet; es lenke alle Glieder des Leibes. Die Liebe verbinde die Elemente der Welt und des Leibes; sie bringe die Menschen zusammen. Die von Bernardus verwendete Metaphorik von Haupt, Burg und Kapitol ist mehr als Rhetorik; sie beweist die Beherrschung durch die Liebe, deren organischer Ort der Kopf, deren aktionsauslösender die Burg und deren institutioneller das Kapitol ist. Die Metapher der Herrschaft ist einbezogen. Die Auswirkung der Liebe auf die Herrschaft hat Bernardus aber nicht behandelt. Die Sehnsucht nach der Liebe ist die Widerspiegelung einer im Kosmos waltenden Kraft. Niemand und nichts steht außerhalb von ihr.979 978 Richard von Saint-Victor, De gradibus charitatis, in: PL 196, Paris 1889, Sp. 1195–1207. 979 Cum morte invicti pugnant genitalibus armis, Naturam reparant pertuantque genus; Bernardus Silvestris, Cosmographia, S. S. 154: II, 14.151; zur Körpermetaphorik: ebda., S. 149: II, 13.11–13; Peter Dronke, Natura, and Personification, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 43 (1980), S. 16–31; Lewis, Allegory, S. 87–98; Ratkowitsch, Cosmographia, S. 109f., 116f.; Milena Minkova, Bernardus Silvestris’s Cosmographia and ist

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Nicht kosmologisch und naturhaft, vielmehr religiös, dann aber auch weltlich-praktisch präsentiert die Sammlung der Sentenzen, die Petrus Lombardus (ca. 1095–1160) aus Bibeltexten und Kirchenväterliteratur zusammenstellte und in eine systematische Ordnung brachte, das Thema der Liebe. Dieser Text wurde zum einflussreichsten des Mittelalters, wurde vielfach kommentiert, war seit dem 13. Jahrhundert Grundlage der Lehre an Universitäten und Studienanstalten der Orden. Die von Petrus Lombardus verfasste Textsammlung fand eine umfangreiche Verwendung in späteren theologischen Traktaten, im kirchlichen Recht und in den didaktischen Texten für die Seelsorge.980 Auch Petrus reiht die Liebe in eine Hierarchie unterschiedlicher Formen ein, die, absteigend von der Liebe Gottes, zur Nächstenliebe bis zur Liebe zwischen den Eheleuten reicht.981 Hinsichtlich der ehelichen Liebe übernimmt der Autor Inhalte aus Ehetraktaten, wie dem von Walter von Mortagne von der Mitte des 12. Jahrhunderts. Auswirkung auf die politische Verfassung hat die Erörterung von berechtigten Gründen, eine Ehe einzugehen. Dazu gehören auch die Herstellung von Frieden zwischen verfeindeten Familien und die Zeugung von Kindern, um die Kontinuität von Besitz und Herrschaft zu sichern. Die Schönheit des Mannes und der Frau gehört hingegen zu den weniger edlen Motiven, zu heiraten. Was wichtig ist, ist die Kohäsion des sozialen Verbandes, die aus der familiären Kohäsion hervorgeht.982 Die Kohäsion findet ihren Grund in Emotionen. Petrus Lombardus hat die liebende Zuneigung als eine Voraussetzung der Ehe bezeichnet. Er nennt den Begriff der amicitia, die zwischen Mann und Frau bestehe und aus der die eheliche Gemeinschaft erwachse. Die fleischliche Begierde habe in der Ehe ihre Berechtigung, entspringe nicht der Sünde. Zuneigung gilt auch in irdischen Angelegenheiten als Verdienst. Damit war in den theologischen und juristischen Debatten ein Tor geöffnet, der emotionalen Bindung zwischen den Gatten einen anerkannten Wert einzuräumen. Zunächst unter den Nahestehenden, die Gott zusammengefügt hat, erwächst die Liebe. Sie ist auch den Außenstehenden zu gewähren und erfährt so eine Angleichung an die Liebe, die Gott allen erweist. Die kleine familiäre Verbindung ist erweitert zu einer großen sozialen Vereinigung. Es gibt eine Form der Liebe, die der Herrscher durch sein Handeln erbringen müsste und auf die er seine Herrschaft aufrichten könnte. Die Liebe ist bei Petrus Lombardus sozial und auch politisch produktiv.983

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Optimism, in: The Journal of Medieval Latin 13 (2003), S. 127–162; Alfred Ribi, Eros und Abendland. Geistesgeschichte der Beziehungsfunktion, Berlin u. a. 2005, S. 183–189. Monika Asztalos, Die theologische Fakultät, in: Die Geschichte der Universität in Europa, Bd. 1 : Mittelalter, hg. v. Walter Rüegg u. a., München 1993, S. 359–386, S. 364–367. Katherine Strnad-Walsh, Die schola caritatis und mittelalterliche Geistigkeit, in: Il concetto di amicizia nella storia della cultura europea. Atti del XXII convegno intern. di studi italotedeschi, Meran 9.-11. 5. 1994, Meran 1995, S. 201–224. Walter de Mortagne, De sacramento coniugii, in: PL 176, Paris 1854, Sp. 153–174, Sp. 155. Petrus Lombardus, Libri IV sententiarum, pars 2, S. 167f., 422–424, 442–445, 450f.; Phi-

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Die einige Jahrzehnte später verfasste, ebenfalls kanonische Geltung erlangende Summa des Pariser Universitätstheologen Wilhelm von Auxerre († 1231) zu den Sentenzen des Lombardus weicht deutlich von der Vorlage ab. Liebe besteht nach ihm mehr im großen Verband als in der Intimität der Familie. Er sieht für die Ehe nicht die Liebe als Voraussetzung an. Die Ehe beschränke sich, schreibt er, auf die Erreichung nützlicher Ziele: Die Zeugung von Nachkommen und die Verhinderung von Unzucht (fornicatio). Nicht eine emotionale Basis, sondern die rechtliche Voraussetzung des Konsenses ist vorgesehen, durch den allein eine gültige Ehe bestehe ohne eine theologische Rechtfertigung. Der Konsens müsse nicht notwendigerweise sprachlich geäussert werden, sondern entstehe auch durch konkludente Handlungen, neben dem Sexualakt (in der Ehe), dem gemeinsamen Wohnen und der wechselseitigen Unterordnung auch durch die Macht (potestas) über den Körper des Ehepartners, denn der Mann verliere die Macht über seinen eigenen Körper, überlasse sie seiner Gattin, wie auch umgekehrt.984 Wilhelm von Auxerre mindert den Wert der Liebe in der Ehe, deren Grund er vielmehr in die Sprache der Macht einkleidet; hingegen sieht er den vornehmeren Wirkungsbereich der Liebe im großen sozialen Verband. Statt die Liebe in der hermetisch dichten Gruppe von Ehe und Familie zu verorten und statt sie exklusiv den Klöstern vorzubehalten, eröffnet er ihr ein weites Feld, das des Zusammenhalts politischer Institutionen. Er erörtert in einer Quaestio innerhalb der Summe der Sentenzen, welchen Platz die Liebe in der patria einnimmt: Er schlussfolgert, dass die Liebe, da, fern der Nahbeziehung, hingegen in der patria angesiedelt, als caritas spiritualis, nicht lediglich als caritas carnalis wie in der Familie gekennzeichnet sei. Der ordo caritatis stelle die Liebe in der patria in einen höheren Rang. Aber diese Liebe kenne keine Hierarchie hinsichtlich der sozialen Position. Sie sei stets gleich unter den Menschen. Sie trage viel zum sozialen Zusammenhalt, nichts aber zur Herrschaft bei. Wilhelm weist die Meinung zurück, dass, wenn die Menschen sich naturaliter liebten, sie sich mehr als Gott liebten und eine solche Liebe von der Liebe, die die göttliche Gnade spende, abhielte. Aber in der Herrschaft fehlt die Liebe. Dies wird allein darin kenntlich, dass Wilhelm die patria nicht mit weltlichen Herrschaftsgebieten gleichsetzt, sondern für ihn den allgemeinen Raum darstellt, in dem die Liebe unter den Menschen und zu Gott sich entfaltet. Wilhelm von Auxerre verbindet Kommentierung des theologischen Textes mit dem kirchlichen Recht, indem er die Ehe als mit dem Naturrecht konform vorstellt, diese Konformität hingegen der politischen Ordnung vorenthält, zumindest nicht explizit macht.985 lippe Delhaye, Pierre Lombard, sa vie, ses oeuvres, sa morale, Montr8al/Paris 1961; Marcia, L. Colish, Peter Lombard (Brill’s Studies in Intellectual History 27), Leiden u. a. 1993. 984 Wilhelm von Auxerre, Summa aurea. Liber Quartus, S. 380–389. 985 Ebda., S. 390–399.

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Die Bewertung der Liebe, wie sie in Texten des kirchlichen Rechts vorgestellt ist, erweitert ebenfalls den Wirkungskreis der Liebe über die Ehe hinaus in umfassendere Lebensbereiche, ohne sie freilich der Herrschaft zur Verfügung zu stellen. Nicht allein die Regulierung des Faktischen, sondern auch die anthropologische Fundierung bieten die Texte an. Das Recht ist von vorrechtlichen Voraussetzungen abgeleitet. Das Decretum Gratiani, zur Mitte des 12. Jahrhundert als geordnete Zusammenstellung der Texte des kirchlichen Rechts entstanden, bindet die Rechtsnormen an einen natürlichen Instinkt, der die Verbindung von Mann und Frau und die Erziehung der Kinder ermögliche und die Grundlage aller rechtlich verfassten Gemeinschaften auch großer Reichweite jenseits der Familien bilde. Das ius naturale durchdringt demnach alle Rechtsordnungen und hat einen Vorrang gegenüber den erst seit der Entstehung der civitas durch Kain entstandenen Gewohnheiten und Gesetzen, worunter selbst die kirchlichen fallen, auch wenn sie über dem ebenfalls erst später gesetzten weltlichen Recht stehen. Die Normenhierarchie verlangt, schädliche Gewohnheiten rechtlich zu derogieren, um sie der Offenbarung des Neuen Testaments anzupassen.986 Nur die Geltung des Naturrechts ist immun gegenüber Änderungen und schließt Optimierungen mittels von Gesetzgebungen aus. Die Liebe ist nicht als rechtliches Gebot begründet, sondern leitet sich von der natürlichen Beschaffenheit des Menschen ab, zu der auch seine ursprüngliche Vergesellschaftung gehört, die ohne Zwang gebildet wurde. Liebe begründet zwar Recht, entsteht aber nicht aus dem Recht und ist nicht vom Recht reguliert. Die spontane Zuneigung ist als Beweggrund für soziale Ordnungen anerkannt. Das gilt aber nicht für die Herrschaft. Die Liebe ist zunächst angesiedelt in einer fernen, herrschaftsfreien Vergangenheit; sie begründet Gemeinschaften; für gegenwärtige weltliche Herrschaft vermag sie keine Unterordnung einzurichten. Auch die Einbindung der Liebe in Hierarchien, wie vom Kirchenrecht nach der Zeit der gratianischen Sammlung konzipiert, scheidet die Hierarchie der weltlichen Gewalt aus dieser Verbindung aus, reserviert sie allein für die Kirche. Die gesteigerte Bewertung der Liebe in den theologischen und kirchenrechtlichen Texten führte sie zwar in hierarchische Abstufungen, trennte sie aber von Verwendung in der Herrschaft – gerade wegen der Herausnahme ihrer höchsten Formen aus den Üblichkeiten des Lebens. Die Hierarchie der Liebe machte ihre höchsten Form ungeeignet, in die – gemäß den Theologen und Kanonisten – Niederungen der Herrschaft eingesetzt zu werden. Hierarchie der Liebe und Hierarchie der Herrschaft standen beziehungslos nebeneinander. Nur 986 Corpus iuris canonici, I, Sp. 1–3, 7, 11, 12f., 15f., 19–22: D.1,c. 7; D. 1, c.7; D. 1. c. 9; D. 6, c. 3; D. 5, pars 1; D. 7, Pars 1; D.7, c. 1; D. 8, pars 1; D. 8, c. 1–8; D. 10, c. 1–13. Philippe Delhaye, Permanence du droit naturel, Löwen, Lille 1967, S. 67–74; Dario D. Composta, Il diritto naturale in Graziano, in: Studia Gratiana 2 (1954), S. 151–210.

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als defizitäre, minderwertige Form wirkte die Liebe sozial produktiv zur Herstellung und zum Erhalt von Gemeinschaften. Aber diese Wirkung reichte nicht bis in den Bereich der Herrschaft. Ihr war die Liebe vorenthalten, deren Fehlen umso widriger war, als der Liebe im 12. Jahrhundert ein höherer Wert zukam. Zwischen Herrschaft und Liebe klaffte ein Graben, der schwer zu überbrücken war.

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Liebe wurde nicht nur im monastischen Umfeld als tiefes Empfinden, als Abwendung von der Routine des banalen Lebens und als Emporhebung aus den Üblichkeiten interessegeleiteten Handelns gedeutet. Liebe wurde ein Thema auch der Lebensführung von Laien. Auch diese Liebe wurde aufgewertet. Liebe als Leidenschaft, als Verlangen, als Begehren nach Nähe zum Geliebten, als Streben nach sexueller Erfüllung wurde seit dem 12. Jahrhundert in historiographischen, fiktionalen und theoretischen Texten präsentiert. Die Beziehung der Liebe zur Herrschaft war insofern gegeben, als die Liebe sozial exklusiv gestaltet war, sie von nur wenigen dargebracht und nur an wenigen Orten – den Höfen – verwirklicht werden konnte. Die Liebe, gerade weil sie in Dienst und Demut geleistet wurde, kennzeichnete den hohen sozialen Rang, führte das Prestige vor. Insbesondere den edlen Frauen waren die Dienste darzubringen und vorzuführen. Am Anfang dieser Vorstellung einer solchen Liebe, die die Adeligen veredelt, ihren Rang begründet und kündet, stand das Werk Historia regum Britanniae, von dem englischen Autor Geoffrey de Monmouth um 1137 geschrieben, das das Sujet der Artusritter und ihrer veredelnden Liebe zu den Frauen in die europäische Literatur einführte, indem aus einer angeblichen historischen Faktizität von Ereignissen die Fiktionalität von Erzählungen geformt wurde. Bereits Geoffrey hat den Liebesdienst dargestellt. Er schreibt über die für alle anderen Königreiche vorbildlichen edlen Männer und Frauen Britanniens: Die anmutigen Frauen gewährten keinem anderem ihre Liebe, als demjenigen, der sich im Kampf dreimal bewährt habe. So seien die Frauen reiner und besser und die Ritter wegen der Liebe zu ihnen tüchtiger als andernorts.987 Liebe ist sozial eng 987 Facetae etiam mulieres (…) nullus amorem habere dignabunter nisi tercio in milicia porbatus esset. Efficienbantur ergo castae et meliores et milites pro amore illarum probiores; Geoffrey of Monmouth, De gestis Britonum (Historia regum Britanniae), hg. v. Michael D. Reeve, Woodbridge 2007, S. 212; über die große handschriftliche Verbreitung und umfangreiche Rezeption in Europa seit dem 12. Jahrhundert, ebda., S. vii f. sowie ausführlich: Julia C. Crick, The Historia regum Britanniae of Geoffrey of Monmouth, Bd. 4: Reception in the Later Middle Ages, Cambridge 1991.

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eingefasst, verlangt Kampf, ist in einer Öffentlichkeit der ranghohen Menschen zu erringen, wird in ihr gewährt, hebt das Prestige, führt zur moralischen Perfektionierung, beruht auf der Bewertung der Männlichkeit durch die liebenden Frauen, wird am Herrscherhof vorgeführt.988 Wenn die Liebe in ein Geschehen fern einer Wahrheitsanforderung hinsichtlich des historischen Faktums gestellt war, gab es eine freie Gestaltungsmöglichkeit, um Bedeutungen, Ursachen und Wirkungen der Liebe darzustellen. Imaginierte Welten wurden entworfen. Sie standen gleichwohl nicht abseits einer sozialen Funktion, da sie erklärten, wie die Formen menschlicher Beziehungen gestaltet, wie Handlungen motiviert und wie Motive bewertet wurden. Die Aneignung der Welt erfolgte über die Konstruktion einer Welt, die gerade wegen der eingehaltenen Ferne zur unmittelbaren Nützlichkeit deren Wirkweisen deutete, ohne stets eingebunden zu sein in den Erfordernissen des praktischen Handelns. Die Erotisierung und Intensivierung der Liebe stellten einen Kontrast dar zur institutionalisierten und asketischen Liebe, wie sie in den geistlichen Gemeinschaften praktiziert zu werden behauptet wurde. In unterschiedlichen sozialen Milieus und durch unterschiedliche Textgattungen wurde der Liebe im 12. Jahrhundert größerer Wert zugewiesen. Die literarische Produktion und Vorführung der erzählten Liebe stand den herrschaftlichen Institutionen nahe. Es gab auf diese Weise einen Weg für die Herrscher, Zugang zu den Manifestationen der Liebe zu finden. Dies geschah erstens, indem die in den Texten dargestellte Liebe einem realen Ort zugewiesen war, für den die Texte bestimmt waren und an dem die Texte vorgeführt wurden: Es war der Ort der Herrschaftspraxis, der Hof. An den Höfen der Herrscher und Adligen entfaltete sich im 12. Jahrhundert die Thematik der Liebe, die poetisch fiktional, zugleich sozial angebunden war, da sie exklusiv unter Adligen präsentiert wurde.989 Eine zweite Verbindung zu den sozialen Fakten bestand in der Vorführung von Idealen, die zwar nicht notwendigerweise als Vorbilder – also zur Nachahmung empfohlen – gestaltet waren, aber zu Vergewisserungen hinsichtlich von sozialen Verbindungen beitrugen, die den Bedarf an einer Idealisierung und Legitimierung der Praxis stillten und die Möglichkeit boten, die Herrscher und ihre adligen Vasallen als zu edlen Empfindungen und Tätigkeiten befähigte 988 Eine feministische Deutung bei Laura D. Barefield, Gender and History in Medieval English Romances and Chronicles, Cardiff 2003, S. 13f. 989 Erich Köhler, Gattungssystem und Gesellschaftssystem, in: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 1 (1977), S. 7–22; Schnell, Höfische Liebe, S. 231–301; Ders., Sexualität und Emotionalität in der Vormoderne, Köln u. a. 2002, S. 421–446; Michel Stanesco, Courtoisie et soci8t8 de cour au moyen .ge, in: Histoire de la France litt8raire. Tome 1: Naissances, Renaissances. Moyen .ge-16e siHcle, hg. v. Frank Lestingant, Michel Zink, Paris 2006, S. 622–645.

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Personen zu stilisieren, die in der Lage seien, Emotionen zu verstehen, über sie zu sprechen, sie zu gestalten, sie von eigennützigen Interessen zu reinigen, sie zu subtilen, nicht allen Menschen zugänglichen Manifestationen menschlicher Existenz zu steigern und sie in Konzepte zu fassen. Die Textinhalte formten die Sprechweisen und brachten die Verständigungen hervor, die Liebe als Gesprächsthema einführten, die Herrscher und die Adeligen zur Liebe befähigt erklärten und die Bewertung der Liebe steigerten. Neben einem christlichen Verständnis der Liebe traten weltliche. Sie war von der Erfüllung sozialer Pflichten entlastet, aber aufgrund ihrer Zweckfreiheit geeignet, die Vortrefflichkeit derjenigen vorzuführen, die der Unterwerfung unter den Willen anderer und der Zweckbestimmung durch andere enthoben zu sein behaupteten und die Pflichten ausschließlich als freiwillig geleisteten Dienst deuteten. Die Selbstbestimmung der Liebenden, die frei und einvernehmlich eine Bindung eingingen, fand Eingang in die Literatur. Die literarisch geformte Idealisierung war begleitet von einer sozialen und rechtlichen Entwicklung, die nicht allein die exklusiven Kreise der Mächtigen erfasste, vielmehr sozial weit ausstrahlte, das Leben aller Christen betraf, indem im Kirchenrecht neue Normen auftraten, die seit der Mitte des 12. Jahrhunderts den Konsens bei der Eheschließung einforderten. Der Konsens war nicht gleichbedeutend mit der Liebe, aber er legte eine Grundlage, der Ehe und der Familie Emotionen zuzuführen, sie auf der Basis von Zustimmung und Zuneigung fester zu fügen und sie von einer Beziehung der Liebe entspringen zu lassen.990 Die freiwillige Bereitschaft, Bindungen einzugehen, gewann einen gesteigerten Wert bei der Beschreibung menschlicher Taten und für die Konstituierung von Institutionen. Die Individualisierung der Person, deren Willen wichtig war, widersprach nicht ihrer Soziabilität, veränderte aber die Voraussetzungen der sozialen Ordnung, die stärker als vor dem 12. Jahrhundert den persönlichen Entscheidungen entsprechen und ihrer Entfaltung förderlich sein sollte. Die Menschen waren zunehmend herausgefordert und für fähig gehalten, ihre Emotionen mit ihren sozialen Bindungen zur Übereinstimmung zu bringen, um so ihre persönliche Einzigartigkeit vorzuführen und über sie zu reflektieren. Diese Vorgänge, von der Forschung als Individualisierung bezeichnet, die die Gesellschaften im 12. Jahrhundert erfasste, ragten auch in die Herrschaft und in die Vorstellunen über sie. Drittens war die Verbindung zur Herrschaft geschaffen, wenn die Entstehung der literarischen Werke einzelnen Herrschers zugeschrieben wurde. Wenn sie als 990 Angenendt, Ehe, S. 525–552, 597–603; Gabriela Signori, Von der Paradiesehe zur Gütergemeinschaft. Die Ehe in der mittelalterlichen Lebens- und Vorstellungswelt, Frankfurt a. M. 2011, S. 68–97.

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Autoren von fiktionalen Texten bezeichnet waren, die selbst die Liebe thematisierten, war dies vielfach nichts anderes als Fiktion, aber sie fanden auch dann Anschluss an ein literarisches Ideal und erwarben Kennzeichen sozialer Distinktion, so dass ungeachtet des fiktiven Geschehens in einer imaginierten Welt die faktische Vorrangstellung in den sozialen Beziehungen verstärkt wurde. Auch Herrscher konnten in die Reihen derjenigen einrücken, die sich der Verfassung von Liebeslyriken widmeten und rühmten, so wie dies in der Manessischen Handschrift vorgeführt wurde, in der neben vielen anderen Kaiser Heinrich VI. als Autor genannt war.991 Ein viertes Band zwischen Fiktion und Herrschaft war geknüpft, wenn fiktionale Texte das Thema der Liebe in das Sprechen über Macht und Herrschaft einführten, also deren Realität in Fiktionen formten. Liebe war selbst Macht, Liebe diente der Macht, Liebe war von den Mächtigen einzusetzen. Liebe war aber auch gefährlich für die Macht, denn sie barg das Potential, soziale und politische Ordnung zu unterminieren und sie außer Kraft zu setzen. Sie entzog sich Regeln. Die Liebe trat in Konkurrenz zur Macht. Dies geschah aber nur in einem erfundenen Geschehen, so dass die Spannung zwischen Liebe und Macht zu narrativen Komplexitäten führte, aber die Realität der Herrschaft intakt hielt, sie zum Sujet der Erzählung machte und ihr innerhalb einer Erfindung mit einem hohen Wert, dem der Liebe, in Verbindung brachte. Wenn die Liebe die Mächtigen einfing, sie in ihr Joch zwang, ihren Willen lenkte, dann geschah dies abseits der realen Herrschaftsordnung, war aber in einer Erzählung gestaltet, die die Herrschaftsordnung in eine Fiktion leitete, in der sie der Liebe zugewandt war, gerade auch wenn dies zu konfliktreichen Komplikationen und zu Spannungen zwischen gegensätzlichen Ansprüchen und Bewertungen führte. Die Liebe gewann mit der Fiktionalisierung an emotionaler Stärke, vereinte Individuen – dies nicht selten auf Kosten der sozialen Disziplin, unter Missachtung politischer Opportunitäten, aber mittels des spielerischen Vorführens von Vorrang und Gewalt. Die Freundschaft und die Liebe, die aus dem Zwang abgelöst sein sollten, Nutzen zu mehren, waren nur scheinbar politischen und militärischen Zwecken enthoben, vielmehr tatsächlich geeignet, Herrschaft mit Attributen des Vortrefflichen, des Außerordentlichen und des Herausgehobenen zu markieren, die durch die Manifestation der Uneigennützigkeit vorgeführt waren, die der Liebe würdig sein sollte. Es war zu zeigen, wie sehr die massenhaften, imaginiert grenzenlosen Ressourcen der Macht, d. h. die Verfügungen über Personen und über Gegenstände, Zweckoptimierungen in den liebenden Beziehungen entbehrlich machten und Liebe stattdessen zum unvermittelten, keinem Gewinn anstrebenden Wert erhoben, dem daher eine Unterordnung unter die Ziele gesellschaftlicher Konvention 991 Digitalisierte Handschrift: digi.ub.uni-heidelberg.de, fol. 6r-v ; Ashcroft, Power.

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erspart blieb, aber als Folge der Entrückung von der Lebenswirklichkeit Vortrefflichkeiten aufleuchten ließ.992 Freigebigkeit und generöser Verzicht, Spontaneität der Zuneigung und nicht berechnende Gewährung von Gunst galten als Kennzeichen desjenigen, der einen Vorrang innehatte und ihn vorführte. Die Liebe schien den Niederungen politischer Rationalität enthoben zu sein, und gerade wegen dieses Anscheines führte die Idealisierung der Liebe das Machtgefälle umso deutlicher vor. Die literarische Gestaltung des Themas präsentierte Allegorien, die auch Allegorien der Macht waren.993 Die Liebe wurde im 12. Jahrhundert an den Höfen der Herrscher und Adligen nicht nur fiktional gestaltet, sondern auch analysiert. Dies leistete Andreas Capellanus (1174–1238). Über den Autor ist wenig bekannt. Unbestritten lebte er in Nordfrankreich und war Kleriker. Wie er selbst in seinem Werk angab, sei er Kapellan am königlichen Hof gewesen – an welchem, schrieb er nicht. Unsicher ist überdies, ob diese Angabe nicht genauso wie sein Werk selbst als allegorische Transposition aufzufassen ist. Offensichtlich spielte der Autor ein Versteckspiel mit seiner Biographie, genauso wie er seine Auffassungen changierte. Eine intensive Rezeption der Schrift setzte erst später, am Ende des Mittelalters ein; Autoren der Renaissance würdigten sie. Nur acht Handschriften sind überliefert. Jedoch können die Erörterungen von Andreas als Beweis einer theoretischen Reflexion zur Liebe im hohen Mittelalter angesehen werden.994 Andreas hat die Berechtigung einer Liebe erörtert, die fern der Zwänge sozialer Funktionalisierung steht und sogar der sozialen und politischen Ordnung gefährlich werden kann. Liebe entfalte, so Andreas, große Wirkung. Sie sei sowohl zerstörerisch als auch förderlich. Sie unterwerfe und sie befreie. Andreas hat den amor als einen Trieb vorgestellt, der ungezügelt und meist wider die Vernunft die Menschen aneinander binde, sie häufig wider ihre Absichten zu Handlungen treibe und familiäre und soziale Bande sprenge. Weil sich die Liebe vor allem außerhalb der Ehe unverfälscht, die Emotionen aufwühlend, die Seelen verbindend, verwirkliche, entziehe sie sich moralischen Regeln. Sie folge ihren eigenen Geboten. Andreas erachtet den amor als eine blinde Kraft, geeignet, den Menschen seines Verstandes zu berauben, zufällig eingreifend und angreifend, ohne die Möglichkeit einer freien Wahl zu lassen, weil sie aus einem dem Menschen fremd bleibenden Entstehungsgrund entspringe und impulsiv anstachele. Der liebende Mensch sei der Liebe ausgeliefert. Amor sei eine passio, hervorgegangen aus einer maßlosen Beschäftigung mit der geliebten Person. 992 Jaeger, Ennobling Love, S. 11f., Ders., L’amour des rois. Structure sociale d’une forme de sensibilit8 aristocratique, in Annales ESC 43 (1991), 547–572; Ashcroft, Power, S. 211f. 993 Lewis, Allegory ; Jaeger, Origins; Helmut Kuhn, Liebe. Geschichte eines Begriffs, München 1955; John Chydenius, The Symbolism of Love in Medieval Thought, Helsinki 1970; Haug, Höfische Liebe. 994 Nachwort von Fritz Peter Knapp zu: Andreas Capellanus, De amore, S. 591–604.

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Wer liebe, so Andreas, werde von den Fesseln begehrender Leidenschaft gefangen gehalten.995 Im dritten Buch seines Traktates zeigt Andreas die paradoxen Wirkungen der Liebe. Er warnt vor ihren Gefahren; sich ihr zu enthalten sei besser ; sich aus ihren Fesseln zu befreien, befähige den Mensch zu gutem Taten. Die Liebe verhindere die Vervollkommnung des Menschen und ebenso die Herstellung günstiger Lebensbedingungen. Andreas begründet seine Auffassung mit der Schlechtigkeit der Frauen, die er als Verursacher und als Objekte der Liebe vorstellt. In einem ausführlichen Katalog der Laster entfaltet Andreas ein Panorama mysogener Auffassungen, die nicht allein die Frauen, sondern auch die Liebe ihrer Würde entkleiden. Der ironische Duktus des Traktates von Andreas Capellanus entzieht sich aber einer eindeutigen Schlussfolgerung und macht die Aussage ambivalent. Gerade weil die Liebe nicht in ein geordnetes Leben eingefügt werden kann, steigert sie das Empfinden. Der Text ist keine Handlungsanweisung für Liebesbeziehungen, trotz der eingefügten Musterdialoge, die zeigen, wie ein Mann um die Gunst einer geliebten Frau wirbt. Wohl aber wirkt der Inhalt der Schrift auf die Behandlung der Liebe in der höfischen Literatur ein, und er führt die a-soziale, sich gesellschaftlichen und herrschaftlichen Anforderungen entziehende Wirkung der Liebe vor Augen. Die Darstellung einer Liebe, die gesellschaftliche Ordnung wegfegt, erschien aber verdächtig zu sein. Deswegen wurde – zusammen mit anderen Werken – die Schrift De amore unter das Verbotsverdikt des Bischofs von Paris, Etienne Tempier, vom Jahre 1277 gestellt. Das Verbot zeigt, wie bedeutsam die Schrift erachtet wurde und wie weit reichend ihre Wirkung offensichtlich war, trotz des geringen handschriftlichen Bestandes.996 Auch die höfischen Romanen enthalten Reflexionen zur Liebe. Die Liebe zur geliebten Frau, auch Ehefrau, birgt die Gefahr, zu groß zu werden, den Liebenden gänzlich einzufangen, so dass er seine Pflichten als Ritter vernachlässigt und sich dem Hof entfremdet. Die Missachtung der sozialen Stellung und Aufgabe 995 Andreas Capellanus, De amore, S. 10ff.; Paul Zumthor, Notes en marges du trait8 de l’Amour de Andr8 le Chapelain, in: Zeitschrift für romanische Philologie 63 (1943), S. 178– 191; Gustave Vinay, Il »De amore« di Andreas Capellanus nel quadro della letteratura amorosa e della rinascita del secolo XII, in: Studi Medievali 17 (1951), S. 203–276; Felix Schlösser, Andreas Capellanus, seine Minnelehre und das christliche Weltbild um 1200, Bonn 1960; Barbara Gaffney, Andreas Capellanus and the Myth of Courtly Love, Ann Arbor 1977; Alfred Karnein, La reception du De amore d’Andr8 le Chapelain au 13e siHcle, in: Romania 102 (1981), S. 324–351; Ders., De amore in volkssprachiger Literatur. Untersuchungen zur Andreas-Capellanus-Rezeption in Mittelalter und Renaissance (Germanischromanische Monatsschrift, Beiheft 4), Heidelberg 1985; Rüdiger Schnell, Andreas Capellanus. Zur Rezeption des römischen und kanonischen Rechts in »De Amore«, München 1982. 996 Ebda., S. 21ff.; Francesco Colombo, La struttura del De amore di Andrea Cappellano, in: Rivita di filosofia neo-scolaistica 89 (1997), S. 553–624, S. 553.

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zieht dann auch den Verlust der Liebe nach sich. Chr8tien de Troyes (um 1140– 1190), der im Umfeld des Hofes der Grafen der Champagne lebte, dort Förderung erfuhr, einer der ersten Epiker der französischen Literatur war und weitreichenden Einfluss auf die europäische einschließlich deutsche Literatur des Mittelalters ausübte997, hat dieses Motiv in seinem Erstlingswerk »Eric et Enide« gestaltet. Wie Liebe den Liebenden in ihren Bann schlägt, wie sie ihn unterjocht und wie sie ihn seiner Würde, seines Ranges und seines Reichtums beraubt, ihn in seinen Dienst zwingt, sein Wesen aber dadurch veredelt und sein Betragen verfeinert, zeigt Chr8tien in dem Roman »Le chevalier de la charette«, in dem der Protagonist Lancelot, in Liebe zur Königin, der Gattin von König Artus, entflammt ist, sie aus der Hand ihrer Entführer retten will, ihr in einem Karren hockend nachfolgt, was als besonders ehrlos gilt, da auf dem Karren sonst die verurteilten Verbrecher zur Schau gestellt werden. Aber um die geliebte Königin GueniHvre zu befreien, nimmt Lancelot diese Demütigung und die aus ihr entspringenden Beschimpfungen durch viele Personen, denen er begegnet, auf sich. Aus Liebe ist er bereit, die Würde seines Standes, eines Adligen am Hof des Königs, zu opfern. Aber die ostentative Erniedrigung erhöht letztlich den Rang von Lancelot. Auch indem der Hauptprotagonist Zorn und Furcht bezähmt, erweist er sich der Liebe würdig; so steigert er sein Ansehen. Der Roman, in andere Volkssprachen übersetzt, beschreibt eine aufopfernde Liebe, die sich über gesellschaftliche Schranken hinwegsetzt, die soziale Differenzierung scheinbar missachtet und damit auch Ordnung umstöbt, ja den Helden dazu antreibt, sich der Lächerlichkeit preiszugeben – dies freilich in einer Erzählung, die keinen Realitätsanspruch erhebt und deswegen auch nicht auf die Praxis einzuwirken vorgibt, gleichwohl aber eine Idealisierung entwirft, die allein durch den Kontrast zu Realität Aufsehen erregt und als Thema allein sozial hochstehenden Personen zugänglich ist. Die Erzählung vermag noch mehr : Sie zeigt, wie in einer paradoxen Wirkung aus der Demütigung die Hochachtung entsteht. Nur dem Mächtigen ist freiwillige Erniedrigung möglich. Aufopferungsvoller Dienst in der Liebe zeichnet den Mächtigen am Hof aus. Dieser Dienst ist nur ihnen möglich, den anderen versagt.998 Wenn Georges Duby von 997 Chr8tien de Troyes and the German Middle Ages, hg. v. Martin H. Jones, Cambridge 1993. 998 Chr8tien de Troyes, Eric et Enide, in: Oeuvres completes (BibliothHque de la Pl8iade), Paris 1994, S. 3–169, S. 32, 61–63; Ders., Lancelot ou le chevalier de la charette, ebda., S. 505–682; Fanni Bogdanow, The Love Theme in Chr8tien’s Chevalier de la Charette in: Modern Language Review 67 (1972), S. 50–61; Gerald Morgan, The Conflict of Love and Chivalry in Le chevalier de la Charette, in: Romania 102 (1981), S. 177–201; Zara P. Zaddy, Le chevalier de la charette and the De amore of Andreas Capellanus, in: Studies in Medieval Literature and Languages in Memory of Frederick Whiteland, hg. v. W. Rothwell, New York 1973, S. 363–399; Xenia von Ertzdorff, Tristan und Lanzelot. Zur Problematik der Liebe in den höfischen Romanen des 12. und frühen 13. Jahrhunderts, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift N. F. 33 (1983), S. 21–52; Anatole Pierre Fuksas, Ire, Peor and their Somatic

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einer Opposition lebenswirklicher und literarisch gestalteter Liebe ausgeht, führt ihn diese Prämisse zu einer nicht angemessenen Deutung, die das Lächerliche (ridicule) als Devianz von der Rollenerwartung ausgibt.999 Aber es ist ja gerade die inszenierte und überdies noch fiktionale Devianz, die die soziale Position stärkt. Liebe wird gezeigt, weil sie sozialen Rang festlegt. Sie beruht nicht nur auf unmittelbarer Eingebung und bezwingender Unterwerfung. Sie ist eine Befähigung, die erlernt werden kann und auch erlernt werden soll von denjenigen, die eine höfische Existenz führen und dem Adel angehören. Der Vorgang ist als eine Veredelung der charakterlichen Eigenschaften vorgestellt. Chr8tien de Troyes und später Wolfram von Eschenbach zu Beginn des 13. Jahrhunderts gestalteten in ihren Parzival-Romanen den Erwerb der Liebesfähigkeit als Prozess, der die Einsicht in eigene Gefühle, vor allem aber in die von anderen verlangt. Es ist die Fähigkeit zur Empathie, die als Voraussetzung der Liebe gilt. Der Held Parzival erwirbt diese Fähigkeit nach einem mühevollen und jahrelangen Lernen. Die Verfeinerung des ursprünglich rohen, zu zivilisiertem Umgang unfähigen und deswegen auch zur Liebe nicht bereiten Protagonisten geschieht durch kluge Lehren anderer, vor allem aber durch schmerzliche Erfahrungen, in die ihn seine charakterlichen Unvollkommenheiten stürzen. Als Ergebnis des Lernens und Erfahrens wird Parzival, so wenigsten in der vollendeten Fassung von Wolfram, zur Veredelung geführt.1000 Liebe wird auch als Zwang vorgeführt, der den freien Willen aufhebt. Die Tristanromane, angefangen von dem von B8roul um 1180, zeigen diese Liebe, deren Wirkung auf geheimnisvollen Zauberkräften beruht, die sich einer rationalen Erklärung entziehen und die Liebenden gegen ihre Absichten unüberwindlich einfangen. Liebe verbindet zwei Personen miteinander, die, trotz der ihnen auferlegten Gebote und der sie trennenden Standesunterschiede, trotz der Loyalität zu konkurrierenden Herrschern und zu unterschiedlichen Familien, nicht voneinander lassen können und deren Körper erst nach ihrem freiwilligen gemeinsamen Tod voneinander gelöst werden. Die Opposition zur gesellschaftlichen Norm stürzt das Paar, Tristan und Isolde, in einen nicht lösbaren Konflikt, der in der deutschen Version des Romans von Gottfried von Strabburg († 1210) nur durch eine allegorische Überhöhung in eine harmonisierende Correlates in Chr8tien’s Chevalier de la Charette, in: Emotions in Medieval Arthurian Literature. Body, Mind, Voice, hg. v. Frank Brandsman u. a., Manchester 2018, S. 67–86. 999 Georges Duby, Que sait-on de l’amour en France au 13e siHcle, in: Ders., M.le au moyen .ge. De l’amour et autres essais, Paris 1988, S. 34–49, S. 44. 1000 Chr8tien de Troyes, Parcival, in: Oeuvres completes (BibliothHque de la Pl8iade), Paris 1994, S. 683–911, S. 698f.; Wolfram von Eschenbach, Parzival, Berlin 1998; Anja Russ, Kindheit und Adoleszenz in den deutschen Parzival- und Lancelot-Romanen. Hohes und spätes Mittelalter, Stuttgart 2000.

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Wendung endet: In einer Grotte, fern jeder menschlicher Behausung und fern aller gesellschaftlichen und religiösen Gebote, erfüllt sich ihre Liebe.1001 Die Sexualität verbindet Menschen, auch wenn ihre soziale Positionen nicht kompatibel sind. Die Sexualität öffnet dem Individuum das Tor, aus sozialen Zwängen hinauszutreten. Wenn Gottfried von Straßburg Lehren zur Moral aus dem Geschehen ableitet, setzt er doch voraus, dass Liebe auf dem freien Willen beruht, was den in den französischen Vorlagen von B8roul und Thomas d’Angleterre vorgestellten Automatismus der gegenseitigen Zuneigung und die daraus folgende Unerkennbarkeit der Liebe überwindet. So wird das Thema der Liebe aus einem triebhaften Verlangen, das überdies pharmakologisch – durch einen Zaubertrank – entsteht, herausgeführt und gesellschaftlich positioniert und damit eigentlich erst an die Herrscherhöfe eingebunden, in denen eine zivilisatorisch gebändigte und zugleich emotional gesteigerte Liebe gedeiht.1002 Ob nun die Individualisierung tatsächlich im 12. Jahrhundert ihren Ausgangspunkt genommen hat1003, bleibe dahingestellt, jedenfalls stieß das Reden über Liebe ein Tor auf, um über selbstgewählte Bindungen und selbstgesetzte Zwecke zu sprechen, zu schreiben und zum Verstehen zu bringen. Anders als lediglich die Zurschaustellung sexueller und generativer Potenz, auf die freilich weiterhin Adelige und Herrscher Anspruch erhoben und die sie durch die Quantität von Sexualpartnerinnen und natürlichen Kindern vorführten1004, war die Qualität der emotionalen Beziehung Ausweis der Nobilität und Exklusivität. Die Texte zeigten eine Liebe, die nur fiktiv aus der Verfügung der Herrscher entwunden und sozial nicht einsatzfähig war, aber eine reflektierte Vergewisserung des eigenen Selbst verlangte, was als soziale Distinktion galt, so dass die soziale Exklusivität intakt gehalten wurde. Gerade weil die Liebe aus einer praktischen Realität herausgehoben und in eine erzählte Welt eingebettet wurde, entstand soziale Positionierung, die wiederum auf die Realität einwirkte. Die 1001 B8roul, Le roman de Tristan, hg. v. Jean C. Payen, Paris 1978; Thomas d’Angleterre, Tristan, hg. v. Jean C. Payen, Paris 1978; Gottfried von Strabburg, Tristan, hg. v. Gottfried Weber/ Gertrud Utzmann/Werner Hoffmann, Darmstadt 1966; Pierre Le Gentil, Die Tristansage in der Darstellung von B8roul und Thomas d’Angleterre, in: Der arthurische Roman, hg. v. Kurt Wais, Darmstadt 1970, S. 134–164; Burghart Wachinger, Zur Rezeption Gottfrieds von Strabburg im 13. Jahrhundert, in: Deutsche Literatur des späten Mittelalters. Hamburger Colloquium 1973, hg v. Wolfgang Harms, Berlin 1975, S. 56–82; Dietmar Mieth, Dichtung, Glaube und Moral. Studien zur Begründung einer narrativen Ethik mit einer Interpretation zum Tristanroman Gottfrieds von Strabburg, Tübingen 1976; Thomas. Hunt, The Significance of the Thomas’ Tristan, in: Reading Medievl Studies 7 (1981), S. 41–61; Walter Haug, Gottrieds von Strabburg »Tristan«. Sexueller Sündenfall oder erotische Utopie, in: Kontroversen – alte und neue. Akten des 7. Intern. GermanistenKongresses Göttingen 1985, Bd. 1, hg. v. Albrecht Schöne, Tübingen 1986, S. 41–52. 1002 Linden, Epische Umsetzung, S. 127. 1003 Bynum, Did the Twelfth Centruy Discover the Individual? 1004 Martin Aurell, La noblesse en Occident (5e-13e siHcles), Paris 1996, S. 66f.

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emotionale Steigerung entfaltete ein Variieren der erzählten Welten, bot eine Transzendenz des in die Üblichkeiten eingepferchten Lebens an, lockerte – scheinbar und fiktiv – die Verbindlichkeiten familiärer Existenz, löste die Bindung an Notwendigkeit und Zwang.1005 Die Pflege der Innerlichkeit, die individuelle Empfindungen zum sprachlichen Ausdruck brachte, war seit dem 12. Jahrhundert in den literarischen Texten ausgeführt. Soziale Bindung erwuchs aus dem Gefühl; es durfte nicht erzwungen werden; oder – wie es Chr8tien de Troyes formulierte: Qui a le cuer, cil a le cors.1006 Die Gefühle waren eingepackt in Fiktionen; diese waren in performativer Weise dem sozialen Ort des Hofes eingewoben. Sie formten die Lebensideale der – wenigen – Menschen, die die Texte rezipierten und diese Rezeption zur Vorführung ihrer sozialen Vortrefflichkeit einsetzten und einsetzen ließen. Die Fülle, die die Liebe dem Leben verlieh, bürdete emotionale Lasten den Individuen auf, wenn sie den Voraussetzungen des vorbildlichen Lebens gerecht zu werden beanspruchten. Die Texte der Fiktion mahnten, die Liebe nicht in das Irreale abdriften, sondern auf die reale Lebenswirklichkeit einwirken zu lassen. Der Eintritt in das Leben geschah dank der Zuversicht, Menschen miteinander zu verbinden. Dabei waren die Anforderungen der zweckhaften Kooperation mit denen der individuellen Verwirklichung von Emotionen zu kombinieren. Die Romanfigur von Chr8tien de Troyes, Eric, hatte diese Aufgaben zunächst nicht geleistet. So riskiert er beides zu verlieren: die Liebe der Ehegattin und die soziale Position am Hof. Es ist in der Tat eine heikle Herausforderung, ist doch der Überschuss an Emotionen nicht allein zur Kompensation einer alltäglichen Einpferchung in den Notwendigkeiten und Zwecken hervorzubringen, sondern auch zur Motivierung von Waffentaten einzusetzen. Die emotionale Überhöhung soll gelingen, wenn sie sozial verfeinert gestaltet wird, als Errungenschaft kultivierten Benehmens eingesetzt ist. Die Begriffe von Urbanitas und curialitas werden zu einem Amalgam eingeschmolzen. Sie benennen die soziale Exklusivität und markieren diejenigen, die als Mächtige dazugehörten. Die Steigerung von Liebesdrang und Liebesfähigkeit war zwar zunächst ein Thema des Sprechens und Zuhörens, trat in Texten auf, drang aber gleichwohl in das soziale Leben der am Diskurs Beteiligten, also der Adligen, ein, erfasste so

1005 Waltraud Fritsch-Rößler, Finis amoris. Ende Gefährdung und Wandel von Liebe in hochmittelalterlichen deutschen Romanen (Mannheimer Beiträge zur Sprach- und Literaturwissenschaft 42), Tübingen 1999, S. 207. 1006 Chr8tien de Troyes, CligHs, in: Œuvres complHtes (BibliothHques de la Pleiade), Paris 1994 S. 171–356, S. 248. Diese Textvariante entspricht dem aktuellen Editionsstand statt der nun überholt anzusehenden Phrase: Qui a le cuer, si ait le cors, die durch den Konjunktiv eine Normativität ausdrückt.

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auch die Begründung und Ausübung von Herrschaft.1007 Weil die Liebe in einem Regelwerk der sozialen Kompetenzen eingefangen war, war sie nicht einer »Mentalität« verhaftet, die aus Quellen einer seelischen Innerlichkeit entsprang, sondern entstand aus der Praxis der Herrschaftsnähe. Die Fiktion der Liebe ermöglichte auch, Einheitlichkeit von Regeln und Üblichkeiten hinter sich zu lassen. Gestörte Ordnungen wurden vorgeführt. Die Störung blieb aber in dem Bereich des Imaginären eingeschlossen. Ihre Darstellungen entlasteten von bedrückendem Zwang und stabilisierten so die Ordnungen des sozialen und politischen Vorranges. Die Liebe war anders verstanden worden, als in der Antike und stellte auch eine Herausforderung dar gegenüber einer christlich fundierten Liebe. Eine impulsiv aufgeladene, das Individuum bezwingende Liebe, die als Ideal vorgeführt wurde, war weniger geeignet, als Tugend gepflegt zu werden. Sie unterlag weniger moralischen Anforderungen. Liebe als Beziehung zwischen zwei Menschen war selbst in der Form einer Freundschaft im Kloster verworfen, galt als Enklave der Absonderung. Die Liebe, sofern sie in eine enge zwischenmenschliche, zweiseitige und daher hinsichtlich der Beteiligten beschränkte Relation eingebunden war, stand ja in Gefahr, umfassende soziale Konventionen zu missachten, sich Normen zu entziehen und sogar Alternativen zu der christlichen Universalliebe aufzuzeigen, weil die Liebe als authentische Äußerungen von Individuen vorgeführt wurde, ohne auf sie Herrschaft, Tugend und religiöse Pflicht aufzubürden, weil die Liebe einzigartige, nicht wiederholbare, spontane Regungen und Handlungen hervorbrachte. Die soziale Exklusivität schirmte die Konzeption einer derart verstandenen Liebe vor Verallgemeinerung ab. Paradoxerweise war es aber gerade diese reduzierte Implantierung in die Gesellschaft, die die fiktive Liebe, die als »höfisch« zu bezeichnen, in der Wissenschaft üblich geworden ist, zur Weiterung für die Herrschaft anwendbar machte. Nicht dank einer vorgeführten Verallgemeinerung, einer Vergesellschaftung, wurde die fiktive Liebe für die Zwecke der Herrschaft brauchbar, sondern dank einer Markierung herausgehobener Individuen und ihres sozialen Umfeldes. Aber diese Markierung bestärkte die allgemeine Exklusivität von Adeligen und Herrschern. Die Repräsentation von sozialer und politischer Distinktion war gewollt und erreicht.1008 1007 Thomas Zotz, Urbanitas. Zur Bedeutung und Funktion einer antiken Wertvorstellung innehalb der höfischen Kultur des hohen Mittelalters, in: Curialitas. Studien zu Grundfragen der höfisch-ritterelichen Kultur, hg. v. Josef Fleckenstein (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 100), Göttingen 1991, S. 392–451; Ders., Urbanitas in der Kultur des westlichen Mittelalters, in: FMASt 45 (2011), S. 295–308. 1008 Schnell, Höfische Liebe, S. 231–301; Peter Johannek, Höfe und Residenzen, Herrschaft und Repräsentation in: Mittelalterliche Literatur im Lebenszusammenhang, hg. v. Eckart Conrad Lutz (Scrinium Friburgense 8), Freiburg (Schweiz) 1997, S. 45–78.

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Weil die Liebe in fiktionalen Texten vorgeführt war, konnte sie aus den Zwängen einer Verwirklichung herausgelöst werden, die in sozialen Zusammenhängen an Echtheit eingebüßt hätte. Aber genau aus diesem Grund konnte die Liebe als wahr vorgestellt werden – innerhalb einer erzählten Welt, also außerhalb des Faktischen. Eigenartigerweise boten Fiktionen der Liebe die Option, ihre Authentizität vorzuführen. Hingegen war die Affirmation der Liebe im Kontext der Herrschaft von wahren Emotionen eher entfernt, auch wenn sie in deren Sprache geformt war. Weil aber gesellschaftlich verankerte Redeweisen sich in Teilbereiche ausdifferenzierten und eigenständige Normen entwickelten, war es ausgeschlossen, dominante Verständigungen aufzuerlegen und eindeutige Bedeutungen festzulegen.1009 Die Vorführung der Liebe in den fiktionalen Texten setzte spielerische Variabilität voraus. So wurde sie in ein höfisches Zeremoniell eingekleidet, das die Vortrefflichkeit des Herrschers und seines Gefolge demonstrieren sollte. Dies geschah nicht durch die Liebe selbst, sondern durch die sie darstellende Literatur.1010 Also nicht die Emotion, sondern die Fiktion von ihr war sozial wirksam. Mit der Entfaltung eines Liebesdiskurses in der fiktionalen Literatur standen die Herrscher und die diejenigen, die Herrschaft legitimierten, gleichwohl vor der Herausforderung, das Verständnis von Liebe als innige und echte Emotion in eine politische Begründung der Herrschaft einzubinden, welche den zeitgenössischen Themensetzungen gerecht würde. Die Trennung in unterschiedliche Sprechweisen, die die Liebe verschiedenen Zwecken zuführte, so wie dies Walter Haug untersuchte1011, musste wieder aufgehoben werden. Um die Liebe an die Herrschaft zurückzubinden, war eine Fusionierung der Sprechweisen erforderlich, damit nicht abgesonderte Begründungszusammenhänge das Funktionieren von Herrschaft gefährdeten, welche auf umfassende Einwirkungsmöglichkeiten beruhte, um nicht herrschaftsfreie Bereiche abseits bestehen zu lassen. Liebe für die Praxis der Herrschaft einzuführen, war umso dringlicher, als die Behauptung der vortrefflichen, veredelnden Liebe riskierte, zu einer In1009 Ulrich Müller, Das Mittelalter, in: Geschichte der deutschen Lyrik vom Mittelalter, hg. v. Walter Hinderer, 2. Aufl. Würzburg 2001, S. 20–48, S. 30; Sebastian Neumeister, Herrschermacht und Liebesdienst. Die Gedichte der Staufer (Kaiser Heinrich VI., Kaiser Friedrich II., König Enzo), in: Inszenierungen von Subjektivität in der Literatur des Mittelalters, hg. v. Martin Baisch u. a., Königstein 2005, S. 56–74. 1010 The Meaning von Courtly Love. Papers of the first annual conference of the Center for Medieval and Renaissance Studies, University of New York at Binghamton, 17–18 march 1967, hg. v. Francis X. Newman, Albany (N.Y.) 1969; Erich Kleinschmidt, Minnesang als höfisches Zeremonialhandeln, in: Archiv für Kulturgeschichte 58 (1976), S. 244–260; Georg Kaiser, Minnesang – Ritterideals – Ministerialität, in: Adelsherrschaft und Literatur, hg. v. Horst Wenzel (Beiträge zur älteren deutschen Literaturgeschichte 6), Bern 1980, S. 181–208; Schnell, Causa; Bumke, Höfische Kultur, II, S. 503–505. 1011 Haug, Höfische Liebe.

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klusion ihrer Wirkung zu führen auf Kosten einer Breitenwirkung. Mit der Entlastung der narrativ und fiktiv gestalteten Liebe von religiösen Sinnstiftungen war das Thema der Liebe eingeengt, in die zwischenmenschliche Intimität gestellt, vor allem aber abgelöst von einer geordneten Seinsweise, die hierarchisch erfasst wurde. Literarisch imaginierte Figuren waren zusammengesetzt aus Merkmalen, die potentiell aber durchaus an reale Figuren angeheftet werden konnten und so an die Realität der Herrschaft angenähert waren. Identifikationsangebote wurden formuliert, die soziale Wirkung entfalteten, indem sie den Manifestationen der Liebe Normalität verliehen – in beiderlei Bedeutungen: als Appell und als Gewohnheit. Imaginierte Kollektive waren durch literarische Fiktionen geformt, die gemeinsame Wertvorstellungen und Handlungsmuster in Erzählungen gestalteten.1012 In der fiktionalen Vorführung der Liebe war deren Authentizität gesichert. Die Echtheit der Gefühle war in einer imaginierten, von der Realität abgesetzten Geschehen vorgestellt. Die Authentizität den fiktionalen Texten zu überlassen, war aber dann nicht akzeptabel, wenn es um die Begründung der Herrschaft ging. Das angeblich Echte war in das tatsächlich Echte zu überführen. Liebe sollte in die Sprache der Macht und der Herrschaft eingeführt werden.

3.

Die Unterwerfung unter die Liebe: Das Spiel mit Allegorien im Roman de la Rose

Besonders ausführlich waren die Überwältigung durch die Liebe und die Macht der Liebe in einem Werk des 13. Jahrhunderts ausgeführt, im Roman de la Rose. Dieser Text, der zu den am meisten verbreiteten Texten des späten Mittelalters gehörte und überall in Europa rezipiert wurde1013, schlug die Brücke zwischen der intimen Liebe und der sozial weit ausgreifenden Liebe. Der Roman de la Rose deutet Liebe als Ursprung des Handelns und zugleich als sein Ziel – und dies für alle Individuen und für Kollektive. Anders als in den höfischen Romanen, besonders von Chr8tien de Troyes, wird die Liebe nicht psychologisch gedeutet, nicht als individuelles Verlangen, sondern als aller menschlicher Kreatur eigentümliches und naturhaftes Streben vorgestellt.1014 Die Begründungen in dem Werk sind eingebettet in sich häufig widersprechenden Aussagen, die ein Spiel mit Argumenten und ein Arrangieren von allegorischen Figuren vorführen. In 1012 Benedict Anderson, Imagined Communities. Reflections on the Origins and Spread of Nationalism, London, New York 1991, S. 20–36; Albrecht Koschorke, Wahrheit und Erfingung. Grundzüge einer allgemeinen Erzähltheorie, Frankfurt a. M. 2012. 1013 Resümierend zur Verbreitung des Roman de la Rose in den verschiedenen Regionen Europas: Nievergelt, Textuality, S. 103–105. 1014 Lewis, Allegory, S. 113.

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einigen Passagen wird die Auffassung vorgetragen, welche die Liebe als der Vernunft und dem wahren Menschsein entgegenstehende Kraft abwertet; dagegen stehen andere Aussagen, die die Liebe als gerechtfertigte und verpflichtete Manifestation humaner Existenz vorführen. Die Widersprüchlichkeit entsprach einem Textgenre, das Fiktionen kreierte und Ideen komponierte und daher die Wahrheitsfrage offen belassen konnte. Der Roman de la rose, von Guillaume de Lorris (ca. 1205–1240) und in der Fortsetzung von Jean de Meung (ca. 1240– ca. 1305) verfasst, bietet Konzepte der Liebe an, die einer eindeutigen Schlussfolgerung entzogen sind. Die Darstellung der Liebe ist in einer Erzählung gestaltet, in der allegorische Figuren auftreten, welche nacheinander in ihren Reden unterschiedliche Meinungen kundtun, sie logisch begründen und sie mit Argumenten versehen. Aber die am Ende des ausführlichen Werkes vorgestellten Ansprachen der Figuren von Nature und ihrem Berater Genius bleiben dann ohne Widerrede; ihre Überzeugungen tragen offensichtlich im Kampf der Argumente den Sieg davon. Das Werk endet in einem Lob der alles belebenden und beherrschenden Liebe. Die Liebe ist im Roman de la Rose stets mit Sinnenlust, Fest und Mübiggang, aber auch mit Entbehrung, Kampf und Leid verknüpft. Ihre Erfüllung kann in einem Garten gelingen, dessen Zugang indes mit Hindernissen versehen ist und zu gewagten Abenteuern herausfordert. Die allegorische Gestalt des Amor mit seinen Pfeilen, welche Schönheit, Einfachheit, Aufrichtigkeit, Geselligkeit und Anwesenheit symbolisieren, bietet eine Belehrung, wie der Liebende sich der geliebten Frau zu nähern und wie er ihre Gunst zu gewinnen habe. Er müsse jeder Niedrigkeit entsagen, sich ganz dem Dienst der Frau ergeben. Er müsse seinen Körper pflegen. Freigiebig spende er Geschenke. Aber die Gegner der Liebe, in Gestalten von Wächtern des Gartens allegorisch vorgestellt, stellen sich dem Protagonisten entgegen, verwehren den Zugang zum Garten und verhindern die rasche Erfüllung der Liebe. Die allegorische Figur der Raison rät von der Liebe gänzlich ab. Vergebens ist die Warnung: Der Liebende beharrt auf seinem Ziel, gerät in den Strudel von Triebkräften, die ihn beherrschen, hört auf, eine selbstwirksam handelnde Person zu sein, überlässt sich der zwingenden Gewalt der Liebe.1015 Ist in dem ersten, von Guillaume de Lorris verfassten Teil die Liebe der Vernunft entgegengestellt, aber doch ein begehrenswertes und gerechtfertigtes Ziel, so spitzt der Fortsetzer des Werkes, Jean de Meung, die Gegensätze noch weiter zu, die zu einem Paroxysmus gegensätzlicher Begründungen führen, die jegliche harmonisierende Deutung ausschließen. Jean lässt erneut die Gestalt der Raison auftreten, die in einer langen Ansprache ein Konzept entwickelt, das die sexuelle Liebe verurteilt, sie als Gefahr für die natürliche Bestimmung des 1015 Aldo Scaglione, Nature and Love in the Late Middle Ages, Berkeley, Los Angeles 1963.

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Menschen ansieht und sie für den Gebrauch der menschlichen Fähigkeit, Gutes zu bewirken, als abträglich bezeichnet. Liebe sei mit Leiden verbunden und schade demjenigen, der liebe. Sich allein seinen Leidenschaften der Liebe zu überlassen, führe zum Verderben. Amor sei eine Gefahr, sie lauere jedem Menschen auf; jeder habe sich der Gefahr zu erwehren. Deswegen warnt die Figur der Vernunft vor den Frauen. Die Dame Raison verurteilt deren Schönheit als trügerisch, ihr Handeln als schädlich, ihre Gunst als wahnhaft. Ihre Liebe erringen zu wollen, sei vergeblich. Die Figur der raison beschreibt ausführlich die Laster der Frauen, die umso schlimmer seien, als sie die Frauen liebreizend und verlockend machten, ohne dass sie die Liebe erwiderten. Nur der von der Liebe ungetrübte Verstand vermöge die Versuchungen der Frauen abzuwehren. Der Liebe zu einer Frau verfielen vor allem unerfahrene junge Männer, deren Schwäche ausgenutzt werde, deren jugendlicher Leichtsinn einem gaukelnden Wunschbild nachstrebe. Dem Trügerischen nachzustellen, sei töricht. Nicht Erfüllung erwarte den Liebenden, sondern Enttäuschung. Die Liebe stelle Fallen. Die Liebe zu einer Frau, die nach sexueller Vereinigung strebe, sei Ablenkung und Störung einer rational ausgerichteten Lebensordnung. Liebe sei eine Krankheit, so ausdrücklich in der Rede der als allegorische Figur vorgestellten Vernunft.1016 Jean der Meung überlässt aber nicht dieser schroffen Verurteilung das letzte Wort. Am Ende des umfangreichen Werkes treten die allegorischen Figuren Nature und deren Berater und Begleiter Genius auf und ergreifen das Wort. In einer Kaskade der Lobpreisungen der Sexualität wird diese als Voraussetzung der Liebe vorgestellt. Die so vorgestellte Liebe sei allen Menschen gegeben. Sich ihr zu entziehen, sei sündhaft. Sexualität bestimme das Verhalten auch der Tiere und erweise sich so als umfassender Impuls aller beseelten Lebewesen und der gesamten Natur. Die Analogie, drastisch in Beispielen vorgeführt, zwischen tierischer und menschlicher Sexualität verstärkt den Eindruck einer von der Vernunft ungebundenen Kraft, die aber um nichts weniger ihre Berechtigung besitzt, weil sie zu guten Taten motiviere. Sie bereite den Menschen Freude. Sie führe zur Zeugung von Kindern und zur Vermehrung des Menschengeschlechts. Sie bewirke das harmonische Zusammenleben aller Menschen. Die Sexualität sei in der Natur angelegt und daher von Gott gewollt. Die Freuden sexueller Erfüllung seien jedem Menschen beschert, der einen guten Gebrauch seiner Anlagen mache. Und von ihnen Gebrauch zu machen, sei auch seine Pflicht. Sich ihr zu entziehen, wie dies die Mönche und Priester täten, sei wider den göttlichen Auftrag, die Kräfte der Natur, auch die des Menschen, zur Entfaltung zu bringen. In Abstinenz zu leben, sei verwerflich. Die Reproduktion des Menschengeschlechts durch die Liebe wird parallel gesetzt zur künstlerischen Kreation, die 1016 Guillaume de Lorris, Jean de Meung, Roman, Zeile 2580–2658.

Die Unterwerfung unter die Liebe

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die humane Existenz zur Erfüllung ihrer Anlagen emporhebt.1017 Der Roman de la Rose legt dem an anderer Stelle eingeführten Liebesgott die Empfehlung in den Mund, nur eine einzige Dame zu lieben, und deutet die Liebe nicht allein als sexuell angetrieben und zur Fortpflanzung des Menschengeschlechts notwendig, sondern auch als intime persönliche Bereicherung, als Erweiterung der Empfindungen, als erotische Grundierung humaner Existenz.1018 Die Wirkung der Liebe dehnt sich jenseits der Sexualität aus, denn ihre Überwältigung ergreift die Gesamtheit schöpferischen Handelns des Menschen, dem aufgetragen ist, durch alle seine Taten seine Existenz fortzusetzen – durch leibliche Nachkommen und durch Poesie. Die generative Potenz der Liebe muss zur Entfaltung gebracht werden. Diese Potenz ist eine Macht. Ihr müssten sich alle Menschen unterwerfen. Weil der Roman auch als Kompendium des Wissens von den mittelalterlichen Zeitgenossen gelesen und verstanden wurde, sind die in ihm enthaltenen Themen als Deutungen und als Normierungen des Lebens zu erachten. Der als militärischer Kampf dargestellte Konflikt zwischen gegensätzlichen Auffassungen weist auf eine politische Metaphorik. Diese ist aber nicht nur als literarisches Verfahren zu verstehen, sind doch Allegorie und Metaphorik im mittelalterlichen Verständnis auch Argumente, nicht allein rhetorisches Mittel, weil sie als Zeichen konzipiert sind und daher Informationen zur Realität bieten, weil die Realien diese Zeichen produzieren, und die Zeichen nicht allein Repräsentationen der Realien sind. Der Kampf verweist daher auf eine antagonistische Machtkonstellation.1019 Die Liebe gestaltet nicht allein Beziehungen unter den Menschen, sondern in der gesamten natürlichen Ordnung. Aus ihr erwachsen Pflichten, die ohne Ausnahme alle erfüllen müssen; daher die gesellschaftliche Normierung einer zur Totalität geleiteten humanen Veranlagung, daher die soziale Nützlichkeit, die mit dem individuellen Glück übereinstimmt; daher die überall tätige Liebe, die als Kraft alles Lebendigen wirkt. Die Natur ist die Lenkerin jeder empfindenden Existenz und sie verbreitet aus ihrem Brunnen die Schönheit, die sich vor allem in der menschlichen Gestalt verwirklicht. Die Schönheit zieht die Menschen in

1017 Guillaume de Lorris, Jean de Meung, Roman, Zeile 4273–4658, 19547–19756; A. G. Gunn, The Mirror of Love. A reinterpretation of the Roman of the Rose, Lubbock 1952; Jean C. Payen, La rose et l’utopie. R8volution sexuelle et communisme nostalgique chez Jean de Meung, Paris 1976; Karl August Ott, Der Rosenroman, Darmstadt 1980; Armand Strubel, Le Roman de la rose, Paris 1984; Per Nykrog, L’amour et la rose. Le grand dessein de Jean de Meun (Harvard Studies in Romance Languages 41). 1018 Nievergelt, Textuality, S. 108–113. 1019 Maria Corti, Il viaggio testuale, Turin, 1978, S. 223–228; James Jerome Murphy, Rhetoric in the Middle Ages. A History of the Rhetorical Theory from Saint Augustine to the Renaissance, Berkley u. a. 1974, S. 301–334; Schmidt, Allegorie, S. 301–304.

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ihren Bann; sie unterwirft sie den Lockungen der Liebe.1020 Macht über Menschen entsteht, wenn deren triebhaftes und doch zugleich natürlich geordnetes Verhalten den Zusammenhalt aller Menschen – auch über die Generationen hinweg – hervorbringt. Die Emotionen sind die Garanten, das rechte Tun zu ermöglichen. Die Schönheit des menschlichen Körpers ist die Widerspiegelung einer umfassenden, kosmisch angelegten Harmonie. Schönheit und Liebe sind in einer Lichtmetaphorik gedeutet. Das Licht trägt die kosmische Schönheit in die körperliche hinein. So wird Liebe möglich.1021 Die Beherrschung der Menschen durch die Kräfte seiner und der kosmischen Natur und umgekehrt die Ermächtigung aller Menschen, die Natur zu formen, zeichnen die humane Existenz aus. Aber der Zwang, der gegen die Kräfte der Natur eingesetzt wird, ist verwerflich. Er bringt Schrecken und Angst hervor. Die Verleugnung der wahren Bestimmung des Menschen geschieht durch einen verfehlten gesellschaftlich Zwang, der Askese auferlegt – daher der Appell, sie abzuschaffen. Die Meinung, den Triebverzicht als vernunftfördernde Sublimierung zu preisen, steht nunmehr der Auffassung entgegen, den sexuellen Trieb, die Lust, als vernunftgemäß zu rehabilitieren, ist er doch das Mittel, das die Arterhaltung sichert und das Glück hervorbringt. Der am Ende des Romans vorgestellten Totalität der Liebe soll niemand entgehen. Eine abgesonderte Existenz des Politischen kann es folglich nicht geben, sowenig wie eine Autonomie des privaten Lebens im Haus. Jeder, selbst derjenige, der zu einer Liebe mit einer einzigen geliebten Person nicht fähig ist oder sie nicht erringt, kann und muss eine Liebe verwirklichen, welche eine große Reichweite hat und in die Allgemeinheit der Menschheit hineinwirkt. In dem Roman wird der amour du commun vorgestellt. Jeder ist in der Lage, eine solche Liebe zu hegen, die Emotion, Allgemeinheit und Pflichterfüllung vereint. Die sozial weit ausgreifende Liebe ist durch ein Gesetz verlangt: amer generalement touz ceuls dou monde loialment.1022 Etymologisch und sachlich besteht die Verbindung von loial zu loi. Hier ist etwas anderes gemeint als die Idealisierung einer als höfisch bezeichneten Liebe, die die Einbeziehung aller Menschen ausschliesst und soziale Exklusivität verlangt. Die erotische Exaltation wird anthropologisch generalisiert, zivilisatorisch eingefangen, aus den Herrscherhöfen herausgeführt und allen sozialen Beziehungen unterlegt.1023 Liebe ist mit Worten der Beherrschung und Unterwerfung formuliert, ist in 1020 Guillaume de Lorris, Jean de Meung, Roman, Zeile 16237–16249. 1021 Sarah-Grace Heller, Light as Glamour. The Luminiscent Ideal of Beauty in the Roman de la Rose, in: Speculum 76 (2001), S. 934–959. 1022 Guillaume de Lorris, Jean de Meung, Roman Zeile 5434–5446. 1023 Haug, Höfische Liebe, S. 32–36; Rüdiger Schnell, Höfische Liebe, S. 231–301; Ursula Peters, Höfische Liebe. Ein Forschungsproblem der Mentalitätsgeschichte, in: Liebe in der deutschen Literatur des Mittelalters, hg. v. Jeffrey Ashcroft u. a., Tübingen 1987, S. 1–13.

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eine Herrschaftssprache eingekleidet. Die Verbindung ist geschaffen zwischen der intimen Beziehung und der umfassenden Menschenliebe, zwischen dem individuellen Glücksstreben und der Erfüllung der allen Menschen auferlegten Pflicht. Das Loyale, also im ursprünglichen Sinne Gesetzliche, leitet zur Herrschaft. Nicht dass Liebe das Instrument der Herrschaft wäre, sondern umgekehrt, dass sie die Herrschaft hervorbringt und sie in ihren Dienst zwingt, ist die Belehrung. Im literarisch arrangierten Zusammenspiel hat die Liebe selbst Gewalt, sie ist unmittelbar wirksam, sie bedarf keiner intermediären Wirkkräfte. Die Liebe, so sehr sie impulsiv hervortritt, ist nicht auf die Natur beschränkt. Sie ist Teil einer weiter reichenden, von Gott geschaffenen Kraft, die das Leben der Menschen und das der Engel, das irdische Dasein und die immaterielle Existenz gleichermaßen erfasst und sie überall in Relationen der Macht und der Überwältigung einfügt.

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In Folge der Aufwertung der Liebe seit dem 12. Jahrhundert waren diejenigen, die über die Herrscher sprachen, und die Herrscher selbst, herausgefordert, Anschluss zu finden an eine Redeweise, die die Liebe als handlungsleitende Emotion darstellte und als Ideal vorführte – sei es eingehegt in sozial exklusivem Kreis, sei es ausgedehnt in human-universaler Geltung. Die Herrschaft von der Liebe auszuschließen, hätte ihre Legitimität und Effizienz gefährdet. Normativ wurde die Liebe des Königs eingefordert und vorgeführt, was mehr verlangte als die Affirmation einer Liebe, die nützlich für das Knüpfen von Beziehungen ist, mehr als den Vollzug einer Tugend, wie sie in den Fürstenspiegeln des 9. Jahrhunderts ausgeführt worden war, und mehr als eine rechtlich und moralisch geformte Normenordnung: Verlangt war die glaubhaft vorgestellte Performanz einer echten Liebe. Es gab freilich auch im Mittelalter das Misstrauen, ob hinter der Vorführung tatsächlich eine echte Liebe existiere. Eindeutig war das Ideal, wenn es in Fiktionen präsentiert wurde, die Modelle des Perfekten entwarfen, die Vorbilder zur Nachahmung auferlegten und Personen kennzeichneten, die Identifikationen anboten. Ein Mensch, der nicht liebte, galt als wenig würdig, zur Herrschaft unfähig; derjenige, der Liebe zu sehr hegte, gefährdete aber auch seine Machtposition, sei es, indem er seine Beziehungen auf eine zweiseitige Liebe einschränkte, sei es, indem er sich von den Launen der Liebe antreiben ließ, sei es, indem er die Liebe zu einzelnen Getreuen und Hofleuten über die Liebe zu allen Untertanen in seinem Reich stellte. Texte führten Handlungen und Begründungen vor, welche von der erzählten in die gelebte Welt überleiteten.1024 1024 Eckart Conrad Lutz, Literaturgeschichte als Geschichte von Lebenszusammenhängen. Das

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Die literarischen Texte, die die Probleme vorführten, die aus der Liebe erwuchsen, sind als historische Zeugnisse, als »Überreste« im Sinne der klassischen Quellenkunde1025, zu verstehen, die Überzeugungen zu Normen formten. Gute Herrscher, die Liebe gewährten und auf sich zogen, waren in Erzählungen vorzustellen. Dies war während des 12. und 13. Jahrhunderts geleistet, als die Königsherrschaft einerseits institutionelle und administrative Perfektionierungen erstrebte und erfuhr, andererseits Angriffen auf ihre Legitimität ausgesetzt war – durch die Reformen einfordernden Geistlichen und durch die städtischen Kommunen.1026 Das Zeigen von vortrefflichen Herrschern verlangte, den König an die zeitgenössische Aufwertung der Liebe anzuschließen. Könige waren die Protagonisten von Liebeserzählungen. Wenn die Liebe an die persönlichen Beziehung angebunden wurde, stand sie aber in Gefahr, nichts zu den institutionellen Bindungen der Herrschaft beizutragen. Die Erzählung verlangte eine von Personen ausgehende und auf Personen gerichtete Gemütsregung, die nicht hinter der Fassade des Amtes gehalten und nicht in der Erfüllung der Pflicht eingezwängt werden durfte. Und nicht minder war die ungestüme Gewalt des Mächtigen vorzuführen, denn sie galt als Voraussetzung der Überwältigung und besonders des militärischen Erfolgs, weil die Gewalt unter den Feinden, aber auch unter den eigenen Anhängern Schrecken verbreitete. Aus der Steigerung der gezeigten Gefühle sollte auch eine Steigerung der institutionellen Wirksamkeit entstehen. Was die Liebe betraft, war sie erhöhten Anforderungen ausgesetzt, denn sie sollte sowohl innig als auch öffentlich sein. Zwei Stränge des Vorbildlichen formten die Liebe, die einerseits persönlich und echt, andererseits zielgerichtet und nützlich sein sollte. Beide Stränge zusammenzuführen, war indes schwierig. Die Intensivierung der Emotionen setzte eine Personalisierung voraus, die aber wiederum eine beständige und regelgeleitete Einbindung in Institutionen behinderte. Die Lösung konnte in der deutlichen Scheidung von persönlicher und institutioneller Liebe bestehen. Das lateinische Lehrgedicht Ruodlieb, ungefähr im Jahre 1060 vermutlich von einem Mönch in Bayern verfasst, hatte beide Existenzweisen, die des liebenden Königs als Individuum und die des herrschenden Königs als Amtsinhaber, getrennt, indem die Liebe aus der Herrschaftspraxis ausgeschieden, mit der Person aber verbunden war. Das Arrangement betraf Beispiel des »Ezzo-Liedes«, in: Mittelalterliche Literatur im Lebenszusammenhang, hg. v. dems. (Scrinium Friburgense 8), Freiburg (Schweiz) 1997, S. 95–145, S. 95–101. 1025 Ernst Bernheim, Einleitung in die Geschichtswissenschaft, 3. Aufl. Berlin, Leipzig, S. 104– 132. 1026 Haverkamp, Frühbürgerliche Welt, S. 571–602; Jacques Le Goff, Le roi dans l’Occident m8di8val. CaractHres originaux, in: Kings and Kingship in Medieval Europe, hg. v. Anne J. Duggan, London 1993, S. 1–40; Joachim Ehlers, Grundlagen der europäischen Monarchie in Spätantike und Mittelalter, in: Maiestas 8/9 (200–2001), S. 49–80; Gerd Althoff, Das hochmittelalterliche Königtum, in: FMASt 45 (2011), S. 77–98.

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auch den Schrecken. Der Autor schrieb, die Liebe sei, genauso wie der Schrecken, ungeeignet zum Herrschen; beide lenkten vom rechten Weg ab, machten die Herrschaft schwankend und verfälschten die Gerichtsurteile. Liebe sei gemäß diesem Text defizitär. Sie müsse von der Institution abgelöst werden; sie sei nicht für das Handeln des Königs angemessen. Die Anforderung verhindere, so das Gedicht, aber nicht, dass im persönlichen Kontakt zu den Hofleuten der König Freundschaft und Liebe pflege. Der Gegensatz wird in einer Doppelung des Königs beschrieben. Die Figur, als rex maior bezeichnet, und diejenige, als rex minor benannt, erlauben die Kontrastierung zwischen einem einerseits friedfertigen und liebenden und einem andererseits aggressiven und furchterregenden Herrscher, der bar der Liebe ist. Beide Figuren gehen zwar in der Erzählung mittels eines symbolischen Friedensschlusses eine Verbindung ein, bleiben aber hinsichtlich ihrer Taten Gegenbilder.1027 Der Liebe bleibt der Zutritt in die Verfassung von regulierten Handlungszusammenhängen verwehrt, sie soll allein die Vortrefflichkeit der Person des Königs garantieren. Das Gedicht Ruodlieb stand isoliert im Zusammenhang der die Herrscher belehrenden Texte, allein schon deswegen, weil es nur geringe Verbreitung fand, auch nicht in die zeitgenössische Polemik zur Berechtigung königlicher Herrschaft eingriff und stattdessen ein Panorama individueller Vervollkommnung ausbreite.1028 Die Vereinigung des persönlichen und des institutionellen Status der Liebe konfliktfrei zu gestalten, blieb aber ein Sujet in Texten erfundener Geschichten. Dies geschah auch in dem am Beginn des 12. Jahrhunderts in mehreren Varianten verfassten Chanson de Roland. Der Text erzählt von Gewalt und Liebe, stellt beide in den Zusammenhang kriegerischer Handlungen. Der Text beschreibt in einer geradezu anatomischen Konkretisierung und Brutalität die Wunden, die die Kämpfenden sich zufügen. Verletzt oder in aussichtsloser Lage, lassen die Krieger auf christlicher und auf muslimischer Seite nicht davon ab, auch einen aussichtslosen Kampf weiterzuführen. Dazu werden sie durch die Liebe und die Zuneigung zu ihren Herren angetrieben. Selbst wenn die Liebe die Grenzen der Religion überschreitet, verlässt sie nicht den Rahmen der Herrschaft. Die Liebe umschließt realiter alle Christen, bezieht aber potentiell auch die Ungläubigen ein, sofern sie die Liebe, die ihnen der vorbildliche Herrscher Karl der Große gewährt, erwiderten, sobald sie den christlichen Glauben angenommen hätten. Die Liebe ist eng mit Gehorsam und Treue verbunden; Gehorsam wird wegen der Liebe geleistet; Karl der Große gewährt sie, weil seine Getreuen tapfer kämpfen. Wie seine Kinder nimmt der Herrscher seine Le1027 Ruodlieb, hg. v. Benedikt Konrad Vollmann, Wiesbaden 1985, S. 70f., 75; Christian Götte, Das Menschen- und Herrscherbild des rex maior im Ruodlieb, München 1981. 1028 Helena Margaret M. Gamer, Der Ruodlieb und die Tradition, in: Mittellateinische Dichtung, hg. v. Karl Langosch, Darmstadt 1969, S. 284–329.

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hensleute in seine Liebe auf. Indessen kann Liebe mit einer heidnischen Frau zum Verrat und zur Gefahr für die Herrschaft führen. Die bessere Form der Liebe bindet die Vasallen an ihren Herrn, sie vereinigt alle Christen. Loyalitätsgruppen entstehen, die voraussetzungslos das von ihnen Verlangte tun. Sofern die gegenseitige Loyalität fehlt, fehlt auch die Liebe.1029 Die Geschichten waren erfunden. Die Präsentation des Ideals war real. Das Rolandslied war im Mittelalter in ganz Europa verbreitet und bildete einen Fundus des Einvernehmens zur adeligen Lebensweise und zur Bindung des Lehnsmannes an den Herrn. Das Risiko, das fehlender Gehorsam des Lehnsmannes für die Herrschaft bedeutete, war durch die Motivierung der Liebe zu bannen. Die institutionelle Schwäche der Herrschaft sollte durch das Zeigen einer starken Liebe kompensiert werden.1030 Die Liebe vereint einzelne Personen, aber aus der personalen Bindung erwächst die institutionelle. Das ist die Botschaft, die die anglo-normannische Sammlung fiktionaler Geschichten, von Geoffrey Gaimar in den dreißiger Jahren des 12. Jahrhunderts verfasst, verkündet. Die enge Bindung von König zu seinen Rittern beruht auf einer Liebesbeziehung, die einzelne Personen miteinander vereint und sie zugleich in institutionelle Banden der Unterordnung und der Loyalität einhüllt. Die Liebe stärkt die Wirkung des Gehorsams und des Befehlens. Sie ist der effektive Garant für die Herrschaft und für die militärische Tüchtigkeit der Heere der angelsächsischen und anglo-normannischen Könige. Mehr als das Recht vermag sie. Diese Voraussetzungen der Herrschaft sind beschrieben aus der Erzählperspektive eines fiktiven Betrachters und Poeten, aber narrativ wirksam gehalten für die Gestaltung eines Vorbildes, das für die Entstehungszeit des Werkes galt.1031 Wie der König im Zentrum der Liebe steht, hat Chr8tien de Troyes im Roman »Yvain ou le Chevalier au Lion« ausgeführt: Die Liebe ist es, die den Hof konstituiert; sie bringt dessen Mitglieder dazu, untereinander und mit dem König verbunden zu sein. Wie das biblische Ereignis der Niederkunft des Heiligen Geistes erfüllt die Liebe die Herzen aller Anwesenden. Die Einmütigkeit aller, die sich um König Arthur, den guten König Britanniens, scharen, ist religiös aufgeladen, ist eine Wiederholung des Erlösungswerkes Gottes, das sich zu 1029 La Chanson de Roland, hg. v. Ian Short, Paris, 1990 S. 34, 66, 110, 172, 188, 196, 226, 236, 246, 248. 1030 Emanuel J. Mickel, Ganelon, Treason, and the Chanson de Roland, in: Olifant 14 (1989), S. 83–100. 1031 Geoffrei Gaimar, Estoire des Engelis, hg. v. Alexander Bell, Oxford 1960; John B. Gillingham, Kingship, Chivalry and Love. Political and Cultural Values in the Earliest History written in French: Geoffrey Gaimar’s Estoire de Engleis, in: Anglo-Norman Political Culture and the Twelth-Century Renaissance, hg. v. Charles Warren Hollister u. a., Woodbrigde 1997, S. 33–58.

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Pfingsten vollzogen hat. Chr8tien beschreibt den Hof nicht lediglich als Stätte, an der sich Liebe verwirklicht; nein, es ist der Hof, der dank der Liebe überhaupt erst entsteht. Der Hof ist nicht nur der Ort intimer Beziehung zwischen Mann und Frau, sondern der Bindung zwischen allen Rittern und edlen Frauen, deren Zuneigungen öffentlich gemacht werden und auf diese Weise sozial manifest, zugleich aber auch sozial exklusiv am Hof gehalten werden. Liebe ist das bevorzugte Gesprächsthema am Hofe. Chr8tien schreibt indes, dass das Ideal einst bestanden habe, nun aber verflossen sei. Jetzt sei die Liebe, so klagt Chr8tien, sehr herabgesetzt; sie sei schwach geworden. Diejenigen, die sich ihrer jetzt rühmten, seien nichts anderes als Lügner und erzählten über sie Fabeln. Dass unmittelbar nach dieser Aussage Chr8tien selbst zur Erzählung seines Romans ansetzt, der die Geschichte von Liebenden erzählt, ist eine literarische Ironie, so dass das Ideal einer Realisierung, ja selbst einer Option zur Realisierung verschlossen zu sein erscheint, aber wohl gerade deswegen dazu auffordert, die Meinung, dass die Liebe nicht mehr bestehen würde, zu widerlegen. Das angeblich verlorene Ideal sollte wieder instand gesetzt werden. Der König ist dazu als Promotor vorgesehen. Er soll das Ideal zur Wirklichkeit bringen. Die Fiktion der Liebe im Text und ihre fiktive, kontrafaktische Existenz, wie im Text behauptet, bergen beide den Appell, die Liebe in das Leben am Hof einzusetzen.1032 Die Irrealität der Liebe in der erzählten Welt zu behaupten, ist nichts anderes als eine paradoxe Intervention, die zur Negation der Negation auffordert. Der Hof soll als Ensemble von emphatisch und diskursiv aneinander gebundenen Personen gerettet werden. Der Hof ist der Ort, an dem die erzählten Emotionen mit den politischen Institutionen verbunden werden.1033 Das Thema der Liebe, das in adelige Individualität und höfische Institutionen eingenistet ist, entfaltete auch Robert von Blois, der am Anfang des 13. Jahrhundert lebte und einen Roman schrieb, der sich als Übersetzung einer lateinischen Handschrift ins Französische ausgibt und die Behauptung enthält, nichts erfunden zu haben. Es ist eine Aussage, die der gewollten Fiktionalität selbstverständlich nicht widerspricht. Der Titelheld Biaudouz erhält, bevor er an den Hof von König Arthur zieht, Belehrungen von seiner Mutter zum richtigen Verhalten. Sie betreffen auch Liebe und Freundschaft. Insbesondere erklärt der Text, wie durch die Liebe die Aufnahme an den Herrscherhof und der Dienst für die Herrschaft gelingen. Robert von Blois führt die Liebe nach eigener Aussage 1032 Chr8tien de Troyes, Yvain ou le cheval au lion, in: Oeuvres completes (BibliothHque de la Pl8iade), Paris 1994, S. 337–503, S. 339f. 1033 Franz Peter Knapp, Die Welt als Entwurf des Möglichen und Unmöglichen. Die alternativen Wege des Höfischen Romans nach Chr8tien de Troyes, in: Fiktionalität im Artusroman des 13. bis 15. Jahrhunderts. Romanistische und germanistische Perspektiven, hg. v. Leonie Butz, Hanna Häger (Trierer Beiträge zu den historischen Kulturwissenschaften 9), Wiesbaden 2013, S. 15–28.

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nicht lediglich als Thema ein, über das gesprochen und geschrieben wird, um ein Ideal vorzuführen, sondern weist auf ihre praktischen Verwirklichung im Leben hin, damit die Liebe Nutzen – profit – stiftet. Anders als Chr8tien de Troyes in seinen Erzählungen, bietet Robert eine explizite Didaktik des richtigen Tuns. Er meint, derjenige sei zu bedauern, der keine Freunde habe und niemanden liebe, und verbindet diese Aussage mit der Institution der Herrschaft. Ein armer Mann mit Freunden sei mehr wert als ein König, der von allen gehasst werde. Scheint hier ein Gegensatz zu bestehen, dann indes in der Weise, dass er zur Überwindung auffordert. Der jugendliche Biaudouz solle so wie alle Adeligen am Hof Anstrengungen leisten und den Wert der Person beweisen, der sich nicht auf edle Abstammung reduziere, sondern sich in der Liebe zeige, die der erfolgreich Belehrte den anderen am Hofe erweise. Die Liebe müsse allen, d. h. allen am Hofe, gezeigt und gewährt werden. Innerhalb des Hofes seien aber unterschiedslos alle Rangstufen durch die Liebe miteinander verbunden, nicht einmal der Hund des Adligen stehe abseits von ihr. Die Belehrung, die der Romantext an den jungen unerfahrenen Adligen richtet, eigne sich, so die ausdrückliche Aussage der Schrift, auch für die Herrscher : für Graf, Herzog und König. Eine Belehrung, allegorisch als Harnisch bezeichnet, wird übergeben, die allgemeine Gültigkeit für jeden der am Hofe Lebenden hat.1034 Nur König Arthur muss nicht erst belehrt werden; er kennt bereits den Wert der Liebe; er befehle und er erlange Gehorsam, indem er Frieden und Liebe seinen Getreuen, die ihm folgten, in Aussicht stelle. Durch Gnadenerweise gewinne der König Freunde. Sie sollten sich in seiner Nähe halten. Ihnen allen zeige Arthur große Liebe, so dass sie ihm aus Liebe Dienste leisteten und ihm nützlich würden.1035 Die Furcht gelte nur den Feinden. Die Liebe des Königs motiviere die Eigenen zum Kampf. Sie sei durch das Versprechen von großen Geschenken und von Erwerbung von Ländern zu wecken.1036 Die Liebe hindert aber auch Taten, sofern sie sich der Soziabilität des Hofes verweigert. Dann schwächt sie wie eine Krankheit, lähmt die Aktivität, bindet den edlen Mann allein an die geliebte Frau, macht ihn träge. Aber auch diese Liebe hat eine gewisse Berechtigung. Sie bereitet Vergnügen; sie lässt alle Widrigkeiten ertragen.1037 Der Hof von König Artus galt auch in der folgenden Zeit und auch in Deutschland als der Ort, an dem Liebe gedeihen sollte. Das Epos Wigalois, um 1220 von Wirnt von Grafenberg verfasst, behandelt die Themen von König Artus. Von seinem Hof bricht der Titelheld zu seinen Taten auf. Recht an1034 Biaudouz de Robert de Blois, S. 40, 42, 44, 54. 1035 Ebda., S. 36; Robert von Blois, Beaudous, Ein altfranzösischer Abenteuerroman des 13. Jahrhunderts, hg. v. Jacob Ulrich, Berlin 1889, S. iv f.; Florence Mcculloch, La cr8ation du monde de Robert de Blois, in: Romania 91 (1970), S. 267–277. 1036 Biaudouz de Robert de Blois, S. 184. 1037 Ebda., S. 112, 114, 130, 158, 162.

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spruchslos hinsichtlich einer literarischen Qualität, wenig mehr als eine Aufeinanderfolge von einzelnen Handlungen bietend, ohne eine psychologische Entwicklung des Helden und eine soziale Einbindung zu erzählen, klebt der Text an Stereotypen, die aber umso mehr beständige, sozial gut verankerte Ideale zeigen, was aber nicht verhinderte, dass dieser Text im Mittelalter zu den am weitesten verbreiteten literarischen Werken gehörte. Über den Autor weiß man wenig mehr als sein Werk; weitere Quellen fehlen. Er stammte vermutlich aus der Nähe von Nürnberg und besaß wohl eine zumindest rudimentäre theologische Bildung. Am Anfang des Werkes wird der vorbildliche König Artus beschrieben. Er zeichnet sich dadurch aus, dass er jeden Mann liebt: »minnet er ieglichen man«. Die Liebe ist – dies zeigen die folgenden Verse – jedoch auf den Hof begrenzt und zunächst seinem Gefolge vorbehalten. Den Gefolgsleuten erweist er Freigiebigkeit. Seine tausend Ritter macht er reich an Ausrüstung, Burgen und Ländereien. Der König beschenkt darüberhinaus seine zahlreichen Gäste – auch sie sind Teil des Hofes. Die »minne« überschreitet nicht den engen Kreis einer Anwesenheitsgesellschaft. Die Liebe trägt nichts zur Fernwirkung von Herrschaft bei. Sie bleibt im Hof und für den Hof eingekapselt.1038 Romane enthielten eine exemplarische, keine systematische Belehrung, die für die Erörterung politischer Themen nur insoweit geeignet war, als aus persönlicher Tugend herrschaftlicher Gewinn erwachsen sollte. Die Fiktionalität der Erzählung bot Gelegenheit, jenseits der Fiktion von Gefühlen deren Authentizität zu behaupten und vorzuführen. Könige waren Figuren, deren Liebe sie selbst und ihre Herrschaft kennzeichnete. Zwischen Fiktion und Realität strikt zu trennen, würde indes missachten, dass das Genre der historia in gleitenden Übergängen in das des Romans und der fabula reichte und nicht vorausgesetzt werden kann, dass die mittelalterlichen Zeitgenossen einen unterschiedlichen Realitätsgehalt stets erkannt hätten. Die imaginierten und fiktionalisierten Erzählungen boten Begründungen und Idealisierungen. Je näher sie an einer angeblich verbürgten historischen Wahrheit standen, umso größer war ihr Aufforderungscharakter.1039 1038 Wirnt von Grafenberg, Wigalois, hg. v. J.M. N. Kapteyn, Sabine Selbach, Ulrich Seelbach, Berlin, New York 2005, S. 7f.; Hans-Joachim Ziegeler, Wirnt von Grafenberg, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters.Verfasserlexikon, 2. Aufl., Berin, New York, Bd. 10, 1999, Sp. 1252–1267; Hans-Jochen Schiewer, »Ein ris ich dar vmbe abe brach, Von sinem wunder bovme«. Beobachtungen ur Überlieferung des nachklassischen Artusromans im 13. und 14. Jahrhundert, in: Deutsche Handschriften 1100–1400. Oxforder Kolloquium 1985, hg. v. Volker Honemann, Nigel F. Palmer, Tübingen 1988, S. 222–278. 1039 Walter Haug, Die mittelalterliche Literatur im kulturhistorischen Rationalisierungsprozess, in: Wolfram-Studien 20: Reflexion und Inszenierung von Rationalität in der mittelalterlichen Literatur, hg. v. Wolfgang Haubrichs u. a., Berlin 2008, S. 19–40; Fritz Peter Knapp, Die Welt als Entwurf des Möglichen oder des Unmöglichen. Die alternativen Wege des höfischen Romans, in: Fiktionalität in Artusromanen des 13. bis 15. Jahrhunderts.

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5.

Aufwertung der Liebe im 12. und 13. Jahrhundert

Die Liebe Alexanders des Großen – zwischen Phantastik, Idealisierung und Funktionalisierung

Das Genre der historia barg im 12. und 13. Jahrhundert die Möglichkeit, Herrscher als Personifikationen des Vortrefflichen darzustellen, weil das Geschehen durch die reiche Ausgestaltung der Motivierung und durch die freie Verfügung von Tatenbeschreibungen erlaubte, die Liebe als personales Erleben und zugleich als Ausweis herrscherlicher Vortrefflichkeit vorzuführen und in Erzählungen einzubetten. Weil die historia Fakten vorzustellen vorgaben, sie angeblich wahre Geschichten erzählten, schlugen sie eine Brücke zur Realität der Herrschaft, waren aber doch auch von ihr entfernt, wenn sie ein räumlich und zeitlich entrücktes, sogar mit exotischen Figuren angereichertes Geschehen darstellten, das aber – so die weitere Volte – auf einem Kampfplatz der aktuell präsenten Vortrefflichkeiten und Schändlichkeiten vorgeführt wurde.1040 Vorgestellt war auf diesem Kampfplatz die Figur von Alexander dem Großen, über den auch mittelalterliche Texte berichteten.1041 Trotz der divergenten Urteile galt er übereinstimmend als Herrscher, der Liebe und Schrecken verbreitete. Die mittelalterlichen historiae zu seinem Leben behaupteten, tatsächliche Ereignisse zu erzählen, die aber gleichwohl erfundenes Geschehen berichteten. Sie stellten Modelle des Vortrefflichen oder des Verderblichen dar. Dank der Entrückung des Geschehens in eine ferne Vergangenheit und in eine ferne Weltgegend waren die Idealisierung und die Ent-Idealisierung von den Zwängen einer Erzählung, die den Fakten verpflichtet wäre, besonders leicht enthoben, was die Einschübe des Phantastischen erlaubte und überdies ermöglichte, mit der Person Alexanders unterschiedliche, mitunter auch unvereinbare Anforderungen und Ablehnungen zu verbinden. Alexander als Heide, aber auch als Figuration eines christlichen Herrschers boten Stoff für Bewertungen. Die Texte suchten die Gründe für die Erfolge Alexanders anzugeben. Die für das Mittelalter einflussreichste Version der Alexanderromane, die für die folgenden Jahrhunderte der Basistext für das Bild Alexanders im Mittelalter wurde und die bisherigen disparaten Textbestandteile, vor allem die des Curtius Rufus aus dem 1. nachchristlichen Jahrhundert zusammenfasste, war diejenige, die Alexander von Paris um das Jahr 1180 in französischer Sprache verfasste und dabei auch die kanonisch gewordene Versform der Alexandriner in die Literatur einführte. Der Autor stammte aus der Normandie. Sein Text oszilliert zwischen Romanistische und germanistsche Perspektiven, hg. v. Leonie Butz, Hanna Häger, Wiesbaden 2013, S. 15–28. 1040 Franz-Josef Schmale, Funktionen und Formen mittelalterlicher Geschichtsschreibung, Darmstadt 1985, S. 68–84; Von Moos, Geschichte. 1041 Jean-FranÅois Frappie, Histoire, mythe et symbole. Etudes litt8rature franÅaise, Paris 1976, S. 36–39.

Die Liebe Alexanders des Großen

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den Gattungen der fabula und der historia und verfolgt eine didaktische Absicht, um darzulegen wie der Herrscher mit seinen Untertanen handeln soll. Zu den Pflichten gehört die Gewährung von Liebe. Ausdrücklich verspricht der Autor im Prolog des Werkes, der Hörer und Leser könne lernen, wie er lieben und hassen soll, wie er Freunde gewinnen und in Liebe ihre Freundschaft erhalten kann, wie er sich an Feinden rächt und wie er Getreue durch Belohnungen an sich bindet, um zu verstehen, viele Länder zu erobern und viele Völker zu unterwerfen.1042 Der Autor schreibt: Der wahre Reichtum eines Herrschers bestehe nicht in seinen Schätzen, die in den Kellern verrotten, sondern in der Zuneigung seiner Anhänger.1043 Liebe und Macht, amor et segnorie, habe König Alexander von dem Volk, das er in Syrien unterworfen habe, erhalten, weil er dieses Volk mit Bescheidenheit und ohne Hochmut für sich zu gewinnen verstanden habe. König Alexander liebe sein Volk und verspreche, dessen Land vor allen Feinden zu schützen.1044 Der Autor gestaltet eine Rede, die Alexander der Große an den indischen Herrscher Porrus richtet und in der er die Grundlagen seiner Siege benennt. Dazu gehöre die Zuneigung seiner Kämpfer. Er beabsichtige nicht den Erwerb von Reichtümern, denn ein Mann mit viel Besitz, aber ohne Freunde, von Gier angetrieben, sei einsamer als ein Eremit im Wald und schutzlos den Angriffen seiner Feinde ausgeliefert. Vielmehr sei die Gewinnung der Liebe der Getreuen verlangt und von ihm auch erreicht; so könne er verhindern, dass sie ihn verraten und verlassen. Die Liebe sei durch Freigebigkeit zu erlangen; ja König Alexander verkündet in dem Text unverhohlen, dass Liebe gekauft werden müsse. Ohne Gegenseitigkeit und ohne gemeinschaftlich erworbenen Nutzen gebe es keine Liebe und folglich auch keinen Gewinn für den Herrscher. Es sei eine Wahnvorstellung zu glauben, dass sich Menschen im Dienst für ihren Herrn einsetzen würden, ohne dass ihnen Geschenke gereicht würden. Freigebigkeit sei eine Tugend des Herrschers. Geiz sei ihm unwürdig, gefährde seine Ehre, entfremde von Freunden, führe zum Verlust der Herrschaft.1045 Freigiebigkeit anzumahnen, entsprach den Erwartungen und Interessen von Lehensmannen, die ihren Dienst entlohnt sehen wollten, dabei aber in unge1042 Alexandre de Paris, Roman d’Alexandre, S. 70; Albert Henry, Etudes sur les sources du Roman d’Alexandre de Lambert li Tors et Alexandre de Bernay, in: Romania 62 (1936), S. 205–221; Pierre Kunstmann, La l8gende d’Alexandre le Grand dans la litt8rature franÅaise du moyen .ge, in: Cahier des 8tudes anciennes 2 (1973), S. 67–77; Rüdiger Schnell, Der »Heide« Alexander im Mittelalter, in: Kongressakten zum Freiburger Symposion de Mediävistenverbandes, hg. v. Willi Erzgräber, Sigmaringen 1989, S. 45–63; Catherine Gaullier-Bougassas, Les romans d’Alexandre. Aux frontiHres de l’8pique et du romanesque, Paris 1998. 1043 Alexandre de Paris, Roman d’Alexandre, S. 72. 1044 Ebda., S. 236, 248. 1045 Ebda., S. 116, 206, 208, 438.

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messener, nicht berechnender Weise Gunst verlangten, die sich in Geschenken ausdrückte.1046 Andere literarische Texte des 12. und 13. Jahrhunderts haben die Freigiebigkeit Alexanders mit der der zeitgenössischen Herrscher in Verbindung gebracht – sei es als Mahnung, sei es als Beschreibung – so auch im Umfeld der Stauferherrscher von Kaiser Friedrich I. bis zu seinem Enkel Friedrich II. Walter von der Vogelweide († um 1230) stellt den in seinen Augen allzu sparsamen Königen seiner Zeit die Freigiebigkeit Alexanders gegenüber, der, indem er gab, viel erhielt. Auch bei dem Dichter Hartmann von Aue (†1220) zeichnet sich Alexander durch Freigiebigkeit aus.1047 Die Liebe galt als der Ursprung der Freigiebigkeit. Liebe war Pflicht. Der Notar von Friedrich I., Gottfried von Viterbo, hat in seiner Panthenon bezeichneten Weltgeschichte Alexander gar als Herrscher eingeführt, der wie ein Christ handele.1048 Als Beweis eines Vorbildes war auch die im Jahre 1236 in Gedichtform abgefasste Historia Alexandri Magni des Juristen Friedrichs II. Quilichinus von Spoleto gestaltet.1049 In den Texten wird erzählt, wie die Gewährung von Geschenken Schenker und Beschenkte in einer Beziehung gegenseitiger Verpflichtung vereint. Seitens der Gefolgsleute ist sie als Treue bezeichnet. Weil sie nicht auf einem kommerziellen, gar monetären Austausch beruht, lässt sie sich weder quantifizieren noch durch rechtliche Ansprüche verstetigen, sondern bedarf einer stets erneuerten Verteilung von Vorteilen. Allein durch viel Geld könne Liebe nicht zuverlässig erworben werden, wie Alexander – so wiederum im Roman, den Alexander von Paris verfasste – schreibt, denn es gelte, nicht abgezählt, nicht berechnend Vergünstigungen zu vergeben.1050 Die Begrifflichkeit des Kaufens von Gunst und Loyalität meint nicht ein Handelsgeschäft, sondern die freiwillige Gabe und den freiwilligen Dienst. Beide werden durch die Liebe geweckt, die ja keine durch Rechtsansprüche verlangte Zuwendung vorsieht, gleichwohl gefordert ist. Die Treue kann nur durch Liebe geweckt werden; allein der Treueid vermag dies nicht; deswegen bittet Alexander die Unterworfenen in Baktrien, seine Freunde zu werden und aus Liebe zu ihm, die größer als jede andere Liebe ist, ihm Dienst zu leisten. Der Tischdienst, den Antiguus für ihn leistet, verrichte er aus Liebe zu Alexander. 1046 Aaron J. Gurjewitsch, Das Weltbild des mittelalterlichen Menschen, München 1982, S. 257–263, 282–291; Fr8d8ric Lachaud, Freigebigkeit, Verschwendung und Belohnung bei Hofe, ca. 1150–1300, in: Luxus und Integration. Materielle Hofkultur Westeuropas vom 12. bis zum 18. Jahrhundert, hg. v. Werner Paravicini, München 2010, S. 85–104. 1047 Walter von der Vogelweide, Leich, Lieder, Singsprüche, hg. v. Karl Lachmann, 14. Aufl. bearb. v. Christoph Cormeau, Berlin, Boston 2013, S. 16, 36; Hartmann von Aue, Erek, hg. v. Thomas Cramer, Zeile 2820. 1048 Gottfried von Viterbo, Pantheon, S. 163–166. 1049 Quilichinus von Spoleto, Historia Alexandri Magni, hg. v. Wilhelm Kirsch, Skopje 1971. 1050 Alexandre de Paris, Roman d’Alexandre, S. 400; Alexandre Henry, Etude sur les sources deu Roman d’Alexandre de Paris et Lambert le Tort. Importance de l’Historia de Preliis, in: Romania 62 (1936), S. 433–480.

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Der Vasall ist der in Liebe verbundene Freund, der sich der Liebe würdig erweisen muss – durch seine Hingabe für seinen Herrn und durch die Bereitschaft, den Dienst für ihn zu leisten, nicht weil er den Dienst, sondern weil er die Liebe schuldet. Dafür ist er auch bereit, sein Leben im Kampf einzusetzen.1051 Die Liebe, so sehr sie auch in die Herrschaft eingelagert ist, verlangt echte Zuneigung. Dies war die Botschaft, die die Texte von Alexander von Paris und weiteren Autoren kündeten. Liebe, in dem Alexanderroman von Alexander von Paris mit dem Wort amour bezeichnet, erfasst eine weite Spannbreite menschlicher Beziehungen und lenkt gleichermaßen die Kinder zu ihren Eltern, die Ehegatten zueinander, die Beziehung zwischen Verwandten, die sexuelle Begierde wie auch politisch motivierte Bündnisse. Der unterschiedslose Gewinn der Liebe macht sie zu einer Kraft, die die Menschen zusammenführt.1052 Sie ist eine Pflicht, die auch dem Herrscher geschuldet ist, so wie dieser sie gewähren muss. Obwohl sie nicht rechtlich gefordert ist, wird sie begrifflich mit dem Recht in Verbindung gebracht: Sie wird loiaument gewährt. Die Etymologie zum Legalen und Gesetzlichen leitet über zum Begriffsinhalt.1053 Die Liebe gewährt Erfolg: für den Herrscher, für die Gesamtheit der Getreuen, auch auf dem Schlachtfeld.1054 Gänzlich anders stellt Walter von Ch.tillon (ca. 1135–1190) Alexander in seinem lateinisch geschriebenen Alexanderroman vor. Der Autor stammte aus der Champagne, erhielt in Bologna eine juristische Ausbildung, war Stiftsherr im nordfranzösischen Amiens. Statt Alexander als Vorbild vorzuführen, stellt er seinen Protagonisten vielmehr als Ausgeburt der Maßlosigkeit dar, wegen dessen Welteroberungsplänen die natura selbst auf den Plan tritt, um die Vermessenheit zu beklagen und um Alexander in die Schranken zu weisen. Walter, der sein Werk im Umfeld vom Erzbischof von Reims, Wilhelm von Champagne, schreibt, lässt Aristoteles als Lehrer des jungen Königs auftreten, ausdrücklich nicht indem er ihm ein Handeln, das ihm Liebe zuführt, empfiehlt, sondern indem er ihn zu Ehrgeiz und Aggression anspornt. Aristoteles lehre Gewalt, Bedrohung und Erschrecken der Feinde und auch der Freunde; sie seien die adäquaten Mittel, um die flüchtigen Gelegenheiten der fortuna zu packen. Erfolg ist abgelöst von Ethik. Alexander gilt bei Walter von Ch.tillon als ein verwerfliches Exempel der rücksichtslosen Tat, aber doch auch als Vorbild für kriegerische Tüchtigkeit, die im Zeitalter der Kreuzzüge verlangt war. Die Widmung des Werkes an den französischen König Philipp II. August ist wohl als Argument aufzufassen, dass nicht nur die Darstellung eines verdammungswürdigen 1051 1052 1053 1054

Alexandre de Paris, Roman d’Alexandre, S. 98, 08, 192, 400, 436, 566. Ebda., S. 102, 104, 106, 148, 284, 288, 404, 576, 594, 596, 600, 734, 736. Ebda., S. 724. Ebda., S. 122.

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Herrschers, dessen Hybris deutlich zu Tage tritt, sondern auch das Lob einer militanten Durchsetzungsfähigkeit beabsichtigt ist. Das moralische Defizit gilt als Voraussetzung des Erfolgs, damit auch die Erregung von Schrecken als gerechtfertigt. Mit der dialektischen Wendung von Gewalt und Gewaltandrohung zu Nutzen und Gewinn entbehrt der Text der Eindeutigkeit, so dass die exemplarische Lehre, die aus dem erzählten Leben Alexanders gewonnen werden konnte, nicht aus den expliziten Bewertungen, vielmehr aus den inhärenten Vorteilen auch des moralisch verwerflichen Handelns zu entnehmen war.1055 Unmissverständlich hingegen überwiegt im deutschsprachigen Alexanderroman, von Rudolf von Ems, um die Mitte des 13. Jahrhunderts geschrieben, die Ausgestaltung eines nachahmenswerten Vorbildes, das vermutlich den Söhnen Kaiser Friedrichs II. vorgestellt war. Das Werk behauptet, dass die Tugenden des Handelnden das launische Schicksal bezwängen. Diese Tugenden habe Alexander verwirklicht, und sie hätten ihn in die Lage versetzt, Herrschaft zu erwerben und zu sichern. Hierzu sei es nicht erforderlich, Liebe zu erregen, auch nicht Furcht; vielmehr empfiehlt Rudolf eine Mäßigung aller emotionalen Regungen. Dies habe Alexander getan, der weise handele, indem er ungeachtet von Zu- und Abneigung seine Getreuen belohne. In Umkehrung der literarischen Vorlagen, dem antiken Alexanderroman von Curtius Rufus und dem Roman von Walter von Ch.tillon, ist ausgeführt, dass es Alexander gelinge, die Hybris zu überwinden, so dass er sogar in eine christlich gedeutete Heilsgeschichte eingestellt wird; er bereite ein künftiges Endkaisertum vor, das zur Erlösung der Frommen leite und das bereits in der Gegenwart des erzählten Geschehens ein Reich des Friedens errichtet habe.1056 Alexander der Große war Projektionsfläche für Deutungen, die Lehren für die Herrscher anboten, teils als warnendes Beispiel, teils als nachahmenswertes Vorbild. Die ambivalente Bewertung blieb auch in den folgenden Epochen, bestehen, besonders dank der Vermittlung, die das weit verbreitete enzyklopädische Werk des Dominikaners Vinzenz von Beauvais (†1264) seit dem Ende des 13. Jahrhunderts leistete. War die erste Fassung, auf Anweisung der Ordensleitung um 1244 geschrieben, noch wenig verbreitet, so gewann die zweite Version von 1259 eine sehr große Leserschaft; sie muss gar als Standardenzyklopädie des 1055 Galteri de Castellione Alexandreis, hg. v. Martin L. Colker, Padua 1978; Claudia Wiener, Proles vaesana Philipp totius malleus orbis. Die Alexandreis des Walter von Ch.tillon und ihre Neudeutung von Lucans Pharsalia im Sinne des typolotischen Geschichtsverständnisses (Beiträge zur Altertumskunde 140), München, Leipzig 2001, S. 10–13, 33–44. 1056 Rudolf von Ems, Alexander. Ein höfischer Versroman des 13. Jahrhunderts, hg. v. Victor Junk, Tübingen 1928/29; Karl Stackmann, Rudolfs Alexander und der Roman des Q. Curtius Rufus, in: Festschrift Josef Quint, hg. v. Hugo Moser u. a. Bonn 1964, S. 215–230; Roy Albert Wisbey, Das Alexanderbild Rudolfs von Ems (Philologische Studien und Quellen 31), Berlin 1966, Trude Ehlert, Deutschsprachige Alexanderdichtung dese Mittelalters. Zum Verhältnis von Literatur und Geschichte, Frankfurt a. M. u.a 1989.

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späten Mittelalters angesehen werden. In diesem Werk war die Wahrheitsfrage eindeutig beantwortet, denn es war als Sammlung von Faktenwissen gestaltet und so auch rezipiert worden. Vinzenz präsentiert Alexander als launischen, von seinen Emotionen angetriebenen Menschen, der, verführt durch die Schönheit seines Körpers und die Fähigkeit seines Geistes, anmaßend und jeder Belehrung abgeneigt geworden sei. Die Impulsivität gibt Vinzenz als Grund dafür an, dass Alexander zum wilden und gefährlichen Löwen geworden sei. Eine politisch oder gar moralisch gelenkte Steuerung von Liebe schließt das Werk des Enzyklopädisten aus. Alexander verdanke seine Erfolge der Verbreitung des Schreckens. Vinzenz konzediert aber auch, dass der Schrecken Stärke zeige und hervorbringe. Die Furcht, die die Menschen gegenüber Alexander hegten und die sie unter seine Herrschaft zwängen, sei zwar nützlich, indes für einen verfehlten Zweck, nämlich der Herrschsucht. Einer hybriden Deutung der Tradition folgend, konzediert Vinzenz zwar die Effizienz der Herrschaft, verweigert ihr aber eine günstige Bewertung.1057 Erzählte Geschichten boten Raum für ein Arrangement von Belehrungen. Die erzählte Welt wurde mit Herrschergestalten und Kämpfern ausgefüllt, die Ideale verwirklichten oder verfehlten. Gestalten wie Alexander, Karl der Große oder Roland eigneten sich zum Zeigen von nachahmenswerten Verhalten und Gesinnungen und genauso von Verfehlungen. Die gleitenden Übergänge von Geschichte zu Geschichten, von historia zu fabula, erlaubten sowohl die Anbindung an ein faktisches Geschehen als auch die freie, von strenger Faktentreue abgelöste Modellierung eines Ideals. Das Erzählen über einen Herrscher bot eine Belehrung, die zur Nachahmung einlud, aber auch vor dem falschen Gebrauch der Macht warnte.1058 Das Thema, wie die Liebe in die Herrschaft eingebunden werden konnte und wie sie den Herrscher als Person umgab, konnte aber nicht hinreichend erörtert werden, ohne die Authentizität der Liebe zu bewerten. Sie allein in eine wirklichkeitsentrückte Idealisierung oder in eine ferne Vergangenheit zu platzieren, genügte nicht. Die Wirklichkeit der Liebe war vorzuführen. 1057 Vinzenz von Beauvais, Speculum maius, t. 4: Speculum historiale, Ndr. Graz 1965, S. 118; Martin Gosman, The Life of Alexander the Great in Jean de Vignay’s »Miroir historial«, in: Vincent de Beauvais and Alexander the Great, Studies on the Speculum Maius and is Translation into Medieval Vernaculars, hg. v. Willem J. Aerts u. a., Groningen 1986, S. 85– 99; Anna-Dorothee von den Brincken, Geschichtsbetrachtung bei Vincenz von Beauvais. Die Apologia Actoris zum »Speculum Maius«, in: DA 34 (1978), S. 410–499; Vincent de Beauvais: Intentions et r8ceptions; Paulmier-Foucart, Vincent de Beauvais, S. 7–30. 1058 Hinweise zur Problematik der Historiozität von historiographishen und literarischen Texten: Peter G. Bietenholz, Historia and Fabula. Myths and Legends in Historical Thought form Antiquity to the Modern Ages, Leiden 1994; Claudia Daniotti, Tra fabula e historia. Sulla ricezione del mito di Alessandro il Grande nel Quattrocento, in: Schiffanoia. Notizie dell’Istituto di studi rinascimentali di Ferrara 42/32 (2012), S. 227–239.

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Wahre und falsche Liebe

Um den Herrscher in eine Aura der Liebe einzuhüllen, musste die Liebe gezeigt werden – und dies in der Gegenwart und vor den Menschen, die der Herrschaft unterstanden. Das Zeigen setzte voraus, dass die Liebe echt sei. Mit einer echt empfundenen Liebe brachen aber Unberechenbarkeiten ein, die in Widerspruch zu herrschaftlichen Interessen treten konnten. Authentizität hatte einen doppelten Sinn: Einerseits war sie an die Texte angebunden, die behaupten, das Wahre darzustellen, andererseits mit den Emotionen, von denen behauptet wurde, dass sie echt seien. Aus der Doppelung entsprang eine schwierig zu gestaltende Beziehung: die zwischen dem liebenden König und der Darstellung des liebenden Königs. Die Forderung nach Authentizität setzte voraus, dass die Spannung zwischen den beiden Polen gering gehalten wurde, zugleich auch, dass eine Vorführung geleistet wurde, also ein Zeigen einer Oberfläche, hinter der Emotionen als tatsächlich existierende glaubhaft gemacht wurden. Wenn eine authentische Präsentation authentischer Liebe behauptet war, war die doppelte Authentizität aber stets fraglich. Die Ablösung aus der Fiktionalität war dem Risiko ausgesetzt, ein falsches Bild von der Realität zu entwerfen und sie ins Fiktive abgleiten zu lassen. Dann war aber die legitimierende Wirkung verfehlt. Die Affirmation der Liebe war dennoch notwendig. Dem im Diskurs eingeschlossenen Begründungszusammenhang war ein argumentativer Zugang zur Realität versperrt, nicht aber ein idealisierter Zugriff zu ihr. Eng geknüpft war die Verbindung von Liebe und Herrschaft in den Texten der politischen Praxis, die sie, selbst wenn die Liebe wenig glaubwürdig erscheinen mochte, sie doch als Grund des Handelns angaben. Liebe gebe es im Kontakt zwischen Kaisern und Königen; davon kündeten die Urkunden. Diese Texte waren nicht fiktional, aber fiktiv, was die Liebe betraf. Das Schreiben, das der römisch-deutsche König Konrad III. an den byzantinischen Kaiser Johannes II. im Jahre 1142 richtete, insistierte auf dem Vorrang des alten gegenüber dem neuen Rom, verlangte daher vom oströmischen Kaiser eine töchterliche Liebe, also eine Liebe einer tiefer gestellten Person zu ihm, die, sofern der oströmische Herrscher sie hervorbringe, erlaube, einvernehmlich zu handeln und die gemeinsamen Feinde zu bekämpfen. Das Antwortschreiben aus Konstantinopel wendete die Liebe in eine brüderliche Zuneigung um, die also gleichberechtigt war. Die Formulierung übernahm zwar Konrad in einem neuen Schreiben an den Nachfolger Kaiser Manuel I., ohne aber in einer späteren Passage desselben Briefes nicht doch auf die vollkommene Liebe zu verweisen, wie sie der Sohn gegenüber dem Vater hege – er also wieder auf seinem Vorrang in der Beziehung der Liebe bestand und es vermied, die Liebe in eine egalitäre Relation zu überführen. Die Spitzenposition des okzidentalen Kaisers, auch in einer Beziehung der Liebe gegenüber einem Herrscher, der nicht einmal zum Kaiser gekrönt

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worden war, zu behaupten, war offensichtlich dem Chronisten Otto von Freising ein wichtiges Anliegen, der die Urkunden als Inserte in die Gesta Frederici einfügte. Ähnlich suchte Otto auch den englischen König in einer abhängigen Stellung gegenüber dem Kaiser vorzuführen. Der von ihm zitierte Brief König Heinrichs II. von England an Kaiser Friedrich I., im Jahre 1157 versandt, führt aus, dass das Königreich England der Herrschaft des Kaisers unterstellt sei, so dass alles auf dessen Wink hin geordnet werde und alles nach seinem Willen geschehe. Rechtlich war diese Auffassung gewiss ohne Belang; wichtig war vielmehr, die enge Verbundenheit zwischen den beiden Herrschern herauszustellen. Heinrich habe vogeschlagen, ihn und Friedrich in einem Bund des Friedens und der Liebe zu vereinen, die auch die beiden Völker in eine ungeteilte Einheit hinführe. Weder das Versprechen von Unterordnung noch das von Liebe galten aber Otto von Freising als wahrhaftig. Er disqualifizierte ironisch die Sprechweise als honigsüß – in mellito sermone –, was aber nicht verhinderte, dass der Chronist die hierarchische Distanz betonte und er noch weitere Gesandte mehrerer Königreiche auftreten ließ, die ihre Liebe dem Kaiser bekundeten, wobei dieser stets eine Spitzenposition einnahm. Liebe war aber in diesen Beziehungen der Könige zum Kaiser, so musste Otto einräumen, nur vorgespiegelt; sie war falsch.1059 Die Liebe hatte offensichtlich in den Beziehungen zwischen den Herrschern nur insofern eine Berechtigung, als sie von den Beteiligten als Redeweise eingesetzt war und eingestandenerweise nicht einmal eine Emotion ausdrücken sollte, sondern als Begründung für Dominanz und Unterordnung verwendet war. Glaubwürdiger waren die Benennungen der Liebe in die vasallitischen Beziehungen eingesetzt. Die unbestreitbar hierarchische Differenz sollte in Liebe eingekleidet sein. Die Verbindung von Liebe und niederer Stellung war formuliert in einem Schreiben, das die Schwester des Herzogs der Bretagne, Konstanze, an den französischen König Ludwig VII. (1137–1180) richtete, der den Brief als Dokument der Unterordnung deutete. Konstanze schrieb, ihre Liebe zum König übersteige jedes Maß und könne auch nicht angemessen durch Worte dargestellt werden; stattdessen sollten Geschenke von dieser Liebe künden. Dem Changieren zwischen Unterwerfung und gemeinsamen Handeln, zwischen politischer Opportunität und Ausdruck persönlicher Liebe war auch eine erotische Färbung eingefügt, die offensichtlich einer Frau angemessen war. Der von ihr behauptete Liebesdienst entsprach dem literarischen Ideal im höfischen Kontext, entließ ihn gleichwohl nicht der politischen Opportunität. Die Echtheit der Gefühle trat hinter der politischen Beziehung zurück.1060

1059 Ottonis et Rahewini Gesta, S. 37–42, 45–46, 171–173. 1060 Recueil des Historiens des Gaules et de la France, Bd. 16, hg. v. L8opold Delisle, Paris 1878,

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Echte Gefühle der Liebe zu hegen, galt offensichtlich bei Herrschern und Vasallen sogar als unangemessen. Als Besonderheit, die den Rahmen des Üblichen verließ und kritisiert wurde, weil sie das politisch Opportune missachtete, galt die Beziehung zwischen König Philipp II. von Frankreich (1180–1223) und dem englischen Thronfolger Richard Löwenherz (†1199). Ein Einbruch eines befremdlich wirkenden emotionalen Impulses wurde festgestellt. Das persönliche gegenseitige Gefallen, das anscheinend auf Gefühlen der Zuneigung beruhte, jedenfalls öffentlich als emotionales Band vorgeführt wurde, traf auf die Missbilligung der Zeitgenossen: Die zwischen ihnen bestehende Freundschaft erschöpfte sich nicht in Versicherungen der gegenseitigen Liebe, sondern führte zu gemeinsamen, letztlich zu große Intimität stiftenden Handlungen, wie das Mahl aus einem einzigen Teller und das Zusammenliegen in einem Bett. Offensichtlich überschritten die Handlungen den Rahmen ritueller Inszenierungen, weswegen, nach Aussage des englischen Chronisten Roger de Howden († vermutlich 1201), der Vater, König Heinrich II., über dieses Verhalten sehr erstaunt war, dies allein schon deswegen, da doch ein Krieg zwischen Richard und Philipp auszufechten gewesen wäre.1061 Liebe war in diesem Fall verfehlt, weil sie den politischen Anliegen widersprach und überdies auf eine Unterordnung Richards gegenüber Philipp hinauslief, die die lehensrechtliche Unterstellung der englischen Könige als Vasallen der französischen Könige, entgegen der Intention des englischen Hofes, zu intensivieren riskiert hätte. Statt einer emotionalen Zuneigung, wie sie Roger von Howden missbilligend ausführt, beschreibt wenig später der Chronist Gervasius von Canterbury († 1210), in Kenntnis der späteren Konflikte zwischen den Königen Richard und Philipp, eine emotional entleerte Freundschaftsbeziehung, die nicht die gegensätzlichen Anliegen und Interessen verleugnet. In dem Werk Chronicon sowie in der später verfassten Schrift Gesta Regum ist zwar eine Unterordnung Richards gegenüber Philipp eingeräumt, sie wird aber für die Zeit vor der Thronbesteigung Richards beschränkt und in die rituellen Formen des Lehenswesens eingekleidet. Gervasius nennt ein singulare colloquium von Philipp und Richard und meint damit eine enge Beziehung, nicht aber eine emotionale Bindung. Gervasius schließt Liebe aus, räumt lediglich eine gemäßigte Freundschaftsbeziehung ein, die nicht den Rahmen der zeremoniellen Formen des Kontaktes zwischen zwei Herrschern überschreitet.1062 Nicht eine emotionale Intimität, sondern eine politiS. 23; Ursula Peters, Rolf Köhn, Höfisches Liebeswerben oder politisches Heiratsangebot?, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 111 (1989), S. 179–185. 1061 Roger de Howden, Gesta regis Henrici Secundi, hg. v. William Stubbs (RerBrit 49), Bd. 2, London 1867, S. 7. 1062 Gervasius de Canterbury, Chronica, hg. v. William Stubbs (RerBrit 73,2), Bd. 1, London 1879, S. 324, 450; Gervasius von Canterbury, Gesta Regum, hg. v. William Stubbs (RerBrit 73,1.), London 1879, S. 84; zum Autor : Antonia Gransden, Realistic Oberservations in Twelfth Century England, in: Speculum 47 (1972), S. 29–51, S. 39f.; Dies. Historical

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sche Rationalität war den Beziehungen zu unterlegen und dies unabhängig davon, welcher Art die Regungen des Einzelnen tatsächlich gewesen sein mögen. Indes sollte die Liebe, die die Herrscher zeigten, nicht bar jeglicher affektiven Bewirkung, nicht allein ein Spiel der Macht sein, sondern bedurfte, um glaubwürdig zu sein, einer authentischen Fundamentierung. Wie Stephan Jaeger schreibt, war sie eine tatsächlich gelebte Liebe, nicht ein leere soziale Geste.1063 Gegen die Position von Jaeger ist indes darauf zu bestehen, dass der »amour v8cu« erstens der historischen Forschung unzugänglich ist, und – dies ist der entscheidende Punkt – der Kenntnis der Zeitgenossen nicht minder. Was bleibt, ist das Eingeständnis eines nicht auszuräumenden Nicht-Wissens. Gleichwohl war die Frage, ob die Liebe wahr sei, nicht unerheblich und war Gegenstand der Überlegung der zeitgenössischen Beobachter. Wichtiger aber als die Untersuchung nach der Wahrheit war die Beurteilung der Richtigkeit des Handelns. Mit ihr konnte mitunter die wahre Liebe in einen Gegensatz geraten. Die De-Maskierung nur vorgetäuschter Liebe war dann weniger gravierend als der Vorwurf echter, aber verfehlter Liebe. Es gab das Problem, wie Liebe vorgeführt werden sollte und wie sie als echt galt und als echte Liebe in Gefahr geriet, verfehlt zu sein. Den König aus den Beziehungen der Liebe auszuschließen oder ihn nur als Gestalt der Fiktion des Liebenden einzuführen, gefährdete seine Legitimität. Die Produktion des Fiktionalen genügte ebenfalls nicht. Das lediglich Gezeigte, Vorgeführte, nur Fiktive konnte, weil es als kontrafaktisch galt, einer sozialen und politischen Wirkung entbehren und riskierte, der Herrschaft Begründung vorzuenthalten. Ebenso standen echte Gefühle in der Gefahr, zu entgleisen, den Zielen der Herrschaft zuwider zu laufen, zu unangemessenen Gefühlen und falschen Handlungen zu führen. Die Liebe, wenn sie in die Herrschaft integriert werden sollte, war in geordneter Weise zu formen, bedurfte einer theoretischen Begründung. Um sie zu erzeugen, um sie an den Herrscher heranzutragen, war eine Belehrung erforderlich: die des Herrschers, an die häufig die belehrenden Texte gerichtet waren, und ebenso – wenn auch meist nicht explizit – die der Untertanen, damit sie die Herrschaft akzeptierten und mit ihr kooperierten, so dass alle in ein emotional grundiertes Verhältnis einbezogen wurden. Der Pfad von der Idealisierung zur Realisierung, von der Fiktion zum Faktum war zu zeigen. Die Anleitung zielte auf die Normierung eines herrscherlichen Verhaltens, das die Liebe in die Motivierung und in das Handlungsrepertoire aufnehmen und sie in die Institutionen der Herrschaft einbinden sollte, sie zugleich aber auch vor einem Abgleiten in regellose Emotionen abschirmte, damit nicht Writing in England, Bd. 1, London 1974, S. 253–258; zum rituellen Liegen im gemeinsamen Bett: Gerd Althoff, Das Bett des Königs. Zu Thietmar II, 28, in: Festschrift für Bernt Schwineköper, hg. v. Hans-Martin Maurer, Hans Patze Sigmaringen 1982, S. 141–153. 1063 Jaeger, Amour, bes. S. 554; Bouquet, L’amiti8, S. 75.

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die Unordnung der Gefühle in die Ordnung der Herrschaft hineinwucherte. Der drohenden Überwältigung durch eine hemmungslose Liebe war die zielgerichtete, regulierte, herrschaftlich nützlich gemachte und gleichwohl als echt, als wahrhaft empfundene Liebe gegenüberzustellen. Solange die Liebe ein literarisches Ideal war, war sie in den Leidenschaften eingefangen, öffnete sie sich zur sozialen Vereinigung, gar zur politischen Herrschaft und zur Begründung königlicher Gewalt, war sie aus den Leidenschaften abzulösen. Eine Liebe, der keine Vorgaben auferlegt waren, hatte dann keine Berechtigung. Die beiden Sprechweisen von Liebe zusammenzuführen, führte zu keiner homogenen Begründung. Unverbunden existierten unterschiedliche Diskurse.1064 Die Darstellung der Liebe schlug zwei unterschiedliche Wege ein, die sich seit dem 12. Jahrhundert voneinander trennten: Einerseits wurde ein tief empfundenes, aufwühlendes, den Menschen in den Bann schlagendes, ihn niederwerfendes Gefühl dargestellt, das, um authentisch vorgestellt zu werden, in Texten der Fiktionen angesiedelt wurde. Andererseits wurde ein emotionaler Impuls beschrieben, der gebändigt war und für die Herstellung sozialer Gruppen sich als nützlich zu erweisen hatte und in das Feld des politischen Handelns, das der Etablierung und der Exekution von Herrschaft, einzusetzen war. Liebe konnte in diesem Fall nicht außerhalb von der Vernunft belassen werden. Vernünftig war die Liebe aus zwei Gründen: wegen der Befolgung des christlichen Liebesgebotes und wegen Ableitung von anthropologischen Grundlagen. Auf Norm und Notwendigkeit beruhte dann die Liebe. In beiden Fällen war sie mit der Herrschaft verknüpft. Aber die Verknüpfung war nicht automatisch. Um sie herzustellen, bedurfte sie der Regelung und die Regulierung bedurfte der Belehrung.

1064 Haug, Höfische Liebe.

X.

Von der Belehrung des Herrschers zur Lehre von der Herrschaft

1.

Der belehrte und der gelehrte König

Wenn die Herrscher beanspruchten, Liebe in die Herrschaftspraxis und –begründung einzuführen, waren sie darauf angewiesen, Zuneigungen zu erzeugen und sie zu rechtfertigen. Um dies tun zu können, mussten sie über den zeitgenössischen Kenntnisstand zur Liebe verfügen, was voraussetzte, dass sie über ihn unterrichtet wurden. Die Anforderung, die Liebe richtig einzusetzen, wurde allein schon deswegen schwieriger zu erfüllen, weil sich der Diskurs zur Liebe auffächerte und das Wort »Liebe« vieldeutiger wurde. Ebenso stiegen auch die Anforderungen an das Regieren, weil theoretische Vorgaben es deuteten und die Anwendungen der Deutungen für das Regieren offensichtlich als notwendig erachtet wurden. Die Belehrung hatte mehr anzubieten als Moraldidaxe, nämlich Herrschaftswissen. Weil das Wissen aber nicht einzig in Belehrungen und Mahnungen an die Fürsten gerichtet wurde, sondern als theoretisches Wissen seit dem endenden 12. Jahrhunderts auch abseits der Institutionen der Herrschaft, vor allem in Schulen und Universitäten, aufbereitet wurde und weil die Gebildeten sich theoretisches Wissen zur Politik aneigneten, war es umso mehr erforderlich, die Herrscher an diesem Wissen teilhaben zu lassen. Die Effizienz der Macht sollte gesteigert werden, weil die gesteigerte Macht den Untertanen nützlich wäre – wurde behauptet. Die Herrscher hätten sich Kenntnisse anzueignen; sie müssten die Aneignung aber auch vorführen; sie sollten zeigen, dass sie sich der Kenntnisse bedienten, die die Texte zum Regierungshandeln bereitstellten, um den Ansprüchen zu genügen, die an sie gerichtet waren. Die religiöse Legitimierung königlicher Herrschaft öffnete weiterhin ein Tor für Geistliche, die Herrscher an ihre Pflichten zu erinnern und ihnen Wissen zu ihrem Tun anzubieten.1065 Vermehrt wurden aber nun nicht mehr nur allein

1065 Klaus Schreiner, Correctio principis. Gedankliche Begründung und geschichtliche Praxis spätmittelalterlicher Herrscherkritik, in: Mentalitäten im Mittelalter. Methodische und

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Mahnungen formuliert, sondern Begründungen geliefert. Sie fußten auf theoretischen Überlegungen zu den Voraussetzungen und zu den Erfordernissen der Herrschaft, welche mehr als nur von Gott eingesetzt legitimiert war, sondern seit dem 13. Jahrhundert die Legitimität aus den immanenten Bedingungen menschlichen Zusammenlebens ableitete. Die Wirkung politischer Theorie auf die Gestaltung der Politik und auf die symbolische Repräsentation der Macht ist schwer anzugeben und in der Forschung unterschiedlich eingeschätzt. Die Palette der Auffassungen reicht von der Annahme, dass realitätsfern, abseits des politischen Geschehens und ohne Einfluss auf dieses, in kleinen Gelehrtenkreisen einzelne Autoren sich den Themen der Organisation und der Legitimität von Herrschaft widmeten, bis zur gegenteiligen Ansicht, dass durch die Mitarbeit von Gelehrten an den Höfen und vor allem durch das Eindringen universitär ausgebildeter Experten des kirchlichen und weltlichen Rechts, der Philosophie und der Theologie in die Schaltzentralen der Macht seit dem 13. Jahrhundert das theoretische Wissen für die Organisation der Herrschaft praktikabel geworden sei. Auch wenn der politischen Theorie kein exakt zu ermittelnder Einfluss auf die Machtausübung zugeschrieben wird, setzt sich offenbar doch die Auffassung in der Forschung durch, dass das Expertenwissen, das mehr als nur prozedurales Wissen war, sondern auch deklaratives Wissen einschloss, für die Begründung und die Praxis der Herrschaft in der Weise wirksam war, dass Plausibilitäten und Legitimitäten ausgeformt wurden, um eine konsensfähige Herrschaftpraxis zu etablieren und um sie so effizient zu machen.1066 In der Tat führten die Vermehrung von Schulen seit dem 12. Jahrhundert und inhaltliche Probleme, hg. v. Frantisek Graus (Vorträge und Forschungen 35), Sigmaringen 1987, S. 203–256 S. 208. 1066 Jean Favier, Les l8gistes et le gouvernement de Philippe le Bel, in: Journal des Savants 1969, S. 92–108; Friedhelm Burgard, Familia archiepiscopi. Studien zu den geistlichen Funktionsträgern Erzbischof Balduins von Luxemburg (1307–1354) (Trierer Historische Forschungen 19), Trier 1991; Peter Moraw, Grundzüge der Kanzleigeschichte Kaiser Karls IV. (1346–1378), in: ZHF 12 (1985), S. 11–42; Ders., Räte und Kanzlei, in: Kaiser Karl IV., Staatsmann und Mäzen, hg. v. Ferdinand Seibt, München 1978, S. 285–292; Ders., Gelehrte Juristen im Dienst der deutschen Könige des späten Mittelalters (1273–1493), in: Die Rolle der Juristen bei der Entstehung des modernen Staates, hg. v. Roman Schnur, Berlin 1986, S. 77–147; Millet, Clercs, S. 237–257; I canonici al servizio dello stato in Europa, secoli XIII–XVI. Les chanoines au service de l’Etat en Europa du 13e au 16e siHcle, hg. v. H8lHne Millet, Modena 1992; Ingrid Männl, Die Gelehrten Juristen in den deutschen Territorien im späten Mittelalter, Phil. Diss. Gießen 1987; Rainer Christoph Schwinges, Karrieremuster. Zur sozialen Rolle der Gelehrten im Reich des 14. Bis 16. Jahrhunderts, in: Ders., Studien zur Sozial- und Kulturgeschichte deutscher Universitäten im Mittelalter, Leiden 2008, S. 515–528; Jürgen Miethke, Wissenschaftliche Politikberatung im Spätmittelalter, in: Politische Reflexion, S. 337–358; Helmut Walther, Die Macht der Gelehrsamkeit. Über die Meßbarkeit des Einflusses politischer Theorien gelehrter Juristen des Spätmittelalters, in: Political Thought, S. 241–267.

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die Entstehung der Universitäten an der Wende zum 13. Jahrhundert zu einer Verbreiterung der sozialen Basis des Wissens. Die Rekrutierung von Absolventen von Stiftsschulen und Universitäten an den Höfen der Herrscher eröffnete ihnen Karrierewege, so wie andererseits die administrative, juristische und auch legitimatorische Fundierung der Machtausübung durch theoretische Überlegungen und Kenntnisse Eingang in die politische Praxis fand.1067 Die Rolle als Ratgeber für Könige, Fürsten und hohe Geistliche kann nicht gering eingeschätzt werden, sofern man nicht eine vollkommen dysfunktionale Nutzung von Kenntnissen voraussetzen wollte, was bedeuten würde, für die hochund spätmittelalterlichen Zeitgenossen eine immense Realitätsverkennung anzunehmen. Die doch offensichtliche Nützlichkeit der an den Universitäten ausgebildeten Experten, die sie in den Augen ihrer Auftraggeber besaßen, lässt erkennen, dass das erworbene Wissen auch anwendbar gehalten wurde und auch Reflexionen anstieß, um die Praktiken theoretisch zu begründen und sie zu bewerten. Allein die Ausweitung des Universitätsstudiums und damit der vermehrte Zugang zu theoretischen Kenntnissen, die Gründung zahlreicher Universitäten durch Könige, Landesherren und Städte und schließlich das Aufholen eines Rückstandes in Deutschland durch die Einrichtung hoher Schulen auch dort zeigen nachdrücklich, dass ohne die Tätigkeiten von Personen, die eine formalisierte Ausbildung erhalten hatten, an den Institutionen der Herrschaftsausübung ein effektives Regieren nicht möglich erschien.1068 Ein institutioneller Rahmen war geschaffen, um theoretische Arbeit zu leisten, und Karrierewege waren gebahnt, um die Protagonisten dieser Arbeit an die Entscheidungszentren zu bringen. Der Pfad von theoretischer Erörterung zu politischem Handeln, von Wissensorganisationen zu Herrscherhöfen war gelegt. Er beruhte auf dem personellen Austausch und auf der Rezeption von Texten. Das Wissen von Experten war erforderlich, um Herrschaft auszuüben.1069 Aber die Veränderung war noch tiefreichender : Eine soziale Verbreiterung von Wissenskulturen fand statt; die Zahl der Schriftkundigen, der Gelehrten und 1067 Jacques Verger, Grundlagen, in: Geschichte der Universität in Europa, Bd. 1: Mittelalter, München 1993, S. 49–80; Millet, Les clercs; Christian Hesse, Amtsträger der Fürsten im spätmittelalterlichen Reich. Die Funktionseliten der lokalen Verwaltung in BayernLandshut, Hessen, Sachsen und Württemberg 1350–1515, Göttingen 2005. 1068 Jacques Verger, Grundlagen, in: Geschichte der Universität in Europa, hg. v. Walter Rüegg, Bd. 1: Mittelalter, München 1993, S. 49–80. 1069 Jacques Le Goff, Les intellectuels au moyen .ge, Paris 1957; Catherine König-Pralong, Le bon usage des savoirs. Scolastique, philosophie et politique culturelle, Paris 2011, S. 7–18; Karl Ubl, Der Gelehrte bei Marsilius von Padua und Wilhelm von Ockham. Zur Abgrenzung von politischer und gelehrter Autorität in de Philosophie des 14. Jahrhunderts, in: Experten der Vormoderne zwischen Wissen und Erfahrung, hg. v. Hedwig Röckelein, Udo Friedrich (Das Mittelalter. Perspektiven mediävistischer Forschung 17,2), Berlin 2012, S. 16–33; Benjamin Müsegades, Fürstliche Erziehung und Ausbildung im spätmittelalterlichen Reich (Mittelalter-Forschungen 47), Ostfildern 2014, S. 209–216, 224–228, 247f.

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der zu theoretischen Überlegungen Befähigten nahm zu und war nicht mehr auf die Gruppe der Geistlichen beschränkt und dehnte sich weit auf die der Laien aus. Eine Expertenkultur entstand, deren soziale Basis erweitert war. Auch der Kreis derer, die als Rezipienten theoretischer Überlegungen auftraten und Akzeptanz und Begründung von Herrschaft abriefen, wurde größer. In einer positiven Rückkoppelung steigerten Expertengruppen, Rezipientengruppen und Herrschaftsgruppen die Verfügbarkeit von Inhalten politischer Theorie.1070 Das Einfallstor der theoretischen Konzepte in die Institutionen der Machtausübung war weit aufgestoßen. Noch weiter verbreitert wurde dieses Tor durch die Tätigkeiten von Ordensangehörigen an den Herrscherhöfen und ebenso durch deren massenwirksame Predigten, die zur Popularisierung von Kenntnissen unter den Laien beitrugen, auch dann, wenn diese nicht zu den Gebildeten gehörten.1071 Vor allem waren es die Mitglieder der Bettelorden, die, ausgebildet an den Ordensstudien und an den Universitäten1072, seit dem 13. Jahrhundert Vorstellungen auch zur politischen Organisation vortrugen. Die Argumentationsweisen zur Politik waren maßgeblich durch sie geprägt. Anders als in den Epochen vor dem Ende des 12. Jahrhunderts fand nunmehr nicht nur eine an die Herrscher gerichtete Mahnung statt, sondern eine die Gesamtheit der Herrschaft erfassende Belehrung.1073 Die Veränderung in der Herrscherberatung und in der Heranführung größerer Bevölkerungsgruppen an die theoretischen Konzepte der Herrschaften beruhte auf der Entstehung eines Wissenschaftsbetriebes, der zwar keine genuin sozial- oder politikwissenschaftlich ausgerichtete Einrichtungen kannte, gleichwohl einen institutionellen Rahmen bereitstellte, um die Verfahren der Herrschaft in den Kanon der Reflexionen einzubeziehen. Inhalte, die an den 1070 Martin Kintzinger, Wissen wird Macht. Bildung im Mittelalter, Ostfildern 2003, S. 175– 182; Björn Reich, Frank Rexrodt, Matthias Roick, Vorwort, in: Wissen massgeschneidert. Experten-und Expertenkulturen in Europa der Vormoderne, hg. v. denselben (HZ. Beihefte. NF 57), München 2012. 1071 Schmidt, Allegorie, S. 301–333. 1072 Le scuole degli ordini mendicanti (secoli XIII–XIV). Convegno del Centro di Studi sulla spiritualit/ medievale 11–14 ott 1976, Todi 1978; Dieter Berg, Armut und Wissenschaft. Beiträge zur Geschichte des Studienwesens der Bettelorden im 13. Jahrhundert (Geschichte und Gesellschaft. Bochumer Historische Studien 15), Düsseldorf 1977; Kaspar Elm, Mendikantenstudium, Laienbildung und Klerikerschulung im spätmittelalterlichen Westfalen, in: Studien zum städtischen Bildungswesen des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit. Bericht über Kolloquien der Kommission zur Erforschung der Kultur des Spätmittelalters 1978 bis 1981 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Philosophisch-historische Klasse 3/137), Göttingen 1983, S. 586–617; Ders., Studium und Studienwesen der Bettelorden: Die »andere Universität«?, in: Stätten des Geistes. Grosse Universitäten Europas von der Antike bis zur Gegenwart, hg. v. Alexander Demandt, Köln 1999, S. 111–126. 1073 Schmidt, Povert/, S. 373–417.

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theologischen, juristischen oder philosophischen Fakultäten behandelt wurden, trugen dazu bei, die Legitimität der Herrschaft, deren Ausübung, die Anforderungen an sie und die Kritik an das Regieren zu erörtern und theoretisch zu begründen. Viele Schriften entstanden, die Reflexionen anstießen und sie fruchtbar machten für die politische Praxis, wie Jürgen Miethke in seinen Untersuchungen zu den mittelalterlichen Ursprüngen einer Wissenschaft von der Politik darlegt.1074 Texte der aristotelischen Politiktheorie und ihrer mittelalterlichen Adaptation wurden an den Institutionen der Herrschaft gesammelt und besprochen.1075 An den Herrscherhöfen vollzog sich seit der Mitte des 12. Jahrhunderts die Wende hin zum Bestreben, Wissen zu erlangen und dieses Wissen nicht allein aus praktischer Anschauung zu gewinnen, nicht nur durch Training der alltäglichen Üblichkeiten von kriegerischen Handlungen, von Gerichtsentscheiden, von Kontaktaufnahmen, von Verhandlungen, von Festen, Turnieren und von Verwaltungstätigkeiten1076 und das Wissen nicht nur zur Ethik zu nutzen, sondern das Wissen mittels geschriebener Texte zur Überprüfung und Korrektur des selbst Erfahrenen einzusetzen. Der Theologe und Pariser Stiftskleriker Hugo von Saint-Victor (ca. 1096–1141) vertrat die Auffassung, dass zu seiner Zeit die Missachtung von praktischen Fertigkeiten und Kenntnissen, die er als artes mechanicae bezeichnete, nicht mehr angemessen sei. Zum Tun und Wissen gehörten auch Gerichtsbarkeit, Kriegshandwerk und Herrschaftsausübung. Im Werk Didascalicon – der Titel verweist auf die didaktische Intention – stellte er die verschiedenen Tätigkeits- und Wissensbereiche vor. Sie könnten und sollten gelehrt und gelernt werden.1077 Laien sollten und wollten an der Bildung partizipieren; sie allein den Geistlichen zu überlassen, wurde nicht mehr akzeptiert. Zu den Laien gehörten nicht zuletzt diejenigen, die die Spitzenpositionen in der weltlichen Rangordnung einnahmen. Die Untersuchungen von Stephen Jaeger und von Eckart Conrad Lutz zeigen, dass gelehrte Informationsaufnahme und Nachdenken an den Höfen üblich wurden und die Themen dabei eine charakteristische Formung erhielten: Bildung an den Höfen löste sich von einer schulmäßigen Vermittlung, die die Meister den Schülern anboten und die vor allem an den Kathedralschulen 1074 Von der Fülle seiner Publikationen zu diesem Thema sei hier nur genannt: Miethke, Politiktheorie, S. 1–24. 1075 Janet Coleman, Some Relations between the Study of Aristotle’ Rhetoric, Ethics and Politics in the Late Thirteenth and Early Fourteenth-Century University Arts Courses and the Justification of Contemporary Civic Actitities (Italy, France), in: Political Thought, S. 127– 157. 1076 Bumke, Höfische Kultur, II, S. 382–450; Nicholas I. Orme, From Childhood to Chivalry. The Education of the English Kings and Aristocracy 1066–1530, London 1984. 1077 Hugo von Saint-Victor, Didascalicon.

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des 12. Jahrhunderts gepflegt worden war1078, und unterschied sich auch von einem formalisierten, durch Examen kontrollierten Wissenserwerb, wie er an den zeitgenössischen Universitäten und Ordensstudien seit dem 13. Jahrhundert vorgesehen war. Bildung wurde vielmehr in Gesprächskreise eingebracht, an denen mehrere Personen teilnahmen, die Informationen zu zahlreichen Gegenständen behandelten und bei denen in wechselseitiger Rede Anregungen, Wissensgegenstände und Verfahren erörtert wurden. Die idealisierte und zeremoniell gestaltete Freundschaft und das Wohlwollen der Gesprächspartner waren die Voraussetzungen für die Vermehrung des Wissens. Der informelle Austausch von Vorstellungen und der Stil des unbefangenen Vorbringens von isoliert erworbenen Erfahrungen und allgemein gültigen Erkenntnissen, adressiert an zahlreiche Empfänger, vor allem aber an mächtige Personen, prägten einen Umgangston, der auf angenehme Weise Themen vermittelte, zu unterhalten vorgab und dazu diente, die Herrscher mit gelehrten Personen und Wissenstexten in Verbindung zu bringen.1079 Geschichte galt als Lehrmeisterin des guten Regierens. Gerichtet war die Lehre direkt an den Herrscher. So geschah es auf dem Hoftag zu Würzburg im September 1157, als der Geschichtsschreiber Otto von Freising, Bischof dieser Stadt, seinem Onkel Kaiser Friedrich I. – auf dessen Wunsch – ihm ein Exemplar des Werkes Historia de duabus civitatibus überreichte. Es gab zwei Begleitschreiben: Darin ermahnte Otto den Kaiser, die Unbeständigkeit der Dinge zu bedenken und aus der Geschichte Lehren zu ziehen: für Kriegführung, Recht und Behandlung der Getreuen. Der Kaiser müsse außer Gott niemanden fürchten; auf ihn laste gleichwohl die Aufgabe, in der Liebe zur Welt sein Reich zu regieren. Das Werk bot eine – wie Hans-Werner Goetz schreibt – »historiographische Theologie«1080, enthielt aber auch durchaus tagespolitisch anwendbare Nutzreichung. Das Werk solle in gemeinschaftlicher Lesung dem Kaiser vermittelt werden.1081 Zugang zum Hof fanden auch andere Gelehrte. Ein gelehrter Müßiggang und ein lockerer Plauderton waren beabsichtigt, denn sie sollten die Belehrung mit dem Angenehmen verbinden. Das Werk von Gervasius von Tilbury (ca. 1150– 1235) Otia imperialia, das Kaiser Otto IV. (1198–1218) gewidmet war, entsprach der schon im Titel in Aussicht gestellten Erwartung. Es bot eine Zusammenstellung von Wissen, das didaktisch aufbereitet, angenehm gestaltet und enzyklopädisch zusammengefasst war. Das Werk sollte das Wissen für Laien zugänglich machen. Es bezog auch Erörterungen zur Herrschaftsbegründung und 1078 1079 1080 1081

Steckel, Kulturen, S. 1197–1215. Jaeger, Origins, S. 211–235; Lutz, Schreiben, S. 17–21, 163–168. Goetz, Geschichtsbild, S. 62–98. Otto von Freising, Chronica, S. 1–8.

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Herrschaftsanwendung ein.1082 Das Werk fand tatsächlich einen Zugang in ein Milieu, in dem die Herrscher als Teilnehmer an gelehrten Gesprächen vorgestellt und der Belehrung für bedürftig erklärt wurden. Gervasius, aus England abstammend, stand nacheinander in den Diensten von König Heinrich II. von England, König Wilhelm II. von Sizilien und schließlich von Kaiser Otto IV.1083 Gervasius schrieb, dass, obwohl jede Herrschaft immer grausam ausgeübt werde, es möglich sei, durch Belehrung des Herrschers Milderung zu erreichen. Notwendig sei, trotz der empfohlenen und angekündigten Muße, ihm ernsthafte Anstrengungen aufzuerlegen, damit er sich Kenntnisse aneigne. Die Mußestunden des Herrschers, d. h. die Zeit, die nicht im engsten Sinne der Regierung gewidmet seien, solle er dem Wissenserwerb widmen. Nicht länger sollten sich, so meinte Gervasius, die Mächtigen mit den Lügengeschichten von Schauspielern und Dichtern abgeben. Genaue Kenntnis von Texten und Wissen aus der Erfahrung sollten vermittelt werden. Fiktionale Erzählungen sah Gervasius hingegen als ungeeignet an. Empfohlen sei aber nichtsdestoweniger, die Belehrung angenehm zu machen. Neugierde sei zu wecken.1084 Die Vielzahl der überlieferten Handschriften des Werkes Otia imperialia, ihre weite geographische Streuung und die beiden französischen Übersetzungen durch den Johanniter Jean d’Antioche am Ende des 13. Jahrhunderts und durch seinen Ordensbruder Jean de Vignay in den dreißiger Jahren des 14. Jahrhunderts sind ein Hinweis, dass nicht allein Kaiser Otto IV. und sein Umfeld Nutzer der Schrift gewesen waren, vielmehr eine Rezeption stattfand, die den Text in den Bestandteil des Bildungswissens des späten Mittelalters einführte.1085 Die Textgattungen, die einer besonders breiten Rezeption offenstanden, waren ohne Zweifel die mittelalterlichen Enzyklopädien. Sie waren didaktische Schriften. Sie fassten das zeitgenössische verfügbare Wissen zusammen. Sie scheinen sich nicht dazu zu eignen, Kontroversen zu entfachen, unterschiedliche Auffassungen abzuwägen, einen Diskurs zu eröffnen, der Argumente vorstellt und epistemologische Strategien zur Erweiterung des Wissens entwickelt. Als Präsentation des vorhandenen Wissens vermieden die mittelalterlichen enzyklopädischen Werke meist Widersprüche, umgingen Kontroversen, suchten vielmehr den Bestand des Unwidersprochenen und Verbürgten aufzuberei-

1082 Gervasius von Tilbury, Otia, bes. S. 215 und auch mehrmals an anderer Stelle. 1083 Michael Rothmann, Wissen bei Hofe zwischen Didaxe und Unterhaltung. Die höfische Enzyklopädie des Gervasius von Tilbury, in: Erziehung und Bildung bei Hofe. 7. Symposium der Residenzenkommission, Celle 23.–26. Sept. 2000, Stuttgart 2002, S. 127–156; Lutz, Schreiben, S. 139–197. 1084 Ebda., S. 14, 558. 1085 Ebda., S. lxiii–lxxxvii; Cinzia Pignatelli, Dominique Gerner, Les traductions franÅaises des Otia imperialia de Gervais de Tilbury par Jean d’Antioche et Jean de Vignay, Genf 2005.

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ten.1086 Damit waren sie geeignet, Wissen zusammenstellen, das unmittelbar verfügbar war. Im Umfeld von Herrscherhöfen entstanden Enzyklopädien, mit besonders großer Rezeption diejenige des Dominikaners und Lehrers am Hofe des französischen Königs Ludwig IX., Vinzenz von Beauvais († 1264). Die Texte bildeten einen Fundus, auf den die Prediger, vornehmlich aus den Reihen der Bettelorden, zurückgriffen, um Weltwissen und Ethik zu künden. Die Gelehrsamkeit der Bettelorden fand ihren Weg auch an die Herrscherhöfe. Ein Zugang der Könige zu theoretischem Wissen war geöffnet.1087 Bereits Johannes von Salisbury (†1180) hatte das Wissen, das von ihm als philosophia bezeichnet wurde, als Voraussetzung angesehen, um in der Praxis der Herrschaft, als militia bezeichnet, gut zu handeln und das gute Handeln in die verschiedenen Ämter im Staat einzupflanzen. »Durch die Weisheit regieren die Könige und schaffen sie Gesetze und sprechen Recht«.1088 Johannes verlangte, dass ein König gelehrt sein müsse; falls nicht, wäre er nichts anderes als ein gekrönter Esel auf dem Thron.1089 Die Aussage fand Eingang in das Schrifttum, das die Herrscher und adligen Fürsten belehrte, so insbesondere in dem Fürstenspiegel des Dominikaners Vinzenz von Beauvais. Der König als tumber Tölpel, unfähig, sein Handeln zu begründen und dessen Ursachen und Ziele zu durchschauen, überdies faul, mehr dem Essen als dem Regieren zugetan, sogar im Totengedächtnis für seine Vorfahren nachlässig, auch in allen anderen Angelegenheiten vergesslich, wankelmütig – er war das von Vinzenz entworfene Gegenbild zum Ideal des belehrten und gelehrten Königs. Die Gerichtsszene im Roman de Renart hat an der Wende zum 13. Jahrhundert in satirischer Zuspitzung das Gegenbild eines gelehrten und klugen Königs vorgeführt, der ebensowenig den üblen Machenschaften eines verschlagenen Übeltäters – des Fuchses – als den weinerlichen Klagen seiner Vasallen etwas entgegenzusetzen

1086 Christel Meier-Staubach, Grundzüge der mittelalterlichen Enzyklopädie. Zu Inhalten, Formen und Funktionen einer problematischen Gattung, in: Literatur und Laienbildung im Spätmittelalter und in der Reformationszeit, hg. v. Ludger Grenzmann, Karl Stackmann, Stuttgart 1984, S. 467–500. 1087 Christel Meier-Staubach, Vom Homo Coelestis zum Homo Faber. Die Reorganisation der mittelalterlichen Enzyklopädie für neue Gebrauchsfunktionen bei Vinzenz von Beauvais und Brunetto Latini, in: Pragmatische Schriftlichkeit im Mittelalter. Erscheinungsformen und Entwicklungsstufen, hg. v. Hagen Keller u. a. (Akten des Internationalen Kolloquiums 17.–19. Mai 1989 (Münstersche Mittelalter-Schriften 659, München 1992, S. 157–175; Serge Lusignan/Alain Nadeau/M. Paulmier-Foucart (Hg.), Vincent de Beauvais. Intentions et r8ceptions; Mulchahey, First the Bow is Bent; Paulmier-Foucart, Vincent de Beauvais, S. 7–30. 1088 Johannes von Salisbury, Policraticus, hg. v. Keats-Rohan, S. 253. 1089 Ebda., II, S. 120, 254; Peter Classen, Die hohen Schulen und die Gesellschaft im 12. Jahrhundert, in: AKG 48 (1966), S. 155–180, zu Johannes von Salisbury : S. 167.

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weiß. Der König war als dummer Löwe in dem Tierroman gestaltet. Der Text war weit verbreitet und in mehrere andere Volkssprachen übertragen.1090 Wissen war notwendig, damit die Herrscher fähig würden, richtig zu handeln. Wie schon Walter Map (ca. 1140-ca. 1210) oder Johannes von Salisbury – diese indes noch in polemischer Abgrenzung zum höfischen Milieu, gleichwohl nicht ohne Anspruch, didaktisch auf ihn einzuwirken – war der Zisterzienser Alanus de Insulis († 1202) gewillt, mittels Schriften, unter ihm vor allem durch sein Werk Anticlaudianus, zur Belehrung der Herrscher beizutragen, indem er sie als Gesprächspartner einbezog und sie an den Überlegungen teilhaben ließ. Weil die komplizierte lateinische Sprache von Alanus diesem Ziel wenig hilfreich war, setzte er Vermittler und Interpretatoren voraus, die Sinn verdeutlichen und Erörterungen ermöglichen sollten. In dem anderen Werk des Alanus zu den Tugenden und Lastern behandelte er sein Thema nicht, indem er, wie zuvor üblich, Kataloge des Verhaltens aufstellte oder humane Dispositionen beschrieb1091, sondern in der Weise, dass er begründete, wie eine weltliche, durch die natürliche Ausstattung des Menschen abgeleitete Tugend sich entfalte und gesteigert werde, sofern sie eine Belehrung erfahre.1092 Als Leser oder doch eher als Zuhörer sollte der Herrscher die Bedeutung des Textes nicht allein erkennen, sondern in Beziehung zu seinem eigenen Handeln und Nachdenken stellen und auf diese Weise selbst aus dem Text Bedeutung gewinnen, um aus der Theorie praktisches Handeln abzuleiten.1093 Die Vielzahl von literarischen Werken, die Lebensweisen und Lebensentwürfe, wichtiger aber noch Anleitungen zum gelungenen Leben erörterten1094, bildete ein Becken, in das theoretische Überlegungen einströmten und von dem ein Feld bewässert wurde, auf dem der »Prozess der Zivilisation« gedeihen sollte. Anders aber als wie von Norbert Elias ausgeführt, der den Begriff und die Sache dieses Prozesses behandelte1095, war der Herrscherhof nicht autogener Promotor, 1090 Vincenz von Beauvais, De eruditione, S. 8; Le Roman de Renart, hg. v. Roger Bellon u. a., Paris 1998, S. 4–14; Jean Batany, La cour du lion, in: Marche Romane 28 (1978), S. 17–25; Jean R. Scheidegger, Le Roman de Renart ou le texte de la d8raison (Publications romanes et franÅaises 188), Genf 1989; Jerime Devard, Le Roman de Renart. Le reflet critique de la Soci8t8 f8odale, Paris 2010. 1091 Richard Gordan Newhauser, The Capital Vices as Medieval Anthropology, in: Laster, hg. v. Christoph Flüeler (Scrinium Friburgense 23), Berlin 2009, S. 105–124. 1092 Alain de Lille, Anticlaudianus, hg. v. R. Bossuat (Textes philosophiques du Moyen ffge 1), Paris 1955; Alanus ab Insulis, De virtutibus et de vitiis et de donis Spiritus Sancti, in: Psychologie et morale aux 12e et 13e siHcles, hg. v. Odon Lottin, Bd. 6, Löwen 1960, S. 45–92, S. 50, 58. 1093 James Simpson, Sciences and the Self in Medieval Poetry : Alan of Lille’s Anticlaudianus and John Gowers Confession amantis (Cambridge Studien in Medieval Literature 25), Cambridge 1995. 1094 Lutz, Schreiben, S. 15–21. 1095 Norbert Elias, Über den Prozess.

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vielmehr im großen Umfang Empfänger aus anderen Milieus – vor allem das der Universitäten und das der Bettelorden.1096 Der »Prozess« war also zunächst ein Vorgang der Rezeption, der die theoretische Lehre aus der Enge exklusiver Kreise der Geistlichkeit herausführte und einem breiten Publikum unter den Laien zugänglich machte. Der Gegensatz von clericus und laicus1097 hatte seit dem Beginn des 13. Jahrhunderts nach der Entstehung der Universitäten, durch die Verbreitung des an ihnen vermittelten Wissens, durch die größere Herstellung von Texten, die umfangreicheren Handschriftenkopien1098 und nicht zuletzt durch die Existenz von gelehrten Personen auch außerhalb der Geistlichkeit keine Berechtigung mehr. Der gute König war auf den Rat gelehrter Männer und die Kenntnis gelehrter Schriften angewiesen, um seine Tugend und damit seine Befähigung zur Herrschaft zu beweisen. Die Berechtigung der Herrschaft durch die dynastische Erbfolge hatte ja Papst Gregor VII. in Frage gestellt. Johannes von Salisbuy leugnete in seinem Hauptwerk Policraticus, kurz vor 1159 abgeschlossen, die Selbstverständlichkeit, dass aus der Vererbung der Herrschaft Legitimität oder gar Tugenden entstünden. Er verlangte die Bindung an ethische Normen, die erlernt und erworben werden müssten. Dem stünden aber die Bedingungen königlicher Existenz im Wege. Der Hof und das Gefolge des Königs seien schädliche Brutstätten moralischer Verderbnis. Ihr entgegenzuwirken, vor allem den künftigen Herrscher vor den schlimmen Einflüssen zu bewahren, verlangte den Einsatz von gebildeten Klerikern, die rechtes Tun lehren sollten.1099 Vor allem sollte aber der König sich anstrengen, selbst Bildung zu erlangen.1100 Der neue Typus des rex eruditus trat auf den Plan. Sicard von Cremona († 1215), italienischer Theologe und Historiker, der in anti-staufischer Tendenz sein Werk 1096 Le scuole degli ordini mendicanti (secoli XIII–XIV). Convegni del Centro di Studi sulla spiritualit/ medievale 11–14 ott. 1976, Todi 1978; Mulchahey, First the Bow ist Bent; Bert Roest, A History of Franciscan Education (c. 1210–1517) (Education and Society in the Middle Ages and Renaissance 11), Leiden u. a. 2000. 1097 Herbert Grundmann, Litteratus – illiteratus. Der Wandel einer Bildungsnorm vom Altertum zum Mittelalter, in: AKG 40 (1958), S. 1–165. 1098 Louis Jacques Bataillon, Les textes th8ologiques et philosophiques diffus8s / Paris par exemplar et pecia, in: La production du livre universitaire au moyen .ge, hg. v. dems.. Paris 1988, S. 225–252. 1099 Johannes von Salisbury, Policratici libri, hg. v. Webb, II, S. 239, 282f.; Kosuch, Abbild, S. 117; zu diesem Autor siehe Kapitel X.3. 1100 Johannes von Salesbury, Entheticus maior and minor, hg. v. Kristof van Laerhoven, 3 Bde. (Studien u. Texte zur Geistesgeschichte d. Mittelalters 17), Leiden 1987, I, S. 188–204; zur Hofkritik: Klaus Schreiner, »Hof« (curia) und »höfische Lebensführung« (vita curialis) als Herausforderung an die christliche Theologie und Frömmigkeit, in: Höfische Literatur und Hofgesellschaft. Höfische Lebensformen um 1200. Kolloquium am Zentrum f. interdisziplinäre Forschung an d. Univ. Bielefeld (3.–5. Nov. 1983), hg. v. Gert Kaiser, Jan Dirk Müller (Studia humaniora 6), Düsseldorf 1986, S. 67–139, bes. 90–121.

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verfasste, richtete gegen den verstorbenen Kaiser Friedrich I. den Vorwurf, er sei illiteratus gewesen, gleichwohl in moralischen Angelegenheiten erfahren.1101 Die Bewertung zeigte, dass Friedrich einem neuem bestehenden Ideal des Herrschers seit der Wende zum 13. Jahrhundert nicht mehr gerecht werde, der als in vielen Wissensgebieten ausgewiesener Experte gelten sollte und sich als solcher zu präsentieren hatte. Die Anforderung war üblich geworden, dass an den Herrscherhöfen auch anspruchsvolle Texte der politischen Theorie gesammelt wurden, in die politische Argumentation einflossen und die Sprache der Macht prägten.1102 Thomas von Aquin († 1274) behandelte in seinem Hauptwerk, der Summa theologiae, die Dichotomie von Wissen und Macht und sah Verfahren vor, um die beiden Pole des Gegensatzpaares einander anzunähern: durch Predigt und Lehrtätigkeit. Die gleichberechtigte Kooperation von Gelehrten und Mächtigen war für ihn die Voraussetzung für eine adäquate, d. h. eine auf der Theorie basierende Praxis. Die Verbindung könne, so Thomas, funktionieren, wenn der Gelehrte sich nicht auf die vita contemplativa beschränke, er vielmehr durch die Weitergabe von Kenntnissen und Arbeitsweisen in die vita activa vordringe, was dem Gelehrten, sofern er Seelsorger ist, als Pflicht auch aufgetragen sei. Obwohl Thomas die Relation zwischen Theologen und Bischöfen beschreibt, ist diese Beschreibung für jedwede Nutzanwendung von Wissen geeignet. Thomas verlangt von den priesterlichen Gelehrten, sie sollten für die Herrschaft aktiv werden und beitragen, sie zu gestalten, so dass aus ihrem Wissen politische Realität hervorgehe. Scientia und potestas werden in eine Beziehung gesetzt, die beiden ihre Berechtigung und ihren vernünftigen Gebrauch aufgrund dieser Beziehung verleiht. Auch in den Quodlibeta, kleineren Gelegenheitsschriften, schärft Thomas den Gelehrten die Pflicht ein, andere zu belehren; es sei löblich, das Wissen, das man besitze, mitzuteilen.1103 Andere Autoren sahen dies genauso. Der an der Pariser Universität lehrende Weltgeistliche Heinrich von Gent (ca.1240–1296) verlangte von den Universitätsmagistern, das Wissen, das ihnen durch ihr Studium, durch ihre Graduierung und vom Heiligen Geist eingeflößt sei, in Worten und Texten zu verkünden. Der Unterschied zu Thomas bestand darin, dass Heinrich für diese Belehrung 1101 Sicard von Cremona, Cronica, hg. v. O. Holder-Egger, in: MGH SS 31, Hannover 1903, S. 22–181, S. 165. 1102 Miethke, Publikum; Jacques Krynen, L’empire, S. 179; Charles F. Briggs, Teaching Philosophy at School and Court. Vulgarization and Translation, in: The Vulgar Tongue. Medieval and Postmedieval Vernacularity, hg. v. Fiona Watson, Nicholas Sommerset, Philadelphia 2003, S. 99–111; Frank Rexroth, Die Kulturgeschichte der Gelehrten im späten Mittelalter. Zur Einführung, in: Beiträge zur Kulturgeschichte der Gelehrten im Mittelalter, hg v. dems. (Vorträge und Forschungen 73), Ostfildern 2010, S. 7–14. 1103 Thomas von Aquin, Summa theologiae (Opera omnia 10), S. 527–529; Ders., Quaestiones de quolibet (Opera omnia 25,2), Rom 1996, S. 253: III, q. 4 art 1.

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eine ordnungsgemäße Einsetzung als Magister vorsah, während Thomas die Belehrung nicht vom übertragenen Amt, sondern von der intellektuellen Kompetenz ableitete. Der gelehrte Franziskaner und Ordensgeneral Bonaventura (1221–1274) meinte zur selben Zeit, es genüge für den Herrscher nicht, guten Willens zu sein; er müsse auch befähigt sein, Wissen zu erwerben; ihm müsse daher die ars gubernationis gelehrt werden, so dass sie von ihm angeeignet und angewendet werde. Die Dummheit der Herrscher führe ins Verderben.1104 Die Welt zu interpretieren genügte nicht, es ging darum, sie auch zu gestalten. Die vom Herrscher verlangte Gelehrsamkeit war die Antwort auf eine neue Herausforderung. Ein theoretisch fundierteres und sozial breiter angelegtes Nachdenken über die Bedingungen von Herrschaft und über die Grundlagen von Gesellschaft verschärfte die Legitimationskrise tradierter Institutionen. Die Veränderung der Gesellschaft, die Verstädterung, die Ausdehnung des Handels und die größere soziale und räumliche Mobilität vieler Menschen machten tradierte Institutionen fragwürdig. Die Berufung auf göttliche Einsetzung schloss nicht die Erörterung der Fragen aus, auf welche Weise Menschen zusammenlebten, auf welche Weise Herrschaft ausgeübt werde.1105 Der Hinweis auf die Stellung der Herrscher als Hüter der Christenheit, als Förderer der Kirchen und als von Gott eingesetzte Lenker der Gläubigen genügten nicht mehr zur Legitimierung. Geburt und Erbfolge waren nicht mehr allein hinreichende Grundlagen von Herrschaft. Die Berufung auf den Ruhm der Vorfahren reichte nicht. Die Demut und die Einsicht in die Nichtigkeit des eigenen Tuns waren mehr als eine Tugend, die ein Sich-Bescheiden in Unabänderlichkeiten verlangte, sondern forderten zu Anstrengungen heraus, um das Wissen und das Handeln zu vervollkommnen, um der Nichtigkeit des Seins den Nutzen der Tat entgegenzustellen. Es war ein Gedanke, den der Dominikaner Wilhelm Peraldus in einer um 1265 verfassten, von späteren Editoren Thomas von Aquin zugeschriebenen Schrift ausführte, Aegidius Romanus aufgriff und andere weiterentwickelten. Für den Benediktiner Engelbert von Admont, der zu Anfang des 14. Jahrhunderts lebte, leitete sich der Adel nicht von der Natur, nicht von den Erbanlagen ab, sondern in erster Linie von der Tugend, die jeder Mensch erwerben könne und müsse. Diese Pflicht müssten die Könige mehr als alle an-

1104 Heinrich von Gent; Tractatus super facto praelatorum et fratrum, hg. v. Ludwig Hödl u. a. (Opera omnia 17), Löwen 1989, S. 131; Bonaventura, Collationes in Hexaemeron, hg. v. Delorme, S. 81f. Zu den hier genannten Autoren ausführliche Darlegungen unten Kapitel XI.3, XI.5, XII.4. 1105 Fernand van Steenberghen, La philosophie au 13e siHcle, Löwen, Paris 1966; Flasch, Philosophische Denken, S. 298–316.

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deren Menschen erfüllen. Kriegerische Tüchtigkeit allein mache nicht mächtig. Erst ein weiser Mann sei auch ein starker Mann.1106 Predigten und Beichtspiegel breiteten detailliertes Wissen aus über das richtige Verhalten, die moralische Bewertung von Tätigkeiten in Familie, Nachbarschaft, Wirtschaft und Herrschaft. Fragen, wie eine gerechte Besteuerung vorzunehmen sei, wie die Rechtsstellung der Untertanen zu regeln sei, wie Recht gesprochen werden müsse, welche Personen zur Leitung öffentlicher Angelegenheiten berufen werden sollten, und weitere Fragen zur Herrschaft wurden seit dem 13. Jahrhundert von Predigern und Verfassern von Predigtexempel, in Beichthandbüchern und juristisch-kanonischen Kompendien behandelt.1107 So wie seit dem 12. und 13. Jahrhundert Laien von den Geistlichen neben der Darbietung der Liturgie auch eine Vermittlung der religiösen Inhalte des Heilsgeschehens verlangten, so wie sie sich vermehrt um die Interpretation der Texte der Heiligen Schrift bemühten – es ist dies ein Vorgang, den Raoul Manselli als zweite Christianisierung charakterisierte1108 –, so zeichneten sich auch bei den Herrschern zur selben Zeit Bestrebungen ab, Kenntnisse zu erwerben, um die Praxis ihres Tuns religiös konform zu rechtfertigen und zu gestalten und um innerweltlichen Nutzen zu stiften. Der erhöhte Regelungsbedarf, die Vermehrung von administrativen Verfahren, die größere Komplexität politischer und sozialer Vernetzungen und auch die vermehrt den Herrschern wie allen Gläubigen auferlegten religiösen Gebote stellten nicht allein größere Anforderungen an das Geschick des Herrschers, sie verlangten Stellungnahmen hinsichtlich problematischer moralischer Situationen. Die Durchdringung des alltäglichen Handelns mit christlichen Normen machte auch vor den königlichen Höfen nicht halt. Die rohe Selbstverständlichkeit herrschaftlicher Gewalt wich einem zunehmend reflektiertem Verständnis über die eigene Rolle und Aufgabe. Die größere Regelungsdichte gebot eine theoretische Reflexion– hinsichtlich der Begründung und hinsichtlich der Ausführung von Regeln. Seit der Wende zum 13. Jahrhundert erhoben sogar die Könige selbst, zunächst im Süden Europas, den Anspruch, Kenntnisse auch theoretischer Natur zu besitzen und zu vermitteln und daher gelehrte Könige zu sein. Auf der iberischen Halbinsel geschah dies früh. König Jakob I. von Aragjn (1213–1276) reflektierte über die Vergangenheit und Gegenwart seiner Herrschaft und legte 1106 Wilhelm Peraldus, angegeben als Thomas von Aquin, De eruditione principum, in: S. Thomae Aquinatis Opera omnia, t. 7, hg. v. Robert Busa, Stuttgart 1980, S. 89–123, S. 89– 93; zur Autorenfrage: Verweij, Princely Virtues, S. 51–72; Aegidius Romanus, De regimine, fol. 231v–233v ; Engelbert von Admont, Speculum, S. 11, 118 343, 347–349. 1107 Schmidt, Allegorie, S. 301–332. 1108 Raoul Manselli, La religion populaire au moyen .ge. ProblHmes et m8thodes de l’histoire, Paris 1975.

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schriftlich Rechenschaft über sie ab. Der rex eruditus wurde zum Ideal und folglich auch der rex escritor. König Alfons X. von Kastilien (1252–1284) hat in mehreren Werken nicht allein die Rechte seiner Herrschaft, sondern auch die moralischen Normen des Königtums dargestellt oder zumindest in seinem Namen darstellen lassen. Die zahlreichen Werke, als deren Autor er sich ausgab, dienten der Vermehrung des Wissens für seine Untertanen, damit sie in die Lage versetzt würden, sich durch Vernunft und Information Gott zu nähern – so in einer Passage der dem König zugeschriebenen Crjnica general de EspaÇa. Je mehr sich der Mensch den Studien widme, desto mehr lerne er, desto tiefer werde der Glaube und desto inniger die Liebe zu Gott.1109 Durch ein angestrengtes Lernen müsse der König dahin gelangen, die Menschen zu kennen, wie es das alfonsinische Gesetzbuch Siete Partidas vorsah.1110 Der König hatte noch größere Anforderungen zu erfüllen. Er selbst müsse Bücher schreiben, nicht unbedingt mit eigener Hand, aber ihnen doch die Thematik und Argumentation eingeben, so stand es in der Crjnica general.1111 In dem Werk Libro de los cien cap&tulos, als dessen Autor sich ebenfalls Alfons X. präsentierte, ist der König als Lehrmeister seines Volkes, seines Hofes und seiner Familie beschrieben. Die Gelehrsamkeit verleihe der höfischen Existenz erst ihre Bedeutung: El enseÇamento es significacijn de la cort8sia. Alfons charakterisiert die Institution der Herrschaft als eine Institution des Lernens. Wichtiger als die Abstammung sei die Gelehrsamkeit, weil nur diese anleite und befähige, gut zu handeln. Selbst wenn die Vorzüge der Abstammung verloren gingen, könne es gelingen, durch die Anstrengungen des Lernens gut zu regieren. Die Aufgabe der Könige bestehe nicht allein darin, zu lernen, sondern auch zu lehren, weswegen sie auch als Erben der Propheten bezeichnet seien, d. h. als Wissende, von Gott Gesandte und zur Verkündigung Auserwählte. Ihre Belehrung ist religiös begründet und religiös intendiert, so dass die diesseitig-politische Thematik nicht geschmälert ist, vielmehr eine religiöse Sinnstiftung und Wertsteigerung erfährt, was die Notwendigkeit der Informationsweitergabe noch verstärkt. Erst wenn die 1109 Evelyne Stefanos Procter, The Scientific Works oft he Court of Alfonso X of Castille. The King and his Collaborators, in: The Modern Language Review 40 (1945); Gonzalo Men8ndez-Pidal, Como trabajaron los escuelas alfonsies, in: Nueva Revista de Filologia Hispanica 5 (1951) S. 363–380; Herbert Van Scoy, Alfonso X, Educator, in: South Atlantic Bulletin 24 (1958), S. 4–6; Antonio Ballesteros Beretta, Alfonso X el Sabio, Barcelona 1984; Alfonso Garc&a M#rques, El concepto cultural alfonsı¯, Madrid 1994; Immaculada P8rez Martı¯n, Federico II (1194–1250) y Alfonso X el Sabio (1221–1284), in: Federico II e le nuove culture. Atti del XXXI Convegno storico internazionale, Todi 9–12 ott. 1995, Spoleto 1995, S. 113–151; Ulrich Schädler, Alfons X. »der Weise« – Das Buch der Spiele, Münster i. W. (2008), S. 13–52. 1110 Las Siete Partidas, II, S. 37. 1111 El rey faze un libro, non porquel escriva con sus manos, mas porque compone las razones; zitiert nach Julio Valdejn Baruque, Alfonso X el Sabio. La Forja de la EspaÇa moderna, Madrid 2003, S. 170.

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Weisheit die Person des Königs lenke und sie von ihm auf das Volk ausstrahle, erst wenn der König die Untertanen unterrichte, könne er – so der alfonsinische Text – selbst die Welt lenken. Das Streben nach Gelehrsamkeit wird als eine Pilgerschaft bezeichnet, auf der die Könige wandeln, und wird so zum Gottesdienst.1112 Auch das Gesetzbuch des Königs, die Siete Partidas, verlangt von ihm die Belehrung des Volkes, die Bewahrung von Wissen, dessen Erweiterung und dessen diskursive und analytische Gestaltung. Auch in diesem Text gilt: Unterricht und höfische Existenz, enseÇanza und cort8sia, sollen eine Einheit bilden. Der Hof sei der Ort des Wissens; er ziehe aus dem gesamten Königreich die Söhne der Großen an, die als loyale Untertanen gewonnen und zur Rechtsprechung und zur Administration vorbereitet würden. Die Gelehrsamkeit vom König und seinem Hof sehe die Ausgießung vorhandenen Wissens vor.1113 Der König trat aus der Rolle des Belehrten hinaus und wurde selbst zum Belehrer – und dies nicht nur für die Angehörigen der eigenen Familie, sondern für das gesamte Volk. Die Manifestation des gelehrten, weil selbst Texte schreibenden Königs zeigte sich auch bei dem Enkel und Nachfolger von Alfons X., Sancho IV. von Kastilien (1284–1295), bei Jakob II. von Aragjn (1291–1327), seinem Enkel Peter IV. (1336–1387) und dem König von Mallorca Jakob II. (1276–1311).1114 Robert der Weise (1309–1343), König von Sizilien-Neapel, galt als Verkörperung einer Gelehrsamkeit, die er auch anderen weitergab. Robert förderte in der Tat Gelehrte, zog sie an seinen Hof und ließ sich von ihnen belehren. Nach dessen Tod kündete der Dominikaner und Geistliche an seinem Hof, Federico Franconi, dass zwar bereits der Vater und Vorgänger, Karl II., fromm und mildtätig gehandelt habe, Robert ihn noch übertroffen habe, indem er als Lehrer wirke. Die Wissensdisziplinen, die Robert beherrscht habe, hätten Ethik, Naturkunde, Medizin, Recht, Grammatik und Logik eingeschlossen. Ja, selbst ein großer Theologe sei der König gewesen, wie mehrere Prediger nach seinem Tod kündeten.1115 Robert galt in der Tat als Verfasser von Predigtschriften, theologischen Werken zur evangelischen Armut und zur visio beatifica sowie einer moraltheologischen Schrift. Ohne in die Diskussion einzutreten, ob er und die anderen Könige tatsächlich die ihnen zugeschriebenen Werke selbst schrieben, ist die Manifestation des gelehrten Monarchen entscheidend, 1112 Libro de los cien cap&tulos (Dichos de sabios en palabras breves e complidas), ed. M. Haro Cort8s (Medievalia Hispanica 5), Madrid 1998, 110–116. 1113 Siete Partidas, II, S. 36 und S. 99f.: Sec. part. IX, 27. 1114 Libre dels feytes esdeuengauts en la via del molt alt senyor Rey en Jacme lo Conqueridor…, Barcelon 1873; Crjnica de Pedro IV en Aragjn, hg. v. Carmen Orcastegui Gros, in: Cuaedernos de Historia Jeronimo Zirita 51 (1985), S. 419–569; Embu Utilidad y decoro. Zeremoniell und symbolische Kommunikation in der Handschrift der Leges Palatinae (1337), König Jakobs II. von Mallorca, hg. v. Gisela Drossbach, Gottfried Kerscher, Wiesbaden 2013. 1115 D’Avray, Death, S. 58,106–112, 132f.

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der Wissen empfing, reflektierte, weitergab und geglückte Modelle des gelehrten Herrschers vorzuführen in der Lage war.1116 Der König sammelt Wissenstexte, lernt, schreibt und lehrt. In Frankreich erwarb König Karl V. (1364–1380) Handschriften, befahl Übersetzungen vieler lateinischen Texte in die französische Sprache, erteilte Autoren Aufträge zur Abfassung von Texten, war Adressat von Mahnschriften. Die Manifestation einer Gelehrsamkeit, die sich zwar nicht durch eigene Autorschaft, aber durch eigene Lektüre, Sammeltätigkeit und Initierung von Werken kunkundtat, entsprach offensichtlich den Erwartungen seiner Zeitgenossen. Karl galt als ein weiser König, so wie es Christine de Pisan (1365–1430), Tochter des Arztes von König Karl V. und Autorin zahlreicher, auch politiktheoretischer Schriften, im Rückblick darstellte. Die Liebe zum Studium und zur Wissenschaft habe sein Ansehen gesteigert. Diese Liebe habe ihm Kenntnisse zugeführt, die er für sein Handeln eingesetzt habe. Nicht mehr Auszüge aus den Werken antiker und mittelalterlicher Gelehrsamkeit, sondern die vollständigen Texte habe er gelesen, schrieb Christine.1117 Der wichtigste der Ratgeber, Handschriftensammler, Autoren, Philosophen und Übersetzer am Hof Karls V., Nicolas Oresme (1322–1382), stellte die Schriften des Aristoteles zur Ethik und zur Politik in französischen Übersetzungen dem König und seinem Hof zur Verfügung. Dem König war eine Handreichung geboten, die er zur Verbesserung der Verfassung seiner Herrschaft einsetzen solle, wie Nicolas schrieb. Durch die Erweiterung des Wissens sei es möglich, die menschlichen Fertigkeiten zu verbessern, wovon auch die Gesetzgebung profitiere, so dass eine Entwicklung eingetreten sei von den brutalen und einfachen Gesetzen, denen einst die Griechen unterworfen gewesen seien, zu denen in der Zeit Karls V., die milder und gerechter seien und das allgemeine Wohl besser förderten. Den Fortschritt solle der König fortsetzen. Aber auch die entgegengesetzte Argumentation führt Nicolas Oresme aus: Neue Gesetze zu erlassen, störe die Geltung der bestehenden und gefährde die soziale Ordnung. Die im Paradox endende Schlussfolgerung überlässt dem König die Entscheidung. Ihm werden Argumente vorgestellt. Seiner Weisheit gelte es zu vertrauen.1118 Die Gelehrsamkeit des Königs war gewiss inszeniert, war eine stilisierte Gelehrsamkeit. Sie thesaurierte Wissen, ohne stets eine vertiefte Reflexion vor-

1116 Ebda., S. 211–213; Darleen N. Pryds, The King Embodies the World. Robert d’Anjous and the Politics of Preaching (Studies in the History of Christian Thought 93), Leiden, Boston, New York 2000, S. 37f., 44–47. 1117 Christine de Pisan, Le Livre des fais et bonnes meurs du sage Roy Charles V, Paris 1936, S. 42; FranÅoise de Pizan, Paris 2009. 1118 Nicolas Oresme, Le livre de politiques d’Aristote, hg. v. Albert Douglas Menut (Transaction of the American Philosophical Society NS 60/6), Philadelphia 1979, S. 202–222.

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auszusetzen.1119 Aber die gelehrte Beratung und die gelehrte Befähigung des Königs waren doch auch der Nährboden, auf dem politiktheoretische Erwägungen am Hof gediehen. Der Besitz von Büchern und die Aneignung des Wissens waren verlangt, und beides wurde auch gezeigt. Mehr noch: das Wissen stützte eine Herrschaft, die auf theoretisch eingebetteren Verfahren beruhte. Es war die Kontinuität des Wissens, gewonnen aus theoretischen Studien und kombiniert mit Erfahrungen, die nach dem Tode Karls V. 1380 den Wechsel zu seinem Nachfolger Karl VI. prägte, der als Kind den Thron bestieg. Experten gestalteten weiterhin die Politik des Hofes für ganz Frankreich. Sie wurden von den Zeitgenossen als marmousets verspottet; tatsächlich aber waren sie keineswegs kleinliche und groteske Gestalten, die ihre Rücken über Urkunden und Akten beugten, sondern erreichten nicht zuletzt dank ihres theoretischen Wissens und ihrer Herrschaftserfahrung eine von den Zeitgenossen anerkannte Effizienz von Rechtsprechung, Verwaltung, Militär und Macht, die indes unter dem Ansturm der königlichen Verwandten, die die Kontrolle über den König an sich rissen, zerstört wurde, so dass schließlich das familiäre Machtgeflecht über die Verfassungsordnung siegte. Das Wissen aber, das am Hof akkumuliert war, und die Idealisierung eines fürsorglichen und um die Voraussetzungen und Notwendigkeiten der Fürsorge wissenden Herrschers blieben erhalten, prägten auch die anschließenden Generationen und trugen dazu bei, die Kontinuität des französischen Königtums auch über die existentiellen Krisen der folgenden Jahrzehnte zu retten, als Frankreich sich im Krieg gegen den englischen König befand und zugleich in die Wirren eines blutigen Bürgerkrieges hineingerissen wurde.1120 Dass in Deutschland erstmals unter den Herrschern der römische König und spätere Kaiser Karl IV. (1346–1378) sein Leben, seine Herrschaft und deren Legitimierung zum Gegenstand eigener Überlegungen machte, zeigt den Versuch, den Rückstand hinsichtlich des Reflexionsniveaus zur Politik und zu ihrer Praxis im Vergleich zu den südlichen und westlichen Nachbarregionen Deutschlands aufzuheben, um Anschluss an eine europäische Entwicklung zu gewinnen, die den gebildeten König verlangte – eine Anforderung, die Karl während seines langen Aufenthaltes während seiner Jugend am französischen Königshof kennengelernt hatte. Die Autobiographie, die Karl selbst verfasst zu 1119 Martin Kintzinger, Beatus vir : Herrschaftsrepräsentation durch Handschriftenpolitik bei Karl V. von Frankreich, in: Zwischen Pragmatik und Performanz. Dimensionen mittelalterlicher Schriftkultur, hg. v. Christoph Dartmann, Thomas Scharff, Christoph Friedrich Weber (Utrecht Studies in Medeival Literacy 18), Turnhout 2011, S. 443–460; Vanenia Kopp, Der König und die Bücher. Sammlung, Nutzung und Funktion der königlichen Bibliothek am spätmittelalterlichen Hof in Frankreich, Ostfildern 2015. 1120 Philippe Contamine, Crise, S. 361–379; FranÅoise Autrand, Naissance d’un grand corps de l’Etat. Les gens du Parlement de Paris, 1345–1418, Paris 1981; Krynen, Id8al.

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haben behauptete und die bis zu seiner Königswahl 1346 reichte, war getränkt mit Überlegungen zur politischen Nützlichkeit und zu moralischen Normen und präsentierte zahlreiche Erfolge, die er als Ergebnisse rational begründeter Entscheidungen ausgab und in Gegensatz zur Impulsivität seiner Vaters und zur trägen Indolenz seines jüngeren Bruders stellte. Die spätere Konzentration von Wissen und Wissenden an seinem Hof, vor allem in Prag, prägte seine Herrschaft und folgte ausdrücklich dem Pariser Vorbild.1121 Die Fürstenspiegel gehörten einer literarischen Gattung von Texten an, die explizit Belehrung der Herrscher formulierten. Anders als die Texte der karolingischen Epoche, die Tugenden und Anweisungen zusammenstellten, boten die Fürstenspiegel seit dem 12. Jahrhundert Überlegungen zur Legitimität und zur Begründung von Herrschaft. Das Publikum der Fürstenspiegel war nicht auf die Herrscherhöfe beschränkt, erfasste – darauf weist die handschriftliche Verbreitung hin – auch die Institutionen der Gelehrsamkeit und der Seelsorge, also Universitäten, Stiftskirchen und Bettelordenskonvente, die selbst wiederum zur Verbreitung der Konzepte beitrugen, so dass die Vorstellung zur vorbildlichen Regierungstätigkeit unter vielen bekannt war, die Herrschaft exekutierten, erduldeten oder bewerteten.1122 Ein Genre war etabliert, dessen Texte Normen vorgaben, dabei meist wenig originell waren, aber gerade deswegen das Handeln zugunsten eines anwendbaren Nutzens für den Herrscher und seine Untertanen vorstellten und beständige Wirkung entfalteten.1123 Die Texte veränderten die Machtausübung; sie trugen dazu bei, die Loyalität gegenüber dem König durch das Versprechen eines allgemeinen Wohls für alle und durch die Fürsorge für die Untertanen glaubhaft zu machen und Herrschaft abzusichern.1124 Das Bemühen vieler Autoren, die Voraussetzungen und die Ziele des Tuns der Herrscher zu erfassen und sie in einen weltlichen Bedingungszusammenhang zu stellen, erlaubte mitunter ein Heraustreten aus einer rein religiösen Rechtfertigung. Die Aufteilung der Menschen in verschiedene Berufsgruppen und die 1121 Vita Caroli quarti. Die Autobiographie Karls IV., hg. v. Eugen Hillenbrand, Stuttgart 1979; Frantisek Kavka, Die Hofgelehrten, in: Karl IV. Staatsmann und Mäzen, hg. v. Ferdinand Seibt, München 1978, S. 249–253, 458f.; Heinz Stoob, Kaiser Karl IV. und seine Zeit, Graz u. a. 1990, S. 233, 247–250; Schmidt, Povert/, S. 373–417. 1122 Berges, Fürstenspiegel, S. 185–195, 304–313; Charles F. Briggs, Giles of Rome’s De regimine principum. Reading and Writing Politics at Court and University, c. 1275-c. 1525, Cambridge 1999, S. 74–91; Hans-Joachim Schmidt, Spätmittelalterliche Fürstenspiegel und ihr Gebrauch in unterschiedlichen Kontexten, in: Text und Text in lateinischer und volkssprachlicher Überlieferung des Mittelalters (Wolfram-Studien 19), hg. v. Eckart Conrad Lutz, Tübingen 2006, S. 377–398; Perret, Traductions, S. 92–121. 1123 Krynen, L’empire, S. 170–204; Boureau, Prince, S. 25–50; Ulrike Grasnick, Ratgeber des Königs. Fürstenspiegel und Herrscherideal im spätmittelalterlichen England, Köln 2004; zu den Ausführungen der Fürstenspiegel des 13. Jahrhunderts zu Liebe und Schrecken: Kapitel XI.6. 1124 Quaglioni, Modello, S. 103–122; Krynen, Id8al.

Schönheit und Kraft des Körpers als Voraussetzung der Macht

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prinzipielle Rechtfertigung der in ihnen verrichteten Arbeit gewährten auch den Herrschern Anerkennung, machte diese aber von der Erfüllung von Aufgaben abhängig. Ein eigenes Berufsethos galt auch für die Herrscher. Die Vorstellungen hinsichtlich eines Amtes, das, wie jedes andere auch, pflichtgemäß und zielkonform ausgeführt werden musste, wurden gefördert durch Ermahnungen, Beratungen und Fürstenspiegel, sowie durch Beichtspiegel und Predigten, die sich an große Bevölkerungsgruppen richteten.1125 Die Belehrung des Herrschers war eingebettet in eine sozial viel weiter ausgeweitete Unterrichtung, die die Themen der alltäglichen Praktiken als Gegenstände des gelehrten Wissens einführte.

2.

Schönheit und Kraft des Körpers als Voraussetzung der Macht: »Geheimnis der Geheimnisse«

Belehrung sollte Herrschaft verbessern. Es gab ein weiteres Mittel: die Schönheit. Die Wirkungen der Schönheit galten als geeignet, Emotionen anzufachen. Die Frage, wie Herrschaft Gerechtigkeit und Wirksamkeit hervorbringe und beide miteinander vereinbare, konnte erstens mit dem Verweis auf die individuellen Tugenden des Herrschers oder zweitens mit dem Funktionieren der politischen Verfassung der Herrschaft beantwortet werden. Die dritte Lösung, die der Ästhetik, sollte ebenfalls einen Beitrag leisten, um die Herrschaft zum Gelingen zu bringen. Es genügte nicht, anzunehmen, dass der Antrieb der Zuneigung spontan aus der Seele der Untertanen entspringe; offensichtlich war ein Pendant erforderlich: die Anziehungskraft des Herrschers. Sie müsse durch dessen seelische, aber zusätzlich durch dessen körperliche Konstitution hervorgerufen werden. Der Körper des Königs müsse schön sein. Diese Schönheit zu gestalten, verlange Anstrengungen. So verbreite der Herrscher die Liebe. Und genauso sei die Kraft des Körpers verlangt, damit der für die Herrschaft notwendige Schrecken gegenüber den Menschen erzeugt werden könne. Nirgends war diese Vorstellung einer ästhetischen und körperlichen Formung so prägnant ausgeführt wie in dem pseudo-aristotelischen Text, der auf 1125 Jacques Le Goff, M8tier et profession d’aprHs les manuels de confesseurs au moyen .ge, in: Beiträge zum Berufsbewusstsein des mittelalterlichen Menschen, hg. v. Paul Wilpert (Miscellanea Mediaevalia 3), Berlin 1964, S. 44–60; Schmidt, Allegorie, S. 318–326; Wolfgang Heinemann, Zur Ständedidaxe in der deutschen Literatur des 13.–15. Jahrhunderts, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 88 (1967), S. 190–279: 89 (1968), S. 290–403; 92 (1970), S. 388–437; Volker Mertens, Der implizierte Sünder. Prediger, Hörer und Leser in Predigten des 14. Jahrhunderts, in: Zur deutschen Literatur und Sprache des 14. Jahrhunderts. Dubliner Kolloquium 1981, hg. v. Walter Haug u. a. (Beihefte zur Literatur und Sprachwissenschaft 45), Heidelberg 1983, S. 76–114.

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einer arabisch-muslimischen Vorlage des 10. Jahrhunderts basierte, die den Titel Sir al asrar, also Geheimnis der Geheimnisse, trug, zunächst noch unvollständig durch Johann von Sevilla um die Jahre 1112 bis 1128 in die lateinische Sprache übersetzt und dem europäischen Okzident, bezeichnenderweise unter dem Epistula Aristotelis ad Alexandrum de regimine sanitatis, zugänglich gemacht wurde, anschließend zur Mitte des 13. Jahrhunderts textliche Erweiterungen erfuhr, durch Philipp von Tripoli um 1230 diesmal vollständig in einen neuen lateinischen Textkorpus überführt wurde, der als Secretum secretorum bezeichnet war, schließlich durch den Philosophen Roger Bacon um 1275 kommentiert und in dieser Textgestalt in großem Umfang im okzidentalen Europa rezipiert wurde. Die Texte, die auch weiterhin zahlreiche Umformungen erfuhren, gehörten zu den am häufigsten in Handschriften kopierten Schriften, allein 150 der frühen lateinischen Übersetzung und ungefähr 350 derjenigen von Philipp von Tripoli und der Textform von Bacon. Hinzu kamen viele Übersetzungen in die europäischen Volkssprachen. Die Verbreitung der Schrift, die sich als Belehrung Alexanders des Großen durch Aristoteles ausgab, profitierte von dem seit dem 12. Jahrhundert gesteigerten Prestige der beiden Personen sowie von den vielfältigen Gebrauchsweisen des Textes – als enzyklopädisches Kompendium, Herrscherbelehrung, moralische Anweisung, medizinisches Lehrbuch, diätischer Ratgeber –, so dass sowohl an den Herrscherhöfen als auch außerhalb von ihnen die Schrift vorhanden war, Lektürestoff bot und umgeformt wurde.1126 Auf der iberischen Halbinsel stützte sich die sogenannte Weisheitsliteratur auf die Schrift Secretum, wenn sie in apodiktisch formulierten Leitsätzen Herrschaftswissen vorstellte. Besonders in Kastilien bestand eine Faszination für das Wissen der Araber.1127 Auch wenn der Text von Secretum sich 1126 Mario Grignaschi, L’origine et la metamorphose du Sirr-al-’asrar, in: AHDL 43 (1976), S. 7–112; Ders., La diffusion du Secretum secretorum (Sirr-al-Asrar) dans l’Europe occidentale, in: AHDL 47 (1980), S. 7–70; William F. Ryan, Charles B. Schmitt, PseudoAristotle, The Secret of Secrets. Sources and Influences, London 1982; Steven J. Williams, The Secret of Secrets. The Scholarly Career of a Pseudo-Aristotelian Text in the Late Middle Ages, Ann Arbor 2003, S. 7–141; Ders., The Early Circulation of the Pseudo-Aristotelian Secret of Secrets in the West. The Papal and Imperial Courts, in: Le science alla corte di Federico II, hg. v. Agostino Paravicini-Bagliani (Micrologus 2), Turnhout 1994, S. 127– 144; Forster, Geheimnis, S. 1–19; Lor8e, Edition comment8e du Secret des Secrets, S. 21– 27, 57–60; Hugo Bizzarri, Difusijn y abandono del Secretum Secretorum en la tradicijn sapiencial castellana de los siglos XIII y XIV, in: AHDL 63 (1996), S. 95–137; Cath8rine Gaullier-Bougassas, Margaret Bridges, Jean-Yves Tilliette, Cheminements culturels et m8tamorphoses d’un texte aussi c8lHbre qu’enigmatique, in: Trajectoires europ8ennes du secretum secretorum du Pseudo-Aristotes (13e–16e siHcles), Turnhout 2015, S. 5–26; Hugo Bizzarri, Le secretum secretorum en Espagne. De trait8 m8dical / miroir de prince, ebda., S. 187–214; Michele Milani, Un compendio italiano del Secretum secretorum. Riflessioni e testo critico, ebda., S. 257–315. 1127 Grundriss der Geschichte der Philosophie. Mittelalter, Bd. 4, hg. v. Peter Schulthess u. a., Basel 2017, S. 1035–1041.

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streckenweise mit einer unverbundenen Aneinanderreihung von Anleitungen begnügt und er auf Argumente weitgehend verzichtet, verringert dies nicht die nachhaltige Wirkung für das späte Mittelalter. Die Schrift Secretum secretorum stellt die Herrschaft in eine Ordnung, die sie überwölbt und die ihr Legitimität spendet. Die Herrschaft ist Teil einer alle Seinsbereiche – materielle und immaterielle – erfassenden kosmologischen Ordnung. Das circulum firmamenti wirke auf die Menschen ein, auch auf alle Akteure der Herrschaft, d. h. König, Untertanen, unter ihnen Arme und Reiche. Die menschliche Sozietät sei der kosmischen Beeinflussung ausgesetzt. Die Schönheit des Kosmos setze sich in der Schönheit der irdischen Dinge fort; durchdringe alle Lebensbereiche. Zur Schaffung der Schönheit der Menschen bedürfe es aber der Anstrengung und der Belehrung. Die Gerechtigkeit sei Teil und Voraussetzung der Schönheit und daher eingebettet in eine Weltordnung. Die iusticia naturalis meint die Konformität des irdischen Lebens mit den Bewegungen der Gestirne, d. h. mit der Gleichmäßigkeit, Regelmäßigkeit und der daraus fließenden Harmonie. Diese zeigt sich in den Körpern, ihren Bestandteilen und ihren Bewegungen. Die Harmonie erfasst auch die Beziehungen der Menschen. Harmonisch soll auch das Verhältnis zwischen König und Volk sein, das in diesem Text dennoch nicht organologisch gedeutet wird, vielmehr kosmologisch, d. h. als Resultat der Konstellationen der Gestirne. Gegensätze in der Herrschaftsordnung gelten als Störungen und haben keine Berechtigung. Volk und Herrscher sind einvernehmlich verbunden. Das Volk sei, so führt die Schrift aus, der Schatz des Königs, denn nur mittels seines ihm unterworfenen Volkes gelinge es ihm, seinen Willen durchzusetzen. Diesen Schatz zu bewahren, verlange, die Menschen dazu zu bringen, den Herrscher als überlegen anzuerkennen und ihm wohlgesonnen zu sein. So wie Kinder ihren Vater, sollten die Untertanen vom König abhängig sein. Besonders gegenüber kürzlich unterworfenen Völkern gelte es, die Überlegenheit des Herrschers durchzusetzen.1128 Wie wird die Herrschaft unüberwindlich gemacht? Wie unterwirft sie die Untertanen? Die Antwort, die die Schrift Secretum secretorum gibt, lautet: Herrschaft bedient sich des Schreckens, denn sie müsse, wie der Text ausführt, grausam sein. Der König habe sich, so wird geraten, davor zu hüten, von seinen eigenen Untertanen beherrscht zu werden. Das zu verhindern, setze den Gebrauch des Schreckens voraus, so dass sie Furcht unter den Menschen verbreite. Die große Furcht der Untertanen zwinge sie zur Unterwerfung. Die erfolgreiche Regierung verlange ein willkürliches Handeln; der Regent überwältige so den Willen der Untertanen. Die Herrschaft ist nicht kooperativ und nicht fürsorglich vorgestellt. Der beste Herrscher gleiche einem Geier, um den herum die Kadaver liegen, nicht einem Kadaver, um den herum die Geier kreisen, so stellt es der Text 1128 Secretum secretorum, S. 49f.,126–129, 148f.

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dar. Deswegen solle der Herrscher streng agieren, nicht milde sein; umso mehr würden ihn die Untertanen – zunächst von Schrecken erfüllt – schließlich auch sogar lieben.1129 Die von dem franziskanischen Philosophen Roger Bacon (ca. 1220–1292) kommentierte Textfassung insistiert auf der Intention, eine Entmächtigung der Untertanen zu erreichen, welche die Autonomie des Individuums aufhebt und den herrscherlichen Willen bei den Individuen implantiert. Deren Aktionsfeld soll beschnitten werden. Die frühe französische Übersetzung und Umformung in Gedichtsform, geschrieben von Pierre d’Abernun de Fetcham, die in England verbreitet war, folgt dieser Vorgabe.1130 Um den herrscherlichen Willen zur Wirkung zu bringen, sind sowohl Schrecken als auch Liebe einzusetzen. Liebe kann sogar erzwungen werden – durch den Schrecken. Die instrumentale Einsetzung der Liebe sieht von einem allgemeinen Liebesgebot ab, weswegen Liebe, Schrecken und Grausamkeit nicht einmal mehr opportune, je nach Situation zu variierende Mittel darstellen, um die Herrschaft durchzusetzen, sondern sie sollen alle und stets unvermindert und beständig aufrecht erhalten werden. Ein Widerspruch sieht der Text nicht vor. Erst die französische Übersetzung aus dem 15. Jahrhundert wird den Schrecken und die Furcht abschwächen: Der Text verlangt von den Untertanen reverence et obe"ssance au roy statt, wie die lateinische Vorlage vorsieht, obedientiam et timorem. Der immer mehr um sich greifende Gebrauch des Textes außerhalb der Herrscherhöfe als medizinisches und diätisches Handbuch schoben die politische Lehre teilweise zurück.1131 Die lateinischen und frühen volkssprachigen Versionen bestehen aber auf der engen Verbindung von Liebe und Schrecken. Zur Gewinnung der Liebe wird aber doch mehr verlangt, als den Schrecken einzusetzen; der Herrscher soll sich dazu der Attraktivität seines Körpers bedienen. Liebe wird einseitig von der Person des Herrschers erzeugt; sie entsteht nicht aus einer kooperativen Disposition aller, ist kein Ergebnis sozialer Beziehungen, soll aber als Ergebnis eine Harmonie hervorbringen, die die allumfassende, bis in den Kosmos reichende Ordnung nicht allein widerspiegelt, sondern die sie im Herrschaftsgebiet verwirklicht und die in ihr begründet ist. Der Herrscher zieht die Untertanen an sich, indem er die Vorzüge seines Körpers, dessen Kraft und dessen Schönheit zeigt. Der König muss Liebe durch die Eigenschaften seines Leibes, also durch Mittel, die unmittelbar mit seiner Person verbunden sind, hervorrufen. Einen Automatismus gibt es indes nicht, denn es bedarf großer Anstrengungen, um dem Körper diese Wirkung abzutrotzen. Deswegen muss der Körper trainiert, 1129 Forster, Geheimnis, S. 65. 1130 Le Secr8 de Secrez by Pierre d’Abernun of Fetcham, hg. v. Oliver A. Beckerlegge, Oxford 1944, S. 16f., 37–57. 1131 Lor8e, Edition comment8e du Secret des Secrets, S. 30.

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bearbeitet, hygienisch gepflegt und ornamental ausstaffiert werden. Durch die Ausstattung des Körpers, d. h. durch Kleidung und Schmuck, sowie durch die Gesten, durch Mimik und Bewegung soll die Schönheit erzeugt und so die Zuneigung von Untertanen und von fremden Gesandten entfacht werden. Des weiteren sind olfaktorische Sinne in Ergänzung zu den visuellen zu erregen: Durch Parfümierung soll der König seinen Leib verschönern.1132 Hinzu treten eine wohltönende Stimme und darauf beruhend eine schöne Rede.1133 Zur Geltung kommen die körperlichen Vorzüge am besten in der Bewegung, die nicht allein Kraft, sondern auch Ebenmaß zeigt. Gleichmässige Bewegungen erzeugen die Schönheit, heftige sind hingegen zu vermeiden. Daher soll der Herrscher nicht lachen, weil so seine Gesichtszüge verzerrt werden. Von der frühesten Kindheit an bis zu seinem Tod muss der künftige und der regierende Herrscher in der Perfektion der körperlichen Vorzüge geschult werden. Der Körper ist in Szene zu setzen. Daher ist er in ein Ambiente, das durch Musik und Tanz gestaltet ist, einzufügen.1134 Der Körper ist aber auch unmittelbares Objekt für die Einwirkung des Herrschers. Deswegen nehmen die medizinischen und diätetischen Ratschläge in dem Werk einen so großen Raum ein, denn sie ermöglichen es erst, die Gesundheit und die Anmut des Körpers hervorzurufen und zu bewahren. Die Fülle der diätetischen Ratschläge dient einem politischen Ziel, der Schaffung und der Präsentation eines vollkommenen königlichen Körpers, damit mit seiner Hilfe der König Macht ausübt. Politik ist mit Ästhetik verbunden. Nicht allein der individuelle Herrscher, sondern dessen gesamte Familie profitieren vom schönen Körper, denn er wird durch Abstammung weitergegeben. Die körperlichen Vorzüge sind das Ergebnis sowohl der individuellen Übung als auch der familiären Vererbung. Der Körper ist der Garant der Vortrefflichkeit, auch der gesamten Dynastie. Mehr noch: Die Schönheit erfasst das gesamte Reich. Im Secretum secretorum ist zu lesen, dass das Volk die Schönheit seines Herrschers genieße und dass es in Liebe zu ihm hingeführt werde. Auch die Liebe des Volkes bedürfe einer Anleitung. Die Liebe zum König und seine Verehrung seien allen Kindern in allen Städten des Reiches zu lehren, wie eine englische Version des Textes besonders deutlich darstellt.1135 Das Regiment des Leibes führe zum Regiment des Staates. Jede politische Gewalt bedürfe des guten materiellen Leibes, seines prächtigen Dekors und der geschickten Präsentation der Schönheit. Berichtet wird von einem indischen König, der sich einmal im Jahr seinen 1132 Secretum secretorum. S. 69; Martin Roche, L’intelligence d’un sens. Odeurs miraculeuses et odorat dans l’Occident du haut moyen .ge, Turnhout 2009. 1133 Secretum secretorum, S. 48, 69. 1134 Ebda., S. 37f. 1135 Three Prose Versions of the Secretum Secretorum, London 1898, S. 12f.

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Untertanen zeige, versehen mit Ornamenten, bekleidet mit wertvollen Kleidern. So demonstriere er seine Schönheit. Dieses Verhalten sei das Vorbild, dem jeder Herrscher zu folgen habe, denn so gelinge es ihm, geliebt zu werden und auf diese Weise die Macht intakt zu halten. Die äußere Erscheinung des Königs ist den Untertanen und den auswärtigen Gesandten vorzustellen.1136 Die Pflege des Körpers ist eine politische Angelegenheit. Das regimen sanitatis ist die Voraussetzung für das regimen huius mundi.1137 Oder anders und konkreter : Die potentia des Königs beruht auf seiner sanitas.1138 Sie zu unterstützen und zu bewahren, sei die erste der königlichen Aufgaben, verlangt der Text des Secretum. Denn durch den perfekten Körper beweise der König die Perfektion seiner Seele und durch ihn erringe er die Liebe, ohne die eine Herrschaft nicht bewahrt werden könne. Auch wenn eine vollkommene Entsprechung zwischen Seele und Leib nicht immer gegeben sei, wie der Text des Secretum einräumt, solle zumindest der Anschein erweckt werden von der Schönheit der Seele, die sich in der Schönheit des Leibes offenbare.1139 Die politische Attraktion erfordert die körperliche Attraktivität. In keiner anderen Schrift des späten Mittelalters wird die Verbindung von Leib und Herrschaft enger gezogen. Die weite Verbreitung an den Höfen liegt wohl auch darin begründet.1140 In der französischen Textfassung des 15. Jahrhunderts wird zusätzlich zur lateinischen Fassung auch die Bewegung, die durch Tanz und Musik geformt wird, empfohlen.1141 Der Körper, seine Ausstattungen und seine Bewegungen sollen dem König Liebe zuführen. Die Liebe ist zunächst physiologisch begründet, verweist dann auch auf eine moralische Qualität, sofern Leib und Seele eine Einheit bilden, und sie steht in Verbindung zur Harmonie des Kosmos. Was die Harmonie unter den unbelebten Objekten bewirkt, leistet die Liebe unter den Menschen. Gewinner der Liebe ist allein der Herrscher. Die hierarchische Dominanz ist uneingeschränkt, da aus der Liebe für den Herrscher keine Pflicht erwächst, für das Wohl der Untertanen zu wirken. Folglich soll es auch keine Hemmnisse geben, durch große Grausamkeit gegen die Feinde, aber auch gegen ungehorsame Untertanen vorzugehen. Die angeblichen Ratschläge des Aristoteles – einschließlich derer zur Pflege des Leibes –, seien geeignet gewesen, das Perserreich zu erobern und die eroberten Gebiete unter seiner Herrschaft zu halten, 1136 1137 1138 1139 1140

Secretum secretorum, S. 49. Ebda, S. 64 Ebda., S. 42. Ebda., S. 70–72. Steven J. Williams, Ders., The Early Circulation of the Pseudo-Aristotelian Secret of Secrets in the West. The Papal and Imperial Courts, in: Le science alla corte di Federioco II, hg, v. Agostino Paravicini-Bagliani (Micrologus 2), Turnhout 1994, S. 127–144. 1141 Lor8e, L’8dition comment8e du Secret des Secrets, S. 55.

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wie der Text ausführt. Eine ethische Grundlegung der Liebe entfällt, sofern sie den Herrscher betrifft; sie verbleibt in der wenig angesehenen Form leiblicher Anziehung. Sie wirkt nur dadurch relational, insofern sie den großen Abstand zwischen Herrschern und Beherrschten emotional gestaltet und auf diese Weise perfektioniert. Eine tatsächliche emotionale Annäherung zwischen Herrschern und Beherrschten wird aber als Illusion vorgestellt, die aber nötig ist, um die Macht zu erhalten und zu erweitern.1142 Die Liebe der Untertanen zum Herrscher folgt einem Reflex, der durch die Sinneneindrücke ausgelöst ist. Moralische Leistungen sind nicht gefordert. Der Vollzug der in der Welt angelegten Kräfte – im Kosmos, im Staat und im Körper – ist durch eine geradezu physikalisch gedeutete Kausalkette gewährleistet. So wird auch Herrschaft harmonisch, so wird sie vor Widerständen bewahrt, so wird sie unüberwindlich den Untertanen auferlegt. Um der Wirkung der Liebe Nachdruck zu verleihen, ist auch der Schrecken empfohlen. Aus der Überwältigung soll es kein Entrinnen geben.1143

3.

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Der Text des Secretum secretorum bot eine Belehrung, die auf die Perfektionierung des individuellen Leibes des Herrschers zielte. Er sah keine Analogie, sondern eine kausale Beziehung zwischen Körper und Staat vor. Im europäischen Okzident trat der Körper auch in einer anderen Weise als in seiner materiellen Gestalt in den Bereich der Politik ein: als Metapher für den Staat. Diese metaphorische Relation war aber nicht auf ein rhetorisches Verfahren beschränkt, sondern wurde als Beweisverfahren eingesetzt und akzeptiert.1144 So auch bei Johannes von Salisbury († 1180). Seine umfassende Kenntnis antiker Schriften befähigte ihn, deren Argumente in einen mittelalterlichen Kontext einzufügen. Einen institutionellen Körper, nicht einen biologischen, stellte er in den Mittelpunkt seiner Überlegungen, die er in seiner theoretischen Schrift Policraticus vorstellte. Zwischen materiellem Körper und institutionellem Körper gebe es die Relation der Konformität, beide mit der Ordnung der Natur verbunden. Die Verbindung zeigt der Text, der selbst Anteil nimmt an der allgemeinen Harmonie des Weltganzen. So wie die universale Ordnung Kosmos, Staat und Leib gestaltet, erachtet Johannes auch die Schrift als geordnete und logische Zusammenfügung von Argumenten, die die Realität des Beschriebenen zur Kenntnis bringen.1145 Johannes gibt in der Vorrede und im Prolog vor, den 1142 1143 1144 1145

Secretum secretorum, S. 149f. Ebda., S. 126f. Struve, Entwicklung. Max Kerner, Johannes von Salisbury und die logische Struktur seines Policratius, Wiesbaden 1977.

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König belehren zu wollen1146, aber seine Schrift ist in Wirklichkeit nicht vornehmlich didaktisch, sondern überwiegend deskriptiv und analytisch. Sie richtete sich an alle, die auch außerhalb der Höfe Wissen über die Politik sich aneignen konnten, also weiterhin noch vor allem an schriftkundige Geistliche, die ihre Kenntnisse den Laien weitergeben sollten. Indem das Werk von Johannes die beiden Lebensbereiche von Hof und Kirche gegenüberstellt, kann sie als Selbst-Affirmation der Vorzüge priesterlicher Existenz gedeutet werden1147, verliert damit den Charakter einer Fürstenbelehrung, gewinnt aber Gewicht als Monument des Beschreibens, Deutens und Bewertens der politischen Institutionen, ist mehr eine Lehre über die Herrschaft als ein Fürstenspiegel. Johannes sucht – erstmals in der ausführlichen Breite und in der theoretischen Fundierung – eine Verfahrungsordnung zu implantieren, die das Funktionieren der Herrschaft nicht allein von einer moralischen Vortrefflichkeit der Person des Herrschers ableitet. Die Schrift reiht sich nicht in die Reihe von Texten geistlicher Autoren ein, die durch die Gegenüberstellung von Kirche und Welt die Herrschaft grundsätzlich abwerteten, wie dies in Folge der Kirchenreform des 11. Jahrhunderts geschah. Dies war allein schon deswegen nicht das Anliegen von Johannes, als er die kirchlichen Ämter nicht als Untersuchungsgegenstand einbezog und deshalb außerhalb des Körpers des Staates beließ und nur die Aktivität einzelner Geistlicher als Lehrende für den König vorsah, ohne ihnen einen eigenen Funktionsbereich der Entstehung und der Ausführung der Herrschaft zuzuweisen. Johannes behandelte ein genuin politisches Thema, indem er das Zusammenwirken der verschiedenen Akteure und Institutionen eines Staates erläuterte, dessen Funktionieren und dessen Nutzen aus ihm selbst entstehen sollten, wobei die Beratung und Anleitung durch die Geistlichen die Kenntnisse der Funktionsweisen vermitteln würden. Ihm ging es um eine vertiefte Reflexion über die institutionelle Position des Königs, um seine Integration in die als res publica bezeichnete staatliche Ordnung. Johannes wollte zeigen, wie die Herrschaft mit den humanen Bedürfnissen in Verbindung zu bringen sei. Das Ideal war ein konfliktfreies Zusammenwirken der verschiedenen Institutionen, die Johannes als Teile eines Ganzen konzipierte. Harmonie im Staat war gefordert. Sie könne, so meinte Johannes, nicht durch Zwang erreicht werden. Er kritisierte eine Furcht einflößende Herrschaft, die sich auch noch rühmte, dies zu tun. War aber Herrschaft möglich, ohne Furcht zu erregen? Wie sollten die Untertanen geleitet werden? Wie sollten die Herrscher agieren, um die Leitung auszuüben? Gab es eine notwendige Ordnung, der alle Menschen zu folgen hatten? Diesen Fragen widmete sich Johannes von Salisbury. Er wurde in Paris und vermutlich auch in Chartres ausgebildet, lernte u. a. bei 1146 Johannes von Salisbury, Policraticus, hg. v. Keats-Rohan, S. 9–26. 1147 Schwandt, Virtus, S. 160f.

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dem bedeutenden Philosophen Wilhelm von Conches, bezog offensichtlich von ihm Kenntnisse zu einigen Texten Platons, war durch seinen Lehrer mit den Anfängen eines argumentativen Diskursstiles vertraut, den als »Scholastik« zu bezeichnen, in der Philosophiegeschichte üblich wurde, bekleidete in Frankreich mehrere geistliche Ämter, kehrte 1147 nach England zurück, war am Hof des Erzbischofs von Canterbury tätig, zog nach dem Streit zwischen dessen Oberhirten Thomas Becket und König Heinrich II. mit jenem nach Frankreich ins Exil, kam 1170 mit Thomas wieder nach England, war im selben Jahr Augenzeuge des von Heinrich beauftragten Mordes an Thomas Becket, floh erneut aus England, wurde schließlich 1175 zum Bischof von Chartres erhoben und lebte die letzten fünf Lebensjahre in Frankreich außerhalb der Domäne des englischen Königs.1148 In seinem Werk Policraticus, vor 1159 abgeschlossen – also noch vor dem Höhepunkt des Konfliktes zwischen König und Erzbischof –, entwarf Johannes eine Gesellschafts- und Herrschaftslehre, die, basierend auf einem organologischen Modell, eine geordnete Relation der Funktionen und der Aufgaben im Staat vorsah, ähnlich dem Zusammenspiel der verschiedenen Körperteile des Menschen. Das Werk Policraticus fand während der folgenden Jahrhunderte eine weite Verbreitung, war in zahlreichen Handschriften aufgezeichnet, wurde in den späteren Texten zur politischen Theorie verwendet, wurde von vielen Autoren zitiert (u. a. Vinzenz von Beauvais und den Dichtern Chaucer und Dante) und war an den Fürstenhöfen Europas bekannt. In den 1370er Jahren ließ König Karl V. von Frankreich durch Jean Golein einen kommentierten und bebilderten Auszug in französischer Sprache anfertigen. Bei den spätmittelalterlichen Juristen des römischen Rechts galt Johannes von Salisbury als Gewährsmann für das Recht der res publica.1149 Das Werk Policraticus war eine wichtige Etappe, die Politik als eigenständigen Wissens- und Reflexionsbereich einzuführen, da es nicht allein die Konformität des Handelns des Herrschers mit den Geboten der Kirche bewertet, nicht in 1148 Ursula Odoj, Wissenschaft und Politik bei Johannes von Salisbury, Diss. München 1974; Julie Barrau, Ceci n’est pas un mirroir, ou le Policraticus de Jean de Salisbury, in: Le prince au miroir de la literature politique de l’Antiquit8 aux LumiHres, hg. v. Fr8d8rique Lachaud, Lydwine Scordia, Mont-Saint-Aignan 2007, S. 87–112. 1149 Johannes von Salisbury, Policraticus, hg. v. Keats-Rohan, S. xvi f., xviii–xlii; Walter Ullmann, John of Salisbury’s Policraticus in the Late Middle Ages, in: Geschichtsschreibung und geistiges Leben im Mittelalter. Festschrift Heinz Löwe, hg. v. Karl Hauck, Hubert Mordek, Köln, Wien 1978, S. 519–545; Ammon Lindner, The Knowledge of John of Salisbury in the Late Middle Ages, in: Studi Medievali 3/18,2 (1977), S. 315–366; Senellart, Arts, S. 145–147; Max Kerner, Johannes von Salisbury im späteren Mittelalter, in: Das Publikum politischer Theorie im 14. Jahrhundert, hg. v. Jürgen Miethke, München 1992, S. 25–47; Elizabeth Morrison, Anna D. Hedeman; Imagining the Past in France. History of Manuscript Painting 1250–1500, Los Angeles 2000, S. 189.

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erster Linie den Vollzug von Tugenden fordert, sondern die inhärent weltlichen, auf den Zielen von Machterwerb und Machterhalt, aber auch von Nützlichkeit für alle Untertanen ausgerichteten Verfahrensweisen von Herrschaft untersucht. Dem König ist dabei nicht allen reaktiv die Aufgabe zugewiesen, Übel zu korrigieren, sondern die Menschen pro-aktiv zum Guten zu leiten. Indes, die Wirklichkeit sah anders aus, und die Realisierbarkeit der gebotenen Ziele der Herrschaft erachtete Johannes als gering. Das verfehlte Machtstreben des Königs und die verderbte Konstitution des Hofes stünden, so meint Johannes, der guten Herrschaft entgegen.1150 Die Konflikte des englischen Königtums mit den Institutionen der Kirche, die von hohen Geistlichen beklagten Eingriffe königlicher Gewalt in die Angelegenheiten der Kirchen, deren Unterstellung unter die weltliche Gerichtsbarkeit durch die Konstitutionen von Clarendon im Jahre 1164, der Widerspruch dagegen insbesondere durch den Erzbischof von Canterbury, Thomas Becket, und die weiteren Auseinandersetzungen, die in dessen Ermordung im Auftrag des Königs im Jahre 1170 kulminierten1151, bildeten den Hintergrund für die Rezeptionen von Johannes, der sich aber nicht damit begnügte, aktuelle Ereignisse zu bewerten, die bestehenden schlechten Zustände zu beklagen und die Einhaltung kirchlicher Gebote und christlicher Ideale anzumahnen, sondern eine Vorstellung von der guten Herrschaft entwarf, die in Kontrast zu seiner zeitgenössischen Umwelt stand, zugleich aber für die Nachwelt Begründungen und Forderungen bereitstellte und tatsächlich bleibenden Einfluss während der folgenden Jahrhunderte ausübte. Dies lag nicht zuletzt daran, dass er trotz der Invektiven gegen die Verwerflichkeit der Herrscher und trotz der abschätzigen Urteile zur Herrschaftsorganisation Argumente und Verfahren darlegte, die die Akzeptanz und Plausibilität von Herrschaft theoretisch begründeten.1152 Die Schrift warnte ausdrücklich davor, sich der Herrschaft zu entziehen, sich ihr gar zu widersetzen und sich den eigenen Wünschen und Launen zu überlassen. Dies führe zu einer verfälschten Freiheit, zu einer fictivam quandam libertatem. Aus ihr entstünden, so Johannes, üble Taten der Menschen.1153 So heftig die Kritik an der Herrschaft auch war, ihre Berechtigung war nicht angetastet. 1150 Senellart, Arts, S. 128; Uhlig, Hofkritik, S. 50–65; Thomas Szabj, Der mittelalterliche Hof zwischen Kritik und Idealisierung, in: Curialitas. Studien zu Grundfragen der höfischritterlichen Kultur, hg. v. Josef Fleckenstein, Göttingen 1990, S. 350–391. 1151 Raymonde Foreville, L’Eglise et la Royaut8 en Angleterre sous Henri II PlantagenÞt (1154– 1189), Paris 1943, S. 213–262; Wilfred Lewis Warren, Henry II, Berkeley 1973, S, 505–510; Frank Barlow, Thomas Becket, Berkeley 1986, S. 253–264; Richard Huscroft, Ruling England 1042–1217, Harlow 2005, S. 196f. 1152 Tilman Struve, Entwicklung, S. 125–148; Cairy J. Nederman, Catherine Campbell, Priests, Kings, and Tyrants. Spiritual and Temporal Power in John of Salisbury’s Policraticus, in: Speculum 66 (1991), S. 572–590; Jaeger, Origins, S. 56–58. 1153 Johannes von Salisbury, Policratici libri, hg. v. Webb, II, S. 161.

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Zunächst aber geht die Argumentation von dem Konstatieren eines Übels aus. Johannes verurteile den Fürstenhof als Hort des eitlen Tuns und der Nichtigkeiten. Die Erörterung oszilliert zwischen einer grundsätzlich abwertenden Sicht auf eine auch durch Reformen nicht wesentlich zu verbessernde Institution einerseits und einer Warnung vor den zu vermeidenden Gefährdungen königlicher Herrschaft andererseits. Einerseits ist die Herrschaft als die Realisierung der natürlicherweise angelegten und zum Guten neigenden Potentiale der Menschen vorgestellt, andererseits als die Verhinderung dieser Potentiale. Grundsätzlich bleiben auch die einzelnen Menschen am Hof von der positiven Bestimmung humaner Existenz nicht ausgeschlossen. Aber der Hof als Konglomerat sozialer Relationen stört und behindert die Entfaltung der menschlichen Natur, die allen Individuen angelegt ist. Der Hof ist der Ort, der das Wissen vernebelt, so wie im Prolog ausgeführt ist, so dass Johannes sich berufen sieht, Klarheit in die Angelegenheit der Herrschaft zu bringen, um den angesprochenen König, Heinrich II. von England, auf die Bahnen einer Herrschaft zu lenken, die mittels der Gerechtigkeit mit ihrem eigenen Wesen und ihrer innewohnenden Zielsetzung zur Übereinstimmung gebracht wird. Der Widerspruch zwischen der Potentialität einer gut gestalteten Gemeinschaft und der tatsächlich in seiner Zeit zu beobachtenden Verfehlung von Herrschaft löst Johannes dadurch auf, dass er einer Teil-Institution, freilich der zentralen, nämlich dem königlichen Hof, die Verantwortung für die politischen Missstände zuweist, die dazu führen, dass die Gesamtheit, die res publica, ruiniert wird. Das Lob des weltabgewandten Lebens, befreit von den Fesseln der am Hof eingeforderten Konventionen, begründet Johannes mit dem Werk von Boethius Consolatio philosophiae.1154 Den Hof hingegen charakterisiert Johannes als Krankheitserreger in einem Gefüge, das dazu bestimmt sein sollte, Ordnung zu schaffen, tatsächlich aber Unordnung hervorbringt. Dieses Gebrechen zu beenden und damit die Negation des Ideals aufzuheben, ist dem König anvertraut. Damit er seiner Aufgabe nachkommt, gilt es, ihn zu belehren. So wird er in die Lage versetzt, das zu korrigieren, was der natürlichen Ordnung widerspricht. Diese Ordnung verlangt eine Ordnung der Zusammenarbeit zwischen dem Gelehrten und dem König.1155 Ob Johannes ein solches Belehrungs- und Verbesserungsprogramm für machbar hielt, bleibt unklar. Im Ergebnis war das Werk Policraticus jedenfalls mehr eine Analyse des (schlechten) Bestehenden, als dass es ein Programm zu Veränderung vorstellte. Johannes ist der Auffassung, dass Gott jedem Menschen ein officium übertragen habe, dessen Pflichten zu erfüllen seien, und dass in das Pflichtenprogramm auch die Könige einbezogen seien, so dass sie integriert sind in einen 1154 Ebda., S. 120. 1155 Johannes von Salisbury, Policraticus, hg. v. Keats-Rohan, S. 21–26.

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metaphorisch als Körper bezeichneten Verbund, der Personen mit Aufgaben ausstattet. Ohne hier weiter die Auffassungen von Johannes zur Beschaffenheit der Gesellschaft und der Herrschaft darstellen zu wollen, sei im Hinblick auf die Thematik dieses Buches festgehalten, dass die Herrschaft als Ergebnis einer Naturordnung vorgestellt ist, was nichts anderes heißt, als dass das organologische Modell nicht Metapher im Sinne eines rhetorischen Verfahrens, sondern als Wesensbeschreibung von Staat und Gesellschaft aufzufassen ist. Die Folge davon ist, ein harmonisierendes Zusammenspiel der Teile der Gesellschaft und der politisch wirksamen Institutionen zumindest potentiell als vorhanden anzunehmen, sofern keine »Krankheiten« den »Körper« befallen. Weil eine natürliche Bestimmung die Aufgaben und die Kooperationen festlegt, ist kein Zwang vorausgesetzt, sie den Menschen aufzuerlegen. Die reverentia, die Johannes zwischen den Mitgliedern einer Familie als vorhanden annimmt, leite, so seine Auffassung, auch die Gesellschaft und den Staat, so dass nichts anderes verlangt werden müsse, als dass jeder die ihm innewohnenden natürlichen Antriebe zur Entfaltung bringe. Es genüge, die individuell festgelegten Aufgaben in unterschiedlichen sozialen Positionen auszuüben, so dass das kongruente Handeln der Individuen die angemessene Verwirklichung der öffentlichen Angelegenheiten ermögliche. Das harmonische Zusammenleben der Menschen beruht bei Johannes auf dem Zusammenspiel ihrer Unterschiede, die, als Organe gedeutet, einen Körper bilden. Die Zusammenführung ist möglich, weil es die Liebe zwischen ihnen gibt. Sie ist von Gott eingeflößt, ist Teil der natürlichen Disposition aller Menschen, hängt nicht von der Botschaft und der Erlösungstat Christi ab, ist nicht nur den Christen gewährt. Aber die von Gott den Menschen eingepflanzte Liebe kann korrumpiert werden. Sie wird verdorben durch die Hinwendung der Liebe zu verfehlten Zielen. Für Johannes gilt dies insbesondere für die Liebe zum Geld. Er schreibt, dass sie die Natur des Menschen zerstöre. Denn eine solche Liebe sei nicht allein fehlgeleitet, sie verhindere die wirkliche Liebe. Sie werde vielmehr zur Gier. Die Gier, die ein furor ist, unterwerfe die Menschen, trenne sie voneinander und mache sie unempfänglich für die Liebe, die die Menschen verbindet. Auch die Liebe zwischen Mann und Frau, da sexuell angetrieben und den freien Willen schmälernd, verführe die Menschen, entfremde sie ihrer Natur und sei nicht einmal geeignet, in der Familie Gutes zu stiften und noch weniger in großen gesellschaftlichen Verbänden. Vor allem der Herrscher müsse die sexuell motivierte Liebe, Johannes nennt sie den affectum carnis, abstreifen, ja sie vergessen, um sich einzig der Sorge zu widmen, die ihm die Liebe zu den Untertanen eingebe und die verlange, ihr Wohl zu fördern. Eheliche und familiäre Liebe ist nur im uneigentlichen Sinne als Liebe aner-

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kannt. Johannes meint: Den Untertanen ist der Herrscher zugleich Vater und Ehegatte.1156 Die hausväterliche Gewalt war auf den Staat ausgeweitet. Familiäre Anhänglichkeit und Solidarität müsse, schreibt Johannes, nicht allein auf die Beziehungen im Staat ausgedehnt werden, sie müsse überwunden werden. Der amor iustus solle sie ersetzen. Er sei ein affectus, der von Anfang an, so Johannes, seit Bestehen der Menschheit, existiere, nicht von der Erbsünde getilgt worden sei und den auch die antiken Philosophen – genannt werden Platon und Aristoteles – dargestellt hätten und der in christlicher Diktion als caritas bezeichnet sei. Dieser affectus sei derjenige Antrieb, der zur Bildung verfasster Gesellschaften führe und stets vorhanden sein müsse, um sie vor dem Zerfall zu bewahren. Der amor iustus führe zum amor patriae, motiviere zum Handeln für das allgemeine Wohl, mache bereit zu Opfern, selbst zum eigenen Tod für die patria, sporne zu außerordentlichen Leistungen an, vernachlässige den eigenen Vorteil. Johannes zieht eine Verbindungslinie von der Nächstenliebe zur politisch eingeforderten und dargebrachten Liebe. Die caritas ordinata wird in eine verfasste und geordnete Gemeinschaft eingesetzt. Aus der Liebe entspringt die Institution des guten Staates.1157 Dem Verfall der Liebe, wie er Johannes konstatiert, stellt er eine Liebe gegenüber, die ursprünglich, vor-politisch existiert, aber in der Politik zur Entfaltung gebracht werden kann und soll. Johannes verlangt eine Objektivierung der Liebe, die aus den Zufälligkeiten individueller Vorlieben abgelöst, an die Schöpfungsordnung Gottes angebunden und in die weite Soziabilität eingefügt ist. Der König hat eine Pflicht, die zwar den anderen »Gliedern« des sozialen »Körpers« nicht fremd ist, jenem aber als Haupt in größerer Verpflichtung und unabdingbar auferlegt ist. Es ist die Pflicht, die der amor iustitiae erzeugt. Der Begriff meint die Liebe, die sich in den Institutionen realisiert. Von ihr angetrieben, gelinge es dem König, so meint Johannes, die jedem Einzelnen zukommenden Aufgaben zu verteilen, diese Aufteilung zu erhalten und damit die Beschaffenheit des gut gebildeten »Körpers« herzustellen. Der König solle die in nuce angelegten Vorteile des Staates zur Entfaltung bringen; er schaffe ein Gutes, das ohne ihn nicht existieren würde. Er übernehme daher eine Aufgaben, die analog Gott durch seine Schöpfung für alle Seinsbereiche ausgeübt habe: Der König schaffe einen guten Körper des Staates. Die Pflicht als Schöpfer ist weitreichend und nicht auf einen einmaligen Akt beschränkt. Durch sein Vorbild wirke der König auf die Untergebenen ein und erhalte den Staat; er müsse sich davor hüten, sie durch sein schlechtes Beispiel zu verführen. Mehr als Verhalten, 1156 Ebda., S. 230–244. 1157 Johannes von Salisbury, Policraticus , hg. v. Keats-Rohan, S. 206; Johannes von Salisbury, Policratici libri, hg. v. Webb, II, S. 148, 157–159, 193, 231, 243–244; Le Policrate de Jean de Salisbury (1372), hg. v. Denis Foulechat, übers. v. Charles Brucker, Genf 1994–2006, S. 486– 489.

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sondern die Verhaltensbereitschaft sind zu gestalten. Die gute Regierung bestehe nämlich darin, die Untertanen dazu zu bringen, die von König vorgeführte Liebe nachzuahmen. So könnten die Glieder des Staates miteinander zusammenwirken, so könnten sie ein funktionierendes Ganzes bilden.1158 Johannes bringt den Herrscher mit dem Gesetz in Verbindung, ohne dass Emotionen ausgesondert werden. Es heißt zwar, dass der princeps von den Fesseln der Gesetze befreit sei, schreibt Johannes, aber dies bedeute nicht, dass er ungerecht handeln dürfe, sondern dass ihn nicht die Furcht vor der Strafe zum Handeln motiviere – was bei seinen Untertanen der Fall sein möge – sondern er wegen der Liebe zur Gerechtigkeit den Nutzen des Staates besorge und seinen eigenen privaten Nutzen zurückstelle. So werde der Herrscher zum Diener des öffentlichen Nutzens und der Gerechtigkeit. Johannes stellt ihn nur in der Weise außerhalb der Gesetze, dass deren furchteinflößende Wirkung an ihm abprallt, die ansonsten alle anderen erfasst. Der Herrscher indes bedürfe der Furcht nicht, um Gutes zu tun. Dies aber nur unter der Voraussetzung, dass der Herrscher gerecht ist.1159 Das tautologische Arrangement, dass Gerechtigkeit keiner Furcht bedarf, was aber nur gilt, wenn Gerechtigkeit vorhanden ist, zeigt das Problem, eine Harmonie des Ganzen von der Person des Königs abzuleiten. Um die Herstellung einer gerechten Herrschaft zu begründen, vermag sich Johannes letztlich nicht aus den Fesseln einer moralischen Bewertung der Person zu lösen; er gelangt trotz vieler Aussagen zur Verfassung des Staates nicht dahin, allein aus institutionellen Regelungen, aus den Gesetzen, Gerechtigkeit abzuleiten. Das Problem besteht darin, dass es für Johannes nicht möglich ist, den gerechten Staat aus sich selbst heraus zu begründen. Hingegen ruht Gerechtigkeit auf einem emotionalen Untergrund. Die Liebe ist die Quelle der Gerechtigkeit. Aber, so Johannes, ihre Wirkung im Staat sei nicht garantiert. Ihr Fehlen müsse korrigiert werden; Liebe könne sogar erzwungen werden. Zu diesem Zweck seien Gewalt und Drohung ausnahmsweise anzuwenden, aber in abgeschwächter Weise, so dass die Milde nicht fehle. Für Johannes gehört die clementia zu den Tugenden, die der König vor allen anderen beachten müsse. Dieser Tugend – und allein dieser – widmet Johannes ein eigenes Kapitel. Aber dem Herrscher stehen auch schärfere Mittel zur Verfügung: So wie die Ärzte zur Behandlung der Krankheiten, die sie nicht mit leichteren Medikamenten heilen könnten, mit Feuer und Eisen vorgingen, so müsse der König mit frommer Grausamkeit – pia crudelitate – unter den Schlechten wüten, ihnen Furcht einflößen, sie durch Schrecken leiten. Aber Johannes verlangt, dieses Wüten einzugrenzen; er knüpft es an Bedingungen, die die Grausamkeit als subsidiäre Maßnahme vom üblichen Regierungshandeln ausgrenzen. Die Anwendung der Grausamkeit erfolgt indes 1158 Johannes von Salisbury, Policraticus, hg. v. Keats-Rohan, S. 8, 231–236, 241–243. 1159 Ebda., S. 234f.

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nicht – wie andere Autoren vor ihm vorgesehen hatten – wegen der Schlechtigkeit von Menschen, sondern entsteht aus den Missständen des Staates. Die Ausnahme ist institutionell begründet und gleichfalls institutionell intendiert. Die Grausamkeit ist auch nicht nur der Bestrafung zugesellt, sie ist nicht nur zur Abschreckung eingesetzt, sie ist vor allem aus einer Not geboren, die aus dem Verfall der Zusammenarbeit im Staat entstehen kann und – wie Johannes bedauert – tatsächlich entsteht. Grausamkeit und Schrecken sind korrektiv eingesetzt, was mehr meint als sanktionierend, weil es nicht um die Ahndung von individuellen Verfehlungen, sondern um die Abwendung von gesamthaft den Staat befallenden Fehlentwicklungen geht.1160 Die Empfehlungen zum Schrecken und zur Gewalt sind auch in anderer Weise weit davon entfernt, eine traditionelle, in den frühmittelalterlichen Fürstenspiegel vorgestellte Auffassung zu wiederholen, die sowohl Schrecken als auch Liebe einzusetzen empfahlen.1161 Denn abgesehen von der Einwirkung auf die Institution der Herrschaft, die Johannes empfiehlt, sieht er eine Rangordnung zwischen beiden vor : Die Liebe stehe über allem, ohne sie vermöchten die Herrscher die Menschen nicht zu lenken, denn die Liebe allein bewirke das Zusammenleben, wohingegen die Gewalt, die Furcht und der Schrecken nur in negativer Weise reagierten, nur Schlechts abwenden, aber nichts Gutes bewirken könnten und sie nur einzusetzen seien, um die Liebe wieder in Kraft zu setzen.1162 Der Schrecken wird zum Hilfsmittel der Liebe. Deswegen solle der Herrscher, der die Gesetze anwendet, sich nicht von Emotionen leiten lassen wie Hass oder Zorn. Das Schwert des gerechten Herrschers sei wie eine Taube, die ohne galligen Zorn zum Kampf eingesetzt werde.1163 Die Furcht vor den Strafen solle der Herrscher erzeugen, ohne selbst von Zorn angetrieben zu sein. Nur die Liebe solle den Herrscher leiten. Sie ist das vermittelnde und bewirkende Bindeglied zwischen Person und Institution. Die umfassende Liebe, die den Staat durchdringt, belebt und zusammenhält, steht einer Liebe allein zur nächsten Umgebung, allein zu den Hofleuten, entgegen, die ja nichts anderes sei, so Johannes, als ein Mittel, um eine kleine, abgeschlossene und selbstsüchtige Gruppe zu formen, in der meist die Missgunst die Liebe verfälsche und sie schließlich zerstöre. Liebe ist also weder in der Familie noch in dem Hof eingeschlossen; sie erfasst alle im Königreich. Die umfassende Liebe im Staat bleibt auch dann bestehen und wird nicht entzogen, wenn der König zur Abschreckung greifen muss. Die Liebe des Königs bewirkt eine reziproke Liebe zwischen seinen Untertanen und ihm. Die Liebe ist es, die 1160 1161 1162 1163

Johannes von Salisbury, Policratici libri, hg. v. Webb, II, S. 262–266. Anders bei Broekmann, Rigor, S. 98f. Johannes von Salisbury, Policraticus, hg. v. Keats-Rohan, S. 197. Ebda., S. 235f.

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das Herrschen erfolgreich macht; sie ist die Kraft, die dazu führt, dass den Anweisungen des Herrschers Folge geleistet wird, und die die Menschen aus eigenem Antrieb dazu bringt, ihren Dienst für das Vaterland zu leisten. Liebe und Schrecken sind bei Johannes keineswegs alternativ und situativ einsetzbare, gleichwertige Optionen. Nur die Liebe begründet den Staat, ist ihm essentiell verbunden, wohingegen der Schrecken und die ihn verursachende Gewalt nur Instrumente sind, funktional eingesetzt werden sollen und nur kompensatorisch gerechtfertigt sind und einen geringeren Wert haben. Ausdrücklich hält Johannes von Salisbury fest, dass der König dafür sorgen solle, von seinen Untertanen mehr geliebt als gefürchtet zu werden: amari magis studeat quam timeri.1164 Den Schrecken und die Furcht als permanente Bedrohung einzusetzen, sie also zu beständigen Instrumenten der Herrschaft zu machen, ist damit ausgeschlossen. Eine anthropologisch fundierte Konstante treibt die Menschen an, um sie in einem einheitlichen Körper zu vereinen. Die körperliche Analogie zeigt die Harmonie an, die zwischen den Teilen besteht und die dem Ganzen des Staates Schönheit verleiht. Johannes sieht aber keinen Automatismus walten, der die natürlichen Bedingungen spontan zur Geltung brächte. Als Demiurg ist der König eingesetzt, um die Disposition des Guten zur Verwirklichung zu bringen. Er kann aber nur die gute Herrschaft schaffen, wenn er weiß, was zu tun ist. Wissen ist erforderlich, damit die Liebe, die die Herrschaft durchwirkt, aktiviert wird. Auslöser der Liebe ist die durch intellektuelle Anstrengung geformte Vernunft.1165 Die Liebe bringt die Gerechtigkeit hervor, aus ihr entstehen die Gesetze. König und Untertan sind trotz des hierarchischen Unterschieds und trotz der Befehlsgewalt bzw. der Gehorsamspflicht in der Weise angenähert, dass alle den Gesetzen, soweit sie gerecht sind, unterstellt sind. Daher ist die humilitas des Königs keine Attitüde, keine zeremoniell auferlegte Übung, keine geschickte Inszenierung, auch kein moralisches Gebot, nicht ein Zeichen, um sich der Herrschaft würdig zu erweisen, sondern entspringt dem Wissen, dass alle Menschen in eine funktionale Ordnung eingebunden sind, die jedem spezielle Aufgaben zuweist und dabei den König nicht ausnimmt. So ist der König der minister, also Diener, des Gesetzes und dies in zweierlei Hinsicht: als derjenige, der das Gesetz, auch durch Zwang und Gewalt zur Geltung bringt, und als derjenige, für den die Bestimmungen des Gesetzes wie für alle gelten, auch wenn nicht die Furcht ihn zur Gesetzestreue anhält. Die superbia hat hier keinen Platz. Sie ist das Kennzeichen eines Tyrannen, der die Aufgabe eines Königs verfehlt, weil er wähnt, dem Dienst am Gemeinwohl enthoben zu sein und sich nicht den 1164 Ebda., S. 238. 1165 Stürner, Gesellschaftsstruktur S. 166.

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Gesetzen unterwerfen zu müssen.1166 Johannes definiert Tyrannei nicht als unrechte Usurpation der Macht, sondern als unrechter Gebrauch der Macht. Das von Gott verliehene Amt verbiete es, so Johannes, willkürlich zu handeln, vielmehr sei der Herrscher gehalten, Belehrungen anzunehmen und ihnen zu folgen, was einem christlichen Herrscher auferlege, sich den Anweisungen der Priester zu fügen. Der König wird sogar als sacerdotii minister bezeichnet, wobei aber ausgeschlossen ist, dass sich die Priester selbst an der Herrschaft beteiligen. Ihnen ist Belehrung, nicht Macht zugewiesen. Nur der Tyrann verweigere die Belehrung.1167 Johannes meint, auch privatae personae könnten Tyrannen sein und sie unterdrückten die ihnen unterstellten Menschen, aber es ist doch vor allem die politische Herrschaft, bei der Tyrannei und Gerechtigkeit gegenübergestellt werden. Auch in dem Abschnitt zur Tyrannis behandelt Johannes das Thema von Herrschaft und Liebe: Der Herrscher ist das Ebenbild Gottes und deswegen soll er lieben und soll er geliebt und geehrt werden. Die Tyrannen hingegen herrschen durch Furcht; ihnen fehlt es an Liebe. Ob Johannes von Salisbury den Tyrannenmord empfiehlt, soll hier nicht weiter ausgeführt werden, hingewiesen sei aber darauf, dass er auch die Herrschaft der Tyrannen als von Gott eingesetzt erachtet, die daher von den Untertanen ertragen werden muss; ja er geht soweit, auch die Tyrannen als Diener Gottes zu bezeichnen, insofern sie faktisch Herrschaft, die stets gottgewollt ist, ausüben.1168 Johannes knüpft an eine gut etablierte Tradition an, die die Gestalt von Nimrod zum Ausgangspunkt ethischer und politischer Bewertungen macht.1169 Johannes konkretisiert die Deutung. Für ihn ist bereits die Jagd die grausame Verfehlung der Liebe, denn die Jagd verlange Blutvergießen und beruhe auf einer Verachtung Gottes, weil die wilden Tiere durch die Menschen nicht getötet werden dürften. Durch den Jäger würden die Tiere dem Schrecken ausgesetzt, so wie die Menschen durch den Tyrannen. Es gibt die argumentative Abfolge vom 1166 Johannes von Salisbury, Policraticus, hg. v. Keats-Rohan, S. 177f., 241–243; Johannes von Salisbury, Policratici libri, hg. v. Webb, II, 230; Stürner, Natur, S. 122–126; Max Kerner, Natur und Gesellschaft bei Johannes von Salisbury, in: Soziale Ordnungen, S. 179–202; Yves Sassier, Le prince ministre de la loi ?, in: Le Prince, son peuple et le bien commun. De l’Antiquit8 Tardive / la find du Moyen Age, Rennes 2013, S. 125–145. 1167 Johannes von Salisbury, Policraticus, hg. v. Keats-Rohan, S. 236; Kosuch, Abbild, S. 117f. 1168 Johannes von Salisbury, Policratici libri, hg. v. Webb, II, S. 345f., 358–360; zur Tyrannenlehre von Johannes von Salisbury : Dorotea C. Macedo de Steffens, La doctrina del Tiranicidio: Juan de Salibury (115–1180) y Juan de Mariana (1525–1621), in: Anales de Historia Antigua y Medieval 1957–1958, Buenos Aires 1959, S. 123–133; Richard H. und Mary A. Rouse, John of Salisbury and the doctrine of Tyrannicide, in: Speculum 42 (1967), S. 693–709; Cary Joseph Nederman, A Duty to Kill. John of Salisbury’s Theory of Tyrannicide, in: The Review of Politics 50 (1988), S 365–389; Denis Foulechat, Tyrans, princes et prÞtres (Jean de Salisbury, Polycratique IV et VIII), Montr8al 1987, S. 22–27; Turchetti, Tyrannie, S. 251–256. 1169 Siehe Kapitel VII.3.

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Jäger zum Töter der Tiere, zum Töter der Menschen, zum Schreckensherrscher und schließlich zum Tyrannen. Die Empfehlung, die Könige und die Adligen sollten sich nicht exzessiv der Jagd widmen, ist die moralische Anwendung eines prinzipiellen Gebotes, das das Töten verurteilt: von Tieren und Menschen. Wie die Jäger den unglücklichen Tieren zur Befriedung ihrer Eitelkeit nachstellen würden, so die Mächtigen den Menschen.1170 Die Bewertung von Johannes ist mehr als eine negative Bewertung der Jagd. Sie ist eine Kennzeichnung verfehlter Herrschaft. Die später, zur Mitte des 13. Jahrhunderts, durch den Kardinal Hugo von Saint-Cher breit ausgeführte Verurteilung der Jagd – die Argumentation verweist ebenfalls auf Nimrod – entbehrt hingegen einer politischen Deutung von Herrschaft oder Tyrannei, wie auch das Verbot der Jagd von Klerikern, seit dem Beginn des 6. Jahrhunderts verfügt, sich auf die Disziplinierung des geistlichen Standes beschränkte.1171 Wie die Praxis und die Bewertung von Herrschaft gestaltet wurden, wurde umso wichtiger, als deren Selbstverständlichkeit konfrontiert war erstens mit der Kritik durch kirchliche Autoren, die die Defizite von Herrschaft und Herrscher herausstellten, und zweitens mit den neuen politischen Institutionen und Ansprüchen der Kommunen, die Forderungen erhoben nach gemeinschaftlicher Nutzenmehrung, die allen Menschen zugute kommen sollte.1172 Dies hatte Auswirkungen: Die Vorteile, die die Herrschaft bereit stellte, sollten auf Erden erlangt werden und nicht in ein fernes jenseitiges Heil verschoben werden; gefordert war die gute Gestaltung auch schon des diesseitigen Lebens. Johannes bot die Möglichkeit an, dass, wie er ausführte, die Herrschaft mittels einer ihr innewohnenden, eigenen Beschaffenheit Kausalität und Zielsetzung zur Geltung bringt, sofern eine Harmonie der Teile des Körpers des Staates geschaffen und bewahrt wird. Die Geistlichen treten nur insofern in Aktion, als sie dazu berufen sind, Kenntnisse bereitzustellen, auch damit die Herrscher instand gesetzt 1170 Johannes von Salisbury, Policraticus, hg. v. Keats-Rohan, S 29–42, bes. S. 35 mit Hinweis auf Nimrod; Uhlig, Hofkritik, S. 53. 1171 Von Moos, Geschichte, S. 320; Thomas Szabj, Die Kritik der Jagd. Von der Antike zum Mittelalter, in: Jagd und höfische Kultur im Mittelalter, hg. v. Werner Rösener, Göttingen 1997, S. 167–229; Buc, Pouvoir, S. 698f.; John L. Flood, Die wilde Jagd, in: Dämomen, Monster, Fabelwesen, hg. v. Ulrich Müller, Werner Wunderlich, St. Gallen 1999, S. 583–601; Monika Schausten, »Da hovet ir iuch selben mite«. Höfische Jagdkunst im Spiegel klerikaler Krtiik am Beispiel des Tristan Gottfrieds von Straßburg, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 41 (2011), S. 139–163; Stephan Dusil, Lawmaking between Burchard and Raymond. The Example of the Prohibition of Hunting by Clerics in the Twelfth Century, in: Proceeding of the Fourteenth International Congress of Medieval Canon Law, Toronto 5–11 Aug. 2012, hg. v. Joseph Ward Goering, Citt/ di Vaticano 2016, S. 817–837. 1172 Haverkamp, Frühbürgerliche Welt, S. 571–602; Schulz, Denn sie liebten; Martial Staub, Exil – Legitimation durch Unverfügbarkeit, in: Paradoxien der Legitimation, hg. v. Annette Kehnel, Cristina Andenna (Micrologus’ Library 35), Florenz 2010, S. 497–509.

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werden, die Herrschaft dem innerweltlichen Zweck zuzuführen, nämlich das Wohl der Untertanen zu mehren. Ohne religiöse Begründung, aber dank eines geistlichen Beistandes ist die weltliche Herrschaft eine notwendige, nützliche und ethisch legitimierte Institution. Die Ableitung aus dem inhärenten Nutzen für das irdische Leben und eine Einordnung in eine Harmonie der menschlichen Gruppen steigern einerseits die Legitimität der Herrschaft, erhöhen aber auch Erwartungen an sie. Falls diese nicht erfüllt würden, war die Legitimität der Herrschaft umso gründlicher demontiert. Ihr aber die Berechtigung gänzlich zu verweigern, zögert indes Johannes in dem Kapitel, in dem er den Widerstand gegen die Tyrannen untersucht. Aber allein die Tatsache, dass ein Tyrannenmord von ihm in Erwägung gezogen wird, zeigt, dass die Untertanen nicht zum bloßen Erdulden herabgesetzt sind. Sie haben Ansprüche. Ob sie auch Anrechte haben, bleibt unbestimmt.

XI.

Das allgemeine Wohl und die Verbindung von Herrschern und Bürgern im 13. Jahrhundert

1.

Das Glück der Bürger im Staat

Die Überlegungen zur Gestaltung von Herrschaft waren seit dem 13. Jahrhundert nicht allein als Fürstenbelehrung konzipiert, sondern suchten Antworten zu formulieren auf Fragen, wie die politische Organisation beschaffen sei und gestaltet sein sollte, um den Untertanen nützlich zu sein. Die Reflexionen standen nicht allein in der Verfügung eines Herrschers; die Gestaltung der Politik war auch nicht ihm allein anvertraut; andere Akteure waren beteiligt, und an sie richteten sich die Informationen. Politik galt als das Ergebnis des Handelns vieler Personen, die aus der Rolle der Untertanen der Herrschaft herausgelöst und in die von Mitwirkenden der politischen Ordnung geführt wurden. Nicht nur Didaktik des Herrschers, sondern auch Analyse der Herrschaft war zu leisten; nicht nur die Beratung, sondern die Herstellung von Verständigungen. Ein mächtiger Impuls, dem Nachdenken über die Herrschaft und über die Politik eine neue Richtung zu geben, stellte die Entdeckung der Schriften von Aristoteles zur Ethik und zur Politik in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts dar. Übersetzungen in die lateinische Sprache machten die Texte dem Okzident zugänglich. Mit der Rezeption der aristotelischen Philosophie war die Frage präsent, ob der Mensch in seiner diesseitigen Existenz Glück erlangen könne. Auf Aristoteles gestützt, konnte die Frage positiv beantwortet werden, so dass das Glück nicht dem jenseitigen Heil vorbehalten war. Aristoteles hatte in der Schrift der Nikomachischen Ethik das Glück als Ergebnis des tätigen Geistes definiert; es war dem Menschen als Möglichkeit anheimgegeben. Zwei Tätigkeiten sollten zu ihm führen: die des Philosophen und die des Staatslenkers.1173 Albertus Magnus, der erstmals die aristotelische Schrift kommentierte, folgte dieser Bewertung, dass die felicitas speculativa (des Philosophen) die perfecta felicitas sei, aber die Ausübung aller Tätigkeiten, die den praktischen Tugenden folgten, strebten 1173 Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1177b–1178a.

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Das allgemeine Wohl und die Verbindung von Herrschern und Bürgern

auch ein lohnendes Ziel an und erbrächten das Glück für den Staatenlenker und für die Staatsbürger, sofern sie in den politischen Angelegenheiten, einschließlich des Krieges, tätig würden. Mag dieses Glück auch nicht perfekt sein (sola operatio intellectus speculativi sit perfecta felicitas), so stellt Albertus es doch als »zweites Glück« den Menschen, sofern sie sich politisch betätigten, zur Verfügung. Neben das Heil der Seele und neben das Nachdenken des Philosophen war das Streben nach dem Glück im Staat gerechtfertigt.1174 Wie sollte das Glück gelingen? Hierzu war die Liebe vorgesehen. Aber immanent weltliche Ziele zu verfolgen, war für christliche Autoren problematisch. Sie mühten sich darum, harmonisierende Lösungen zu finden. Noch ohne genaue Kenntnis der gesamten Texte, aber wohl auf der Grundlage einiger Textsplitter des Werkes von Aristoteles entfaltete Wilhelm von Auvergne (ca. 1180–1249) Reflexionen zur Herrschaft. Er war einer der ersten Theologen der Pariser Universität, die erst kurze Zeit zuvor entstanden war ; er wurde Bischof von Paris und war einer der Lehrer des jungen französischen Königs Ludwig IX. Wilhelm hat in einer raffinierten Pointe die Liebe als Bindeglied des Staates gerechtfertigt, zugleich aber in der Weise entwertet, dass er behauptete, dass sie lediglich weltliche Ziele im Staat anstrebe, was aber wiederum die innerweltliche Existenz des Staates rechtfertige, der einer religiösen Begründung nicht bedürfe und ihrer aber auch entbehre. In seiner enzyklopädischen Schrift De universo hat Wilhelm ein dialektisches Verhältnis von Liebe und Tugend dargelegt. Offensichtlich bereits bekannte aristotelische Vorstellungen, vermutlich tradiert aus einigen Textbausteinen der Nikomachischen Ethik, aufgreifend und variierend, erachtet Wilhelm die Liebe als Voraussetzung des Lebens in der Stadt und im Staat, meint aber – unter Berufung eines expliziten Verweises auf das Werk De civitate Dei von Augustinus –, dass eine solche Liebe nichts anderes als Selbstliebe sei, weil sie nur die eigene Gemeinschaft erfasse und so die Grundlage von Stadt und Staat bilde, aber für die Christen doch ungenügend sei. Sie fundamentiere Babylon – Inbegriff der schlimmen Gesellschaft – und sei teuflisch.1175 Die Liebe, die das formt, was als »zivile Gesellschaft« bezeichnet werden kann, findet keine theologisch begründete Anerkennung bei Wilhelm, was aber eine politische Würdigung nicht ausschließt. Dies kann auch gar nicht anders sei, da Wilhelm, wie er an anderer Stelle ausführt, die natürliche Liebe nicht für das gute Tun der Menschen ausreiche, da sie nichts anderes als Eigensucht sei und auf einen Austausch der weltlichen Güter abziele. Auch wenn eine solche Liebe das Leben ordne, sie die Freundschaft 1174 Albertus Magnus, Ethicorum libri, S. 757. 1175 Amor est sui ipsius, quem amorem in libro de civitate Dei Augustinus dicit, essse fundamentum civitatis Babilonicae sive diaboli; Wilhelm von Auvergne, De universo, S. 273; Das Zitat von Augustinus ist nicht wörtlich, umschreibt aber doch seine Auffassung, De civitate Dei, S. 11–16, 43, 174, 206, 208, 219; Ernest L. Fortin, Justice, S. 41–62.

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zwischen den Bürgern hebe und den Frieden errichte, reiche sie nicht bis an das wichtige Ziel der Menschen, das Seelenheil. Die Liebe – amor – steht in Gegensatz zum Ziel der Menschen, das Wilhelm als Zusammenfassung des Willens nach letztgültiger Verwirklichung humaner Existenz kennzeichnet: Intentio principalis voluntas, id est voluntas finis. Günstiger urteilt Wilhelm nur scheinbar über die Furcht. Sie sei gut, sie sei gar ein Schatz, sofern Gott gefürchtet werde, denn so werde von der Sünde abgehalten. Die Furcht stehe auch dem irdischen Herrscher zur Verfügung und sei eine Verwirklichung der Gottesfurcht. Der timor servilis, wie Wilhelm schreibt, sei eine Gabe Gottes. Obwohl er vom üblen Tun abhalte, sei auch er aber keine Tugend. Nicht anders als ein Hund, der Angst vor dem Stock hat, reagiere der Mensch, wenn ihm Furcht eingeflößt werde.1176 Das Handeln in Institutionen und unter einer Herrschaft, sei es von Liebe oder von Furcht motiviert, mag nützlich sein, gut ist es nur ex negativo, d. h. wegen eines Fehlens und einer Abwehr von Lastern. Dies hindert Wilhelm nicht daran, eine Bewirkungsrelation vorzustellen, die die Liebe als Antriebskraft der menschlichen Vergesellschaftung und der politischen Organisation einführt und eine ihr eigene Rationalität zubilligt.1177 Das argumentative Arrangement Wilhelms war nicht ohne Risiko, denn nicht allein setzte es die allgemeine Entwertung irdischen Tuns voraus, als dessen örtlicher Kulminationspunkt die Stadt und als dessen institutionelle Steigerung das Streben nach Glück der Bürger galt, sondern beließ es bei einer Mutmaßung hinsichtlich der Wertehierarchie, die der Liebe in ihrer praktischen Tätigkeit in Stadt und Herrschaft Anerkennung zollte, aber das theologische Fundament dabei aushöhlte, weil eine Verschiebung des Zieles erfolgte, weg von dem Seelenheil, hin zum allgemeinen Wohl. Den Wert städtischer Lebensweise würdigte Wilhelm auch gegenüber einer monadisch-monastischen Existenz, aber weil die Wertschätzung im Rahmen eines Vergleichs irdischer Institutionen erfolgte, blieb ihr die Anerkennung im Hinblick auf das höchste Gut, das ewige Seelenheil, versagt. Gegenüber der Perfektion, die in der Erlösung durch Gott verwirklich werde, sei jede Realisation der Liebe auf Erden defizitär, urteilt Wilhelm.1178 Aber Gott, Liebe und irdisches Leben konnten nicht in disparate Bereiche eingekapselt sein, um nicht die Grundlage der christlichen Botschaft anzutasten. Die Liebe dehnte Wilhelm daher ausdrücklich auf die Gestaltung irdischer Herrschaft aus. Er formulierte: Wegen der Einsetzung Gottes gibt es die Liebe zwischen den 1176 Timor servilis, etsi bonum Dei datum sit, non tamen est virtus, hoc est, quia licet mala declinari faciat, id est vitia et peccata, non tamen hoc facit bene; Wilhelm von Auvergne, De universo, S. 160 zur Furcht auch S. 144,195. 1177 Ebda, S. 140, 311, 815; Silvana Vecchio, Passio, affectus, vitus: Il sistema delle passioni nei trattati morali di Guglielmo d’Alvernia, in: Autour de Guillaume d’Auvergne. Etudes r8unies, hg. v. Franco Morenzoni, Yves Tilliette, Turnhout 2005, S. 174–188. 1178 Wilhelm von Auvergne, De universo, S. 408f.

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Das allgemeine Wohl und die Verbindung von Herrschern und Bürgern

Menschen. Wegen der Liebe gibt es die Einheit der Glieder des Leibes. Sie verlangt, dass die Glieder vom Haupt regiert werden. Um den Nutzen für die Menschen zu mehren, bedarf es der Liebe. Den Nutzen stellt auch die Herrschaft her. Dieser Nutzen gilt als einer der sechs Gründe der Liebe. Wilhelm konstruierte eine dialektische Relation, indem er die irdische Liebe zwar als defizitär kennzeichnete, sie aber als Ergebnis, als Präfiguration und gar als Hinwendung und Vorbereitung auf einen künftigen Frieden ohne Herrschaft unter den Erlösten ausgab.1179 Die Liebe, auch und gerade wenn sie zur gegenseitigen Hilfe und Unterstützung aufruft, sollte kurze Zeit später, durch mehrere Werke von Albertus Magnus, in einer nicht mehr ambivalenten Weise hochgeschätzt werden, da er die Liebe als Bindekraft sozialer und staatlicher Verhältnisse rückhaltlos als Tugend rechtfertigte und die Liebe in die emotionale Verfassung des Staates einrückte, ohne diese Liebe von der theologisch eingeforderten Tugend abzulösen, sie vielmehr doppelt und widerspruchsfrei begründete: als Gottes Gebot und als Verwirklichung der menschlichen Natur, die Gott geschaffen habe. Die Reflexion unterlag einem grundlegenden Wechsel der Perspektive, da zunehmend zu Beginn des 13. Jahrhunderts der Nutzen, den die der Herrschaft Unterworfenen von ihr erwarten durften, in den Vordergrund trat. Die Beherrschten wurden zu Bürgern; aus den Untertanen wurden Teilhaber des allgemeinen Wohls. Das Thema des allgemeinen Wohls begann seit dem 13. Jahrhundert die Deutung des politischen Zusammenlebens zu dominieren und es entfernte die Bewertung der Herrschaft zunehmend von der Darstellung persönlicher Eigenschaften des Herrschers. Das allgemeine Wohl war meist als Zusammenfassung und als Verursachung des individuellen Glücks aufgefasst. Felicitas und utilitas publica wurden als Werte eingeführt. Als Konglomerat dieser Werte trat der Begriff bonum commune in die Domäne der politischen Terminologie ein – sowohl in der Praxis als auch in der Theorie. Das Streben nach dem eigenen Glück und das der anderen gewann Akzeptanz im okzidentalen Europa. Um dieses Ziel zu erreichen, sollten die Herrscher ihr Amt ausüben. Das allgemeine Wohl, als Aggregat der Glückszustände der vielen konzipiert, war zunächst philosophisch-politisch gedeutet und von der menschlichen Natur abgeleitet und sollte eher dem Menschen als Individuum zugute kommen und war nicht ausschließlich politisch zu verstehen, sondern auch theologisch als Erfüllung des Guten in der jenseitigen Glückseligkeit gedeutet, wohingegen der allgemeine Nutzen, die utilitas publica, allein innerweltlich, vor allem dem 1179 Capiti placet membrorum unio, cum aliter membra non regnantur, nisi sit in uno corpore; Ders., Sermones (Opera omnia 2), Paris 1674, S. 26; Jacques Le Goff, Ville et th8ologie au 13e siHcle. Une m8taphore urbaine de Guillaume d’Auvergne, in: Ders., L’imaginaire m8di8vale, Paris 1985, S. 244–247251f.; Meier, Mensch, S. 30–35.

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Staat, der res publica, zugeordnet war und seine Bedeutung aus Rechtstexten schöpfte, insbesondere aus dem römischen Recht, das die Beziehungen zwischen den Bürgern und der Herrschaft als Komplex von normativen Vorgaben darstellte. Die praktische Verwirklichung des allgemeinen Nutzens konnte aber auch als Erfüllung des christlichen Liebesgebotes aufgefasst werden.1180 Theologie, Philosophie und Recht formten getrennte Argumentationsweisen, die aber – was vor allem, aber nicht ausschließlich die beiden letzteren betrifft – in dieselbe Richtung zielten: auf die Verbesserung der Lebensumstände der Menschen im diesseitigen Leben dank der Einbindung in den politischen Verband. Das Glück stand denjenigen Menschen zu, die den Status des Bürgers besaßen, also politisch eingebunden waren und einer Herrschaft unterstanden.1181 Diejenigen, die an den Universitäten die Texte von Aristoteles, der seit dem 13. Jahrhundert als philosophus bezeichnet war und den generischen Inbegriff des Philosophen darstellte, kommentierten, interpretierten und zur Grundlage ihrer Lehre zu machen begannen und insbesondere dessen Werk zur Politik deuteten, machten Angebote, die erklären sollten, wie Herrschaft den Nutzen der Untertanen befördert und damit das schafft, was als allgemeines Wohl bezeichnet war und das als Staatsziel ausgegeben wurde. Die Verbindungen zwischen den Menschen, die Ordnung von Herrschaft und die Verfassung des Staates konnten so zunehmend auch immanent weltlich gedeutet werden und waren nicht nur Anhang theologischer Anforderungen. Der Staat wurde in Verbindung gestellt zu den Eigenschaften, den Bedürfnissen und den Wünschen der Menschen. Die religiöse Sinngebung war dabei eingeschlossen. Eine theologisch begründete Weltlichkeit stellte Schöpfungsordnunung und Heilsordnung nebeneinander.1182 So war es auch möglich, dass die mittelalterlichen 1180 Gaudemet, Utilitas; Ullmann, Law, S. 110–116; Kleber, Glück, S. 9f., 132–139; Toste, Naturalness, S. 113–188; Hibst, Utilitas Publica, S. 177–184, 222f.; Corinne Leveleux-Teixeira, L’utilitas publica des canonistes, un outil de r8gulation de l’ordre juridique, in: Revue franÅaise d’histoire des id8es politiques 32 (2010), S. 259–276; Matthew S. Kempshall, Common Good; Ders., The Language of the Common Good in Scholastic Political Thought, in: Il bene comune. Forme di governo e gerarchie sociali nel basso medio evo. Atti del XLVIII Convegno storico intern., Todi 9–12 ott. 2011, Spoleto 2012, S. 15–34; Mario Conetti, Utilitas publica. La civilit/ tra logica scholastica e attualit/ politica, ebda., S. 217– 264. 1181 Joseph Canning, A History of Medieval Political Thought 300–1450, London u. a. 1996, S. 114–116, 125–127; Simon, Gute Policey, S. 62. 1182 Martin Grabmann, Studien über den Einfluß der aristotelischen Philosophie auf die mittelalterlichen Theorien über das Verhältnis von Kirche und Staat (Sitzungsberichte d. Bayer. Akad. d. Wiss., Phil.-hist. Abt. 1934, Heft 2), München 1934; Georg von Hertling, Zur Geschichte der aristotelischen Politik im Mittelalter (Historische Beiträge zur Geschichte der Philosophie), Kempten, München 1911; Jean Dunbabin, The Reception and Interpretation of Aristotle’s Politics, in: Traditio 44 (1988), S. 373–388; Kempshall, Common Good; Fernand van Steenberghen, Aristotle in the West, Löwen 1955; Cary J. Nederman, The Meaning of Aristotelism in Medieval Moral and Political Thought, in:

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Autoren die der aristotelischen Ethik eigentümliche Voraussetzung, dass das Gute selbst-motivierend wirke, übernahmen. Allenfalls Fehler der Kognition oder Verleugnung der menschlichen Natur korrumpierten das Handeln, also Desinformation und Perversion riefen die Dis-funktion der Moral hervor. Das Urteil von Niklas Luhmann, dass diese von ihm als »akademisch« bezeichnete Ethik gescheitert sei1183, scheint mir nicht einleuchtend, wenn Ethik, wie bei Aristoteles konzipiert, auf der im Humanen angelegten Konvergenz zwischen individuellen Interessen und dem evidenten Nutzen der Kooperation aufbaute und diese Verbindung sehr wohl auf die Gestaltung politischer Verbände einwirkte. Auf diese Kooperationsnotwendigkeit und Kooperationsbereitschaft wiesen mittelalterliche Autoren hin, die die aristotelische Grundlegung von Ethik und Politik kommentierten und zu eigenständigen Überlegungen weiterführten. Das Problem, wie die Kooperation garantiert werden kann, sobald das eigensüchtige Streben eines individuellen Gewinns zur Missachtung des allgemeinen Wohls führt, harrte indes auch im Mittelalter der Lösung. Sie war umso dringlicher, wenn das Handeln eines Herrschers zu beurteilen war, der seine Macht zur Beförderung seines privaten Nutzens einzusetzen beschuldigt war, auf diese Weise die Anforderung seines Amtes verletzte und zum Tyrannen wurde. Daher die intellektuellen Anstrengungen, diesen Verfehlungen zu begegnen und Lösungen für die Motivierung zur Arbeit am allgemeinen Wohl anzubieten.Wenn eine anthropologisch fundierte Neigung zum Guten bestünde, wäre die Anwendung einfach; aber der Optimismus hinsichtlich einer den Menschen eigenen Neigung zur Kooperation und zur Herstellung des allgemeinen Wohls war nicht einsichtig, so dass Korrekturen vorzusehen waren. Die Begründungen der Ethik waren auch geeignet, der Herrschaft Stützen der Legitimität einzuziehen. Daraus folgte ein Widerspruch, der nicht allein intellektueller Natur war : Einerseits beruhte die Legitimität auf einer faktischen Superiorität der Herrscher, andererseits sollte diese Superiorität an Normen angebunden werden, die als Resultate allgemeiner humaner Dispositionen galten. Das Problem war nicht gänzlich neu, stellte sich schon vor dem 13. Jahrhundert vor allem dann, wenn die Ethik der Politik auf einer christlichen Gebots- und Verbotsethik beruhte, die allen verbindlich war, wurde aber zusätzlich durch eine immanent weltliche Normensetzung verschärft, da ein argumentativer, nicht allein affirmativer Diskurs eingefordert war, der zur Gegenrede im Kontext Journal of the History of Ideas 57/4 (1996), S. 563–585; Cath8rine König-Pralong, AvHnement de l’aristotelisme en terre chr8tienne. L’essence et la matiHre. Entre Thomas d’Aquin et Guillaume d’Ockham, Paris 2005; Benjamin Schmid Bürgererfahrung und das politische Denen in der spätmittelalterlichen Aristoteles-Rezeption, in: Zur Geschichte des politischen Denkens. Denkweisen von der Antike bis zur Gegenwart, hg v. Dirk Lüddecke, Felicitas Engelmann, Stuttgart, Weimar 2014, S. 51–72; Toste, Virtue, S. 75–100. 1183 Luhmann, Moral, S. 175.

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theoretischer Erörterung oder zum Widerstand im Kontext politischer Antagonismen motivierte, ohne dass unwidersprochene kanonische Texte (Bibel, Kirchenväter, Recht) die Begründungen festgefügt formten und eingrenzten. Bildete auch die Theologie den Nährboden für die Anerkennung der Schöpfungsordnung, so war es in dieser Anerkennung angelegt, aus der Weltordnung die theologische Deutung herauszulösen und die Eigengesetzlichkeit der Weltordnung theoretisch zu begründen.1184 Die Herrscher waren nicht mehr nur allein an religiöse Gebote gebunden, ihre Legitimität leitete sich nicht mehr allein aus einer von Gott verliehenen Beauftragung ab; nein: ihr diesseitiger Nutzen für die Menschen wurde geprüft und bewertet. Die Anforderung an die Herrschaftspraxis, zur Vermehrung des Nutzens der Einzelwesen tätig zu sein, erschütterte bisher gültige Selbstverständlichkeiten über die Aufgaben des Königs. Die Überlegungen, die die Übersetzung des Werkes von Aristoteles zur Ethik und zur Politik, letztere durch Wilhelm von Moerbeke um das Jahr 1260 geleistet, auslösten1185, fielen auf fruchtbaren Boden, da sowohl die Entstehung und Verfestigung kommunaler Verfassungen als auch die auf Reform zielende Tätigkeit der Könige einer theoretischen Begründung bedurften, um die Praxis mit einer Legitimität auszustatten, die sie, die Praxis, aus der schieren Erweiterung und Verteidigung der Macht heraushob, um sie stattdessen den Zwecken der guten politischen Ordnung zuzuführen.1186 Die Formulierung in der lateinischen Version des aristotelischen Textes der Politik, dass ein amor politie die Tätigkeit der Regierenden und der Bürger anleite1187, bot Material für eine Deutung, die die Liebe in die Politik einführte – nicht im Sinne einer auf bestimmte Personen ausgerichteten emotionalen Zuneigung, nicht als Verwirklichung eines christlichen Gebots, nicht als vom König oder den Untertanen geforderte Tugend, sondern als anthropologisch gültige Wirkkraft, die die Gesamtheit der Mitglieder eines politischen Verbandes antrieb und als Kitt des politischen Zusammenhalts eingesetzt war. Zugleich verstärkten sich seit dem 13. Jahrhundert, ausgehend von den Monarchien des westlichen Europa, die Tendenzen zur Verrechtlichung und damit verbunden zur Verstetigung der Herrschaft, die folglich nicht allein an der individuellen Tüchtigkeit des Herrschers angeheftet war, was gleichwohl den Debatten über die notwendigen Vorzüge und Kenntnisse der Herrscher kein Ende setzte, sondern im Gegenteil die Anforderungen an sie noch steigerte, weil 1184 Taylor, Secular Age, S. 77–85. 1185 Flüeler, Rezeption; zu Wilhelm von Moerbeke: Brams, Guillaume de Moerbeke; Guillaume de Moerbeke. Recueil d’8tudes. 1186 Alain Boureau, La religion de l’Etat. La construction de la R8publique 8tatique dans le discours th8ologique de l’Occident m8di8val (1250–1350), Paris 2006. 1187 Aristoteles Politicorum libri, S. 120–122, 302.

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es nun nicht mehr allein um moralische Vervollkommnung, nicht mehr allein um die Bewährung anhand eines Vorbildes, auch nicht mehr allein um die Eindämmung unrechter Gewalt ging, sondern die Herstellung einer Verfahrensordnung vorgesehen war, als dessen Sachwalter sich der König betätigen oder doch zumindest ausgeben lassen musste. Die Installierung von rechtlich definierten Kompetenzen erleichterte einerseits die Fernwirkung der Macht jenseits persönlicher Präsenz und persönlicher Kontakte1188, verlangte andererseits eine erhöhte Akzeptanz von Macht, die aber nicht allein durch faktisches Tun, durch die Bündelung von Maßnahmen, und nicht allein durch symbolische Multiplikationen der Person des Herrschers erreicht wurde, sondern aufgrund evidenter oder behaupteter Nützlichkeit gelang, was ein Ensemble von Aussagen und Begründungen erforderte, die Kooperation und Loyalität an Voraussetzungen anknüpften, die als unausweichlich und unverfügbar vorgestellt waren und dem König als Mächtigen und den Untertanen als der Machteinwirkung Bedürftigen auferlegt wurden. Eine Beweisführung war verlangt, die die natürliche Beschaffenheit des Menschen in der Weise ausführte, dass sie nur durch die Herrschaft zur Entfaltung gebracht werden könne. Thomas von Aquin, der auf der Basis von Texten von Aristoteles argumentierte, erachtete die Herrschaft als notwendig, um die schwache moralische Steuerungskraft der Menschen auszugleichen. Aber nicht von der Person des Herrschers, sondern von der Kraft der Gesetze solle die Lenkung bewirkt werden. Statt mit Gewalt und Furcht, forderte er, vornehmlich mit Überzeugung die Menschen zu regieren. Dies könne auch deswegen gelingen, weil die Herrschaft die Aufgabe habe, sowohl die Lebensbedingungen als auch die moralische Qualität der Menschen zu bessern, also in deren Interesse handele, um das persönliche Wohl und die persönliche Tugend zu steigern, falls sie eine gerechte Herrschaft sei.1189 Das bene vivere verlange und erlaube sowohl die ausreichende Versorgung mit materiellen Gütern für die Untertanen als auch die Entfaltung der Tugenden, schrieb Thomas.1190 Die Herrschaft ließ sich auf dieser Basis nicht allein als unumgängliche Kompensation menschlicher Schwäche und Verfehlung deuten, nicht allein als strafende Folge des Sündenfalls, sondern als Mittel, um tatsächlich das Leben der Menschen zu verbessern. Die Herrschaft war nicht allein einschränkend, nicht nur Schutz bietend, gegen Angriffe von innen und von außen verteidigend, nicht allein bewahrend, sondern auch die Vorteile für die Menschen mehrend. Die 1188 GenHse de l’Etat moderne; Genesis del estado moderno: Castilla y Navarra, 1250–1370, Valladolid, 1987; Les origines de l’Etat moderne en Europe, Justice et l8gislation, hg. v. Antonio Padoa Schioppa, Paris 2000. 1189 Thomas von Aquin, Summa theologiae, II,I quaest. 95, art. 1 (Opera omnia 7), S. 174; Peter Moln#r, Saint Thomas d’Aquin et les traditions de la pens8e politique, in: AHDJ 69 (202), S. 67–114. 1190 Thomas von Aquin, De regno, S. 467f.

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Herrschaft galt als Vehikel zur Weckung guter menschlicher Anlagen und damit zur Förderungen der Tugenden jedes Untertanen. Nicht durch Inhibition, sondern durch Promotion menschlicher Potentialitäten war Herrschaft zu gestalten. Verbunden mit dieser seit dem Beginn des 13. Jahrhunderts geänderten Begründung von Herrschaft trat die Überwältigung durch Schrecken, die Verbreitung von Furcht und die Eindämmung von verwerflichen Taten zurück gegenüber einer die Fürsorge und die individuellen Interessen stärker einfordernden Konzeption. Verkünder dieser Tendenz waren theoretische Schriften. Sie prägten Vorstellungen, die in die Praxis der Herrschaft einwirkten. Die Thematik der Liebe, wie in den theoretischen Texten ausgeführt, war immanent weltlichen Zwecken zugeführt. Die Formulierung, die Liebe sei der Kitt des Staates, wie dies seit dem Ende des 13. Jahrhunderts in Königsurkunden in Deutschland eingeführt wurde, oder die Vorstellung einer durch die Liebe hergestellten natürlichen Einheit von König und Volk, wie in Kastilien vorgestellt, waren wichtige der Ergebnisse dieser Rezeption.1191 In den Institutionen der Gelehrsamkeit, vor allem in den Universitäten, entfaltete sich seit dem Beginn des 13. Jahrhunderts eine Gesprächskultur, die Theorien entwarf und sie miteinander in Beziehung setzte und auch dann, wenn sie nicht stets und unmittelbar Verbindungen zur Herrschaftspraxis beanspruchte und erreichte, doch Verständigungen über die Legitimität der Macht bereitstellte. Sie leistete einen Beitrag, das Thema der Politik als eigenständiges Wissensgebiet zu etablieren. Anspruchsvolle, theoriegesättigte Erörterungen entstanden, die weniger die persönliche Verbesserung des Herrschers, als vielmehr die institutionelle Verbesserung seiner Herrschaft als Ziel deklarierten. Parallel zur Institutionalisierung der Macht vollzog sich die theoretische Erfassung von Institutionen. Funktionsweisen, Begründungen, Berechtigungen und Voraussetzungen von Herrschaft wurden erklärt. Angebote theoretischer Reflexion standen bereit, die abzurufen auch den Herrschern und ihren Beauftragten offenstand.1192 Die Vorstellung entstand, dass das Glück in erreichbare Nähe der Menschen rückte und nicht dem Jenseits vorbehalten blieb.1193 Das Glück war nicht allein dem denkenden Philosophen beschieden, sondern auch dem Bürger im Staat.

1191 Siehe Kapitel XIII.1 und XIII.3. 1192 Miethke, Publikum; Simon, Gute Policey, S. 39–48. 1193 Georg Wieland, Ethica. Scientia practica. Die Anfänge der philosophischen Ethik im 13. Jahrhundert, Münster i. W. 1981, S. 103–143; Roberto Lambertini, Felicitas politica und speculatio. Die Idee der Philosophie in ihrem Verhältnis zur Politik nach Johannes von Jandun, in: Was ist Philosophie im Mittelalter?, hg. v. Jan A. Aertsen, Andreas Speer (Miscellanea Mediaevalia 26), Berlin 1998, S. 984–991.

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Politik der Freundschaft und der Liebe: Albertus Magnus

Einer der ersten, der sich der Aufgabe widmete, die Texte von Aristoteles auf die Deutung mittelalterlicher Herrschaft anzuwenden, war der Dominikaner Albert der Große (ca. 1200–1280). In Lauingen in Schwaben geboren, begann er ein Studium der Rechtswissenschaften in Padua. Dort trat er in den Dominikanerorden ein. Nach theologischen Studien am Konvent in Köln lehrte er an mehreren Schulen seines Ordens. Das Studium am Generalstudium der Dominikaner und an der Universität zu Paris brachte ihn in das Zentrum theologischer Gelehrsamkeit. Dort wurde er zum Doktor der Theologie promoviert. Seit 1248 lehrte er an dem neu eingerichteten Generalstudium in Köln, nur kurz unterbrochen durch seine Tätigkeit als Bischof von Regensburg von 1260 bis 1262. Zur Lösung der Konflikte zwischen Stadt und Erzbischof zu Köln war er zweimal als Schiedsrichter eingesetzt, war also mit der Praxis der Politik vertraut und genoss Autorität bei den Streitparteien. Ohne hier auf die philosophischen Leistungen eingehen zu können, sei nur festgehalten, dass er eine entscheidende Wende des Denkens in Europa einleitete, indem er die Legitimität von Vorstellungen, die mit der Lehre des Christentum in Widerspruch standen, insofern anerkannte, als er sie zum Gegenstand seines Nachdenkens machte und den Widerspruch als produktiven Anstoß des Argumentieren aktivierte.1194 Albert befasste sich praktisch und theoretisch mit der Politik. Gleichwohl ist er bis heute in der Forschung als politischer Denker fast nicht beachtet worden.1195 Indem er die aristotelische Schrift Politica und die Nikomachische Ethik analysierte, stieß er ein Tor auf, nicht allein um eine Theorie zur Politik zu etablieren, sondern auch um das Thema der Liebe aus einem allein christlich geprägten Zusammenhang teilweise abzulösen und es für Nutzenerwägungen zugunsten von Individuen verfügbar zu machen, die aufgrund ihrer natürlichen Ausstattung mit Vernunft und des ihnen innewohnenden Strebens nach Glück politische Organisationen schaffen, die primär nicht als Emanationen der

1194 Marc-Aelko Aris, Albertus Magnus, in: Lateinische Lehrer Europas. Fünfzehn Portraits von Varro bis Erasmus von Rotterdam, hg. v. Wolfram Ax, Köln 2005, S. 313–330; Ludger Honnefelder, Albertus Magnus und die kulturelle Wende im 13. Jahrhundert. Perspektiven auf die epochale Bedeutung des großen Philosophen und Theologen, Münster 2012. 1195 Ein Hinweis auf ihn fehlt in der Überblicksdarstellung Pipers Handbuch der politischen Ideen, hg. v. Iring Fetscher, Herfried Münkler, Bd. 2: Mittelalter von den Anfängen des Islams bis zur Reformation, München, Zürich 1993; das politische Denken wird ebensowenig behandelt in: Albertus Magnus und der Albertinismus. Deutsche philosophische Kultur des Mittelalters, hg. v. Alain de Libera, Leiden, New York 1995; nur knapp vorgestellt sind einige politischen Implikationen der Ethiklehre Alberts in: Kempshall, Common Good, S. 28–52; Jos8 Ricardo Pierpauli untersucht knapp die Begründung der Gewalt; Theorie, S. 51–64.

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Herrschaft, sondern als Antworten auf Notwendigkeiten menschlicher Existenz existieren. Bereits vor der Übersetzung der Politik durch Wilhelm von Moerbeke verfasste Albert auf der Grundlage der translatio vetus der ersten zwei Bücher seinen Politikkommentar. Auch sein erster Ethikkommentar basierte auf einer vor Moerbeke erstellten Übersetzung, auf der des englischen Franziskaners Robert Grosseteste. Den zweiten Kommentar schrieb er um die Jahre 1250 bis 1252.1196 Indem Albert einen Textfundus aktivierte, der aus der Perspektive der griechischen Polis entstanden war, war er gehalten, ihn in ein anderes – mittelalterliches – politisches und soziales Umfeld zu übertragen, wobei er nicht allein ein theoretisches Werkzeug schuf, um kommunale Autonomie und stadtbürgerliche Selbstverwaltung gedanklich zu erfassen1197, sondern auch um politische Legitimität und politisches Handeln auf allen hierarchischen Ebenen zu deuten und um ein Konzept des Staates zu entwickeln. Ausgangspunkt seiner Überlegungen war indes das Leben in der Stadt und deren politische Organisation. Er knüpfte dabei am engsten an die politische Theorie von Aristoteles an. Albertus stellte die Stadt als einen Ort dar, in dem die communicatio am besten zur Entfaltung komme. Der Begriff ist zu verstehen als Bezeichnung für den Austausch von Gütern, von Texten, von Kompetenzen und von Zuneigungen. Die communicatio mündet in eine Kooperation, die erstens dem Ziel aller Beteiligten an einem politischen Verband, ein gutes Leben zu verwirklichen, dient und zweitens von allen Beteiligten gestaltet wird, ohne dass stets und notwendigerweise eine hierarchische Spitze Grund und Ziel des Handelns vorgibt, vielmehr Grund und Ziel aus der natürlichen Bestimmung des Menschen entspringen. Bereits in seiner frühen Schrift Summa de bono, zwischen 1240 und 1244 verfasst, leitet Albert die Vergesellschaftung aus der menschlichen Natur ab, die,

1196 Flüeler, Politischer Aristotelismus, S. 1–13; Alexander Fidora, Religion und Philosophie in den Wissenschaftseinteilungen der Artisten im 13. Jahrhundet, in: Politischer Aristotelismus und Religion in Mittelalter und Früher Neuzeit, hg. v. dems. u. a., Berlin 2007, S. 27– 37, S. 33f.; Jean Dunbabin, The Two Commentaries of Albertus Magnus on the Nicomachean Ethics, in: RTh 30 (1963), S. 232–250; Clemens Vansteenkiste, Das erste Buch der Nikomachischen Ethik bei Albertus Magnus, in: Albertus Magnus, Doctor Universalis 1280–1980, hg. v. G. Meyer, Albert Zimmermann, Mainz 1980, S. 373–384; Lambertini, Politische Fragen, S. 112f.; Francesco Bertelloni, Regimen ipsius – regimen alterius. Individuum und Gesellschaft in den Quellen des Prologs zu Super Ethica des Albertus Magnus, in: Individuum und Individualität im Mittelalter, hg. v. Jan A. Aertsen, Andreas Speer (Miscellanea Mediaevalia 24), Berlin, New York 1996, S. 479–492; Wieland, Reception, S. 657–672; Mechthild Dreyer, Die Aristoteles-Rezeption und die Ethik-Konzeption von Albert dem Großen, in: Albertus Magnus und die Anfänge der Aristoteles-Rezeption im lateinischen Mittelalter. Von Rufinus bis zu Francisco de Mayronis, hg. v. Ludger Honnefelder u. a. (Subsida Albertina 1), Münster i. W. 2005, S. 307–324. 1197 Schmidt, Politische Theorie.

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weil sie mit Vernunft ausgestattet sei, Recht zu setzen vermöge und Gerechtigkeit erreiche.1198 Albert schrieb eine Ursprungsgeschichte des politischen Verbandes, die er in weiteren Werken zu einer Wesensdefinition überleitete. Später, nach den Kommentierungen der aristotelischen Schriften zur Ethik und zur Politik konkretisierte Albert den institutionellen Ort der naturrechtlichen Begründung von Recht und politischer Regierung in der Stadt, darüber hinaus auch in jeder politisch geordneten Gemeinschaft, die in der heutigen Terminologie als Staat bezeichnet werden kann. In dem vermutlich 1257 oder 1263 in Augsburg gehaltenen Predigtzyklus entwirft Albert ein Bild der civitas, womit Stadt, aber auch Staat gemeint ist, die er als idealen und zugleich unumgänglich notwendigen Bereich menschlicher Vergesellschaftung kennzeichnet und in dem die humanen Entwicklungsmöglichkeiten zur Vollendung gelangen. Die auf Breitenwirkung angelegten Predigten waren dazu geeignet, ein Publikum mit dem vertraut zu machen, was durch die Aristoteles-Rezeption an gedanklichen Möglichkeiten angeboten wurde.1199 Albertus unternahm den Schritt, die Glückseligkeit, die felicitas, gemäß der aristotelischen Vorlage der Nikomachischen Ethik als innerweltlichen Wert anzuerkennen und ihn aus einer ausschließlich religiösen Deutung abzulösen. Weil die Glückseligkeit nur, wie Albert meint, durch die Kooperation der Menschen erreicht werden könne, bedürfe sie der Sprache und, von ihr ausgehend und aus sie rückwirkend, des Handelns. Sprache und Handeln beruhten auf dem natürlichen Streben aller Menschen, miteinander in Zuneigung verbunden zu sein. Sprechen sei die Voraussetzung der politischen Aktivität, denn diese bedürfe der Begründung und der Vereinbarung. Als Ziel des politischen Handelns nennt Albert das gute Leben. Er konkretisiert: Das gute Leben bestehe in der hinreichenden Ausstattung mit materiellen Gütern und in der Verwirklichung von Tugenden. Die Kommunikation zwischen den Menschen mache sie zu Bürgern; sie setze voraus, dass es eine allen Menschen eingegebene Kraft gebe, die sie beseele und sie zusammenführe. Alle diejenigen, die der Kommunikation entbehrten, litten an einem Mangel. Die communicatio sei civilis, da sie immer in Institutionen verwirklicht werde, und zugleich naturalis, da sie der 1198 Albertus Magnus, De bono (Opera omnia 28), Münster 1951, S. 274; Stanley B. Cunningham, Albertus Magnus on Natural Law, in: Journal of the History of Ideas 28 (1967), S. 479–502, S. 480, 498, Georg Wieland, Zwischen Natur und Vernunft. Alberts des Großen Begriff vom Menschen, Münster 1999; Joachim Roland Söder, Über Natur und Vernunft im Ausgang von Aristoteles, in: Albertus Magnus und die Anfänge der Aristoteles-Rezeption im lateinischen Mittelalter, hg. v. Ludger Honnefelder, Münster 2005, S. 375–398. 1199 Johann Baptist Schneyer, Alberts des Großen Augsburger Predigtzyklus über den heiligen Augustinus, in: Recherches de th8ologie ancienne et m8di8vale 36 (1969), S. 100–147; Meier, Mensch, S. 55–58.

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Wesensbestimmung des Menschen entspreche. In unterschiedlichen sozialen Bindungen manifestiere sie sich: in Familie, Haus und Gemeinschaft, im wirtschaftlichen Austausch, am besten aber in einer Organisation, die Albert civitas nennt: Dort gelinge die communicatio civilis, die er auch communicatio politica nennt, weil dort der soziale Zusammenhalt aus dem Nahbereich in eine größere Einheit überführt werde, so dass die Menschen auch ohne direkten Kontakt in eine geordnete Relation eingebunden seien. Der Bedeutungsgehalt von civitas schwankt, meint aber jedenfalls ein politisches Gebilde, das sich über viele Siedlungen erstreckt und eine große Macht verfügt. Da – Albertus verweist in seiner Argumentation auf Boethius – jedes Höhere das Niedere leite, müsse der Mensch zugunsten des übergeordneten Guten tätig sein, was die Einordnung der einzelnen Siedlungen und der kleinen Gemeinschaften in eine größere, umfassende politische Organisation verlange. Nichts was in der Natur vorhanden sei, sei überflüssig, noch fehle es in der Natur an dem Notwendigen. Albert schlussfolgert daraus: Nicht aus Zufall, sondern aus Notwendigkeit lebten die Menschen in einer politisch verfassten Gemeinschaft. Das bene vivere ließe sich sine communicatione nicht erreichen. Das Maximum dessen, was die Menschen auf Erden erreichen könnten, gelinge dank der Zusammenarbeit. Kommunikation und Kooperation entstünden aus den Bedürfnissen und Wünschen, die allen Menschen ähnlich und daher kompatibel seien, und sie befriedigten sie. Die Opfer, die der Gemeinschaft erbracht werden, seien allgemein, sie seien zugleich reziprok, so dass aus dem Opfer für die Allgemeinheit der Gewinn für den Einzelnen entstehe.1200 Albert hat den Begriff »Glück« in die Politik eingeführt. Glück ist das Ziel des Staates; es komme dem Individuum zugute. Dies könne aber nur gelingen, sofern es zum Gesellschaftswesen, also zum Bürger werde und mit den anderen Bürgern kooperiere. Die Kooperation bedarf der Voraussetzungen: Sie bestehen in der Vernunft und in der Liebe. Sie führen die Menschen zusammen. Sie setzen sie in ein organisiertes Gefüge des Zusammenlebens. Um es zum Gelingen zu bringen, bedarf es mehr als des Zusammenführens von Interessen. Seelische Regungen werden vorausgesetzt. Aber nicht alle Menschen besitzen die Voraussetzungen zum Glück und haben einen Anspruch, es zu erwerben. Von der politischen Organisation abgetrennt behandelt Albertus die Sklaverei, die er, der aristotelischen Vorlage der Schrift zur Politik folgend, rechtfertigt und als Konsequenz des mangelnden Verstandes der Sklaven ansieht. Diese Auffassung haben durchweg die anderen Kommentatoren der aristotelischen Politik, Thomas von Aquin, Aegidius Romanus, Peter von Auvergne und Wilhelm von Ockham, übernommen. In der 1200 Albertus Magnus, Politica, S. 13–16, S. 28; Ders., Super Ethica (Opera omnia 14,1), Köln 1968, S. 28–33, 327.

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Konsequenz bedeutet dies, dass der Anspruch auf den Nutzen und die Mitwirkung am Wohl der Allgemeinheit nicht als ein stets geltendes, in jedem Fall in der Natur jedes Menschen begründetes Prinzip aufrechterhalten wird, vielmehr für eine Menschengruppe, die der Freien, reserviert ist, weil nur sie im vollem Umfang die menschliche Vernünftigkeit besitzen. Die Argumentation der mittelalterlichen Aristotelesrezeption steckte in einem Widerspruch, der aber nicht einmal thematisiert wurde. Was als Natur des Menschen gekennzeichnet wird, ist hinsichtlich der Sklaven eben doch nicht allgemein gültig. Den Sklaven gegenüber solle, so Albertus, mit Drohung, mit der Verbreitung von Furcht, mit der Zufügung von Schrecken gehandelt werden, da sie nicht mit Vernunft und nicht mit Liebe zum Vollzug des Willens ihrer Herren gebracht werden könnten.1201 Die Schreckensherrschaft gilt für das Haus; dort werden die Sklaven unterjocht. Dort werden auch die Familienangehörigen, auch die Ehefrauen, der Herrschaft unterworfen. Die Schreckensherrschaft ist zugleich auf das Haus beschränkt. Der Staat soll hingegen frei von Schrecken sein. Weil die politische Ordnung der Natur des vollkommen befähigten, d. h. vernünftigen und liebesfähigen Menschen entspricht, ist sie nicht darauf angewiesen, ihm durch Zwang etwas abzutrotzen, was nicht seinem Willen entspricht, sofern dieser nicht verfälscht und nicht wider seine Natur gerichtet ist. Staatliche Institutionen dienen vielmehr der Entfaltung menschlicher Anlagen. Albertus muss keine völlige Übereinstimmung der Interessen und Motive voraussetzen, um das Funktionieren der politischen Organisation zu begründen. Um dies zu beweisen, verwendet er die Argumentation von Aristoteles, die dieser bei der Kritik an dem Werk Platons zum Staat ausgeführt hat. Aristoteles und mit ihm Albert sind der Auffassung, dass es die Divergenz der persönlichen Anliegen und Wünsche sei, die die Zusammenführung der Individuen verlange, nicht deren konvergente Gleichheit. Aus der Komplementarität der Divergenzen entstehe die Kooperation der Divergenten. Albert sieht vor, dass die gemeinsame Kraftanstrengung notwendig sei, die mehr hervorbringe als nur die Summe individueller Bewegungen.1202 Die holistische Wirkung bringt Albert zum Gelingen, weil er voraussetzt, dass die Eigenschaften und Motive der Menschen verschieden seien, so dass deren Summe die individuellen Defizite ausgleichen könne. Weil eine Gleichheit der Menschen die Voraussetzung der Kooperation überflüssig und auch gänzlich unmöglich mache, zerstöre sie die Gerechtigkeit. Diese sei für die 1201 Jörg Müller, Natürliche Moral und philosophische Ethik bei Albertus Magnus (Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters NF 59), Münster 2001, S. 325–358; Ders., Der Einfluss der arabischen Intellektspekulation auf die Ethik des Albertus Magnus, in: Wissen über Grenzen. Arabisches Wissen und lateinisches Mittelalter, hg. v. Andreas Speer, Lydia Wegener (Miscellanea Mediavalia 33), Berlin 2006, S. 545– 568, S. 546–549; Köhler, Gleiche Menschennatur, S. 50ff. 1202 Albertus Magnus, Ethicorum libri, S. 537.

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Koordinierung der Ungleichen notwendig; die Gleichheit hingegen käme ohne Gerechtigkeit aus.1203 Zum Funktionieren des politischen Verbandes bedürfe es, so die Überlegung von Albert, die er seinen beiden Kommentaren zur Nikomachischen Ethik des Aristoteles ausführt, mehr als einer Abwägung von Vor- und Nachteilen, mehr als eines von der Natur angelegten und von der politischen Organisation auferlegten Mechanismus der Kooperationen, mehr als eines Strebens nach dem eigenen Glück. Das vollkommene Glück sei die completativa felicitas, also diejenige, die sich in der Aktivität des Philosophen verwirkliche, so wie dies auch Aristoteles vorgesehen hatte. Neben ihr bestehe aber eine felicitas – zwar geringeren Wertes – aber gleichwohl echt und erstrebenswert, die in der politischen Aktivität erreicht werden solle und auch könne.1204 Die Glücksfähigkeit ist damit sozial weit ausgedehnt. Das Glück der Bürger werde durch deren Zusammenarbeit erreicht. Albert setzt eine von den Interessen der Einzelnen abgehobene emotionale Bereitschaft der Einzelnen voraus, die dazu führe, dass gegenseitige Hilfe gewährt werde, ohne dass stets die Erwartung und die Berechtigung bestehe, im Gegenzug Unterstützung zu erfahren. Getragen werde das Gefüge der Austauschvorgänge, die keine garantierte Reziprozität voraussetzten, durch die amicitia. So entstehe eine gefühlsmäßige Fundierung des gesellschaftlichen und politischen Zusammenhalts, zugleich auch eine den allgemeinen Nutzen mehrende Zuversicht, dass, unabhängig von den Lasten, die der Einzelne durch seine Arbeit trage, und unabhängig von der Menge der ihm zukommenden Vorteile, er stets zu den Gewinnern des sozialen Austausches gehöre. Die Regeln, die die communicatio vorsieht, zu verletzen, ziehe nicht nur einen Verlust von Gerechtigkeit nach sich, sondern verhindere, dass die amicitia gedeihe, ohne die ein Zusammenleben der Menschen nicht möglich sei. Auch der Handelsverkehr funktioniere auf diese Weise, weil selbst er nicht allein auf der quantitativen Gleichheit der austauschbaren Handelswerte beruhe, sondern einen Mehrwert an Nutzen schaffe, der die Summe des Nutzens der Einzelnen übertrifft. Der Satz von Albert, Concordia est consensus in bonum commune, den er im dem zweiten Ethikkommentar formuliert, drückt die doppelte Bindung der Bürger aus: Er ist begründet durch einen gemeinsamen Willen und zielt auf ein gemeinsames Ziel.1205 Es geht Albert bei der Erläuterung zur amicitia nicht um bilaterale Beziehungen, sondern um eine die gesamte Gesellschaft umgreifende Relation des materiellen Austausches von Gütern, der Kommunikation von Texten und zugleich der emotionalen Sympathien. Die amicitia ist in Staat und 1203 Albertus Magnus, Politica, S. 594–596; SHre, Penser l’amiti8, S. 111; Pierpauli, Theorie, S. 59f. 1204 Albertus Magnus, Super ethica, X, 12, S. 757f. 1205 Ders., Super Ethica, S. 679.

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Gesellschaft vorhanden und zugleich gefordert. Albertus verdoppelt die Bedeutung von Freundschaft: Neben der amicitia naturalis gibt es die amicitia politica.1206 Hier ist kein Gegensatz, sondern eine unterschiedliche Anwendungsweise beschrieben und vor allem eine genetische Ableitung, denn aus der ersten folgt die zweite Form der Freundschaft. Sie ist als eine Steigerung zu verstehen. Die emotionale Grundierung auch der »politischen« Freundschaft schöpft aus der Liebe. Deren beider Einbeziehung in ein Gemeinwesen zeigt sich auch in rituellen Formen. Tänze, als conaziones bezeichnet, sieht Albert in dem ersten Ethikkommentar als Motoren des einträchtigen Zusammenhalts zwischen den Eheleuten und ebenso zwischen den Bürgern vor. Die Bewegung der Körper, die Harmonie der Musik und der Gleichklang der Gefühle treffen zusammen und verschönern die Beziehungen der Menschen. Aus der Sympathie folgt eine Choreographie, und umgekehrt stärkt diese sie. Der Ausdruck der Liebe durch den Tanz kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Die Bewertung von Albert unterscheidet sich deutlich von der ansonsten im Mittelalter abschätzigen Bewertung des Tanzes durch geistliche Autoren. Albert rechtfertigt und fordert die Tänze, denn sie steigern die Liebe und zeigen sie, so dass sie institutionell eingesetzt werden kann. Die Liebe verbindet sich mit den im Gleichklang miteinander verbundenen Körpern und gestaltet die Harmonie des Gemeinschaftslebens.1207 Sowohl ontologisch, zur Kennzeichnung des Menschen, als auch normativ, zu dessen Vervollkommnung, werden die Begriffe amicitia und dilectio von Albert eingesetzt. Aus der Beschreibung sozialer Beziehungen leitet Albert die Geltung des moralischen Guten ab.1208 Von ihm gebe es zweierlei Arten: erstens die bonitas, die die Menschen als Privatpersonen anstreben und die sie umgekehrt zu Taten anspornt, und zweitens die bonitas civis, die die Menschen auf die öffentlichen Angelegenheiten lenkt und die ihnen Nutzen spendet, so dass die inhärente Intention einer politischen Verfasstheit realisiert wird. Sind damit auch zwei Anwendungsbereiche des Streben nach dem Guten genannt, verwirft Albert aber in den beiden Ethikkommentaren die Vorstellung, die bei Aristoteles 1206 Ebda., S. 699. 1207 Albertus Magnus, Ethicorum libri, S. 539; Alessandro Arcangeli, Dance under Trial. The Moral Debate 1200–1600, in: Dance Research The Journal of the Society of Dance Research 12 (1994), S. 127–155, Ders., Danse et sociabilit8 dans le miroir du discours th8ologique, in: Sociopo8tique de la danse, hg. v. Alain Montander, Paris 1998, S. 55–63; Valeska Koal, Detestatio choreae. Eine anonyme Predigt im Kontext der mittelalterlichen Tanzpolemik, in: Francia 34.1 (2007), S. 19–38. Albertus Magnus, Ethicorum libri, S. 537–546; Jörn Müller, Ethics as a Practical Science in Albert the Great’s Commentaries on the Nichomachean Ethics, in: Albertus Magnus. Zum Gedenken nach 800 Jahren. Neue Zugänge, Aspekte und Perpektifven, hg. v. Henryk Anzulewicz u. a. (Quellen und Forschungen zur Geschichte des Dominikanerordens NF 10), Berlin 2001, S. 275–285.

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angelegt, aber nicht deutlich ausgeführt ist, dass es zweierlei Arten von Ethiken – die der Privatpersonen und die der Bürger – gebe. Albert differenziert in seiner Schrift, die die aristotelische Politik kommentiert, in anderer Weise: Er behauptet die Existenz zweier Arten von Anwendungen – einerseits für die Gesamtheit der Bürger und andererseits für den Herrscher. Denn ihm falle, freilich nur in Ausnahmesituationen, die Pflicht zu, allein für das Gedeihen des Gemeinwesens Sorge zu tragen. Damit geht auch einher, dass der König selbst keine Freunde haben könne, weil Freundschaft nur zwischen Gleichen bestehe. Wohl aber ist der König in den umfassenden Bindungen der Liebe eingewoben und zur Liebe verpflichtet, so wie die Untertanen sie ihm erbringen müssen.1209 Albert vermag dank dieser Differenzierung zwischen den moralischen Anforderungen an den König und an denjenigen an die Untertanen das Problem zu umgehen, wie trotz der grundsätzlichen Verderbtheit aller Menschen durch die Erbsünde die Herrschaftt eines Einzelnen, der nicht minder verderbt ist, zum Guten hinführen könne, denn der Herrscher leite auch dann die Menschen, wenn er mit ihnen keine Freundschaften knüpfe, weil er ihnen ungleich sei.1210 Dass Albert, indem er das Konzept der Sünde einführt, von einer rein naturrechtlichen Begründung von politischer Vereinigung und von Herrschaft abweicht, die er ansonsten vornimmt, scheint widersprüchlich zu sein. Albert versucht, dem Widerspruch auszuweichen, indem er unterschiedliche Begriffsinhalte von Sünde verwendet. In seiner Schrift Super Ethica bezeichnet Sünde, abseits des christlichen Verständnisses, ein Verhalten, das dem Zusammenhalt des politischen Verbandes entgegensteht. Albert meint also nicht die Übertretung religiöser Gebote, auch nicht den Ungehorsam gegenüber einer hierarchisch übergeordneten Person oder Institution, er meint ebenso wenig die Missachtung herrscherlicher Pflichten gegenüber den Untertanen, sondern er verurteilt ein Handeln, das das Ziel des guten Lebens verfehlt. Der Begriff der Sünde ist somit in einen inner-weltlichen Handlungsrahmen hineinmontiert, entbehrt aber weiterhin nicht einer religiösen Deutung. Die Pflicht des Bürgers wird in eine Höhe gehoben, die an die Religion heranreicht. Den zur Verwirklichung des guten Lebens dienenden politischen Verband zu schaffen, zu bewahren und für ihn tätig zu sein, hatte Albert zu einer religiös fundamentierten Pflicht bereits zuvor in seinem Sentenzenkommentar erklärt, also in einem Werk, das die heiligen Schriften und die der Kirchenväter, welche Petrus Lombardus am Ende des 12. Jahrhunderts zusammengestellt hatte, behandelt.1211 Die 1209 Albertus Magnus, Politica, S. 144, 632f.; Ders., Super Ethica, S. 223, 772; SHre, Penser l’amiti8, S. 111–119 verweist auf die Unmöglichkeit von Freundschaften zwischen König und Untertan, vernachlässigt aber die allgemeine Liebe im Staat gemäß den Auffassungen von Albert. 1210 Albertus Magnus, Super Ethica, S. 636. 1211 Ebda., S. 28–33; Ders., Super quattuor libros sententiarum, S. 636–638; Alessandro Ghi-

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Gewährleistung eines guten Lebens wird eine Pflicht des Herrschers, die, sollte er sie verfehlen, ihm auch als Vergehen gegen die Gebote Gottes angelastet wird. Die Einheit der Ethik bleibt somit gewahrt. Ethisches Handeln ist aber in unterschiedlichen Anwendungen verlangt. Durch die ontologische Definition des Menschen und die moralische Direktive an ihn sucht Albert eine Gesellschaftsordnung zu bestimmen, die die Kohäsionskräfte zwischen den Menschen voraussetzt und der Freundschaft eine politische Bedeutung verleiht. Freundschaft gestaltet nicht vornehmlich das private Leben, sondern das öffentliche Leben. Freundschaft wird durch die Liebe vertieft. Albert leitet die Liebe aus der psychischen Grundausstattung des Menschen ab. Sie entstehe zuerst aus der Selbstliebe. Sie sei, so Albert, die notwendige, naturwüchsige und tatsächlich bestehende Voraussetzung für die allen Menschen eigentümliche Hinwendung eines jeden zu den anderen Menschen. Weil jeder auf seinen Vorteil bedacht sei, könne er einen Vorteil nur erringen, wenn er dazu beitrage, die Vorteile der anderen zu verwirklichen, die dann motiviert würden, das Gleiche zu tun. Dadurch schafften die Freundschaft und die Liebe nicht nur zwischen einzelnen Individuen bestehende Bindungen, sondern – aufbauend auf ihnen – wirkten sie auf eine allgemein auf die humane Gattung orientierte Zusammenführung aller Menschen, die ihre faktische Realisierung im Diesseits freilich nur innerhalb des abgeschlossenen politischen Verbandes erhalte, dort also, wo sowohl die Nützlichkeit als auch die Emotionen vereint seien und beide konkret auch erfahren werden könnten. Die Freundschaft und die Liebe im Staat haben eine höhere Wertigkeit als diejenige zwischen wenigen Menschen. Die individuellen Bindungen übersteigend und unterhalb der universalen Geltung der Liebe stehend, schafft der Staat eine Zuneigung mittlerer Reichweite, in der sich Liebe und Freundschaft entfaltet. Die Liebe leitet sich folglich nicht allein aus der Befolgung eines religiösen Gebots ab, sondern ist dem Menschen durch seine Natur angelegt und im Staat verwirklicht. Das Gebot Gottes zur Nächstenliebe wird auf die politische Aktion konzentriert und konkretisiert. Erneut bezieht Albert die Religion also in die Politik ein. Liebe ist der einzige Ansporn zur Kohäsion in Gesellschaft und Politik. Furcht sieht Albertus nicht vor, zumindest nicht diejenige, die von Menschen erzeugt wird. Furcht wird verursacht durch Gefahren außerhalb menschlicher Gemeinschaften, durch Tiere und durch Naturgewalten und außerhalb der politischen Ordnung, nämlich in der Tyrannei der Hausherrschaft. Auch um sich vor den Gefahren der Natur zu wappnen, werden Staaten eingerichtet. Sie dienen der Abwendung eines Mangels, der auf alle Menschen schreckenerregend wirkt. Zwischen den salberti, Auctoritas e inquisitio veritatis. Pietro Lombardo e l’evoluzione della teologia nel secolo XII, in: Pietro Lombardo. Atti del XLIII convegno storico internazional, Todi 8–10 ott. 2006, Spoleto 2008, S. 1–22; Rusell L. Friedmann, Peter and the development of the Sentences commentary in the 13th and 14th centuries, ebda., S. 459–478.

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Menschen besteht hingegen die Freundschaft. Wenngleich Albertus vornehmlich mit dem Begriff amicitia operiert, ist die Liebe doch in ihm offensichtlich eingeschlossen, weil Freundschaft durch die Liebe bewirkt ist und beide durch die natürliche Beschaffenheit der Menschen entstehen und durch das christliche Gebot der Nächstenliebe gefordert sind. Die religiöse Lehre bringt die humane Disposition zur Steigerung, aber diese setzt jene nicht voraus, denn auch ohne den Glauben an Gott ist Liebe möglich. Indes, in höherwertiger Form gebietet die Liebe, für sich selbst und für andere das Seelenheil zu erstreben. Die utilitas aliorum zu besorgen, soll sowohl das körperliche Wohl als auch das Seelenheil befördern.1212 Die Realisierung der Freundschaft, diese hervorgerufen durch die Liebe, erfolgt in der congregatio. Es ist dies ein Begriff, der politische Assoziation kennzeichnet.1213 Albert erachtet also nicht das Wirken des Herrschers als deren Entstehungsgrund. Dennoch ist die politische Assoziation ein Machtorgan, juristisch definiert und mit Kompetenzen ausgestattet, Zwangsgewalt ausübend und Unterwerfung gebietend. Aber nicht die Anweisung des Herrschers, sondern die Gesetze verlangen Gehorsam. Der Herrscher hat diesen Gehorsam gegenüber den Gesetzen durchzusetzen, nicht einen unmittelbaren Gehorsam ihm gegenüber. Trotz der Ungleichheit hat auch die Relation von Regierenden zu Regierten Anteil an einer gegenseitigen Förderung der Tugenden. Eine Annäherung an die Gleichheit zwischen von Regierenden und Regierten folgt aus der Bindung an die Gesetze.1214 Wer Nutznießer der Gemeinschaft ist, ist auch zu Diensten und Opfern zu ihren Gunsten verpflichtet. Die Herrscher haben sie einzufordern und zu regulieren.1215 Zu den von Albert im Sentenzenkommentar genannten Institutionen, in denen Herrschaft ausgeübt wird, gehören auch die geistlichen Gemeinschaften und Einrichtungen, die Schlüsselgewalt besitzen, Menschen anleiten und Kirchenstrafen verhängen. Die Zwangswirkung ist in den beiden Bereichen, dem der Kirche und des Staates, ähnlich, hat aber andere Ziele: Seelenheil auf der einen, allgemeines Wohl auf der anderen Seite.1216 Albertus traf keine Entscheidung, welche Form der politia, d. h. der Verfassung von Herrschaft, die beste sei.1217 Eine Festlegung zugunsten zwingender Befehlsgewalt durch die wie auch immer eingerichtete Herrschaft traf er gleichwohl. Allein gegenseitiges Wohlwollen und gemeinsamer Nutzen, auch nur 1212 Albertus Magnus, Ethicorum libri, S. 584–588. 1213 Ebda., S. 584–586. 1214 Ebda., S. 315f., 341 f, 522f.; Ders., Super ethica, S. 601, 670; Ders., Politica, S. 560–562, 585. 1215 Anzulewicz, Individuum, S. 139–142. 1216 Albertus Magnus, Super quattuor libros sententiarum, S. 807f.; Pierpauli, Theorie, S. 57. 1217 Albertus Magnus, Politica, S. 209f.

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Liebe und Freundschaft genügten letztlich nicht, um die Menschen in einen Staat einzubinden. Volksherrschaft, die keine Unterordnung unter die zwingende Gewalt kenne, sei, so meint Albertus, die schlimmste Verfassung; sie sei gleichbedeutend mit der Zerstörung der Ordnung, die dem Körpermodell zu folgen habe, bei dem das Haupt das anleitende Organ sei und alle anderen Glieder ihm gehorchen müssten.1218 Eindeutig war aber Alberts Stellungnahme nicht. Denn in derselben Schrift, Super Ethica, legte er dar, dass alle Menschen von Natur aus gleich seien, so dass keiner dem anderen vorstehen dürfe. Dies gelte aber nur hinsichtlich der substantia des Humanen. Bezogen ad actum – also auf Handlungen und Handlungsbefugnisse – gebe es hingegen Ungleichheit. Schlussfolgerungen hinsichtlich der politischen Praxis sind in der Weise zu ziehen, dass eine hierarchische Differenz immer und überall vorzusehen sei. Diese Auffassung leitet Albert auch aus dem Argument ab, dass wegen der Unvollkommenheit einiger Menschen, die wegen ihrer Schlechtigkeit Tieren glichen, Unterordnung unter eine Herrschaft notwendig sei und dass dieser Zustand nur eine Variation eines umfassenden, alle Menschen kennzeichnenden Defizits, nämlich des Sündenfalls der ersten Menschen, sei, somit dieser Zustand nicht in der Natur des Menschen selbst begründet liege, wohl aber aus seiner Geschichte folge, so dass ex institutione Regeln zu erlassen, unerlässlich sei. Albert verlässt also die Konzepte von Aristotoles durch den Verweis auf die Erbsünde. Nicht wie bei ihm einzig der natürliche Fehler der Sklaven, ihre ihnen eigentümliche Unvernunft, sondern der allen Menschen anhaftende Makel der Erbsünde verlange stets die Einsetzung einer Zwangsgewalt. Damit bleibt aber die Frage offen, welcher Mensch zur Herrschaft berufen sein könne, da doch alle unter dem Verdikt einer prinzipiell vorhandenen Unvollkommenheit stünden. Albert meint, dass es eine aptitudo zu herrschen gebe. Nur derjenige, der diese Fähigkeit besitze, dürfe Befehlsgewalt ausüben und Gesetze erlassen. Diese Befähigung müsse daran gemessen werden, inwieweit sie das bonum commune fördere – und gesteigerter noch – das bonum civitatis, welches das Wohl der großen Menge zum Wohl der Gesamtheit dieser Menge emporführe.1219 Die hierarchische Differenz von Herrschern zu Beherrschten zeigt sich auch in der Abstufung der Liebe: Dem Herrscher gebühre seitens der Untertanen größere Liebe, als er ihnen gewähre. Die hierarchische Distinktion erhebt den Herrscher aus der Menge des Volkes. Die politische Superiorität ist umgekehrt proportional zur Liebe. Damit aber die Liebe politisch wirken könne, sei es, so Albert, doch erforderlich, dass zwischen Herrschern und Untertanen kein zu großer Abstand bestehe – weder hierarchisch noch geographisch. Die emotionale Bindung, die notwendig sei, vertrage sich nicht mit Absenz und Distanz. 1218 Albertus Magnus, Super ethica, S. 632–637. 1219 Ebda., S. 635f.

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Durch Kontakt vermittelte Vertrautheit müsse bestehen, damit Liebe erwachsen könne.1220 Es ist nur folgerichtig, dass wegen der emotionalen Annäherung von Herrschern und Beherrschten und trotz der Differenzierung der Liebe die große Menschenmenge nicht lediglich Objekt einer guten Regierung sein kann; vielmehr sieht Albert in ihr den participans potestatis; er weist ihr also legitime politische Gestaltungskompetenz zu und leitet sogar von ihr den Ursprung von jeder politischen Gewalt ab. Der Gedanke wird insbesondere im Kommentar zur aristotelischen Politik ausgeführt, ohne dass auch hier eine eindeutige und widerspruchsfreie Stellungnahme vorliegt, wie Herrschaft begründet wird, ob Herrschaft durch das Volk eingesetzt sein muss und welche Regierungsform die beste ist. Immerhin bietet Albert in dem Politikkommentar eine Argumentation an, die auch die Volksherrschaft rechtfertigt. Aristoteles deutend, führt er aus: Die Freiheit ist das Ziel der Volksherrschaft. Diese manifestiert sich darin, dass jeder Bürger sowohl der Herrschaft unterworfen ist als sie auch ausübt. Die Gleichheit aller Bürger ist die Voraussetzung einer Regierungsweise, in der nach der Zahl der Zustimmenden zu einer Entscheidung gewichtet wird. So ist es gerecht. Im Ergebnis herrscht so die congregatio selbst. Ja, Albert meint auch: Die Volksherrschaft ist das Beste für das Glück aller.1221 Dass Albert gleichwohl an anderen Stellen des Politikkommentars die Volkherrschaft ablehnt, da Unterordnung und Gehorsam notwendig seien1222, zeigt die Widersprüchlichkeit der Überlegungen, die mannigfachen Auslegungen offenstanden. Die congregatio populi als oberste Entscheidungsinstanz ist aber nicht nur als Ideal konzipiert, sie setzt Albert als real existierend voraus, sofern sie sozial verankert ist, eine möglichst breite Partizipation vieler aus unterschiedlichen Lebensbereichen garantiert, auf diese Weise die Befähigungen Einzelner steigert und so Akzeptanz des Regierungshandelns verbessert.1223 Die soziale Kohäsion sei am besten unter den Mitgliedern einer städtischen Kommune vorhanden; sie entstehe nicht allein wegen der gemeinsamen Interessen, so Albert, sondern werde durch ethische Bindungen bewirkt, die auch Opfer, selbst die Opferung des eigenen Lebens, verlangten. Bürger einer Gemeinde seien daher tapferer als adlige Ritter, eher bereit, im Kampf um die gemeinsame Sache ihr Leben zu opfern. Aber Stadt und Staat sind doch eng verbunden. In beiden muss das allgemeine Wohl durch die Bürger verteidigt werden. Widerstand gegen Tyrannen – unter ihnen versteht Albert diejenigen, die das öffentliche Wohl schädigen – erachtet er als legitim. Indem Tyrannen abseits der civilitas stehen 1220 1221 1222 1223

Ebda., S. 621–623; SHre, Penser l’amiti8, S. 116f., 154f. Albertus Magnus, Politica, S. 635f. Ebda., S. 25–29, 327. Ebda, S. 564f.

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– die als Inbegriff von Austausch, Zusammenarbeit und gegenseitiger Freundschaft verstanden werden kann – verhindern sie die Existenz der Gemeinde und auch des Staates, verhindern sie zugleich die individuelle Entfaltung humaner Potentiale, vor allem aber stehen sie – Albert folgt hier wiederum Aristoteles – der Entfaltung der amicitia auch schon im privaten Leben entgegen.1224 Das Anliegen von Albertus bestand aber nicht darin, den Herrschern gegenüber Anforderungen zu stellen. Indem Albert die Texte von Aristoteles zur Politik und zur Ethik untersuchte, also theoretische Überlegungen präsentierte, stellte er gleichwohl einen Fundus von Argumenten zusammen, die auch praxistauglich waren – auch für Gruppen und Personen außerhalb fürstlicher und königlicher Herrschaft, wie seine Tätigkeit als Schiedsrichter in politischen Konflikten bewies.1225 Sowohl die Entdeckung von Texten als auch die geänderte politische Konstellation, die mit dem Aufkommen der Kommunen neue Akteure hervorbrachte, drängten Albertus Magnus zu neuen Deutungen des Handelns der Mächtigen und ihrer Berechtigung. Nicht unähnlich zu seinen übrigen philosophischen Texten zögerte er, eindeutig Position zu beziehen, zog es vor, Argumente zu präsentieren, sie zu bewerten und sie abzuwägen, ohne eine eindeutige Bevorzugung vorzunehmen und eine einzige Schlussfolgerung zu präsentieren. Fragen blieben offen: zur besten politischen Verfassung, zur praktischen Verwirklichung von Freundschaft und Liebe, zur Notwendigkeit zwingender Gewalt und zum Einsatz von Schrecken.

3.

Von den Emotionen zur Ordnung: Thomas von Aquin

Die Frage, wie Herrschaft beschaffen sein solle und auf welchen Grundlagen sie beruhe, erörterte der Dominikaner Thomas von Aquin (1224/5–1274) ebenfalls auf der Basis der aristotelischen Texte zur Ethik und zur Politik. Thomas führte die Ideen von Albertus Magnus, dessen Schüler er zeitweise war, weiter. Er entwickelte mehr als Albert eine Systematik von Themen und Argumentationen und suchte Widersprüche nicht allein aufzudecken, sondern aufzulösen. Thomas, in einer kleinadeligen Familie in Süditalien aufgewachsen, begann seine Studien an der Universität in Neapel. Er trat 1244 in den Dominikanerorden ein, studierte in Paris und Köln, wurde 1256 zum Doktor der Theologie promoviert, war einer der Kontrahenten im Streit zwischen den Mendikanten und den Universitätsmagistern zu Paris um die Berechtigung zum Lehramt und schließlich um die Berechtigung der Mendikantenorden selbst, leitete an mehreren Orten Ordensschulen. Seine immense Produktivität bei der Abfassung von 1224 Ebda., S. 212 f, 233; Albertus Magnus, Super ethica, S. 188. 1225 Schmidt, Politische Theorie, S. 353–357.

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Schriften, die große Vielzahl der von ihm behandelten Themen und deren systematische Zusammenführung in umfassenden Werken waren offensichtlich die Gründe, dass sein Orden schon kurz nach seinem Tod seine Texte als Grundlage des Studiums für die Ordensangehörigen vorschrieb. Die Wirkung seiner Werke war langanhaltend und griff weit über den Dominikanerorden hinaus.1226 Als politischer Denker war er wohl schon zu Lebzeiten gewürdigt und als Ratgeber begehrt. Davon zeugt allein schon sein Schreiben an die Herzogin von Brabant, Margarethe, in dem er Themen der Besteuerung, der Verwaltung, der Wirtschaft und der Rechtstellung von Juden behandelte.1227 Die Forschung zur politischen Theorie von Thomas von Aquin verweist durchweg auf dessen Auffassung, dass die Vernunft die Ursache der politischen Existenz der Menschen sei. Dass Thomas auch die Emotion in diesem Zusammenhang erörterte, gar für die soziale Einigung der Menschen voraussetzte, wird in der Forschung hingegen nicht beachtet.1228 Dies soll hier korrigiert werden. In seinem Kommentar zum Werk von Aristoteles zur Politik, am Ende seines Lebens zwischen 1269 und 1271 verfasst, führt Thomas bereits im Prolog aus, dass der Gegenstand der Untersuchung die passiones einschließe. Sie seien Bestandteile der politischen Existenz des Menschen. Die passiones werden von Thomas mit Beispielen erläutert: Er nennt concupiscientia, ira und timor. Sie seien durch Herrschaft zu bändigen, aber sie unterstützten sie auch.1229 Und an anderer Stelle schreibt er : Ein natürlicher Impetus dränge die Menschen zur Vereinigung im Staat. Er verwendet eine physikalische und mechanische Ter1226 Jean-Pierre Torrell, Initiation / Saint Thomas d’Aquin, Paris 1996; Maxilian Forschner, Thomas von Aquinm, München 2006; Volker Leppin, Thomas von Aquin. Zugänge zum Denken des Mittelalters, Münster 2007. 1227 Thomas von Aquin, Epistola ad ducissam Brabantiae, S. 375–378; die Frage, an wen das Schreiben gerichtet war, scheint geklärt zu sein, nämlich an Margarethe, die Ehefrau von Herzog Johann I. von Brabant; das Schreiben wird auf das Jahr 1270 datiert: Christoph Cluse, Zum Zusammenhang zwischen Wuchervorwurf und Judenvertreibung im 13. Jahrhundert, in: Judenvertreibungen im Mittelalter und früher Neuzeit, hg. v. Friedhelm Burgard, Alfred Haverkamp, Gerd Mentgen (Forschungen zur Geschichte der Juden A 9), Hannover 1999, S. 135–163, S. 152–156; die nun überholte Auffassung bei: David Kusman, A propos de la consultation de Thomas d’Aquin par la duchesse Aleyde de Brabant (ca. 1277), in: Revue Belge de Philologie et d’histoire 73 (1995–9), S. 937–946; Hans Otto Seitschek, Religionsphilosophie als Perspektive. Eine neue Deutung von Wirklichkeit und Wahrheit, München 2017, S. 111–117. 1228 Thomas Gilby, The Political Thought of Thomas Aquinas, Chicago 1958; Riklin, Die beste politische Ordnung, S. 22f.; Georg Wieland, Die Rezeption der aristotelischen Politik und die Entwicklung des Staatsgedankens im späten Mittelalter am Beispiel des Thomas von Aquin und des Marsilius von Padua, in: Rechts- und Gesellschaftsphilosophie, S. 67–87; James M. Bythe, Ideal Government and the Mixed Constitution in the Middle Ages, Princeton 1992, S. 49f., 54–56; Bernhard Stengel, Der Kommentar des Thomas von Aquin zur Politik des Aristoteles, Marburg 2011. 1229 Thomas von Aquin, Sententia libri politicorum, S. 69.

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minologie, um den den Menschen inhärenten Motivierungsschub zu bezeichnen.1230 Sowohl die passiones als auch der impetus existieren vor jedem Vernunftgebrauch. Thomas erachtet sie als die primären Gestalter und als Verursacher des Staates. Gegenstand der folgenden Überlegungen soll nun sein, wie Thomas von Aquin die Wirkung der Emotionen auf die Politik und die Einbindung von ihnen in politische Ordnungen analysiert. Thomas geht das Thema der Emotion zunächst als Theologe an. In seiner wohl frühesten Schrift, in den Sentenzenkommentaren1231, die er als baccalaureus an der Pariser Universität zwischen 1252 und 1256 schrieb, trennt er die Liebe von der Herrschaft. Die Liebe entstehe, so im ersten Buch der Sentenzenkommentare, aus der Bewirkung durch Gott, nicht aus der Tugend der natürlichen Gutheit des Menschen: Homo non habens charitatem ex tota virtute bonitatis naturalis sibi indictae movetur ad charitatem. Gott sei vielmehr der unmittelbare Impulsgeber. Er sorge auch für die quantitative Vermehrung der Liebe, er bringe sie erst zum Zustand der Tugend. Weil die Liebe nicht aus dem natürlichen Menschsein entspringe, habe sie auch keine Auswirkungen auf die Gestaltung von Politik und von Herrschaft.1232 Diese Abtrennung der Liebe von der Politik ist umso bemerkenswerter, als die Sentenzenkommentare ansonsten auch Reflexionen zur Politik enthalten. Diese Reflexionen führt Thomas weiter. Ausführlich behandelt er die Frage nach der Legitimität der Herrschaft. Auf den Apostel Paulus verweisend, hält er jede Herrschaft, auch die eines Tyrannen, von Gott eingesetzt und gerechtfertigt: non est potestas nisi a Deo. Ja, er führt die Berechtigung in aller Schärfe aus: Potestas mala a Deo sit. Und an anderer Stelle noch drastischer : Per me (von Gott) regnant reges et tyranni, per me tenent terram. Die faktische Gewalt über ein Land ist auch den Tyrannen zugestanden. Allen Herrschern habe Gott Gewalt gegeben – aus Zorn gegen die Menschen. Muss man sich deren Gewalt stets fügen? Thomas sieht eine Ausnahme vor. Eine Quaestio erörtert die Restituierung von unrecht erworbenem Gut der Herrscher. Dort führt er u. a. aus, dass, wenn den Untertanen befohlen werde, gegen Gott zu 1230 Ebda., S. 79: lib. 1, 1, a. 19.: In omnibus hominibus inest quidam naturalis impetus ad communitates civitatis; zur Impetus-Theorie: Jürgen Sarnowsky, Die aristotelisch-scholastische Theorie der Bewegung. Studien zum Kommentar Alberts von Sachsen zur Physik des Aristoteles (Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie NF. 32), Münster 1989. 1231 Martin Grabmann, Das Werk des heiligen Thomas von Aquin. Eine literarisch-historische Untersuchung und Einführung (Texte und Untersuchungen 22, 1/2), Münster i. W. 1949, S. 286–290; Maximilian Forschner, Thomas von Aquin, München 2006, S. 23–28, 140–151; Jean Pierre Torelli, Initiation / Saint Thomas d’Aquin. Sa personne et son œuvre, 2. Aufl, Freiburg (Schweiz), Paris 202, S. 485. 1232 Thomas von Aquin, In libros sententiarum, S. 256: II, dis. 44; eine unvollständige Edition: Thomas von Aquin, Lectura Romana in primum sententiarum Petri Lombardi, hg. v. Leonard Boyle Toronto 2006.

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handeln, sie den Gehorsam verweigern sollen: si contra Deum, precepit Deus ut in malis nulli potestati obediamus. Der Ungehorsam ist weit gefasst, denn er richtet sich nicht gegen einen einzelnen Befehl, sondern gegen die gesamte Herrschaft. Dabei ist selbst die Absetzung des ungerechten, wider Gott handelnden Herrschers erwogen.1233 In den späteren Schriften verändert Thomas von Aquin die Erörterung zur politischen Praxis und Theorie und begründet sie nicht allein mit theologischen Argumenten, wie dies bei einem Sentenzenkommentar naheliegt, sondern indem er innerweltliche Voraussetzungen und Ziele einbezieht. Er nimmt dabei eine radikale Wendung hinsichtlich der Einwirkung der Liebe auf die Herrschaft vor. Anders als in den Sentenzenkommentaren stellt er durchaus die Möglichkeit dar, dass die Liebe die Grundlage des politischen Handelns und der politischen Verfassung bilde. Die Einsetzung von Emotionen der Zuneigung für die Etablierung von Herrschaft und politischer Kooperation beruht darauf, dass er Herrschaft und Politik aus den anthropologischen Grundlagen ableitet, die von Gott geschaffen wurden und weiterhin von ihm geformt sind. So wird die politische Verfassung nicht nur negativ als Bestrafungsaktion Gottes gedeutet. Die menschlichen Vereinigungen und Vergesellschaftungen sieht Thomas als Mittel der Verbesserung menschlicher Existenz und als Manifestationen der Liebe im Diesseits an. Da nach der Überzeugung von Thomas von Aquin das menschliche Handeln dem Beispiel der Natur zu folgen habe, da diese alles aufs beste eingerichtet habe und sich in ihr der Wille Gottes ausdrücke und da auch die Herrschaft des Königs die Natur imitiere, wie er in dem zweiten Kapitel seines Spätwerkes De regno detailliert beschreibt1234, ist die politische Ordnung von dem Makel befreit, die Konsequenz des Sündenfalls und der Feindschaft zwischen den Menschen nach dem Mord von Abel durch Kain zu sein. Thomas bekräftigt damit eine Auffassung, die er auch schon zuvor in seinem Hauptwerk, der Summa theologiae, dargelegt hat. Damit soziale und politische Zusammenschlüsse Nutzen erbringen, bedürften sie nicht immer einer Anleitung durch die Kirche und ihrer Geistlichen, vielmehr sei der Nutzen der politischen Ordnung immanent eingegeben und auch für die Heiden vorhanden. Das individuelle Wohl, das proprium bonum, könne nur gelingen, wenn es in ein 1233 Ders., In libros sententiarum, S. 46f.: I dist. 17 quaest, 2, art, 1. 1234 Ders., De regno, S. 419–423; zur handschriftlichen Überlieferung, zur Verfasserfrage und zum Datum der Abfassung ebda., S. 421–44; Christoph Flüeler, Mittelalterliche Kommentare zur Politik des Aristoteles und zur pseudo-aristotelischen Oekonomik, in: Bulletin de philosophie m8di8vale 29 (1987), S. 193–239; er datiert die Schrift auf 1271/73 und nennt als Widmungsempfänger Hugo III., König von Zypern; der Text des Thomas von Aquin zusammen mit dem seines Fortsetzers Ptolomomaeus de Lucca ist ediert in: Thomas von Aquin, Opuscula philosophica et theologica, hg. v. A. M. de Maria, Citt/ di Castello, 1886, S. 3–170.

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bonum commune eingebettet sei, weil der Mensch als Mangelwesen nur dank der Kooperation mit den Mitmenschen das Leben und das gute Leben verwirklichen könne. Die Argumentation übernimmt Thomas von Aristoteles. Die Kooperation entstehe freilich nicht spontan. Sie bedürfe notwendigerweise einer leitenden Gewalt, die Zwang ausübe. Nicht zufällig erweitert Thomas die Kennzeichnung des Menschen als animal sociale, in der Übersetzung der aristotelischen Texte durch Moerbeke vorgegeben, mit animal sociale et politicum und verweist in diesem Zusammenhang auf eine herrschaftlich geformte Verfassung des Zusammenlebens.1235 Darin habe der Zwang seine Berechtigung. Die politische Ordnung verlange gleichwohl keine Unterwerfung unter ein Übel, sie sei keine Bestrafung; vielmehr befördere sie das Glück aller.1236 Thomas geht einen Schritt weiter als Albertus Magnus, als er dem politischen Handeln eine eigene Rationalität unterlegt. Sie betrifft insbesondere die Gestaltung der zwingenden Gewalt, die zur Definition und zur Sanktionierung von Fehlverhalten eingesetzt ist. Zwar führt auch Thomas den Begriff der Sünde in die Darlegung des Politischen ein, die dann bestehe, wenn der Mensch sich wider die von der Natur begründete Ordnung verhalte. So zu handeln, stelle eine Perversion dar, wie Thomas in der Summa theologiae ausführt. Das politische Handeln scheint er mittels der von ihm verwendeten Terminologie in einen religiösen Kontext zu stellen. Aber er begründet zugleich eine deutliche Scheidung von Staat und Religion, wenn er die Reaktion und die Sanktion gegen die Sünde darstellt. Es genüge zur Wiederherstellung der guten Ordnung, zu strafen, was aber nicht bedeute, dass mit der weltlichen Strafe die Schuld der Sünde abgegolten wäre. Die Furcht vor der weltlichen Strafe könne auch nicht alle Laster abwenden, so wie umgekehrt die Lossprechung der Sünde keineswegs die weltliche Bestrafung überflüssig machen würde.1237 Weltliche und religiöse Sanktionen hat Thomas voneinander getrennt. Auf der Furcht vor Strafe beruhe die Disziplin der Gesetze (disciplina legum). Diese Disziplin – die Übersetzung mit dem Wort Zwang ist hier ebenfalls angebracht – bringe das gemeinschaftliche Leben im Diesseits zum Gelingen. Die Furcht auszulösen, sei die Pflicht des Herrschers, aber nicht in beliebiger Verfügung. Die Herrscher verbreiteten folglich auch keinen Schrecken, denn dieser entstünde nur dann, wenn die 1235 Matthias Lutz-Bachmann, Thomas von Aquin als politischer Denker. Ein neuer Ansatz zur »Politischen Theorie« im Mittelalter, in: Philosophie, Politik und Religion, S. 55–66, S. 64 ; Flüeler, Einfluss, S. 72f. 1236 Thomas von Aquin, Summa theologiae (Opera Omnia 7), S. 262f.: Prima Sec. quaest. 105, art. 1; Francisco Bertelloni, Die Anwendung von Kausalitätstheorien im politischen Denken von Thomas von Aquin und Aegidius Romanus, in: Politische Reflexion, S. 85– 108. 1237 Thomas von Aquin, Summa theologiae (Opera Omnia 7), S. 181–184: Prima Sec., quaest. 96, art. 1–4.

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Gewalt unvorhersehbar ausgeübt und die Furcht unbegründet verbreitet würde. Die Furcht im Staat müsse anders gestaltet werden, so Thomas, nämlich durch die Anbindung an die Gesetze. Die Herrscher bewirkten die Furcht, indem sie die Gesetze anwendeten. Kausal und final leiteten die Gesetze die Furcht.1238 Es ist eine von der Ordnung des Staates abgeleitete Furcht, die der Herrscher ausübt, und ihre Realisierung ist für die Bürger nachvollziehbar, eignet sich daher nicht zur Auslösung eines beständigen Schreckens, der aus einem stets drohenden Gewalthandeln und der daraus entstehenden Furcht entsteht. Nicht aus Willkür, sondern aus Beständigkeit entsteht die zum guten Tun hinführende Furcht. Furcht ist nach Thomas deutlich von dem diffus wirkenden Schrecken unterschieden. Die erste Ursache der Furcht ist Gott; er leitet sie weiter, vermittelt durch die Gesetze und über diese eingesetzt durch die Herrscher. Die Möglichkeit und die Pflicht, durch Furcht und das Einflößen von ihr Gutes zu bewirken, folgen aus einer allgemein gültigen positiven Bewertung von Furcht, die Thomas in der Summa theologiae vornimmt und dazu eine theologische Begründung bietet, in die er eine legalistische hineinwebt. Gutes gehe aus der Furcht hervor, insofern die Furcht vor dem Verlust des Guten das Gute anziehend mache. So wie die Furcht vor Gott die Menschen zum guten Tun anhalte, geschehe dies auch dank der Furcht vor der Sanktionsdrohung der Gesetze in den irdischen Angelegenheiten. In beiden Fällen sei es die Liebe, die die Furcht als Mittel zum Guten einsetze. Denn wenn der Mensch vor einem Schaden bewahrt werde, sei die Furcht ihm nützlich, was die Liebe ja beabsichtige. Der Relation von Liebe und Furcht ist gedoppelt. Die Furcht entsteht nicht allein aus der Liebe, sondern sie bewirkt sie auch. Die Erörterung dieser zirkulären Bewegung bezieht Thomas zwar zunächst auf die Beziehung zu Gott, aber die Liebe und die Furcht sind zur Imitation unter den Verhältnissen der Menschen empfohlen und sind für jede Beziehung anzuwenden, sofern Furcht das Gute bewirkt, auf der Liebe beruht und sie hervorbringt.1239 Die Dialektik des Verhältnisses von Furcht und Liebe setzt einen Gegensatz voraus, der durch das Handeln Gottes wie auch des guten Herrschers überwunden wird, so dass eine Kombination von instrumentaler Aktion und intentionalem Resultat entsteht. Wenn für das Zusammenleben Furcht und Liebe unterstellt sind, sind die Menschen in gleicher Weise ihnen ausgesetzt. Weil aber Thomas die Bewirkung 1238 Ders., Summa theologiae (Opera omnia 7), S. 174 f: Prima sec., quaest. 95, art. 1; zur Konzeption von Thomas von Aquin über die Gesetzgebung: Michel Viley, La th8ologie politique et la r8formation de l’Etat moderne, in: Th8ologie et droit dans la science politique de l’Etat moderne (Collection de l’Ecole FranÅaise de Rome 147), Rom 1991, S. 31–49. 1239 Thomas von Aquin, Summa theologiae (Opera Omnia 6), S. 276–282: Prima sec. quaest. 42–43.

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von Furcht und Liebe bei unterschiedlichen Personen und Institutionen ansiedelt, kann er keine Homogenität der Natur des Menschen und ihrer sozialen Positionen vorsehen. In der Summa theologiae und dem Politikkommentar folgt Thomas der Polemik von Aristoteles gegen die Auffassung von Platon, nach der die Verwirklichung einer guten Staatsverfassung die Gleichheit der Lebensbedingungen und daher die gemeinsame Verfügung über materielle Güter und über sexuelle Partner voraussetzen würde. Nein, nicht die unitas zeichne die gute politische Ordnung aus, sondern die communitas – so Thomas. Diese entstehe und verlange sogar, dass es verschiedene Begabungen, Tugenden, Besitzungen, Tätigkeiten und Wünsche gebe, weil nur deren Summe dank der Kooperation ein vollständiges Ganzes hervorbringe. Das Allgemeine ist verwirklicht, nicht weil es die Differenzen einebnet, sondern die Differenzen am Leben erhält und zu einem Ganzen zusammenfügt. Wegen der Unterschiede zwischen den Menschen sei die Existenz einer obersten Gewalt umso unerlässlicher, die die Teile vereint. Sie dürfe nicht gestört werden durch Absonderungen, die zwar durch die Liebe zwischen den Menschen in ihren familiären und freundschaftlichen Bindungen begründet und auch gerechtfertigt sein mögen, gleichwohl dazu führten, die Sorge für das umfassende Gemeinwohl zu vernachlässigen. Thomas geht soweit, die Liebe als schädlich für den Staat anzusehen, sofern sie verhindere, die geeignetsten Menschen für die öffentlichen Ämter vorzusehen, weil statt ihrer Verwandte und Freunde begünstigt würden. Der Staat müsse vor der Liebe, die zwischen den Familienmitgliedern besteht, abgeschirmt werden. Thomas weist in einer ausführlichen Erörterung die Meinung zurück, dass, je mehr die Liebe natürlicherweise die Menschen miteinander verbinde und je weniger sie von einer gesellschaftlichen Ordnung geformt werde – sie also urtümlicher, man könnte auch sagen authentischer sei –, sie desto mehr Nutzen hervorbringen und desto weniger Schaden verursachen würde. Eine solche Liebe sei von den leiblichen Trieben gesteuert und stehe einer sozialen Einbindung im Staat entgegen. Liebe sei nicht voraussetzungslos gut im politischen Handeln. In Gemeinschaften, die kollektiven Besitz der Güter und kollektive Verfügung von Sexualpartnern hätten, scheine, so schreibt Thomas, die Liebe größer zu sein, weil eine Gleichheit der Lebensbedingungen vorhanden sei, aber in Wirklichkeit unterdrücke eine solche Verfassung einen freien Willensentscheid und auch die liebende Zuwendung. Nur ohne die oktroyierte Gleichheit könnten die Menschen unterschiedliche Ziele auswählen und könnte die Liebe freiwillig gewährt werden. Sich gegenseitig auf der Grundlage der Gleichheit zu lieben, korrumpiere die Menschen, weil sie so zu einem Einzigen verschmolzen würden. Die Liebe der Sexualpartner müsse vor einer Kollektivierung geschützt werden. Abstammung und Nachkommenschaft würden bei sexuellem Partnertausch ununterscheidbar, so dass schließlich die Liebe in der Familie unmöglich sei, weil die sexuelle Promoskuität jede Kenntnis zu den

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Verwandtschafts- und Abstammungsbeziehungen verhindere. Die Vermischung aller mit allen zerstöre schließlich die Liebe in allen Lebensbereichen und folglich auch die Freundschaft, was der Absicht der Gesetzgeber und dem Wesen des Staates widerspreche. Notwendig sei vielmehr die Ungleichheit in politisch verfassten Gemeinschaften; sie sei nicht erst deren Resultat, vielmehr deren Voraussetzung; nur Ungleiche bedürften der Zusammenarbeit. Die Komplementarität von Fähigkeiten und Vermögen erfordere deren Zusammenfügung, um aus den differenten Teilen ein Ganzes zu formen.1240 Freundschaft, so in dem Kommentar des Thomas zur Nikomachischen Ethik von Aristoteles, sei nur möglich zwischen Menschen, die sich unterschieden, so wie dies im Staat der Fall sei. Aufgrund von Zuneigungen, die die Individualität des jeweils anderen intakt halten, nicht einschmelzend sind und die Unterschiede zwischen den Menschen nicht eliminieren, könne Gemeinschaft gedeihen. Thomas erörtert in dem Ethikkommentar die Vergesellschaftung, die er zweifelsohne von einer affektiven Grundierung ableitet, ohne dass die Autonomie der Individuen gemindert ist. Nicht Liebe, sondern Freundschaft ist der Leitbegriff, den Thomas im Ethikkommentar verwendet. Freundschaft verschaffe dem König Zuneigung, so wie sie ihn zur Sorge für den Staat motiviere. Indem der König das Wohl der Untertanen fördere, statt nur sein eigenes, gelinge es ihm, seine Tätigkeit zugunsten seiner Person und seines Haushaltes hinauszuführen, den Staat insgesamt zu erfassen, die alle Untertanen erreichende Wirkung seines Tuns zu gestalten, das Wohl vieler Menschen zu fördern und die Untertanen an sich zu binden. Thomas setzt eine in der Person des Herrschers eingegebene Potenz zur affektiven Bindung mit den Untertanen voraus. Daher sieht Thomas in dem Ethikkommentar, anders als später im Politikkommentar, Ähnlichkeiten zwischen Familienvater und König, zwischen Familie und Staat. Aber es sind Ähnlichkeiten, die auf der Fürsorge beruhen, nicht auf der sie auslösenden Emotion der Liebe. Der Unterschied beruht auf den unterschiedlichen Zielsetzungen der beiden Schriften. Wenn Thomas das Thema der Politik behandelt, schärft er die Unterscheidung zur Familie, wenn er die Ethik erörtert, sucht er Anwendungen in allen Lebensbereichen, in denen von Familie und Staat.1241 In der Summa theologiae vertritt Thomas von Aquin eine zwischen den beiden Positionen vermittelnde Auffassung: Die moderate, exaltierte Zunei1240 Ders., Sententia libri politicorum, S. 122–129; Ders. Summa theologiae (Opera omnia 6), S. 213f.: Prima secundae, quaestio 27, art. 1 und 2; Alexander Brungs, Die passiones animae, in: Thomas von Aquin: Die Summa theologiae. Werkinterpretationen, hg. v. Andreas Speer, Berlin, New York 2005, S. 198–222; anders Töpfer, Urzustand, S. 229–244; er meint, dass Thomas die harmonisierende Einheitlichkeit menschlicher Gesellschaft befürworten würde, die ein Gemeinschaftseigentum voraussetze. 1241 Thomas von Aquin, Sententia libri ethicorum, S. 443, 472, 476–486.

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gungen ablehnende, vielmehr die Unterschiede der Personen respektierende, gleichwohl emotional gefärbte Beziehung ist für die politische Organisation unerlässlich, wohingegen unter Eheleuten und ihren Kindern die Liebe die Grenzen der persönlichen Unabhängigkeit einreißt und die Menschen miteinander verschmelzt, also das bewirkt, was im Staat nicht geschehen soll. Im Unterschied zum später verfassten Politikkommentar stellt Thomas in der Summa theologiae dar, dass allein das Gute die Ursache und das Ziel der Liebe sei. Die Argumentation des Aquinaten geht in den drei hier genannten Texten von unterschiedlichen Überlegungen aus, insofern der Ethikkommentar die Einheitlichkeit der Ethik darlegt, die Summa die Realisierung der göttlichen Heilsordnung ausführt, der Politikkommentar die Nützlichkeit und die Formen des menschlichen Zusammenlebens behandelt. Die Liebe, so der Text der Summa, sei in der Natur begründet und habe bei allen Liebenden eine gemeinsame Natur – als connaturalitas bezeichnet. Die Liebe gilt dem Aquinaten als eine strebende Bewegung des Liebenden zum Geliebten oder zu mehreren Geliebten und mache diese dem Liebenden geneigt. Die Angleichung, die Thomas coaptatio affectus nennt, führe zur Vereinigung, als unio bezeichnet.1242 Die Liebe ist die höchste Tugend, steht oberhalb von Glaube und Hoffnung, sofern sie die irdischen Angelegenheiten und Ziele überschreitet. Zugleich ist die Liebe der Ursprung jeder Zuneigung, ist also an das Empfinden und an das Handeln gebunden.1243 Der ordo caritatis entsteht bei Thomas nicht aus der jeweiligen Nähe desjenigen, der geliebt werden soll, und folgt auch keiner hierarchischen Ordnung der weltlichen Herrschaft, sondern beruht auf der Bewertung des Einzelnen, dem Liebe gewährt wird. Die Bewertung beruht auf der Intensität der Liebe zu Gott. Ausdrücklich ist diese Ordnung der Liebe keine, die festlegt, dass der soziale Nahbereich mehr als der Fernbereich umsorgt werden soll. Die Vorsorge für die enger Verbundenen wie für Eheleute, Eltern und Kindern soll keine Präferenz gegenüber der Liebe für die Besten haben.1244 Ausdrücklich erkennt Thomas die Liebe, die zur Tätigkeit im Staat hinführt (caritas in patria), als wertvoll an und stellt sie in die Ordnung der Liebe, insofern es die Besten auch unter den Herrschenden und unter den Untertanen sind, die sich für den Staat einsetzen. Die Liebe formt die Beziehungen, an die die Herrscher teilhaben.1245 In der Summa theologiae führt Thomas die Liebe also in die politische Organisation ein. Sie müsse in diesem Fall die Einschließung in kleine communi1242 Ders., Summa theologiae, prima pars quaest. 20, art. 1 (Opera Omnia 4), S. 252f. und Prima sec. quaest. 25–28 (Opera omnia 6), S. 183–202. 1243 Ders., Summa theologiae, Prima secundae partis, quaest. 62, art. 4 (Opera omnia 6), S. 402. 1244 Ders., Summa theologiae, Secunda secundae partis, quaest. 26 (Opera omnia 8), S. 209– 224. 1245 Ebda., quaestio 26, art. 13, S. 223f.

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tates überwinden und die gesamte civitas erfassen. Thomas rechtfertigt die Liebe als Klammer des politischen Zusammenhalts. Dies leistet sie, wenn sie mit Freundschaft einhergeht. In der Summa theologiae unterscheidet er die begehrende Liebe von der Freundschaftsliebe. Allein diese sei nützlich und angenehm für den gesamten Staat. Sie erstrebe das Wohl des jeweils anderen. Solch eine Liebe führe zur Schaffung des allgemeinen Wohls. Diese Tätigkeit sieht Thomas als Voraussetzung für das Glück, die felicitas, an, die zwar in der spekulativen Tätigkeit des Philosophen und desjenigen, der zu Gott strebt, zwar den höchsten Wert erringt, aber als Tätigkeit im Staat und in den praktischen Hervorbringungen des Bürgers in vollem Umfang gerechfertigt ist. Die felicitas perfecta und die felicatas secundaria sind zwar voneinander abgesetzt, beide aber mit Tugenden verbunden, die letztere vor allem mit der Klugheit, die alle moralischen Tugenden leitet.1246 Da die Liebe immer das Gute für die anderen erstrebe, sei ihr eine einigende Kraft, eine vis unitiva, zu eigen, sowie eine bewirkende Kraft, eine vis concretiva und hebe sich so über den Naturzustand hinaus, in der die Liebe eine passio sei, impulsiv und von der Vernunft ungesteuert. Je weniger das Bestreben sich auf einen einzigen Gegenstand oder eine einzige Person richte, je mehr Menschen die Liebe einschließe, desto mehr bringe die Liebe das Gute hervor.1247 Thomas stellt eine aus der Familie hinausführende, sozial erweiterbare Liebe vor, die auch jenseits religiöser Gebote walten kann und den Zusammenhalt der Menschen im Staat bewirkt. Sofern Thomas die Liebe unter den Begriff der passio subsumiert, womit er sie als Emotion kennzeichnet, ist sie anthropologisch universal und institutionell multi-funktional einsetzbar und kann in höhere Formen, also in eine Aktivität im Staat, überführt werden. Thomas setzt die Liebe ein, damit sie Gutes zu bewirkt und jedes Individuum einer größeren Gruppe eingliedert. Selbst die Motivierung zum Erwerb materieller Güter zugunsten der Mitglieder der Gesellschaft entspringe, so Thomas, aus der gegenseitigen Liebe, die auch ohne Jenseitshoffnung möglich und auch ohne sie notwendig sei. Das bonum commune müsse aber stets mehr geliebt werden als das bonum privatum. Die quantitative Steigerung, die zugleich eine qualitative ist, erhebt die Liebe zur Tugend. An die politische Terminologie schließt Thomas die theologische an. Das christliche Liebesgebot, nicht allein die conditio humana pflanze die Liebe, so Thomas in der Summa contra gentiles, in den politischen Verband ein.1248 Die politische Liebe verlange Mäßigung und Formung durch die Vernunft. Obwohl sie in Analogie zur Liebe Gottes steht und natürlich 1246 Ders., Sentencia libri Ethicorum, S. 34–37. 1247 Ders., Summa theologiae, prima pars quaest. 20, art. 1 (Opera Omnia 4), S. 252f. und Prima secundae partis, quaest. 25–28 (Opera omnia 6), S. 183–202. 1248 Ders., Summa contra gentiles, S. 367f.: III, 117.

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angelegt sei, bedürfe sie der Formung und Hinführung auf nützliche Ziele; dann sei sie politisch konkretisiert und für den Staat einsetzbar.1249 Thomas stellt in seinem Werk Summa theologiae die menschlichen passiones an den Beginn des Handelns. Ausführlicher als in anderen Schriften untersucht er ihre Wirkungen bis hin zur Vereinigung der Menschen in den Staat. Die Vernunft wird von Thomas gar in eine dienende Rolle gebracht, denn sie sorge dafür, die Ziele zu erreichen, die die passiones vorgeben. Die passio ist der Entstehungsgrund für den Willen, als voluntas bezeichnet. Die Formung durch den Verstand führt zum Impuls, einen bewussten intentionalen Akt zu vollbringen. Die voluntas sei eine Tätigkeit des Intellekts, wohingegen die passio prerational vorhanden, dem Körperlichen verbunden sei. Die passiones unterscheidet Thomas nach ihren Zielen, d. h. nach den Objekten, die sie erstreben oder denen sie ausweichen. Die passio der Liebe richte sich auf ein Gutes; hingegen wehre die passio der Furcht nur ein Übel ab. Ruedi Imbach charakterisiert die passiones, wie sie von Thomas begrifflich eingeführt sind, als »moteur de toute action humaine«; sie seien Ursachen und Motivierungen menschlicher Taten.1250 Die Liebe, eine der passiones, dränge, so führt der Aquinate aus, auf Vereinigungen zwischen Mann und Frau in der Familie und zwischen den Bürgern in den geselligen Vereinigungen bis hin zu den durch Institutionen vermittelten Großgemeinschaften, einschließlich des Staates. Die Liebe ist institutionell omnipräsent.1251 In seinem Politikkommentar stellt Thomas neben den Begriff des impetus denjenigen des appetitus, der mehr als einen physikalischen einen psychischen Vorgang beschreibt. Er walte in allen sozialen Beziehungen und binde die Herrscher an ihr Volk und umgekehrt dieses an ihn, damit so der Übergang gelinge von der kleinen communitas, womit offensichtlich die menschliche Nahgemeinschaft mit unmittelbarer Kenntnis aller Mitmenschen gemeint ist, zur umfassenden civitas, in der der Zusammenhalt jenseits des unmittelbaren Kontakts starker institutioneller, aber auch starker emotionaler Bindungen bedürfe. Das Instrument der Einwirkung sei die communicatio, die, so wie schon bei Albertus Magnus, Thomas als Emanation von Freundschaft und Liebe vorstellt, die aber doch von ihnen unterschieden ist, weil sie genuin politisch ist, d. h. erst in großen sozialen Verbänden besteht.1252 Der anthropologische Optimismus von Thomas zeigt sich am deutlichsten in 1249 Ders, Summa theologiae (Opera omnia 8), Rom 1895, S. 211f.: Sec sec., quaest. 26, art. 3; Ders., Quaestiones de Quodlibet, Bd. 2 (Opera omnia 25,2), Rom 1996, S. 187–189: I, 4.3. 1250 Ruedi Imbach, Physique ou m8taphysique des passions? Les passions antiques et m8di8vales, in: Critique 63 (2007), S. 23–36, S. 30. 1251 Thomas von Aquin, Summa theologiae (Opera omnina 6), Rom 1891, S. 188–202: Prima sec. q. 26–28. 1252 Ders., Sententia libri politicorum, S. 73 f, 82, 120, 124–129.

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der Schrift Contra gentiles. Er schreibt: »Die gegenseitige Liebe ist allen Menschen natürlich. Ein Zeichen dafür ist, dass der Mensch mit Naturinstinkt jedwedem anderen Menschen, auch dem unbekannten, zu Hilfe kommt (…), in dem Sinne, als wäre jeder Mensch jedem anderen durch die Familie und durch Freundschaft verbunden.«1253 Jedwede Liebe ist den Menschen eigentümlich, gerade auch die Liebe auf Distanz; innige familiäre, freundschaftliche oder nachbarschaftliche Verbindungen sind aufgebrochen; die Liebe ist ausgedehnt; sie eignet sich auch für Beziehungen, die keines unmittelbaren Kontaktes bedürfen. Der Einsetzung in den politischen Verband ist ihre höchste Form. Die Liebe überschreitet aber die Grenzen des Staates. In der Form eines »als ob« , also in Analogie zur Liebe im Nahbereich, wächst die Liebe aus den intimen Lebensbereichen hinaus und weitet sich zu einer allgemeinen Menschenliebe. Die umfassende Liebe überschreitet auch die Christenheit. Dies ist auch in der Summa theologiae ausgeführt. Die Verbindung von Mann und Frau in der Ehe und die Sorge um die Kinder seien natürlich eingerichtet und sie drängten – Thomas spricht von einer inclinatio naturalis – zur Erweiterung und zu Verbindungen in größeren Gemeinschaften. So wird die Anwendung der Liebe konkretisiert. Diese inclinatio ist als natürlicher Trieb gekennzeichnet, seien doch, wie Thomas anders als Albertus Magnus meint, die Tiere ebenso von ihm angeleitet wie die Menschen, weil sie alle von Gott mit Seelenkräften ausgestattet seien. Beim Menschen indes, im Unterschied zu den Tieren, trete die Vernunft hinzu, um der natürlichen Neigung oder dem natürlichen Antrieb Richtung und Ziel zu weisen. Die natürliche Disposition der Menschen – beruhend auf Liebe und Vernunft – bewirke, die Gesetze im Staat zu befolgen. Diese Disposition, die Thomas außer mit inclinatio auch mit appetitus bezeichnet, sei so wirkmächtig, dass sie ähnlich wie die Gesetze wirke, um die Glieder des Staates zu vereinen und um sie auf ein gemeinsames Ziel, die Herstellung des allgemeinen Wohls, hinzuführen, ohne dass die Gesetze stets durch Zwang angewendet werden müssten. Die Gesetzgebung solle sich diese der Existenz des Menschen eingegebene Voraussetzung zunutze machen, um nicht allein durch Furcht und Drohung die Menschen zusammenzubringen. Thomas erachtet es als möglich, dass bei einer moralischen Vervollkommnung der Menschen, die durch die ungetrübte Verwirklichung der Natur des Menschen zustande komme, die Strenge der Gesetze geringer werden könne.1254 Die von Menschen gemachten positiven Gesetze unterlägen dem allgemeinen Gesetz, das auf der natürlichen Bereitschaft beruhe, das menschliche Zusammenleben zu ordnen. Gesetze sind

1253 Ders., Summa contra gentiles, S. 367f.: III, 117. 1254 Ders.,, Summa theologiae, prima secundae pars (Opera omnia 7), 149–192.

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somit Emanationen von zugrundeliegenden humanen Anlagen.1255 So vereinen sowohl Gesetze als auch Liebe die Menschen im Staat. Das Streben nach dem persönlichen Nutzen hat Thomas gerechtfertigt. Es ist sogar die Voraussetzung dafür, dass ein Streben nach einem Nutzen für alle möglich ist. Aber mehr als gemeinsame Interessen sind aufgerufen. Thomas sucht in der Summa theologiae die Frage zu beantworten, ob der Mensch sich selbst mehr als den Nächsten lieben soll. Die Frage führt zu Weiterungen, die die Ordnung des Gemeinschaftslebens betreffen und die Liebe eng an das Politische heranführen. Der Nächste werde geliebt secundum rationem societatis. Die Liebe stellt der Aquinate in einen innerweltlichen Begründungszusammenhang. Sie dient der sozialen und politischen Ordnung, und sie entsteht aus ihr. Das Gemeinschaftsleben in geordneter Verfassung sei der Grund der Liebe: Consociatio autem est ratio dilectionis. Die gesellschaftliche Bindung ist aufgewertet, wenn sie in einem weiteren Argumentationsschritt zu Gott hingeführt wird: secundum quandam unionem in ordine ad Deum.1256 An anderer Stelle in der Summa verbindet Thomas die Liebe eng mit der Freundschaft; beide entspringen der Natur des Menschen; beide machen es möglich, die Nahbeziehungen zu erweitern; jeder Mensch ist jedes anderen Menschen Freund und mit ihm in einer allgemeinen Liebe verbunden: Omnis homo naturaliter omni homini est amicus quodam generali amore.1257 Die Freundschaft trägt die Zeichen, die die Liebe – als amor bezeichnet – mittels der Worte und der Taten vorführt. Die Bindungen zwischen den Menschen, die von der Natur hervorgebracht und, falls nicht pervertiert, auch verwirklicht sind, müssen sozial geordnet werden: Opportet autem hominem convenienter ad alios homines ordinari in communi conversatione.1258 Angemessenheit, Ordnung, Gemeinschaft und Kommunikation im Staat bestehen, wenn die Zusammenführung der Menschen rechtlich gestaltet wird. Das wichtigste Ziel des menschlichen Gesetzes ist für Thomas daher die Herstellung von gegenseitigen Freundschaften unter den Menschen. Er diskutiert explizit die Frage, ob die Freundschaft die Gerechtigkeit voraussetzt und, wenn ja, einer institutionellen Normierung bedarf. Die Antwort auf beide Fragen ist positiv.1259 Die Voraussetzung ist auch in umgekehrter Richtung gültig. Ohne Freundschaft, genauso wie ohne Beachtung der Wahrheit könne die Gesellschaft der Menschen nicht gerecht sein und nicht einmal dauerhaft existie1255 Ders., Summa theologiae (Opera omnia 6), Rom 1891, S. 273f.: Prima sec, quaest. 41, a. 2– 3; Ders., Summa theologiae (Opera omnia 7), Rom 1892, S. 154, 175–179, 183–202, 276– 282: Prima sec., quaest. quaest. 91, a. 2; quaest. 95, a. 2; a. 4. 96. quaest. 99. a. 4; quaest. 106, a. 4; quaest. 107. 1256 Ders., Summa theologiae (Opera 8), S. 213; Sec. sec, q. 26, art. 4. 1257 Ebda., S. 441: Sec. sec, q. 114, art. 1. 1258 Ebda., S. 441. 1259 Ders., Summa theologiae (Opera 6), S. 200, 204; Classen, Friendship, S. 37–39.

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ren.1260 Die Kette von Liebe, Freundschaft, Gesetz, Gesellschaft, zwingender Gewalt und Herrschaft ist eng geknüpft. Die in der Natur des Menschen angelegte gegenseitige Liebe und Freundschaft bedürfen einer Ordnung des Staates, die durch die menschlichen Gesetze eingerichtet wird. Thomas lehnt eine Übereinstimmung von Haushaltung und Staat ab, gerade weil er die Autonomie der familiären Existenz gewahrt sehen will. Indes stellt er Haushalt und Staat nicht wie von der aristotelischen Vorlage vorgeben und bei Albertus Magnus ausgeführt diametral entgegen hinsichtlich der Unfreiheit, bzw. der Freiheit ihrer Mitglieder.1261 Im Ethikkommentar knüpft Thomas die emotionale Verbindung zwischen Familie und Staat besonders eng und sieht in ihr ein Verhältnis der Freiheit. Die väterliche amicitia gleiche der königlichen, familiäre Beziehungen drängten in das Tätigkeitsfeld des Staates. Liebe treibe dazu an.1262 Diese Auffassung ändert Thomas dann aber in den letzten von ihm verfassten Schriften, in denen er stärker die Lebensbereiche von Familie und Staat unterscheidet. Er verbindet mit der politischen Existenz und Aktion eine ihnen eigene Verfahrensordnung und Ethik. Thomas unterscheidet in seinem Politikkommentar zwischen dem Individuum als Mensch und als Bürger. Durchaus sei es möglich, dass jemand ein guter Bürger sei, ohne die Eigenschaften zu haben, die einen guten Menschen auszeichnen. Thomas entfaltet eine Tugendethik, die unterschiedliche Anforderungen je nach Anwendungsbereichen vorsieht. Der König müsse, um seinen Aufgaben nachzukommen, seine Untertanen an Tugend übertreffen, sonst verfehle er seine Pflicht, sie zur Tugend anzuleiten. Die Anstrengung, Tugend zu erlangen, die bei allen anderen Menschen nur das eigene Selbst betreffe, erfasse beim König außer ihn auch noch alle Menschen im Königreich. Der Überschuss an Tugend ist zunächst quantitativ, in einem zweiten Schritt auch qualitativ und personal distinktiv und soll als Nutzen dem Gemeinwesen zufließen, ohne aber diesen Überschuss an Aufgaben und Tugenden den Nutzen für alle tatsächlich zu garantieren. Thomas verlässt daher die auf Tugenden basierende Argumentation, um zu einer Verfahrensordnung überzuleiten. Denn er misstraut der persönlichen Eignung der Könige. Ein König sei nicht zwangsläufig ein guter Mensch; jedenfalls leite sich die tatsächliche Macht einer Person nicht aus dem moralisch Guten ab. Selbst die Prämisse, dass die Monarchie die beste Regierungsform sei, zieht nicht die Folgerung nach sich, dass der beste Mensch sie leite, nicht einmal dass er sie leiten solle. Das Funktionieren einer guten Herrschaft bedürfe anderer Mittel als die der individuellen 1260 Thomas von Aquin, Summa theologiae (Opera 8), S.442: Secunda secundae, q.114, art. 2. 1261 Martin Rhonheimer, Natur als Grundlage der Moral. Die personale Struktur des Naturgesetzes bei Thomas von Aquin. Eine Auseinandersetzung mit autonomer und teleologischer Ethik, Innsbruck, Wien 1987; Simon, Policey, S. 32–34. 1262 Thomas von Aquin, Sententia libri ethicorum, S. 441–444, 472f., 476f., 481–486.

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Vollkommenheit, die den Menschen ja ohnehin unzugänglich sei. Vielmehr seien Gesetze zu befolgen, um die Königsherrschaft auf den rechten Weg zu halten und sie vor dem Abgleiten in die Tyrannei zu bewahren. Eine Aufgabenteilung müsse eingeführt werden, um die Last der Leitung des Staates mehreren aufzuerlegen und um die ungezügelte Durchsetzung des Willens eines einzigen Menschen zu verhindern.1263 In seinem letzten Werk De regno untersucht Thomas am deutlichsten die Notwendigkeit einer institutionellen Ordnung und schwächt die Emotionen als Entstehungsgründe des Guten noch weiter ab. Die Schrift schrieb er kurz vor seinem Tod; anders als die meisten anderen seiner Texte ist sie nicht in der Form von Quaestiones formuliert. Die Schrift gilt als Fürstenspiegel. Sie gibt sich als Belehrung für den zypriotischen König Hugo aus, vermutlich für Hugo III. Wahrscheinlich hat die auf Kreuzzug und Sicherung christlicher Herrschaft ausgerichtete Thematik eine stärkere theologische Tonalität hervorgerufen und den Staat – anders als in seinen früheren politiktheoretischen Schriften und Passagen – kirchlicher Aufsicht unterstellt.1264 Gleichwohl entfaltet Thomas auch in diesem Spätwerk die aristotelische Konzeption der Selbstimmanenz des Politischen. Der Staat ist dafür eingesetzt, ein gutes Leben, bene vivere, zu ermöglichen. Dies schließt die Bereitstellung der materiellen Güter und der Versorgungsleistungen ein, einbegriffen die medizinischen Dienstleistungen zugunsten der Bürger. Materielle Güter zu erzeugen und zu verteilen, sind für Thomas hinreichende Gründe für die Herrschaft. Sie sind aber nicht ihre ausschließlichen und hinreichenden Ziele, denn sie richten sich außerdem auf das tugendhafte Leben und schließlich auf das ewige Leben.1265 Thomas verteidigt darum nicht weniger den Wert einer politischen Handlung und Verfassung, die das diesseitige Lebens und dessen materielle Ausstattung verbessert. Der Staat ist auch eine Versorgungsanstalt. Dem König sind Aufgaben auferlegt. Gehen aber die persönlichen Eigen1263 Ders., Sententia libri politicorum, S. 192–196; Ders., De regno, S. 455, 461f.; Renna, Aristotle, S. 310; Riklin, Die beste politische Ordnung, S. 22f.; James M. Bythe, Ideal Government and the Mixed Constitution in the Middle Ages, Princeton 1992, S. 49f., 54– 56; Jakob Hans Josef Schneidt, Thomas von Aquin und die Grundlegung der politischen Philosophie in De regno, in: Rechts- und Sozialphilosophie, S. 47–66; Hans-Joachim Schmidt, König und Tyrann. Das Paradox der besten Regierung bei Thomas von Aquin, in: Liber amicorum necnon et amicarum für Alfred Heit. Beiträge zur mittelalterlichen Geschichte und geschichtlichen Landeskunde, hrsg. v. Friedhelm Burgard, Christoph Cluse, Alfred Haverkamp (Trierer Historische Forschungen 28), Trier 1996, S. 339–357. 1264 Thomas von Aquin, De regno, S. 466: dort eine Erörterung zur Unterstellung der christlichen Herrscher unter die Priester und den Papst; Christoph Flüeler, Mittelalterliche Kommentare zur Politik des Aristoteles und zur pseudo-aristotelischen Oekonomik, in: Bulletin de philosophie m8di8vale 29 (1987), S. 193–239; Miethke, De potestate papae, S. 30f. 1265 Thomas von Aquin, De regno, S. 449–451.

Von den Emotionen zur Ordnung: Thomas von Aquin

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schaften mit den Aufgaben konform? Thomas schreibt, dass die Befähigung eines Individuums – auch des Königs – zur Herstellung eines allgemeinen Guts notwendigerweise beschränkt und deswegen ungenügend sei, weil die Menschen, bedingt durch die Natur der menschlichen Gattung und der einzelnen Individuen, verschieden seien, unterschiedliche Fähigkeiten entwickelten, verschiedenen Pflichten nachkommen müssten, andersgeartete Tätigkeiten ausübten, verschiedenen Gebrauch von ihrer natürlichen Vernunft machten, von vielfältigen Motiven (Reichtum, Ruhm, Macht) angetrieben seien und folglich viele Fähigkeiten besäßen, aber eben auch vieler entbehrten. Studium und actio, zu verstehen als Theorie und Tätigkeit, seien individuell unterschiedlich vorhanden und folgten nicht einer anthropologischen Einförmigkeit. Eine für alle gleiche Ethik im Staat sei daher fehl am Platz, auch wenn alle dasselbe Ziel, ihr eigenes Wohl, anstrebten und deswegen bereit seien, sich für das allgemeine Wohl einzusetzen, was aber auf verschiedenen Wegen und geschieden nach sozialer Position und je nach persönlicher Disposition erfolgen müsse.1266 Thomas setzt zwar den affektiven Gehalt der politischen Vereinigung voraus, unterstellt aber stärker noch als in seinen früheren Schriften die Liebe und die Furcht einer rationalen Ordnung der Herrschaft. Er fordert die Bändigung individueller Wünsche und Antriebe. Dies gilt auch für den König. Er sei in ein Gefüge moderierender Einwirkungen aufzunehmen, um die Abirrung der besten Regierungsform, der Monarchie, in die schlechteste, die der Tyrannei, abzuwenden. Sie sei deswegen schlimm, weil sie Furcht erzeuge, was verhindere, dass die Menschen Vertrauen schöpfen könnten, so dass eine verlässliche Zuversicht über ihr künftiges Handeln und das ihres Herrschers ausgeschlossen sei. Die Unberechenbarkeit und Willkürlichkeit des Tyrannen zerstörten jede soziale Praxis, d. h. ein gemeinsames Handeln, ja selbst ein isoliertes Handeln, durch die die Menschen Ziele für ihre private Lebensgestaltung zu erreichen suchten und die Chance hätten, sie auch zu erreichen. Sie unterhöhle insbesondere jede Freundschaft. Sie sähe Misstrauen. Dann könne den Untertanen nichts gelingen.1267 In dieser letzten Schrift von Thomas ist der Furcht jegliche positive Bewertung vorenthalten. Die Inhibition von Handlungen ist ihr Makel. Die lenkende Institution, die alle Menschen zusammenführe und die deren Einzelinteressen zugunsten eines Gesamtwohls zurückdränge, sei stets der Gefahr ausgesetzt, so warnt Thomas, eigensüchtige Ziele anzustreben. Die Einzelherrschaft führe zu einer Optimierung der Macht, der allzu leicht das Ziel, nämlich das allgemeine Wohl zu fördern, entgleite. Die Lösung des Dilemmas hinsichtlich der Bewertung der Einzelherrschaft sieht Thomas in der Schrift De 1266 Ebda., S. 449. 1267 Ebda., S. 453.

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Das allgemeine Wohl und die Verbindung von Herrschern und Bürgern

regno indes nicht in einer moralischen Perfektionierung des Herrschers, sondern in einer normativen, freilich nicht rechtlich fixierten Ordnung, die Macht begrenzt und damit die Impulse des Königs hemmt. So werde ihm die Gelegenheit, Tyrann zu werden, entzogen.1268 Wie schon zuvor in der Summa theologiae verlangt Thomas in der Schrift De regno die Mitwirkung der Großen und Erfahrenen an der Machtausübung.1269 Thomas sieht aber keine rechtlich definierten Gegengewalten, keine Gewaltenteilung vor, stattet die Kooperationspartner des Königs nicht mit Kompetenzen aus. Es ist vielmehr eine Beratung, die auch als Anleitung verstanden werden kann, die den König auf dem rechten Weg halten soll, damit er sein Eigeninteresse hinter das allgemeine Wohl zu stellen vermag. Aber das Problem, wie der König zur Verwirklichung des allgemeinen Wohls bewegt wird, verlangt überzeugendere Antworten. Thomas erachtet in einem weiteren Argumentationsschritt die Liebe der ewigen Glückseligkeit im Jenseits als die bewegende Kraft, die den Herrscher zum guten Tun motiviert. Von dieser ist der Monarch angestoßen, um die großen Anstrengungen auf sich zu nehmen, andere Menschen zu ihrem Glück und durch sein Vorbild ebenfalls zum Seelenheil zu führen. Sah Aristoteles das Streben nach Ruhm und Ehre als Beweggründe des Herrschers an, um zugunsten des Gemeinwohls zu wirken, so verwirft Thomas explizit diese Auffassung und setzt das Streben nach dem ewigen Heil zur Motivierung ein. Die beatitudo der erlösten Seele ist die Belohnung. Sie erwartet den guten König im Jenseits.1270 Belohnung gibt es aber auch schon – abgeschwächt – im Diesseits, wenn die Liebe der Untertanen für den König und die des Königs für die Untertanen die Herrschaft beständig halten: Ex hoc amore provenit quod bonorum regum regimen sit stabile.1271 Die Liebe unterstützt und formt die Herrschaft der guten Könige. In dieser Schrift ist die Liebe aber anders als in den früheren Werken nicht als eine die Gesellschaft umfassende und allgemein erfassende und bewegende Kraft und als eine Verursacherin des Guten im sozialen und politischen Leben vorgestellt, sondern hier in eingeschränkter Bedeutung als Motivator des Handelns, als Instrument der Loyalität, als Garant des Machterhalts. Die Liebe bewirkt nicht den Zusammenhalt im Staat, sondern das Handeln der Individuen. Aus der Liebe entspringt nicht die Institution, sondern die Aktion. Thomas entwirft in der Schrift ein Ideal; daher verwendet er häufig Konditionalsätze und sieht seine Konzeption nicht als Beschreibung einer tatsächli-

1268 Ebda., S. 455. 1269 Ders., Summa theologiae (Opera omnia 7), Rom 1892, S 262f.: Prima sec, quaest 105, a. 1; Ders., De regno, S. 455. 1270 Ders., De regno, S. 458. 1271 Ebda., S. 461.

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chen Regierungsgewalt an, nicht einmal der gerechten.1272 Die Verwirklichung des Ideals gelingt nicht durch den moralischen Appell, weniger – als in den früheren Schriften ausgeführt – durch die Aktivierung der natürlichen Antriebe, sondern durch die religiöse Motivierung und durch die institutionelle Regulation. Der anthropologische Optimismus tritt zurück und lässt Platz für eine normative Optimierung. Monarchie und Tyrannis sind nicht bestimmt durch den Gegensatz von Liebe und Schrecken, die Unterscheidung der Verfassung beruht auch nicht auf den moralischen Qualitäten von Herrschern, sondern darauf, ob eine Ordnung der Kooperationen ermöglicht wird. Die De-potenzierung des Herrschers sollte eine solche Ordnung garantieren, um sie vor den möglichen Verfehlungen des Herrschers abzuschirmen. So gelingt auch die Potenzierung der Herrschaft, die beständig gehalten wird. Da die politische Organisation wegen der Schwäche der Menschen, die Mängelwesen sind, notwendig ist, ist es nur folgerichtig, sie nicht aus der Stärke der Herrscher hervorgehen zu lassen und diese Stärke nicht als Garant für die gute Ordnung vorzusehen. Zur Motivierung der guten Regierung winkt eine Belohnung im Jenseits. Politisch relevant ist ein Gefüge von Institutionen empfohlen, das funktioniert dank der Zuversicht aller, dass jeder seine eigenen Anliegen nur in Zusammenarbeit mit anderen verwirklichen kann. Das Zutrauen in das gute Gelingen der staatlichen Ordnung entsteht nicht aus der Tugend der Menschen, sondern aus der Anerkennung von deren Schwächen. Aber nicht pädagogische Interventionen, sondern politische Konsultationen sind vorgesehen, um die Schwächen des Herrschers zu korrigieren. Was aber geschehen könne, wenn er sich als beratungsresistent erwiesen sollte, hat Thomas nicht ausgeführt. Er schließt Ungehorsam, Widerstand, Absetzung oder gar Tötung gegenüber dem Tyrann aus. Thomas warnt, dass die Absetzung eines Tyrannen nur zu noch schlimmeren Zuständen führen würde. Er revidiert damit seine Auffassung, die er in einer seiner frühesten Schriften, den Sentenzenkommentaren, in Erwägung gezogen hatte, nämlich dass es erlaubt sei, einem Tyrannen den Gehorsam zu entziehen.1273

1272 Anders die Akzentuierung bei Wolfgang Stürner, Peccatum, S. 153. 1273 Thomas von Aquin, De regno, S. 455f.; Ders., Scriptum super secundo sententiarum, Venedig 1498, II, dist. 44, qu. 2, art. 2, obiec.

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4.

Das allgemeine Wohl und die Verbindung von Herrschern und Bürgern

Die Überwindung der Herrschaft durch Emotionen: die dominikanische Politiktheorie

Thomas von Aquin hat an seinem Lebensende seinen Fürstenspiegel nicht zu Ende schreiben können. Sein Ordensbruder Ptolomaeus von Lucca († 1327) setzte ihn zu Beginn des 14. Jahrhunderts fort und setzte die Tendenz zur institutionellen Regelungsdichte fort. Er entfernte sich folglich von der Thematik eines Fürstenspiegels und legte der Königsgewalt weitere Schranken auf, die er anders als Thomas rechtlich präzisierte. Er entfaltete das Ideal der gemäßigten Königsherrschaft, bei der die Institutionen der Monarchie nicht allein Konsultativorgane, sondern gesicherte, rechtlich abgestützte Gegengewalten bilden sollten. Ptolomaeus schrieb, dass Herrschaft in jeder menschlichen Gesellschaft vorhanden sei. Er deutet sie nicht als Ergebnis des Sündenfalls, vielmehr leitet er sie allein von der Natur des Menschen ab. Aber die Erbsünde behält doch noch eine politische Auswirkung: Die Herrschaft bediene sich nach der Vertreibung aus dem Paradies der Gewalt und der Furcht. Nicht also ihre Existenz hat der Sündenfall hervorgerufen, aber ihre Ausübung hat er verändert. Als Folge von ihm stehe außerdem die Herrschaft in Gefahr, zur Tyrannei zu werden, während vor dem Sündenfall Herrschaft stets mit Liebe ausgeübt worden sei. Aus der zeitlichen Distinktion folgt eine definitorische Differenz. Aber sie ist nicht unausweichlich. Tyrannei könne verhindert werden, wenn die Herrschaft dem Recht unterstellt werde, schreibt der Autor. Aber den einstigen Zustand liebender Herrschaft wieder einzurichten, schließt Ptolomaeus aus. Politische Führer müssten statt durch Liebe durch Gesetze gebunden sein. Diesem Ideal widerspreche eine zu große Macht der Könige, die in ihrer Brust die Gesetze verbergen, statt sie zu verkünden, und auf diese Weise nach ihrem Gutdünken Recht sprächen, mitunter auch entgegen dem Wortlaut und dem Sinn der geschriebenen Gesetze. Nicht aufgrund der Tugend eines einzelnen Herrschers, so meint Ptolomaeus, sondern aus dem Vollzug der Rechtsordnung entspringe die gute Herrschaft. Liebe zwischen Herrschern und Untertanen gebe es nicht, und sie sei auch nicht notwendig.1274 Auf der Rechtsordnung beruht der gut geführte Staat. Herrscher sollten, schrieb Ptolomaeus, durch Wahl und nur für eine begrenzte Zeit für ihr Amt bestimmt werden; sie seien in allen Dingen den Gesetzen unterworfen; nach ihrer Amtszeit seien sie für alles rechenschafts1274 Der Text ist ediert in: Thomas von Aquin, Opuscula, S. 3–170; Stürner, Peccatum, S. 207– 209; Charles Till Davis, Ptolomy of Lucca and the Roman Republic, in: Proceedings of the American Philosophical Society 118, 1974, S. 30–50; Anthony Black, Political Thought in Europe 1250–1450, (Cambridge Medieval Textbooks), Cambridge 1992, S. 122f., 199; James M. Blythe, Ideal Government and the Mixed Constitution in the Middle Ages, Princeton 1992, S. 95–109.

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pflichtig; die legislative Kompetenz komme nicht ihnen zu, sondern die multitudo habe sie. Kurze Amtszeiten und die Verteilung der Macht auf viele Ämter ermöglichten, dass viele befähigte und tugendhafte Bürger in die Lage versetzt würden, sich am Regiment des Gemeinwesens zu beteiligen, sich für das Wohl aller einzusetzen und dadurch Ehre zu erwerben. Eine Schrift, die die Monarchie zu untersuchen ansetzte, verwandelte Ptolomaeus schließlich in eine Apologie des republikanischen Gemeinwesens um, wie er es aus seiner mittelitalienischen Heimat kannte. Nur in Gegenden und bei Völkern, in denen die Menschen wenig Zutrauen zu sich und ihrer Vernunft hätten, ungebildet seien und wenig ihre Antriebe zügeln könnten, seien Königsherrschaft und Despotie berechtigt. Anders hingegen dort, wo freie und sich selbst anleitende Menschen lebten; sie lehnten es ab, sich dem Willen anderer zu unterwerfen; sie bräuchten keinen mächtigen Alleinherrscher. Dies beweise die Verfassung vieler Städte in Italien.1275 Die arbiträre königliche Vollgewalt hat Ptolomaeus offensichtlich als Ausnahme erachtet, die überwunden werden könne und einer zivilisierten Gesellschaft unangemessen sei, in der die Gesetze und die Tugend der Bürger das Gemeinwesen leiteten, ohne dass die Furcht vor Strafe und der Schrecken der Mächtigen zu seinem Zusammenhalt eingesetzt würden.1276 Tugend ist nicht dem Herrscher abverlangt, wohl aber den Bürgern. Die Furcht ist Kennzeichen eines Mangels und eines Makels. Die Liebe des Herrschers ist ebenfalls entwertet; sie öffnet das Tor zur Willkür. Dem Herrscher soll die Verbreitung sowohl von Furcht als auch Liebe verwehrt sein, denn die Bürger – sofern sie tugendhaft sind – bedürfen ihrer nicht. In einer weiteren Schrift, die die Rechte des Kaisers beschreibt, bekräftigt Ptolomaeus von Lucca die Auffassung, dass das gute Regiment mehr gute Eigenschaften von den Untertanen als vom Herrscher verlange. Aber der Autor ändert nun in einem entscheidenden Punkt seine Meinung. Er verbindet die politische Organisation mit einer besonderen Form der Liebe, die er als amor patriae bezeichnet und die eine große politische Gemeinschaft umspannt. Sie bindet also nicht bilateral die Untertanen an den Herrscher. Ptolomaeus nähert sich aber doch wieder der Auffassung, dass die auf Liebe beruhende Gemeinschaft nur als Vorstufe zu einer besseren Verfassung sei, die die traditio legum begründe, die also durch eine Rechtsordnung bestimmt sei. Sie könne schließlich noch durch einen dritten Zustand übertroffen werden, der auf einer ethischen Begründung beruht: Die morum benivolentia führe zum guten Handeln; offensichtlich soll es durch Einsichtsfähigkeit der Bürger geleitet werden, die

1275 Zitiert nach Thomas von Aquin, Opuscula omnia necon minora, hg. v. Joannes Perrier, Bd. 1: Opuscula philosophica, Paris 1949, S. 3–17, 49–52, 116–20, 132ff. 1276 Ebda. S. 221–445, S. 283f., 288f., 294–296, 310–312, 322.

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Tugenden verwirklichen.1277 Ptolomaues führt aus, dass die Bürger auf allen drei Stufen der guten politischen Organisation nicht auf die Liebe eines Herrschers angewiesen seien, die willkürlich gewährt oder entzogen werde. Der Zusammenhalt der Bürger beruhe hingegen – in aufsteigender Wertung – auf deren gegenseitiger gemeinschaftlicher Liebe, auf gemeinsamen Anliegen, auf der freiwilligen Unterwerfung unter selbst festgelegte Gesetze und auf der Einsicht in die Notwendigkeiten des Zusammenlebens. Brunetto Latini, Marsilius von Padua, Jakob von Viterbo und Leonardo Bruni haben den Gang der theoretischen Überlegung dann noch stärker in Richtung einer in den Stadtkommunen sich entfaltenden Herrschaft der vielen gelenkt und die Liebe und die Freundschaft zwischen den Bürgern, nicht aber zwischen ihnen und einem Mächtigen herausgestellt und dabei auch die Möglichkeiten eines historischen Perfektionierungsprozesses vorgesehen.1278 Weitere dominikanische Autoren knüpften an die politische Philosophie von Thomas von Aquin an, und auch sie drängten die Liebe aus den Herrschaftsverhältnissen heraus. Dies gilt auch für Jean Quidort de Paris (ca. 1260–1306). Er trat 1290 in den Dominikanerorden ein, studierte und lehrte an der Universität Paris, war dort seit 1304 Magister der Theologie, verteidigte in mehreren Schriften die Berechtigung seines Ordens sowie die Lehre von Thomas von Aquin und nahm entschieden Partei in dem Streit zwischen dem französischen König Philipp IV. und Papst Bonifaz VIII. Dieser Streit gipfelte 1302 in dessen Deklaration Unam Sanctam zum Anspruch weltlicher Oberherrschaft durch die Päpste und der Gefangennahme des Papstes durch Beauftragte des Königs im folgenden Jahr. Jean Quidort reagierte auf diesen Konflikt mit seiner politiktheoretischen Schrift De regia potestate et papali, die er wohl unmittelbar nach diesen dramatischen Ereignissen verfasste; jedenfalls setzten Rezeption und Auseinandersetzung mit dieser Schrift nach 1303 ein. Er behandelt in seiner Schrift die Frage, wie die Aufgabenteilung von geistlicher und weltlicher Gewalt beschaffen sei, bzw. sein müsse. Die Position des französischen Königs Philipp IV. in dessen Kampf mit Papst Bonifaz VIII. unterstützend, entfaltet Jean Quidort eine Theorie, die eine hierarchische Unterordnung unter eine der beiden Gewalten ausschließt. Da in der politischen Ordnung Konkurrenz und Antago1277 Ptolomaeus von Lucca, Determinatio compendiosa de iurisdictione imperii, hg. v. Mario Krammer (MGH Fontes iuris Germanici antiqui in usum scholarum separatim editi 1), Hannover, Leipzig 1909, S. 42; die Schrift gilt als authenisches Werk von Ptolomaeus; James M. Blythe, The Life and Works of Tolomeo Fidani (Ptolomy of Lucca), Turnhout 2009, S. 141–149. 1278 Gerhard Dilcher, Kommune und Bügerschaft als politische Idee der mittelalterlichen Stadt, in: Pipers Handbuch der politischen Ideen, hg. v. Iring Fetscher, Herfried Münkler, Bd. 2: Mittelalter : Von den Anfängen des Islams bis zur Reformation, München, Zürich 1993, S. 311–50; Meier, Mensch.

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nismus vorherrschten, sei es nicht möglich und nicht einmal wünschenswert, Liebe als Grundlegung des Staates vorauszusetzen. Liebe könne vielmehr allein in den Beziehungen der Christen als Glieder der Kirche bestehen. Die Unterwerfung unter eine Königsherrschaft sei territorial begrenzt und erfasse daher nur einen Teil der Menschheit und auch nur partiell die Christenheit und überlasse die Beziehungen zwischen den Königreichen dem Kampf, der Liebe ausschließt und sie auch im Innern der Reiche verhindere. Jean Quidort schreibt: »Keineswegs ergibt sich aus dem göttlichen Recht für die gläubigen Laien eine Unterordnung unter einen einzigen höchsten weltlichen Monarchen.«1279 Um die Legitimität der Herrschaft zu beweisen, verweist er auf die natürliche Notwendigkeit von weltlicher Herrschaft, die bereits vor der Ankunft und dem Wirken Christi auf Erden bestanden habe, und allein kraft dieses historischen Befundes, unabhängig von dem christlichen Gebot der Liebe, rechtmäßig existiert habe und weiterhin existiere. Liebe sei für die weltliche Herrschaft nicht vorgesehen, vielmehr der geistlichen Leitung durch Priester und Bischöfe reserviert. Dilectio et caritas bewirkten die Einheit der Menschen, aber nicht die Unterordnung unter einen Herrscher. Daraus folgt auch umgekehrt, dass in den Lebensbereichen, in denen die Menschen in Liebe verbunden seien, keine weltliche Herrschaft bestehe. Da Herrschaft seit dem Sündenfall wesenhaft mit der Sünde befleckt sei, sei ihre Legitimität nicht an die Erfüllung der Gebote Gottes gebunden und nicht einmal durch die Verwirklichung von Tugenden begründet. Höher sind die Anforderungen gegenüber den Bischöfen und den Päpsten, die, sofern sie entgegen der gebotenen Liebe handelten, ihre Pflicht verletzten, unnütz würden und ihre Position als oberste Geistliche einbüßten. Liebe sei ihren Ämtern eingebunden. Herrschaft ist für Quidort das Ergebnis einer sozialen und politischen Ordnung, die, sofern sie nur verwirklicht ist, bereits hinreichend gut ist und einer Belehrung und Verbesserung nicht bedarf, um erst gut zu werden und um legitim zu sein.1280 Die Existenz de facto bedarf zwar einer Existenz de iure, aber nicht einer ethischen Fundierung, da das Recht durch die Herrschaft geschaffen ist und die Herrschaft auf dem Recht beruht. Der Zirkelschluss mag zwar der logischen Stringenz entbehren, erfüllt 1279 Johannes Quidort von Paris, De regia potestate, S. 81; Joseph R. Strayer, Defense oft he Realm and Royal Power in France, in: Studi in onore di Gino Luzzati, Bd. 1, Mailand 1949, S. 289–296; Joseph R. Strayer, The Reign of Philipp the Fair, Princeton 1980, S. 260–279; Jürgen Miethke, Die Legitimität der politischen Ordnung im Spätmittelalter. Theorien des frühen 14. Jahrhunderts, in: Historia Philosophiae Medii Aevi. Studien zur Geschichte der Philosophie des Mittelalters. Festschrift Kurt Flasch, hg. v. Burkhard Mojsisch, Olaf Pluta, Amsterdam 1991, Bd. 2, S. 643–674; Miethke, Politiktheorie, S. 117–126; Joseph Canning, Ideas of Power in the Late Middle Ages. 1299–1417, Cambridge 2001, S. 5–59; zur Datierungder Schrift: Karl Ubl, Johannes Quidorts Weg zur Sozialphilosophie, in: Francia 30/1 (2003), S. 43–72; Walther, Aegdius, S. 168. 1280 Johannes Quidort von Paris, De regia potestate, S. 108, 134f., 172; Renna, Aristotle, S. 322.

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aber das Anliegen, die theoretische Begründung von Herrschaft von religiöser, ethischer und emotionaler Sinnstiftung abzulösen, sie vielmehr von rechtlichen Regelungen abzuleiten. Eine Verfahrungsordnung schließt eine emotionale Relation aus und lenkt hin zu einer Politisierung von Herrschaft, d. h. Minderung von ethischen Normierungen, die zwar erstrebenswert sind, aber zur faktischen Etablierung der Herrschaft und zu ihrer Legitimierung nichts beitragen. Die Verteidigung der politischen Autonomie scheint paradox zu sein: Gerade weil die Staaten ethisch minderwertig sind, in ihnen keine Tugenden vorausgesetzt werden und keine Liebe waltet, sind von den Anforderungen aus der religiösen Sphäre befreit. Die durch rationale Verständigung geleitete gute Verfassung des Staates war im Milieu dominikanischer Gelehrter gut begründet. Ein Dominikaner, Heinrich von Rimini, über dessen Leben fast keine Informationen vorliegen, hat zu Beginn des 14. Jahrhunderts in einem Traktat zur guten Verfassung der Stadt Venedig die dort hergestellte Zusammenführung unterschiedlicher Verfassungsformen, der der Monarchie, der Aristokratie und der Demokratie, als vorbildlich bezeichnet und den Einsatz von Tugenden unter die Prämisse der Nützlichkeit zugunsten der politischen Ordnung gestellt. Heinrich von Rimini hat in seinem Traktat De virtutibus ad Venetos die Tugenden als prozedurale, indivuduell-mentale und politische Voraussetzungen des guten Tuns in die Verfassung eingestellt. Nicht die Weckung der Liebe aus einer natürlichen Disposition, sondern die Anstrengung zugunsten der Erreichung von Tugenden setzte er voraus. Liebe war für ihn nicht die Quelle der Tugenden. Heinrich stellte die Liebe auch gar nicht erst in Verbindung zum Gemeinwesen. Die vier weltlichen Kardinaltugenden genügten, um den besten Staat – den der Venezianer – zu begründen: Klugheit, Milde, Gerechtigkeit, Kraft. Die theologischen Tugenden Glaube, Liebe, Hoffnung waren nicht Thema des Werkes.1281 Die Schrift, die zahlreich abgeschrieben und mehrmals im 15. Jahrhundert gedruckt wurde, muss als bedeutender Beitrag zur politischen Theorie des späten Mittelalters angesehen werden, ist aber bis heute nicht kritisch ediert und in der Forschung fast unbeachtet.1282 Thomas von Aquin und weitere dominikanische Autoren sahen vor, Macht1281 Heinrich von Rimini, Tractatus de quatuor virtutibus, zu den Handschriften und Frühdrucken: Thomas Kaeppeli, Scriptores ordinis Praedicatorum medii Aevi, Bd. 2, Rom 1975, S. 182f. 1282 Er verfasste einen Traktat De quatuor virtutibus, der ein politisches Programm und zugleich eine politische Rechtfertigung zur – wie der Autor meinte – gemischten Verfassung der Republik Venedig entwickelte und dabei Ethik und Politik eng miteinander verband; Henricus de Arimmano, Tractatus de quatuor virtutibus, Straßburg 1472 (?); Piero Maragon, Principi di teoria politica nella Marca Trevigiana. Clero e comune e Padova al tempo di Marsilio, in: Medioevo. Rivista di Storia della Filosofia Medievale 6 (1980), S. 317–336; Ubl, Engelbert von Admont, S. 104 f, 124f., 135, 235, 250.

Hierarchien und Individuen in göttlicher Harmonie

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fülle zu verkleinern, forderten Kooperationen und Verfahren geregelter Kompetenzabgrenzung, suchten vernunftgeleitete Verfahren zu entwickeln, die dem politischen Handeln und der menschlichen Natur angemessen sein sollten, erachteten normengebundenes Verhalten im Staat als günstig. Trotz der zwischen den Autoren bestehenden Unterschiede zeichnet sich eine gemeinsame Linie insofern ab, als sie von der Kompetenzregulierung offensichtlich beeinflusst waren, die für ihren eigenen Orden verwirklicht war, der ein Gefüge von räumlich und zeitlich begrenzten Kompetenzen errichtete. Die Kontrolle der Konvente und der Ordensmitglieder war kombiniert mit deren Partizipation auf regionaler Ebene und für den gesamten Orden. Eine Verfahrensordnung war etabliert, die persönliche Machtkonzentration ebenso ausschloss wie eine isolierte Existenz des einzelnen Konventes. Die Praxis, die die Ordensverfassung vorsah, formte offensichtlich eine politische Konzeption, die weniger Personen, als Institutionen Normen auferlegte.1283 Die Spezifik einer dominikanischen Politiktheorie lag in der Vorstellung von liebenden Verbindungen zwischen den Menschen, die aber normativ geformt werden sollten, in dem der Natur des Menschen innewohnenden Anstoß zur Errichtung von politischen Einrichtungen, ihrer Einbindung in Regelsysteme und schließlich in der Aktivierung der konzeptionellen Angebote durch die Philosophie von Aristoteles.

5.

Hierarchien und Individuen in göttlicher Harmonie: Konzepte franziskanischer Autoren

Deutlich zurückhaltender waren die Franziskaner, eine Politiktheorie auf der Grundlage von Aristoteles zu entwickeln und die politische Organisation und die weltliche Herrschaft aus genuin den Menschen angelegten Fähigkeiten und Bedürfnissen abzuleiten. Der Franziskanerorden gehörte wie der Dominikanerorden den Bettelorden an; beide entstanden zu Beginn des 13. Jahrhunderts; beide ähnelten einander hinsichtlich ihrer Aktivitäten in der Laienseelsorge, ihrer Integration in das urbane Milieu, ihrer Einrichtung von Studienanstalten und ihrer Implantierung in die Universitäten. Sie entwickelten aber unterschiedliche politische Theorien. Die Franziskaner verwiesen weniger auf eine Naturordnung als vielmehr auf eine unmittelbar von Gott eingesetzte Ordnung, in der die Herrschaft Legitimität erhielt und zugleich ihr Legitimität vorent1283 Georgina Rosalie Galbraith, The Constitution of the Dominican Order, 1216–1360, Manchester 1925; Florint Cygler, Zur Funktionalität der dominikanischen Verfassung im Mittelalter, in: Die Bettelorden im Aufbau. Beiträge zu Institutionalisierungsprozessen im mittelalterlichen Religiosentum, hg. v. Gert Melville, Jörg Oberste, Münster i. W. u. a., S. 385–428.

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Das allgemeine Wohl und die Verbindung von Herrschern und Bürgern

halten wurde. Franziskanischer Autoren verwiesen auf die strukturelle Ähnlichkeit jeder Herrschaft – im Himmel und auf Erden. Sie stellten hingegen die Begründung der Herrschaft durch eine anthropologische Notwendigkeit zurück, sahen die natürliche menschliche Konstitution hingegen eher als Schranke, die der Herrschaft aufzuerlegen sei und weniger als ihre Basis. In welcher Weise die Beziehungen innerhalb des Gefüges der Hierarchien gestaltet sind, haben franziskanische Autoren untersucht, indem sie mehr als die des Dominikanerordens auf religiöse Voraussetzungen, bzw. fehlende religiöse Voraussetzungen verwiesen und daher zurückhaltender waren, einen innerweltlichen Begründungszusammenhang vorzustellen. Mehr als die Dominikaner führten sie die Zehn-Gebote als Basis von Beziehungen unter den Menschen ein. Die Summa Halensis, die Alexander von Hales (1185–1245), einer der ersten Theologen aus dem Franziskanerorden an der Universität Paris, und seine Schüler schrieben1284, unterschied die Herrschaft, die als Emanation himmlischer hierarchischer Ordnung galt, von der Unterjochung, die die Untertanen der Willkür der Herrscher unterwerfen würden, so dass jenen die Möglichkeit geraubt sei, ihren eigenen Willen zu verwirklichen. Vielmehr bestand die Summa Halensis darauf, dass bereits Adam vor dem Sündenfall Herrschaft ausgeübt habe, dass ihm sogar das Begehren nach Herrschaft eigentümlich gewesen sei und diese Herrschaft die Freiheit des Menschen nicht angetastet habe, vielmehr auf Erziehung, Anleitung und Belehrung beruht habe. Diese Herrschaft gilt weiterhin als Modell jeder Herrschaft. Dies verhindere nicht einmal der Sündenfall Adams, so die Summa Halensis. So wie die Nachfahren den Vorfahren untergeordnet seien, so die Untertanen den Herren. Die Summa Halensis hat durch diesen Vergleich aus der Herrschaft einen eigentlich politischen Inhalt herausgenommen und ihre Durchsetzungskompetenz verringert. Konsequenterweise heißt es weiter, dass die Knechtschaft nicht gewaltsam, nicht mittels von Strafen und durch Zwang auferlegt und durchgesetzt werden dürfe, sondern durch Vergünstigung und Liebe: Sed non servitio coacto et poenali, sed servitio gratie et ex dilectione exhibito.1285 Das Vorbild zeigten die Engel. Sie leiteten die Menschen in Liebe zum guten Tun an.1286 Von Politik ist hier keine Rede, aber von der Herrschaft durchaus. Die Summa Halensis sah eine schwache Herrschaft vor. Die Analogie und die Imitation von Herrschaft und Engelshierarchie trugen aber umgekehrt auch das Potential in sich, die Gewalt irdischer Herrschaft zu steigern. Die göttliche Einsetzung der Herrschaft anzuerkennen, ging über ein 1284 Werner Detloff, Alexander Halensis, in: TRG, hg. v. Gerhard Krause, Gerhard Müller, Berlin, New York 1978, S. 245–248. 1285 Alexander de Hales, Summa theologica, II, S. 776; zur Frage der Autorschaft: Basse, Traktat De legibus et praeceptis, S. 298 Anm. 1. 1286 Ebda., S. 153, 252–256.

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Gottesgnadentum der Könige weit hinaus. Gemeinsame Merkmale wurden für himmlische und irdische Herrschaft festgelegt. Es gebe, so die Deutung von weiteren franziskanischen Autoren, Analogien zwischen Engeln und Menschen in der Gestaltung und der Bewirkung von hierarchisch angeordneten Gruppen. Ein weites Panorama von gestuften Positionen und von deren Einflüssen auf niedere Rangordnungen zeigte ein Gesamtgefüge, das Rang und Wirkung, Position und Bewegung gleichermaßen angab und als repetitive Struktur in unterschiedlichen Seinsbereichen einsetzte. Die Texte von Pseudo-Dionysius boten eine günstige Argumentationsbasis für diese Konzeption. Sie wurden als Folge der Übersetzungen vom Griechischen ins Lateinische durch Johannes Eriugena und Johannes Sarracenus und mittels der Popularisierung in der Enzyklopädie des Franziskaners Bartholomaeus Anglicus (1190–1250) einem breiten Publikum bekannt und bildeten dank der verbesserten Übersetzung von Robert Grosseteste (ca. 1168–1253), auch er ein Franziskaner, eine ausgiebig genutzte Basis für die philosophische Reflexion.1287 Die enge Verbindung von himmlischer und irdischer Hierarchie, wie sie Guibert von Tournai († 1284), ebenfalls Franziskaner, konzipierte, war als Basis der Belehrung für den Herrscher eingesetzt. Guibert verknüpfte Herrschaft nicht einzig mit der Natur des Menschen, sondern auch mit dem Wesen der Engel.1288 Eine universale Harmonie führte er vor, in die alle Geistwesen eingeschlossen sind.1289 Indem die beiden Hierarchien, die der Engel und die der Menschen, miteinander in Beziehung gesetzt wurden, ergab sich aber auch die Möglichkeit, die deutlichen Unterschiede zwischen ihnen herauszustellen. Bonaventura von Bagnoregio (1217–1274) erörterte die weltliche Herrschaft. Er war Theologe und Philosoph an der Pariser Universität, wurde 1257 zum Generalminister des Franziskanerordens gewählt und kurz vor seinem Tod zum Kardinal ernannt. In einer seiner ersten Schriften, den Sentenzenkommentaren, stellte er die Herrschaft in Verbindung zu den Engelshierarchien. Aber Anteil an der Hierarchie der Liebe, die die Engel miteinander verbindet, hätten die Stufen der weltlichen Herrschaft nicht. Er schrieb, dass die Herrschaft, als dominium oder potestas bezeichnet, die Untertanen durch Zwang an sich binde: potestas coercendi subditorem. Dies sei aus den Aussagen des Neuen Testaments er1287 Luscombe, Some examples; Alexander Patschovsky, Der hl. Dionysius, die Universität Paris und der französische Staat, in: Innsbrucker Historische Studien 1 (1976), S. 9–31; Georg Steer, Die Gottes- und Engelslehre des Bartholomäus Anglicus in der Übertragung des Michael Baumann, in: Würzburger Prosastudien, Bd. 1: Wort-, begriffs- und textkundliche Untersuchungen (Medium Aevum. Philogische Studien 13), München 1968, S. 81–101. 1288 Guibert von Tournai, Eruditio; ausführlich in Kapitel XI.6. 1289 Tiziana Suarez-Nani, Les anges et la philosophie. Subjectivit8 et fonction cosmologique des substances s8par8es au 13e siHcle (Etudes de philosophie m8di8vale), Paris 2002.

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sichtlich: Man müsse dem Kaiser geben, was des Kaisers sei (Mt 22.21); wer unter dem Joch der Knechtschaft stehe, müsse seinen Herrn ehren, um nicht den Namen Gottes zu verunglimpfen (Tim 6.1). Bonanventura diskutiert die These, dass die Liebe zwischen den Christen sie zu Gliedern einer irdischen Gemeinschaft von Gleichen machte. Diese Liebe hebe sogar die Knechtschaft in irdischen Beziehungen auf.1290 Aber in der conclusio revidiert er diese als Anfangsthese formulierte Auffassung. Denn auch wenn Christus die Menschen, die an ihn glaubten, von der Erbsünde befreit habe, so doch nicht von ihrer Knechtschaft in weltlichen Angelegenheiten, so wenig wie er auch den leiblichen Tod als Folge der Erbsünde aufgehoben habe. Deswegen bestehe die Herrschaft nicht allein gemäß menschlicher Einrichtung, sondern auch kraft göttlicher Schöpfung. Die Gewalt der Herrscher sei gerechtfertigt; sie schließe Freiheit aus. Herrschaft setze Knechtschaft voraus: Dominium, cui respondet servitus. An anderer Stelle schreibt er : Non est dominum sine servo.1291 Nur insofern die Herrschaft etwas verlange, was wider Gottes Willen sei, seien die Menschen vom Gehorsam befreit. Die Befreiung ist aber weit gefasst. Denn die Menschen seien nur einer solchen Herrschaft verpflichtet, die von den nach rechter Gewohnheit geschaffenen Bestimmungen gestaltet sei. Steuern zu erheben, sei aber mit dem Recht konform. Die prinzipielle Berechtigung der Herrschaft belässt Bonaventura unangetastet. In der Konkretisierung legt er ihr aber Bedingungen auf. Sie leiten sich nicht aus dem allgemeinen Wohl ab, sondern aus dem Gehorsam gegenüber Gott und aus einer Bindung an eine – wenn auch nicht präzisierte – normative Ordnung der Herrschaft. Liebe hat darin keinen Platz.1292 Nicht die weltliche Herrschaft, wohl aber die Kirche werde durch die Liebe angeleitet. In seinen Sentenzenkommentaren schreibt Bonaventura, dass der bewegende Affekt der Liebe, nicht der Furcht, auf die kirchliche Hierarchie einwirke. In der Kirche sei eine abgestufte und sich verringernde Durchdringung des göttlichen Lichts von den oberen zu den niederen Rängen vorgesehen, woraus eine absteigende Erkenntnis von Gott und entsprechend dazu eine geringere Einsichtsfähigkeit entstünden und eine geringer werdende Partizipation an der Macht Gottes hervorgehe. Erleuchtung und Erkenntnis brächten die Menschen Gott nahe. Für die weltlichen Hierarchien hat Bonaventura Ähnliches nicht vorgesehen. Sie beteiligten sich nicht an der Ausbreitung des göttlichen 1290 Caritas omnia membra Christi facti unum et omnia facit communia (…). Ergo si caritas reducit omnia membra ad aequalitatem et communitatem (…); in habentibus caritatem non sit aliqua obligatio servitudinis; Bonaventura, In Secundum librum sententiarum (Opera omnia 2), Quaracchi 1885, S. 1010; der Argumentationskontext: S. 1007–1012. 1291 Ebda., S. 1008. 1292 Ebda., S. 1011: Christiani sunt terrenis dominis obligati, non tamen in omnibus, sed in his solum, quae non sunt contra Deum; nec in his omnibus, sed in his quae secundum rectam consuetudinem rationabiliter statuta sunt.

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Lichtes. Die Stufen der weltlichen Hierarchien seien nicht durch Liebe miteinander verbunden. Was bleibt, ist die Pflichterfüllung gegenüber den Herren. Eine Motivierung durch die Liebe fehlt. Eine Belohnung oder Bestrafung im Jenseits stellt Bonaventura in Aussicht, wenn die Pflicht, zu herschen, bzw. zu gehorchen, geleistet werde, wohingegen er intrinsische Motive und irdische Bedürfnisse und Wünsche beiseite schiebt. Bonaventura begründet die Unterordnung der Menschen durch eine göttliche Ordnung, die unverrückbar, nicht durch menschliche Einsetzung geschaffen werde und nicht menschlichen Bedürfnissen dienlich sei und ihnen auch nicht angepasst werden müsse.1293 Seine am weitesten im Mittelalter verbreitete Schrift Itinerarium mentis in Deum stellt den stufenweisen Aufstieg des Menschen zur Gottesnähe dar, die auf der höchsten Stufe zum Austritt aus den lebenspraktischen Verhältnissen und zur Kontemplation von Gottes Wesen führe. Der Mensch steige nicht auf höhere Stufen, indem er von seinen natürlichen Anlagen Gebrauch mache, sondern indem Gott ihn leite und ihn aus seiner irdischen Beschränktheit herauslöse. Die Stufen des Weges sind zugleich Stufen der Liebe. In den Einrichtungen auf Erden hat Bonaventura der Liebe keinen Platz eingeräumt, so dass folglich die Liebe in den Herrschaftsverhältnissen nicht vorgesehen ist.1294 Bonaventura erörtert weltliche Herrschaft in seinem Werk zum eschatologisch vorherbestimmten Verlauf der Menschheitsgeschichte, den Collationes in Hexaemeron, und entfernt sie auch in dieser Schrift von den Beziehungen der Liebe. Die Herrscher sollten an die Defizite der weltlichen Herrschaft, die wegen der Entfernung zur himmlischen Hierarchie bestehen, denken. Dies verlange von den Machthabern Demut. Die irdische Gewalt sei von Gott bewilligt; aber sie stehe tief in der Hierarchie der Gewalten. Diese umgreife alle Bereiche der von Gott geschaffenen, mit Geist beseelten Wesen. Engel als auch Menschen fänden darin ihren Platz, letztere aber an unterer Position. Immerhin wird hier die weltliche Hierarchie in Analogie zur himmlischen gesetzt. Aus dem ewigen Gesetz folge das Gesetz der Natur, aus diesem die von den Herrschern erlassenen Gesetze. Die Gesamtheit der kreatürlichen Welt, die Tiere nicht ausgenommen, sei in der Weise geordnet, dass einige anleiten, andere gehorchen. Gehorsam sei aber nicht den Herrschern selbst, wie Bonaventura in dieser Schrift ausführt, sondern ihren Gesetzen geschuldet. Lediglich Verehrung gebühre den Herrschern.1295 Es gebe die Gefahr der Verdunkelung des göttlichen Lichts – eine 1293 Bonaventura, Liber III Sententiarum, hg. v. Leonardus M. Bello (Opera theologica selecta), Quaracchi 1941, S. 903; Padellaro de Angelis, Influenza. 1294 Bonaventura, Itinerarium mentis in Deum (Opera omnia), Quaracchin 1964, S. 295–313 ; Ludwig Hödl, Die Zeichen der Gegenwart Gottes und das Gott-Ebenbild-Sein des Menschen in des hl. Bonaventuras Itinerarium mentis in Deum, in: Begriff der repraesentatio S. 94–112. 1295 Bonaventura, Collationes, S. 83.

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Gefahr, die nicht die weltlichen Herrscher, sondern einzig die heiligen Männer und Frauen der Kirche und die Konzilien abwendeten. Allein deswegen könne aus der weltlichen Herrschaft keine Gerechtigkeit entstehen. Die Anforderungen an die Herrschaft hält Bonaventura gering, die Plicht zum Gehorsam aber intakt.1296 Gemäß Bonaventura entstehe aus der hierarchischen Stufung und aus der Gemeinschaft der Christen keine Gemeinsamkeit der Ziele zwischen Herrschern und Untertanen, weswegen es auch keiner Liebe bedürfe, um Herrschaft zu begründen und zur Realisierung zu bringen. Herrschaft sei nur eingesetzt, um eine allumfassende Ordnung aller Dinge auch auf Erden durchzusetzen. Der Verweis auf die Engelshierarchie begründet die irdische Gewalt, leitet sie von einer höheren Ebene ab, hält sie aber dadurch auch in einer untergeordneten Position. Weil es um Hierarchiestufen geht, ist nicht die Person des Herrschers, sondern die Institution der Herrschaft in Analogie zum Himmel eingerichtet. Bonaventura lehnt folgerichtig die dynastische Kontinuität in einer Herrscherfamilie ab. Die Herrschaft dem leiblichen Nachfolger des Herrschers zu übertragen, der sie nicht durch eigene Verdienste oder durch Beauftragung erworben habe, sei verfehlt. Höhnisch verwirft Bonaventura die Erbmonarchie als Ausbund der Unvernunft. Der Fürst solle gar nicht erst danach fragen, ob er den Untertanen nützlich sei, sondern danach, ob der Staat (res publica), den er leite, den Untertanen helfe. Wenn allein der individuelle Gewinn des Machthabers erstrebt werde, so führe dies zur Tyrannei. Bonaventura verweist, um seine Aussage zu belegen, ausdrücklich auf Aristoteles. Aber er modifiziert dessen Aussagen, allein schon indem er biblische Beispiele für Tyrannen nennt, insbesondere Herodes, der die unschuldigen Kinder zu ermorden befahl. Wichtiger als die Vernachlässigung des allgemeinen Nutzens ist für Bonaventura als Kennzeichen der Tyrannei der Ungehorsam gegen den göttlichen Willen. Das Handeln der Könige verschlimmere sich in der Generationenabfolge. Sei David noch ein heiliger König gewesen, so sein Sohn Salomon habgierig, aber immerhin noch schlau; dessen Sohn Roboam dann nur noch dumm, was sich darin gezeigt habe, dass er das Königreich aufgeteilt habe. Der Anführer müsse vielmehr die Regierungskunst beherrschen, wie der Schiffsführer dies tun müsse. So handelten einst die Römer, die die Klügsten an die Spitze des Staates stellten; aber nachher überließen sie den Erbberechtigen die Leitungsgeschäfte; die Folge davon sei, dass alles ging zugrunde gegangen sei. Eine Anwendung des Urteils auf die Situation seiner eigenen Epoche nimmt Bonaventura nicht vor. Aber die Anspielung ist deutlich genug. Es ist die intellektuelle Leistungsfähigkeit, nicht die Liebe, die den guten Herrscher auszeichnet. Aber diese Fähigkeit über

1296 Ebda, S. 250–252.

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mehrere Generationen der Herrscherdynastie hinweg zu erhalten, erachtet Bonaventura offensichtlich als nicht möglich.1297 Bonaventura hat das Thema der Analogie zwischen Engelshierarchien und irdischen Hierarchien ebenfalls in einer seiner Predigten behandelt. Auch dort ist er zurückhaltend gegenüber einer Annäherung zwischen beiden Hierarchien und unterscheidet sie im Hinblick auf ihre unterschiedliche Begründung, Zielsetzung und Ausübung. Erneut scheidet er die Liebe als Agens der Politik aus. Für die weltliche Herrschaft, meint er in dem Predigttext, sei keine Liebe vorausgesetzt, um das Zusammenwirken der sozialen Gruppen zu gewährleisten. Weil die weltliche Hierarchie nichts zum Seelenheil beitrage, braucht es auch in ihr keine Liebe.1298 In der Schrift De apologia pauperum, die vornehmlich der Verteidigung der Existenzberechtigung der Bettelorden dient, behandelt Bonaventura dort auch die Gehorsamspflicht der Knechte gegenüber ihren Herren und leitet sie wiederum aus dem göttlichen Gesetz ab, das stets ein Machtgefälle voraussetze, weil nur so die sündigen Menschen von schändlichem Tun abgehalten werden könnten. Bonaventura übernimmt die traditionelle Sichtweise, die den Sündenfall als Ursprung der Herrschaft erachtet und ist der Auffassung, dass Gott als Heilmittel gegen die Versuchung zur Sünde den Gehorsam gegenüber den Vorgesetzten eingerichtet habe. Die weltliche Herrschaft sei zwar gehalten, Gerechtigkeit zu bewirken, sei aber nicht verpflichtet, das irdische Wohl der Untertanen zu fördern. Aber Bonaventura erweitert die Herrschaftsbegründung, wenn er ausführt, dass die Menschen nicht allein als Folge der Sünde, sondern auch im Vollzug einer Ordnung, die alle geschaffenen Wesen, einschließlich der Engel, einbinde, der Herrschaft unterworfen seien. Nicht nur die Abwendung von Gott – durch die Erbsünde –, sondern auch die Schöpfung aller beseelten Wesen durch Gott – von Engeln und Menschen – stellt er an den Ursprung aller Hierarchien. Nicht allein zur Kompensation eines Defizits, sondern als Realisierung einer von Gott eingerichteten Harmonie bestehe die Herrschaft. Das Wirken von Christus ändere nichts an der Unterordnung und der Befehlsgewalt; ihr seien auch die Christen unterworfen. Nicht allein menschliche Satzung – institutio –, sondern auch göttliche Einrichtung – dispensatio – bewirkten, dass es Könige, Fürsten, Herren und Knechte gebe.1299

1297 Bonaventura, Collationes in Hexaemeron, hg. v. Delorme, S. 81f.; ältere Edition mit längerem Text: Bonaventura, Collationes in Hexaemeron, Quaracchi 1891, S. 357. 1298 Bonaventura, Sermones de sanctis, in: Opera omnia 9, Quaracchi 1901, S. 463–631, S. 609– 631. 1299 Bonaventura, Apologia pauperum, in Opera omnia 8, hg. v. A. Lauer, D. Fleming, Quaracchi 1898, S. 179–181, 295; Stürner, Peccatum, S. 170, Töpfer, Urzustand, S. 219– 221; Tiziana Suarez-Nani, Les anges et les cieux. Figures de l’harmonie universelle, in:

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Bonaventura und andere franziskanische Autoren sind zurückhaltend hinsichtlich einer aus dem Menschen selbst entstehenden, natürlich inhärenten, autonom existierenden politischen Ordnung. Die Bonaventura so prominent herausgestellte personale Würde geht aus der Menschwerdung Christi hervor1300, führt aber nicht zur einer Normierung politischer Gestaltung. Dies allein deswegen nicht, weil aus der herrschaftlichen Ordnung nicht das gute Leben entsteht; Herrscher sind nicht die Spender des Glücks, der Staat fördert nicht das allgemeine Wohl. Der Gegensatz zur aristotelisch begründeten politischen Theorie liegt auf der Hand: Die Mehrung des Nutzens, die Abwendung menschlicher natürlicher Mängel, der Austausch der Güter – sie formen nicht die Gesellschaft. Nicht die Natur des Menschen bringt die Liebe hervor; vielmehr ist es die Einfügung in eine Ordnung, die in die himmlische Sphäre hineinreicht, in der die Engel existieren, Wirkungen empfangen und an alle Menschen weiterreichen, um sie untereinander in Liebe zu vereinen. Aber die Liebe steht fern des politischen Handelns. Sie dringt in die Gesellschaft nur ein, wenn sie Männer und Frauen der Kirche einpflanzen. Das Heil des Einzelnen im Jenseits und das Glück auf Erden können durch Herrschaft und Politik nicht befördert werden. Das politische Handeln ist zwar von Erwartungen entlastet, aber mit geringer Legitimität ausgestattet. Bonaventura stellt den Wert des Individuums heraus, das nicht – auch nicht in den irdischen Angelegenheiten – vollständig dem Willen des Herrschers ausgeliefert werden dürfe. Der franziskanische Prediger Berthold von Regensburg († 1272) hat das Konzept der Konvergenz von Engelshierarchien und irdischen Hierarchien popularisiert. Er zog in Deutschland und Böhmen große Menschenmassen an, predigte oft auf freiem Feld.1301 Er stellte himmlische und irdische Hierarchien, die der Engelschöre und die der kirchlichen Ämter, aber auch der weltlichen Organisationen, zusammen, und rechtfertigte soziale Ungleichheit, die er als Voraussetzung für Kooperationen erachtete. Wie andere franziskanische Autoren ging er von einer Fundamentalordnung aus, die von Gott eingerichtet ist und daher unveränderlich besteht. Anders als bei aristotelisch inspirierten Texten ließen sich, diesen Argumentationsstrang folgend, zwar, wie bei Berthold von Regensburg, Nützlichkeitserwägungen anfügen, indem die gegenseitige Unterstützung aller Gruppen der Christenheit eingefordert wird und dabei auch die Herrschenden und Richter angemahnt sind, Hilfe und Schutz zu gewähren. Aber nicht Streben nach einem individuellen Wohl und davon abgeleitet einem kollektiven Wohl, sondern der Vollzug göttlicher Einsetzung ist ausgeführt. Berthold verlangt Pflichterfüllung innerhalb der jedem auferlegten sozialen Position. Harmonia dans la culture m8di8vale, hg. v. Agostino Paravicini-Bagliani, Oleg Voskobojnikov (Micrologus 24), Florenz 2016. 1300 Kobusch, Geschichte, S. 274. 1301 Schmidt, Arbeit, S. 278–282.

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Berthold von Regensburg stellt in seiner lateinischen Predigt De angelis und in der in deutscher Sprache überlieferten Predigt zu den zehn Chören der Christenheit die prinzipiell gleichwertige Nützlichkeit aller sozialen Gruppen heraus und rechtfertigt so auch die hierarchische Position der Herrschenden.1302 Entgegen einer seit dem Beginn der Rezeption von Pseudo-Dionysius angelegten Tradition, die die Hierarchien der Engel und der Menschen mit den Relationen der Liebe zusammenführt und in eine harmonische Komposition stellte1303, zielt die Lehre des franziskanischen Predigers auf eine Pflichterfüllung in den irdischen Angelegenheiten, die Liebe verlangt, die Liebe aber nicht als Ursprung und als Ergebnis der Herrschaft vorsieht. Die irdischen Beziehungen an die himmlischen anzubinden, bedeutete nicht, dass beide in gleicher Weise durch die Liebe gestaltet wurden. Um den Vorrang himmlischer und kirchlicher Hierarchie zu erhalten, wurde die weltliche abgewertet und ihr die Entstehung aus der Liebe und die Hervorbringung der Liebe vorenthalten. Die ausgiebige Beschäftigung franziskanischer Theologen mit den künftigen Geschicken der Menschheit, die durch Bibelinterpretation und durch Anwendung von Deutungen, die an der Wende zum 13. Jahrhundert der Abt Joachim von Fiore schriftlich niedergelegt hatte, geleistet wurde, führte ebenfalls weg von einer Wertschätzung weltlicher Einrichtungen, weil die Erwartung auf ein kommendes Tausendjähriges Reiches des Friedens, der Harmonie und der Gottesnähe eine allein religiöse Perfektionierung vorsah, hingegen die weltlichen Einrichtungen als in der Zukunft hinfällige Überbleibsel vergangener Verderbnis abqualifizierte.1304 Obwohl die Summa Halensis zu Beginn des 13. Jahrhunderts liebende Beziehungen in die weltliche Herrschaft einsetzte, war diese Einsetzung aber durch den Sündenfall und den kontinuierlichen Verfallsprozess der Herrschaftsverhältnisse nicht mehr bedeutsam und gestaltete nicht mehr die Realität. Die abwertende Auffassung hat Bonaventura übernommen und der Prediger Berthold von Regensburg propagiert. Bonaventuras Vorstellungen bereiteten den Boden für die seines Ordensbruders Johannes Duns Scotus, der weitaus nach1302 A. E. Schönbach, Studien zur Geschichte der altdeutschen Predigt, Bd.e 4 u. 5: Die Überlieferung der Werke Bertholds von Regensburg (Sitzungsberichte der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, Phil.-hist. Kl. 151,1 u. 152,7), Wien 1905/06, IV, S. 124–132, 75–182; Berthold von Regensburg, Deutsche Predigten, I, S. 140–155. 1303 Oben Kapitel IV. 9. 1304 Ernst Benz, Ecclesia spiritualis. Kirchenidee und Geschichtstheologie der franziskanischen Reformation, Stuttgart 1934; Töpfer, Das kommende Reich, S. 149–153; McGinn, Influence, S. 15–36; Lerner, Joachim of Fiore’s Breakthrough to Chiliasm, S. 489–512; Reeves, Influence (note 20); Emmerson, Erzman, Apolyptic Imagination; Crocco, Gioacchino da Fiore; Roberto Rusconi, Profezia e profeti alla fine del Medioevo (Centro internazionale di studi gioachimiti. Testi e strumenti 9), Rom 1999, S. 54–68, 102f., 121, 141–160.

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drücklicher den Gegensatz zwischen öffentlicher Gewalt und privater Existenz herausarbeitete. Er hat die theoretische Begründung für die Abtrennung der Liebe aus dem Staat bereitgestellt und somit den deutlichen Kontrast zur aristotelischen Politiktheorie geformt.1305

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Der Schrecken als Gebot der Liebe: Anleitungen von Fürstenspiegeln

Die Frage, wie die Herrschaft des Königs ethischen Anforderungen genügt, war im 13. Jahrhundert auf dem Kenntnisstand der aristotelischen Politiktheorie zu beantworten. Sie forderte heraus, die anthropologischen und den Menschen inhärenten Motivierungen in die Überlegungen einzubeziehen. Dies leisteten auch die Fürstenspiegel seit der Mitte des 13. Jahrhunderts und unterschieden sich so von denen des 9. Jahrhunderts, die weniger eine Reflexion über die Grundlagen der Herrschaft, als eine Zusammenstellung von Forderungen an sie boten. Aber das Genre des Fürstenspiegels kam weiterhin nicht umhin, ein didaktisches Eingreifen, eine normengeleitete Intervention vorzusehen. Allein aus diesem Grund waren sie stärker traditionellen Vorstellungen verhaftet, die eine physiologische Metapher des Staates und die Aktivierung von Tugenden präsentierten. So gab es im 13. Jahrhundert zur selben Zeit eine produktive Verwendung der Texte von Aristoteles und weiterhin eine Fürstenbelehrung, die von der defizitären Konstitution des Menschen als Folge der Erbsünde und der ebenso defizitären Seinsform politischer Gebilde ausging. Die Abwendung der im Menschen und im Staat steckenden Übel war den Herrschern als Aufgabe angetragen. Sollte die gute Herrschaft beschrieben werden, ging es weiterhin nicht anders, als die Herrscher als Verursacher, bzw. als Verhinderer der gerechten politischen Verfassung einzuführen, also weiterhin moralisches Verhalten zu fordern. Wenn eine grundsätzlich defizitäre Ausstattung der Menschen – sei es als Folge der Erbsünde, sei es durch die Mängel der natürlichen Ausstattung – angenommen wurde, war zu klären, wie auf die Defizite der Herrscher zu reagieren sei. Dazu bedurfte es einer Anleitung, die an die Person des Herrschers zu richten war.1306 Die Schrift, die der englisch-walisische Gelehrte Giraldus Cambrensis (1146– 1223) verfasste und als Fürstenspiegel bezeichnet werden kann, entstand noch kurz vor der Kenntnis der aristotelischen Texte zu Ethik und Politik, war aber durch pagane Texte beeinflusst. Die Schrift ist noch einer Tugendethik verhaftet. Das Thema der Schönheit des Königs ist auch hier vorgestellt. Ob Giraldus dabei 1305 Siehe Kapitel XII.2. 1306 Homann, Totum posse, S. 21f.

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Kenntnisse aus dem Text Secretum secretorum bezog, ist unwahrscheinlich, jedenfalls wies er nirgends auf ihn hin, und seine Ausführung waren ansonsten deutlich unterschieden von ihm.1307 Giraldus entwickelte weniger eine Lehre der Politik, als eine moralische Didaktik. Aus einem reichen Fundus antiker Gelehrsamkeit schöpfend – er zog Schriften von Cicero und von Seneca heran – bewertete er die Herrschaft anhand von Tugenden. Sie gliedern den gegen Ende seines Lebens von ihm verfassten Fürstenspiegel. Die mansuetudo, die Milde, ist die wichtigste Tugend; sie verlange die Zuneigung des Königs zu seinen Untertanen, die diese ihm erwidern. Eine solche Herrschaft sei gerecht und auch schön. Nichts Schöneres und Anmutigeres gebe es, als einen Herrscher, dem die geordnete Einbindung der Menschen dank der schönen Freigiebigkeit gelinge: quid pulcherius, quid decentius quam hominem qui super homines constitutum pulchera liberalitate. Um die Zuneigung müsse gerungen werden, indem die königliche Würde offen zur Schau gestellt werde, womit ausdrücklich die äußere Erscheinung gemeint ist; nur in privato zeige der Herrscher seine eigentümliche, innere Natur, die aber für sein Agieren als Herrscher nichts beitrage. Die Schönheit bringe die Liebe im Staat hervor. Der Grund dafür sieht Giraldus darin, dass die Schönheit die guten Impulse wecke – und dies ohne Zwangseinwirkungen. Es sei angebrachter, so Giraldus, durch Liebe als durch Furcht über die Untertanen zu herrschen. Giraldus räumt zwar ein, die Furcht bewirke viel; ihr gelinge es, den Zwang durchzusetzen; doch müsse die Furcht durch die Liebe besänftigt werden, sonst führte die Furcht zur Tyrannis.1308 Giraldus, der Tugenden katalogisiert, vermag nicht, in logisch stimmiger Weise den Gegensatz zwischen Liebe und Furcht in eine Relation der Konsequenz zu überführen; es bleibt nur die Moderierung. Sie erläutert er ausführlich im Abschnitt zur clementia, einem anderen Wort für Milde.1309 Eine normative Bewertung des Königtums, das er in Opposition zur Tyrannei stellt, beruht auf der Geltung der Zuneigung, die der König wie ein patriae pater atque patronus seinem Volk erweist – und dies ausdrücklich in einem Affekt der Milde: affectu clementia. Den Bedrängten müsse der König Mitleid erweisen. Die Beziehung des Königs zu den Untertanen ist in eine Sprache familiärer Fürsorge gehüllt. Ihr stellt Giraldus die Emotionen der Wildheit, des Zorns und der beständigen Neigung zum Zorn gegenüber. Was von ihm als animi passio bezeichnet ist, bedarf der Wertung und gesonderten Anwendung. Die gute Regierung beruht auf der Auslösung der richtigen Emotionen.1310 Giraldus war zwar zeitweise als Kaplan in den Diensten des englischen Königs 1307 1308 1309 1310

Siehe Kapitel X.2. Giraldus Cambrensis, De instructione, S. 9–12. Ebda., S. 21–27. Ebda., S. 54–57.

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Heinrichs II., nahm sogar an dessen Eroberungszügen nach Irland teil, scheiterte aber mit dem Versuch, zum Bischof der walischen Diözese St. David’s ernannt zu werden. Er konnte auch mit seinen zahlreichen Schriften – zu Geographie, Sprache, Musik, Didaktik und Historiographie – nur geringen Einfluss auf den herrscherlichen Hof ausüben. Seine Werke hatten auch ansonsten eine nur geringe handschriftliche Verbreitung.1311 Sein Fürstenspiegel zeugt von einer umfangreichen literarischen Kenntnis der Antike, ohne das hohe Reflexionsniveau, das die Rezeption von Aristoteles ermöglichte, zu erreichen. Er stand noch ganz in der Tradition einer Tugendethik des Regierens. Indem er die Tugenden als Voraussetzung für den Erfolg ausgab, bot er mehr als nur moralische Anweisung, sondern meinte sich auch noch bei den Herrschern nützlich zu machen. Kritik an ihnen fehlte. Darin unterschied er sich von Johannes von Salisbury. Ähnlich aber wie er behandelte Giraldus die stets gefährdete Herrschaft und das nicht minder bedrohte Leben der Tyrannen. Die Beurteilung der Tyrannei war bei Giraldus nicht allein ethisch begründet, sondern beruhte auch auf der Ineffizienz ungerechter Herrschaft.1312 Wie Johannes von Salisbury war bei ihm die Harmonie der Teile des Staates, außerdem aber auch die Schönheit des Leibes des Königs angestrebt.1313 Wiederum anders als Johannes behandelte Giraldus nicht das Wissen über die Teile und daher über Institutionen des Staates. Die Erörterung war auf die Person des Herrschers konzentriert. Andere Fürstenspiegel hatten eine größere Wirkung, und sie erweiterten das Thema über eine reine Morallehre hinaus und suchten Antworten zu geben, welchen Nutzen für die Untertanen die Herrschaft zu leisten habe und wie die Herrschaft institutionell gestaltet werden sollte. Den Fragen, wie der Herrscher zum guten Tun hingeführt werden könne und welche Voraussetzungen bestehen müssten, um nicht allein ein guten Herrscher zu werden, sondern eine gute Herrschaft möglich zu machen, diesen Fragen widmete sich der Dominikaner Vinzenz von Beauvais († 1264). Nicht allein ein Tugendkatalog wurde geboten, vielmehr wurden Verfahren vorgestellt. Vinzenz war mit dem französischen Hof verbunden. Er verfasste einen Fürstenspiegel, der König Ludwig IX. übergeben wurde und der für die Erziehung des Thronfolgers, des künftigen Königs Philipp III., bestimmt sein sollte. In der Schrift stellte Vinzenz die Erziehung des Prinzen als Lösung des Dilemmas dar, das wenig später Thomas von Aquin um 1270 1311 Robert J. Barlett, Gerald of Wales, 1146–1223, Oxford 1978; Jeanne-Marie Boivin, La dynastie angevine dans l’œuvre de Giraud de Barri, in: Histoire et litt8rature, S. 49–58. 1312 Michael Altmann, Strukturuntersuchungen zu Giraldus Cambrensis’»De principis instructione«, Regensburg 1974, S. 55f., 90–93; Robert Bartlett, Gerald of Wales, Oxford 1982, S. 69–100; Istvan Pieter Bejczy, Gerald of Wales on the Cardinal Virtues. A Reappraisal of »De principis instructione«, in: Medium aevum 75 (2006), S. 191–201; Turchetti, Tyrannie, S. 256. 1313 Giraldus Cambrensis, De instructione, S. 54–57.

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deutlich vor Augen führen sollte: Die Alleinherrschaft ist die beste Regierungsform, und sie ist zugleich die schlechteste.1314 Den Gegensatz stellte auch schon Vinzenz vor: In einer Erbmonarchie, die er als die beste Verfassung bezeichnet, müsste der beste Mensch die Macht ausüben, was aber wegen der Zufälligkeiten der familiären Sukzession nicht vorauszusetzen sei, so dass, sofern ein schlechter Mensch zur Herrschaft gelange, die Gefahr bestehe, dass die beste Regierungsform durch das Handeln eines Tyrannen zur schlechtesten würde. Aber anders als später bei Thomas war die persönliche Eignung, nicht das politische Handeln das Problem. Vinzenz sah als Lösung eine pädagogische Vorbereitung auf das Amt der Könige vor, die sicherstellen sollte, dass das Optimum der politischen Verfassung auch das Optimum des Regierungshandelns und das Optimum des Nutzens für die Untertanen hervorbringe.1315 Die Vorbereitung zum Herrschen geschieht in der Familie. In einer früheren Schrift, De eruditione filiorum nobilium, vorgeblich auf Anregung der Königin Margarethe, der Gattin Ludwigs IX., in den Jahren 1247 bis 1249 geschrieben, stellte er die Herstellung einer guten Herrschaft durch das Wirken in der Familie von Adligen und Fürsten dar. In der Ehe und im Verhältnis zwischen Eltern und Kindern walte die Liebe, die aber, so Vinzenz, gemäßigt sein solle, damit sie sich nicht der adulteria annähere. Der Begriff muss wohl als Bezeichnung einer emotionalen Deregulierung aufgefasst werden, vor der auch die legitime Liebe in Ehe und Familie nicht gefeit sei. Um eine solche fehlgeleitete Liebe zu verhindern, sei die Urteilskraft aufgerufen, die den Affekt in Schranken halten und auf gute Ziele lenken müsse, die im Wohl auch derer bestehe, die abseits der liebenden Gemeinschaft lebten. Hermetische Gemeinschaften der Liebe gelte es zu verhindern. Noch negativer fällt das Urteil aus, wenn eine von der Suche nach Vorteilen angestachelte Liebe vorgestellt wird, die – libidinose – nach Gunst oder Ruhm suche. Sie erachtet Vinzenz als eine Sünde, nicht anders als die angebliche Liebe derer, die ihren Leib zur Prostitution feilbieten. Die Liebe in kleinen sozialen Lebensgemeinschaften ist für ihn nur angemessen, sofern sie auf gute Ziele außerhalb des engen Konnexes gerichtet und gemäß diesen Zielen geformt ist. Die Ehefrau wird von Vinzenz denn auch als quasi socium vorgestellt, die mit ihrem Gatten durch eine gezügelte Sexualität verbunden ist, die die Zeugung von Kindern vorsieht, aber keine Exaltierung der Emotionen erlaubt. Der coniugalis amor verlange, so Vinzenz, die Unterwerfung der Frau unter die Befehlsgewalt des Mannes. Liebe sei nur dann wertvoll, wenn sie zu einer herrschaftlich geprägten Relation führe. Schönheit des Körpers habe darin keinen Wert, anders als dies vor allem der bereits im 13. Jahrhundert weit verbreitete Text des Secretum secretorum vorsieht. Der amor pudicus bedürfe der körperlichen Vorzüge 1314 Thomas von Aquin, De regno, S. 419–423. 1315 Vinzenz von Beauvais, De morali principis institutione.

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und der Dekoration des Leibes nicht.1316 Auch im Verhältnis zu den Kindern warnt Vinzenz davor, sich von der Liebe dazu verleiten zu lassen, die Nachkommen nicht mit Furcht im Zaum zu halten; vielmehr müssten die Eltern sie streng strafen, sie schlagen, ihnen mit Gewalt die Laster austreiben. Durch das Zufügen von Leiden seien die Kinder überdies angehalten, die Passion Christi nachzuempfinden. Das Auferlegen einer unerbittlichen Disziplin geschehe aus der Liebe: Ex amore infertur discipline severitas.1317 Die Strenge verlangt den Schrecken. Aus dem familiären in den politischen Bereich übertragen, wiederholen sich die gewaltsamen Eingriffe, die notwendig sind, um die Menschen, in diesem Fall die Untertanen, von bösen Handlungen abzuhalten. Zwar zitiert Vinzenz von Beauvais zustimmend Gregors des Großen Verurteilung, Schrecken gegenüber seinen Mitmenschen zu verbreiten, aber der Gewalt des Herrschers über seine Untertanen soll gleichwohl keine Schranke auferlegt sein. Es sei zwar gegen die Natur des Menschen, über Seinesgleichen Schrecken ausüben zu wollen; aber diese Natur sei seit dem Sündenfall verdorben und deswegen sei der Schrecken nunmehr vorzusehen. In eklatanter Fehlinterpretation der Bibel und des Textes von Gregor dem Großen, die nur die Tiere dem Schrecken unterwarfen und dies ausdrücklich für die Zeit nach der Vertreibung aus dem Paradies vorsahen, fordert Vinzenz, dass die Herrscher auch über die Menschen Schrecken auszuüben befugt seien. Deren Schlechtigkeit verlange, dass Befehle erteilt und Strafen verhängt werden, die gefürchtet werden müssten. Wenn es keine Herrschaft gäbe, träte ein Mangel an Gerechtigkeit ein, was zum Untergang des Menschengeschlechts führe, da alle sich gegenseitig töteten. Die Bereitschaft der Menschen, sich gegenseitig zu unterstützen, existiere nach Vinzenz ausschließlich im Zustand der ursprünglichen Unschuld vor dem Sündenfall, als alles allen gemeinsam gehört habe, und sei erst wieder künftig, nach der Erlösung im Jenseits, erreichbar.1318 Die defizitäre Konstitution des Menschen schließe aus, dass ein allgemeines Wohl im Sinne eines inhärent weltlichen Glücks der Untertanen verwirklicht werden könne. Deswegen sei es unvermeidbar, dass die Königsherrschaft aus einer Usurpation entstanden sei, so wie jedes Eigentum aus einem ursprünglichen Diebstahl herrühre. Legitimiert wird die Herrschaft des Königs gleichwohl. Im Laufe der Zeit werde sie auf vierfache Weise bestätigt, wie Vinzenz ausführt, erstens dank göttlicher Einsetzung, zweitens durch das Einverständnis oder die Wahl des Volkes, drittens durch die Zustimmung der Kirche und viertens durch lange andauernde und in gutem Glauben begründete Anwendung. Aber allein 1316 Vincenz von Beauvais, De eruditione, S. 146–149, 197–202; Astrik L. Gabriel, Vinzenz von Beauvais. Ein mittelalterlicher Erzieher, Frankfurt 1967, S. 46f. 1317 Vincenz von Beauvais, De eruditione, S. 96 sowie S. 80–95, 97–99, 103–105. 1318 Ders., De morali principis institutione, S. 17f.; Gregor, Regula, S. 202–204.

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christliche Herrscher, nicht heidnische, könnten durch diese Gründe gerechtfertigt werden. Somit ergibt sich für Vinzenz die Möglichkeit, konsensuelle und legitimierende Elemente in die Herrschaftsverfassung der Christen einzufügen, wohingegen die Königreiche der Heiden einzig auf Betrug und auf Gewalt gegründet seien.1319 Nichts ist indes damit über die innerweltliche Rechtmäßigkeit auch der schlechten Herrschaft ausgesagt; sie ist für Vinzenz in jedem Fall unangetastet, gilt ihm als Strafe Gottes, der in seinem Zorn die Menschen züchtige, sie aber doch auch zum Guten hinführen wolle, indem er die Herrschaft, obwohl sie immer der Sünde entspringe, und selbst auch die Herrschaft schlechter Menschen zugunsten des Wohls der Menschen einsetze.1320 Die moralische Ambivalenz des Schreckens sieht Vinzenz bereits im Alten Testament angelegt, denn Gott gilt als Urheber des Schreckens, seine Auswirkung wird aber sowohl als günstig als auch als verderblich vorgestellt. Vinzenz verweist dabei auf das fünfte Buch Moses.1321 Vinzenz von Beauvais schließt nicht aus, dass die Liebe ihren Platz im Handeln des Herrschers haben könne und solle. Aber Liebe sei nicht die Grundlage der Herrschaft. Sie gilt ihm als Voraussetzung für den angemessenen Gebrauch der Herrschaft, nicht für deren Existenz, gerade dann, wenn die Mächtigen der Zwangsgewalt nicht entbehren könnten. Vinzenz leitet den Schrecken aus der Liebe und umgekehrt ab. In der Verfassung des Staates lauerere immer der Schrecken; der Herrscher könne seine Macht, auf Schrecken begründet, aber in Liebe verwirklichen, und er solle den Schrecken aus dem Motiv der Liebe verbreiten, weil die Überwältigung der Untertanen das probate Mittel sei, um die in der Natur des Menschen angelegten Laster niederzuringen oder gar auszumerzen und um so den Menschen Gunst und Nutzen zu erweisen.1322 Damit erweist sich die Herrschaft, wie sie Vinzenz vorstellt, als eine der Natur abgetrotzte, nicht von ihr bewirkte Einrichtung. Aus dem Schrecken, den sie verbreitet, kann es kein Entrinnen geben. Liebe im Königreich ist zum Instrument abgewertet. Eine von Zwang und Schrecken befreite Liebe bestehe, schreibt Vinzenz, einzig im kleinen Kreis der Freunde – ausdrücklich nicht in dem der Familie. Im großen sozialen Verband hingegen seien Vertraulichkeit und große Zuneigung zu vermeiden; sie degenerierten dort zu Begierde und Lust.1323 Lediglich in die unmittelbare Umgebung des Königs, an seinen Hof, könnten Freunde aufgenommen werden, die in Liebe verbunden seien.1324 Amor ist ansonsten im Bereich des politischen Handelns ein 1319 1320 1321 1322 1323 1324

Vinzenz von Beauvais, De morali prinicpis institutione, S. 22f. Ebda., S. 17–22. Ebda., S. 15. Ebda., S. 32–34. Vincenz von Beauvais, De eruditione, S. 130. Ders., De morali principis institutione, S. 64f.

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negativ bewerteter Begriff. Aus dem amor dominandi sei Herrschaft entstanden, die zu den Gewalttaten des assyrischen Königs Nimrod geführt habe, dem so viele Herrscher der Ägypter, Griechen und anderer Völker ähnlich geworden seien. Anders als die Patriarchen des Alten Testaments, die nicht Könige über Menschen, sondern Hirten von Tieren seien, seien die Herrscher grausam, verbreiteten Schrecken und töteten.1325 Die Freiheit vor Furcht und Schrecken ist zeitlich auf eine ferne Vergangenheit und sachlich für die Prototypen der Priester beschränkt. Die weltliche Herrschaft in der Zeit von Vinzenz indes kann nicht auf Furcht und Schrecken verzichten. Die Kritik an der Herrschaft schließt ihre Apologie ein. So verwerflich sie auch sein mag, so ist sie doch unerlässlich. Die Konzeption von Vinzenz ist weit entfernt von einer aristotelisch beeinflussten Politiktheorie. Sie wurzelt hingegen in der religiös überhöhten Zwangseinwirkung, der er zubilligt, auch noch Liebe zu erzeugen, die wiederum der Herrschaft als Hilfsmittel zur Verfügung steht. Wenn Liebe ohne Zwang, Furcht und Gewalt die Menschen bindet, dann geschieht dies außerhalb der Herrschaft. In dem Abschnitt De amore in der von Vinzenz von Beauvais verfassten Enzyklopädie Speculum morale unterscheidet er die Liebe zu Gott von der Liebe zwischen den Menschen. Letztere gilt als natürlich und birgt die Hoffnung, zu einer geordneten Liebe, zur caritas ordinata, zu werden, folglich in Gottes Heilsplan einzutreten, ohne aber politische Auswirkung zu besitzen. Alle Menschen, so fordert Vinzenz in diesem Abschnitt, müssten sich gegenseitig lieben. Indes, die Liebe enthalte eine schädliche Seite, insofern sie zur Lust werde und allein das eigene Wohl anstrebe. Amor ist vornehmlich der Begriff zur Kennzeichnung einer Emotion, einer Leidenschaft, wohingegen Vinzenz den Terminus caritas verwendet, um eine Tugend zu benennen, die nicht von der Selbstsucht befleckt ist. Die Wertehierarchie der Liebe beruht nicht auf der Quantität der in Liebe verbundenen Menschen, da eine alle Glieder eines Staats umfassende und in Zuneigung verbundene Gemeinschaft bei Vinzenz nicht als Liebe gilt. Nicht einmal, wenn es um die Wirkungen der Liebe geht, wie sie Vinzenz in einem weiteren Abschnitt behandelt, ist die Herrschaft einbezogen.1326 Hinsichtlich der Fürstenerziehung bleibt nur, das Streben nach Eintracht und Frieden zu empfehlen, die aber beide nur durch Zwang und Gewalt, nicht durch Einwilligung erreicht werden könnten.1327 Die Tugenden des Herrschers sind folglich Weisheit, Demut und Stärke; die theologischen Tugenden Glaube, Liebe, Hoffnung nennt Vinzenz nicht, weil sie außerhalb des Staates stehen.1328 1325 Ebda., S. 11–16; Gregor, Regula, S. 202–204. 1326 Vincenz von Beauvais, Speculum morale (Ders., Speculum quadruplex sive speculum maius), Neudr. Graz 1964, S. 22–28. 1327 Ders., De eruditione, S. 128. 1328 Ders., De morali principis institutione, S. 54f.

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Wilhelm Peraldus († 1271), auch er Franzose und Dominikaner, hat in seinem Fürstenspiegel, den er um 1265 verfasste, der weite Verbreitung fand und auch in die französische Volkssprache übersetzt wurde, die Auffassung eines grundsätzlichen Mangels der weltlichen Herrschaft, wie sie auch Vinzenz vertritt, weiter ausgeführt, aber die moralischen Dilemmata nicht umgangen, die eine gute Herrschaft für eine verderbte Menschheit bedeuteten. Er stellt ein Paradox dar : Das Bestreben zu herrschen sei ein Laster, aber es nütze dem Volk.1329 Und an anderer Stelle schreibt er, dass die Herrschaft für den Herrscher schädlich sei, sein irdisches Glück mindere, sein Seelenheil gefährde und nicht angestrebt werden dürfe, sondern zu erlangen befürchtet werden solle. Herrschaft sei aber doch gerechtfertigt und müsse geduldet werden, weil Gott sie eingesetzt habe und weil sie dem Volk nützlich sei, das ansonsten zügellos seinem Verderben zusteuern würde, wenn es keine Eindämmung sündiger Triebe gäbe. Furcht müsse man vor jedem Menschen haben, am meisten aber vor dem Herrscher. Die in früheren Epochen milde Herrschaft sei nun zur harten Herrschaft geworden; in der Tyrannei sei das Wesen jeder Herrschaft enthalten; gleichwohl keime aus beiden das Gute.1330 Wegen der kausal bedingten Schlechtigkeit und des finalen Nutzens der Herrschaft gibt es für Peraldus auch keine spezifische politische Tugend, die über die Verwirklichung individueller Moral hinausreicht, weil für ihn die politische Verfassung an sich schlecht ist und das Gute aus einem Handeln folgt, das zwar nicht voraussetzt, das Wohl der Untertanen anzustreben, es aber entgegen der Absicht doch befördert. Die Belehrungen in seinem Fürstenspiegel zielen folglich auf die persönliche Vervollkommnung des Herrschers, mahnen zur Verwirklichung seines eigenen Seelenheils, das trotz der Gefährdung durch sein Amt erreicht werden könne. Hingegen erachtet Wilhelm den König nicht als Wächter und Beförderer des Seelenheils seiner Untertanen, lediglich als Inhaber einer hemmenden Gewalt, die die Untertanen vor Verbrechen abhalten soll, also auf das äußere Tun einzuwirken sich beschränkt. Die limitierte Kompetenz des Königs macht es entbehrlich, eine Ethik des Politischen zu konzipieren. Die Herrschaft ist vielmehr günstigstenfalls moralisch indifferent und überlässt die religiöse Sinnstiftung dem Klerus. Liebe und Schrecken finden deswegen keinen Platz in der politischen Ordnung, weil es ihnen an einem lohnenden Ziel fehlt. Sie leiteten, so Wilhelm, allein die Beziehung des Königs zu Gott, die nicht anders als die jedes Gläubigen sei. Gott liebe alle diejenigen, die in Liebe miteinander verbunden seien. Die gegenseitige Liebe entfalte sich aber abseits der Herrschaft. Die Heilige Schrift gebiete allen, daher 1329 Wilhelm Peraldus, De eruditione principum, S. 89; die Schrift wurde fälschlich bis in die jüngste Gegenwart Thomas von Aquin zugeschrieben; Verweij, Princely Virtues, S. 51–72; Guillaume Peyraut, in: Dictionnaire des lettres franÅaises: Le moyen .ge, hg. v. Robert Bossuat u. a., Paris 1964, S. 638f. 1330 Wilhelm Peraldus, De eruditione principum, S. 97, Kap. II, 9.

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auch dem Herrscher, zu lieben; die Liebe zu missachten, würde sie den Ungläubigen gleichstellen. Die Liebe sei nicht allein ein Gebot, sie sei auch der Natur des Menschen eingepflanzt. Wilhelm weist auf Ciceros Schrift zur Freundschaft hin, um zu begründen, dass es eine Gabe der Natur sei, sich gegenseitig zu unterstützen und zu lieben. Politische Anwendungen fehlen aber auch bei dieser Argumentation, weil allein herrschaftsfreie Beziehungen von der Liebe geformt sind. Für den Herrscher, der nicht liebt, nennt Wilhelm Peraldus nicht den Verlust der Macht als Gefahr, sondern des Seelenheils. Liebe hat für ihn keinen Platz in der Politik. Folglich setzt Wilhelm die Ordnung von Verfahren ein, die den Zusammenhalt im Staat sichern. Die Rechtsbestimmungen formen keine Kooperationen, sondern Unterwerfungen.1331 Ähnlich argumentierte später der Augustiner-Eremit Hermann von Schildesche (1290–1354), wenn er das politische Handeln von der Religion und vom Liebesgebot abtrennt. Er sieht die zwingende Gewalt, die vis obligandi, des Herrschers als notwendig an für die Herstellung einer weltlichen Ordnung, nicht aber für den Gewinn des ewigen Heils. Der Ursprung von Gewalt und Ordnung leitet er mehr aus einem Vertrag zwischen den Menschen ab, als dass er sie aus der Natur der Menschen selbst entstehen lässt, weswegen in einer Hierarchie der Ursachen die Herrschergewalt aus einer niederen Stufe des Seins hervorgeht und nicht auf unmittelbarer göttlicher Einsetzung beruht. Aus dem Vertragscharakter der politischen Gewalt folge, so meint Hermann, ihre Unterordnung unter die geistliche, deren Entstehungsgrund näher an Gott liege und nicht von Menschen gemacht sei. Von der von Gott gebotenen Nächstenliebe sind Herrscher und Beherrschte nicht ausgenommen; aber die Liebe folgt nicht aus der politischen Ordnung und gestaltet sie nicht. Gestaltet wird sie vielmehr durch das Recht.1332 Die Auffassung von der Distanzierung der Herrschaft von der Liebe stieß auch auf Ablehnung. Selbst wenn die Liebe nicht aus der politischen Verfassung hervorgehe, so müsse sie sie doch durchdringen. Herrschaft beruhe auf der göttlichen Einsetzung und diese Einsetzung präge ihre Form. Diese Form setze die Liebe voraus, so dass den Herrschern auferlegt sei, insbesondere die Untertanen zu lieben und die Liebe geordnet zu halten. So werde tugendhaft gehandelt. Die Liebe des Herrschers bedürfe der Anleitung. Vertreten hat diese Auffassung der Zeitgenosse von Vinzenz von Beauvais und von Wilhelm Peraldus, der Franziskaner Guibert von Tournai († 1284), der gleichfalls einen Fürstenspiegel verfasste. Er lehrte an der Pariser Universität; er war wie Vinzenz von Beauvais Seelsorger am Hofe König Ludwigs IX. von Frankreich; seine 1331 Ebda., S. 97–100; Verweij, Princely Virtues, S. 65–67. 1332 Richard Scholz, Unbekannte kirchenpolitische Streitschriften aus der Zeit Ludwigs des Bayern, 2. Teil: Texte, Rom 1914, S. 152.

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Schriften besaßen ebenfalls große Wirkung auch nach seinem Tod. Er trug Predigten vor und verfasste Predigttexte für unterschiedliche soziale Gruppen. Sein wichtigstes Thema war die Moraldidaxe. In dem von ihm geschriebenen Fürstenspiegel erörterte er die Grundlagen königlicher Macht und die gute Praxis der Herrschaft.1333 Im Widerspruch zu den Auffassungen seines Ordensgenerals Bonaventura und noch deutlicher zu denen seiner Ordensbruders Johannes Duns Scotus1334 sah er die Liebe ausdrücklich in die weltliche Herrschaftsverfassung und Herrschaftsausübung eingewoben, aber nicht aufgrund politischer Rationalität, sondern aufgrund der Wirkung des göttlichen Willens. Gott greife unmittelbar in die Ordnung der irdischen Dinge ein. Erst wegen der Verbindung zu Gott gebe es, so Guibert, die Liebe des Herrschers zu den Untertanen. Sein Verweis auf die Hierarchienlehre von Dionysius Areopagita war nicht selten im Franziskanerorden; auch sein Generalminister Bonaventura war von ihr beeinflusst.1335 Guibert entfaltet außer einer Intellekthierarchie auch eine Liebeshierarchie, die er in das Gefüge der Engelsgruppen einstellt. Die Könige leiteten, so Guibert, die Liebe, die sie gegenüber Gott hegten und die sie von ihm empfingen, an die Untertanen weiter. Genauso wie die Engel seien sie von der göttlichen Liebe gewärmt, erleuchtet und entflammt und ließen die ihnen unterstellten Menschen an dieser Liebe teilhaben, da die höchste und stärkste Liebe sich nur dann verwirkliche, wenn sie weitergegeben und nicht verborgen gehalten werde. Der affectus amoris, den Gott hege, steige in abgestufter Reihe zu allen beseelten Wesen herab verwirkliche sich auch zugunsten der am tiefsten stehenden Menschen. Der König ist als Transmissionsorgan der Liebe vorgestellt; er steht in einer Mittlerposition, die es ihm ermöglicht und die ihn verpflichtet, für die Weitergabe der Liebe zugunsten seiner Untertanen zu sorgen.1336 Weil Guibert die Liebe des Königs an die himmlische Sphäre anbindet und ihn ausdrücklich in eine den Engeln analoge Position, in die eines Seraphim, einsetzt, wird die Liebe hierarchisiert, so dass eine reziproke Relation zwischen den Liebenden ausgeschlossen, deren Abstand vielmehr unüberbrückbar ist. Die Ungleichheit der Menschen ist es, die die Liebe überhaupt erst ermöglicht, weil sie Guibert nur als absteigende, bzw. aufsteigende Relation auffasst. Zugleich schafft die Liebe die Einheit des Menschengeschlechts, ja sie ist es allein, die den 1333 Carla Casagrande, Le roi, les anges et la paix chez le franciscain Guibert de Tournai, in: PrÞcher la paix, et discipliner la soci8t8. Italie, France, Angleterre, hg. v. Rosa Maria Dessi, Turnhout 2005, S. 141–153; D’Avray, Marriage Sermons. 1334 Kapitel XII.2 und XII.3 1335 Kapitel IV.8 und XII.2. 1336 Guibert von Tournai, Eruditio, S. 84f.; Berges, Fürstenspiegel, S. 154–156; Anton, Gesellschaftsspiegel, S. 99; Luscombe, Some Examples; Vinzenz von Beauvais, De morali principis institutione.

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sozialen Zusammenhalt herstellt, die verschiedenen Gruppen verbindet, da sie in ihrem Exzess die Vernünftigkeit des Geistes übersteigt, so dass die Herrscher durch ihre Tätigkeit der Fürsorge und des Schutzes mit den Untertanen verbunden sind, so wie die Untertanen dem Herrscher anhängen, ohne dass eine an Opportunitätsgründen und auch nicht am allgemeinen Wohl orientierte Motivierung stattfindet und ohne dass eine rationale Begründung vorausgesetzt wird. Die Zusammeführung der Menschen geschieht vor- und extra-rational durch die Liebe.1337 Die Herrscher eifern der Liebe Gottes nach; aus diesem Grund üben sie Zwang aus; die Gewalt entspringt der Liebe. Die Herrscher regieren zusammen mit Christus die irdischen Angelegenheiten. Mehr als nur Imitation ist hier ausgeführt, sondern Kooperation.1338 Guibert bringt die Urheber der Liebe in eine Fusion. So wird die Liebe ununterscheidbar die allgemeine Wirkkraft in allen Beziehungen. Aus der Begründung der Herrschaft leitet sich ihre Handhabung ab. Die Liebe, die alle beseelten Wesen durchdringe und beeinflusse und die Guibert als affecutus mysticus bezeichnet1339, setze den König imstande, sein Amt richtig, d. h. gerecht auszuüben. Er müsse, damit die Liebe tatsächlich wirke, einen engen Kontakt zu seinen Untertanen pflegen; er müsse darauf achten, dass seine Hofleute ihn nicht vom seinem Volk trennten. Die Nähe könne nur gelingen, wenn der König, trotz seiner hohen Stellung, sich nicht übermütig über seine Mitmenschen, seine Mitbrüder, seine fratres, erhöhe, sondern in Demut sein Amt verrichte. Die Demut ist bei Guibert Ausweis eines guten Verhaltens, ist nicht Ergebnis einer begrenzten Macht. Guibert unterscheidet zwischen der Privatperson des Fürsten, dessen Demut geliebt wird, und der öffentlichen Person, deren Autorität gefürchtet wird. Diese Trennung tritt zu einer älteren, bereits in den karolingischen Fürstenspiegel ausgeführten Unterscheidung hinzu, die zwischen dem Gewähren der Liebe für die Frommen und dem Erregen der Furcht gegenüber den Bösen besteht. Guibert verknüpft die einstige Funktionalisierung der Wirkung mit der spezifizierten Personalisierung und Institutionalisierung der Verursachung.1340 Die Empfehlung, mit Gewalt nur selten zu handeln, schmälert nicht die stete Bedrohung, die von ihr ausgeht. Sie ist es, die den Schrecken erzeugt. Die Abwägung von Liebe und Schrecken fällt in den Bereich der Gerechtigkeit. Damit Herrschaft gerecht werde, müsse sie milde und gemäßigt sein. Guibert fordert vom König, dass er dem Schrecken die Milde beimischen solle. Nicht seine Launen sollten sein Handeln bestimmen. Damit ist die Forderung gestellt, dass 1337 1338 1339 1340

Guibert von Tournai, Eruditio, S. 45f. Ebda., S. 84f., 88f. Ebda., S. 79. Ebda., S. 52–54.

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die Herrschaft nicht willkürlich sei. Wie dies geschehen solle, schreibt Guibert nicht. Er begründet in einer geradezu absurden Weise die enge Vereinigung von Liebe und Schrecken und verwendet die bereits bei Augustinus vorkommende Formulierung des mildtätigen Schreckens.1341 Dessen Verbreitung soll als Ergebnis und als Instrument der Liebe gelten, so dass eine kausale Verknüpfung, nicht eine Opposition und mehr als eine komplementäre Kombination zwischen Schrecken und Liebe besteht. Aus der Liebe folgt die Pflicht, den Schrecken auszuüben. Guibert macht aus einem Gegensatz eine logische und faktische Relation. Guibert meint, dass die Furcht vor Gott den Herrscher dazu anhalte, seine Untertanen zu lieben. Der Herrscher müsse die Liebe und die Furcht, die er Gott schulde, den Untertanen weiterleiten. Der Herrscher solle sein Volk zur Befolgung der Gebote Gottes anleiten, sofern er nicht riskiere, nicht allein sein eigenes Seelenheil einzubüßen, sondern auch seine Stellung als Herrscher zu verlieren, wie dies so oft in der Geschichte bereits geschehen sei. Die Fürsorge der Könige für ihre Untertanen werde erreicht, indem er sie dazu anhalte, Gott zu lieben und zu fürchten. Denn die Furcht bewahre alle, Könige wie Untertanen, davor, von den Anstrengungen zum Erreichen des Guten abzulassen. Die Furcht verhindere, dass die Kräfte des Körpers ermatten, dass die Menschen sich durch Erfolge blenden ließen, dass sie dem Müßiggang anheimfielen, dass sie in ihrem Arbeitseifer nachließen. Furcht vor Gott müsse den König insbesondere dann leiten, wenn er selbst gefürchtet werden wolle und solle, also wenn er Gericht halte, gegen seine Untertanen Zwang ausübe und von seinen Getreuen Hilfe einfordere. Die Furcht und die Liebe hielten den König in einer Hierarchie, die göttlich begründet und himmlisch präfiguriert sei. Aber ein Übermaß an Furcht schade. Die Furcht allein vor dem König, so notwendig sie auch sei, vermöge wenig. Die Furcht könne vor schlechten Taten oder vor Sünden abhalten, und dies durch äußerlichen Zwang; aber sie könne nicht die innere Einstellung bessern, die, sofern sie von schlechten Motiven angetrieben werde, bei jedem Nachlassen der Furcht umso ungezügelter böse Taten hervorbringe und schließlich in verbrecherischem Tun ende. Das Böse, das nur verborgen sei, aber nicht abgeschnitten und bis auf die Wurzeln ausgemerzt werde, könne zwar durch die Furcht vor dem Herrscher an der Entfaltung gehindert, aber nicht getilgt werden. Deswegen sei die Liebe besser als die Furcht geeignet, die Menschen zu führen. Aber, die inneren Einstellungen zu verändern, übersteige die Möglichkeit des Herrschers. Daher bleibe es dabei: In weltlichen Angelegenheiten dürfe auf die Furcht nicht verzichtet werden, nur solle sie nicht der Herrscher für die eigenen Anliegen ausüben, sondern nur kraft seines von Gott verliehenen Amtes. Durch die Trennung von Person und Amt rechtfertigt Guibert die furchteinflößende Gewalt. Weil sie der König ausübt, sind die Geistli1341 Ebda., S. 88f.

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chen von dieser Aufgabe befreit; sie sollen das Gewissen bessern, also mehr leisten, als äußere Handlungen zu lenken.1342 Weltliche Herrschaft ist mit Furcht befleckt und herabgewürdigt. Ihre Anwendung ist beschränkt, verfügt nur wenig über die Liebe. Am meisten solle hingegen der König, so verlangt Guibert, die erschreckende Gewalt einsetzen, um Mächtige in seinem Reich davon abzuhalten, gegen Ohnmächtige mit Schrecken vorzugehen. Sozial differenziert und graduiert erfasse der Schrecken des Königs die Menschen. Die Forderung folgt aus dem biblisch begründeten Liebesgebot. Es ist für den König gesteigert, denn ihm sind höhere Anforderungen als den übrigen Christen gestellt. Die naturalis affectio, die jeder jedem erweisen müsse, wie Guibert in einem seiner Predigttexte ausführt, bürde demjenigen, der die Aufsicht über viele hat, schwerere Aufgaben auf. Guibert hat sie durch Beispiele vorgeführt: Heerführer müssten durch ihr Vorbild Zuversicht unter den unter ihrem Befehl stehenden Kämpfern wecken, ihnen Furcht nehmen, ihren Schmerz lindern. Auch im Krieg habe sich der Herrscher seinen Untertanen in Liebe zuzuwenden, gerade dann, wenn er den Feinden zusetze und ihnen Furcht einflöße. Guibert sieht einen externalistierten Schrecken vor. In dieser Form ist er am wenigsten verwerflich und ethisch anfechtbar.1343 Furcht und Schrecken, auch wenn sie von Gott verliehen sind, gelten freilich als Notbehelfe in den Angelegenheiten des unvollkommenen irdischen Lebens. Liebe dagegen ist die alles bewegende Kraft. Anders als die Furcht darf sie nie fehlen. Mehr als Vinzenz von Beauvais setzt Guibert von Tournai auf Milde, Kooperation und Liebe. Aber auch Guibert meint: Der Schrecken ist dann geboten, wenn die Liebe ihn verlangt. Der Schrecken ist entweder externalisiert oder konsekutiv eingesetzt. Motiviert und legitimiert ist er durch die Liebe. Nicht als Paare einer Doppelung sind Liebe und Schrecken eingesetzt, wie in den frühmittelalterlichen Fürstenspiegel1344, sondern nunmehr als Elemente eines Widerspruchs. Diesen Widerspruch aufzulösen gelingt nicht durch eine Theorie, sondern durch eine Praxis, die die Liebe vorzieht und den Schrecken als subsidiäre Einwirkung herabstuft. Weil die Berechtigung zum Schrecken auch noch von der Liebe abgeleitet ist (als Ursache und als Ziel), ist er ebenfalls in sekundäre Position gebracht. Guibert entzieht aber die Liebe einer weltlichen Herrschaftsordnung insofern, als sie nicht aus den Bedingungen dieser Ordnung entspringt und für sie keine Ziele vorgibt, sondern als die Liebe von außen eingeführt wird, von Gott und den Engeln zu den Menschen gebracht wird. Damit ist zwar die Liebe innerhalb der Herrschaft präsent, bedarf aber zu ihrer Präsenz der Intervention von Geistlichen, da sie auf keiner anthropologischen 1342 Ebda., S. 7–9, 27–35, 44f. 1343 D’Avray, Death, S. 37. 1344 Kapitel V.5.

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Grundlage aufbaut und aus keiner natürlichen Emotion hervorgeht. Auch die Einsetzung von Gott und den Engeln setzt keinen Automatismus in Gang, sondern eine Aufforderung, den religiös begründeten Geboten zu folgen. Da den Geboten nur unvollkommen gehorcht wird, stehen Furcht und Schrecken immer auch bereit, um die Herrschaft zu formen. Die Fürstenspiegel des 13. Jahrhunderts stellen eine Professionalisierung der Sorge durch die Herrscher dar. Die Sorge hat ihren Grund in einer Konstitution des Menschseins, die der Zusammenarbeit und der Anleitung der Zusammenarbeit bedarf. Der Unterschied zu den Fürstenspiegel des 9. Jahrunderts ist offensichtlich. Diese entfalteten die Argumentation vom König aus, dem die Realisierung von Tugenden abverlangt war, während im 13. Jahrhundert die Bedürnisse der Untertanen den Ausgangspunkt der Überlegungen darstellten. Aber auch die Fürstenspiegel, die in diesem Kapitel vorgestellt sind, argumentierten noch abseits einer anspruchsvollen theoretischen Konzeption zur Politik, die eine kritische Anwendung der aristotelischen Politiktheorie erlaubt hätte. Liebe wurde nicht aus der Natur des Menschen abgeleitet, sondern unmittelbar von Gott eingesetzt oder gar in die himmlische Hierarchie der Engel angeheftet. Die Furcht als Ursache, Ziel und Mittel des Regierens wurden weiterhin empfohlen. In die traditionsgebundene Vorstellung ragten zwar auch Überlegungen, die durch die Rezeption von Aristoteles gefördert waren, aber diese Überlegungen waren durch eine hohes Maß an didaktischem und pädagogischem Anstrengungen zurückgedrängt. Der Text von Thomas von Aquin De regno, der kurz vor 1274 entstanden war, entfaltete zwar ein anspruchsvolles Konzept, aber es ist durchaus umstritten, ob dieses Werk noch als Fürstenspiegel angesehen werden kann angesichts der sehr sparsamen Anweisungen an die Herrscher, die dort formuliert wurden.1345

7.

Liebe im Staat: Aegidius Romanus

Erstmals hat der Fürstenspiegel von Aegidius Romanus (†1316) die Verbindung von aristotelischer Politiktheorie zur Fürstenbelehrung geleistet, indem er sowohl Analyse der Voraussetzungen der Politik als auch Belehrung zu ihrer Gestaltung anbot. Aegidius hat politische Verfahren auf anthropologischen Fundamenten aufgesetzt. Dies ermöglichte, die Anliegen der Untertanen zu berücksichtigen in der Weise, dass sie nicht nur als Objekte des Belohnens und Bestrafens eingeführt waren. Allen Beteiligten der Herrschaft wurden die Liebesfähigkeit und Liebesbedürftigkeit zuerkannt, und der weltlichen Herrschaft wurde die Liebesnotwendigkeit vorausgesetzt. Dies zu begründen leistete Ae1345 Siehe Kapitel XI. 3.

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gidius Romanus. Er verfasste einen Fürstenspiegel, als De regimine principum bezeichnet, der eine politische Ethik entfaltete, die zur ihrer Verwirklichung sich nicht allein auf Themen und Regeln der Erziehung des künftigen Königs beschränkte, vielmehr sie mit einem theoretisch anspruchsvollen Konzept zur Grundlegung des politischen Handelns, seiner Legitimierung und Motivierung verband. Das Werk, das wohl in den Jahren 1277 und 1278 verfasst wurde, gehörte zu den im Mittelalter am meisten verbreiteten Texten. Fast 300 Handschriften liegen vor ; der Text wurde in mehrere Volkssprachen übersetzt.1346 Aegidius Romanus war an der Wende zum 14. Jahrhundert der bedeutendste Theologe des Ordens der Augustiner-Eremiten, eines der vier großen Bettelorden, und gilt als Begründer von deren theologischer Lehre. In enger Anlehnung an Thomas von Aquin kommentierte er Aristoteles, bezog aber stärker als dieser auch Konzepte von Augustinus in sein philosophisches Werk ein, so wie auch sein Orden insgesamt rasch nach der von Papst Alexander IV. im Jahre 1256 angeordneten Entstehung die philosophischen Lehren des Augustinus für seine Lehrveranstaltungen vorschrieb, allein schon deswegen, als er beanspruchte, die angeblich einst von diesem vorgesehene mönchische Lebensform zu verwirklichen.1347 Aegidius habe, so die Beschlüsse mehrerer Generalkapitel, durch seine Schriften die Forderung erfüllt, die Schriften Augustinus’ als Fundament des Lehrens und Lernens einzusetzen. Die Autorität von Aegidius wurde spätestens bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts zur Basis einer spezifischen Ordenstheologie. Die Augustiner-Eremiten beschlossen schon auf dem Generalkapitel von 1287, dass alle Gelehrten des Ordens die Auffassungen, Lehrsätze und Urteile, die Aegidius bis dahin geschrieben habe und künftig noch schreiben werde, annehmen und verteidigen sollten. Der Orden wurde zum Multiplikator der Schriften des Aegidius und sicherte ihm eine außerordentliche Breitenwirkung in ganz Europa, nicht nur bei den Ordensangehörigen.1348 Dass bis heute eine 1346 Aegidii Romani Opera Omnia, vol. I,1, hg. Francesco del Punta, Citt/ del Vaticano 1987, S. 11: Catalogo dei manoscritti de regimine principum, hg. v. Francesco Del Punta, Concetta Luna (Corpus Philosophorum Medii Aevi. Testi e studi 12), Florenz 1993; Perret, Traductions; Miethke, Publikum, S. 8; Ders., Politische Theorien im Mittelalter, S. 90. 1347 Luc M. Verheijen, La rHgle augustinienne, Paris 1967; Kaspar Elm, Paulus von Theben und Augustinus als Ordensgründer. Ein Beitrag zur Geschichtsschreibung und Geschichtsdeutung der Eremiten- und Bettelorden des 13. Jahrhunderts, in: Geschichtsschreibung und Geschichtsbewusstsein im späten Mittelalter, hg. v. Hans Patze Vorträge und Forschungen 31), Sigmaringen 1987, S. 371–397. 1348 Chartularium universitatis Parisiensis, hg. v. Heinrich Denifle/Emile Chatelain, vol. 2, Paris 1881, S. 12; Richard Scholz, Die Publizistik zur Zeit Philipps des Schönen und Bonifaz’ VIII. Ein Beitrag zur Geschichte der politischen Anschauungen des Mittelalters, Ndr. Amsterdam 1962, S. 109f.; Berges, Fürstenspiegel, S. 216; Eichinger, Individuum, S. 160–166; Friedrich Merzenbacher, Die Rechts- Staats- und Kirchenauffassung des Aegidius Romanus, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 41 (1954/55), S. 88–97; Adolar Zumkuller, Die Augustinerschule des Mittelalters: Vertreter und philosophisch-

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kritische Gesamtausgabe seiner Schriften, gerade auch der theologischen, erst in den Anfängen steckt1349, steht in Diskrepanz zu seiner Wertschätzung und Rezeption im Mittelalter. Aegidius Romanus folgte in seinen Texten zur Politik nicht Augustinus als seinem Gewährsmann, sondern mehr Aristoteles, der offensichtlich eher geeignet war, eine von moralischen und religiösen Voreinstellungen weniger berührte Analyse des Faktischen vorzunehmen, so wie dies auch sein Ordensbruder Jakob von Viterbo leistete.1350 Vermutlich haben die Kenntnisse der Schriften von Thomas von Aquin, dessen Sentenzenkommentare, seine Summa theologiae und seine Sentenzen zur aristotelischen Politik, den Zugang von Aegidius zur Philosophie von Aristoteles gelegt.1351 Aegidius behandelte Emotionen als Voraussetzungen des Handelns der Mächtigen. Dieses Thema entsprach seiner philosophischen Position, die einen Mittelweg bildete zwischen dem, wie Theo Kubach formulierte »strengen Intellektualismus eines Thomas von Aquin« (ob er tatsächlich so »streng« war, sei hier dahingestellt; immerhin sah auch Thomas, wie zuvor ausgeführt, Emotionen als grundlegende Antreiber des menschlichen Handeln vor) und dem »Voluntarismus der Franziskaner«. Jedenfalls entstehe aus dem Willen, so schreibt Aegidius in seinen kleinen Schriften, den Quodlibeta, die Handlung, sofern der Wille durch Emotionen aktiviert sei, was unabdingbar sei, um ihn aus seiner abstrakten Seinsform herauszulösen und zur Verwirklichung zu bringen. Die Vernunft hat Aegidius in diesem Prozess als formendes, regulierendes, orientierendes Vermögen eingesetzt1352, was letztlich die Voraussetzung bildet, normativ auf die Emotionen einzuwirken, ihren praktischen politischen Einsatz durch die Herrscher vorzusehen und ebenso die didaktische Intervention – durch Aegidius selbst – zu ermöglichen und zu rechtfertigen. Denn aus der Ausstattung des Menschen mit der Vernunft folge – so Aegidius in den Quodlibeta – nicht automatisch die Vernünftigkeit des Handelns und seines Ergebnisses, weil nicht nur durch einen verfehlten Gebrauch der Vernunft Fehlurteile entstehen könnten, sondern durch den Akt des Willens dies geschehe. Auf die Konzeption des Politischen bezogen, ergibt sich bei Aegidius der Primat des Willens, der erst den Verstandesgebrauch hervorbringt.1353 In den speziell zur

1349 1350 1351 1352 1353

theologische Lehre, in: Analecta Augustiniana 27 (1964), S. 167–262; John R. Eastman, Das Leben des Augustiner-Eremiten Aegidius Romanus (ca. 1243–1316), in: ZKG 100 (1989), S. 318–339; Perret, Traductions, S. 1–10. Hinweise zum Stand der Editionen: Perret, Traductions, S. 2. Walther, Aegidius. Berges, Fürstenspiegel, S. 211–228; Quaglioni, Modello, S. 103–122; Lambertini, Peter of Auvergne, S. 55. Kobusch, Geschichte, S. 339f., 581 Homann, Totum posse, S. 11–13, 155.

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Politik verfassten Schriften urteilt Aegidius dann anders: In der Natur des Menschen ist bereits die Vernunft angelegt. Politische Themen erörterte Aegidius bereits zu Beginn seiner akademischen Karriere und untersuchte dabei, wie Politik und Emotionen in Verbindung stehen. In dem bisher von der Forschung – auch von Eckard Homann, dem Kenner der politischen Philosophie von Aegidius Romanus – durchweg unbeachteten Kommentar zur aristotelischen Rhetorik, der Sententia super librum Rhetoricum, um das Jahr 1272 geschrieben und sich auf die von Wilhelm von Moerbeke kurz zuvor erstellte Übersetzung1354 stützend, wich Aegidius von dem Gegenstand der Vorlage deutlich ab. Er stellte eine politische Harmonie vor, die auf der Stabilität von Emotionen und von hierarchischen Positionen beruht. Statt durch Einzelentscheidungen des Herrschers sollten die Menschen in einer wohlgeordneten Gemeinschaft durch die Gesetze geleitet werden. In ihnen ruhe das Heil des Staates.1355 Aegidius behandelt deswegen die Rhetorik, weil die Rede und die durch sie herbeigeführte Überzeugung – ausdrücklich nicht Furcht und Schrecken – Mittel sein müssten, um die Akzeptanz der Gesetze zu erreichen. Überzeugungen erwüchsen aus den Gefühlen der Zuneigung, die der Redner wecken solle. Aber die Rede ist kein Garant der guten Herrschaft. Im Rhetorikkommentar warnt er vor Fehldeutungen von Reden, die zur Überschätzung – magnipensio – oder Unterschätzung – parvipensio – von Herrschaftseinwirkungen führten. Wirkmächtiger als die Rede sei das Beispiel der guten Tat.1356 Aegidius leitet aus einer Rhetoriklehre eine Regierungslehre ab, die bis zu Hinweisen reicht, wie eine gerechte und effiziente Erhebung von Abgaben im Staat gestaltet sein sollte.1357 Gewalt anzuwenden, sei wider die Natur des Menschen und missachte die Bedingungen des menschlichen Zusammenlebens; sie sei aber doch in den Fällen anzuwenden, wenn sie durch Gewohnheit vorgesehen und wenn die Gewalttat angenehm – delectabile – sei, was dann gewährleistet sei, wenn sie nicht durch die Lust des Herrschers verursacht und willkürlich ausgeübt werde, sondern zur Besserung des Menschen geschehe.1358 Der Herrschaft und der durch sie hervorgerufenen hierarchischen Abstufung von Zuständigkeiten solle eine Harmonie innewohnen. Deswegen dürfe der 1354 Rhetorica. Translatio anonyma sive vetus et Translatio Guillelmi de Moerbeck, hg. v. Bernd Schneider (Aristoteles Latinus 31), Leiden 1978; Bernd Schneider, Die mittelalterlichen griechisch-lateinischen Übersetzungen der aristotelischen Rhetorik, in: Peripatoi 2 (1971), S. 7, 15–69; Constantino Marmo, L’utilizzazione delle traduzioni latine della Rhetorica nel commento di Egidio Romano (1272–1273), in: La Rh8torique d’Aristote. Traductions et commentaires de l’Antiquit8 au 17e siHcle, hg. Gilbert Dahan, IrHne RosierCatach, Paris 1998, S. 111–133. 1355 Aegdius Romanus, Commentaria in rhetoricam Aristotelis, fol. 3r, 18r. 1356 Ebda., fol. 2v–3r, 4v–7r, 30r-v. 1357 Ebda., fol. 17r-v. 1358 Ebda., fol. 37r.

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soziale Status jedes Mitgliedes des politischen Verbandes nicht angetastet werden; sowohl die leitende Position des Befehlenden als auch die unterworfene Position des Gehorsamen gelte es zu festigen, was durch ein richtiges Benennen und daraus folgend Bewerten der sozialen Positionen gelinge. Hingegen führe die Verachtung – die indignatio – der jeder Person zustehenden Ehre dazu, dass das Befehlen und das Gehorchen verfehlt würden, so dass keine stabile Herrschaft entstehe. Die Menschen reagierten auf den Mangel an geordneter Harmonie, die den Konsens der Beherrschten voraussetzt, mit Zorn. Er sei umso heftiger, je mächtiger eine Person sei. Nur der Zorn des Herrschers sei angemessen, denn jeder Herrscher müsse mit dem richtigen Einsatz seiner Emotionen agieren und die Emotionen der Untertanen lenken und, sofern sie verfehlt seien, mit seinem Zorn korrigieren. Es gehöre zu den Pflichten des Herrschers, mit Zorn auf den Ungehorsam seiner Untertanen zu reagieren. Der Zorn ist in ein Ordnungsgefüge eingewoben, ist keine spontane Regung. Verfehlt sei der Zorn des Herrschers stets dann, wenn er den Status dessen missachte, gegen den sich der Zorn richte. So zu handeln, kennzeichne den Tyrannen. Er zerstöre die politische Hierarchie, die zugleich eine Harmonie ist, weil er keine Rechte den Untertanen zubillige, sie vielmehr verachte. Der Zorn solle Ausnahme bleiben; er habe nur seine Berechtigung, wenn der Staat von schlimmen Verfehlungen heimgesucht werde. Ungerechte Herrscher verübten schreckliche und schreckenerregende Taten, weswegen sie gefürchtet würden von denjenigen, die diese Taten erdulden müssten. Die Begriffe von furor, horror und terror stellt Aegidius in Verbindung zur verfehlten Herrschaft. Furcht und Schrecken sind nicht allein Instrumente, die Ungerechtigkeit erzeugen oder zu erzeugen riskieren, sondern sie sind unmittelbar und eo ipso Kennzeichen der Ungerechtigkeit und haben keinen Platz in einer guten Herrschaft. Den Mächtigen wirft Aegidius vor, Experten eines Streits der Vielen zu sein – experti multorum agonum –, sofern sie ihre Antriebe nicht zu zügeln und keine Harmonie herzustellen wüssten. Am Beginn des zweiten Teiles des Buches zur Rhetorik behandelt Aegidius die passiones, die er in irascibiles und in concupiscibiles aufteilt; beide seien zwar geeignet zur Erreichung von Vergnügen, aber nur für den Einzelnen, nicht nützlich zugunsten des allgemeinen Wohls; sie führten zu ungerechtem Handeln. Verlangt wird die Leitung der Menschen durch die Vernunft und die des Staates durch die Gesetze. Aber die Vernunft bedarf eines Antreibers. Aegidius sieht die Liebe in dieser Funktion. Aber Aegidius sieht ihren Ursprung außerhalb der Herrschaft. Vielmehr entstehe sie aus der Liebe zwischen Freunden, die in unmittelbarer Anschauung miteinander verbunden seien und für dieses Band keiner Herrschaft bedürften. Diese Liebe werde überall demjenigen Menschen

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entgegengebracht, die ihre Freunde liebe: Id est universaliter homines diligunt eos qui sunt valde amatores amicorum.1359 Das Frühwerk von Aegidius zur Rhetorik zeichnet sich durch eine abschätzige Bewertung der Herrscher aus, die zum Guten nur dann befähigt seien, wenn ihre Macht durch die Geltung der Rechte der Untertanen und den Vollzug der Gesetze eingeschränkt werde. So entstehe Gerechtigkeit. Hingegen handelten die Menschen – vor allem die Herrscher – ungerecht, wenn sie wähnten, ungestraft zu bleiben, und wenn ihnen tatsächlich die Möglichkeit dazu eingeräumt werde: homines iniusta faciunt, cum possunt.1360 Liebe und andere Emotionen haben zwar ihren Platz im Staat, aber sie sollen aus ihrer spontanen Entstehung in eine durch die Vernunft geformte Existenzform überführt werden. Günstiger bewertet Aegidius Romanus in seinem später, um das Jahr 1279 verfassten Werk De regimine principum das Handeln der Könige. Er führt in seine Argumentation die Emotionen ein, deren Einsatz er deutlicher als im Rhetorikkommentar nicht auf Freundeskreise begrenzt, sondern auf den Staat ausdehnt. Indem er in dieser Schrift die menschliche Natur als Entstehungsgrund des Staates einführt, sind auch die menschlichen Emotionen in eine wichtige Position eingerückt. Anders als der Prolog behauptet, dass nämlich seine Schrift dem französischen Thronfolger und künftigen König Philipp IV. von Frankreich gewidmet sei1361, richtete sich das Werk nicht einzig an einen Herrscher und seine Familie. Dieser Fürstenspiegel diente mehr noch als die zeitgenössischen Werke von Wilhelm von Peraldus, Helinand von Froidmont, Vincenz von Beauvais und von Guibert von Tournai1362 einer Belehrung, die die Sorge um die utilitas publica allen Menschen auftrug, und entwarf eine allgemeine Theorie des politischen Handelns. In diesem Werk stellte Aegidius die große Macht des Herrschers und nicht die Geltung der Gesetze als Garant der Gerechtigkeit vor. Der inhaltliche Gegensatz zum Rhetorikkommentar ist offensichtlich. Indes gibt es eine Brücke zwischen den beiden Werken, weil Aegidius eine persönliche Vortrefflichkeit des Herrschers auch im Buch De regimine principum nicht voraussetzt, sondern institutionelle Verfahren der Herrschaft einsetzt, die zugleich emotional-anthropologisch fundiert sind. Nur 1359 Ebda., fol. 49v–53r, 57r. 1360 Ebda., fol. 58v, sowie fol. 3r, 20r-v, 40r–42r; Ubaldo Staico, Retorica e politica in Egidio Romano, in: Documenti e studi sulla tradizione filosofica medievale 3,1 (1992), S. 1–75; B8nedicte SHre, Deshonneur, outrages et infamie aux sources de la violence, d’aprHs le super Rhetoricum de Gilles de Rome, in: Violence souveraines au moyen .ge, hg. v. FranÅois Foronda u. a. Paris 2010, S. 103–112. 1361 Ebda., Prolog; zu König Philipp IV. von Frankreich: Jean Favier, Philippe le Bel, Paris 1978; Strayer, Reign; Elizabeth R. Brown, The Case of Philip the Fair, in: Viator. Medieval and Renaissance Studies 19 (1988), S. 219–246. 1362 Helinand von Froidmont, De bono regimine principis, Sp. 735–746; Vincenz von Beauvais, De morali principis institutione; Guibert von Tournai, Eruditio.

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insoweit eine gröbere Verantwortung auf den Herrschern laste, ihnen die Macht über zahlreichere Personen aufgetragen sei, seien diese den moralischen Anforderungen am meisten verpflichtet. Sie müssten größere Tugenden als andere haben und allen Menschen ein Vorbild sein. Die individuelle Moral leitet sich aus der politischen Position ab. Die erhöhten moralischen Anforderungen lässt Aegidius auch für die Ehen der Herrscher gelten, die wie alle Ehen in eine natürliche Ordnung eingebunden sein müssten, bei den Herrschern aber auch dem gesamten Staat nützlich seien und den Untertanen ein Beispiel geben sollten. Aegidius schreibt, dass sich alle Eheleute mit einem einzigen Sexualpartner begnügen müssten. Dies gelte für die Eheleute der Könige und Fürsten noch viel mehr, weil bei deren Ehen mehr als bei anderen die natürliche Ordnung einzuhalten sei, die den Staat begründe.1363 Die sozial breit gefächerte Rezeption des Werkes ist durch den Text selbst angelegt, weil er in seinen beiden ersten Teilen Lehren zur persönlichen Lebensführung und zur Gestaltung des Familienlebens und des Haushaltes enthält. Die Abschriften des Traktates stehen oft in Handschriften, die Predigten enthalten. Schon der Inhalt der Schrift bezeugt, dass sie für Predigten genutzt werden sollte, jedenfalls für eine öffentliche Rede zur Moraldidaktik. Daher gelten auch dieselben rhetorischen Verfahren hinsichtlich der Exemplifizierung allgemeiner Prinzipien, die in Predigtanweisungen formuliert worden sind1364 und die Aegidius auch für sein Werk als verbindlich ansieht: Aus den allgemeinen Regeln der Moral sollten die besonderen Anwendungen in den Predigten abgeleitet und mit Beispielen versehen sein, weil so die Predigt auf die Seelen der

1363 Aegidius Romanus, De regimine, fol. 148r : Decet ergo coniuges omnium civium uno viro esse contentas. Multo magis tamen hoc decet coniuges regum et principum, quia in eorum coniugio magis quam in alio decet naturalem ordinem conservare. 1364 Guibert von Nogent, Liber quo ordine sermo fieri debeat, in: PL 156, Paris 1853, Sp. 21–32; Thomas von Chobham, Summa de arte praedicandi, hg. v. Francesco Morenzoni (CCCM 82), Turnhout 1988; Un manuel de pr8dication m8di8vale, in: Revue n8o-scolastique de philosophie 25 (1923), S. 192–209; Robert Basevorn, Forma praedicandi, in: Thomas M. Charland, Artes praedicandi. Contribution / l’histoire de la rh8torique au moyen .ge (Publications de l’Institut d’8tudes m8di8vales 7), Ottawa/Paris 1936, S. 231–323; Harry Caplan, Rhetorical Invention in Some Tractatus on Preaching, in: Speculum 2 (1927), S. 284–296; Ders., Classical Rhetoric and the Medieval Theory of Preachim, in: Ders., Of Eloquence. Studies in Ancient and Medieval Rhetoric, Ithaca (N.Y.), 1970, S. 105–135; James Jerome Murphy, Rhetoric in the Middle Ages. A History of the Rhetorical Theory form Saint Augustine to the Renaissance, Berkeley/Los Angeles/London 1974, S. 301–334; Richard H. Rouse/Mary Rouse, Preachers, Florilegia and Sermons. Studies on the Manipulus florum of Thomas of Ireland (Studies and Texts 47), Toronto 1979, S. 8–25; Louis Jacques Bataillon, Les instruments de travail des pr8dicateurs au 13e siHcle, in: Culture et travail intellectuel dans l’Occident m8di8val, hg. v. GeneviHve Hasenohr/Jean LongHre, Paris 1981, S. 197–229; P. O. Lewry, Rhetoric at Paris and Oxford in the Mid-Thirteenth Century, in: Rhetorica 1 (1983), S. 45–63.

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Menschen wirke.1365 Aegidius bezeichnet sein Werk De regimine an manchen Stellen ausdrücklich als Predigt (sermo), womit zwar ganz offensichtlich nicht intendiert war, es gänzlich in mündlicher Rede vorzustellen, aber anzeigt, Textbausteine für Predigten anzubieten, so wie ansonsten auch die schriftlich festgehaltenen sermones Muster und Vorlagen für die mündlichen Predigten enthalten.1366 Moraldidaxe und Predigt schließen die Erörterung politischer Verfahren ein. In dem Werk De regimine principum sucht Aegidius das Problem, wie Herrschaft effektiv und zugleich gerecht sein kann, nicht allein mit ethischen Normen – beruhend auf Tugenden – sondern mit politischen Regeln – beruhend auf Verfahrensordnungen – zu lösen, und er führt drittens auch ästhetische Gestaltungen als Verursachungen der guten Herrschaft ein – beruhend auf der Schönheit des Körpers des Königs. Sie soll dem Herrscher die Zuneigung und Liebe der Untertanen zuführen. Wenn Aegidius die körperlichen Vorzüge des Herrschers behandelt, warnt er zwar davor, einzig auf sie zu vertrauen, um eine gerechte Herrschaft zu errichten; aber ohne sie gehe es gleichwohl nicht. Obwohl die Eigenschaften des Körpers sich änderten und nicht die geistige Disposition widerspiegelten1367, müsse der König doch auch mittels der Schönheit seines Körpers auf den Staat einwirken. Nicht allein durch Hygiene und Diätik, wie von der Schrift Secretum secretorum vorgesehen, sondern auch durch Genetik soll dies erreicht werden. Aegidius verlangt, dass die Könige und ihre Thronfolger sich mit schönen Frauen verheiraten, damit deren Schönheit sich in der der Kinder fortsetze, so dass auch der künftige König seine körperlichen Vorzüge einsetzen könne. So werde langfristig die Liebe der Untertanen gewonnen. Die Anweisung, schöne Nachkommen zu zeugen, gilt zwar für alle Bürger ; aber diese Pflicht gelte noch mehr für den König, damit er ein Vorbild für alle sei und er die Attraktivität zugunsten der künftigen Könige sichere. Ex pulchris nascuntur pulchri, lautet knapp zusammengefasst der biologische Determinismus. Die Schönheit ist individuell und dynastisch präsent. Das beste Alter für den Mann, Kinder zu zeugen, sei 36 Jahre, für die Frau 18 Jahre. Dann gelinge es am meisten, vorzügliche Nachkommen zu haben – filii magis perfecti. Überdies sollen sexuelle Vereinigungen für den Mann vor seinem einundzwanzigsten Lebensjahr gänzlich ausgeschlossen sein, da erst nach dieser Zeit eine ausreichende generative 1365 Aegidius Romanus, De regimine , fol. 158r: Sermones universales circa morale negocium minus proficiunt. (…) Sermones universales circa mores despiciendo non sunt, quia ignorantia universalium saepe facit particularia ignorare, ipsis tamen universalibus sermonibus sunt particularia addenda, quia cum negocium morale circa particularia consistat in talibus particulares sermones plus proficiunt. 1366 Jean LongHre, La predication m8di8vale, Paris 1983. 1367 Aegidius Romanus, De regimine , fol. 21r–23r.

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Kraft bestehe, während vor diesem Lebensalter meist missgestaltete Kinder gezeugt würden.1368 Schönheit ist nicht allein genetisch verursacht, sie ist auch ein Ergebnis der Erziehung. Auf das Lebensalter abgestimmt ist ein Erziehungsprogramm vorgesehen. Die Perfektion des Körpers sei nicht weniger wichtig als die des Geistes. Mit der körperlichen Erziehung müsse sofort nach der Geburt begonnen werden. Bis zum Alter von sechs Jahren, solange die intellektuelle Aufnahmebereitschaft noch gering sei, bestehe sie allein in der körperlichen Kräftigung, die durch Mäßigung in der Nahrungsaufnahme und durch Bewegung erlangt werde. Jede Lustregung, denen die Kinder mangels ihrer geistigen Fähigkeiten zu widerstehen nicht vermögen, müsse durch die Eltern und Erzieher gezähmt werden, andernfalls der Körper geschwächt würde. Das Ausleben der Leidenschaften beeinträchtige die natürlichen Anlagen des Körpers. Die körperliche Ertüchtigung geschehe durch Spiele, die Kraft verlangen und sie fördern, und durch das Erlernen von Gesten, die dazu geeignet seien, Bewegungen in Schönheit auszuführen. Dies könne nur gelingen, wenn hastige Regungen eingedämmt, ungestüme Gebärden vermieden und rasche Impulse zurückgedrängt werden zugunsten einer ruhigen Vorführung körperlicher Bewegungen, so dass aus ihrer Langsamkeit eine ästhetische Wirkung hervorgehe, die später den König in die Lage versetze, die Vortrefflichkeit und die Schönheit seines Körpers vor seinen Untertanen und den auswärtigen Besuchern in Szene zu setzen. Auch durch die Schönheit seiner Sprache und Rede müsse der König bemüht sein, sich angenehm zu machen und die Soziabilität an seinem Hof und die Loyalität in seinem Reich zu steigern.1369 Aegidius Romanus kombiniert das Thema der Schönheit, wie sie die Schrift Secretum secretorum ausgeführt hat, mit dem der Freundschaft, die Aristoteles in der Schrift der Nikomachischen Ethik dargestellt hat. So wie die Schönheit ist auch die Freundschaft mehr als den Bürgern dem König und den königlichen Prinzen als Pflicht auferlegt, denn beide führten dem Herrscher Liebe zu, die er für das Regieren benötige.1370 Dank der Schönheit und der Freundschaft gewinnt der König die Liebe und somit die Loyalität der Untertanen. So könne es gelingen, meint Aegidius, ohne Zwang und ohne Grausamkeit zu herrschen. Der Friede im Reich und der Gehorsam der Untertanen könnten gesichert werden, sofern es eine Übereinstimmung der Stimmungen gebe, die Konflikte ausschließe. Es sei die amicibilitas, von Aegidius als die Fähigkeit benannt, Freunde zu gewinnen, die die

1368 Ebda., fol. 191r. 1369 Ebda., fol. 130r. 1370 Ebda., fol.114v–116r, 119r, 188v–191r ; Aristoteles, Die Nikomachische Ethik, übers. u. hg. v. Olof Gigon, 2. Aufl. Zürich/München 1995, VII, 2 u. 3.

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Herrschaft erhalte.1371 Die harmonischen Beziehungen stützen sich auf eine Attraktivität, die vom Körper ausgeht, seine Wirkung in den politischen Verband ausdehnt und die Macht des Königs hebt. Um die Schönheit des Körpers zu steigern, gelte es, äußere Attribute hinzufügen. Ornamente müssten angelegt werden. Die extoriora bona seien unumgänglich, um die Vorzüge des königlichen Körpers zur Geltung zu bringen.1372 Schönheit ist nicht ein zufälliges Ergebnis der Natur, sondern verlangt große Anstrengung. Natur steht in der Disposition des Menschen, umso mehr des Königs. Die Schönheit übt den Reiz aus, damit Liebe entsteht. In dem Fürstenspiegel von Aegidius Romanus wird die Schönheit des Körpers des Königs als Resultat eines genetischen und physiologischen Perfektionierungsprogramms gedeutet. Anders als in der Schrift Secretum secretorum hat Aegidius die Widerspiegelung kosmischer Harmonie in der körperlichen Verfassung nicht ausgeführt. Die Pflege des Körpers haben auch andere zeitgenössische Autoren von Aegidius behandelt, das Thema der Schönheit dabei aber beiseite gelassen. So verlangt Vinzenz von Beauvais in der enzyklopädischen Schrift Speculum doctrinale ebenfalls ein körperliches Training für den zukünftigen Herrscher, setzt diesen aber von anderen Menschen deutlicher ab, indem er für ihn handwerkliche Arbeiten ausschließt und die Kraft für militärische Unternehmungen reserviert. Guibert von Tournai verweist in seinem Fürstenspiegel auf die Aufgabe des Herrschers, dank seiner körperlichen Kraft möglichst lange zu leben, damit ausgedehnte Regierungszeiten möglich werden, eine stabile Herrschaft garantiert bleibt und der Frieden im Reich erhalten wird.1373 Der Fürstenspiegel von Engelbert von Admont († 1331) legt hingegen wieder Wert darauf, die körperliche Schönheit des künftigen Herrschers durch Bewegung und gute Ernährung hervorzubringen. Die Harmonie erwächst aus der koordinierten und gleichmäßigen Tätigkeit der Gliedmaßen des königliche Leibes. Die figura membrorum in eine gute Verfassung zu bringen, ist das Ziel der Fürstenerziehung, die damit nicht allein die Kraft des königlichen Körpers stärkt, sondern auch die Anziehung, die von diesem auf seine Umgebung ausstrahlt.1374 Der Körper bewirkt Liebe; sie ist natürlich angelegt, sie bedarf der unmittelbaren Anschauung des Geliebten, auch im politischen Handeln. Der Körper des Königs garantiert 1371 Aegidius Romanus, De regimine, fol. 79r-v ; Huguette Legros, Le vocabulaire de l’amiti8, son evolution s8mantique au cours du 12 siHcle, in: Cahiers de Civilisation M8di8vale 23 (1980), S. 131–139, S. 131; Bizzarri, Colecciones, S. 72. 1372 Aegidius Romanus, De regimine, fol.150v–152r. 1373 Vincenz von Beauvais, Speculum doctrinale, Neudruck Graz 2010, S. 9; Guibert von Tournai, Eruditio. 1374 Engelbert von Admont, De regimine principum , hg. v. A. C. Hueber, J. G. Huffnagel, Regensburg 1725, S. 230.

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die Kontinuität der Herrschaft.1375 Trotz der Unterschiede ist allen hier genannten Autoren gemein, dass eine gute körperliche Verfassung eine gute politische Verfassung hervorbringt, wobei neben der Kraft, so die Aussage einiger Texte, auch, wie bei Aegidius, die von dem schönen Körper erzeugte Liebe eingesetzt ist. Nach der Auffassung von Aegidius ist die Liebe die Kraft, die soziale Bande schafft. Eine die sozialen Relationen erfassende Attraktivität ist bei ihm markiert durch das Wort amor, das zwar im Mittelalter nicht allein in erotischer Bedeutung verwendet wird, im Unterschied zu den Begriffen dilectio und caritas diese Bedeutung aber nicht ausschließt und potentiell einbezieht.1376 Die Liebe, mit dem Wort amor bezeichnet, ist natürlich und steht vor jeder Vernunft. Sie ist in den Gefühlen der Menschen angelegt, fördert gleichwohl die Vernunft und soll von ihr geformt sein, sofern sie zu gutem Tun in der Familie und in der Gesellschaft führt. Die Liebe ist der Vernunft zugänglich. Sie unterstützt eine rational konzipierte Lebensführung. Leidenschaftliches, vernunftwidriges Ausleben ihrer Triebe ist einer solcherart konzipierten Liebe fremd. Die sozial funktionstüchtige Liebe führt nicht zur Ekstase, verlässt nicht die Bahnen gesellschaftlicher Schicklichkeit. Das Sehnen nach der geliebten Person, das heftige Verlangen nach Erfüllung der Liebe, die Furcht vor Zurückweisung: Es sind Themen, die Aegidius nicht darstellt. Dass Liebe fesselt, dass sie den Menschen in ihren Bann schlägt, dass sie ihn wider die Vernunft handeln lässt – nichts davon scheint bei Aegidius auf. Liebe bringt keine Glücksempfindungen hervor, weswegen sie auch nicht als Ziel des Handelns der Menschen vorgestellt wird, sondern als ein Mittel zur Erreichung einer guten Ordnung in Familie und Staat. Liebe ist nicht ekstatisch, sondern stabil; sie wird nicht arbiträr hervorgerufen, sondern entspringt einer natürlich vorhandenen humanen Eigenschaft; sie bezwingt nicht die Menschen, sondern unterwirft sie der sozialen und politischen Verfassung; sie beschränkt sich nicht darauf, Individuen zu verbinden, sondern führt sie an Institutionen heran. Liebe ist eine in sich ruhende Daseinsform, welche keine Veränderungen und Wendungen kennt und stets auf das Ziel des familiären und allgemeinen Wohls ausgerichtet wird. Die emotionsarme Daseinsform nimmt der Liebe die Steigerungsfähigkeit der Sinne. Das Gefühlt bleibt matt. 1375 Hans-Joachim Schmidt, Le roi ne meurt pas. Transmissions des concepts politiques aux successeurs par des testaments politiques, in: Le corps du prince, hg. v. Agostino Paravicini Bagliani (Micrologus 22), Florenz 2014, S. 747–766. 1376 Hugo Kuhn, Liebe und Gesellschaft in der Literatur, in: Ders., Liebe und Gesellschaft. Kleine Schriften, Bd. 3, Stuttgart 1980, S. 60–68; Walter Haug, Die Entdeckung der personalen Liebe und der Beginn der fiktionalen Literatur, in: Ders., Brechungen auf dem Weg zur Individualität. Kleine Schriften zur Literatur des Mittelalters, Tübingen 1995, S. 233–248; Ders., Höfische Liebe.

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Aegidius steht damit in Opposition zu einer zeitgenössischen Konzeption von amor, amour, amore, minne, die Liebe als aufwühlendes erotisches Gefühl, als überraschende und unerbittlich den Menschen unterwerfende Kraft, als leidenschaftlichen Ausnahmezustand, als gefühlsintensives Erleben und damit als soziale Regeln übertretendes menschliches Empfinden vorstellt. Theoretisch ausgeführt ist diese Auffassung am Ende des 12. Jahrhunderts von Andreas Capellanus, der eine Konzeption der Liebe ausführt, die in Opposition zur rationalen Lebensgestaltung steht und sich einer gesellschaftlichen Domestizierung entzieht.1377 Liebe ist gleichwohl auch bei Aegidius Romanus eine primäre, alles bewegende Kraft. Die Liebe sei, so stellt er es dar, von Gott bewirkt, und die Liebe bringe Gott den Menschen nahe. Gott sei der Retter aller guten Menschen aus dem einzigen Grund, dass er die Menschen liebe. In ähnlicher und konformer Weise sei die Liebe den Menschen angetragen, die die göttliche Liebe umso mehr imitierten, je mehr Macht sie über andere Menschen ausübten. Die Herrscher liebten folglich mehr als dies ihre Untertanen täten, weil sie mehr als ihre Untertanen Gott ähnelten. So wie Gott das ganze Universum beherrsche und leite, so bemühe sich der König durch das Gesetz und die kluge Vorkehrung sein Reich zu regieren: Rex studet per legem et providentiam suum regnum regere, quomodo Deus totius universum regit et gubernat.1378 Und so wie Gott durch die Liebe bewege, alle guten Menschen belohne, so solle dies auch der König tun: Deus est enim remunerator omnium bonorum, quia non remunerat nisi ex amore, quanto ergo quis magis gerit imaginem eius (…), principis autem status requirit, ut sit deo conformior.1379 Gott ist das Vorbild, ja das Bild im eigentlichen Sinn, das der Herrscher widerzuspiegeln hat, um sowohl die gute Ordnung als auch die Liebe in die Welt zu tragen. Mehr als nur Analogie, sondern tatsächliches Handeln, Motivierung und Emotion verbinden Gott und König. Denn dieser verlängert Gottes Wirken, wird zu dessen Instrument. Das Instrument der Liebe des Königs ist wiederum das Gesetz. Es verwirklicht die Liebe, reguliert sie, bewahrt sie vor der Unordnung der Gefühle, mindert aber nicht deren natürliche, göttlich eingegebene und kräftige Entfaltung. Die Liebe durchtränkt die verschiedenen Stufen der Vergesellschaftung, die nach Aegidius zugleich Stufen der Herrschaft sind. Auch die Ehe ist nicht von der Herrschaft ausgenommen. Deswegen verwendet Aegidius auch zu ihrer 1377 Andreas Capellanus, De amore; Gustave Vinay, Il »De amore« di Andreas Capellanus nel quadro della letteratura amorosa e della rinascita del secolo XII, in: Studi Medievali 17 (1951), S. 203–276; Alfred Karnein, La reception du De amore d’Andr8 le Chapelain au 13e siHcle, in: Romania 102 (1981), S. 324–351. 1378 Aegidius Romanus, De regimine, fol. 25r. 1379 Ebda., fol. 25r.

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Bestimmung die Begriffe communitas und regimen, also politische Termini, wobei der letztere eindeutig hierarchische Dominanz ausdrückt. Das regimen domesticum erhält die Ehe als die erste Gemeinschaft.1380 Da jede Herrschaft die Liebe voraussetzt, geschieht dies auch in der Ehe. Aegidius leitet die politische Gestaltung im Staat von der Konstitution der Ehe ab. In Analogie zur aristotelischen Bestimmung des Menschen als animal politicum ¸ charakterisiert Aegidius den Menschen zunächst als animal coniugale. Was Johannes Duns Scotus – auf ihn wird weiter unten eingegangen werden1381 – in einem Gegensatz zwischen politischer und familiärer Existenz trennt, vereint Aegidius. Die Zuneigung zwischen den Eheleuten ist durch die menschliche Natur gegeben. Diese Zuneigung, die Aegidius als amicitia bezeichnet, ihr also den Begriff amor am Anfang des Kapitels zur Ehe zunächst noch vorenthält, begründet ein Herrschaftsverhältnis. Es ist Voraussetzung, um die für das Leben notwendigen Dinge in Familie und Haus bereitzustellen und in geordneter Weise zu verteilen. Im Haus gebe es, so Aegidius, drei Arten der Unterordnung: die der Knechte unter ihre Herren, die der Kinder unter ihre Eltern, die der Ehefrau unter ihren Mann. Die Frau schulde dem Mann Gehorsam. Dies erscheint Aegidius unerlässlich, da – so wie in allen anderen sozialen und politischen Gebilden – auch im Haus nur einer regieren könne. Wenn es anders wäre, wenn das Haus gleichermaben dem Mann wie der Frau unterworfen wäre, führte dies dazu, dass Untergebene mehreren Oberhäuptern zugleich gehorsam sein müssten, Diener mehrerer Herren wären. Für Aegidius eine Vorstellung, die schlechterdings widersinnig und vor allem wider die natürliche Ordnung ist. Die Zuordnung auf einen einzigen Höchsten ist vielmehr auf allen Stufenleitern der Vergesellschaftung durch die Naturnotwendigkeit gegeben. Das Haus macht davon keine Ausnahme.1382 Aegidius verwendet die Unterscheidung der Verfassungsformen gemäb den von Aristoteles formulierten Begriffen auch für die Gestaltung des Lebens in der Familie. Aegidius schreibt, dass die Herrschaft im Haus nicht der Tyrannis entsprechen dürfe, vielmehr einer politischen Verfassung, welche das allgemeine Wohl befördere und das gute Leben der Untergebenen zu gewährleisten habe, so dass die Vorrangstellung des Mannes gegenüber der Frau eine milde Herrschaft sein müsse, die gemeinsame Ziele verfolge und vor allem begrenzt sei durch die Beachtung der Gesetze, die eine rechtliche Ordnung einrichteten, innerhalb dessen die eheliche Gemeinschaft stattfinde und die beiden, Mann und Frau, Regeln auferlege. Die Familie ist folglich kein rechtsfreier Raum, der 1380 Ebda., fol. 141v : Communitas ergo maris et foeminae, quae est propter generationen, est prima pars domus et praecedit communitatem domini et servi. 1381 Kapitel XII.2. 1382 Aegidius Romanus, De regimine, fol. 143r–145r.

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der Willkür des Mannes ausgeliefert wäre. Frauen wie Knechte zu behandeln, sei barbarisch, schreibt Aegidius, also ein Verhalten, das einer an Vernunft und am allgemeinen Wohl ausgerichteten Verfassung widerspreche. Die Verurteilung als barbarisch verweist auf eine Aristoteles eigentümliche Unterscheidung, die den voll entwickelten Mensch allein in einer politischen Organisation vorhanden ansieht und Abweichungen davon als ethnisch begründeten Makel vorstellt, der bei barbarischen Völkern bestehe, die zur Verwirklichung einer guten politischen Verfassung unfähig seien. Aegidius indessen präzisiert den Terminus barbarisch nicht hinsichtlich einer Volkszugehörigkeit, vielmehr verweist er auf eine universal-humane Geltung der ehelichen Ordnung. Die Frau sei durch ihre Natur zum Gebären von Kindern bestimmt, nicht zum Dienen. Eine doppelte Aufgabe oder Bestimmung – Aegidius verwendet den Begriff officium – der Frau aufzuerlegen, widerspreche der göttlichen Schöpfungsordnung. Weil diese Ordnung vollkommen sei, könne es keine Abweichung geben, in welcher Konstellation auch immer. Jedes Geschöpf erfülle eine einzige Bestimmung, der es sich vollständig widme. Ein weiteres Argument präsentiert Aegidius: Da die Frau in freier Entscheidung ihren Gatten gewählt habe, also gemäb dem kanonischen Recht der Konsens beider Eheleuten eine Heirat konstituiere1383, könne sie nicht der freien Verfügung ihres Mannes ausgeliefert sein. Beide, Mann und Frau, hätten einen Vertrag miteinander geschlossen. Aegidius verwendet das Wort pactum. Die rechtmäßigen Schranken sind es, die der Herrschaft des Mannes in seiner Ehe nicht allein Grenzen ziehen, sondern seine Frau als Inhaberin von Ansprüchen einsetzen. Diese seien dreifach verbürgt: durch die Natur, durch das Gesetz und durch die freie Vereinbarung.1384 Die Herrschaft des Mannes über die Frau ist also nicht total, denn sie beruht auf freier Wahl – ex electione.1385 1383 Robert Bartsch, Die Rechtsstellung der Frau als Gattin und Mutter. Geschichtliche Entwicklung ihrer persönlichen Stellung im Privatrecht bis in das 18. Jahrhundert, Leipzig 1903; Ren8 Metz, Recherches sur le statut de la femme en droit canonique. Bilan historique et perspective d’avenir, in: L’ann8e canonique 12 (1968), S. 85–116; La femme et l’enfant dans le droit canonique m8di8val (Variorum Reprints 222), Aldershot 1985; Jean Gaudemet, Le marriage en Occident. Les moeurs et le droit, Paris 1987; Brundage, Law ; Ders., Sex, Law and Marriage in the Middle Ages (Variorum Reprints 397), Aldershot 1993; Ruth Wiegand, Liebe und Ehe im Mittelalter (Bibliotheca euditorum 7), Goldbach 1993; Sarah Sheehan, Marriage, Family, and Law in the Medieval Europe. Collected Studies, hg. v. J. Farge, Toronto 1996. 1384 Aegidius Romanus, De regimine, fol. 155r : Sed inter virum et uxorem semper interveniunt quaedam conventiones et pacta et sermones quidam, quomodo vir habere se debeat circa ipsam. 1385 Ebda., fol. 155v sowie fol.143v–145r: Nam regimen paternale assimilatur regali, coniugale vero politico. Debet enim vir praeesse uxori regimine politico, quia debet ei praeesse secundum certas leges, scilicett secundum leges matrimonii et secundum conventiones et pacta; zur Anwendung der politischen Konzeption von Aristoteles durch Peter von Auvergne: Lanza, Politica, S. 19–75.

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Die Vorherrschaft des Mannes gegenüber seiner Gattin sieht Aegidius auch unterschieden von der, welche die Eltern gegenüber den Kindern ausüben. Anders als die Kinder müsse die Ehefrau nicht für ihre Aufgaben vom Herrn des Hauses angeleitet werden, sie bedürfe keiner Vorbereitung, sie sei vollständig befähigt, ihre Aufgaben selbstständig, ohne Anweisung und ohne Ermahnung auszuüben. Die gemäb der Konzeption von Aegidius alle Lebensbereiche erfassende Hierarchisierung kennt also Abschwächungen und Gegenkräfte. An einer Stelle seines Werkes kann Aegidius sogar von einer Gleichheit zwischen Mann und Frau in der Ehe sprechen, weil die beiden Gatten in gleicher Weise die natürliche Bestimmung der Ehe erfüllen, nämlich die Zeugung und die Erziehung von Nachkommen.1386 Die Gleichberechtigung der beiden Gatten ist bei Aegidius gleichwohl begrenzt und gilt nicht für das Binnenverhältnis der Eheleute. Zwischen ihnen ist die Beziehung ungleich, von Herrschaft und Unterordnung gekennzeichnet. Genauso wenig kann die Ehefrau in den Außenbeziehungen der Familie eine gleiche Stellung wie die des Mannes beanspruchen. Die Rechte der Frau sind auf den Haushalt beschränkt und erfassen nur dessen Verhältnisse. Die Verhältnisse und das Verhalten in der Ehe sind teils zur Gleichheit, teils zur milden Herrschaft ausgerichtet, stets aber in Liebe geformt. Für Aegidius Romanus gründet die Ehe auf der Wahl der Eheleute. Dies bedeutet, dass das regimen innerhalb der Ehe keine Schmälerung der persönlichen Freiheit nach sich zieht. Da eine in der Diktion von Aegidius eine »politische« Verfassung der Ehe besteht, die ein »tyrannisches« Regime ausschießt, zielt sie auf den Nutzen aller beteiligten Personen. Herrschaft begründet daher innerhalb der Ehe stets ein Wohl, das indes nicht nur distributiv gewährt, sondern von den beiden Gatten aktiv geschaffen wird. Die Freiheit als Bestandteil des ehelichen Verhältnisses wird von Aegidius zwar nicht ausführlich thematisiert, also nicht durch die Angabe konkreter Rechte verdeutlicht, ist aber in der Forderung nach freier Willensentscheidung enthalten.1387 Mehr als das Recht begründet die Liebe die Ehe. Weil für Aegidius die Liebe der Herrschaft nicht widerspricht, vielmehr die Herrschaft begründet, ist sie auch bei der Unterordnung der Frau unter den Mann vorhanden. Die Liebe ist nicht einmal Garant gegen einen exzessiven Gebrauch der Herrschaft, was Aegidius einzuräumen scheint, indem er doch auch rechtliche Sicherungen einführt, um einem Missbrauch der Herrschaft in der Ehe vorzubeugen, ohne aber die Sicherungsinstrumente zu präzisieren und Verfahren vorzusehen, wie 1386 Aegidius Romanus, De regimine, fol. 154r–156r. 1387 Herbert Grundmann, Freiheit als religiöses, politisches und persönliches Postulat im Mittelalter, in: Historische Zeitschrift 183 (1957), S. 23–53; Johannes Fried, Über den Universalismus der Freiheit im Mittelalter, in: Historische Zeitschrift 240 (1985), S. 313– 361.

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Konflikte zwischen den Eheleuten in rechtlicher Weise gelöst werden könnten. Die zeitgenössische Praxis kannte hingegen sehr wohl vor Gericht ausgetragene Streitfälle zwischen Ehegatten, die mittels rechtlicher Prozeduren Ansprüche durchsetzten und verteidigten. Prozesse vor geistlichen Gerichten zur Regelung der Gütergemeinschaft, zu den ehelichen Pflichten, zu Anschuldigungen des Ehebruchs, zur Trennung der Eheleute oder zur Feststellung der Ungültigkeit der Ehe waren üblich im späten Mittelalter. Solche Prozesse haben auch Ehefrauen angestrengt.1388 Der Verzicht auf eine präzise juristische Verfahrensordnung im Text von Aegidius ist sicherlich bedingt durch die Gattungstypologie des Fürstenspiegels, der andere Intentionen verfolgt, als rechtliche Konflikte und deren Beilegung zu untersuchen, entspricht aber auch der Intention eines Werkes, das Interessengegensätze als ordnungswidrig erachtet, sie von vornherein auszuschließen sucht, Fehlverhalten nicht ausführt und vor allem Sanktionen nicht vorsieht, um eine eventuell gestörte Ordnung wieder aufzurichten, vielmehr auf eine durchgehende Bewirkung jedes Herrschaftsverhältnisses durch die Liebe setzt und konfliktfreie oder zumindest konfliktarme Beziehungen voraussetzt. Aegidius vertritt einen Primat der Fürsorge, die sich außerhalb des Rechts entfaltet. Aegidius stellt regimen und amor in eine parallele Reihe. In der Abfolge von Einzelwesen, Haus, Dorf, Stadt und Königreich entfaltet sich stets die gleiche Wirkung, die zur Erhaltung des Daseins, zum guten Leben und zur moralischen Vervollkommnung führt. Der Unterschied zwischen den institutionellen Gruppierungen ist für Aegidius Romanus zunächst nur quantitativ gefasst, erfährt dann aber doch eine qualitative Überhöhung, insofern erst die Vereinigung im Königreich eine vollkommene Gemeinschaft und eine vollkommene Herrschaft und folglich eine vollkommene Liebe hervorbringt, soweit dies im irdischen Dasein möglich ist.1389 Mit der Zunahme der Mitglieder der jeweiligen 1388 Jean Dauvillier, Le marriage dans le droit canonique classique de l’Eglise. Depuis le d8cret de Gratian (1140) jusqu’/ la mort de Cl8ment V (1314), Paris 1933; Richard Helmholtz, Marriage Litigation in Medieval England (Cambridge Studies in English Legal History), Cambridge 1974; Anne LefHbvre-Teillard, RHgle et r8alit8 dans le droit matrimonial / la fin du moyen .ge, in: Revue de droit canonique 30 (1980), S. 41–54; Charles Denahue, The Canon Law on the Formation of Marriage and Social Practice in the Later Middle Ages, in: Journal of Family History (summer 1983), S. 144–158; Klaus Michael Lindner, Courtship and the Courts: Marriage and Law in Southern Germany 1350–1550, Diss. Theol. Harvard University 1988; Frederik Pedersen, Romeo and Juliet of Stonegate: Marriage Litigation and the Ecclesiastical Courts in York in the Foorteent Century, Phil. Diss, University of Toronto 1992; Florence Demoulin, Exceptio temporis, prescription romaine et dispense en matiHre matrimoniale au d8but du 13e siHcle, in: Papers of the 10th International Congress of Medieval Canon Law, Syracuse (N.Y.) 1996; Ines Weber, Consensus facit nuptias. Überlegungen zum ehelichen Konsens in normativen Texten des Frühmittelalters, in: ZRG KA 118 (2001), S. 31–66. 1389 Struve, Entwicklung, S. 182–187; dort die Auffassung vertreten hinsichtlich einer »or-

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Gemeinschaft wächst die Macht und zugleich die Liebe des Herrschers; beide sind gleich begründet, legitimiert und intendiert: durch die Fürsorge über die ihm unterstellten Menschen. Die Fürsorge des Königs verlangt von den Untertanen Gehorsam. Der König besitzt mehrere Herrschaften: Er übt sie von der kleinsten Einheit – seinem eigenen Haus – bis zur gröbten – seinem Königreich – aus. Die Könige müssten, so schreibt Aegidius, zunächst über die Fähigkeit verfügen, ihr eigenes Haus und ihre eigene Familie zu regieren; dann gelangten sie auch zur Befähigung, den großen politischen Verband zu leiten. Diese Idee war bereits in den frühmittelalterlichen Fürstenspiegel ausgeführt, hier aber in eine von Aristoteles ausgeführte Dreigliederung von Individuum, Haus und Staat eingefügt. Nur im Haus, wenn die Herren über Knechte gebieten, bestehe die Unfreiheit. Auch dies entspricht der durchgängigen Auffassung derjenigen, die im Mittelalter die politische Theorie von Aristoteles deuteten. Anders als von der aristotelischen Vorlage angelegt, ist das Verhältnis zwischen Mann und Frau aber von Aegidius nicht als despotisch gekennzeichnet.1390 Aegidius meint nicht, dass in der Hausherrschaft und im Königshof der Ursprung der Herrschaft im Königreich bestehe. Die Herrschaft im Königreich ist keine Ausdehnung der Herrschaft im Haus. Nicht eine patrimoniale Herrschaft, die die Untertanen dem Hof zuordnet, sondern eine auf das allgemeine Wohl der res publica achtende und sie befördernde Herrschaft setzt Aegidius voraus, welche gleichermaßen alle Untertanen unterschiedslos, unabhängig von einer engeren oder weiteren institutionellen Beziehung zum Hof erfasst. Zwischen Hausherrschaft und Königsherrschaft besteht gemäb der Konzeption von Aegidius allein eine Relation der Analogie, keine der Kausalität.1391 Aegidius erweitert den Begriff regimen. Mit ihm bezeichnet er – neben der Benennung sozialer Beziehungen – auch die geordnete Ausrichtung der Fähigkeiten des Individuums auf ein vorgegebenes Ziel. Dieses bestehe, wie Aegidius ausführt, im guten Leben. Einen bei Aristoteles geprägten Begriff aufgreifend, verzichtet Aegidius zwar auf eine genaue Darstellung dessen, was genau mit dem – in der lateinischen Übersetzung formulierten – bene vivere gemeint sein mag, impliziert aber eine begriffliche Unterscheidung zum bloben Leben, also zum einfachen Überleben, zur reinen conservatio. Die Bandbreite, die sich vom individuellen Vorteil im Diesseits bis zum allgemeinen Wohl erstreckt, ist der Einsatzbereich von regimen. Dank der Herrschaft ist das Leben in der Gesellschaft möglich. Diese Lebensform ist in der Natur des Menschen begründet: ganologischen Differenzierung«, die auch der Autor selbst als wirksam erachtet, um eine hierarchische Stufung von sozialen Gruppen herbeizuführen. 1390 Ebda., S. 65, 264, 381; Köhler, Gleiche Menschennatur ; Haus und Familie in der spätmittelalterlichen Stadt, hg. v. Alfred Haverkamp (Städteforschung A 18), Köln u. a. 1984. 1391 Aegidius Romanus, De regimine, fol. 92r–97r.

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naturale est homini vivere in societate.1392 Aegidius übernimmt die Thematik, die Thomas von Aquin, Aristoteles folgend, formuliert hat. Damit die Verbindung von Liebe und Herrschaft gelingt, setzt Aegidius voraus, dass der amor eine seelische Grunddisposition ist, eine passio, weil nur so eine spontane, nicht interessegeleitete Zuwendung des Herrschers für das Wohl seiner Untertanen, d. h. für das bonum commune, entsteht. Anders als im Rhetorikkommentar ausgeführt, gilt nun die Liebe, die eine passio ist, als der Beweggrund für das gute Regieren. Anders auch als in dieser Schrift folgt aus der natürlichen Ausstattung des Menschen die Notwendigkeit des Staates. Aegidius bietet eine Motivierung an, damit sowohl Herrschaft als auch Gehorsam stattfinden können. Die Auffassung steht in Gegensatz zur einleitenden Bemerkung im Fürstenspiegel, dass der König non passione et voluntate, sed lege et intellectu handeln müsse. Es gibt auch einen Widerspruch zur Warnung von Aegidius, dass die Richter nicht nach ihren Launen und nicht nach ihrer Liebe – ausdrücklich ist auch hier der Terminus amor genannt – und nicht nach ihrem Hass handeln sollen.1393 Aber der Widerspruch entfällt, wenn berücksichtig wird, dass auf der einen Seite moralische Appelle formuliert sind, auf der anderen Seite politische Erörterungen. Der amor ist nach Aegidius, trotz der Versuchungen, die zum Schlechten hinführen können, ein grundsätzlich auf das Gute gerichteter Antrieb. Je gröber und bedeutender das Ziel, auf das sich die Liebe richtet, desto wertvoller ist sie. Die ratio bonitatis ist mit dem amor verknüpft und formt mit der Liebe eine abgestufte Hierarchie des Guten. Der amor, der das bonum commune bewirkt, bedarf keiner unmittelbaren persönlichen Nahbeziehung, kann auch jenseits der Beziehung von Angesicht zu Angesicht bestehen, erfasst vielmehr auch die Institutionen, die prozedural fixierte Handlungen leiten, und Menschen, die fern voneinander leben. Für Aegidius ist dies nicht allein eine Forderung, sondern eine Feststellung. Deswegen verzichtet Aegidius auch darauf, wie noch im Kommentar zur Rhetorik ausgeführt, Freundeskreise als Entstehungsgrund der Liebe vorauszusetzen. Die entpersonalisierte Beziehung im Herrschaftsgefüge mindert nicht die Liebe, sondern steigert sie; Institutionen sind ihr Transmissionsriemen. Obwohl, wie Aegidius voraussetzt, die Liebe im Staat waltet, verwirft er explizit das Platon zugeschriebene Ideal, dass das Eigentum über die Güter und die Verfügung über die Frauen gemeinschaftlich sein sollten, damit die Liebe aller durch keine Barrieren des Eigennutzes gehindert werde. Aegidius fordert zwar, dass jeder auch die Frauen, Kinder und Güter aller anderen lieben solle, als ob sie die eigenen wären; aber es soll ein fiktives Eigentum sein. Aegidius macht vielmehr Platons Forderung der Gütergemeinschaft und der allgemeinen Ver1392 Ebda., fol. 131v. 1393 Ebda., fol. 1v, 300 r.

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fügung von Frauen und Kindern, die er zurückweist, zum Ausgangspunkt einer alle Menschen, Familien und Haushalte umspannenden, emotional fundierten, durch Liebe herbeigeführten Vereinigung.1394 So als ob ein Gemeineigentum bestünde, sollten die Menschen miteinander verbunden sein, schreibt Aegidius. Die Gütergemeinschaft ist fingiert, nicht realisiert; sie steht der familiären Autonomie nicht entgegen, die Aegidius vor dem Zugriff durch die Gesellschaft, den Staat und die Herrschaft bewahrt sehen will, aber die Fiktion wird mit realen Wirkungen ausgestattet. Aegidius’ Auffassung unterscheidet sich von der von Thomas von Aquin und von Johannes Duns Scotus, welche ohne Einschränkung Platons Konzept zurückweisen, dabei Aristoteles folgend, über den vermittelt das Wissen über dieses Konzept im 13. Jahrhundert vorhanden war. Aegidius nähert sich nämlich durchaus der Empfehlung des Kollektiveigentums an, wenn er zu bedenken gibt, dass die gemeinsame Verfügung über die Güter Streit verhindern würde und eine Gemeinsamkeit der Affekte hervorrufen könnte, distanziert sich aber dann doch von der Schlussfolgerung, eine solche Kollektivierung zu empfehlen, und schwächt die Platon zugeschriebene Auffassung dahingehend ab, dass sie wohl nur metaphorisch zu verstehen sei und darauf abziele, Beziehungen der Liebe zwischen allen Bürgern einzurichten.1395 Dadurch, dass Aegidius die staatliche Gemeinschaft in Verlängerung der familiären als Liebesband darstellt, nähert er seine Vorstellung an ein kollektivistisches Ideal des vollkommenen Staates an. Es beruht aber nicht auf der faktischen Vergemeinschaftung von Gütern und Familien, sondern auf der emotionalen Verbindung zwischen den Menschen.1396 Die Liebe ist von Aegidius als Movens eines Handelns eingeführt, das zum Verzicht auf individuelle und familiäre Interessen drängt, das zu außerordentlichen Höchstleistungen im Dienst für den Staat hinleitet und sogar dazu führt, das eigene Leben für ihn einzusetzen.1397 Also nicht zugunsten einer Homogenisierung der Menschen, sondern zugunsten einer Kausalisierung von Handlungen und einer Integration in die Herrschaft waltet die Liebe in allen sozialen Vereinigungen. Statt einer Ablösung aus individuellen und familiären Bindungen, statt einer Promiskuität der Liebesbeziehungen fordert Aegidius vielmehr die Stärkung intimer Bande in der Familie, weil die Liebe erst auf dieser der Basis, im kleinen Kreis von wenigen Personen, gekräftigt und auf viele Personen im Staat erweitert und für den Staat brauchbar wird. Aegidius hat auch den Fall untersucht, dass die Liebe im Staat fehlt. Dann sei, so Aegidius, das Wesen des Staates negiert, nämlich das allgemeine Wohl zu 1394 1395 1396 1397

Ebda., fol. 246r–255v ; Lambertini, Philosophus, S. 313f. Ebda., fol. 214r–215r, 258r–259v. Töpfer, Urzustand, S. 334. Aegidius Romanus, De Regimine, fol. 259r ; Lambertini, Philosophus, S. 314.

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besorgen, er werde dann zur Tyrannei. Der Tyrann falle aus den Relationen der Liebe heraus, er liebe keinen einzigen Menschen, so fehle ihm die Voraussetzung, das bonum commune zugunsten der Menschen im Staat zu befördern, vielmehr befriedige er allein seine eigenen Wünsche und erstrebe allein das bonum privatum. Auch die Liebe zu wenigen Menschen genüge nicht. Der König sei gehalten, nicht allein im engen Rahmen des Haushaltes und der Familie Liebe zu gewähren; der amor, sofern er den König betreffe, müsse zu allen Untertanen reichen. Anders als bei Aristoteles und seinen Interpretatoren im späten Mittelalter, die das Streben nach dem eigenen Vorteil und davon abgeleitet nach dem Allgemeinwohl als Voraussetzung der guten politischen Verfassung voraussetzten, ist die Liebe bei Aegidius als der originäre Impuls im Staat eingeführt. Erst durch die Liebe gelinge es, so Aegidius, dass das Streben nach dem eigenen Wohl zum Streben nach dem allgemeinen Wohl überführt werden könne. Die Einsicht in diesen Vorgang und das Betreiben des eigenen Interesses könnten dies nicht leisten.1398 Die Liebe formt den Staat. Denn nicht rechtliche oder anderweitig normierte Verfahren zum Austragen von Konflikten, nicht ein Ausgleichen von Machtpositionen, nicht der Kompromiss zwischen antagonistischen Bestrebungen, nicht die Befolgung unabwendbarer Nützlichkeit, nicht die Kompensation des menschlichen Mangels, kein vernünftiges Agieren zum Erreichen von Vorteilen, sondern das von vornherein bestehende emphatische Zusammenwirken der Menschen ist nach Aegidius Voraussetzung geordneter sozialer Relationen, auch auf der Ebene des Königreiches. Daher kann der soziale Verband im idealen Fall auch ohne Strafandrohung funktionieren. Die Aufgabe des Königs als oberster Gerichtsherr ist folglich bei Aegidius nicht näher ausgeführt, wie überhaupt der Darlegung der Aufgaben, die ein König zu leisten hat, in dem Fürstenspiegel nur eine geringe Aufmerksamkeit gewidmet wird. Also nicht eine Verfahrensordnung, sondern eine prä-etablierte Naturordnung, ja letztlich eine Liebesordnung gewährleistet das Funktionieren des politischen Verbandes. Diese Fundierung der Königsherrschaft auf die Natur des Menschen gelingt indes nur, wenn ein rex naturalis herrscht, d. h. ein durch lange Tradition und dynastische Kontinuität etablierter König, den Aegidius gegen einen princeps de novo stellt. Vor diesem warnt Aegidius. Die Unterscheidung von König und Tyrann beruht neben der moralischen Bewertung auf einer geschichtlichen Entwicklung. Da, wie Aegidius schreibt, Königsgewalt stets auf Usurpation beruhe, sei es günstiger, wenn sie in einer weit zurückliegenden Vergangenheit geschehen sei, so dass die Brutalität einer neu etablierten Herrschaft den Menschen erspart bleibe und die Untertanen fast vergessen könnten, wie die Vorläufer ihres aktuellen Herrschers einst die Herrschaft an sich gerissen hätten. Ein Herrscher, der erst kürzlich das 1398 Aegidius Romanus, De regimine, fol. 256v–258r; Eichinger, Individuum, S. 161.

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Königtum errungen habe, sei viel mehr darauf angewiesen, durch äußere Drohungen Furcht zu erzeugen, um zum Gehorsam zu zwingen. Die durchgängig synchrone Argumentation von Aegidius, die ohne geschichtliche Exempla auskommt, wird an dieser Stelle durch eine diachrone Beweisführung unterbrochen.1399 Persönliche Tugenden als Garanten der guten Regierung treten zurück, denn das gerechte Handeln ist unlöslich mit der Naturordnung verbunden, ohne dass eine weitere moralische Verpflichtung hinzutreten muss. Denn die Moral gebietet, das zu tun, was die Natur des Menschen vorsieht. Zwar belässt die Freiheit des Menschen die Möglichkeit, sich von den Banden der Natur zu lösen. Eine solche Abwendung gilt als Perversion, als Negation der Natur. Sie zu verhindern, sei, so schreibt Aegidius, die Aufgabe des Herrschers. Aber mehr als die persönlichen Maßnahmen des Herrschers sollten die Gesetze wirken. Der gesetzlich Gerechte, der iustus legalis, sei befähigt, im Staat gut zu handeln, weil er dem Gesetz gehorche. Dies gelte auch für den König: Durch die Beachtung des Gesetzes erhalte er Sicherheit im Wissen, wie er sein Königreich gerecht regiere.1400 Roberto Lambertini hat auf der Unterscheidung von Gesetz und Tugend bei Aegidius Romanus hingewiesen und die primäre Geltung des Gesetzes herausgestellt, die den individuellen Willensakt des Herrschers zurücktreten lässt.1401 Das Gesetz ist aber keine Gegenmacht zum König, steht auch nicht oberhalb von ihm, sondern ist dessen Instrument. Mag auch der König den Gesetzen folgen, so sind seine Untertanen doch primär ihm unterstellt und nur über den Gehorsam ihm gegenüber auch den Gesetzen. Aegidius diskutiert in einem eigenen Kapitel die Frage, ob es besser sei, dem König zu gehorchen oder dem Gesetz, und gibt dann die Antwort, dass der Gehorsam gegenüber dem König vorrangig sei. Zwar beherrschten, so Aegidius, die Könige ihre Untertanen mittels der Gesetze, aber die Untertanen könnten nicht die Gesetze in Opposition zu den Königen stellen. Diese seien nicht durch die Gesetze in ihren Willensentscheiden eingeschränkt. Darin liege ein Vorteil: Denn müssten die Gesetze gleichmäßig angewandt werden, erlaubten die Verfügungen der Könige, auf besondere Umstände einzugehen, was für das Wohl der Untertanen besser sei. Aegidius unterscheidet zwischen der observantia legum und der obedientia regum; die terminologische Differenz drückt auch eine Steigerung der Unterwerfung aus: von observantia zu obedientia.1402 Aegidius nimmt Abschied von 1399 Aegidius Romanus, De regimine, fol. 290; Senellart, Art, S. 186f. 1400 Ders, De regimine, fol.25r. 1401 Roberto Lambertini, Von der iustitia generalis zur justitia legalis. Die Politisierung des Gerechtigkeitsbegriffes im 13. Jahrhundert am Beispiel des Aegidius Romanus, in: Geistesleben im 13. Jahrhundert, hg. v. Jan A. Aertsen, Andreas Speer (Miscellanea Mediaevalia 27), Berlin/New York 2000, S. 131–145. 1402 Ebda., fol. 312r–313v, 324v.

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der Vorstellung, die er in seinem Werk zur Rhetorik ausgeführt hat, in dem er der Geltung der Gesetze den Vorzug gegeben hat. Die Rechtordnung ist nunmehr Instrument der Herrschaft, kein Regulativ, und am wenigsten ihre Einschränkung. Die Steigerung der Macht garantiere die Gerechtigkeit. Diese bestehe darin, die Kooperation der Menschen zu sichern, damit ihre Existenz und ihr Glück zur Entfaltung gelangen. Zwar ist die Kooperation bei Aegidius natürlich angelegt, aber sie gelingt erst, wenn sie von der Herrschaft gewollt, gestaltet und nötigenfalls erzwungen wird.1403 Selbst wenn Aegidius einräumt, dass eher die Könige als die Gesetze korrumpiert werden könnten, ist keine Rechtsordnung vorgestellt, sondern ein instrumentales Verständnis des Rechts beschrieben, das nicht per se, sondern mittels einer Einwirkung auf den Herrscher wirkt, der Recht schafft und es anwendet. Diese Kompetenz kann ihm nicht entwunden werden.1404 Gesetze sind daher das Ergebnis, nicht die Voraussetzung der Herrschaft. Folglich gewinnt die emotionale Grundierung politischer Verfasstheit einen gesteigerten Wirkungsgrad sowohl hinsichtlich der Verbindlichkeit als auch der Realisierbarkeit der guten Regierung, und zwar mehr als dies durch die Tugend und durch die Gesetze hätte geleistet werden können, weil die Liebe als Ansporn zur Gerechtigkeit natürlicherweise vorhanden ist und nicht erst erzwungen werden muss und nicht erst durch institutionelle Transfers eingesetzt ist. Gegenüber der politischen Philosophie von Aristoteles und deren mittelalterlichen Interpretationen erweist sich Aegidius als innovativ, denn er bietet eine Begründung, warum Menschen in der Politik gerecht handeln. Aegidius löst die Antinomie zwischen Eigeninteresse und allgemeinem Wohl auf, weil er die Befähigung des Menschen, das allgemeine Wohl zu befördern und dazu Opfer zu erbringen, an die Liebe knüpft, die nicht normativ, sondern natürlich besteht, also – sofern nicht pervertiert – stets vorhanden ist. Die Herrschaft ist daher auch nicht das Ergebnis einer Verfehlung der menschlichen Natur, die durch den Sündenfall und durch die Erbsünde eingetreten wäre, sie ist vielmehr durch die Schöpfung selbst hervorgebracht worden. Aegidius hat die Erbsünde nur am Rande erwähnt, und sie hat für seine Gesamtkomposition der Politik keine Auswirkung. Die Beherrschung der Menschen, so verlangt Aegidius, habe zum Nutzen der Beherrschten zu geschehen, nicht zu deren fortgesetzter Bestrafung und nicht zur Unterdrückung der Antriebe.1405 In den Sentenzenkommentaren, die Aegidius früher verfasst hat, ist hingegen die Auswirkung der Erbsünde breiter ausgeführt. Der stärkere theologische 1403 Ausführlich dargelegt bei: Homann, Totum posse, S. 43–51. 1404 Aegidius Romanus, De regimine, fol. 310r–318v. 1405 Stürner, Peccatum, S. 193–196; Ders., Natur.

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Gehalt liegt an der Spezifik dieses Texttypus, der eine Deutung von Bibel- und Kirchenväterzitaten vorstellt. Aegidius erklärt in dieser frühen Schrift den Unterschied zwischen der Herrschaft vor und nach dem Sündenfall. In beiden Fällen setzt er Unterwerfung voraus: zunächst aber durch Milde und Gnade bewirkt, die Gott gewährt und die Adam befähigt habe, über seine Frau Eva und seinen Söhnen zu herrschen; dann, nach dem Verlust des status innocentiae, durch Zwang, der notwendig den Willen der Unterworfenen breche, aber doch weiterhin ihrem Wohl zu dienen habe. Es sei stets die Natur des Menschen, die Herrschaft erfordere, aber nach der ersten Sünde eine defizitäre Natur, so dass der Mensch, von den fehlerhaften natürlichen Anlagen bedrängt, darauf angewiesen sei, dass der der Natur innewohnende Mangel durch die Herrscher ausgeglichen werde und zugleich dass die guten Anlagen der Natur von ihnen geweckt würden.1406 Sowohl gemäß dem Sentenzenkommentar als auch dem Werk De regimine ist Herrschaft von Anfang an, auch schon vor dem Sündenfall, vorhanden. Sie hat keine Ursprungsgeschichte. Sie wird nicht durch eine erste Vereinbarung der Menschen begründet. Im Staat gibt es kein pactum. Nur die Usurpation der Herrschaft durch einzelne Personen wird erwähnt. Die Herrschaft selbst, verstanden als Institution, kennt, weil sie mit der Natur des Menschen untrennbar verbunden ist, keinen anderen Beginn als die Erschaffung des Menschen selbst, weil ja auch schon Adam vor dem Sündenfall geherrscht habe. Die Entstehung von Herrschaft aus einer Überwindung eines ursprünglichen Zustandes herrschaftsfreier Vergesellschaftung vorzustellen, hat keinen Platz in der Argumentation des gelehrten Augustiner-Eremiten. Es gibt bei Aegidius keinen paradiesischen Urzustand freier Assoziation, wie ihn andere mittelalterliche Autoren – unter anderem Albertus Magnus, Dante, Petrarca – vorsahen. Der aktuellen Herrschaftsverfassung geht zwar ein besserer Zustand, eine Herrschaft ohne Zwang, aber keine Gemeinschaft ohne Herrschaft voraus. Die erste Sünde der Menschheit ist nicht der Ursprung der Herrschaft, sondern das Ende der Herrschaft über Freie und so der Beginn der Herrschaft eines allmächtigen Alleinherrschers.1407 Die Fülle aller Gewalt liegt bei dem Herrscher. Die extreme Ungleichheit zwischen ihm und den Beherrschten soll die Grundlage sein für eine Verteilungsgerechtigkeit, dank der der Herrscher das Wohl allen gewährt und die Gleichheit der Lebensbedingungen herstellt, zugleich aber eine politische Aktivierung der Untertanen ausschließt. Deswegen gibt es bei Aegidius auch keine 1406 Graham McAleer, Giles of Rome on Political Authority, in: Journal of the History of Political Ideas 60 (1999), S. 21–36, S. 25f., 34. 1407 Töpfer, Urzustand; Anzulewicz, Individuum, S. 140f.; Yves Sassier, Royaut8 et id8ologie au moyen .ge, Bas Empire, monde franc, France (4e–12e siHcles), Paris 2002, S. 259.

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Erörterung über rechtlich garantierte Organisationsformen von Herrschaft, lediglich über Formen der Beratung bei der Gesetzgebung und bei der Rechtsprechung, ohne den weisen Ratgebern mehr als vorbereitende und unverbindliche Stellungnahmen einzuräumen.1408 Ausdrücklich sind pacta et conventiones zwischen König und Volk ausgeschlossen – was heißt, dass das regimen in der Ehe durch Vertrag im Staat keine Entsprechung findet. Die Herrschaft steht vielmehr explizit analog zur Relation zwischen Eltern und Kindern, die ja auch nicht ihre Eltern wählen können.1409 Wie die gute und gerechte Herrschaft ausgeübt wird, ist durch die pädagogische Vorbereitung des Herrschers zu gewährleisten, der in das Wissen von den natürlichen Voraussetzungen des ethischen Verhaltens des Menschen und der politischen Ordnung der Herrschaft einzuführen ist, damit er Kenntnis erlangt von der Liebe als Beweggrund des guten Tuns.1410 Der pädagogischen Intervention gelingt es aber nur, die gute Herrschaft vorzubereiten, weil es die als stetig wirksam angenommene Kraft der Liebe bereits voraussetzungslos gibt, die nur aktiviert, aktualisiert werden muss, damit die Liebe vor Ungerechtigkeit schützt und vor der Entartung der Herrschaft in Tyrannis bewahrt. Einzig in dem Fall, den Aegidius eher beiläufig und widerwillig einräumt, dass durch die Erbfolge ein gänzlich ungeeigneter Nachfolger zur Herrschaft gelangt, soll dessen Handeln durch gute und weise Männer geleitet werden, ohne nähere Angaben zu den Leistungen oder Rechten der Berater vorzustellen.1411 Die guten und tugendhaften Männer, die Aegidius an anderer Stelle in der Umgebung des Königs vorsieht, wirken dagegen nicht korrigierend, sondern sind Ausführende und Verlängerungen der königlichen Macht.1412 Die Verbindung von Politik und Liebe ist nicht durch die aristotelischen Texte vorgegeben, vielmehr eine von Aegidius eingeführte Neuerung.1413 Amor treibt das Handeln stets und überall zum Guten an. Nur deswegen ist es auch möglich, dass die Erziehung der Kinder Voraussetzung für die Etablierung guter Herrschaft ist. Weil die gleichen Antriebskräfte in unterschiedlichen Handlungsfeldern wirken, verlangen sie auch die gleichen Vorbereitungen und Formungen. Erziehung erweist sich somit als politische Tat. Es geht dabei um mehr als um die Vorbereitung des künftigen guten Herrschers, es geht vielmehr auch um die Aktualisierung einer potentiell vorhandenen Emotion. Deswegen ist auch die 1408 1409 1410 1411 1412 1413

Aegidius Romanus, De regimine, fol. 310r–315r. Ebda., fol. 173v. Perret, Traductions, S. 218–240. Aegidius Romanus, De regimine, fol. 268r–269r. Ebda., fol. 266v–267v. Roberto Lambertini, Il filosofo, il principe e la vertF. Note sulle recezione e l’uso dell’Etica Nicomachea nel »De regimine principum« di Egidio Romano, in: Documenti e studi sulla tradizione filosofica medievale 2 (1991), S. 239–279.

Liebe im Staat: Aegidius Romanus

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Erziehung von Kindern, die nicht zur Herrschaft bestimmt sind, politisch bedeutsam, denn auch sie handeln als Erwachsene als politische Wesen, nicht allein in ihren Haushalten, sondern als Untertanen der Herrschaft und als Bürger des Staates, der ihnen eigene Tätigkeitsfelder zuweist, welche zwar eingeschränkter als die der Herrscher, aber gleichwohl für das bonum commune im Königreich nötig sind.1414 Die Politisierung der Liebe schwächt die autonome Existenz des Politischen, das als eine abgeleitete Gröbe einer anthropologisch konstanten und naturwüchsig entstandenen Eigenschaft erscheint. Aegidius verwirft ein eigenständiges, von den übrigen Tätigkeiten abgelöstes Handlungsfeld von der Politik. Die homogene Einheitlichkeit aller menschlichen Tätigkeitsbereiche lässt keinen Raum einer familiären Abgeschlossenheit der Untertanen, reisst jede Grenze gegen den sie regierenden König ein, kennt kein Recht der Verteidigung eigener Rechte, verweigert die Anerkennung vom König abgetrennter privater Rechte. Was Johannes Duns Scotus vorsieht, den Schutz des privaten Lebens1415, fehlt bei Aegidius. Was bleibt, ist die Aussicht, ein geliebter Untertan zu sein. So gelangt er in den Genuss des allgemeinen Wohls. So wenig die Herrschaft von der Liebe abgelöst ist, so wenig kann die Politik von der Religion ausgesondert werden, denn naturgemäbe Existenz und auf der natürlichen Ordnung beruhende Ethik verweisen auf die Liebe, die Gott stiftet und für die er keine von ihr getrennten legitimen Handlungsfelder zulässt. Deswegen ist die religiöse Bestimmung aller Menschen, ohne dass sie Aegidius in dem Buch De regimine principum eigens ausführlich darlegt, unabdingbar, weil sie im Schöpfungsplan enthalten und auf allen Ebenen der Vergesellschaftung wirksam ist.1416 Weil die Legitimität der Herrschaft unmittelbar der von Gott eingerichteten Ordnung entspringt, bedarf sie keiner Einsetzung durch Geistliche und keiner Aufsicht durch sie. Kirchliche Einrichtungen werden im Werk De regimine nirgends erwähnt. In seinem Sentenzenkommentar hingegen stellt er Religion und Staat, Theologie und praktische Wissenschaft gegenüber. So wie die scientia naturalis die felicitas civilis lehrt und befördert, so die theologia die felicitas supernaturalis. Aber auch wenn beide Wissens- und Handlungsbereiche geschieden sind, finden sie eine gemeinsame Antriebskraft in der Liebe, die hier bezeichnenderweise mit caritas benannt ist, also deutlicher als im Fürstenspiegel christlich konnotiert erscheint und mit den anderen theologischen Tugenden, Glaube und Hoffnung, zusammenwirkt.1417

1414 1415 1416 1417

Aegidius Romanus, De regimine, fol. 134r, 135r, 136r. Siehe Kapitel XII.2. Berges, Fürstenspiegel, S. 220. Concetta Luna, La »Reportatio« della lettura di Egidio Romano sul libro III delle Sentenze e il problema dell’autenticit/ dell’ Ordinatio, in: Documenti e studi sulla tradizione filoso-

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Aegidius schreibt im Fürstenspiegel, dass weil der Herrscher Liebe spende, er die Liebe Gottes nachahme. Weil dies für ihn mehr gelte als für die Bürger, gleiche er Gott. Er habe demnach auch Anspruch auf unumschränkte Macht. Wegen der drei Gründe – Nachahmung Gottes, Angleichung an ihn und Machtfülle – nennt Aegidius im Werk De regimine den König mehrmals semideus.1418 Indes verwendet Aegidius, was meist übersehen wird, dieselbe Kennzeichnung an anderer Stelle für jeden Menschen: Da er durch seine soziale und politische Verfassung über den Tieren stehe, sei er divinum et semideus.1419 Die Bezeichnung verweist in diesem Fall nicht auf die Machtfülle, sondern auf die allen Menschen eigentümliche Gottesebenbildlichkeit, die die Liebesbindung zu Gott und den Mitmenschen einschließt. Die Kennzeichnung des Menschen und auch des Herrschers als lediglich halber Gott liegt an der geringeren Qualität der Liebe verglichen mit der Vollkommenheit der Liebe Gottes. Diese Liebe erweist Gott den Menschen dadurch, dass er ihnen das ewige Heil verspricht. Es wird allen denjenigen gewährt, die in Liebe handeln. Die felicitas in actu erweist Gott darüberhinaus bereits im Diesseits den Menschen, indem er einen König als Dei minister einsetzt, der als Organ der göttlichen Liebe handelt und sie den Untertanen weiterreicht und ihnen Glück beschert.1420 Die Schrift von Aegidius Romanus De regimine principum nimmt eine deutliche Distanz ein zur politischen Theorie derjenigen, die Aristoteles ausdeuten, also vor allem zu der von Thomas von Aquin und noch deutlicher zu der, weiter unten vorzustellenden, von Peter von Auvergne1421, die dem politischen Handeln einen eigenständigen Wert einräumen und dezidierter die Möglichkeit vorsehen, eine immanente, aus den politischen Bedingungen selbst herrührende Legitimierung argumentativ zu begründen.1422 Aegidius hingegen kann für ein politisches Problem, die Begründung gerechter Herrschaft, keine politische Lösung anbieten. Der Verzicht auf eine selbstreferentielle Grundlegung des Politischen verlangt daher das Hinzutreten von legitimatorischen Gründen, die abseits der Politik stehen. Emotionale Beweggründe setzt Aegidius ein. Zur Lösung des politischen Dilemmas, das Thomas von Aquin deutlich benannt

1418 1419 1420 1421 1422

fica medievale. Rivista della Societ/ Internazionale per lo Studio del Medioevo Latino 1 (1990), S. 113–226, S. 219. Aegidius Romanus, De regimine, fol. 312r–321v ; Kosuch, Abbild, S. 158. Aegidius Romanus, De regimine, fol. 8r ; Berges, Fürstenspiegel, S. 221, 224; Miethke, Politische Theorien, S. 94. Aegidius Romanus, De regimine, fol. 23r–26r. Hierzu oben Kapitel XI.3 und unten Kapitel XII.1. Thomas Gilby, Principality and Polity : Aquinas and the Rise of State Theory in the West, London 1958; Brian Tierney, Aristotle, Aquinas, and the Ideal Constitution, in: Proceedings of the Patristic, Medieval and Renaissance conference 4 (1979), S. 1–11; Ders., Religion, Law, and the Growth of Constitutional Thought, Cambrigde 1982, Leonhard E. Boyle, The regno and the Two Powers, in: Essays in Honor of Anton Charls Pegis, hg. v. J. R. O’Donnell, Toronto 1974, S. 737–747.

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hat1423, nämlich zu verhindern, dass Alleinherrschaft nicht zur Tyrannei degeneriert, sieht Aegidius pädagogisches Handeln vor, das aber nur gelingt, weil natürlich vorhandene Antriebe zur Entfaltung gebracht werden. Ausführlich erläutert Aegidius eine Erziehungslehre, die teilweise Aussagen des enzyklopädischen Buches Speculum doctrinale von Vinzenz von Beauvais, vor allem – und dies explizit – Texte von Aristoteles zur Ethik, Rhetorik und Politik rezipiert.1424 Aber abweichend von den Vorlagen sieht Aegidius die Weckung der natürlichen Antriebe vor und kann daher weniger rigide Erziehungsmethoden empfehlen, die nicht den Willen unterdrücken. So kann die Liebe, die alle Handlungen lenkt und garantiert, tatsächlich für das Ziel eingesetzt werden, nämlich dass die Alleinherrschaft tatsächlich dem Wohl der Menschen zugute kommt.

8.

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Ein Problem war aber immer noch ungelöst: Wer übernimmt die Anleitung des Herrschers? Aegidius Romanus suchte darauf in einer anderen, kurz vor dem Jahr 1300 verfassten Schrift eine Antwort zu geben: Geistliche sollten die Aufgabe ausüben. Dies war der Ausgang der Überlegungen, die er in dieser Schrift, die den Titel De potestate ecclesiastica trägt, ausführte. Es ist ein Werk zur politischen Theorie, das das Verhältnis von Kirche und Staat, von Geistlichkeit und Herrschaft, von Papst und Herrschern behandelt. Diese Schrift zur Verteidigung päpstlicher Machtposition hatte eine eher geringe handschriftliche Verbreitung – ganz anders als das Werk De regimine principum – so dass den Zeitgenossen der Widerspruch zwischen den beiden Texten wohl gar nicht erst auffiel, vielmehr Aegidius durchweg als Protagonist königlicher Macht im Mittelalter bekannt war.1425 Es kann meines Erachtens gelingen, den in der heutigen Forschung festgestellten argumentativen und intentionalen Widerspruch zwischen den beiden Schriften von Aegidius, De regimine und De potestate ecclesiastica, in der Weise aufzulösen, dass eine Problemlösung in der späteren Schrift angeboten wurde, die die erstere noch verweigerte.1426 In beiden 1423 Schmidt, König (wie Anm. 1263). 1424 Perret, Traductions, S. 195–240. 1425 Krüger, Traktat, S. 1–18; der erste Editor der Schrift erachtete sie als bislang, bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, als unbekannt: Auguste Himly, Un ouvrage in8dit de Gilles de Rome, pr8cepteur de Philippe le Bel, Paris 1858. 1426 Zur Forschung zu der Schrift De potestate ecclesiastica: Merzenbacher, Die Rechts- Staatsund Kirchenauffassung des Aegidius Romanus, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 41 (1954/55), S. 88–97; Jürgen Miethke, Die Traktate De potestate papae – ein Typus politiktheoretischer Literatur im späteren Mittelalter, in: Les genres litt8raires dans les sources th8ologiques m8di8vales, hg. v. Robert Bultot, L8opold G8nicot, Louvain 1982, S. 198–211; Blythe, Ideal Government, S. 62f.; Roberto Lambertini, Da Egidio a Giovanni

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Werken war das Politische nicht als autonomer Handlungsbereich konstituiert, dem daher die Anwendung spezifischer Regeln vorenthalten blieb. Entweder die anthropologisch fundierte und zu aktualisierende Liebe oder, wie in dem Werk De potestate eccclesiastica, die durch die geistliche Autorität gelenkte und kontrollierte Liebe sollten das Handeln der Herrscher leiten. Die Rückführung auf ein Prinzip, das der Liebe, war im Fürstenspiegel ohne eine priesterliche Instanz gewährleistet, aber diese als wirksam einzuführen, war nur ein kleiner Schritt, den Aegidius in seinem Werk De potestate ecclesiastica vollzog, insofern die Geistlichkeit das Walten der natürlichen Ordnung zu gewährleisten hatte und deshalb sogar Autorität außerhalb des christlichen orbis, also auch unter den Ungläubigen, zu reklamieren berechtigt war. Die virtutes naturales sieht Aegidius in dieser Schrift als Naturkräfte an, die körperliche Bewegungen anstoßen. Wenn sie zu moralischem Handeln führten, müssten sie auf die Ebene der virtus spiritualis emporgehoben werden. Die natürliche Regung, die im Körperlichen steckenbleibe, sei nur partikulär ; zu spiritueller Kraft und zu genereller Wirkung gelange sie dank einer Lenkung der Menschen, die die potestas spiritualia ausübe und sie auch auf die potestas terrena erstrecke. Die in der Natur der Menschen angesiedelten Kräfte sind damit nicht für überflüssig erklärt, aber sie allein führen nicht zu einem tugendhaften Leben, weil durch die Willensfreiheit dieses Ziel verfehlt werden kann. Sie enthalten nur die potentia zum Guten. Um diese zur Wirkung zu bringe, ist die Intervention von Geistlichen vorgesehen.1427 Die Abfolge der Hierarchie, an deren Spitze der Papst steht, entspricht nach Aegidius der Abfolge der in der Natur waltenden Kausalketten – der von der Beschaffenheit des Menschen, der Liebe und dem menschlichen Handeln.1428 Aegidius greift die Argumentation von Thomas von Aquin in dessen Spätwerk De regno auf, in dem dieser die Anleitung der Könige durch die Priester und vornehmlich durch den Bischof von Rom verlangt, allerdings unter dem Vorbehalt, dass die Herrscher in lege Christi den Priestern unterstellt sind, was ich als eine Einschränkung interpretiere, die erstens zeitlich – in Abgrenzung zur Zeit vor dem Wirken Christi –, zweitens räumlich – gegenüber den heidnischen Königreichen – und drittens sachlich – für das Handeln in weltlichen Angelegenheiten – anzuwenden ist.1429 Diese Einschränkungen fehlen bei Aegidius. di Parigi, da Dante a Marsilio. Fautori e oppositori della teocrazia papale degli inizi del Trecento, in: Il pensiero politico dell’et/ antica e medievale. Dalla polis alla formazione degli stati europei, hg. v. Carlo Dolcini, Turin 2000, S. 209–254, S. 212–215; Homann, Totum posse, bes. S. 88–95; Ders., Posse absolutum versus iusticia. Zur antinomischen Bestimmung der päpstlichen Macht bei Aegidius Romanus, in: Gewalt, S. 237–247; Krüger, Traktat. 1427 Aegidius Romanus, Tractatus de potestate ecclesiastica, S. 117f.; Krüger, Traktat, S. 43f. 1428 Homann, Totum posse, S. 145. 1429 Thomas von Aquin, De regno, S. 466.

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Weil er die Liebe von einem natürlichen, allen Menschen eigentümlichen Ursprung ableitet, der aber erst durch die christliche Religion zur vollen Wirksamkeit gebracht werde, folgert er, dass die Anleitung der christlichen weltlichen Herrscher durch die Geistlichen verlangt sei, damit die Liebe tatsächlich, nicht nur potentiell im Staat walten könne. Ohne die Einwirkung von Geistlichen und die Einsetzung der Herrschaft durch den Papst entbehrten die heidnischen Herrscher der Legitimität. Ohne das Eingreifen des Papstes, des obersten Geistlichen, fehlte es an Gerechtigkeit im Staat; er würde zur Räuberbande, wie Aegidius mit Rückgriff auf die von Augustinus formulierte Kennzeichnung des Staates ausführt. Das Vertrauen, dass die Liebe spontan entstehen könne, ist offensichtlich verflogen. Die Macht des Papstes hat ihren Ursprung nach Aegidius daher auch nicht in einem Akt der Gesetzgebung oder der Einsetzung der politischen Organisation. Das naheligende Argument, dass es schon vor der Existenz der Päpste Könige und andere Herrscher gegeben habe, ficht Aegidius nicht an, weil er die ontologische Bestimmung von der historischen Entwicklung abkoppelt. Dazu führt er eine Kausalität ein, die auf den Staat einwirkt: die Gnade Gottes. Zur ihrer Vermittlung sei die Kirche aufgerufen. Ihr sei die Aufgabe zugewiesen, das zu verwirklichen, was der Natur allein nicht gelingen könne, nämlich eine reductio ad unum, eine Hinführung zur Einheit zwischen allen Menschen.1430 Die communicatio zwischen den Menschen setze deren Freundschaft voraus; aber auch sie genüge nicht; auch sie bedürfe der Einrichtung und der Beaufsichtigung durch die Geistlichen; sonst drohe die excommunicatio – zu verstehen in der doppelten Bedeutung: als Ende der Gemeinschaft und als Ausschluss aus der Kirche.1431 Die höchste Instanz der Kirche, der oberste Seelsorger, der ranghöchste Priester, d. h. der Papst, wird zum Garanten auch des weltlichen allgemeinen Wohls. Daher ist der König nicht Diener Gottes, sondern Diener der Kirche: famulus ecclesiae.1432 Wenn dies so ist, kann Aegidius der weltlichen Herrschaft einen grundsätzlich positiven Wert zuweisen, allein schon deswegen, weil die geistliche Gewalt auch das weltliche Schwert führt, es also nicht herabwürdigt, vielmehr in seiner Würde erhöht.1433 Petrus Johannis Olivi, Franziskaner, vehementer Verfechter eines rigiden Armutsideals, Theologe und Philosoph aus Südfrankreich und nach seinem Tod 1298 von der päpstlichen Kurie als Ketzer verurteilt1434, suchte zur selben Zeit 1430 Aegidius Romanus, Tractatus de potestate ecclesiastica, S. 75–77. 1431 Ebda., S. 114; Gianluca Briguglia, Le pouvoir mis / la question. Th8ologiens et th8orie politique / l’8poque du conflit entre Boniface VIII et Philippe le Bel, Paris 2016, S. 103–114. 1432 Aegidius Romanus, Tractatus de potestate ecclesiastica, S. 67. 1433 Ebda., S. 95 f, 327. 1434 Sylvain Piron, Le m8tier de th8ologien selon Olivi. Philosophie, th8ologie, ex8gHse et pauvret8, in : Pierre de Jean Olivi. Philosophe et th8ologien, hg. v. Catherine König-Pralong u. a. (Scrinium Friburgense 29), Berlin 2010, S. 17–86.

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nach Lösungen, die Verfehlungen der königlichen Monarchie zu korrigieren. Er tat dies in einer Schrift, die die Berechtigung des Rücktritts von Papst Coelestin V. im Jahre 1294 untersuchte und dabei auch Themen der weltlichen Herrschaft erörterte. Sein Eintreten für eine gemischte Verfassung, in der die Machtvollkommenheit sowohl eines Monarchen als auch der Vornehmsten und des Volkes ausbalanciert werde, könne gleichwohl nicht jede Abweichung von der guten Regierung verhindern wegen der den Menschen unabwendbaren Fehlbarkeit, die Unnützes, Schädliches und Gefährliches in den Regierungsgeschäften einbringe. Hier müssten die Päpste eingreifen: Ihnen sei aufgetragen, die Verhältnisse zu ändern. Nicht einmal die Kontroversen von Johannis Olivi mit der päpstlichen Kurie hinsichtlich der Geltung der franziskanischen Armut hat ihn von der Einsetzung der Päpste als Wächter der Gerechtigkeit abrücken lassen.1435 Ein weiterer Franziskaner desavouierte grundsätzlich die weltliche Gewalt, die nur dank päpstlicher Intervention erträglich werden kann. Es handelt sich um Alvaro Pelayo († 1350), der in die Dienste des kastilischen Königs eintrat und mehrere politiktheoretische Schriften schrieb. Er verteidigte in seinem in mehreren Fassungen überlieferten Traktat De statu et planctu ecclesiae die päpstliche Vollgewalt, die dazu bestimmt sei, eine von Anfang an und immer verwerfliche, tyrannische Königsherrschaft in ihre Schranken zu weisen, um die bedrängten, von Furcht und Schrecken heimgesuchten Untertanen der Könige und Fürsten zu schützen. Dies gelinge, nicht indem weltliche Herrschaft in die Höhe geistlicher Zuständigkeit aufgenommen und emporgehoben, sondern von ihr deutlich unterschieden werde, damit die geistliche Gewalt sie umso besser unterwerfen und beherrschen könne. Anders als Aegidius Romanus negiert Alvaro eine Potentialität zum Guten für die weltliche Gewalt.1436 In seinem Fürstenspiegel leitet Alvaro die königliche Herrschaft von biblischen Ursprüngen ab, die er als Beispiele tyrannischen und arroganten Gewalthandelns vorführt. Nimrod, die Pharaonen und Nebukadnezar gelten ihm als Prototypen einer Reihe verwerflicher Herrscher, die von Alexander dem Großen und Herodes fortgesetzt wird. Deren Gewalthandeln diene selbstsüchtigen Zwecken. Dem liebe sich abhelfen – aber nicht durch die Aktivierung von natürlichen Antrieben, nicht durch politische Regelungen, sondern durch ethische Forderungen, die allgemein gültig seien und nicht spezifisch allein die Könige zu 1435 Petrus Iohannis Olivi, De renuntiatione papae Coelestini V. Quaestio et epistola, hg. v. Livarius Oliger, in: Archivum Franciscanum Historicum 11 (1918), S. 309–373, S. 356– 359; zur zeitgenössischen Debatte um die Berechtigung eines Rücktritts vom päpstlichen Amt: Gian Carlo Garfagnini: Una discussione sulla »Plenitudo potestatis« pontifica: Pietro di Giovanni Olivis e Egidio Romano, in: L’Antichit/ classica nel pensiero medievale, hg. v. Alessandro Palazzo (Textes et 8tudes du moyen .ge 61), Porto 2011, S. 267–278. 1436 Alvarus Pelagius, De statu et planctu ecclesiae, Venedig 1560; Miethke, Politiktheorie, S. 177–182.

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erfüllen hätten. Um diese ethischen Anforderungen aufzuerlegen, seien die Geistlichen und an ihrer Spitze die Päpste eingesetzt. Sie könnten so die Fehler der Mächtigen korrigieren, ja die inhärenten Makel der Macht beheben. Die wichtigste Pflicht der Herrscher sei die Unterwerfung unter die Autorität der Geistlichen. Von dieser Pflicht ist eine Tugend abgeleitet: die aufrichtige Liebe (sincerus amor) für das Vaterland. Für Alvaro folgt daraus aber keine innerweltliche Beziehung zwischen Herrscher, Volk und Land, sondern die Anerkennung der inferioren Position der Herrscher, die ihre Herrschaft in den Dienst für Gott zu stellen hätten, was erfordere, sie zugunsten der Belange der Christenheit, auch im Kampf gegen die Ungläubigen, auszuüben. Alvarus schreibt, dass die Könige Kastiliens sich als vortrefflich in ihren Tugenden und Handlungen erwiesen hätten; sie seien allen übrigen Herrschern der Christenheit überlegen, denn sie dienten der Christenheit und verteidigten an vorderster Front Europa gegen die Muslime.1437 Aegidius Romanus hat das Problem der Beziehung zwischen geistlicher und weltlicher Gewalt in dem Traktat De potestate ecclesiastica anders und grundsätzlich analysiert. Er verzichtet auf die Nennung von vorbildlichen Herrschern. Aegidius verzichtet auch darauf, Herrschaft als Hort von Unrecht und Furcht abzuwerten. Er sieht sie nicht als stets und notwendigerweise dem Bösen verhaftete Einrichtung an, sondern knüpft durchaus an deren günstiger Bewertung an, wie er sie im Buch De regimine erläutert hat. Indem Aegidius die Kirche als Wächter für die Rechtmäbigkeit und das Gelingen der Taten des weltlichen Schwertes vorsieht, entlastet er die weltliche Herrschaft von der Notwendigkeit, dass stets tugendhafte Herrscher agieren müssten und inner-staatliche Kontrollorgane vorauszusetzen wären, damit Gerechtigkeit gelinge. Das Verlassen der ursprünglichen Position einer auf die natürlichen Antriebe des Menschen setzenden pädagogischen Intervention und politischen Ordnung, die ohne eine dem Staat übergeordnete institutionalisierte Regelungsinstanz auskommt, führt nun zur Rechtfertigung einer hypertrophen Machtausstattung der Kirche, die als Wächterin für die gute Herrschaft fungiert. Der Wandel der Auffassung mag auf den persönlichen Lebenserfahrungen von Aegidius beruhen. Der Konflikt zwischen Papst Bonifaz VIII. und dem französischen König Philipp IV. hat ihm wohl die Gefährlichkeit einer an Machtsteigerung ausgerichteten königlichen Politik vor Augen geführt, die weder davon ablieb, die exemte Stellung des Klerus zu verletzen und sie in Gerichtsbarkeit und Besteuerung laikaler Gewalt zu unterwerfen, noch sich scheute, fingierte Kreuzzugsvorbereitungen zu inszenieren, um die Kreuzzugszehnten in die eigenen Kassen zu lenken, noch vor der Perfidie zurückschreckte, gefälschte Papstbriefe zur Desavouierung von Papst Boni-

1437 Schrick, Königsspiegel des Alvaro Pelayo, S. 19f., 204–209; Barbosa, Teoria.

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faz VIII. in Umlauf zu bringen.1438 Eine weitere, vermutlich kurz vor 1298 verfasste, kleine Schrift, die wohl als Predigt zu gelten hat und die päpstliche Gewalt interpretiert, hat diesen politischen Kontext ausdrücklich in die Argumentation einbezogen.1439 Es gibt einen weiteren historischen Zusammenhang: Der Rücktritt von Papst Coelestin V. im Jahre 1294, auf den die Wahl von Papst Bonifaz VIII. folgte, war eine Hypothek für dessen Legitimität. Sie suchte Aegidius in einer weiteren Schrift, die die Rechtmäßigkeit des Rücktritts begründete, zu retten. Aegidius argumentierte, dass die vollkommene Handlungsfreiheit jedes Papstes auch den Amtsverzicht einschließe.1440 So war der Weg bereitet, die päpstliche Vollgewalt theoretisch zu begründen. Ihr sollte keine Schranke auferlegt sein. Ein innerkirchliches Problem war zunächst zu behandeln. Die von Aegidius vorgesehene Lösung hatte dann auch Auswirkungen auf die Deutung der weltlichen Gewalt. Die Liebe wurde nicht mehr allein natürlich vorgeben; sie bedurfte der religiösen Einsetzung und der Ermahnung und Anleitung durch Geistliche. Die Liebe war von Aegidius in die Pädagogik und in die Politik eingeführt worden, nunmehr wurde sie in die Formung durch die Priester gestellt. In beiden Optionen der politiktheoretischen Konzepte sprengte Aegidius die bei Aristoteles errichtete Barriere zwischen dem privaten und dem öffentlichen Leben. Aristoteles hatte die vorpolitische Existenzform des Menschen vorgestellt, die im Haus eingeschlossen war, dessen Oberhaupt über die Angehörigen des Hauses mit despotischer Gewalt herrschte, die keiner Kontrolle und keiner rechtlichen Bedingung unterlag. In der Polis, im Bereich des politischen Handelns war das Gegenteil verlangt. Aegidius bezog sich zwar in der Verteidigung päpstlicher Vollgewalt weiterhin auf Aristoteles, aber die von ihm erörterte Autonomie des Handelns in der Politik schob er zur Seite. Das Eindringen der Liebe in den Raum des Politischen barg ja von Anfang an die Eigentümlichkeit, dessen Autonomie zu ersticken. Mit der Einsetzung des Papstes als Aufseher über die gute Politik wurde diese Tendenz noch verstärkt. Was im Werk De regimine ausge1438 Brian Tierney, The Crisis of Church and State 1050–1300, Engelwood Cliffs (USA) 1964, S. 183–187; Jean Favier, Un roi marbre. Philippe le Bel, Enguerran de Marigny, Paris 2005; Joseph R. Strayer, The reign of Philip the Fair, Princeton 1080; Franz Josef Felten, Auseinandersetzungen um die Finanzierung eines Kreuzzuges im Pontifikat Johannes’ XXII. (1316–1334), in: L’hostie et le denier. Les finances eccl8siastiques du haut moyen .ge / l’8poque moderne. Actes du colloque de la Commission internationales d’histoire eccl8siastique compar8e, GenHve ao0t 1989, hg. v. Michel Pacaut, D. Fatio, Genf 1991, S. 79–101. 1439 Es handelt sich um die Schrift, die die Herausgeberin als Potentia papae titulierte: Concetta Luna, Un nuovo documento del conflitto fra Benedetto VIII e Filippo il Bello. Il discorso del Potentia papae di Egidio Romano, in: Documenti e studi sulla tradizione filosohica medievale 3 (1992), S. 167–243. 1440 Aegidius Romanus, De renunciatione papae, hg. v. J. R. Eastman (Texts and Studies in Religion 52), Lewiston u. a. 1993, bes. S. 183, 192f.

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führt worden war, bildete die Brücke zur rigiden Verteidigung geistlicher Allgewalt, der die Aufgabe zufällen sollte, die Geltungsgründe des guten Tuns und die Verwirklichung der Liebe durchzusetzen. Die Geistlichkeit sollte die Potentialität der Liebe zur Aktivierung bringen. Eine Abfolge unterschiedlicher, aber doch aneinander anknüpfender Argumente hat Aegidius entfaltet. Hatte er im Rhetorikkommentar rechtliche Regulative vorgesehen, die die Gerechtigkeit herstellten und dabei die Eindämmung von Emotionen, von Furcht und Liebe, verlangten, war in den Sentenzenkommentaren die Liebe theologisch gedeutet und von der Politik getrennt. Führte er im Fürstenspiegel die Liebe als Wirkkraft ein, die das allgemeine Wohl im Staat und die Kohäsion aller – der Herrscher wie der Untertanen – herstelle, so schrieb er schließlich im Werk zur geistlichen Gewalt, dass die Liebe und die Herrschaft der Formung durch Geistliche bedürften. Die Unterschiede waren gewiss durch die verschiedenen Gattungen der Schriften begründet, sie spiegelten aber auch einen Erfahrungsprozess wider. An einer argumentativen Verbindung zwischen den Etappen der Reflexion fehlte es gleichwohl nicht. Es gab keinen Widerspruch unverbundener Auffassungen; Aegidius Romanus entfaltete einen Begründungszusammenhang.

XII. Bedrohte Autonomie des Individuums durch Politisierung der Liebe

1.

Zwei Arten der Tugend und der Liebe: Peter von Auvergne

Das Individuum war nicht lediglich der Herrschaft unterworfen. Es war auf sie angewiesen. Auf sich allein gestellt, war sein Mangel natürlich, nicht religiös bedingt. Die Kompensation dieses Mangels führte zur Entstehung von Herrschaft. Dies war der Diskussionsstand der politischen Philosophie, die auf der von Aristoteles beruhte. Mehrere Fragen blieben indes offen. Wie war die Liebe im Staat mit der Liebe gemäß christlicher Lehre zu vereinbaren? Wie stand die Moral der Politik in Verbindung mit der Moral des Individuums? War durch die Herrschaft die Autonomie des Individuums bedroht? Diesen Fragen widmeten sich Autoren, die teils zustimmend, teils kritisch die Ergebnisse der politischen Philosophie von Aristoteles erörterten. Die Gefahr, die aus der Herrschaft erwächst, wurde wahrgenommen. In die Freundschaften des Menschen und in seine Familie ragte die Hand des Staates. Die auf Aristoteles fußende Politikrezeption barg die Möglichkeit, den Menschen in ein Geflecht von Regeln, Anforderungen und Verfahren einzubinden, die seine Autonomie bedrohten, dies umso mehr, als Politik nach ihr eigenen Regeln und eigenen Ethiken, die keiner Einsetzung von äußeren Instanzen bedürften, gestaltet war und die auch außerhalb des Christentums bestanden. Es gab die Option, die Herrschaft von der allgemein gültigen Moral abzukoppeln und ihr eine eigene Moral zuzuweisen, die auf das Funktionieren von institutionell verankerten Verfahren abzielte und auf eine Zuführung religiöser Themen und auf eine Anleitung durch Geistliche nicht angewiesen war. Auf der Basis dieser Argumentation war die Frage, wie Liebe oder Schrecken in die Herrschaftsausübung einbezogen werden sollte, in einer neuen Art zu beantworten, sofern die Liebe nicht als anthropologisch fundierte Motivierung oder als moralische Tugend oder als religiöses Gebot eingeführt war, sondern instrumental eingesetzt und politisch geformt werden sollte, also nicht von außen an die Politik herangetragen wurde, sondern aus ihr selbst entspross. Die Liebe und ebenso der Schrecken wurden als subjektive Empfindungen abgeschwächt, um sie als Ordnungskonzepte zu formen. Die

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Angebote der spätmittelalterlichen Autoren schwankten zwischen einer Verteidigung der Liebe gegen die Ansprüche der Herrschaft einerseits und einer Unterstellung der Liebe unter die Herrschaft anderseits. Entweder wurde die Liebe politisiert und für das Funktionieren von Stadtgemeinde und Staat eingesetzt oder in den privaten Bereich abgedrängt, wo sie keine Bedeutung für die Herstellung kollektiver Zusammengehörigkeit besaß. In beiden Fällen büßte Liebe an emotionaler Intensität ein. Wenn es um die politische Verwendung der Liebe ging, sollte sie weniger die Emotion und die Motivierung formen, sondern zur Einsicht in die Notwendigkeit, der das Handeln der Herrscher und ihrer Untertanen unterlag, hinführen. Folglich sei, so wurde vorgeschlagen, die Liebe nur dann politisch bedeutsam, wenn sie eine spezifische Formung erhielte, die sie als Instrument einsetzbar mache, sofern sie nicht gar als Störung für die Stabilität politischer Verfassung angesehen werden müsse. Der Schrecken als Herrschaft legitimierender und sie fundierender Faktor sei ebenso entbehrlich, sofern eine administrativ oktroyierte und eine vernunftgemäße und vernunftgeleitete Herrschaft bestehe, deren Bindung an ein allgemeines Wohl die Mechanik von Ordnungskräften in Kraft setzte. Die Diskussion war eröffnet, wie die Emotionen sich im privaten Leben entfalten oder wie sie politisch eingesetzt werden werden sollten. Und es wurde erörtert, wie sie vor der Einbindung in den Staat geschützt werden und ebenso wie dieser umgekehrt vor ihnen bewahrt werden konnten oder sollten. Die Verbindung zwischen Emotionen, besonders der Liebe, und dem Staat wurde mehr und mehr als problematisch angesehen und die Bande fingen an, sich zu lockern. Aber erst Machiavelli wird zu Anfang des 16. Jahrhunderts diese Verbindung als Illusion und als Ergebnis beabsichtigter Täuschung entlarven und die Argumentationsgrundlage mittelalterlicher politischer Theorie zerstören. Mit der Konstituierung der Politik als eigenständiger Wissens- und Handlungsbereich war bereits der Weg vorgezeichnet, Politik ohne Ableitung von Religion und ohne Anbindung an eine allgemeingültige Ethik argumentativ zu erfassen. An der Wende zum 14. Jahrhundert behauptete der Pariser Magister an der dortigen Artistenfakultät, Peter von Auvergne († 1304), am deutlichsten die Autonomie des politischen Agierens, welches eine eigenständige Rationalität, Semantik und Ethik besaß. Peter ging noch einen Schritt weiter. Er meinte, dass die Ethik kein Oberbegriff zur Lehre von der Politik sei, sondern im Gegenteil die Ethik als Teildisziplin der Politik anzusehen sei. Peter wurde bereits in den sechziger Jahren des 13. Jahrhunderts, als Thomas von Aquin in Paris lehrte, dort Magister der Philosophie und 1296 Magister der Theologie und unterrichtete ununterbrochen bis zu seinem Tod, also mehr als dreissig Jahre lang. Trotz seiner ausgedehnten Lehrtätigkeit und seiner zahlreichen philosophischen Schriften übte er nur einen geringen Einfluss auf die folgenden Generationen aus. Am ehesten scheint dies noch für die Kommentare und Quaestiones zum

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Werk von Aristoteles zur Politik der Fall zu sein. Diese und die anderen Schriften sind ansonsten nur zum Teil ediert, seine Philosophie noch wenig untersucht.1441 Ob und in welcher Weise die Schriften von Peter durch Aegidius Romanus rezipiert wurden, ist nach dem jetzigen Stand der Forschung nicht entschieden. Die mitunter großen, bis hin zu wörtlichen Übernahmen reichenden Übereinstimmungen legen dies nahe.1442 Gleichwohl sind die Ergebnisse der Überlegungen der beiden Autoren sehr verschieden. In seinem als Scriptum bezeichneten Text und den später verfassten Quaestiones, die beide die Schrift zur Politik von Aristoteles erörtern, untersucht Peter spezifisch politische Tugenden, die sich von den anderen Tugenden unterscheiden.1443 Er spitzt das Problem auf die Frage zu, ob ein Herrscher stets mit Gerechtigkeit handeln müsse. Die Antwort leitet er nicht von den charakterlichen Fähigkeiten des Herrschers ab, denn sie sind für ihn unerheblich. Besser sei es, durch Gesetze als durch Personen regiert zu werden, denn so könnten die Gefühle, die passiones, aus der Herrschaft ausgeschieden werden, die ansonsten riskierten, den Zweck des Staates, nämlich das allgemeine Wohl herzustellen, zu verfehlen.1444 Aus den passiones könne kein Nutzen entspringen. So scheint auch Liebe im Bereich des Politischen keinen Gewinn zu erbringen – jedenfalls behauptet Peter dies zunächst. Auf die weitere Argumentation wird noch einzugehen sein. Anders als sein Zeitgenosse Aegidius Romanus verweist Peter auf die Herrschaftsorganisation, aus der das Optimum für das allgemeine Wohl hervorgehe. Peter sucht zu beweisen, dass in politie, also im Bereich des politischen Handelns, andere Regeln gelten als in den übrigen Lebensbereichen. Das, was simpliciter Tugend sei, könne in politiis missachtet werden, weil dort auf anderen Begründungen aufzubauen sei und andere Ziele verfolgt werden müssten, als sie ansonsten für das Leben vorgegeben seien. Es gebe einen Unterschied zwischen den Tugenden des Menschen im Allgemeinen einerseits und denjenigen des Bürgers und Herrschers andererseits.1445 Diese Unterscheidung führt Peter auch 1441 Zur Biographie: Celano, Peter ; William J. Courtenay, Peter of Auvergne, Master in Arts and Theology at Paris, in: Peter of Auvergne. University Master of the 13th Century, hg. v. Christoph Flüeler u. a. (Scrinium Friburgense 26), Berlin u. a. 2015, S. 13–27; dort auch Aufsätze zu seiner Philosophie. 1442 Lambertini, Peter of Auvergne, S. 62–69. 1443 Das erste Werk ist teilweise ediert in: The Commentary of Peter of Auvergne on Aristotle’s Politics. The inedited Part, hg. v. Grech M. Gundisalvus, Rom 1967, S. 73–129 und in: Thomas von Aquin, In octo libros Politicorum Aristotelis expositio, hg. v. Raimondo Spiazzi, 2. Aufl. Turin 1966, S. 141–143; eine vollständige Neuausgabe des Politikkommentars von Peter von Auvergne ist in Vorbereitung, herausgegeben von Lidia Lanza. 1444 Peter von Auvergne, Quaestiones super libros Politicorum, Ms. Paris, BibliothHque Nationale de France, lat. 16089, fol. 274r–319r, fol. 297r : III, q. 22; Renna, Aristotle, S. 315f. 1445 Peter von Auvergne, Quaestiones super libros Politicorum, Ms. Paris, BibliothHque Nationale de France, lat. 16089, lib. III, q. 6; lib. VII, q. 6; Flüeler, Rezeption, S. 181–214; R8n8 Antoine Gauthier, Les questiones supra librum ethicorum de Pierre d’Auvergne, in: Revue

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in die von ihm verfassten Quaestionen zur Nikomachischen Ethik ein. Eine einheitliche Morallehre schließt er aus. Für das Handeln als Individuum, im Haushalt und im Staat müssten unterschiedliche Anleitungen zum rechten Tun gelten. Es gebe, so Peter von Auvergne, eine politische Tugend, die von der moralischen Tugend verschieden sei, so dass der Bürger und der Herrscher im Staat nicht simpliciter tugendhaft handeln könnten. Aber es geht mehr als nur darum, unterschiedliche Anwendungen der Morallehre vorzunehmen, die auf die Umstände von Handlungen ausgerichtet werden. Was Aristoteles und auch Thomas von Aquin nur zurückhaltend erwähnten, nämlich die Unterschiede zwischen dem gerechten Handeln als Mensch und als Bürger, hat Peter von Auvergne zur grundsätzlichen Differenz gemacht. Er beschränkt sich nicht auf Modifikationen, die auf verschiedene Situationen angewendet werden. Die Lehre von der Moral bildet keine Einheit, sie ist aufgefächert in mehrere Lehren. Die Frage, utrum tota moralis sciencia sit una, beantwortet Peter, dass es diverse sciencie speciales gebe. Die Überlegungen zu diesen Spezialitäten konstituieren jeweils ein eigenständiges Wissen und fordern unterschiedliche Handlungsanweisungen. Dies gilt auch für das Tun des Menschen, insofern er Teil einer staatlichen Gemeinschaft ist. Um die Unterscheidung von Gut und Böse im Hinblick auf das Handeln im Staat angemessen vorzunehmen und sie auf die passenden Handlungsfelder anzuwenden, bedürfe es einer gesteigerten Einsichtsfähigkeit, die größer als im privaten Leben sei und die nur bei freien Männern, nicht aber bei Knechten, Frauen und Kindern existiere.1446 Politisches Handeln entfalte sich gemäß Peter von Auvergne ausschließlich außerhalb des Hauses, hierin sich von Aegidius deutlich unterscheidend. Anders als bei Johannes Duns Scotus ist für Peter der Staat, nicht das Haus, das Reich der Freiheit und damit der Tugend, hiermit der aristotelischen Vorstellung folgend.1447 Ähnlich wie Wilhelm Peraldus misstraut Peter der Möglichkeit, dass ein Herrscher ein guter Mensch sein könne. Er führt die Idee von Wilhelm weiter, indem er vorsieht, dass die Tätigkeit in der Politik eine eigene Ethik besitze, so dass der Herrscher sehr wohl moralisch zu handeln befähigt und angehalten sei, sofern eine andere, gesonderte Art der Moral vorausgesetzt werde. Die Tugend als Mensch und die Tugend als Bürger sind zwei verschiedene Tugenden und sie bedürfen einer jeweils eigenen Wertung und einer eigenen Anwendungsform und seitens der Philosophie einer spezifischen Untersuchung. Der Unterschied zu Aegidius Romanus ist groß, für den es nur eine einheitliche Lehre zur Tugend du moyen .ge latin 20 (1964), S. 235–260; Charles A. Lohr, Commentateurs d’Aristote au moyen .ge latin, Freiburg (Schweiz) 1988, S. 197f. 1446 Flüeler, Rezeption, S. 176–178; Gianfranco Fioravanti, Servi, rustici, barbari. Interpretazioni medievali della »Politica« aristotelica, in: Annali dela Scuola Normale Superiore di Pisa. Classe di Lettre e Filosofia 11 (1981), S. 399–429. 1447 So auch die Auffassung von Celano, Peter, S. 35–37.

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gibt.1448 Deutlicher noch als bei Aristoteles, der die individuelle Tugend des Bürgers als Voraussetzung zu guten allgemeinen politischen Ordnung ansah aber auch spezielle Tugenden des Bürgers voraussetzte, entspringen bei Peter von Auvergne die Tugenden getrennten Quellen, verfolgen unterschiedliche Ziele und unterliegen verschiedenen Anleitungen. Die Existenz divergenter Ethiken wird noch deutlicher ausgeführt, wenn Peter selbst für die schlechten Regierungsformen eine politische Tugend vorsieht, sofern es ihnen gelingt, die Herrschaft aufrecht zu erhalten und damit das Gute – im Sinne der politischen Ethik – bereits durch ihre bloße Existenz verwirklicht zu haben. Peter behauptet, dass jedwede politische Organisation einen gewissen Grad des Guten bewirke, weil die politische Vereinigung per se gut sei.1449 Selbst die Tyrannei verwirkliche, zum Teil wenigstens, ein Gutes. Deswegen müsse das positive Recht, vom Gesetzgeber erlassen und durchgesetzt, auch nicht dem Naturrecht entsprechen. Peter von Auvergne hat gar nicht erst die Erwartung, durch das Handeln der Herrscher diesen selbst und seine Untertanen in einen besseren moralischen Status zu versetzen. Peter meint, dass in einer guten Herrschaftsform nicht vorausgesetzt sei, dass die Bürger und Untertanen auch als gute Menschen handeln könnten. Ausgeschlossen ist es aber auch nicht. Aber für die Erörterung des politischen Guten gilt der Unterschied als unerheblich. Peter konzediert aber doch, dass in einer guten Herrschaftsform es gelinge, die individuelle und die politische Tugend aneinander anzunähern und den Gegensatz zu verringern. Nur in schlechten Herrschaftsformen müssten die Untertanen und Bürger sich bei ihren Handlungen zwischen beiden Tugenden entscheiden und könnten nicht beide verwirklichen.1450 Die gestufte Existenz des Guten gilt für die Person und die Herrschaft. Bei dem Erlass von Gesetzen sei darauf zu achten, in welchem Ausmaß die Bürger und Untertanen sich tugendhaft verhalten und wie verständig sie sind. Auch wenig tugendhaften und unvernünftigen Menschen sei ein Gutes zuzugestehen, nämlich eine Eingliederung in einen Staat, so ungerecht er auch sein möge, denn es sei besser, ein Unvollkommenes, aber Mögliches zu erreichen, als die Menschen gänzlich ohne nützliche Anleitung zu belassen. Möge auch die Tyrannis

1448 Lanza, Politica, S. 19–75. 1449 Peter von Auvergne, Quaestiones super libros Politicorum, Ms. Paris, BibliothHque Nationale de France, lat. 16089, lib. III q. 6. 1450 Marco Toste, An Original Way of Commenting on the Fith Book of Aristotle’s Politics. The Questiones super I–VII libros Politicorum of Peter of Auvergne, in: Peter of Auvergne. University Master of the 13th Century (Scrinium Friburgense 26), hg. v. Christoph Flüeler u. a., Berlin, New York 2014, S. 1–33. S. S. 9.

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der Natur des Menschen widersprechen, so könne doch auch sie ihm nützlich sein.1451 Peter meint, dass die Politik an sich das Gute schaffe, ohne dass eine Begründung außerhalb der Politik notwendigerweise hinzutreten müsse. Dies hat Folgen: Der Einsatz der Mittel, die die Herrschaft einsetzt, sind von moralischen Erwägungen im üblicher Sinne – also simpliciter – weitgehend befreit. Deswegen sei Herrschaft, so meint Peter, stets mit Gewalt verbunden, die den Willen der Vielen bezwingt. Das gewaltsame Handeln ist also kein Kriterium hinsichtlich der Bewertung oder gar Abwertung der Herrscher und schon gar nicht der Herrschaft. Diese könne rechtmäßig oder tyrannisch ausgeübt werden, an ihrer Berechtigung und Wirksamkeit ändere dies nichts und damit nichts an ihrer Notwendigkeit und auch nichts an ihrer guten Wirkung. Der Vorrang der Herrscher beruhe auf ihrer gesteigerten Tugend, die nicht aus ihren persönlichen Verdiensten entspringe, sondern die sie durch ihr Amt besäßen. Die Herrschenden hätten insofern mehr Tugenden – im politischen Sinne – als die Untertanen. Die zwingende Gewalt gilt dem Pariser Magister als Ergebnis einer besonderen Befähigung. Sie müsse eingesetzt werden; dies sei die Aufgabe, der die Herrschenden nachzukommen hätten.1452 Es ist die politische Positionierung und aus ihr folgend die Praxis, aus der die Moral entsteht. Hingegen lenkt die Moral nicht die politische Verfassung und ihre Praxis. Peter schreibt, dass selbst wenn in einer guten politischen Verfassung die Tugend des Menschen mit der des Bürgers harmonisierten, das Fehlen dieser Harmonie nicht die prinzipielle Legitimität jeder beliebigen politischen Verfassung, auch der tyrannischen nicht, entziehe. Es könne auch keine Übereinstimmung der Ethiken von Herrscher und Untertan geben; sie seien vielmehr komplementär und erfüllten die ihnen jeweils eigenen Zwecke, so dass erst im Zusammenwirken der unterschiedlichen Ethiken der politische Verband funktionsfähig werde. Stärke soll den Herrscher und die Beherrschten auszeichnen, im Erteilen der Befehle einerseits, in deren Befolgung andererseits.1453 Die Herauslösung der politischen Ethik aus der allgemeinen Ethik führt zu Differenzierungen: Peter von Auvergne präsentiert zwei Ethiken, die allgemeine und die politische, und letztere ist wiederum in zwei Ethiken unterteilt. Aus den zwei Oberformen der Ethik mit ihren jeweiligen spezifischen Tugenden entwickelt Peter auch unterschiedliche Arten der Liebe. Peter bejaht die Frage, ob es für die Herrschaft einen vom amor unterschiedenen, eigenständigen amor politie gebe. Er stellt – in entgegengesetzter Position zu Aegidius – diesen 1451 Peter von Auvergne, Quaestiones super libros Politicorum, hg. v. Marco Toste (im Druck), Lib. II, q. 10: lib. III, .q. 6; Toste, Virtue, S. 162–164. 1452 Commentary of Peter of Auvergne on Aristotle’s Politics, S. 124f. 1453 Peter von Auvergne, Quaestiones super libros Politicorum, Ms. Paris, BibliothHque Nationale de France, lat. 16089, lib III, q. 6; q. 8.

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amor politie zunächst als ein Übel vor, weil die politia, also das Handeln im politischen Verband, bei erster, vorläufiger Betrachtung dem malum angehöre. Die natürliche Neigung zum Guten könnten also die politisch Tätigen nicht aktivieren, sofern die Verwirklichung von Tugenden im allgemeinen Verständnis angestrebt würde, und deswegen wäre dann der amor verfehlt. Der amor politie sei indessen gerechtfertigt, so die weitere Argumentation, eben weil er von dem amor in anderen Lebensbereichen unterschieden sei, da er zur Verbesserung der Politik führe, d. h. zur Perfektionierung der Herrschaft. Die Spezifik dieser Liebe folgt also einer spezifischen Moral und setzt sie ein. Aus dieser Liebe entstehe, so Peter von Auvergne, keine Hinwendung zum guten Tun des Herrschers, vielmehr allein zur guten Verfassung des Staates. Liebe wird auf diese Weise nicht den persönlichen Empfindungen oder Werten zugeführt, sondern als Grundlegung von Institutionen.1454 Die subtile Beweisführung Peters gelangt zur Scheidung dessen, was einfach ist, und was politisch ist. Liebe ist daher aus der Politik ausgesondert, steckt aber doch in ihr, sofern es sich um eine politische Liebe handelt. Unabhängig von der Auffächerung der Liebe, die ja nicht von einer einheitlichen Tugend gefordert werde, müsse sie sich von den in den Individuen angelegten passiones lösen.1455 Weil der Herrscher auch schlecht handeln könne und er darin durch seine Leidenschaften, auch durch seine Liebe zu Personen und Gegenständen, angetrieben werde, führe die Liebe in vielen Fällen zum Schlechten. Also nicht aus dem Ursprung, nicht aus der Absicht leitet sich die Bewertung der Liebe ab, sondern aus der Wirkung, die sie hervorruft. Peter meint, dass das Übel nicht an sich, sondern allein im Hinblick auf den politischen Nutzen aufgefasst werden müsse.1456 Bereits in der lateinischen Übersetzung des aristotelischen Werkes zur Politik, von Wilhelm von Moerbeke verfasst, war der Terminus amor ad consistentem politiam verwendet worden1457 und hier erstmals von Peter in einer Weise interpretiert, dass diese politische Liebe von den anderen Seinsformen der Liebe eindeutig abgetrennt ist. Ausdrücklich heißt es in den Politikkommentaren von Peter, dass derjenige, der den Herrscher in seiner Eigenschaft als Herrscher liebe, damit in erster Linie nicht die Person, sondern die Institution der Herrschaft liebe. Nur insofern der Herrscher für das 1454 (…) dicendum est quod consistentia male politie, licet sit mala simpliciter, est tamen bona ex suppositione, scilicet illis qui in ea conservantur principibus. Et ideo amor illius exigitur ad perfectionem illorum principum inquantum huiusmodi. Licet enim sit amor malus simpliciter malus simpliciter, est tamen bonus in illo genere principum, et ideo potest ess perfectio eorum. Peter von Auvergne, Quaestiones super libros Politicorum, Ms. Paris, BibliothHque Nationale de France, lat. 16089, V, q. 12. 1455 Peter von Auvergne, Expositiones in octo libros Politicorum, S. 182. 1456 Ders., Quaestiones super libros Politicorum, Ms. Paris, BibliothHque Nationale de France, lat. 16089, lib. V, q. 12. 1457 Aristoteles, Politicorum libri, S. 548.

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Wohl aller sorge, wird er geliebt. Analog zur Tugend, der eine spezifische, deutlich abgesetzte politische Tugend gegenübergestellt ist, gibt es eine politische Liebe, die von der Liebe im allgemeinen Sinn zu unterscheiden ist. Die Liebe erhält eine exklusive Bedeutung für die Politik, die sie von derjenigen in den übrigen Lebensbereichen unterscheidet.1458 Neben der Liebe zieht Peter auch die Furcht als Bestandteil der politischen Ordnung in Erwägung – wiederum allein hinsichtlich ihrer politischen Wirkung. Peter rechtfertigt auch sie, obwohl sie ebenfalls, sofern sie im allgemeinen Sinne verstanden wird, zu verwerfen sei. Die Furcht werde dazu benutzt, die Menschen gefügig zu machen, aber auch sie in Feindschaft gegeneinander zu stellen. Die Furcht ist ambivalent. Sie vereint die Untertanen, und sie treibt sie auseinander. Positiv bewertet Peter eine solche Furcht, die er analag zu Liebe als Furcht in der Politik kennzeichnet, als timor in politiis, weil sie der Stabilisierung der Herrschaft nützlich ist.1459 Liebe und Furcht, amor und timor, in den Kontext der Politik gestellt, bewahren ihre Namen, verlieren aber ihren Sinn, weil sie nicht mehr an eine Anthropologie anschlussfähig, vielmehr der politischen Notwendigkeit unterstellt sind. Sie werden zu Ordnungsprinzipien, die eine Funktion für den Staat haben, für die Individuen indessen auf Emotionen beruhende Beziehungen ausschließen. Weil die spezifische politische Tugend und die politische Liebe von Institutionen vereinnahmt sind und einen regulierten Komplex von Interaktionen bewirken, muss die normative Anleitung eine andere sein, als wenn es um die Vervollkommnung des Individuums geht. In den Quaestiones zur Politik schreibt Peter, dass dem Herrscher der amor politie auferlegt sei, selbst dann, wenn eine politia mala das Ziel sei, weil auch das malum im politischen Kontext anders als üblich verstanden, nämlich hinsichtlich der Konsequenz des Handelns gedeutet werden müsse, also auf den Nutzen der Herrschaft zu beziehen sei, so dass aus der politia mala ein Gutes entstehen könne.1460 Das Gute bestehe in der Einheit der Glieder des Staates, die den Frieden sichert. Diese Einheit bringt Willensakte hervor, so das eine unitas voluntatum der Bürger und ihrer Regenten entsteht, welche wiederum zur amicitia hinführt. An Aristoteles anknüpfend, erachtet Peter die Freundschaft in Fortführung der Kausalkette als Entstehungsgrund für den politischen Verband. Aber die Freundschaft kommt ohne Emotionen aus. In ihr waltet keine eigentliche Liebe, sondern eben nur die politische Liebe. Es genüge, dass ein gemeinsames Streben nach einem gemeinsamen Ziel vorhanden ist, das Peter als die Herstellung des Friedens be1458 Peter von Auvergne, Expositiones in octo libros Politicourm, S. 50; Ders., Quaestiones super libros Politicorum, Ms. Paris, BibliothHque Nationale de France, lat. 16089, lib. III, q. 6. 1459 Ebda., lib.V, q. 5. 1460 Ebda., lib. V. q. 12, aus: Toste, Virtue, S. 97.

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zeichnet.1461 Daher ist es nicht einmal nötig, dass die Freundschaft ein Gutes für die andere Person erstrebt, sondern es reicht aus, dass sie als Resultat die Einheit des Staates herstellt.1462 Auch hier erweist sich, dass ein ethisch hoch bewerteter Begriff, der der Freundschaft, auf seine politische Funktion reduziert, zugleich aber auch quantitativ ausgeweitet – auf alle Bürger – und schließlich qualitativ auf eine höhere Komplexitätsstufe – auf den Staat – emporgehoben ist. Das Handeln von Herrschern und Untertanen ist von religiösen Vorschriften abgelöst und unterliegt einer Rationalität, die einzig nach dem Nutzen im Diesseits fragt. Peter erklärt die Theologie ausdrücklich als nicht zuständig in den Angelegenheiten des politischen Handelns.1463 Er geht einen Schritt weiter als die gelehrte Tradition, die zwar zumindest in Ansätzen eine weltliche Ethik von der Religion unterscheidet und die vier weltlichen Kardinaltugenden (Klugheit, Tapferkeit, Gerechtigkeit, Milde) für die politischen Angelegenheiten als hinreichend erachtet, wie dies wenige Jahrzehnte später der Dominikaner Heinrich von Rimini in seinem Traktat über die Tugenden der Bürger von Venedig ausführen wird.1464 Peter von Auvergne reißt vielmehr die Brücke ein zwischen der anthropologischen Fundamentierung der Ethik einerseits und der anthropologischen Grundlegung der Politik. Auch der Theologie entzieht Peter die Funktion, die Einheit der getrennten Bereiche herzustellen. Die Autonomie des politischen Handelns führt zur Steigerung der Macht der Herrscher. Normen werden abgestreift, die außerhalb der Herrschaft einzuhalten sind. Die Praxis der Herrschaft genügt sich selbst; sie ist nicht nur autonom, sondern auch auto-regulativ. Diese Selbstregulation schließt eine auf die politische Praxis anwendbare und spezialisierte Morallehre ein. Deswegen kann Peter den Herrscher, insbesondere den König, in eine ferne Höhe heben, die ihn Gott ähnlich werden lässt. Er ist als quasi deus bezeichnet.1465 Der Begriff meint etwas gänzlich anderes als der des semi-deus bei Aegidius Romanus, bei dem die Gottähnlichkeit auf einer einheitlich vorhandenen Liebe beruht und die Verwirklichung der allgemeinen Tugenden anzeigt, bei Peter indes auf die Erweckung und Verfügung einer auf ihn zugeschnittenen Moral verweist und seine Machtfülle benennt. 1461 Celano, Peter, S. 82f. 1462 Peter von Auvergne, Quaestiones super libros Politicorum, Ms. Paris, BibliothHque Nationale de France, lat. 16089, lib. V, q. 2. 1463 Christoph Flüeler, Ontologie und Politik. Quod racio principatu et subiecti, in: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 41 (1994), S. 443–461; Aldo Vendemiati, Le inclinazioni naturali e il bene. Letture parallele della Politica di Aristotele da parte di Tommaso d’Acquino e Pietro d’Alvernia, in: Rivista di folosofia neo-scolastica 89 (1997), S. 299–316. 1464 Heinrich von Rimini, Tractatus de quattuor virtutibus cardinalibus; Bejczy, Concept, S. 1– 18. 1465 Peter von Auvergne, Expositiones in octo libros Politicorum, S. 165, 204.

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Einer der Politik spezifischen Tugend kann Peter nur schwer einen eigenen Terminus anheften. Anscheinend soll der Begriff der prudentia dem terminologischen Mangel aushelfen; jedenfalls verwendet Peter ihn, um eine Voraussetzung zu benennen, mit der eine politische Glückseligkeit erreicht werde. Aber es wird nicht deutlich, in welcher Weise die Individuen, also auch die Untertanen, Nutznießer der Glückseligkeit würden, sofern nicht allein die Aufrechterhaltung des Friedens gemeint ist.1466 Die prudentia, üblicherweise als eine der Kardinaltugenden aufgefasst, wird im Gesamtgefüge der Tugenden zur höchsten Tugend erklärt. Peter fragt, ob die felicitas das Ziel der prudentia sei und verneint diese Frage, weil die Handlung des Herrschens – actum principandi – im Allgemeinen nicht oder nur selten geleistet werden könne, ohne zugleich Ungerechtigkeit zu verüben, so dass die felicitas außerhalb der erreichbaren Ziele des politischen Handelns liege. Der Verzicht auf die Anwendung einer allgemeinen Ethik auf die Politik hat eine erhebliche Auswirkung. Entgegen der anderen auf Aristoteles fußenden mittelalterlichen Politiktheoretikern ist das Glück kein Ziel des politischen Handelns. So wie zwischen prudentia und felicitas eine Lücke klafft, so auch zwischen prudentia und iustitia.1467 Die Optimierung der Herrschaft vollzieht sich zwar nicht ohne Gesetze, aber abseit der Gerechtigkeit. Den Argumentationen verweigert Peter oft eine eindeutige Antwort. Aber indem er Lösungen präsentiert, auch ohne sie stets als seine eigene Meinung explizit zu kennzeichnen, eröffnet er die Möglichkeit, darüber nachzudenken und in Erwägung zu ziehen, wie von der politischen Aktivität allgemein gültige moralische Fesseln abgestreift werden können. Die den Textgattungen der Quaestiones und der commentarii eigentümlichen Merkmale, die eine Stellungnahme des Autors nicht stets erfordern, bieten die Möglichkeit, Überlegungen einzuführen, den Zeitgenossen eine offenbar ungewöhnliche Morallehre plausibel zu machen. Sie zeigen die Palette des denkbar Möglichen an der Wende zum 14. Jahrhunderts. So ist die Vorstellung eingeführt, dass die optima politica ein eigenständiger Wert sei, der keiner weiteren Begründung und keines Verweises auf Religion und allgemeiner Ethik bedürfe.1468 Angesichts einer insgesamt geringen handschriftlichen Verbreitung der Schriften, auch der politiktheoretischen, von Peter von Auvergne1469, sind seine Positionen aber rand-

1466 Toste, Virtue, S. 83. 1467 Peter von Auvergne, Quaestiones super libros Politicorum, Ms. Paris, BibliothHque Nationale de France, lat. 16089, lib. VII, q. 6, aus: Toste, Virtue, S. 84. 1468 Cary J. Nederman, Mechanics and Citizens. The Reception fo Aristotelian Idea of Citizenship in Late Medieval Europe, in: Vivarium 40 (2002), S. 75–102. 1469 Gundisalvus Maria Greck, The manuscript tradition of Peter of Auvergne’s inedited Commentary of Aristotle’s »Politics«, in: Angelicum 41 (1964), S. 438–449.

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ständig geblieben und haben nicht unmittelbar zu einer grundlegenden Neubestimmung des Politischen geführt.1470 Am Beginn der Neuzeit, haben Niccolk Machiavelli und – weniger apodiktisch – Francesco Guiccardini, schließlich Konzepte vorgestellt, die das politische Handeln und das Erstreben von politischen Vorteilen gänzlich von den Fesseln allgemeiner moralischer und religiöser Anforderungen befreiten und nicht nur eine eigene Moral für die Politik vorsahen, wie bei Peter von Auvergne, sondern außerdem die Rationalität des Politischen in einen stets vorhandenen, logischen, unauflöslichen und unüberbrückbaren Gegensatz zur allgemeinen Morallehre stellten, weil diese zur Herrschaft unfähig machen würde. Das Politische als eigener Gegenstand des Nachdenkens und des Tuns wurde nun in der Weise etabliert, dass es auch durch die Negation der Wahrheit, durch das Heucheln von Emotionen gestaltet werden konnte und sollte.1471 Es ist nicht anzunehmen, dass die beiden Autoren der Renaissance das Werk von Peter von Auvergne kannten. Beide haben, aufgrund der Ablösung allgemeiner moralischer Bindungen, das Thema des Schreckens als untilgbares Merkmal der Herrschaft reaktiviert, nunmehr aber nicht, wie bei Augustinus, um die grundsätzliche Verwerflichkeit jedweder Machtausübung zu begründen, und auch nicht, wie im frühen Mittelalter, um mit dem Schrecken ein den Herrschern empfohlenes Instrument zur Verwirklichung des guten Tuns in die Hand zu geben und ebensowenig, wie vor allem in den Fürstenspiegeln seit dem 13. Jahrhundert, um Macht auf moralische Ziele hin zu lenken, ja sie zu Gunsten der Beherrschten einzusetzen und auch nicht wie bei Peter von Auvergne, einen spezifisch politischen Schrecken einzuführen. Der Schrecken, zum Terror perpetuiert, war vielmehr bei Machiavelli die notwendige Voraussetzung für den Herrscher, erfolgreich Macht auszuüben, ohne dass eine moralische Berechtigung vorausgesetzt war, nicht einmal mehr in einer eigenständigen politischen Moral, weil allein das Ziel, Loyalität zu erzeugen, als ausreichende Begründung galt. Auch die Liebe und die Freundschaft waren bei Machiavelli in eine Totalität der Kosten-Nutzen-Relation eingebunden, weil ihre Vorführung dazu diente, die Unterworfenen für den Herrscher zu gewinnen und sie von feindseligen Einstellungen abzuhalten. Die Echtheit der Emotionen war mehr als nur unerheblich, sie war schädlich, weil sie die Herrscher zu falschen Taten verführen würden. Heuchelei war hingegen vorgesehen. Es ging nicht um die Verursachung, sondern einzig um die Wirkung. Der Fürst dürfe, so meinte Machiavelli, nicht authentisch sein, er müsse vielmehr mehrere Figuren vorführen, weil eine einzige nicht ausreiche, um alle Aufgaben der Herrschaft auszuüben. Dass das 1470 Lidia Lanza, Aspetti della ricezione della Politica aristotelica nel XIII secolo: Pietro d’Alvernia, in: Studi Medievali 33 (1994), S. 645–691. 1471 Niccolk Machiavelli, Il principe.

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bonum commune angestrebt würde, war folglich nichts als Camouflage. Emotionen führten, so Machiavelli, die Menschen nicht in Gemeinschaften, sondern machten sie anfällig für Manipulationen. Diese einzusetzen, empfiehlt er ; sie seien notwendig für die Erwerb und den Erhalt der Herrschaft. Allein militärische Gewalt auszuüben, genüge nämlich nicht; die Gunst der Untertanen, die freiwillige Bereitschaft zur Unterwerfung müssten erreicht werden. Ja, so meinte Machiavelli, sie sollten dazu gebracht werden, den Herrscher zu lieben. Amore auf sich zu ziehen, verschaffe Anhänglichkeit; so werde die Macht gesteigert. Die Liebe steht freilich unter dem Vorbehalt, dass, sofern sie fehlte, der Furcht Platz machen solle, damit sie Gehorsam erzwinge. Jeder Herrscher habe sich zu entscheiden: zwischen der Erzeugung von Liebe oder der von Furcht, zwischen der Beziehung zu Freund oder zu Feind. In einem unentschiedenen Dazwischen zu verbleiben, sei für den Herrscher verhängnisvoll. In Zweifelsfällen sei es dann doch am sichersten, sich für die Furcht zu entscheiden. Sie fließe aus einer pietosa crudelit/, die auch die Frömmigkeit einzusetzen weiß, weil mit der Drohung jenseitiger Strafen Schrecken erregt werde, um die Untertanen im Diesseits gefügig zu halten. Für Machiavelli sind Emotionen Instrumente der Lenkung. Sie müssten geschickt eingesetzt werden; sie seien unerlässlich, so wenig authentisch sie auch sein mochten. Was entscheide, sei der Erfolg.1472 Die politische Moral kennt keine Tugend, sie kennt letztlich auch keine Emotionen, sondern nur deren Vorspiegelungen. Dass sie nicht mehr als diese sind, muss geheimes Herrschaftswissen bleiben. Der Widerspruch, der darin besteht, dass der Autor diese Geheimnisse publik macht, soll hier nicht weiter erörtert werden; die Eitelkeit des angeblichen Wissenden mag wohl ausschlaggebend sein. Wenn auch der Geschichtsschreiber Francesco Guicciardini der Auffassung von Machiavelli zur genuinen Schlechtigkeit des Menschen nicht folgt, stimmt er mit ihm aber darin überein, dass für das politische Handeln eine eigene Moral vorbehalten sei, die nach Effizienz und nicht nach ethischen Standards ausgerichtet sein müsse.1473 Beide Autoren knüpften an eine Auffassung an, die bereits seit dem 13. Jahrhundert angelegt war, als Politik von Ethik abgetrennt wurde, stellten aber auch eine Neuerung vor, indem sie das historische Geschehen und das politische Handeln nicht mehr einem vernünftigen Verlauf einordneten1474, sondern als Ergebnisse der fortuna und der opportunit/ vorstellten, die des geschickten Eingreifens der Mächtigen und Skupellosen bedurften. Dieses 1472 Niccolk Machiavelli, Il principe, S. 3,5, 7, 69, 53, 71, 73. 1473 Volker Reinhardt, Francesco Guicciardini (1483–1540), Göttingen 2004. 1474 Machiavelli folgt hierin der geschichtstheoretischen Prämisse seines Zeigenossen und Freundes Francesco Guicicardini, La storia d’Italia, Venedig 1959; Felix Gilbert, Machiavelli and Guicciardini, Politics and History in Sixteenth-Century Florence, Princeton, 1965; Dirk Hoeges, Niccolj Machiavelli. Die Macht und der Schein, München 2000.

Liebe in der Familie, Furcht im Staat: Johannes Duns Scotus

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Eingreifen galt Machiavelli als Tugend, virtF. Die Herrscher hatten sich vor Emotionen zu hüten; sie sollten sie nur den Untertanen vorspiegeln. Den Untertanen selbst aber sollten Emotionen, vor allem die Liebe zum Herrscher, eingepflanzt werden. Die Instrumentalisierung der Liebe bedurfte nicht einer Verursachung aus natürlichen, im Mensch oder im Kosmos angelegten Ursprüngen. Es genügte, sie aus Illusionen heraus zu wecken. Aus der Funktionalisierung der Liebe, wie sie erstmals Peter von Auvergne vorstellte und später andere, auch mittelalterliche Autoren weiter erörterten, erwuchs freilich die Gefahr, dass dem politischen Handeln Legitimierung entglitt, weil seine Berechtigung nur aus sich selbst heraus abgeleitet wurde, mit der Folge, dass die Legitimierung tautologisch wurde. Die Leistung von Peter von Auvergne, die darin bestand, die dem Machthandeln innewohnenden zerstörerischen Wirkungen zu rechtfertigen, indem er eine zweite Ethik, eine spezifische der Politik, einfügte, löste zwar das Problem, wie unmoralisches Handeln gerechtfertigt werden konnte, war bei seinen Zeitgenossen aber nicht anschlussfähig, dies umso weniger, weil die Ableitung von Tugenden aus religiösen Geboten unerlässlich war, und zweitens die Ableitung aus anthropologischen Konstanten, d. h. aus der Natur des Menschen, durch die Übernahme aristotelischer Politikkonzeption plausibel erschien und diese theoretische Errungenschaft nicht wieder aufgegeben wurde, vor allem deswegen nicht, weil sie ein Instrument in die Hand gab, Herrschaft zu begründen.

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Kann es für das politische Handeln eine eigene Ethik geben? Steht eine solche Ethik über der der privaten Ethik? Ist die Herrschaft befugt, in die Intimität der Familie einzudringen? Trägt Liebe dazu bei, Herrschaft, politische Organisation und Zusammenleben zum Gelingen zu bringen? Welche anderen sozialen Bindungen, als die des Staates, formt die Liebe? Verhindert die Erbsünde die Verwirklichung der Liebe in Institutionen des Staates und der Familie? Auf diese Fragen suchte Johannes Duns Scotus († 1308), neben Bonaventura für die Franziskaner der einflussreichste Theologe1475, Antworten zu geben. Ähnlich wie Bonaventura war Johannes skeptisch gegenüber der Möglichkeit, durch politisches Handeln das Glück der Bürger zu befördern und Liebe in den Staat einzufügen. Bis heute ist seine Bedeutung als Philosoph der politischen Theorie fast gänzlich unbeachtet geblieben. Lediglich hinsichtlich der Auswirkung der Erbsünde und hinsichtlich des Konzeptes des Gesetzes und des Naturgesetzes 1475 Ludger Honnefelder, Johannes Duns Scotus, München 2005, S. 117–130 (zur Ethik); Mary B. Ingham, John Duns Scotus. Philosopher, Münster 2010.

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hat die Forschung politiktheoretische Themen gestreift, diese aber in eine theologische Argumentation eingebunden. Das ist kein Zufall, hat doch Duns durch seine Dissoziierung von Natur und gesetztem Recht die Erörterung zur Ausgestaltung von Herrschaft und Staat dem freien menschlichen Willen überlassen, ohne normative Vorgaben – schon gar nicht zum positiven Recht – zu formulieren.1476 Dennoch sind die Auffassungen von Duns politiktheoretisch insofern bedeutungsvoll, als er zwar nicht die Formen politischer Relationen behandelt, wohl aber nach den anthropologischen Grundlagen jeder politischen Relation fragt. Seine Auffassung, dass diese Grundlagen nur wenig präzise definiert seien, verhindert nicht, dass er ex negativo argumentiert und dem Staat Begründungen vorenthält, welche die auf Aristoteles bezogene Tradition ausformuliert hat, nämlich, dass das Streben nach Nutzen und allgemeinem Wohl Freundschaft und auch Liebe voraussetzt. Gerade indem er beide ausdrücklich aus dem Staat ausschließt, ist seine Vorstellung politisch bedeutsam. Seine Erörterungen entfaltet Duns in zwei großen theologischen Texten, seinen beiden Kommentaren zu den Sentenzen von Petrus Lombardus, die auf den in Oxford und in Paris gehaltenen Vorlesungen beruhen. Die von Vladimir Richter 1988 vorgestellte Überlegung, dass den Kommentaren eine ältere, nicht erhaltende Fassung vorausgehe, deren Inhalt aber von den späteren Zusätzen herausgeschält werden könne, hat die Forschung, z. T. in heftiger Polemik, zurückgewiesen.1477 Wie dem auch sei, haben jedenfalls die überlieferten Versionen im späten 1476 Zur Begründung von Herrschaft durch die Erbsünde bei Duns: Stürner, Peccatum, S. 227– 232 und Töpfer, Urzustand, S. 251f., das Konzept des Naturgesetzes ist untersucht, dabei aber nicht die politischen, sondern die theologischen Inhalte behandelt bei: Stratenwerth, Naturrechtslehre sowie ausführlich bei Hannes Möhle, Ethik als Scientia practica nach Johannes Duns Scotus. Eine philosophische Grundlegung, Münster i. W. 1995, S. 330–367; Ders., Wille und Moral. Zur Voraussetzung der Ethik des Johannes Duns Scotus und ihrer Bedeutung für die Ethik Kants, in: John Duns Scotus and Ethics, hg. v. Ludger Honnefelder u. a., Leiden 1996, S. 573–594, S. 582f.; Ders., Scotus’s Theory of Natural Law, in: The Cambridge Companion to Duns Scotus, hg. v. Thomas William, Cambridge 2003, S. 312– 331; Ders. Gesetz und praktische Rationalität bei Johannes Duns Scotus, in: Lex und ius. Ius und lex. Beiträge zur Begründung des Rechts in der Philosophie des Mittelalters und der Frühen Neuzeit , hg. v. Alexander Fidora, Matthias Lutz-Bachmann, Andreas Wagner (Politische Philosophie und Rechtstheorie des Mittelalters und der Neuzeit 2, 1), Stuttgart 2010, S. 205–220; De Boni, Legislator; Richard Cross, Natural Law, Moral Constructivism, and Duns Scotus’s Metaethics, in: Reason, Religion, and Natural Law, hg. v. Jonathan A. Jacobs, Oxford 2012, S. 175–200. 1477 Vladimir Richter, Studien zum literarischen Werk von Johannes Duns Scotus (Veröffentlichungen der Bayerischen Akademie der Wissenschaften), München 1988, S. 24–65; die Auffassung ist widerlegt: Luca Modric, I testi di Duns Scoto sulla dimostrazione di Dio in una strana edizione, in: Antonianum 65 (1990), S. 312–344 ; Girard J. Etzkorn, The Sotus Edition: John Duns Scotus’s Philosophical Works, in: Franciscan Studies 51 (1991), S. 117–130.

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Mittelalter Wirkung erzielt. In diesen Werken erörtert Duns auch politische Themen. Mehr noch als andere franziskanische Autoren weist er die Auffassung zurück, dass die Liebe aus der Natur des Menschen erwachse und gesellschaftliche Bande forme. Die Gesellschaft sieht er als Vereinigung an, welche durch gemeinsame Ziele und Kooperationen gekennzeichnet ist, in der aber die Liebe keinen Platz findet. Die Liebe ist für Duns die Quelle des Glücks. Er setzt sich von den Vorstellungen ab, die Aristoteles und seine Deuter im Mittelalter konzipierten und das philosophische Denken und das politische Handeln als Glücksbringer einsetzten.1478 Weil es im Staat keine Liebe gebe, könne es in ihm folglich auch kein Glück geben. Duns schließt eine Übereinstimmung von irdischer und von himmlischer Hierarchie aus; weder eine Analogie noch eine kausale Verbindung gebe es. Selbst innerhalb der Engelgruppen knüpft er nur schwache Verbindungen. In feiner Ironie kritisiert er die Vorstellung, dass die oberen Gruppen der hierarchischen Ordnung der Engel die niederen erleuchten könnten, ja er meint, dass dies widersinnig sei, wo doch das stärkere Licht das schwächere unsichtbar mache. Die Illumination sei, so Duns, nur metaphorisch zu verstehen, wenn das Licht die Erkenntnis bezeichne. Die Weitergabe von Erkenntnis sei eine Kommunikation, folglich an Sprache gebunden, derer sich auch die Engel bedienten. Auch sie sprächen und hörten – dies in einer Sprache, die semantische Inhalte, nicht aber materielle Zeichenträger aufweise. Der actus intelligendi vollziehe sich in einem Medium des intelligiblen Verstehens.1479 Indem die Engel eine Aufsicht, custodia, über die Menschen hätten, wirkten sie auch auf deren Intellekt ein. Dass die Belehrung in einer hierarchischen Anordnung geschehe, bedeute aber, so Johannes Duns Scotus, nicht, dass die irdische Herrschaft in diese Anordnung aufgenommen sei oder dass sie diese Ordnung imitierte. Duns entfernt die weltliche Herrschaft von Gott. Er lehnt auch folglich ein Gottesgnadentum der Macht ab.1480 Der Herrschaft wird auch eine kosmologisch begründete Existenz vorenthalten; stattdessen setzt Duns voraus, dass voneinander gesonderte Seinsbereiche mit gesonderten Bedingungen und Anforderungen innerhalb der geschaffenen Welt bestünden. Liebe unter den Menschen, sofern sie durch politische Bande vereinigt sind, ist für Duns weder ein Ergebnis der menschlichen Natur noch eine Widerspiegelung der Relationen der himmlischen Hierarchie der Engel. Die sozialen Bindungen würden, schreibt Johannes, durch Menschen gemäß ihren unterschiedlichen Zielen und Lebensumständen geknüpft und folgten Konventionen, die nicht durch allgemein geltende Notwendigkeiten 1478 Olivier Boulvois, Duns Scotus. Die Logik der Liebe, Stuttgart 2014, Kapitel II.1 (keine Seitenzählung). 1479 Roling, Locutio, S. 178–191. 1480 Johannes Duns Scotus, Lectura in librum secundum sententiarum, S. 15f., 45f., 64–66.

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vorgegeben seien, daher in unterschiedlicher Weise Bedürfnissen gerecht würden, keinem zwingenden Naturgesetz folgten, willkürlich festgelegt seien und einzig der menschlichen Willensfreiheit unterlägen. Gott gestalte nicht die politische Ordnung; er statte sie folglich auch nicht mit der Liebe aus. Durch die Natur, d. h. durch die Schöpfung Gottes, eingerichtet sei allein die Familie. In ihr bestünden nach Gottes Willen Liebe und Zuneigung. Nur die paterna auctoritas entspringe der lex naturae. Der Sohn unterstehe dem Vater aber nicht in Knechtschaft.1481 Hingegen bestehe, wie Duns meint, eine Knechtschaft der Verdammnis, servitus maledicta, im Staat, die zwar durch das positive Recht eingerichtet sei, aber um nichts weniger verabscheuungswürdig die Menschen unterdrücke.1482 Anders als die aristotelische, von Thomas von Aquin und Augustinus Romanus übernommene Auffassung, ist der Mensch damit kein genuin politisches Wesen. Nicht als animal naturaliter sociale et politicum, sondern als animal coniugale et domesticum ist, gemäß den Formulierungen von Johannes Duns, das Wesen des Menschen bestimmt. Gott habe unmittelbar die Ehe gestiftet, nicht aber den Staat. Die Ehe sei ein Sakrament, die Aktivität für den Staat stehe außerhalb der Gnadenzeichen Gottes.1483 Mit dem Wort coniugale verbindet Duns aber keine Ermächtigung von Frauen. So wie sie aus den Staatsangelegenheiten ausgeschlossen sind, so auch aus den Herrschaftsbefugnissen in der Familie. Diese Herrschaft in der Familie hat Duns ausdrücklich als paternalis bezeichnet.1484 Aus der beiden Geschlechtern gemeinsamen Liebe entspringt keine gemeinsame Herrschaft. Die Varianten der Kommentierungen der Sentenzen, die, als Ordinatio bezeichnet, Zusammenstellungen seiner Vorlesungen in Oxford und in Paris sind, differieren hinsichtlich der Textgestalt, stimmen aber hinsichtlich der Schlussfolgerung überein: In der Politik gibt es keine Liebe, die politische Gemeinschaft bewirkt nicht das Wohl des Einzelnen. Liebe gibt es hingegen in der Familie. Liebe in der Familie führt nicht zur Gleichberechtigung von Männern und Frauen. Weil die Familie ein rechtsfreier Raum ist, ist sie auch vor der Einwirkung der Herrschaft abgesondert. Die Nähe in der Familie ist nur möglich, weil in ihr die Herrschaft auf Distanz nicht eingreift. Die Überlegungen von Duns stehen den aristotelischen Konzepten entgegen. 1481 Johannes Duns Scotus, Reportata Parisiensis, lib. 4, dist. 15, quaest. 4, nr. 10; dist. 36, q. 1, nr. 4, S. 723, 1091; Michel Bastit, Naissance de la loi moderne. La pens8e de la loi de saint Thomas / Suarez, Paris 1990, S. 210–218; Töpfer, Urzustand, S. 256f.; Vasileios Syros, Rezeption, S. 73f. 1482 De Boni, Legislator, S. 235f. 1483 Johannes Duns Scotus, Reportata Parisiensis, S. 785–792: lib IV, dist.27 und 28; Stratenwerth, Naturrechtslehre, S. 67, 99–104; Cesar Ribas Cezar, Das natürliche Gesetz und das konkrete praktische Urteil nach der Lehre des Johannes Duns Scotus, Kevelaer 2004, S. 46– 59. 1484 Johannes Duns Scotus, Lectura in librum secundum sententiarum, S. 190, 285.

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Auch von dem Gedankengang in einer Quaestio seines Ordensbruders und Zeitgenossen, Petrus Johannis Olivi, hält er Abstand. Dieser fragt: Soll die königliche Herrschaft wegen der Anwendung einer Hausherrschaft oder wegen der Anwendung des Rechts gelten? Interessant scheinen mir die Argumente, die Olivi zugunsten der zweiten Möglichkeit angibt. Er verweist auf die mangelnde Effizienz der königlichen Herrschaft; zu große räumliche Distanzen trennten König und Untertan. Weiterhin sieht er Probleme hinsichtlich der Akzeptanz der königlichen Herrschaft und der königlichen Urteilssprüche, besonders wenn die Vielzahl von unterschiedlichen Lebensbedingungen nur unzulänglich erfasst werden könnten. Die Herrschaft im Haus wäre einfacher ; sie wirkte unmittelbar. Dem König wäre es nicht möglich, seinen Willen dem Willen der vielen Untertanen zu oktroyieren. Wenn Olivi in seinen Konklusionen diese Argumente schließlich verwirft und das Recht als Instrument der Verlängerung der Herrschaft vorsieht und befürwortet, so geschieht dies auch mit dem Verweis auf die Liebe. Für Olivi steht sie der allgemeinen Ordnung der menschlichen Angelegenheit im Königreich näher als der in den Haushalten. Seine Begründung: In den großen, weitreichenden Gemeinschaften sei es leichter, auf Veränderungen zu reagieren und damit die Anwendung der Liebe den geänderten Bedingungen anzupassen. Dies geschehe in einer Imitation der Liebe Gottes. Im Haushalt hingegen walte der Automatismus der Gewalt.1485 Duns folgt hingegen dem Argumentationsstrang, den Olivi in der Formulierung der von ihm verworfenen Gegenargumente ausführt, und gelangt zur entgegengesetzten Konklusion. Die gegensätzlichen Positionen der beiden Franziskaner haben aber insofern eine gemeinsame Basis, als die Opposition von Staat und Familie die Attribuierung sowohl von Liebe als auch von Recht ihnen beiden problematisch erscheint und sie eine gründliche Diskussion zu diesem Problem vorlegen.1486 Die Abweichung von Duns gegenüber dem Diskussionsstand seiner Zeitgenossen zeigt sich deutlicher noch bei der juristischen Lehrmeinung. Einer der bedeutendsten und einflussreichsten Kommentatoren des römischen Rechts, Azo Portius († 1220), hatte in seiner Summe zur antiken justinianischen Gesetzessammlung auch das Problem behandelt, ob die vis publica oder die vis privata den Vorrang innehabe, und kam ohne Ambivalenzen zum Ergebnis, dass er der ersteren zukomme. Die vis privata solle nur ausnahmsweise gelten, zur Selbstverteidigung des Hauses eingesetzt werden und gemäßigt sein.1487 Alle Beziehungen im Haus und in der Familie seien dem Recht des Staates unter1485 Petrus Johannis Olivi, »Quid ponat ius vel dominium« ou encore »De signis voluntariis«, hg. v. Fernandus Delorme, in: Antonianum 20 (1945), S. 309–330, bes. S. 317–326. 1486 Antonie Vos, The Philosophy of Duns Scotus, Edinburgh 2006, S. 43f. 1487 Azo, Summa, S. 331: lib. 9, tit. 12; Lange, Römisches Recht, I, S. 255–271.

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stellt.1488 Ähnlich urteilt Accursius († 1263), wie Azo Jurist und Rechtslehrer in Bologna, in seinem monumentalen und seit dem Ende des 13. Jahrhunderts für alle Anwendungen des römischen Rechts maßgeblichen Glossen-Kommentar zum Codex: Das dominium directe und utile sieht er auf das Haus beschränkt; immerhin ist die Verfügung über den Besitz vom Naturrecht vorgegeben. Die pars domini legalis ist aber von den privaten Verhältnissen abgesetzt, steht über ihnen und reguliert sie. Im Digestenkommentar stellt Accursius die Erziehung der Kinder unter die Aufsicht der Eltern; dies entspreche dem Naturrecht. Aber er verneint ausdrücklich, dass diese Bestimmung des Naturrechts die einzige rechtliche Regelung für die Familie sei; das familiäre Verhältnis wird auch durch das vom Staat geschaffene Recht gestaltet.1489 Johannes Duns ist mit dem Diskussionsstand der Juristen vertraut. Seine genaue Kenntnis des römischen Rechts setzt ihn auch in die Lage, zum Naturrecht detailliert Stellung zu beziehen. Die römisch-rechtliche Bewertung unterstellt die Familie dem Staat. Nicht nur, dass Scotus dieser Bewertung widerspricht; er wechselt den Argumentationsrahmen; er eröffnet ein neues Feld der Bewertung und Beurteilung, indem er die Wirkungen von Emotionen untersucht und von diesen Wirkungen Aussagen zur ethischen Wertigkeit triff, die im Ergebnis die positiv-rechtliche Rangabstufung von Staatsherrschaft und Hausherrschaft durch eine naturrechtliche Bewertung umkehrt und den Einsatz von Liebe und Schrecken in einer Weise verbindet, die die der aristotelisch argumentierenden Philosophen und der Juristen, die das römische Recht interpretierten, diametral entgegensteht. Johannes Duns schärft den Gegensatz zwischen Staat und Familie. Es gebe eine doppelte Herrschaftsgewalt, beide voneinander geschieden, die erste sei väterlich und natürlich, die zweite sei arbiträr und politisch; letztere setze keine familiären Bindungen voraus, vereinige Menschen, die keine emotionale Zuneigung untereinander hegten, und könne sowohl von einer einzigen Person als auch von einer Gruppe von Lenkenden ausgeübt werden. Erstrecke sich die väterliche Gewalt auf vertraute Menschen, so die politische auf fremde Menschen. Während die väterliche Gewalt eo ipso gerecht sei und nur ausnahmsweise in Ungerechtigkeit abgleite, heißt es von der politischen Gewalt lediglich, dass sie gerecht sein könne, ihr aber wesensmäßig keine Gerechtigkeit zukomme.1490 Die Gerechtigkeit im Staat, auf dem positiven Recht beruhend, schließt also Johannes nicht aus, nur ist die Gerechtigkeit nicht in der Herrschaft im Staat eingeschlossen, kein essentieller Bestandteil von ihr. Vielmehr sieht Duns die 1488 Azo, Summa, S. 329. 1489 Accursius, Glossa ordinaria codicis, Lyon 1627, lib. 3, tit. 33, 2; Ders., Glossa in Digestum, S. 6: I, De iustitia et iure; Lange, Römisches Recht, I, S. 335–344. 1490 Johannes Duns Scotus, Ordinatio. Liber quartus (Opera omnia 13), Citt/ di Vaticano 2011, Ox. IV, dist. 15, q. 2, quinta et sexta conclusiones, S. 81f.

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Gefahr, dass faktisch die Beziehungen zwischen den Fremden, die den politischen Verband bildeten, auf Gewalt aufgebaut seien und ungerechte Gewalt hervorriefen. Wenn die sich gegenseitig als Fremde empfindenden Bürger im Staat miteinander in Beziehung träten, mangele es an der Gerechtigkeit. Die iustitia originalis sei durch die erste Sünde verloren gegangen, so dass eine spontane Verbindung zwischen den Personen und Familien nicht mehr bestehe und eine durch die Natur, nicht erst durch Zwang hergestellte spontane Vergesellschaftung nicht mehr hergestellt werden könne.1491 Die familiären Gruppen stünden als Fremde einander gegenüber. Johannes und die von seinen Schülern zusammengestellte Reportatio Parisiensis zu den Sentenzenkommentaren verwendet den Begriff der ultima sollitudo, um die von großen politischen Verbänden abgetrennte und untereinander abgesonderte Existenz kleiner familiärer Gemeinschaften zu benennen.1492 Innerhalb von ihnen gebe es enge Bindungen. Sie ragten aber nicht jenseits der Intimität hinaus. Liebe könne die einsamen Menschen und die einzelnen Familien nicht innerhalb weltlicher Herrschaft vereinen. Die familiären und individuellen Interessen im Staat zusammenzuführen, setze, so Johannes Duns, einen Willensakt voraus, der aber durch keine allgemein gültige und allen Menschen gleiche seelische Verfassung bewirkt werde, nicht durch Affekte gesteuert sei, nicht durch die Liebe gestaltet werde, vielmehr sich von der Natur des Menschen entferne und stets und unumgänglich starke zwingende Gewalt erfordere und einsetze. Die Verbindung gelinge auch tatsächlich, aber auf Kosten der Freiheit. Nicht einmal Nutzenoptimierung für alle Beteiligten sei ein Ziel, emotionale Zuneigung kein Grund. Gütertrennung, Gewinnstreben und Wettbewerb hielten Individuen und Familien voneinander getrennt. Diese Trennung zwischen den Familien und zwischen den Individuen erachtet Duns Scotus als die Folge des Sündenfalls. Zur Eindämmung egoistischen Verhaltens und zur Koordination der gegensätzlichen Anliegen, Wünsche und Bestrebungen würden daher Staaten eingerichtet. Auch die Gerechtigkeit müsse erzwungen werden, sie beruhe auf Bestrafung, Drohung und Niederwerfung des Willens. Auf diese Weise könne sogar ein allgemeines Wohl erreicht werden, das Frieden und Zusammenarbeit herstelle, das aber keine Summe des Wohls der Einzelnen sei und das individuelle Wohl nicht fördere. Das Individuum sei vielmehr einer politischen Gewalt unterworfen, die seinen Willen, seine Lebensgestaltung und nicht zuletzt seine Emotionen einschränke. Nicht also ein gemeinsamer Willen zur Kooperation stehe am Ursprung des Staates, sondern die Niederwerfung des Willens der Einzelnen. Die Vereinigung der Menschen im Staat erfordere daher Gewalt und Schrecken. Johannes Duns wi1491 Ders., Lectura sententiarum, S. 190f., 289. 1492 Ders., Reportata Parisiensis, lib 4, dist. 15, q. 4, n. 10, S. 723.

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derspricht implizit der Argumentation von Thomas von Aquin, wenn er schreibt, dass die Gewalt des Herrschers das bonum commune bewirke, aber nicht das bonum singulare. Das Einzelwohl fügt sich nicht in ein Gesamtwohl. Also weder emotionale Anhänglichkeit noch Nutzenoptimierung bringen die Individuen zusammen. Für Duns verbindet die Gewalt die Menschen im Staat. Sie setzt er analog zur Gewalt Gottes. So wie dieser durch die Buße Widrigkeiten auferlegt, so der Herrscher durch die weltlichen Strafen. Nicht hinsichtlich der Liebe, sondern bei der Sanktionierung gibt es eine Analogie zwischen Gott und Herrscher. Ausdrücklich hält Duns daran fest, dass die Strafen Traurigkeit hervorriefen, dass sie als niederdrückend empfunden würden und dass sie tatsächliches Übel zufügten. Weil das Handeln des Herrschers im Bestrafen besteht und die Ausübung der Gerechtigkeit nichts anderes beinhaltet als die Schaffung von Gesetzen und ihre Durchsetzung, ohne an Vorgaben der menschlichen Natur gebunden zu sein, ist das Ergebnis des Herrschens eine Negation der individuellen Glückseligkeit.1493 Dass in den Beziehungen der Herrscher zu den Untertanen auch Liebe bestehen könne, hält Duns zwar nicht gänzlich für ausgeschlossen, erachtet sie aber nicht als notwendig, trennt sie von der politischen Organisation ab und verbindet sie mit der christlichen Nächstenliebe, die aber für das Funktionieren des Staates nicht vorauszusetzen sei, wohl aber vom individuellen Herrscher verlangt werde, wenn er sein Seelenheil anstrebe. Die Liebe, als habitus nobilissimus bezeichnet, gewinne allein ihren Wert dadurch, dass sie zum höchsten und letzten Ziel der Menschen, zum ewigen Seelenheil, hinführe. Sie trage aber nichts zu den Zwecken der politischen Gemeinschaft bei.1494 Der habitus, der als Disposition und als ein dem Menschen eingegebenes und von ihm abverlangtes Bestreben gekennzeichnet werden kann, verweist auf ein Ursprüngliches, das jenseits konventioneller oder oktroyierter Willkürlichkeit liegt.1495 Ausführlich erörtert Duns in einer quaestio der Reportatio Parisiensis die Frage, ob die Liebe im Vaterland vorhanden sei. Er geht von folgender These aus: In einem Handlungsbereich, in dem nicht das Seelenheil angestrebt würde, gäbe es keine Liebe, die Gott eingerichtet und befohlen hätte. Weil nicht die Nähe zu Gott erstrebt würde, wären die Handlungen in der patria auf ein Tun reduziert, 1493 Eine zielgerichtete, das individuelle Wohl oder gar Glück befördernde Herrschaft ist bei Duns nicht vorgesehen; hierzu: Antonio Coccia, Persona humana in doctrina Iohannis Duns Scoti est finis et fundamentum optimae societatis, in: Regnum hominis et regnum Dei. Acta quarti Congressus Scotistici internationalis, Padua 24.–29. Sept. 1976, hg. v. Camille B8rub8, Rom 1978, S. 585–694. 1494 Johannes Duns Scotus, Reportata Parisiensis, lib IV, dist. 15, q. 2, nr. 7–13, S. 711f. 1495 Duns Scotus on Divine Love. Texts and Commentariy on Goodness and Freedom, God, and Humans, hg. v. Antonie Vos u. a. Aldershot 2003, S. 70f.

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das nicht von der wahren, von Gott gewollten und gebotenen Liebe motiviert wäre, sondern lediglich von einer weniger vollkommenen Liebe, die aber doch auch als Liebe anzuerkennen wäre. Daraus könnte gefolgert werden, dass es unterschiedliche Grade und Formen der Liebe gäbe. Aber diese These weist Duns in der Konklusion zurück. Nicht einmal eine Rudimentärform Liebe im Staat lässt er gelten. Seine Schlussfolgerung weist einen anderen Weg: Im Unterschied zu Glaube und Hoffnung sei die Liebe die Vollendung der Tugenden, weil sie zum höchsten Gut strebe. Weil die Liebe die höchste aller Tugenden sei, könne sie wesensmäßig nicht gemindert sein, also nicht in eine Abstufung von Wertungen eingefasst, d. h. nicht herabgestuft werden, sondern nur in Gänze und ungeschmälert vorhanden sein. Es sei also ausgeschlossen, dass die Liebe – weil sie vollkommen ist – in den verfassten politischen Gemeinschaften in reduzierter Form existiere. Eine Graduierung der Liebe gebe es nicht hinsichtlich ihres Wesens und ihrer Entstehung, nur hinsichtlich ihrer Auswirkung. Aus dieser Argumentation würde indes folgen, dass auch in den Familien keine Liebe bestünde. Duns umgeht das Problem, indem er zwischen dem habitus der Liebe, der stets gleich und vollkommen sei, und dem actus der Liebe unterscheidet, weil der actus – und nur er – von verschiedenen Ursachen bewirkt werde und mehrere Ziele verfolge, was dazu führe, dass die prinzipiell stets vollkommene Liebe hinsichtlich ihrer Realisierung in den irdischen Angelegenheiten abgeschwächt auftrete. Er gelangt zu einer weiteren Schlussfolgerung: Hinsichtlich der Wirkungen der Liebe bestehe sie sogar in der patria, sie reiche in den Staat hinein, aber die Liebe begründe nicht den Staat, nicht die Beziehungen in ihm und nicht die Herrschaft, sondern bestehe als höchste Tugend, die die Individuen anstrebten. Anders in der Ehe und in der Familie. Denn wenn auch der actus der Liebe dort auch unvollkommen sei, gedeihe die Liebe aber in den Einrichtungen, die unmittelbar Gott begründet habe, und sei ihnen essentiell verbunden.1496 Im Staat gibt es also die Liebe, aber nur insofern, als sie im Verhältnis zwischen den Individuen gedeiht, von deren Existenz als Bürger Duns abstrahiert. Aus der Institution des Staates hingegen ist die Liebe ausgeschieden. Aus der Institution der Familie ist sie hingegen eingeschlossen, weil es den unmittelbaren Kontakt zwischen den Individuen gibt und weil Gott die Familien unmittelbar einsetzt und mit sakramentaler Wirkung versieht. Freundschaft stellt Duns in Verbindung zur Liebe, weist ihr aber einen geringeren Wert zu. Die Relationen sind ähnlich wie bei der Liebe. Freundschaften könne es sehr wohl zwischen den Bürgern geben, aber sie erwachse nicht aus den politischen Relationen, sondern aus den familiären. Denn die Freundschaft sei umso kräftiger, je näher die Verwandtschaftsgrade seien. Um einen gemeinsa1496 Johannes Duns Scotus, Reportata Parisiensis, lib III, dist. 25, q. 1, S. 540; Johannes Duns Scotus, Ordinatio. Liber quartus, Ox IV, dist. 26, S. 337–358.

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men Nutzen im Staat herzustellen, könnten durchaus auch Freundschaften eingesetzt werden. Aber die Freundschaft in Ehe und Familie ist anders begründet. Weil sie aus der politischen Organisation abgelöst und von ihren zwingenden Einwirkungen abgeschirmt sei, wecke sie Emotionen, ohne eine Nutzenmehrung für jeden Einzelnen in der Familie anzustreben. Sie bestünden aus sich heraus, bedürften keiner Zwecke. In der Familie seien die Beziehungen selbstlos. Die Ehe führe zur Übereignung der Herrschaft des eigenen Leibes an den Ehepartner, aber dies geschehe freiwillig und setze die ursprüngliche Verfügung über die Herrschaft des eigenen Leibes voraus, also das, was dem Untertan im Staat vorenthalten sei.1497 Der familiäre Zusammenhalt, durch Liebe und Freundschaft bewirkt, könne aber nur gelingen, wenn Promiskuität ausgeschlossen sei, weil sie intime und persönliche Bindungen unmöglich mache. Die Familie dürfe also nicht durch eine Vermischung der Beziehungen und nicht in einer Ununterscheidbarkeit der beteiligten Individuen aufgelöst werden; sie setzte Absonderung und Abschirmung zwischen den Familien und auch gegenüber dem Staat voraus.1498 Anders die staatliche Organisation: Sie gleiche, so sieht es Duns, einem Körper, dessen Einheit erhalten werde, indem die Oberen die Unteren anleiten, beherrschen und bezwingen.1499 Das Zusammenleben der Menschen, die unter einer Herrschaft stünden, habe den Makel, so Johannes, dem antagonistischen Kampf aller gegen alle ausgeliefert zu sein. Freundschaft könne diesen Makel nicht aufheben, sondern nur mindern. Duns sieht ein wirksameres Instrument der Befriedung vor : den Zwang, den die Herrschaft ausübe. Die am Anfang des Staates stehende Entscheidung, eine politische Gemeinschaft einzurichten, werde zwar von allen gefasst, um die latenten Konflikte zwischen den Menschen zu ersticken oder doch zumindest zu verringern. Nicht das Wohl der Untertanen, sondern der Frieden sei das Ziel des Staates. Dazu seien die Gesetze eingerichtet. Der Herrscher schaffe die Gesetze gemäß seinem Willen; deswegen seien sie gültig und gerecht, auch wenn andere Gesetze möglich wären. Die Anforderungen an die Vernünftigkeit der Gesetze sind gering. Gering sind auch die Anforderungen an ihre Nützlichkeit. Ohne Vorgaben bleibt die Gesetzgebung, weil sie nicht von der Natur des Menschen, der Form seiner Vergesellschaftung und seinen Bedürfnissen abgeleitet ist, so dass der Willkür oder – anders formuliert – der freien Verfügung keine Schranken gesetzt sind. Dass die Macht des Herrschers, so Duns, über dem Gesetz stehe, ist freilich nicht in der Weise zu verstehen, dass er vom Gehorsam gegenüber dem Gesetz entbunden wäre, sondern dass der

1497 Johannes Duns Scotus, Ordinatio. Liber quartus, dist. 36, q. 2, nr 14, S. 1773. 1498 Ebda., Ox. IV, dist. 26, q. 1, sec. probatio und tertia conclusio, S. 342, 346f. 1499 Ebda., lib. IV, dist. 15, q. 2., nr. 7, S. 113.

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Herrscher Gesetze ändern und neue schaffen könne. Der Herrscher regiert durch das Gesetz, nicht aber das Gesetz durch den Herrscher.1500 Johannes Duns Scotus hat also nicht die antike Figur eines princeps legibus absolutus figuriert oder gar für die Neuzeit präfiguriert.1501 Mögen die Gesetze auch willkürlich entstanden sein, so verhindert der Vollzug der Gesetze die Willkür im Staat und bindet auch den Herrscher und Gesetzgeber. Die Ausgestaltung der Gesetze beruhe auf dem Belieben des Gesetzgebers, den Johannes Duns nicht präzisiert, so dass sowohl ein Einzelherrscher als auch ein Kollektiv von Herrschern gemeint sein kann. Das Belieben meint die Willkürlichkeit des Inhaltes des gesetzten Rechts, nicht aber des Verfahrens, das zu dessen Entstehung und zu dessen Anwendung führt, denn die Gesetzgebung habe einen allgemeinen Konsens zu beachten. Dem Herrscher, durch Wahl oder durch Zustimmung der Beherrschten in sein Amt eingesetzt, obliege es, gegenüber allen den Vollzug der allgemeinen Übereinstimmung, die sich in den Gesetzen verwirkliche, zu erzwingen. Diese allgemeine Übereinstimmung sei nicht durch die Natur geschaffen worden, sondern sei durch Verständigungen und Vereinbarungen erst zu erzeugen und setze bereits eine staatliche Organisation voraus. Erreicht werde der Konsens nicht durch emotionalen Gleichklang, sondern durch das Bestreben, eine Verteilung der materiellen Ressourcen auf friedlichem Wege zu erreichen. Dabei ist nicht vorausgesetzt, Interessen auszuloten und abzugleichen. Es genügt, eine friedliche Koexistenz zu ermöglichen. So kann Gerechtigkeit entstehen. Aber sie ist gefangen in den Zwängen des Staates, und sie steht außerhalb von liebenden Zuwendungen.1502 Der Zwang solle zwar, so Duns Scotus, der Vernunft entsprechen, er solle auch die Verehrung Gottes fördern, aber unabänderliche Vorgaben zur inhaltlichen Konkretisierung und zur Zielsetzung des Zwanges im Staat leitet Duns aus der Vernunft und dem religiösen Gebot nicht ab. Der von ihm so stark herausgestellte menschliche Wille ist, in den politischen Kontext gestellt, hierarchisch differenziert verwirklicht, weil die Herrscher, wenn sie ihren Willen verwirklichen, den Willen der Untertanen einschränken.1503 Das Fehlen natürlicher Bindungen zwischen den Individuen und zwischen den familiären Kleingruppen im Staat wird allein durch eine Gewalt kompensiert, deren Ausgestaltung und Anwendung nur wenige Schranken auferlegt sind. Die Menschen haben die 1500 Johannes Duns Scotus, Ordinatio. Liber primus (Opera omnia 2), Citt/ di Vaticano 1950, S. 364–366: dist. una, nr. 3–7; Ders., Lectura sententiarum, S. 8f. 1501 Stratenwerth, Naturrechtslehre, S. 358. 1502 Johannes Duns Scotus, Reportata Parisiensis, 2. Teil,: lib. IV, dist. 15, q. 4, nr. 11 und 12, S. 723. 1503 Catherine König-Pralong, Le voluntarisme scotiste. Constitutions et usages d’une c8sure historique / l’.ge moderne, in: Recherches de th8ologie et philosophie m8di8vale 81 (2014), S. 181–208.

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Freiheit, ihre Herrschaftsverhältnisse ohne göttliche Anweisung zu gestalten. Die Ausformung der Herrschaft ist daher säkular bestimmt. Weil es keine Vorgaben hinsichtlich des Nutzens gibt, den die Herrschaft für das diesseitige Leben erbringt, legt Duns ihr auch nur wenige Beschränkungen auf und formuliert nur wenige Hinweise zu ihrer Ausübung. Präzisiert wird nur die Grausamkeit, die der Vollzug der Gesetze verlangt. Er schreibt, dass sie alle bedränge – selbst den Herrscher, sofern er es versäume, gemäß der Schwere des Vergehens zu strafen, und in diesem Fall Rebellionen ausgesetzt sei. Die Grausamkeit der Herrschaft hält Duns mit dem Recht konform. Die Grausamkeit lauere bedrohlich, sei zumindest potentiell allgegenwärtig. Dies gelte seit dem Beginn der Königsherrschaft und bis in die Gegenwart. Johannes Duns deutet die Gestalt von Nimrod, im Buch Genesis als Herrscher und Jäger eingeführt, in der Weise, dass er sich als ein Gewaltmensch, Räuber und Unterdrücker der Menschen betätigt habe; er füge den Menschen Schrecken zu. Weit davon entfernt, die Bedürfnisse der Untertanen zu befriedigen, entreiße er, wie dies alle bellatores täten, den Menschen das ihnen Notwendige, um es an sich zu reißen. Duns verschärft damit die im Dekret Gratians klassisch gewordene rechtliche Interpretation der königlichen Repression1504, indem er ausdrücklich den einstigen assyrischen König nicht nur mit allen Königen gleichsetzt, die christlichen unter ihnen keineswegs ausgenommen, sondern eine günstige Einwirkung auf die Menschen, wie sie der bedeutendste Kirchenrechtslehrer des Mittelalters, Hostiensis, in seiner Interpretation der Bibelstelle und einer Dekretale ausführt1505, zurückweist und einzig den Zwang auf die Menschen und die Beschädigung von deren Wohl als Ergebnis jeder Herrschaft darstellt. Nimrod ist für Duns Scotus nicht allein eine Präfiguration der Tyrannen, sondern aller Könige. Nimrod ist nicht distinktiv, sondern definitorisch als böser Herrscher vorgestellt. Schärfer noch als bei Petrus Comestor, der im 12. Jahrhundert die Stabilität und Dauer der königlichen Zwangsgewalt in der Nachfolge von Nimrod beschreibt, gleichwohl aber eine Eindämmung der Gewalt durch die Geltung der Gesetze vorsieht und die Zwangsgewalt als Folge der den sündigen Menschen auferlegten Strafe ansieht1506, kann Duns in der Herrschaft, wie sie Nimrod in der Vergangenheit begründete und wie sie, dem bösen Ursprung und Beispiel folgend, auch in der Gegenwart wütet, keinen Nutzen für das individuelle Wohl erkennen. Die biblische Figur wird bei Duns zum Archetypus nicht allein der Person des Herrschers, sondern auch der Institution der Herrschaft. Deren Schädlichkeit wird nicht einmal durch die von ihr hervorgebrachten Gesetze abgewendet. Unter dem Regiment des Schreckens kann kein gutes Leben entstehen. Der Schrecken 1504 Siehe Kapitel VII.3. 1505 Henricus de Segusio, Commentaria, fol. 6r, 61r, 170v, 176r ; Buc, Pouvoir, S. 698f. 1506 Petrus Comestor, Historia scholastica, Sp. 1088.

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dient nicht einmal der Eindämmung des bösen Tuns. Weit entfernt sich die Deutung vom Text der biblischen Vorlage. Die Figur des Königs Nimrod steht nicht einmal mehr zur Erläuterung einer distinktiven Unterscheidung zwischen König und Tyrann zur Verfügung, sondern für eine generalisierende Charakterisierung jeder Herrschaft, der Zwang, Furcht und Schrecken angeheftet wird.1507 Diese Charakterisierung ändert aber nichts an der Legitimität der Herrschaft. Dass sie ein Übel darstellt, zieht keine Negation ihrer Existenzberechtigung nach sich. Denn das Übel, das der Herrschaft inhärent ist, befähigt sie, sich selbst zu erhalten und damit ihre eigentümliche Aufgabe zu erfüllen, die Menschen durch Furcht und Schrecken zu unterjochen. Wenn der Herrschaft im Staat ein Gutes zugebilligt werden kann, dann besteht es darin, ein friedliches Zusammenwirken aller zu ermöglichen und die Schwachen vor den Nachstellungen der Starken zu schützen. Dieser Meinung stellt Duns indes das Argument entgegen, dass die Gewalt des Staates die Schwachen noch mehr unterdrücke. Als praktische Lösung empfiehlt Duns eine Einschränkung der Gewalt des Staates. Aber er sieht nicht vor, den König zur Milde oder zum Schutz der Schwachen zu ermahnen; sondern institutionelle Regeln sind aufzuerlegen. Gegen die Gewalt des Herrschers sind veritable Schutzzonen einzurichten. Schutz bieten die Familien, deren Haushalte, deren Besitz und die Verfügung über ihn. Duns verteidigt folglich das Privateigentum und verwirft das Kollektiveigentum. Das private Eigentum garantiere, so schreibt er, eher die Gleichheit der Lebensverhältnisse und die freie Lebensgestaltung als ein gemeinschaftliches Eigentum, weil alle die Möglichkeit hätten, sich durch das Eigentum einen vom Staat abgesonderten Bereich zu schaffen, wohingegen eine gemischte und daher ungeregelte Verfügung materieller Güter oder gar eine kollektive Verfügung über sie den Frieden verhinderten und die Wehrlosen hilflos den Übergriffen der Mächtigen überließen. Die kräftigsten Krieger eigneten sich dann mehr Güter an, als sie benötigten, den Schwächeren entrissen sie das ihnen Notwendige. Gerade die Armen bedürften des Rückzugs in die private Abgeschiedenheit, bedürften des Gehäuses, innerhalb dessen sich ihre liebenden Beziehungen entfalten könnten, bedürften des Schutzes vor staatlichen Eingriffen, bedürfen daher des garantierten Rechts auf Eigentum, in dem sie sich einrichten könnten. Besonders die Schwachen besorgten mehr ihre eigenen Güter als die allgemeinen Güter.1508 Das Gemeinschaftseigentum, weit davon entfernt, Liebe und Gleichheit hervorzurufen, gilt bei Duns als Bedrohung für die Untertanen und für die Armen im Besonderen und dann auch noch als 1507 Johannes Duns Scotus, Ordinatio. Liber quartus: Ox. lib IV, dist. 16, q. 1, S. 131–139. 1508 Et tamen possessiones esse distinctas pro personis infirmis vale consonat pacifiace conversationei: infirmi enim magis curant bona sibi propria quam bona comunia; Johannes Duns Scotus, Ordinatio. Liber tertius, dist. 37, q. 1, n. 27, S. 284.

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ineffektiv. Duns widerspricht der von Aristoteles entwickelten Argumentation, die das kollektive Eigentum, wie es Platon empfiehlt, zwar ebenfalls verurteilt und stattdessen das private Eigentum als Basis der Kooperation und des gesellschaftlichen Zusammenschlusses vorsieht. Duns hingegen verteidigt das private Eigentum aber genau umgekehrt, indem er es als Isolationsraum, als Gehäuse des Schutzes vor Einwirkungen von außen vorstellt. Der familiäre Haushalt führt nicht zum Austausch, sondern zur Autarkie. Duns lehnt das Gemeinschaftseigentum ab mit einer Begründung, die auch anders als bei Thomas von Aquin ausgeführt ist: Wo Thomas auf die Verschiedenheit der Haushalte verweist, die eine Zusammenarbeit erforderlich mache, erachtet Duns gerade die Einheitlichkeit der Lebensumstände als günstig an, die aber nicht mittels einer kollektiven Verfügung über die materiellen Güter herbeigeführt werden könne, vielmehr die allen zugestandene Selbstständigkeit ihrer Haushalte voraussetze. Dass das friedliche Zusammenleben der Menschen das Prinzip des gesetzten, positiven Rechts sei, gilt Duns lediglich als eine Vermutung, die Aufteilung in privates Eigentum hingegen als notwendige Konsequenz der angenommen Schwachheit derer, die im Staat zusammenleben, und sogar als Gebot des Naturrechts.1509 Anders als im politischen Aristotelismus seiner Zeitgenossen begründet Duns keine Unterdrückungsherrschaft im privaten Haus, weswegen auch die Sklaverei dort nicht vorgesehen ist. Obwohl er sie nicht ausdrücklich ausschließt, das Thema wird gar nicht erst erörtert, gibt es für sie insofern keine Berechtigung, als im Haushalt das Reich der Freiheit und der Liebe besteht.1510 Die Schlussfolgerung lautet, dass die politischen Machthaber dulden müssten, dass ihrer Gewalt ein privater Bereich ausgesondert ist. In ihn könnten und sollten sie nicht ihre Hand recken. Die Privatheit hat Anrecht auf Autonomie, darf nicht von den Anmaßungen des Staates ausgehöhlt, soll nicht abgeschafft werden. Die Gestaltung des guten Lebens ist Privatsache und dem politischen Zugriff entzogen. Nur die Privatheit, in der Familie verwirklicht, ist durch die Natur des Menschen begründet, hingegen die staatliche Gewalt als Ergebnis der Erbsünde grundsätzlich dazu bestimmt, Furcht, Schrecken, Zwang, Unterwerfung und Beraubung hervorzurufen. Duns setzt Familie und Staat nicht allein in distinkte Bereiche ein; sie sind auch antagonistisch angeordnet. Duns weist Haus und Familie eine defensive Funktion zu: Sie sollen vor den Einwirkungen des Staates abschirmen und der Staat hat diese Schirmfunktion zu achten und zu bewahren. Bemerkenswert ist die Umwertung, die Johannes Duns vornimmt: 1509 Ebda., S. 283f. 1510 Johannes Duns Scotus, Ordinatio. Liber quartus, Op. Ox. IV, dist. 14, q. 2, sec. Conclusio, S. 80; Ders, Reportata Parisiensis, lib. IV, dist. 15, q, 2, nr. 74 und dist. 15, q. 3, nr. 8, S. 723; Corpus iuris canonici, I, Sp. 11: Pars I, Dist. VII, c. 3.

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Während bei Aristoteles und mit ihm bei Thomas von Aquin das Haus der Ort tyrannischer Befehlsgewalt der Hausherrn gegenüber den Mitgliedern der Familie ist, erweisen sich bei Johannes Duns Scotus die Familien und ihre Haushalte als der Ort der Liebe, in dem Schrecken, Furcht, Gewalt und Zwang keinen Platz haben. Während der Staat Freundschaft und Liebe ausschließt, fördert die Familie sie. Sie strahlen nicht auf den Staat aus; sie bleiben eingepfercht in der Intimität. Die Liebe ergreift nur dann umfassend, jenseits familiärer Vertrautheit die Menschen, wenn sie vom christlichen Glauben belebt ist. Eine solche Liebe muss zwar immer, auch im Handeln im Staat erbracht werden, aber sie entbehrt jeder Verwendung, um die politische Organisation und Herrschaft einzurichten. Zwischen der universalen Menschheit und der intime Familie hat die Liebe im Staat keinen Platz.

3.

Überwältigung der Bürger durch die Liebe im Staat: Remigio dei Girolami

Johannes Duns Scotus bestand darauf: Zwischen privatem Leben und politischer Organisation gebe es keine kausale Relation, auch nicht eine finale und schon gar nicht eine intentionale. Zwischen beiden bestehe ein Gegensatz. Duns folgte einer von franziskanischen Theologen angelegten Linie und versah sie mit weiteren Begründungen und Weiterungen. Seitens der Dominikaner war die Fundierung politischer Gewalt eher durch Regelmechanismen vorgestellt. Die Regulierung konnte dabei mit der Liebe kombiniert werden, so dass die Liebe im Staat implantiert war. Eine gründlich andere Bewertung als bei Duns konnte aus der Feststellung des schroffen Gegensatzes zwischen Staat und Familie abgeleitet werden. Nicht in der Familie und im Haushalt gebe es die Liebe, sondern im Staat. Liebe sei dem Staat vorbehalten und sollte diesem auch zu Lasten der Liebe in der Familie erwiesen werden. Die Herrschaft verweigere den Individuen und ihren familiären Bindungen die Möglichkeit, ihr einen geschützten Bereich abzuringen. Der Zeitgenosse von Johannes Duns Scotus, der Dominikaner Remigio dei Girolami (1235–1319), der in Florenz beheimatet und mit den gemeindepolitischen Angelegenheit dieser Stadt vertraut war, verlangte, dass sich die Individuen der politischen Organisation unterwerfen müssten. Er war einst in Paris Schüler von Thomas von Aquin gewesen und wurde Mitglied des Dominikanerkonventes in Florenz. Er schrieb mehrere theologische Schriften, verfasste Predigttexte und bot in zwei Schriften Vorstellungen zur Politik. Nach seiner Auffassung müsse jeder Bürger vorbehaltlos Pflichten gegenüber dem Staat erfüllen. Die Vorstellungen von Remigio wichen nicht nur von denen von Duns Scotus ab, sondern gingen über diejenigen hinaus, die seine älteren Or-

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densmitglieder, wie Albertus Magnus und Thomas von Aquin, und seine zeitgenössischen Ordensbrüder, Wilhelm Peraldus und Ptolomaeus von Lucca, geformt hatten, die nämlich das allgemeine Wohl als Summe und als Voraussetzung des individuellen Wohls und den Staat als nützlich für das Individuum erachteten. Anders als diese Autoren war Remigio der Auffassung, dass das Streben nach individuellem Wohl das allgemeine Wohl in Gefahr bringe. Er führte aus, dass nicht die normative Geltung von Verfahren, sondern die Erzeugung von Zuneigung und Liebe Herrschaft, Staat und Gemeinschaft intakt halten solle, ohne institutionelle Schranken und Regulatorien vorzusehen, die das Individuum vor den Auswirkungen, ja Anmaßungen der politisch eingesetzten Liebe beschützten. Wohl niemand anderer als er hat im späten Mittelalter in einer so großen Nachdrücklichkeit den Wert und die Wirkung der Liebe im politischen Verband dargelegt und die Unterwerfung des Individuums ihm gegenüber gefordert. In seiner Schrift De bono commune, kurz nach dem Jahre 1300 verfasst1511, sah er die Liebe als Movens vor, um die Loyalität im Staat hervorzurufen. Sie treibe zu Taten an, die – unter Zurückstellung persönlicher Vorteile – dem Staat nützten. Ihm seien große Opfer zu erbringen, einschließlich des eigenen Lebens. Die ins Extrem gesteigerte Liebe für die politische Körperschaft – eine Liebe, die Ernst Kantorowicz als absurd, weil nicht mehr nachvollziehbar ansah1512 – kann nicht mehr in Verbindung zu einem allgemeinen Wohl, das als Summe des individuellen Wohls konzipiert wurde, gebracht werden. Das Kollektiv verlangt alle Tatkraft und alle Zuneigung der Menschen. Nicht – wie klassisch Aristoteles und ihn rezipierend Thomas von Aquin ausführten – der Mangel des menschlichen Seins treibe zu gesellschaftlichen und politischen Zusammenschlüssen, sondern eine von allem Trachten nach Vorteilen und von Abhilfen menschlicher Mängel abgehobene, geradezu instinktive Liebe führe die Menschen zusammen und unterwerfe sie dem Staat. Der Begriff des bonum commune gewinnt bei Remigio eine andere Bedeutung als bei den übrigen dominikanischen Autoren, weil dieser Begriff keine Begründung und keine Ableitung kennt, sondern absolut gesetzt ist und nicht einmal mehr Zwecken, dafür aber einem nicht abgeleitetem Gebot zugeordnet ist. Nutzenoptimierungen werden nicht einmal mehr behandelt. Die Liebe ist unvorgreiflich vorhanden und setzt sich im Staat durch. Die in der Natur angelegte Liebe zu den Mitbürgern, zum Herrscher und zur patria kann gleichwohl verfehlt werden. Um dieser Verfehlung entgegenzuwirken, schreibt der Florentiner Dominikaner seine Schrift. Die kollektive Wirkung und die kollektive Bereit1511 Ruedi Imbach, Zwei neue Studien über Remigius Florentinus O.P., in: Zeitschrift für Schweizerische Kirchengeschichte 76 (1982), S. 173–180; Teresa Pugh Rupp, Damnation, Individual and Community in Remigio dei Girolami, in: History of Political Thought 21 (2000), S. 217–230. 1512 Kantorowicz, Pro patria mori, S. 488f.

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stellung der Liebe bedürfen einer moralischen Anleitung, damit die Liebe nicht a-sozial wird. Am Anfang der Schrift ist zu lesen: Diejenigen, die sich selbst lieben, seien gierig, kraftlos, hochmütig. Sie seien leider in den Zeiten, in denen der Autor lebt, und besonders in Italien zahlreich vorhanden. Wenn die Liebe auf das Selbst bezogen sei, führe sie dazu, das allgemeine Wohl zu vernachlässigen. Das sei nichts anderes, als den Verlockungen des Teufels zu erliegen. Es gebe einen ordo caritatis, der, wie Remigio meint, in dem biblischen Buch des Hohen Liedes begründet sei. Der ordo gebiete, dass unzweifelhaft das bonum commune dem bonum particulare, das bonum multitudinis dem bonum singulare vorgezogen werden müsse. Die Deutung von Remigius entfernt sich weit vom biblischen Text. In ihm ist zwar die Liebe zum König genannt, die mehr als der Wein zu preisen sei, aber daraus eine Abstufung der Liebe abzuleiten, wie dies der Autor tut, ist wohl ebenso verfehlt, wie den Begriff rex, wie in der Vulgata angegeben, entgegen der etablierten Exege mit dem Inhaber der politischen Herrschaft zu verbinden.1513 Auch der Vers 2.4 des Hohen Liedes ergibt lediglich den Sinn, dass der Geliebte die Liebe gestiftet habe: ordinavit in me caritatem. Eine abgestufte Geltung der Liebe, wie sie Remigio meint interpretieren zu können, ist mit dem Wort ordinare im Bibeltext nicht gemeint.1514 Der ordo caritatis von Remigio weist der größten Gruppierung von Menschen, derjenigen, die am weitesten vom Einzelwesen entfernt ist, den höchsten Wert zu; damit ist offensichtlich ein Königreich gemeint; davon absteigend gelangt der ordo zu den sozialen Nahbeziehungen, zu den kleinen Einheiten, bis hin zur Familie.1515 Remigio verfährt auch ansonsten recht freizügig mit der Deutung biblischer Texte. Er scheut sich nicht einmal, die Aussage der Passage im Johannesevangelium (Joh. 18, 13) umzudeuten, in der es heißt, dass der Richter Kaiphas es als besser erachtet habe, einen einzigen – nämlich Jesus – zu töten, als ein ganzes Volk ins Verderben zu führen. Die Schlussfolgerung von Remigio ist die, dass Kaiphas eine Wahrheit kundgetan habe, obwohl er mit ihr die Verurteilung Jesu gerechtfertigt habe und obwohl die Verwerflichkeit von Kaiphas feststehe. Gleichwohl, dieser, von Liebe zu seinem Volk entflammt, habe etwas Richtiges – freilich unfreiwillig – ausgesprochen, nämlich dass die Liebe zum eigenen Volk den Tod eines Einzelnen erforderlich machen könne.1516 Von der Auswirkung dieser von Remigio behaupteten Wahrheit bleibt nicht einmal Jesus verschont. 1513 Siehe Kapitel II.1. 1514 Remigio dei Girolami, De bono communi, S.108f. 1515 Der in dieser Weise verstandene ordo caritiatis steht in Gegensatz zu einer heute nicht seltenen Vorstellung, die den sozialen Nahbereich präferiert und davon absteigend umfassendere soziale Gruppierungen in Liebe und in Verantwortung einbindet: Klaus Demmer, Bedrängte Freiheit. Die Lehre von der Mitwirkung – neu bedacht, Freiburg (Schweiz) 2000, S. 127. 1516 Remigio dei Girolami, De bono communi, S. 112.

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Remigio verweist nur kurz und subsidiär auf die Nikomachische Ethik von Aristoteles, um zu begründen, dass einzig eine durch Freundschaft und durch Liebe hervorgerufene Gemeinschaft das Gute hervorbringen könne. Aber die Aussage, dass das Gute umso mehr zu lieben sei, je mehr es ein gemeinsames sei, entbehrt einer eindeutigen Fundierung im aristotelischen Text. Sie wird Aristoteles in den Mund gelegt: Quasi dicat.1517 Auch Aristoteles wird umgedeutet. Remigio verlässt in der Tat eine Argumentation, die durch die Rezeption aristotelischer Texte vorgeprägt war und die politische Organisation als Manifestation menschlicher Aktivität begründet, um Vorteile für die Individuen zu erringen, ist aber der aristotelischen Politikkommentierung und –erörterung in der Weise doch noch verbunden, dass er ein innerweltliches Ziel, das des allgemeinen Wohls, vorstellt, das mehr als nur Dienst, sondern auch Opfer verlange. Dies hindert indes Remigio nicht, dieses Ziel auch religiös zu begründen und schließlich religiös zu überhöhen. Es ist auch wohl kein Zufall, dass Remigio zunächst Bibelzitate zur Begründung angibt. Mit ihnen führt er ausdrücklich die königliche Gewalt in die Erörterung ein, sieht den König als denjenigen, der das bonum commune herstellt. Wegen dieser Aufgabe sei dem König uneingeschränkt Gehorsam zu leisten und seien ihm Opfer zu bringen, wohingegen eine Bürgergemeinschaft, so wie sie in Florenz vorhanden oder doch als Ideal konzipiert war1518, kein Vorbild der guten politischen Organisation sei, wie Remigio in der Schrift De bono commune meint. Remigio verlangt die unumschränkte, nicht die in der Kommune aufgeteilte Gewalt. So wie er sie konzipiert, erstickt die Unterordnung unter die Herrschaft die Freiheit sowie die Möglichkeit der politischen Gestaltung durch eine Bürgergemeinde, selbst eine eingeschränkte Partizipation der als Untertanen herabgedrückten Bürger an der Politik ist ausgeschlossen. Nur der bedingungslose Dienst bleibt übrig. Während die wissenschaftliche Literatur behauptet, Remigio sei Promotor des Konzeptes stadtbürgerlicher Autonomie1519, begründet er in der Schrift De bono commune doch eindeutig eine starke monarchische Gewalt, nicht in Abwägung der Vorteile der drei klassischen guten Verfassungsformen, sondern im Hinblick auf eine 1517 Ebda., S. 112. 1518 Ulrich Meier, Der falsche und der richtige Name der Freiheit. Zur Neuinterpretation eines Grundwertes der Florentiner Stadtgesellschaft (13.–16. Jahrhundert), in: Stadtregiment und Bürgerfreiheit. Handlungsspielräume in deutschen und italienischen Städten des Späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit, hg. v. Klaus Schreiner, Ulrich Meier (Bürgertum. Beiträge zur europäischen Gesellschaftsgeschichte 7), Göttingen 1994, S. 37–83; sowie vom selben Autor in diesem Band zur Verfassung von Florenz: Konsens und Kontrolle. Der Zusammenhang von Bürgerrecht und politischer Partizipation im spätmittelalterlichen Florenz, ebda., S. 147–187. 1519 Maria C. de Matteis, La teologia politica comunale di Remigio de’ Girolami (Il Mondo medievale. Sezione di storia delle istituzioni, della spiritualit/ e delle idee 3), Bologna 1977; Meier, Mensch, S. 75.

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Konzentration der Herrschergewalt, die einzig das gemeinsame Wohl zu erzwingen in der Lage sei. Die Erzwingung ist nach Remigio unabwendbar, weil das gemeinsame Wohl nicht als Kooperation all derer, die ihren Nutzen anstreben, konzipiert wird, auch nicht als Ergebnis des durch egoistische Interessen geleiteten gemeinschaftlichen Handelns gedeutet wird und deswegen nicht auf einer durch das Wollen der Vielen hervorgerufene Konstitution beruhen kann. Die Unterwerfung unter den Staat funktioniert aber nicht durch die Oktroyierung von Gewalt, sondern durch die Realisierung der Liebe. Die Unterwerfung soll freiwillig sein; so wird sie perfekt. Remigio entwickelt eine Vorstellung, die – freilich entgegengesetzte Schlussfolgerungen ansteuernd – derjenigen von Johannes Duns Scotus in der Weise ähnelt, dass im Staat die Unterdrückung, die Missachtung der Anliegen des Individuums vorherrsche, dass keineswegs in ihm und durch ihn Vorteile und Glück erlangt werden könnten. Der Unterschied der Auffassungen liegt in der Bewertung des Resultats. Für Duns Scotus sind der Staat und die Herrschaft, trotz ihrer Notwendigkeit, die Ausgeburt des bösen Ursprungs und der bösen Absicht, die Familien aber – abseits staatlicher Ordnung – die des individuellen Glücks und damit des Guten, wohingegen Remigio gerade wegen der Zurückweisung des individuellen Glücks den hohen Wert des Staates begründet und diesem die Liebe reserviert. Lenkt bei dem ersten die Liebe das Streben zum individuellen Glück in der Familie, so führt bei dem zweiten die Liebe zum Verzicht auf das individuelle Glück. Die kollektivistische Konzeption der Liebe leitet Remigio von der Natur ab; sie sei schon in der unbelebten Materie vorhanden, deren Elemente durch Adhäsionskräfte zusammengeführt und zusammengehalten seien. Die kompakte Existenz von Luft und Wasser nennt er als Beispiel.1520 Liebe ist als ein universales, in allen Verästelungen der Schöpfung waltendes Wirkprinzip vorgestellt. In der belebten Natur führe die Liebe zur Vereinigung: Der Akt des copulare stelle die Einheit her. Liebe ist von einem geradezu mechanistischen Fusionsprozess abgeleitet. Unter den Menschen bewirke zusätzlich ein affectus die Einheit; dieser Affekt wird als höhere Form der Liebe, als amor im wesentlichen Wortverständnis – essentialiter –, gekennzeichnet. Die Liebe bringe nicht bloß eine Einheit hervor, sondern eine Steigerung von dieser : hergestellt wird eine unio realis. Real ist sie, weil sie durch die Einheit der Empfindungen entsteht. Die Verweise auf Stellen des ersten Johannesbriefes sind in der Weise umgedeutet, dass im Bibeltext die Liebe im Verhältnis zu Gott und zwischen den Menschen, nun aber, bei Remigio, in den staatlichen Verhältnissen verlangt ist. Nicht eine Liebe des Begehrens, amor concupiscentie, sondern eine Liebe der Freundschaft, amor amicitiae, sieht Remigio vor, denn sie sei an das Handeln im Staat ange1520 Remigio dei Girolami, De bono communi, S. 115–117.

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schlossen. Remigio insistiert auf der Wirkung des affektiven Antriebs, dem es gelinge, eine letztlich fusionelle Intimität zu erzeugen, bei der die geliebte Person in der liebenden Person und umgekehrt enthalten sei, wobei diese Einheit in das Kollektiv der Staatsbürger verwoben sei. Die Einheit sei auf zweierlei Weise zu verstehen: als ein Modus des Verstehens und des Wollens. So entstehe eine Gleichheit der Gefühle, der Trauer und der Freude zwischen den Menschen im Staat. Schließlich fügt Remigio einen dritten Modus der Liebe an, den der Ekstase. Sie treibe dazu an, von der Verfolgung eigener Anliegen gänzlich abzulassen, eigene Wünsche zu verleugnen, die Autonomie der Person aufzugeben, so dass die Liebe emporgehoben werde zu einer Annäherung an Gott und sie – in einer auf Dionysius Areopagita sich berufenden Hierarchie – in den obersten Sphären des Seins angesiedelt sei. Dank der ekstatischen Liebe, die nicht von Gründen geleitet sei und nicht Vorteile suche, gelinge es, zu einem Zustand zu gelangen, der zur Veräußerung, zur alienatio, der Person führe. Auch diese höchste Form der Liebe ist politisch eingesetzt: Sie führt zum gänzlichen Aufgehen der Individuen im Kollektiv aller, die im Staat vereint sind. Sie drängt zum Dienst für den Staat, ohne auf persönliche Anliegen zu achten.1521 Liebe bedarf also keiner Nähe. Je weiter sie reicht, umso wertvoller ist sie für Remigio. Remigio schreibt: Die Liebe veredele den Liebenden, und sie leite die Natur zur Vollkommenheit. Vollkommenheit entsteht nicht allein durch die Annäherung an Gott, sondern auch in der Einsetzung der Liebe in der politischen Herrschaft. Sie entsteht, wenn ein Bürger sich zum Diener des Königs oder des Papstes macht, statt in unangemessener und verwerflicher Weise seine Freiheit im eigenen Haus und in der eigenen Stadt verwirklichen zu wollen.1522 Abgesehen von der erneuten Ablehnung von der kommunalen Verfassung ist hier bemerkenswert, dass das allgemeine Wohl nicht mit der Freiheit vereinbar gehalten wird. Dies kann auch gar nicht anders sein, da Remigio trotz der Beteuerung der natürlichen und der religiösen Ableitung der Liebe sie nicht in einer allgemeinen menschlichen Vereinigung angelegt sieht, sondern in einer durch die Herrschaft erzwungenen Einsetzung und in einer ihr nützenden Bereitschaft. Die hypertrophe Steigerung der Ansprüche des Staates gegenüber seinen Bürgern beruht auf dem nicht minder hypertrophen Verlangen der Bürger, mit dem Staat – und das heißt mit der Herrschaft – aufgrund der Wirkung der Liebe zu fusionieren. Die Liebe wird so zum argumentativen und tatsächlichen Grund für eine Verknechtung der Menschen, die nicht kooperativ und interaktiv Anstrengungen unternehmen würden, um das allgemeine Wohl zu verwirklichen oder gar im Prozess dieser Anstrengung den Zweck der Vergesellschaftung zu 1521 Ebda., S. 117f. 1522 Ebda., S. 123f.

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erreichen. So steht die von Remigio verstandene Liebe multilateralen Beziehungen von Personen entgegen und wird zu einem Agens kollektivistischer Vereinheitlichung unter dem Regiment des Herrschers. Indem Remigio nicht allein jede institutionelle Schranke zwischen Bürger und Staat niederreißt, nicht allein der Existenz individuellen Strebens nach eigenen Vorteilen die Berechtigung abspricht, kann es letztlich neben der personalen und emotionalen auch keine politische Autonomie geben. Die Liebe erstickt Abwägungen politischer Opportunitäten und belässt das allgemeine Wohl in einer unerkennbaren Absolutheit, die für das Individuum nichts Günstiges bereitstellt. Die Liebe setzt Remigio als politischen Agens ein, was er damit rechtfertigt, dass sie durch Gott und die Natur eingesetzt werde. Der affektiven Bindung zwischen einzelnen Personen hält er hingegen eine anthropologische Begründung vor. Aus der Natur des Menschen leitet er keine individuelle Glückserwartung ab. Damit ist aber auch das Konzept des allgemeinen Wohls, das Remigio auszuführen vorgibt, nicht mehr rational begründbar. Was bleibt, ist ein Text, der Aufforderungen formuliert, daher den Predigten angenähert ist, aber wegen der Exaltiertheit der Anforderungen sich als wenig praxistauglich erweist und wohl offensichtlich auch nicht als praktikable Normsetzung von Remigio konzipiert worden ist. Jedenfalls hat der erfolgreiche dominikanische Prediger in Florenz, Giordano da Pisa, der zu Beginn des 14. Jahrhunderts wirkte, zwar die stadtbürgerlichen mit den religiösen Tugenden verbunden, aber die Unterwerfung des Individuums unter die Anforderungen des allgemeinen Wohls nicht eingefordert, vielmehr eine Dynamik kommunikativer Regeln, so insbesondere im Handelsverkehr und in den politischen Debatten, vorgesehen und deren Nutzen bei der Erreichung des individuellen Glücks gewürdigt.1523 In anderer Weise hingegen akzentuiert Remigio die Stadtkommune in seiner späteren Schrift De bono pacis: Hier steht die civitas im Zentrum, unzweifelhaft in der Form einer communitas, einer kommunal, kollegial und partizipativ organisierten politischen Organisation. Remigio ist als Bewohner von Florenz in enger Weise mit ihr vertraut. Aber nicht weniger tritt die anti-individualistische Tendenz hervor, hier in den Dienst der Stadtgemeinde Florenz gestellt ist, deren Abwehr der Herrschaftsansprüche eines Kaisers oder Königs er damit begrün1523 Giordano da Pisa, Quaresimale Fiorentini 105–1306, hg. v. Carlo Delcorno (Autori classici e documenti di lingua pubblicatti dall’Academie della Crusca), Florenz 1974, S. 73–76; Tre prediche inedite del b. Giordano de Rivalto colla lezione du una quarta, hg. v. Enrico Narducci, Rom 1857, S. 449; Carlo Delcorno, Giordano da Pisa e l’antica predicazione volgare (Biblioteca de Lettere Italiane 14), Florenz 1975; Ders. L’exemplum nella predicazione volgare di Giordano da Pisa, Venedig 1972; Robert Davidsohn, Geschichte von Florenz, Bd. 4: Die Frühzeit der Florentiner Kultur, Teil 3, Berlin 1927, S. 65–75; Cecilia Ianella, Il modello di societ/ nella predicazione di Giordano da Pisa, in: Cetti, modelli, compartamenti nella societ/ medievale. Atti del Convegno di Studi, Pistoia 14–17 maggio 1999, hg. v. Giovanni Cherubini, Pistoia 2001, S. 43–59.

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det, dass eine vollständige Organisation zur Erreichung des allgemeinen Wohls in der Stadt gelingen könne, ohne dass sie einer umfassenderen politischen Organisation unterstellt sei.1524 Ähnlich dem ordo caritatis gebe es einen ordo pacis, auch dieser von der höchsten Hierarchiestufe – Gott – zu untersten – der Familie – absteigend, wobei die communitas an die zweite Stelle unmittelbar an Gott anschließend gesetzt ist und das Königtum nicht allein übersprungen, sondern gänzlich ausgelassen wird. Die Schrift verweist auf den Kampf zwischen den italienischen Kommunen, den es einzudämmen gelte.1525 Der harsche Widerspruch zwischen den beiden Schriften beruht vermutlich auf dem politischen Opportunismus des Autors hinsichtlich unterschiedlicher politischer Konstellationen. Als der römisch-deutsche König Heinrich VII. von 1310 bis zu seinem Tod 1313 sich in Italien aufhielt und in Rom 1312 zum Kaiser gekrönt wurde, fochte er Konflikte mit der Stadtgemeinde von Florenz aus, die sich erfolgreich seiner Macht entziehen konnte. In diesem Kontext erschien eine hypertrophe Ausstattung königlicher Gewalt offensichtlich für einen florentinischen Prediger, der Remigio dei Girolami war, nicht opportun zu sein.1526 Inwieweit der Text De bono communi von Remigio letztlich eine unverbindliche Argumentation ausführt, als ein theoretisches Angebot anzusehen ist, das er später im Werk De bono pacis wieder zurücknimmt, oder ob er sich von unterschiedlichen opportunistischen Erwägungen hinsichtlich der politischen Konstellation leiten lässt, lässt sich wohl abschließend nicht klären. Der eklatante Widerspruch verhindert aber nicht die Existenz eines Deutungsangebotes, das die Verbindung von Liebe und Herrschaft erörtert und die Liebe als überwältigende emotionale Kraft vorführt, die die Untertanen der Herrschaft vollständig unterstellt. Beide Schriften stimmen darin aber überein, dass die Liebe in die Verfügung politischer Organisationen eingesetzt ist – des Monarchen oder der Stadtlommune.

1524 Meier, Mensch, S. 164–176. 1525 Remigio dei Girolami, De bono pacis, in: Dal bene comune al bene del comune. I trattati politici di Remigio dei Girolami nella Firenz dei bianchi-neri, hg. v. Emilio Panella (Biblioteca di Memorie Dominicane 9), Florenz 2014, S. 127–132. 1526 Carl D. Dietmar, Heinrich VII. Graf von Luxemburg, römischer König und Kaiser, in: Balduin von Luxemburg. Erzbischof von Trier, Kurfürst des Reiches 1285–1354, hg. v Johannes Mötsch, Franz-Josef Heyien (Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte 53), Maien 1985, S. 43–55, S. 52; Annette Nord, Die Vita Francigena. Die mittelalterliche Kaiserstraße ? Überlegungen zum Romzug Heinrichs VII. und seiner Nachfolger, in: Vom luxemburgischen Grafen zum europäischen Herrscher. Neue Forschungen zu Heinrich VII. von Luxemburg, hg. v. Helen Widder, Luxemburg 2008, S. 147– 184.

Politisierung von Tugenden: Heinrich von Gent und Gottfried von Fontaines

4.

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Politisierung von Tugenden: Heinrich von Gent und Gottfried von Fontaines

Dass die Liebe der Herrschaft zur Verfügung stehe, haben Autoren ausgeführt, ohne indes, wie Johannes Duns Scotus und Remigio dei Girolami einen Gegensatz dieser Liebe zur Liebe in familiären und privaten freundschaftlichen Verhältnissen vorauszusetzen. Die Liebe in den Familien und die Liebe im Staat waren nur unterschieden hinsichtlich ihrer Verwirklichung. In Predigten, die an die Herrscher gerichtet waren, wurde die Einheit der moralischen Gebote herausgestellt, von denen sich niemand, vor allem nicht der Herrscher, entziehen dürfe, so dass auch die auf den jeweiligen sozialen Status ausgerichteten Predigttexte und Moraldidaxen, von Seelsorgern verfasst, zwar die Anwendungsbereiche variierten, nicht aber die umfassende Gültigkeit von moralischen Standards in Frage stellten.1527 Die Liebe als Antriebskraft für die gute Politik vorauszusetzen, widersprach nicht der Auffassung, eine Rationalität der Macht und eine Rationalisierung von bürokratischen Verfahren als Motoren des herrscherlichen Handeln vorzusehen. Die Liebe des Herrschers sollte Nutzen stiften – für ihn selbst und für die Untertanen. Die Liebe war Fundament und zugleich Ziel. Sie war überall zu erweisen. Die Vorstellung, dass Herrschaft auf Schrecken beruhe, trat in den Hintergrund. Ein grundsätzlicher Optimismus war bestimmend, der die Soziabilität von Liebe und Freundschaft ableitete und diese von der Natur des Menschen. Die Philosophie, die Aristoteles zur Grundlage hatte, und die Theologie, die die göttliche Schöpfung erörtete, trugen zu dieser Auffassung bei. Die anthropologische Fundamentierung bedeutete dennoch keinen anthropologischen Automatismus. Der Bedarf an Belehrung und an Begründung blieb bestehen. Sie entfaltete sich aber zunehmend jenseits moralischer Anweisungen. Statt die Politik den Tugenden zu unterwerfen, wurden Angebote formuliert, Tugenden der Politik anzupassen. In den Katalog der Tugenden wurde auch die Liebe eingesetzt und zugleich kompatibel zur politischen Praxis geformt, so dass nicht Normen auferlegt waren, die auf das Handeln einwirkten, sondern Normen aus den Handlungen in der Politik abgeleitet wurden. Abseits des Hauptstroms der Theologie und der Philosophie, die stark durch die Beiträge von Angehörigen der Mendikantenorden gestaltet wurden1528, betrat die Debatte im universitären Milieu seit der Wende zum 14. Jahrhundert neue 1527 D’Avray, Marriage Sermons; Schmidt, Allegorie, S. 301–333; Thomas Ertl, Religion und Disziplin. Selbstdeutung und Weltordnung im frühen deutschen Franziskanertum (Arbeiten zur Kirchengeschichte 96), Berlin, New York 2006, S. 20–44, 288–305. 1528 Jürgen Miethke, Die Rolle der Bettelorden im Umbruch der politischen Theorie an der Wende zum 14. Jahrhundert, in : Stellung und Wirksamkeit der Bettelorden in der städtischenn Gesellschaft, hg. v. Kaspar Elm, Berlin 1981, S. 119–153.

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Wege einer politischen Theorie, die zunehmend die Verfahren der Politik, statt nur die Auswirkungen ethischer Forderungen behandelte, und widmete sich Fragen nach der Effizienz und Opportunität. Der Weltgeistliche und Universitätsmagister Peter von Auvergne hatte den Widerspruch zwischen Ethik und Effizienz ja durch die Konstituierung einer zweiten, einer eigenen politischen Ethik gelöst.1529 Andere Autoren aus diesem Milieu haben durch die Bereitstellung von Tugenden, die der Politik konform sein sollten, eine politische Ethik geformt, die nicht neben einer allgemeinen Ethik bestehen sollte, sondern lediglich einen spezifischen Anwendungsbereich darstellte. Intellektuelle Anstrengungen waren gefordert, damit allgemeine Ethik und politische Effizienz konfliktfrei koexistierten. Neben Aussagen zur Norm wurden Deutungen zur Praxis und Konstitution angeboten. Nicht ethische Höchstleistungen, sondern ethische Verfahrensordnungen waren vorgesehen. Vor allem Gegner der Mendikanten und ihrer Seelsorgeprivilegien boten Vorstellungen zur Herrschaft an, die von rigiden normativen Vorgaben entlastet wurden. Sie suchten nach Antworten zur Frage, wie Herrschaft sowohl gerecht als auch effizient gestaltet werden könne. Sie behandelten die Frage, in welcher Weise die Liebe in die menschlichen Beziehungen eingewoben sei, ohne vorauszusetzen, dass die Liebe zwingend und bestimmend diese Beziehungen determiniere. Der Gestaltungsfreiheit war ein größer Raum belassen. Dezidierter als die Denker der Bettelorden wie u. a. Thomas von Aquin, Aegidius Romanus und Duns Scotus erschlossen sie das Potential, das die politische Philosophie von Aristoteles bot, um Politik von religiösen Vorgaben abzusondern, ohne ihr moralische Vorgaben zu erlassen. Diese wurden aber nicht als von außen auferlegte Pflichten, die Dilemmata hervorzurufen riskierten, sondern als dem politischen Handeln konforme Normen konzipiert. Die asketische Perfektion, derer sich die Mendikanten rühmten, war ihnen suspekt, vermuteten sie doch bei ihnen Heuchelei und Anmaßung. Stattdessen sollten Tugenden anwendbar für alle Herrscher und auch für alle Untertanen sein. Die Liebe war ebenfalls von extremer Steigerung befreit und in das Umfeld gemäßigter Nützlichkeit gestellt.1530 Zwei Autoren seien hier genannt. Zunächst zu Heinrich von Gent († 1293). Er war einer der Kritiker der Bettelorden; er verfasste Schriften auch zur politischen Philosophie; er war Weltgeistlicher und Pariser Universitätsmagister der Theologie. Als Vertreter einer philosophischen Richtung, die die Artistotelesinterpretation des arabischen Philosophen Averroes weiterführte, geriet er in Gegensatz zur anerkannten Rechtgläubigkeit. Er hat in der Summa quaestionum 1529 Siehe Kapitel XII.1. 1530 Hans-Joachim Schmidt, Legitimität von Innovation. Geschichte, Kirche und neue Orden im 13. Jahrhundert, in: Vita religiosa. Festschrift für Kaspar Elm, hg. v. Franz-Josef Felten, Nikolas Jaspert, (Berliner Historische Studien 31. Ordensstudien 13), Berlin 1999, S. 371– 391386–390.

Politisierung von Tugenden: Heinrich von Gent und Gottfried von Fontaines

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ordinarium zwar kurz, aber keineswegs beiläufig das Problem erörtert, wie Freundschaft, Liebe und Gesellschaft miteinander verwoben sind. Da er voraussetzt, dass Freundschaft und Liebe nur zwischen ähnlichen Personen bestehe und Freundschaft auf der Liebe und diese auf der Schöpfungsordnung Gottes beruhe, scheint ein egalitäres Element in allen Verhältnissen der Menschen eingefügt zu sein, das Heinrich aber wieder zurücknimmt, indem er allein der Liebe zubilligt, die Menschen equaliter zu verbinden, wohingegen die Freunde, sofern die Liebe nicht hinzutrete, nur similes et non aequales seien und als solche nur socii würden, für die Abstufungen der freundschaftlichen Nähe bestünden.1531 Aus diesen Abstufungen der Nähe leitet Heinrich von Gent eine hierarchisch gegliederte Ordnung der Beziehungen ab, in die die socii eingebunden sind. Es gibt aber weitere Typen von Beziehungen von Privatpersonen, die ohne Herrschaft bestehen: Sie werden durch Handelskontrakte hergestellt. Auf sie wirkt die iustitia directiva einer interventionistisch agierenden Herrschaft nicht ein. Die wechselseitige Zustimmung von Vertragspartnern schafft eine Norm, deren Ergebnis nicht einmal durch das Naturgesetz vorgegeben werden kann. Heinrich erachtet die Vertragspartner als Schöpfer und als Richter eines eigenen Rechts, das die gemeinsamen Interessen verwirklicht. Die Gerechtigkeit beruht in diesem Fall auf einer dem Handelsverkehr innewohnenden Gleichheit, die weder auf freundschaftliche oder liebende Zuneigung noch auf Herrschaft, noch auf Übereinstimmung mit dem Naturgesetz angewiesen ist. Tugenden sind hingegen im Staat erforderlich, denn sie sollen die Konformität mit dem Naturgesetz herstellen, die ansonsten nicht bestehen würde, ohne dass er indes die Verfahren dieser Angleichung erläutert. Ethische Vorgaben treten in den Hintergrund. Daraus folgt, dass die Politik nicht mehr als Teilgebiet der Ethik gilt, aus ihr herausgeführt wird.1532 Dies hindert ihn aber nicht, Überlegungen anzubieten, wie Liebe und Freundschaft in die Gesellschaft eingefügt oder ausgeschieden sind. Die Liebe wirkt egalitär und familiär, aber nur die Freundschaft, indem sie die naturwüchsigen Bindungen überspringt und die Soziabilität erweitert, ist herrschaftsnah positioniert; außerhalb der Herrschaft, im Wirtschaftsleben, kann auf Liebe und Freundschaft gänzlich verzichtet werden, weil dabei aus dem Interessenausgleich Recht entsteht. Liebe ist ansonsten der 1531 Omnis talis relatio refertur ad genus relationis communis que est similitudo. Amici enim inquantum amici similes, et similiter socii, et non aequales, nisi prout in eis consideratunr gradus conformes, quaedamodum qui equaliter se diligunt, aequaliter amici sunt; Heinrich von Gent, Summae quaestionum ordinariarium, Bd. 2, Neudr. Löwen, Paderborn 1953, fol. 92v ; zur Ordnung der Beziehungen: fol. 92–93v ; die Neuedition der Summae enthält noch nicht den hier erörterten Artikel 62. 1532 Zu den von Heinrich von Gent behandelten Themen: Martin Pickav8, Heinrich von Gent über Metaphysik als Wissenschaft. Studien zu einem Metaphysikentwurf aus dem letzten Viertel des 13. Jahrhunderts, Leiden, Boston 2007.

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Bedrohte Autonomie des Individuums durch Politisierung der Liebe

familia, Freundschaft der politia reserviert. Aus der Liebe und der Freundschaft erwächst indes keine zwingende Morallehre. Heinrich von Gent belässt eine große Freiheit, Beziehungen nach eigenen Wünschen und Nutzenerwartungen zu gestalten. Als Beispiel gibt er das ökonomische Handeln an.1533 Gottfried von Fontaines († 1306) führte die Diskussion weiter, indem er die Liebe als gemeinsame Wirkkraft in die unterschiedlichen Tätigkeitsbereiche von Familie, Gesellschaft, Wirtschaft und Staat einstellte. Er war ebenfalls Weltgeistlicher und Magister der Theologie an der Universität Paris. Wie auch Heinrich von Gent, gehörte er zu den als Averroisten bezeichneten Theoretikern der Erkenntnisphilosophie und kritisierte ebenfalls wie dieser die Existenzberechtigung der Bettelorden, und geriet aus diesen beiden Gründen in Konflikt mit den Verteidigern der katholischen Rechtgläubigkeit an der Universität Paris. Hinsichtlich der politischen Philosophie stellte er die Liebe in das Zentrum seiner Überlegung zur Politik, die er in mehreren Schriften darlegte. Die Liebe sollte die Menschen im Staat miteinander verbinden. Aber diese Verbindung sollte die individuelle Autonomie keineswegs schmälern. Im Gegenteil setzt er die Vielgestaltigkeit menschlicher Existenzen und menschlicher Wünsche voraus. Der Staat müsse als Einheit auf der Grundlage der Willensentscheidungen der Vielen aufgefasst werden und er bedürfe zu seinem Funktionieren des emotional begründeten Zusammenhalts. Damit der Übergang von dem Streben nach dem individuellen Gut zu einem kollektiven Gut gelinge, damit aus der Vielheit die Einheit erwachse, müsse die Liebe die Menschen zusammenführen. Da Gottfried die Liebe aus der Natur des Menschen ableitet, kann er sie in die Politik einstellen. Liebe ist allerdings mehrdeutig. Gottfried unterscheidet zwischen der Liebe zwischen Freunden und der Liebe zum allgemeinen Wohl. Nur letztere vermöge eine große soziale Kohäsion hervorzubringen, was weder die Liebe in den Nahbeziehungen noch der Verstand erreichen könnten. Nicht anders als Johannes Duns Scotus differenziert Gottfried hinsichtlich der unterschiedlichen sozialen Konstellationen, aber anders als jener setzt er die Liebe als Wirkkraft in allen von ihnen voraus. Auch die Selbstliebe rechtfertigt Gottfried. Sie könne aber ihr Ziel, nämlich den eigenen Vorteil, nur erreichen, wenn die Mitwirkung der Mitmenschen hergestellt werde, was wiederum nur möglich sei, wenn diese in Liebe miteinander verbunden seien. So werde Gerechtigkeit hergestellt, denn die Liebenden sorgten dafür, dass alle das ihnen Zustehende erhielten. Alle seien Gewinner des Nutzens der aus der Liebe entspringenden Gerechtigkeit. Die Gerechtigkeit verlange Tugenden, nach der die Menschen 1533 Zur ökonomischen Ethik und zur rechtlichen Begründung von Handelskontrakten bei Heinrich von Gent: Joel Kaye, Economy and Nature in the Fourteenth Century. Money, Market Exchange, and the Emergence of Scientific Thought (Cambridge Studies in Medieval Life and Thought, Fourth Series), Cambridge 1998, S. 106–110.

Der gute Zweck der Liebe: Engelbert von Admont

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handelten, um einen guten Staat zu errichten, der dem Allgemeinwohl diene. In der Kette der Ursachen – von Willen, Liebe, Gerechtigkeit, Tugend, guter staatlicher Verfassung, allgemeinem Wohl – solle der Herrscher eingreifen, um die Potentialität der Ursachen hin zum höchsten Ziel, dem allgemeinen Wohl, zu aktivieren. Er profitiere umgekehrt von der guten Verfassung im Staat, da sie seine Macht stabil halte. Wenn Gottfried Normen des Handelns begründet, setzt er auf die naturnotwendigerweise bestehenden Kräfte, die stets und in allen sozialen Konstellationen vorhanden seien, aber erst durch Willensakte zur Geltung gebracht würden und durch Tugenden reguliert werden müssten.1534Anknüpfend an die Begründung der Politik durch Aristoteles, wie sie im 13. Jahrhundert bekannt war, war nicht angestrengte Anwendung von Tugenden, sondern ihre Ableitung aus Motivierungen und Emotionen vorgesehen. Die Natur des Menschen sollte zur Entfaltung gebracht werden.

5.

Der gute Zweck der Liebe: Engelbert von Admont

Auch Engelbert von Admont (ca. 1250–1331) suchte Antworten zu geben auf die Frage, wie Tugenden für die Herrschaft verwirklicht werden sollten. Er verband die Antworten mit einer genuin politischen Verwendungsweise der Liebe, stand also den Überlegungen von Peter von Auvergne nahe, ohne aber wie dieser einen Gegensatz zwischen den Tugenden und der Liebe im Leben der Menschen einerseits und denjenigen von Bürgern und Herrschern andererseits vorzustellen. Engelbert war Benediktiner und Abt des Klosters Admont in der Steiermark, zuvor Besucher der Universität Padua, ausgewiesener Kenner der politischen und ethischen Schriften des Aristoteles und Verfasser mehrerer moraldidaktischer Werke. Er war mit dem Diskussionsstand zur Politik, wie er an der Universität Paris erarbeitet wurde, vertraut. Obwohl er abseits von Herrschaftshöfen lebte, beeinflusste sein politisches Schrifttum nicht wenige Gelehrte des späten Mittelalters. Seine politischen Konzepte wurden vornehmlich in Deutschland rezipiert.1535 Er untersuchte in seinen politischen Schriften zur Entstehung und zur Verfassung des römischen Reiches sowie in seinem Tugendspiegel eine Konzeption der Herrschaft, die Liebe einfordert, weil sie als natürliche Antriebskraft des Menschen vorausgesetzt ist, indes nur dann gesellschaftliche Bindungen zu knüpfen imstande ist, wenn sie durch Tugenden geformt ist. Die Liebe ist nach 1534 Gottfried von Fontaines, Les Quodlibet, 2 Bde., hg. v. Maurice de Wulf, Jean Hoffmans (Les philosophes belges 2–3), Löwen 1904, I, S. 119f., 148, 159, 167–184, 318f. 1535 George Bingham Fowler, Intellectual Interests of Engelbert of Admont, New York 1947; Ubl, Engelbert von Admont; Ders., Zur Entstehung des Fürstenspiegels Engelberts von Admont, in: DA (1999), S. 499–548.

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Bedrohte Autonomie des Individuums durch Politisierung der Liebe

Engelbert in dieser Formung etwas anderes als eine spontane Emotion; sie kein schwankendes Gefühl; sie ist sowohl eine konstitutive Eigenschaft der Menschen als auch an Institutionen und institutionelle Regelwerke angebunden, was allein schon daran deutlich wird, dass Engelbert als Objekte der Liebe Abstrakta und nicht nur geliebte Menschen vorstellt. Der amor patriae könne zu guten Taten antreiben, ebenso wie der amor pacis und der amor iustitiae. Alle drei Arten der Liebe seien gut; aber allein die letztgenannte Liebe, die der Gerechtigkeit, führe dazu, dass der Herrscher für das allgemeine Wohl sorge.1536 Diese Sorge, die Engelberts in der Schrift De ortu et fine Romani imperii ausführt, bedarf der Belehrung, um in Aktion zu treten. Adressat der Belehrung ist der Kaiser. Dies sei notwendig, so Engelbart, da dem römischen Kaiser mehr als den Königen in den gesonderten Königreichen die Anwendung des für alle Menschen in der Welt gültigen Naturrechts obliege. Deswegen habe er nicht allein universale Kompetenz, sondern eine außerordentlich große, mehr als andere Herrscher bindende Pflicht und Befugnis, seine Fürsorge auf alle Menschen auszudehnen. Da die Fürsorge aus der Liebe entspringe, gehe die Universalität der Macht mit der Universalität der Liebe einher. Mag Engelbert auch noch so sehr eine nostalgische Klage über den Machtverlust des mittelalterlichen römischen Reiches anstimmen, mag seine Schrift auch ein rückwärtsgewandtes, unerreichbares Wunschbild entwerfen, so verfolgt er doch, wie er selbst meint, ein zukunftsträchtiges Anliegen, nämlich eine Ordnung der Gerechtigkeit zu entwerfen, die durch die Liebe erzeugt werde und der Verwirklichung harre.1537 Dazu bedürfe die Liebe, obgleich in der Natur des Menschen bereits angelegt, einer politischen Verfassung, die durch Tugenden geformt ist. Er verweist in seinen Schriften häufig auf Cicero und Aristoteles, damit einen innerweltlichen Begründungszusammenhang herstellend. Die felicitas ist bei ihm als innerweltliches Glück vorgestellt, das verwirklicht werden kann und soll. Statt einer »Mönchsethik« die Demut und Gotteserkenntnis als wichtige Werte einfordert und die einst im frühen Mittelalter auch in die Fürstenspiegel einfloss, konzentriert der gelehrte Benediktiner Engelbert die Tugenden auf solche, die für die Herrschaft angemessen sind. Die Säkularisierung der Tugendlehre bedeutet indes nicht die Entfaltung einer spezifischen politischen Ethik, die in Opposition zur allge-

1536 Engelbert von Admont, De ortu, S. 10–135, S. 108, 110; Ders., Speculum, S. 392, 420f. 1537 Berges, Fürstenspiegel, S. 103 verweist hingegen auf den illusionären Charakter der Schrift; als politische Programmschrift vorgestellt: Karl Ubl, Die Rechte des Kaisers in der Theorie deutscher Gelehrter des 14 Jahrhunderts (Engelbert von Admont, Lupold von Bebenburg, Konrad von Megenberg), in: Konrad von Megenberg (1309–1374) und sein Werk, hg. v. Claudia Märtl u. a., München 2006 S. 353–387.

Der gute Zweck der Liebe: Engelbert von Admont

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meinen Ethik gestellt ist, wohl aber eine Zielsetzung der Liebe, die eine gerechte Herrschaft herstellen soll.1538 Obwohl die Liebe einheitlich für alle Menschen und Handlungen gefordert sei, unterscheidet Engelbart hinsichtlich der Aktionsformen der Liebe. Im Unterschied zur abstrakten Liebe zur Gerechtigkeit setzt Engelbert die personale Liebe allein innerhalb der Familie oder zwischen Verwandten voraus, da sie einzig dort natürlich bewirkt werde, weil allein dort die erforderliche körperliche Nähe bestehe, wohingegen die Liebe in den Königreichen und im Kaiserreich nur dann die Menschen verbände, wenn sie durch eine Institution, d. h. durch die Herrschaft, aus der Potentialität in die Realität überführt werde, was durch Vorbild und Anweisung, also durch die Vermittlung, der Herrscher gelinge. Durch die Herrschaft gelingt also der Übergang von der Liebe in einer Anwesenheitsgesellschaft zur Liebe in einem Verband, der durch Institutionen Menschen miteinander in Beziehungen stellt. Nur am Hofe des Herrschers, dort wo die Menschen sich nahe stehen, geselligen Umgang pflegen und Gedanken austauschen, gebe es eine enge, spontan entstehende und emotional gefärbte Beziehung, die den Beteiligten Freude bereite und sie zum guten Handeln motiviere.1539 Freundschaft ist bei Engelbert als Derivat der Liebe vorgestellt, ist in ihrer Wirkung breiter angelegt, gerade weil sie weniger emotional intensiviert und familiär integriert ist und abstrakten, auf Institutionen fußenden Relationen zugänglicher ist. Freundschaft entbehre, wie Engelbert schreibt, der Leidenschaftlichkeit, sei aber genau aus diesem Grund besser geeignet, die Menschen auf soziale Nützlichkeiten hin zu lenken.1540 Es geht um eine institutionell domestizierte Emotion. Engelbert führt eine terminologische Unterscheidung der Liebe ein und differenziert die Liebe hinsichtlich ihrer Auswirkung auf die Herrschaft. Sofern er die Liebe als caritas bezeichnet, beruhe sie, anders als die als amor bezeichnete Liebe, auf einer Gleichheit der in Liebe verbundenen Personen; sie vertrage sich folglich nicht mit einer Herrschaftsausübung im Staat und in der Familie.1541 Die Liebe, als amor benannt, stehe hingegen dem Zwang, der in der Herrschaft walte, nicht entgegen, ja sie ermögliche und erfordere ihn. Diese Liebe führe zur Unterwerfung, so wie die Liebe in der Ehe die Frau unfrei mache. Die Analogie führt Engelbert weiter aus und erweitert sie zu einer inhaltlichen Übereinstimmung. Der Nutzen der Eheschließung sei wegen 1538 Engelbert von Admont, Speculum, S. 51f.; Ubl, Engelbert von Admont, S. 73–79; Miethke, Publikum, S. 164. 1539 Peter von Moos, Du miroir du prince au Cortegiano. Engelbert d’Admont (1250–1331) sur les agr8ments de la convivalit8 et de la conversation, in: Formes dialogu8es dans la litt8rature exemplaire du moyen .ge, hg. v. Anne-Marie Polo de Beaulieu, Paris 2012, S. 103– 160. 1540 Engelbert von Admont, Speculum, S. 319f., 328, 357. 1541 Ebda., S. 157f.

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der Liebe nicht geschmälert, vielmehr gerechtfertigt, werde doch so der Herrschsucht der Frauen, die kein Recht auf Herrschaft hätten, Einhalt geboten. Der Nutzen der Ehe bestehe auch darin, dass die Ehen, sofern zwischen Herrscherfamilien geschlossen, Frieden stifteten und somit die Voraussetzung bildeten, Macht zu vergrößern. Die Dichotomie der Begriffe – amor und caritas – erlaubt die Entfaltung divergenter Intentionen: einerseits Unterordnung unter die Herrschaft, andererseits gleichberechtigte Zuneigung.1542 Die Liebe, als caritas bezeichnet, steht der christlichen Religion nahe, entzieht sich hingegen der Instrumentalisierung durch die Herrschaft, während die als amor benannte Liebe, weit davon entfernt, auf leidenschaftliche intime Verbindungen zu verweisen und die Nächstenliebe einzuschließen, operationabel gemacht, durch Tugend aktiviert, institutionell geformt und auf politische Ziele gerichtet ist. Das Ziel des Staates besteht in der Herstellung eines diesseitigen, irdischen Glückes; eine religiöse Sinngebung ist nicht erforderlich, wie Engelbert dies auch in seinem Tugendspiegel ausführt.1543 Die geringe emotionale Tiefe von Freundschaft und Liebe bei der Ausübung der Herrschaft zeigt sich allein darin, dass sie verhinderten, wie Engelbert meint, in die Angelegenheiten eines Mitmenschen unberufen einzugreifen, sie vielmehr den autonomen Gestaltungsbereich respektierten. Freundschaft führe nur dann zur Fürsorge, wenn eine bedrängende Notlage abzuwenden sei. Anders sei indes die Fürsorge vom Herrscher stets verlangt, die er zugunsten der menschlichen Gemeinschaft im Staat ausübe, die durch einen beständigen Mangel und durch die Notwendigkeit, ihn zu kompensieren, gekennzeichnet sei. Die Tätigkeiten der Kompensationen geschähen nach herrscherlicher Anweisung.1544 Weil Liebe und Freundschaft, obwohl im Wesen des Menschen angelegt, nur verwirklicht werden in Erfüllung einer Tugendethik, verweist Engelbert auf ein regimen, das bereits in jedem menschlichen Einzelwesen einpflanzt ist und das zu richtigem Handeln führt. Es besteht darin, die körperlichen und emotionalen Regungen einzudämmen. Auf den Staat übertragen, sollten die Herrscher, so Engelbert, die große Menge der Untertanen vor schwankenden Stimmungen abhalten. Umgekehrt sollten die Untertanen auch vor den unbeständigen Anforderungen der Mächtigen geschützt werden. Dies geschehe am besten, wenn sie nur zum Gehorsam gegenüber dem einzigen Herrscher, dem Kaiser, gezwungen würden.1545 Obwohl die Kooperation, so Engelbert, aus den natürlichen Bedürfnissen und der seelischen Beschaffenheit der Menschen entspringe, bedürfte sie der An1542 1543 1544 1545

Engelbert von Admont, De ortu, S. 170f., 184f. Engelbert von Admont, Speculum, S. 455f. Ebda., S. 324–329, 358, 388f., 395, 465. Ders., Speculum, S. 125, 156, 204, 228, 421, 456.

Der gute Zweck der Liebe: Engelbert von Admont

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leitung. Vor allem die Liebe als Treiber der Kooperation müsse unterrichtet werden. Das Gebot, seinen Nächsten zu lieben, gelte insbesondere für die Herrscher. Um das Gebot zu erfüllen, seien die Lektüre der Bibel und die Beachtung von deren Anweisungen dienlich. Die heilige Schrift wird politisch vereinnahmt, wird zur Handreichung für die Herrschaftsausübung. Die körperliche Verbundenheit, die Koordination von Körperteilen, d. h. die organologische Komposition verlangten gleichfalls die Liebe des Herrschers zu seinen Untertanen, so wie sie zwischen Auge und Hand bestehe. Der Verweis auf das physiologische Geschehen zeigt, dass die Liebe aus einer in der Natur angesiedelten Kraft abgeleitet ist. Die Liebe, die die Glieder der politischen Gemeinschaft miteinander verbindet, ist überdies auch das Ergebnis eines Lernens, das als Applikation von Tugenden vorgesehen ist. Liebe ist pflichtgemäß anzuwenden. Die Erfüllung der Pflicht gelingt, weil sie an vorhandene Dispositionen des Menschen anknüpft. Da Engelbert in dem Fürstenspiegel Kaiser und Könige als die Inhaber der Herrschaft ansieht, die keiner Einsetzung bedürfen, ist sie den Menschen hinsichtlich der rechtlichen Ansprüche durch die Untertanen entrückt. Engelbert, hierin Aegidius Romanus folgend, bringt den König in die hierarchische Nähe zu Gott: Der deus terrenis, wie Engelbert den Herrscher bezeichnet1546, neige sich durch die Liebe den Untertanen zu. Diese Art der Liebe ist dem Herrscher reserviert, weil sie politisch eingesetzt ist. Die Politisierung der Tugenden, wie sie Heinrich von Gent, Gottfried von Fontaines und Engelbert von Admont vorsehen, zeigt sich darin, dass sie als Transmissionen eingesetzt werden, um aus der natürlichen Veranlagung die Realisierung in den unterschiedlichen sozialen Handlungsfelder herzustellen. Anders als Autoren aus dem Kreis der Bettelorden haben sie die natürliche Disposition der Menschen zur Liebe in eine allgemeine konstitutionelle Ordnung gebracht, die sich von der unmittelbaren Liebe, die zwischen einzelnen Menschen besteht, weit entfernt. Liebe ist durch die drei Autoren nicht als individuelle Regung, sondern als allen Menschen eingegebene seelische Disposition gestaltet. Die lockere Verbindung von der Anlage zur Anwendung von der Liebe wird erst durch die Verwirklichung von Tugenden geknüpft. Die Tugenden stehen abseits einer christlichen Exaltation der Liebe. Sie ist nicht als höchste Tugend eingeführt. Entgegen eines christlichen Verständnisses ist von einem Eingreifen Gottes bei der Befolgung der Tugenden, gar von göttlichen Gnadenakten keine Rede. Tugenden sind vielmehr die Hebel für die Selbstwirksamkeit der Menschen. Die Hebel werden auch zugunsten der Herrschaft eingesetzt, was dazu führt, dass die anthropologische Selbstwirksamkeit in den Herrschaftsverhältnissen nicht zur politischen Freiheit beiträgt, sondern zur 1546 Kosuch, Abbild, S. 158.

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Bedrohte Autonomie des Individuums durch Politisierung der Liebe

Optimierung des Nutzens für alle. Engelbert von Admont führt die Verbindung von Liebe, Tugend und guten Zielen besonders eng zusammen. Institutionen stellen diese Verbindung her. Liebe wird durch die Indienstnahme für Zwecke emotional ausgehöhlt, sozial aber potenziert – hinsichtlich der quantitativen Reichweite und hinsichtlich der qualitativen Stärkung der Macht.

6.

Liebe als Voraussetzung der Verteilungsgerechtigkeit: Brunetto Latini

Trotz einer im späten Mittelalter sich Bahn brechenden Verfestigung administrativer Gestaltung, trotz einer bürokratisch abgestützten Verstetigung von Praktiken1547, trotz einer Disziplinierung des Verhaltens und einer Implantierung rechtlicher Ordnungen, trotz eines Eindringens von rechtlich regulierten Herrschaftsdelegationen in eine zuvor, bis zum 12. Jahrhundert, am meisten wirksame Herrschaft, sofern sie Anwesenheitsherrschaft war1548, blieb die Liebe in den Überlegungen in der Weise präsent, als sie als unverzichtbarer Antrieb sozialer Bindungen angesehen und als Movens von Beherrschung und Unterwerfung eingesetzt wurde. Die Liebe war aber nicht allein zur Unterwerfung unter die Herrschaft vorgesehen, sondern auch als Argument, um Anforderungen an die Herrschaft zu stellen, die Nutzen für das Individuum erbringen sollte. Dabei standen die aktive Partizipation von Bürgern in das politische Geschehen und eine distributive Rezeption von Wohltaten zugunsten der Bürger gegenüber. In den urbanen Kommunen Italiens und vor allem in Florenz galt die Liebe als Antrieb für die Gestaltungskompetenz der Bürger.1549 Im urbanen Milieu Italiens wurden aber auch Konzepte entwickelt, die der Liebe eine Funktion in der Monarchie zuwiesen, in der die Bürger als Empfänger der Wohltaten des Herrschers vorgestellt waren, die dieser – von der Liebe bewegt – ihnen gewähren würde. Es gab Autoren, die das in den Kommunen eigentümliche Sprechen über das Gute, das durch das gemeinsame politische Handeln der Bürger geschaffen werde, auf die Königsherrschaft übertrugen. Dies galt auch für den Florentiner Brunetto Latini († 1295). Ein ambivalentes Misstrauen gegenüber dem kolle1547 Peter Moraw, Organisation und Funktion von Verwaltung im ausgehenden Mittelalter (ca. 1350–1500), in: Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. 1: Vom Spätmittelalter bis zum Ende des Reiches, hg. v. K.G. A. Jeserich u. a. Stuttgart 1983, S. 21–65. 1548 Elias, Über den Prozess; John Van Enghen, The Christian Middle Ages as an Historiographical Problem, in: AHR 91 (1986), S. 519–552, S. 544–547; Gerd Schwerhoff, Zivilisationsprozess und Geschichtswissenschaft. Norbert Elias’ Forschungsparadigma in historischer Sicht, in: HZ 266 (1998), S. 561–605. 1549 Meier, Semantiken.

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gialen Stadtregiment war durch seine Biographie nahegelegt. Nach dem Sieg der Ghibellinen wurde er aus seiner Heimatstadt ausgewiesen, verbrachte das Exil in Frankreich und fand Aufnahme am französischen Königshof. Dort schrieb er in französischer Sprache die Enzyklopädie Li livres dou tresor. Nach einem erneuten Umsturz in Florenz kehrte er 1273 dorthin zurück und übernahm dort sofort hohe politische Ämter. Seine Enzyklopädie ist in Italien bis in das 15. Jahrhundert ausgiebig rezipiert worden. Eine italienische Übersetzung folgte rasch der Abfassung des Werkes. Eine kastilische Übersetzung war zur selben Zeit für den Königshof von Sancho IV. (1284–1295) bestimmt.1550 Die Hinwendung des enzyklopädischen Textes zur Erörterung politischer Themen veränderte das Genre, drängte theologisch tingiertes Weltverstehen zurück, verstärkte die Thematik praktischer Organisation und trug zur Formung der politischen Reflexion der Zeitgenossen und der zahlreichen späteren Rezipienten bei. Die Zielsetzung des Werkes von Brunetto Latini – hinsichtlich der der Politik gewidmeten Abschnitte – ist in der Forschung umstritten. Es wird sowohl als Grundlegung kommunaler als auch königlicher Macht angesehen.1551 Nach meiner Auffassung vertrat Latini eine Bewertung, die eindeutig die Herrschaft des Königs legitimiert. Als er die Schrift verfasste, stand er in den Diensten des französischen Königshofs. Die patria, die spätere Humanisten changierend mit Italien oder mit ihrer jeweiligen Heimatstadt identifizierten1552, ist bei Brunetto ein im Text selbst nicht präzisiertes Königreich, durch den Kontext aber mit dem Königreich Frankreich definiert. Die Enzyklopädie war wohl auch als belehrende Schrift im Umfeld des Königs konzipiert, darüber hinaus aber allgemein als wissensvermittelnde Literatur für ein größeres Publikum beabsichtigt und letztlich so auch rezipiert worden. Latini schrieb, dass dem König aufgetragen sei, die Liebe zu fördern, die sich in der Freundschaft verwirkliche und den Zusammenhalt im politischen Verband bewirke. Umgekehrt stärke die Liebe die Königsherrschaft. Latini räumt der Liebe als Agens des politischen Handelns, als terminologisches Verständigungsangebot und als Verursachungsprinzip jedes menschlichen Handelns einen prominenten Platz ein, sogar einen eigenen Artikel in seiner enzyklopädischen Schrift Livres dou 1550 Ebda., S. 315–356; Bartuschat, Politische Begriffe S. 86; Brunetto Latini. Libro del tesoro. Versijn castellana de Li Livres dou tresor, hg. v. Spurgeon Baldwin, Madison 1989. 1551 Gert Sorenson, The Reception oft the Political Aristotle in the Late Middle Ages (from Brunetto Latini to Dante Alighieri). Hypotheses and Suggestions, in: Renaissance reading of the Corpus Aristotelicum, hg. v. Marianne Pade, Kopenhagen 2001, S. 9–25; Rita Librandi, La didattica fondante di Brunetto Latini. Une lettura del Tesoretto, in: Brunetto Latini, un notaire savant, hg. v. Bernard Rib8mont, Paris 2012, S. 156–72; A scuola con ser Brunetti. Indagine sulla ricezione di Brunetto Latini dal Medioevo al Rinascimento. Atti del convegno internazionale di studi, Basilea 8–10 giugno 2006, hg. v. Irene Matti Scaristi, Florenz 2008. 1552 Hirschi, Wettkampf, S. 108–110.

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tresor. Anders als Aegidius und Engelbert beginnt Latini seine Darstellung sofort mit der Erörterung der Beziehung zwischen den Bürgern eines Staates. Die Beziehungen in der Familie folgen im Text. Die Reihung spiegelt eine abnehmende Wertung. Er stellt die Liebe in die Relation zwischen Herrschern und Untertanen ein. Argumentativ gelingt ihm dies, indem er den König als den Verursacher und Gestalter der Liebe vorsieht. Auf der Praxis des Wissens und der Liebe beruht die Hierarchie, an deren Spitze der König stehe. Nicht ein ordo rerum ist vorgeführt, sondern ein ordo artium.1553 Dies betrifft auch die Politik. Auch sie ist eine Kunst, also eine Kombination von Fertigkeiten und von Handlungen. Der ordo ist eine Interaktionsgruppierung. Zugleich ist er auch eine Distributionsgruppierung, wie gleich gezeigt werden soll. Die Schriften von Aristoteles zur Ethik und zur Politik bilden auch bei Brunetto Latini die Basis der Überlegung, die dieser aber weiterführt, indem er, die Freundschaft ausdrücklich mit der Liebe, dem amor, eng verbindend, nicht die Abwehr eines Mangels und eines Übels, welche allein dank der Freunde überwunden würden, nicht allein buens refuges et seur port, also gute Zuflucht und sicheren Hafen, als Leistung des Staates in Aussicht stellt, nicht die Abwehr von Not, die Hinnahme der Notwendigkeit, auch nicht das Streben nach Glück und der Erwerb von Nutzen als Ursache des Staates angibt, sondern eine zwischenmenschliche Verbindung vorsieht, die durch eine spontane Regung des Vertrauens entsteht, die das bewirkt, was nicht einmal beabsichtigt werden muss, vielmehr eine uneigennützige Kooperation schafft, die an ihr Ziel gelangt: die Mehrung des Nutzens und seine gerechte Verteilung. Auf das Gebiet der Politik übertragen, räumte Brunetto zunächst ein, dass die Liebe im Gegensatz zur Herrschaft, der signorie, stehe, da die Liebe doch anders als sie die gemeinschaftliche Nutzung aller Güter und die Gleichberechtigung aller in Freundschaft und in Liebe verbundenen Menschen voraussetze. Aber Latini führt die Argumentation weiter und verbindet die Liebe mit königlicher Herrschaft, weil der König, sofern er nicht auf seinen eigenen Vorteil, sondern nur auf den seiner Untertanen bedacht sei und somit keinen persönlichen Nutzengewinn anstrebe, zwar nicht in einer Beziehung der Gleichheit, die die Bürger untereinander hätten, sondern in einer Beziehung der Überordnung stehe, die aber, wenn sie mit Liebe ausgestattet sei, Vergünstigen und Gewinne gewähre. So gelinge es, für alle ein gutes Leben zu ermöglichen, ohne dass sich alle Menschen für die Verwirklichung des Zieles selbst aktiv einsetzen müssten. Die Bürger würden zu Empfängern der Gaben der Liebe. Es seien nicht die Kooperationen der Bürger, die den allgemeinen Nutzen schafften, sondern dies leiste die einseitige Fürsorge, die die Herrscher ihren Untertanen gewährten. Eine ungleiche 1553 Christel Meier, Cosmos politicus. Der Funktionswandel der Enzyklopädie bei Brunetto Latini in: FMASt 22 (1988), S. 315–356, S. 354.

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Handlungskompetenz in einer Herrschaftsverfassung führt so dennoch zu einem gleichmäßigen, allen zugute kommenden Nutzen. Die Verursachung der Fürsorge ist allein dem Herrscher gegeben, aber dank der Liebe zu den Untertanen kommt das Ergebnis seiner Fürsorge ihnen allen zugute. Erachtet Aegidius Romanus die hierarchische Differenz als von der Liebe hervorgerufen und der Liebe bedürftig, so leitet Latini aus dem Ungleichgewicht der Macht eine Gleichheit des Wohlstandes ab, was er als Gleichheit der Wirkung der Liebe vorstellt. Weil für Latini die Liebe wesenhaft eine Beziehung zwischen Gleichen ist, muss die Liebe zumindest in ihrer Konsequenz Gleichheit schaffen. Die Liebe erfasst alle, Herrscher wie Untertanen, aber sie errichtet keine gleichen Beweggründe des Handelns, aber hinsichtlich ihrer Wirkung schafft die Liebe des Herrscher das allgemeine Wohl und die Gerechtigkeit im Staat, also eine Gleichheit des Nutzens. Was Latini unter der gerechten, allen Untertanen zustehenden Nutzung der materiellen Güter versteht, verlangt keine kooperative Egalität, sondern eine finale Egalität, die in der distributiven Egalität besteht, die aber nicht zur quantitativ gleichen Verteilung der Güter führen soll, sondern darauf abgestimmt ist, jedem gemäß seiner Tugend die ihm zustehenden materiellen Güter zuzuweisen. So partizipieren alle am allgemeinen Wohl. Die Verteilungsgerechtigkeit führt folglich nicht zu einer numerisch gleichen Aufteilung der Güter, sondern zu einer Leistungsgerechtigkeit, die in der Sprache Latinis als gerechte Berücksichtigung der Tugenden bezeichnet ist. Die Aufgabe, die Tugenden zu berücksichtigen und zu bewerten, falle, so Latini, den Herrschern zu. Das biblische Gleichnis des Hirten, der für seine Schafe sorgt, wendet Latini auf den weltlichen Bereich an, um die auf Gleichheit bedachte Wirkung zu rechtfertigen. Die Liebe in der Ehe zwischen Mann und Frau, die Brunetti Latini als natürlich bezeichnet, sei älter als die Liebe zwischen den Bürgern und zwischen den Untertanen und den Herrschern, aber weniger wert als diese, weil diese viele, jene nur zwei Menschen vereine. In jedem Fall erbringe die Liebe Nutzen. Sie verwirkliche sich in Institutionen, die ihren Mitgliedern die Versorgung mit Gütern gewähre.1554 Im Artikel zur caritas entfaltet Brunetto Latini eine Skala unterschiedlicher Formen der Liebe, wobei er die im Neuen Testament gebotene allgemeine, alle Menschen erfassende Liebe an die Spitze stellt, als caritas bezeichnet und diese Bezeichnung auch für Fürsorge des Königs für die Menschen innerhalb eines Königreiches vorsieht, während der amor die natürlichen, wie er meint, familiären Bindungen und die anderen Vergesellschaftungen unterhalb der staatlichen Ebene formt und als Ableitung der höchsten Liebe und als Hinwendung zur ihr gilt. Jede Form der Liebe erbringe, so Latini, für alle Nutzen, ohne dass aber die Absicht, Nutzen zu gewinnen, ihn hervorrufe, vielmehr eine vorausset1554 Brunetto Latini, Livres dou tresor, S. 186–192.

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zungslose seelische Disposition der gut gesinnten Menschen als Verursachung genüge.1555 Liebe und Freundschaft sind bei Latini zwar auch als Tugenden bezeichnet, sind daher normativ eingesetzt, aber sie sind in erster Linie spontane Regungen. Die ethische Fundierung des sozialen Verbandes knüpft Brunetto an eine emotionale Grundierung, die Tugenden erst hervorzubringen vermöge. So könne Liebe Wirkung auch im politischen Handeln und in der Relation zwischen Herrschern und Beherrschten erhalten. Liebe ermögliche jede Form der Kooperation, die nicht aus der Summe der einzelnen Interessen entstehen könne, ja nicht einmal durch die Herstellung eines kollektiven Nutzens, so dass die Liebe als eigenständiger, nicht abgeleiteter Wert hervortritt, der keiner weiteren Begründung und Zielsetzung zu seiner Realisierung bedürfe, aber soziale Ziele gleichsam absichtslos doch verwirkliche. Auch die Machtsteigerung der Herrscher beabsichtige nicht die Mehrung der Liebe zwischen Herrschern und Untertanen, bewirke sie aber, da die große Macht die Verfügung über die zu verteilenden Güter ermögliche.1556 Das emphatische Zusammenleben bedürfe umso mehr der Liebe, als ein Ausgleich der Wünsche die Harmonie der Gesellschaft nicht gewährleiste. Die Liebe sei umso notwendiger für das Gemeinwesen, als eine Erwartung auf einen Gewinn nur Streit entfachen würde. Die kontra-intentionale Wirkung erfordere folglich, die berechnende Vernunft für die Gestaltung der Herrschaftsorganisation zurückzustellen, um der von Absichten befreiten Liebe die Entfaltung zu belassen. Die politische Vereinigung knüpft Latini an Bande, die umso mehr natürlich bewirkt hervortreten, als sie in nur geringem Maße der Vorbereitung und des Erlernens bedürfen. Ja, wenn die Menschen sich in Liebe verbinden, wie von Latini angenommen, entfällt die Notwendigkeit einer Zwangsordnung und somit einer starken, einschränkenden, Furcht erregenden Herrschaft. Die Beziehung der Liebe bedarf nicht einmal eines Bewusstwerdens, sie beruht auch nicht auf einer Illusion, sondern sie ist im Gegenteil faktisch effektiv, selbst wenn der Effekt außerhalb der Intention steht. Die Verfassung der italienischen Kommunen beeinflusste offensichtlich die Argumentation des Buches1557, aber Latini löste sich von diesem Kontext und übertrug die Ideale des stadtbürgerlichen Regiments auf das Königtum. Wenn der König die Liebe verwirkliche, geschehe dies unabhängig von den launischen 1555 Ebda., S. 263–267; Carlos Heusch, Les fondements juridiques de l’amiti8 / travers les Partidas d’Alphonse X et le droit m8di8val, in: Cahiers de Linguistique Hispanique M8di8vale 18/19 (1993–1994), S. 5–48, S. 17, 25f. 1556 Brunetto Latini, Livres dou tresor, S. 114. 1557 Ulrich Meier, Der falsche und der richtige Name der Freiheit. Zur Neuinterpretation eines Grundwertes der Florentiner Stadtgesellschaft (13.–16. Jahrhundert, in: Stadtregiment und Bürgerfreiheit. Handlungsspielräume in deutschen und italienischen Städten des Späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit, hg. v. Klaus Schreiner, Ulrich Meier (Bürgertum. Beitäge zur europäischen Gesellschaftsgeschichte 7), Göttingen 1994, S. 37–83, S. 61–68.

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Wünschen und den Streitigkeiten der Untertanen und deswegen gelinge es ihm, für alle Nutzen bereitzustellen. Für Latini ist es erwiesen, dass nur durch die Macht der Könige Verteilungsgerechtigkeit hergestellt werden könne. Dass eine solche Gerechtigkeit eine gleichberechtigte Handlungskompetenz ausschließt, schwächt sie nicht, setzt sie vielmehr voraus. Die Liebe des Herrschers, nicht das Handeln der Bürger garantiert die Nutzengemeinschaft. Abschätziger noch bewertet Latini die Adeligen. Ihre Unfähigkeit, die selbstsüchtigen Ziele zurückzustellen, zerstöre die Gerechtigkeit. Eine Regierung, die das Volk – in Florenz den popolo – einbezieht, sieht Latini aber nicht vor; die Frustration des Autors hinsichtlich der politischen Weisheit des Volkes steht dem entgegen.1558 Die kommunale Verfassung, die auf der politischen Aktivierung der Bürger beruht, wirkt sich bei Brunetto Latini nur noch in der Weise aus, dass die Bürger, ihrer Gestaltungsmöglichkeiten im politischen Verband enthoben, sich mit der Nutzenpartizipation begnügen. Diese Art der Partizipation sei umso mehr gesichert, je weniger der Monarch in die Konflikte um die Ressourcenverteilung hineingezogen werde und sich stattdessen, in Einsamkeit und auf seine Macht gestützt, der allgemeinen Prinzipien einer Verteilungsgerechtigkeit widme und er sie durchsetze.1559 Um einer derart konzipierten Herrschaft den nötigen Impuls zu geben, bedürfe es keiner rechtlichen Prozeduren der Streitbeilegung zwischen den Bürgern, auch keines Ausgleichs ihrer Interessen: statt ihrer wirke die Liebe. Sie unterwerfe die Menschen einer Ordnung der Gerechtigkeit und zugleich einer Ordnung der Herrschaft. Statt einer Verfahrensgerechtigkeit, die Kooperationen verlangt oder gar die Liebe voraussetzt, um die Menschen miteinander zu verbinden, stellt Brunetto Latini die Verteilungsgerechtigkeit vor, die auf Zuweisung von materiellen Ressourcen beruht. Diese Gerechtigkeit ist zugleich kausal definiert, da die Liebe sie zur Entfaltung bringt. Brunetto Latini prägte die politische Philosophie in Italien und trug dazu bei, sie von einer auf die Kommune orientierten Belehrung hin zu einer auf die Monarchie ausgerichteten Konzeptualisierung zu lenken, die nicht didaktisch operierte, sondern politisch-konstitutionelle Ziele vorstellte, also nicht Morallehre sondern politische Lehre vorstellte.1560

1558 Dass Brunetto Latini die Anliegen des »popolo« unterstützte, ist unerheblich hinsichtlich der in seinen Augen besten Regierungform, die die Monarchie sei; Christel Meier, Cosmos politicus. Der Funktionswandel der Enzyklopädie bei Brunetto Latini, in: FMASt 22 (1088), S. 315–356. 1559 Brunetto Latini, Livres dou tresor, S. 186–192. 1560 Helene Wieruszowski, Politics and Culture in Medieval Spain and Italy, Rom 1971, S. 515– 562.

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Liebe war auch das Thema politiktheoretischer Überlegungen von Dante Alighieri (1265–1321). Er schrieb mehrmals über die überwältigende Liebe – auch im Zusammenhang mit der Herrschaft. Durch sein literarisches Schaffen gewann er unter seinen Zeitgenossen und den unmittelbaren Nachfahren höchsten Ruhm. Er gilt zu Recht als der Begründer der italienischen Literatursprache, die er in seinem Buch Eloquentia vulgaris als edel und dem Lateinischen gleichwertig würdigte. Dante verfügte über weitreichende Kenntnisse der zeitgenössischen Philosophie, gerade auch der Politik von Aristoteles, ohne jemals an einer Universität studiert zu haben, was ihn zu einem »Laien« machte. Er stammte ebenfalls aus Florenz, bekleidete städtische Ämter in seiner Heimatstadt, übernahm für sie diplomatische Missionen, geriet aber in Gegensatz zur herrschenden Partei der Gelfen, als sie den König von Neapel-Sizilien, Karl I., zum Signore von Florenz einsetzte. Als dieser sich in Florenz aufhielt, wurde Dante 1302 aus seiner Heimatstadt verbannt. Er sah sie bis zu seinem Tod nicht wieder. Er lebte im Exil. Die Auswirkungen innerstädtischer Kämpfe musste er leidvoll erfahren. Er betrachtete wohl auch deshalb die kommunale Verfassung mit Misstrauen. In seinem literarischen Hauptwerk, der Divina comedia, bevölkerte er die Hölle mit vielen seiner politischen Gegner. Er nannte Brunetto Latini seinen Lehrmeister, sein Werk Divina Comedia platzierte ihn gleichwohl in die Hölle, gesellte ihn zu den »Sodomiten« (Homosexuellen). In der Ausgestaltung der politischen Vorstellungen distanzierte sich Dante ebenfalls von Latini. Er deutete die Liebe weniger final als kausal. Sie war für ihn der Grund allen Seins. Sie belebe alle Dinge. Aber auch Dante verortete die Liebe in einer hierarchischen Struktur, verband sie mit der Einzelherrschaft und nahm sie aus der Ordnung einer Bürgergemeinde heraus.1561 Dante behandelt in seinem sich als Autobiographie ausgebenden Werk La vita nuova das Thema der Liebe, von der er schreibt, er selbst empfinde sie, sie fülle sein Leben aus und sie habe ihm den entscheidenden Anstoß zur Verwirklichung des guten Lebens gegeben. Er verknüpft die Liebe, die ein individuelles Empfinden ist und zum guten Leben führt, mit der Liebe, die universal wirkt und die die gesamte Schöpfung lenkt. Die Liebe tritt in diesem Text als emblematische Figur auf, ausgeformt in dem Bild der geliebten Beatrice, und prägt das Fühlen des von der Liebe zu ihr Gefangenen. Die Vision, die Beatrice evoziert, und die Vorstellung, die der Autor sich von ihr verfertigt, erzeugen 1561 Vasoli, Papato, S. 543f.; Imbach, Laien, S. 66–71, 132–142; Peter Herde, Dante als Politiker, in: Ders., Gesammelte Aufsätze, Teil 1, Stuttgart 1997, S. 1–54; Karlheinz Stierle, Dante Alighieri. Dichter im Exil. Dichter der Welt, München 2014.

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beide die Liebe. Liebe beruht auf diesen zwei Ursachen, setzt aber keine Gegenseitigkeit voraus. Die doppelte Widerspiegelung der Liebe verweist nicht auf einen objektiven Ursprung, sie ist vielmehr in der Subjektivität der Empfindenden angelegt, deren Gefühle von äuberen Sinnesreizen und von innerer Gestaltung angestoben werden. Die Liebe beherrscht den Liebenden, der aber dadurch keineswegs seines Verstandes beraubt wird. Denn die Liebe ist edel und schließt eine Minderung der humanen Fähigkeiten aus. Liebe und Vernunft sind bei Dante, so ganz anders als in der Rede der Vernunft im Roman de la Rose1562, keine Gegensätze. Amore, so schreibt Dante, könne zwar Beherrscher des Menschen werden, verändere aber nicht seine ihm eigentümlichen guten Eigenschaften, bringe sie vielmehr erst zur Geltung. Sie befähige ihn zum gutem Tun, was Introspektion, Reflexion und kontrollierte Aktivierung voraussetze. Die Liebe werde von der Vernunft geleitet; sie stärke die Tugenden der Menschen, sogar dann, wenn sie nicht erwidert werde. Wie Dante schreibt, wecke die Liebe das ästhetische Schaffen – das Betrachten, das Beschreiben, das Aufschreiben, das Verfassen von Gedichten – und stehe auf diese Weise anderen Menschen zur Bewunderung und Nachahmung offen. Durch die mediale Repräsentation wirke sie auf andere und wirke in die Gesellschaft.1563 Die Wirkung der Liebe sei derart umfassend, dass sie alle Handlungen der Menschen antreibe, aber gerade deswegen nicht stets nur zum Guten führe. Im Werk Divina comedia stellt Dante die Liebe zwar ebenfalls als Samen für die Tugend dar, aber ebenso für die Gesamtheit aller Taten, auch solcher, die schändlich seien und eine Strafe verdienten. Da Liebe zunächst Eigenliebe sei, stehe sie in Gefahr, sich am Missgeschick des Nächsten zu erfreuen. Eine solche Liebe strebe nach Erhebung, suche die Macht des anderen herabzusetzen, führe zu Rache und Streit. Die ambivalente Wirkung der Liebe könne nur zum Guten gelenkt werden, wenn durch die denkende Tätigkeit die moralit/ der Liebe hinzugefügt werde.1564 Liebe ist also für Dante eine notwendige, aber keine hinreichende Voraussetzung des guten Tuns. Als Beweis für seine Auffassung verweist Dante auf die Kommune von Florenz; sie gilt ihm als der Schauplatz der 1562 Guillaume de Lorris, Jean de Meun, Roman, Zeile 2263–2748, 19775–19868 Alain G. Gunn, The Mirror of Love. A reinterpretation of the Roman of the Rose, Lubbock 1952; Jean C. Payen, La rose et l’utopie. R8volution sexuelle et communisme nostalgique chez Jean de Meung, Paris 1976; Karl August Ott, Der Rosenroman, Darmstadt 1980; Armand Strubel, Le Roman de la rose, Paris 1984; Per Nykrog, L’amour et la rose. Le grand dessein de Jean de Meun (Harvard Studies in Romance Languages 41). 1563 Dante Alighieri, La vita nuova (Opere minori), hg. v. Giorgio Barberi Squarott, vol. 1, Turin 1983, S. 6–12; Susanne Knaller, Liebe und Memoria. Selbstreflexion und allegorische Verfahren in Dante Alighieris Vita nuova, in: Der Tod der Nachtigall. Liebe als Selbstreflexion von Kunst, hg. v. Martin Baisch (Berliner Mittelalter- und Frühneuzeitstudien 6), Göttingen 2009, S. 241–256. 1564 Dante Alighieri, Divina comedia, Bd. 3, S. 290, 303.

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politischen Intrigen, die mitunter von der Liebe angefeuert seien, hinter deren Fassade aber die Bürger Missgunst und Unrecht auslebten. Mehr als die Liebe sei erforderlich; sie müsse in eine Ordnung eingefügt sein, die eine Ordnung der Schöpfung Gottes sei.1565 Dante thematisiert die Liebe ausführlich im Werk Convivio als Quelle der Gemeinschaftsbildung und des Erkenntnisstrebens. In dieser Schrift fehlt eine Darlegung ihrer möglichen schädlichen Auswirkungen. Weil sie Freundschaften schaffe, sei es möglich, dass in geselligem Gespräch eine gemeinsame Suche nach der Wahrheit gedeihe.1566 Die von Zuneigung hervorgerufene Interaktion erachtet Dante als die Voraussetzung der Weisheit, d. h. der Kenntnis über das eigene Selbst, die Verbindung der Menschen untereinander und ihre Position im Kosmos und in der göttlichen Schöpfungsordnung. Dante erachtet die Liebe, die zu allen und zwischen allen Menschen bestehe, als die Voraussetzung, um gerecht zu handeln, denn sie ermögliche es, dass alle an der Suche nach der Wahrheit sich beteiligen könnten.1567 So gewinne die Liebe eine politische Potenz. Die Erweiterung der Liebe setzt Dante als Antriebskraft in viele Lebensbereichen ein, wohingegen Petrarca (1304–1374) eine Generation später Liebe und Freundschaft aus dem Handlungsfeld umfangreicher Menschengruppen entfernt, ihr damit eine politische Weiterung und Nutzung vorenthält und sie einzig in kleinen exklusiven Zirkeln für realisierbar erachtet.1568 Die sozial erweiterbare Liebe bei Dante ist hingegen nicht inklusiv, sondern maximal expansiv. Denn nicht allein in menschlicher Gesellschaft entfaltet sich die Liebe. Die Liebe als allgemeine Ursache für alle Bewegungen und Regungen hat Dante Alighieri in dem letzten, das Gesamtwerk abschließenden und offensichtlich resümierenden Vers der Divina comedia auf alle natürlichen Prozesse in kosmischer Dimension ausgeweitet: L’amor che move il sole e l’atre stelle.1569 In einer neuplatonischen Vorstellung, wie sie durch Boethius dem Mittelalter vermittelt ist1570, ist die Liebe die Ursache aller Regungen, selbst der leblosen Dinge, auch auberhalb der irdischen Sphäre. Auch ein Motiv, das Aristoteles in der Metaphysik anklingen ließ, nimmt Dante – wenn auch in geänderter Bedeutung – auf: Die Vorstellung, dass der unbewegte Beweger der Bewegungen liebe und geliebt werde, wobei bei Aristoteles der erste Beweger aber 1565 Vasoli, Papato, S. 583f. 1566 Dante Alighieri, Il Convivio, hg. v. Gian Carlo Garfagnini, Rom 1997, S. 49–56; Maurer, Phylosophiae, S. 9–51, S. 36f. 1567 Dante Alighieri, Convivio, S. 325f. 1568 Petrarca, Senilium rerum libri, in: Letteratura italiana. Storia e testi, Bd. 7, S. S. 1156. 1569 Dante Alighieri, La divina commedia, S. 558; Peter Dronke, L’amor che move il sole e l’altre stelle, in: Studi Medievali 3/6 1965, S. 389–422; Imbach, Dante als Schüler, S. 67. 1570 Boethius, Consolatio, S. 36; Fabio Troncarelli, Tradizioni perdute: La consolatio philosophiae nell’Alto Medioevo, Padua 1981; Ders., Cogitatio mentis. L’eredit/ de Boezio nell’Alto Medioevo, Neapel 2005.

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unbewegt von der Liebe handelt, sondern erst die Liebe – auch ihm gegenüber – einsetzt.1571 Anders bei Dante: Die Liebe motiviert Gott zur Schöpfung aller Dinge, und die Liebe bindet die Menschen an eine universal gültige – als göttlich gekennzeichnete – Ordnung und deswegen bindet sie auch die Menschen untereinander. Die Liebe ist als umfassendes Prinzip zur Belebung aller Kreatur vorgestellt, von der auch die Herrschaft keine Ausnahme macht. Anders als Brunetto Latini erachtet Dante Alighieri die Kooperation der Mitglieder der Gesellschaft als notwendig, um das Glück der Bürger zu schaffen; es könne nicht von einem einsamen Herrscher bereitgestellt werden. Eine volle Entfaltung aller humanen Potentiale und eine Verwirklichung der intellektuellen Fähigkeiten der Menschheit und damit die Erreichung einer Glückseligkeit im diesseitigen Leben gelinge nur durch eine Kooperation der verschiedenen und verschieden begabten Personen, wie Dante im Werk Convivio ausführt. Deswegen sei es erforderlich, dass alle in Frieden lebten.1572 Diese Auffassung entfaltet er ausführlich in der genuin politiktheoretischen Schrift De monarchia, die er vermutlich im Jahre 1317 in lateinischer Sprache verfasste, nachdem seine Hoffnungen sowohl hinsichtlich einer Erneuerung der Florentiner Kommune als auch einer Wiederherstellung der Herrschaft des römischen Kaisers durch Heinrich VII. (1303–1308) gründlich enttäuscht worden waren.1573 Die Schrift, in mehr als dreißig Handschriften überliefert, bot Anknüpfungen, um aus ihr sowohl eine römisch-italienische als eine deutschimperiale Suprematie herauslesen zu können.1574 Dante aber verfolgte eine andere Absicht: Es ging ihm um die theoretische und faktische Begründung einer universalen Friedensordnung. Sie sei die Voraussetzung, die Vielheit der Befähigungen der Individuen zu einer Einheit der Erkenntnis und der gegenseitigen Unterstützung aller Individuen zu führen. Dante verändert die Konzeption, die Aristoteles hinsichtlich des Glücks entwickelt hat: Das Glück, das das philosophische Erkenntnisstreben hervorbringt, steht bei ihm nicht unvermittelt zu dem Glück, das die Tätigkeit im Staat bereitet. Dieses Glück ist nicht weniger vollkommen, so wie dies Aristoteles und die ihn kommentierenden mittelalterlichen Philosophen konzipierten, sondern ist bei Dante die Voraussetzung des Glücks, das das philosophische Nachdenken bereitet, das nur möglich ist innerhalb einer durch den Staat garantierten friedlichen Kooperation. Durch die politische Tätigkeit, wie durch jede praktische Tätigkeit partizipierten auch die 1571 Aristoteles Latinus, Bd. 25, hg. v. G. Vuillemin-Diem, Leiden u. a. 1995, S. 257, 259f. 1572 Dante Alighieri, Convivio, S. 325f. 1573 Friedrich Baethgen, Die Entstehungszeit von Dantes Monarchia (Bayerische Akademie der Wissenschaften, Phil.-hist. Kl. Sitzungsberichte 5), München 1966; Emilia Mongiello, Sulla datazione del Monarchia di Dante, in: Le parole e le idee 11 (1969), S. 290–324. 1574 Cheneval, Rezeption der Monarchia, S. 356–359.

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Laien an der Philosophie. Dante wertet die praktische Philosophie auf, weil sie die Vollkommenheit des Glücks nicht allein der philosophia speculativa überlässt, sondern sie auch der Lebensgestaltung in Haushalt und im Staat zuweist, weil ohne sie eine spekulative Philosophie nicht möglich sei. Die Philosophie ist bei Dante nicht eine Tätigkeit von wenigen Einzelnen, sondern ein Gemeinschaftswerk der Vielen, das einen Fortschritt der Erkenntnis und des Glücks in Gang setzt. Dies könne aber nur dann gelingen, wenn die Vielen friedlich ihre Fertigkeiten und Kenntnisse zusammenfügten.1575 Daher müsse eine politische Verfassung bestehen, die jedwede Konkurrenz um Herrschaft und Besitz, die Streit entfache, ausschließe. Vielmehr solle eine einzige oberste lenkende Instanz Güter und Aufgaben zuweisen und die Verteilung nicht einem Kampf der konkurrierenden Individuen überlassen. Die menschliche Gattung erhalte sich dann in ihrem besten Zustand, wenn sie von einem einzigen Herrscher geleitet werde, so wie die Gesamtheit allen Seins von einem einzigen Beweger gelenkt werde.1576 Diese Auffassung zu begründen, ist das Ziel des Traktates De monarchia. Dante scheint der Überzeugung von Engelbert von Admont hinsichtlich der Notwendigkeit einer Universalmonarchie nahe zu stehen, die dieser wenige Jahre zuvor in seiner Schrift De ortu et fine Romani imperii ausgeführt hat.1577 Dante geht es aber anders als Engelbert nicht um die Wiederherstellung einer verlorenen Machtstellung des mittelalterlichen Imperiums, dessen Bedeutungsverlust ja auch schon der deutsche Kleriker Alexander von Roes († ca. 1300) beklagt hat1578, vielmehr um eine theoretische Begründung einer künftigen Weltmonarchie, deren Bezeichnung als römisch nicht als historische Reminiszenz eingeführt ist, vielmehr zur Begründung ihrer Existenznotwendigkeit in der Gegenwart in der Weise beiträgt, dass Dante den Bewohnern der Stadt Rom – nicht den Kaisern aus Deutschland – die edelsten Eigenschaften unter den Menschen zuweist. Meist verwendet Dante die terminologische Neuschöpfung monarcha statt imperator für den Universalherrscher. Erstaunlicherweise verzichtet Dante auf eine Definition der Kompetenzen des Kaisers, konkretisiert nicht sein Handeln. Die letztlich unbewegte Existenz begründet Frieden und Gerechtigkeit.1579 Dante verzichtet auch, wenn er die institutionelle Verfassung und ihre Berechtigung erläutert, darauf, die historischen Ursprünge und Ansprüche der Kaiserherrschaft zu benennen, verweist auch nicht auf aktuelle Ereignisse, wie 1575 Dante Alighieri, Monarchia, S. 241–503, S. 294–298; Miethke, De potestate, S. 158; Imbach, Laien, 66–71, 132–142. 1576 Dante Alighieri, Monarchia, S. 321–324. 1577 Engelbert von Admont, De ortu. 1578 Alexander von Roes, Memoriale de prerogativa Romani imperii, hg. v. Herbert Grundmann, Hermann Heimpel, in: MGH Staatsschr. 1,1, Stuttgart 1958, S. 91–148, S. 104. 1579 Peter Brokmeier, Zur Legitimation von Herrschaft bei Dante Alighieri, in: Gewalt, S 248– 265.

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etwa auf die Kaiserkrönung Heinrichs VII.1580 Nur hinsichtlich des ethischen Substrates der Weltmonarchie thematisiert er das Römertum mit seinen antiken Wurzeln. Die Weltmonarchie ist eindeutig nicht das Ergebnis aggressiver Machtpolitik, sie ist nicht im eigentlichen Sinne imperial, im Gegenteil, sie beruht auf harmonischer Kooperation. Sie zielt nicht auf Gewalt, sondern auf freiwillige Gemeinschaft.1581 Dante entfaltet eine an die aristotelische Politik angelehnte systematische, nicht historische Untersuchung, die, ausgehend von anthropologischen, ja letztlich kosmologischen Voraussetzungen, die Einheit aller Menschen in einem einzigen politischen Verband begründet.1582 Dante erörtert folgerichtig in seinem Werk De Monarchia die auf die Consolatio philosophiae von Boethius beruhende und in der Comedia divina an prominenter Stelle platzierte Vorstellung, dass die Liebe (amor) das Menschengeschlecht lenken solle, so wie sie den Himmel lenke.1583 Eingedenk der Mahnung Dantes, nicht das erneut zu beweisen, was bereits andere getan haben1584, soll nun im Folgenden allein die Wirkung der Liebe auf die Herrschaftsverfassung vorgestellt werden. Die Liebe nimmt in der Argumentation einen prominenten Rang ein, denn sie ist es, die die Weltgemeinschaft aller Menschen gebiert und die diese fördert. Der Begriff amor wird von Dante sogar an den Anfang seines Werkes gestellt.1585 Nicht den Ursprung der Liebe, aber ihre Analogie sieht Dante in der Familie, welche dazu bestimmt sei, für die Zeugung von Kindern zu sorgen und das Menschengeschlecht fortzupflanzen und darin Gott gleiche, der die Welt kreiert und damit Gutes hervorgebracht habe, weil er aus Liebe gehandelt habe und die Liebe zu seinen Geschöpfen suche. Die Menschen seien dazu berufen, Gott ähnlich zu werden, indem sie ebenfalls Lebewesen zur Existenz bringen, also Demiurgen einer Nachkommenschaft werden. Sie sollten das Werk von Gott auch dadurch nachahmen, indem sie die Menschen in eine Einheit überführten, was nur dann möglich sei, wenn alle einem einzigen Herrscher unterworfen

1580 Dante sah offensichtlich seine exaltierten Erwartungen an ein Endkaisertum in der Gestalt von Heinrich VII. enttäuscht, wie er sie in mehreren Briefen geäußert hatte; Maurer, Phylosophiae, S. 41. 1581 Dante Alighieri, Monarchia, S. 272–374. 1582 Francesco Ercole, Il pensiero politico di Dante, 2 Bde., Mailand 1926–28; Cesare Vasoli, La pace nel pensioro filosofico e teologici-politico da Dante a Ockam, in: La pace nel pesniero, nelle politica, negli ideali del Trecento, Rimini 1975, S. 29–43; Ders., Filosofia e politica in Dante tra Convivio e Monarchia,in: Letture Classiensi 9–10 (1982), S. 11–37; Comoth, Pax, S. 341–350; Larry Peterman, Dante’s Monarchia and Aristotle’s Political Thought, in: Studies in Medieval and Renaissance History 10 (1973), S. 3–40; Peter Herde, Dante als Sozialphilosoph, in: Rechts- und Sozialphilosophie S. 83–102. 1583 Dante Alighieri, Monarchia, S. 324. 1584 Ebda., S. 282. 1585 Ebda., S. 280.

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seien.1586 Damit dessen Herrschaft aber ihre wahre Bestimmung erlange, die darin bestehe, für das Einswerden des Menschengeschlechts – es gilt als Voraussetzung für den Frieden – zu sorgen, erachtet Dante die Liebe als notwendig. So würden die Monarchen und ihre Untertanen eng verbunden und dazu befähigt, gerecht zu befehlen, bzw. gerechten Dienst zu leisten. Keine Begierde nach persönlichem Gewinn solle den Weltherrscher antreiben; dies könne auch gar nicht anders sein, weil dessen Herrschaft nicht mehr weiter ausgedehnt werden könne, sie an keine Grenzen konkurrierender Herrscher stoße, in keinen Streit mit Gegnern verwickelt werde. Wie anders sei dies bei den zeitgenössischen Königen und Fürsten, die die Beschränkung ihrer Macht schmerzlich empfänden und die Macht, ausgeübt von anderen Herrschern, fürchteten, so wie der König von Kastilien die des Königs von Aragjn, mit der Folge dass alle Herrscher durch Ehrgeiz und Gier zur Machterweiterung angestachelt würden.1587 Weil für den Weltkaiser keine Gelegenheit bestehe, Gewinn anzustreben und Aggressionen zu verüben, sei er nicht einmal mehr darauf angewiesen, seine Begierden durch Tugenden zu zügeln. Es sei die unbegrenzte Macht, die die Gerechtigkeit hervorbringe.1588 Die Weltherrschaft ist nicht nur territorial uneingeschränkt, sondern auch hinsichtlich ihrer Ausübung. Dante begründet dies mit der Wirkung der Liebe, der keine Grenzen gesetzt seien. Ihre volle Entfaltung fordert er, was sich mit keiner Minderung und Verkleinerung verträgt. Weder Liebe noch Herrschaft sind geschmälert. Dante führt aus, dass die Liebe nicht aus der Moral entstehe, sondern aus einer kosmologischen, anthropologischen und zugleich politischen Konfigurierung erwachse. Um sie zur Entfaltung zu bringen, brauche es daher nicht der Belehrung des Herrschers, sondern seiner Ausstattung mit unbegrenzter Machtfülle. Deswegen müsse ausgeschlossen sein, dass die Kirche ihm eine Schranke setze, wie dies zu seiner Zeit geschehe. Die Kirche sei in Wahrheit nicht fähig, die Liebe in die politische Ordnung einzuführen.1589 Weder Gerechtigkeit noch Liebe sind hier als Tugenden vorgestellt, die der Herrscher durch seine persönlichen Eigenschaften und durch seine Anstrengungen erringt oder erringen muss und die folglich auch gar nicht erst durch eine Anleitung im Stile eines Fürstenspiegels erworben werden können. Vielmehr sind Liebe und Gerechtigkeit in den konstitutionellen – Dante nennt sie habituelle – Bedingungen, angelegt, die aus einer allgemeiner Ordnung der Welt erwachsen. Dante verknüpft Liebe und Weltherrscher nicht in der Weise, dass dieser kraft seiner charakterlichen Eigenschaften liebt oder geliebt wird, son1586 1587 1588 1589

Ebda., S. 318–320. Ebda., S. 338–340. Ebda., S. 327–347. Mary Elizabeth Sullivan, Justice, Tempation, and The Limits of Princely Virtue in Dante’s Conception of the Monarch, in: Princely Virtues, S. 125–138, S. 133–135.

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dern Dante wählt die Formulierung, dass dem Monarchen die Liebe innewohnen muss – inesse debeat.1590 Damit ist die Liebe nicht Akzidenz oder Aktivität des Herrschers, sondern ihm essentiell zugewiesen, aber gleichwohl doch nicht automatisch vorhanden, sondern als Gebot auferlegt, daher der Ausdruck des Müssens und die grammatikalische Form des Konjunktivs. Wie aber die Pflicht auferlegt wird und von wem, schreibt Dante nicht. Es ist dann doch wohl die politische Konstellation der konkurrenzlosen Alleinherrschaft, die die Liebe hervorbringt. Dem von Dante vorgestellten Weltherrscher stehen die Menschen näher als den zeitgenössischen Herrschern, da er am meisten von den Menschen, die nichts vor ihm zu befürchten hätten, geliebt werde und er sie liebe. Allein der universale Monarch trete zu den Menschen in ihrer Gesamtheit in Relation, die Teilherrscher indes nur zu einem Teil der Menschheit. Die Liebe als universal wirkende Kraft könne folglich nur durch den Weltkaiser in die politische Ordnung hineingetragen werden. Der Weltherrscher vermehre die Liebe, übermittele sie den von ihm eingesetzten Beauftragten und trage sie zu seinen Untertanen, d. h. zu allen Menschen. Die Liebe überwindet Nahbeziehungen, sie ist hinsichtlich der irdischen Angelegenheit maximal ausgedehnt, was gelingen soll, indem Dante bewirkende Zwischenglieder – vom Weltkaiser zu jedem Individuum – einfügt. Dante verleiht der Liebe einen göttlichen, kosmisch vorhandenen Ursprung und lässt sie in das Zusammenleben der Menschen eindringen, und dies kraft des Herrschers und der von ihm eingesetzten Beauftragten, ausdrücklich aber nicht der Geistlichen. Da er den Weltherrscher als erste Ursache der Liebe in den weltlichen Angelegenheiten vorstellt, ist seine Tätigkeit der Vollzug einer Liebe, die seinem Wesen und all seinem Handeln innewohnt. Die unbegrenzte Kompetenz des Monarchen findet ihre Entsprechung in der umfassenden, alle menschlichen Beziehungen einschließenden Liebe, die er bewirkt und die er zu empfangen berechtigt ist.1591 Dante formuliert, dass die Ursache ihre Folge liebe, womit die Liebe aus den menschlichen Regungen und Handlungen herausgehoben wird und zu abstrakter Wirkung gelangt und Teil einer belebten wie unbelebten Weltordnung wird und sogar in logische Relationen einfließt. Liebe könne gleichwohl in den Beziehungen zwischen den Menschen verfehlt werden, und – so sieht es Dante – verfehle sie tatsächlich, weil die zeitgenössische Konstellation der Mächte ihrer Entfaltung im Wege stehe, weswegen sie geändert werden müsse, um sie in eine globale Geltung des Friedens zu überführen. Statt Liebe bestünden tatsächlich in seiner Gegenwart Furcht und Schrecken. Diese seien der Natur des Menschen entgegengestellt, verhinderten seine Tugenden. Für Dante sind Furcht und Schrecken keine Mittel, um vor dem schlechten Tun abzuhalten, und noch we1590 Dante Alighieri, Monarchia, S. 342–344. 1591 Ebda., S. 344–346.

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niger, um ein Gutes zu schaffen. Furcht und Schrecken führten stattdessen zur Unordnung der Welt. Diese Unordnung gelte es zu beenden und sie in eine einheitliche Ordnung zu überführen. Wie diese Umwandlung geschehen soll, erklärt Dante nicht. Er erklärt nur die Position, die der Einzelherrscher der Welt einnehmen werde, sobald die Weltmonarchie installiert sei. Fest steht aber : Die Verbesserung des Menschengeschlechts sei das Werk des Menschengeschlechts selbst. Der Herrscher trage zum Erfolg insofern bei, als er die politische Voraussetzung schaffe, d. h. den Frieden durchsetze, damit eine Koordination der Menschen zur Steigerung ihrer Fähigkeiten, ihres Wissens und ihres Glücks möglich werde. Liebe führt zur harmonischen Ordnung, und sie entsteht aus ihr. Das politische Ideal, das Dante entwirft, scheint realitätsfremd zu sein und dies allein dadurch, dass keine politischen Maßnahmen zur Erreichung der Weltmonarchie vorgesehen sind. Dante löst das Problem, indem er davon ausgeht, dass die Liebe umfassend die gesamte Schöpfung forme und daher auch das Zusammenleben der Menschen gestalte. Dante erwähnt an vielen Stellen seines Werke De monarchia die Liebe, die natürlich wirke wie die Sonne und das Licht.1592 Sowohl die Liebe zur Wahrheit als auch zur Freiheit trieben zum opferungsvollen Dienst für das Vaterland an, selbst wenn der Tod hingenommen werde.1593 Weil die Einheit zur Vielheit verströme und indem sie auf diese Weise Wirkung erlange, verwirkliche sie sich im Handeln der Menschen, die aber wegen ihrer Vielheit wieder an die Einheit angebunden werden müssten. Dante setzt die Bürger als rationale Akteure voraus, die nach der Steigerung ihres persönlichen Glücks strebten, indem sie ihrer Existenz Wertigkeit gäben und aus ihr Bedeutung hervorgehen ließen. Mit Bedeutung meint Dante die Erweiterung der Kenntnisse und deren Anwendungen. Weil nur durch Zusammenarbeit dieses Vorhaben gelinge, seien die Menschen in Liebe verbunden. Diese Liebe, die in der politischen Organisation wirken solle, sei durch Gott in Kraft gesetzt, verlange aber zu ihrer Verwirklichung einen weltlichen Herrscher, der, damit die Liebe im Staat vollkommen werde, auch eine vollkommene Macht besitze. Die Gesetze brächten die Macht zur Geltung. So lenke der Wille, der auf das Eine hinführe, den Willen der vielen Untertanen. Dieser Wille, in der Person des Herrschers der gesamten Welt konzentriert, stoße die Bewegung an, die mehrere Willen zusammenführe und zu einem Willen mache. Die Eintracht, concordia, aufzurichten, gelinge, sofern nur die politische Voraussetzung, nämlich die Herrschaft eines Herrschers über die gesamte Welt, hergestellt sei.1594 1592 Ebda., S. 308–310. 1593 Ebda., S. 380, 392–394. 1594 Ebda., S. 358–362; Comoth, Pax, S. 346f.; Gianfranco Fioravanti, Dossografie filosofiche nel Convivo di Dante, in: L’Antichit/ classica nel pensiero medievale, hg. v. Alessandro Palazzo (Textes et 8tudes du moyen .ge 61), Porto 2011, S. 253–266, S. 258f., 262f.

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Die Vorstellung von Dante war wirkmächtig in der Weise, dass sie ein Ideal friedlicher politischer Beziehungen formte; indessen zeigt die Rezeptionsgeschichte, dass andere Themen zustimmend oder ablehnend behandelt wurden, nämlich die Positionierung der Kirche und später im Mittelalter die Debatten zu nationalen Vorrangstellungen in Italien und Deutschland.1595 Die schöpferische Wirkung des Weltherrschers und das Regiment der Liebe und insbesondere die Auffassung Dantes, dass die Kirche die umfassende Harmonie auf Erden nicht errichten könne, trafen sofort auf Kritik. Der italienische Dominikaner Guido Vernani († 1344), Theologe und Bruder des Konventes in Bologna, griff die Auffassungen von Dante zur Geltung geistlicher und päpstlicher Gewalt an, insistierte auf der Begründung der politischen weltlichen Macht durch die Beauftragung der Päpste, stützte also die in der Bulle Unam Santam von Papst Bonifaz VIII. im Jahre 1302 verkündete und von Aegidius Romanus theoretisch ausführlich dargelegte Steigerung des päpstlichen Machtanspruchs, der jede andere Gewalt untertan sein müsse. Auch Guido schrieb 1327 eine Abhandlung zur Verteidigung der päpstlichen Macht. Kurz danach verfasste er die Schrift, die ausdrücklich das Werk von Dante zur Weltmonarchie kritisierte und als häretisch bezeichnete: De reprobatione Monarchia composita a Dante. Guido will darin auch die Konzeption Dantes zur Liebe widerlegen. Die Begründung in dessen Werk zur Weltmonarchie ist in den Augen Guidos allein deswegen schon häretisch, weil der Kosmos nicht durch die Liebe beseelt und belebt werde und die Liebe deswegen auch keine einheitliche politische Weltordnung verlange. Die Liebe werde nicht im Leben der Bürger im Staat, sondern im Leben der Christen unter der Anleitung der Geistlichen verwirklicht. Weltliche Herrschaft sei nicht durch Liebe bewirkt, und sie bewirke die Liebe nicht. Eine unmittelbare Einsetzung weltherrschaftlicher Legitimität durch eine in der Natur der Schöpfung angelegte Kraft, die der Liebe, schließt Guido aus, vielmehr müsse die weltliche Herrschaft von der geistlichen eingesetzt werden, weil nur letztere befähigt sei, die Liebe zwischen den Menschen einzupflanzen. Die Natur der Schöpfung habe nur politische Relevanz, sofern Guido den Schöpfungsakt als Präfiguration einer Einsetzungsmacht weltlicher Herrschaft durch den Papst ansieht.1596 Behauptet Dante Alighieri die grenzenlose Geltung der Liebe und die Möglichkeit, sie auch politisch zu realisieren, meint Guido Vernani, dass Herrschaft nur dann liebend 1595 Cheneval, Rezeption der Monarchia; Hirschi, Wettkampf, S. 178f. 1596 Nevio Matteini, Il piF antico oppositore politico di Dante. Guido Vernani da Rimini. Testo critico del De reprobatione monachiae (Il pensiero mediovale 1,6), Padua 1958; neue Edition mit ausführlicher Einleitung: Gudio Vernani, De reprobatione Monarchie, in: Dante, Opere, Bd. 4: hg. v. Paolo Chiesa, Andrea Tabarroni, Rom 2013, S. 318–389; zum Autor und dem argumentativen Kontext: Luciano Cova, Il libere de virtutibus de Guido Vernani di Rimini. Une rivisatazione trecentesca dell’etica tomista, Turnhout 2011, S. 53– 74.

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agiere, wenn sie von den Geistlichen verliehen sei und die Herrscher von ihnen angeleitet seien. Begründet Dante die Liebe durch die Ordnung der Welt, also durch die Schöpfung Gottes am Beginn aller Zeiten, so sieht Guido Liebe als Wirkung der Gnade Gottes an, die den Einzelnen gewährt werde. Aus einer solchen Liebe erwächst keine Herrschaft.

8.

Liebe, Zwang und Recht: Marsilius von Padua

Nicht auf kosmologische Ordnungen verweisend, sondern inhärent politisch argumentierte Marsilius von Padua († 1343), der ebenfalls aus dem kommunalen Milieu entstammte, seine politischen Konzepte aber gleichfalls aus diesem Milieu herausführte und eine Begründung jeder Form der weltlichen Herrschaft vorstellte. Anders als Dante erfuhr er eine universitäre Ausbildung, zunächst in seiner Heimatstadt Padua, dann in Paris. Nachdem er sein Hauptwerk, den politischen Traktat Defensor pacis, 1326 veröffentlicht und dabei die Machtposition des Papstes grundlegend angriffen hatte, erfolgte prompt die Exkommunikation und die Anklage wegen Häresie. Er floh zum römischen König Ludwig den Bayer, der in erbitterten Kämpfen mit Papst Johannes XXII. verstrickt war. Er war bei dessen Kaiserkrönung in Rom am 17. Januar 1328 anwesend, die durch ein irreguläres Prozedere und eine ebenso ungewöhnliche Liturgie geschah – es war das Volk und der Klerus der Stadt Rom, nicht der Papst, die die Erhebung zum Kaiser vollzogen.1597 Ob und in welcher Weise Marsilius als politischer Ratgeber Kaiser Ludwigs des Bayern, gerade auch bei der Gestaltung der Erhebung zum Kaiser angesehen werden kann, ist bis heute in der Forschung umstritten. Unstrittig ist hingegen seine weitreichende Wirkung in der politischen Theorie, die allein schon durch die breite handschriftliche Verbreitung seines Hauptwerkes erwiesen ist.1598 Ohne hier seine Auffassung in extenso präsentieren zu wollen, soll untersucht werden, in welcher Weise Marsilius die Liebe in das politische Handeln und in die politische Verfassung einführt, bzw. aus ihnen aussondert. Marsilius konzentriert seine Darlegung auf die politische Verfassung, verzichtet darauf, die 1597 Vasoli, Papato, S. 590f.; Miethke, Politiktheorie, S. 209–211; Vasileios Syros, Rezeption; Ders., Marsilius von Padua at the Intersection of Ancient and Medieval Tradition of Political Thought, Toronto u.a 2012. 1598 Jürgen Miethke, Marsilius und Ockham. Publikum und Leser ihrer politischen Schriften im späten Mittelalter, in: Marsilio da Padova, S. 543–568, S. 549–565; zusammenfassende Darstellung der jüngeren Forschung zur Frage der politischen Ratgeberfunktion von Marsilius: Frank Godthardt, The Philosopher as Political Actor – Marsilius of Padua at the Court of Ludwig the Bavarian: The Sources Revisted, in: The World of Marsilius of Padua, S. 29–46.

Liebe, Zwang und Recht: Marsilius von Padua

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Liebe als Gestalterin der gesamten Schöpfung und damit als Ursache auch der Herrschaft vorzusehen. Der Staat, als civitas bezeichnet, die die universitas civium forme, aber auch als regnum benannt ist, stehe unter der Leitung eines Monarchen.1599 Diese Leitung verleihe dem Staat seine Berechtigung. Die Verteidigung des Friedens ist das bereits im Titel des Werkes vorgestellte Thema von Marsilius von Padua, der aber nun anders als Dante keinen harmonisierenden Einklang der durch die Liebe miteinander verbundenen Menschen voraussetzt und folglich keine konkurrenzfreie weltweite Herrschaft vorsieht, schon gar nicht eine kosmologische Liebe als Grund des politischen Zusammenhalts voraussetzt, sondern die Gesetzgebung und die durch die Gesetze eingesetzte zwingende Gewalt als Gründe für die Entfaltung von Liebe und Eintracht in den jeweiligen Staaten erachtet. Marsilius definiert den Begriff »Gesetz« (lex) in seiner ersten Bedeutung ausdrücklich als eine Bewirkung von Gefühlen und den von ihnen geformten Handlungen. Das Gesetz meint inclinationem sensitivam ac accionem aut passionem aliquam.1600 Diese Bewirkung ist nicht bestimmt von der Qualität der Gesetze und des Zwanges; entscheidend ist die pure Existenz von beiden. Deswegen ist es für Marsilius unerheblich, ob die zwingende Gewalt monarchisch oder kollegial ausgeübt wird. Die potestas coactiva, die durch die Gesetze vorgesehen sei, schütze, so Marsilius, den Frieden und dies selbst dann, wenn der Inhalt der Gesetze unvernünftig, ja sogar ungerecht wäre, da die Einrichtung und die Befolgung der Gesetze an sich bereits der Vernunft angemessen seien, sofern sie das Ziel, den Frieden zu wahren, erreichten. Die Liebe ist bei Marsilius ebenfalls das Ergebnis der zwingenden Gewalt, die in der Schaffung und Anwendung der Gesetze verwirklicht ist.1601 Die naturrechtliche Anbindung der Gesetze ist bei Marsilius nur schwach ausgeprägt; Gesetzte sind in erster Linie das Resultat des politischen Handelns. Anders als bei Aristoteles reagiert die Formierung der Gesellschaft und des Staates nicht auf ein anthropologisches Defizit, sondern folgt einer durch einen Willensakt hervorgegangenen Gründung, die intentional Neues schafft, um Verbesserungen für das Leben zu erzielen.1602 Die Selbstwirksamkeit menschlichen Tuns steht am Anfang des Staates. Seine Einrichtung ist für ihn eine Tat der Freiheit. Bindungen an einen unvorgreiflichen Grund fehlen. Anders als Thomas von Aquin weist er daher eine natürlich angelegte Selbstevidenz des geltenden Naturrechts zurück. Natürlich angelegt ist allein der vernunftgeleitete Wille zur Schaffung des Staates und zur Durchsetzung der Gesetze. Dies geschieht durch einen impetus natu1599 Enrico Berti, Il regnum di Marsilio tra la polis aristotelica e lo Stato moderno, in: Marsilio da Padova, S. 165–182, S. 165–167. 1600 Marsilius de Padua, Defensor, S. 48. 1601 Ebda., S. 49f. 1602 Jürgen Miethke, Marsilius von Padua und Wilhelm von Ockham. Klassiker der Politiktheorie des 14. Jahrhunderts, in: Philosophie, Politik und Religion, S. 67–89, S. 73.

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ralis, also durch eine jedem vernunftbegabten Menschen innewohnende und von ihm gebrauchte Befähigung.1603 Marsilius sieht neben Strafe und Belohnung wirksamere Mittel vor, um die Geltung der Gesetze zu erhalten: die freiwillige Unterwerfung. Daher sei es günstig, dass die dem Gesetz Unterworfenen an der Gesetzgebung mitwirkten. Wenn die Gesamtheit der Bürger – universitas civium – oder doch zumindest ihr gewichtigerer Teil die Gesetzgebung ausübe, könne es gelingen, dass durch die Selbstbindung aller die Normen befolgt würden.1604 Je größer der Teil derjenigen, die an der Gesetzgebung beteiligt seien, sei, desto größer sei die Akzeptanz und desto mehr sei die zwingende Gewalt davor gefeit, ein Instrument eines Tyrannen zu werden, der den Zwang zu seinem eigenen Vorteil durch Drohung und Schrecken ausübte.1605 Die geordnete Kooperation der Bürger schwäche die Herrschaft des Mächtigen, stärke aber den Staat. Auch wenn Marsilius den Kaiser als alleinigen Gesetzgeber für möglich erachtet, so sei es doch besser, eine große Menge an der Gesetzgebung zu beteiligen.1606 Der Schrecken stehe jedenfalls im Dienst der vielen, nicht des einen Mächtigen. Durch die Beteiligung vieler an der Schaffung der Gesetze werde die Freiheit ermöglicht, die Marsilius offensichtlich als Einsicht in die Notwendigkeit des Gesetzesvollzuges ansieht – begründet durch prudencia et intellectu.1607 Die Freiheit verhindere also keineswegs den Zwang, den Marsilius als unerlässlich vorsieht, sofern es an der Einsicht mangele. Aber auch der Zwang sei das Ergebnis des Konsenses der dem Gesetz Unterworfenen und ermögliche eine gleichförmige Anwendung der Gesetze, so dass willkürliche Entscheide abgewendet würden, was Marsilius als die Voraussetzung für die Gerechtigkeit erachtet. Der Starre in der Wirkung und Befolgung der Gesetze gegenüber den Bürgern stehe, so Marsilius, aber nicht die Anpassungsfähigkeit der Gesetze an geänderte zeitliche Umstände entgegen und verhindere nicht legislative Innovationen. Den Vorrang der institutionellen Verfahren gegenüber den persönlichen Machtentscheidungen gelte es aber stets zu wahren. Statt einer Person gehorchten die Bürger bereitwilliger den Gesetzen, 1603 Ghisalberti, Sulla legge naturale, S. 313; Piero di Vona, I principi del Defensor pacis, Neapel 1974, S. 59–66,96–100, 272–279; Anthony J. Lisska, Aquina’s Theory of Natural Law, An Analytic Reconstruction, Oxford 1996, S. 156f.; Holly Hamilton-Bleakley, Marsilius of Padua’s Conception of Natural Law Revisisted, in: The World of Marsilius of Padua, S. 127–142; trotz der hier angekündigten Revision bestehender Auffassung, ist die Schlussfolgerung doch diejenige, dass das positive Recht gegenüber dem Naturrecht vorrangig sei und lediglich im Prozess seiner Schaffung der naturrechtlich relevanen Vernunft zu folgen habe; es gebe also keinen materiellen, sondern einen prozeduralen Nexus. 1604 Ebda., S. 44, 65; Tilmann Struve, Die Rolle des Gesetzes im Defensor pacis des Marsilius von Padua, in: Marsilio da Padova, S. 355–378. 1605 Marsilius de Padua, Defensor, S. 44. 1606 Canning, Power, S. 217f. 1607 Marsilius de Padua, Defensor S. 49–51.

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weil sie die Gewissheit – oder zumindest die Zuversicht – hätten, diese selbst und zu ihrem Nutzen beschlossen zu haben. Zwang und Strafe verbreiteten zwar Schrecken, und dies müsse so sein, aber dieser sei rechtlich gebändigt, vor Willkür gefeit, vielmehr regelhaft begründet und zur Verwirklichung der Regeln intendiert.1608 Die polemische Stoßrichtung des Werkes Defensor pacis richtet sich gegen diejenigen, die die Geltung der Gesetze behindern oder deren Intention umkehren würden, nämlich den Frieden zu erhalten, welcher die Voraussetzung für das gute Leben der Bürger bilde. Die Gegner des Friedens sind deutlich benannt: die Päpste. Ihr Anspruch auf weltliche Herrschaft führe einen Fremdkörper in den politischen Verband ein, könne keine Legitimität beanspruchen und müsse wie eine Krankheit ausgemerzt werden. Bekanntlich hat die anti-päpstliche Argumentation und die von Marsilius vorgesehene Kontrolle der geistlichen Institutionen durch laikale Herrscher die Aufmerksamkeit der Zeitgenossen auf sich gezogen, zur Verurteilung seines Werkes als häretisch geführt und auch die Forschung auf das Verhältnis von Staat und Kirche fokussiert.1609 Hier soll indes der Einsatz von Schrecken und von Liebe untersucht werden. Möge auch der Schrecken die Durchsetzung der Gesetze gewährleisten, die Schaffung der Gesetze solle frei von Furcht und Schrecken erfolgen. Darin bestehe die Freiheit der Bürger, die sich keinem fremden Willen unterwürfen.1610 Die prozedurale Ordnung, die sich in der Entstehung von Gesetzen und deren Geltung vollzieht, beruht zwar nach Marsilius auf einem Konsens, der dank der gemeinschaftlichen Gefühle der Zuneigung unter den Bürgern aktiviert wird, aber allein auch schon dank der Illusion einer Selbstwirksamkeit der Bürger entsteht, also mehr durch Einschätzungen als durch Taten begründet ist. Die Geltung der bestehenden Handlungsnormen kann folglich auch ohne eine emotionale Beziehungen zwischen den Bürgern gelingen, wird aber zumindest durch eine Illusion der Zuneigung gesteigert. Liebe formt nicht den Staat, aber Liebe unterstützt sein Funktionieren. Nur die Kooperation der Bürger begründet die zwingende Gewalt des staatlichen Handelns, wohingegen Marsilius die Zuneigung oder gar Freundschaft zwischen den Bürgern nicht als Ursache ansieht und nicht zwingend voraussetzt. Die Argumentation verlässt hier deutlich die von Aristoteles tradierte Auffassung, für den ohne einen Gleichklang freundschaftlicher Bindungen, ohne eine emotionale Nähe ein Staat nicht gedeihen 1608 Ebda., S. 67; zur Einbindung des Herrschers in die Ordnung der Gesetze: Canning, Power, S. 213. 1609 Miethke, De potestate, S. 204–247; dort weitere Literatur ; Thomas Turley, Papal Responses to the Defensor Pacis, in: World of Marsilius of Padua, S. 47–64; Frank Godthardt, Marsilius von Padua als politische Herausforderung für Johannes XXII., in: Papst Johannes XXII., S. 75–116. 1610 Marsilius de Padua, Defensor, S. 72.

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kann. Ja, Liebe gilt für Marsilius mitunter als gefährlich im politischen Verband und insbesondere für den Vollzug der Gesetze, da sie, wie er schreibt, das Urteil der Richter beeinflusse, Freunde begünstige und Fremde benachteilige. Im Staat sei Liebe nicht anders als Hass und Habgier eine unangemessene Emotion, die es zu vermeiden gelte. Sie führe dazu, dass das Urteil der Menschen in die Irre geleitet werde. Was Marsilius allein vorsieht, ist der Automatismus bei der Anwendung der Gesetze. Nicht auf die Einsicht der Einzelnen komme es an, sondern auf die Geltung der allgemeinen Verfügung, die die Gesamtheit der Bürger beschlossen hat oder von ihr abgeleitet vorgestellt ist und für die Gesamtheit gilt. Dem Ermessen eines Herrschers oder Richters sei, so Marsilius, zu misstrauen, umso mehr, wenn sie von Emotionen verführt würden, von den allgemeinen Regeln abzuweichen.1611 Marsilius kann selbst für den Fall, dass ein vorbildlicher Herrscher regiert, in dessen Emotionen keine günstige Auswirkung auf die Lenkung der politischen Angelegenheiten sehen, denn selbst dann führen sie zu Unbeständigkeit und Willkür.1612 Lediglich als Mittel der Einwirkung der Gesetze, nicht aber als deren Ursache verleiht Marsilius den Emotionen eine Berechtigung. Damit entfällt auch die politische Wirkung von Freundschaften im Staat, die ganz in den privaten Bereich eingepfercht sein müssen. Marsilius meint, dass die Emotionen durchweg kontrolliert und bei Bedarf korrigiert werden müssten, was er als die Aufgabe der Priester ansieht, die – freilich ohne Zwangsgewalt in den weltlichen Angelegenheiten – durch ihre Ermahnungen zu guten Taten anregen sollten, indem sie mit der Aussicht auf Belohnung im Jenseits und mit der Furcht vor Gott die Menschen auch zum guten Regieren motivierten. Aber auch die Geistlichen wecken nicht die Liebe, die als Movens des guten Tuns eingesetzt ist; auch sie operieren mit einer Sanktionierung, die für das Jenseits angedroht wird und dem Vollzug der irdischen Ordnung dient.1613 Anders als Thomas von Aquin, der die eventuellen Verfehlungen des Königs nur durch Beratung einzudämmen empfiehlt, und in schroffem Gegensatz zu Aegidius Romanus, der emotionale Regungen mehr als gesetzliche Regelungen als Garanten der guten Regierung erachtet, setzt Marsilius auf emotionsarme rechtliche Verfahren. Dass diese Marsilius mit der Natur des Menschen begründet, führt nicht dazu, diese Natur näher zu erörtern, so dass sich Marsilius mit dem ausführlich dargestellten und nachdrücklichen Verweis auf den menschlichen Mangel und seine corruptio beschränkt, denen mittels der politischen Institutionen abgeholfen werden müsse. Auf der Natur des Menschen beruhe zwar der Staat, aber in der Weise, dass die Natur unvollkommen sei und 1611 Ebda., S. 54–58. 1612 Ebda., S. 67f., 122. 1613 Ebda., S. 34.

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der Kompensation ihrer Defizite bedürfe. Dazu sei die natürlich angelegte Vernunft bestimmt. Die scientia naturae decke die Gebrechen des Menschen auf, die die verschiedenen artes heilen müssten, so Marsilius. Sie sollten der Natur die Vernunft auferlegen.1614 Nicht der Begriff des impetus secundum naturae, der in der mittelalterlichen Rezeption der politischen Theorie des Aristoteles als Entstehungsgrund sozialer Vereinigung eingeführt ist, dient Marsilius zur Begründung staatlichen Handelns, sondern eine communicatio ad invicem, so dass keine individuelle Motivierung des Handelns angeboten wird, sondern aus der kollektiven Interaktion das Gute der politischen Ordnung entspringt. Die Erfahrung, die eine Vielzahl der Menschen macht, vervollkommnet nach seiner Auffassung die Fertigkeiten. Dies gelinge, weil es unterschiedliche Tätigkeiten von unterschiedlichen Gruppen von Menschen gebe, die in ihrer Summe dazu beitrügen, das Leben zu verbessern. Die Kooperation entspringt nicht der Liebe, sondern der Gemeinsamkeit der Anliegen.1615 Trotz der ausgiebigen Zitationen aus der Schrift des Aristoteles zur Politik erweist sich Marsilius als eigenständiger Theoretiker, der zwischen Natur und Staat deutliche Grenzen einzieht. Die Kompensation der natürlichen Mängel leisten die vernunftgeleiteten Gesetze.1616 Die Natur hält Marsilius hingegen für ungeeignet, durch sich selbst Gutes zu vollbringen. Die letztlich »pessimistische« Sicht von Marsilius auf den Menschen – so Jürgen Miethke1617 – schließt spontane Zuwendung und friedliche Beziehung zwar nicht aus, stellt sie aber abseits der politischen Verfassung und ihrer Verfahren. Das vollkommene Gesetz macht sogar die Liebe überflüssig, so wie das Gesetz Hass und Einschüchterung durch Schrecken ausschließt. Das allgemeine Wohl wird anders erreicht; es entsteht aus den Interessen der Individuen, die, um sie zu einer Einheit zusammenzuführen, durch das Gesetz koordiniert werden. Ja, Marsilius rückt Gefühle, wie Liebe, Hass oder Gier, dicht an Perversionen, die eine geordnete Verfassung ausschließen, weil sie vernünftiges Urteilen verhindern.1618 Aus der Natur des Menschen leitet sich eine kollektive Konstitution ab, nicht eine personale Disposition. Da Emotionen ausschließlich in den Individuen angelegt sind, können sie nicht institutionell eingebunden werden. Marsilius kommt aber dennoch nicht ohne die Liebe als Movens in der Ge1614 Ebda., S. 3f., 19. 1615 Ebda., S. 15; Helmut Walther, Ursprungsdenken und Evolutionsgedanken im Geschichtsbild der Staatstheorie in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts, in: Antiqui und moderni. Traditionsbewusstsein und Fortschrittsbewusstsein im späteren Mittelalter, hg. v. Adalbert Zimmermann (Miscellanea Mediaevalia), Berlin, New York 1974, S. 236– 261, S. 257f.; Miehtke, Marsilius von Padua, S. 54f. 1616 Marsilius de Padua, Defensor, S. 13. 1617 Miethke, Marsilius von Padua, S. 58. 1618 Marsilius von Padua, Defensor, S. 52, 57f.; Stürner, Natur, S. 170–173; Ders., Gesellschaftsstruktur, S. 173.

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staltung des Gemeinwesens aus, denn er muss einräumen, dass das Gesetz versagen könne, weil es denkbar sei, dass allgemeine Regeln nicht jedem Einzelfall gerecht würden. Daher müssten die Gesetze in der Weise richtig angewandt werden, dass jedem Individuum eine Gerechtigkeit widerfahre, die den Einzelfall berücksichtige, denn nur so könne die Gleichheit in der Wirkung der Gesetze, als equitas bezeichnet, erreicht werden. Sie verlange eine interpretierende Anwendung der Gesetze, die auf einem Wohlwollen beruhe und mitunter eine Milderung des Wortlautes des Gesetzes vorsehe. Marsilius verneint, dass ein unumstößlicher Automatismus des Gesetzesvollzuges Gerechtigkeit hervorbringe. Die modifizierte Anwendung der Gesetze erfordere, dass amor seu benevolentia das Handeln leite, wie Marsilius ausdrücklich ausführt. Er sieht die Rolle des Herrschers darin, dass er, durch Liebe angeregt, in die blinde Anwendung von Gesetzen korrigierend eingreift. Es könnte eingewendet werden, dass Marsilius lediglich eine Ausnahme vorsieht, die Liebe des Herrschers einen eng zugemessenen Raum zuweist, der durch ein rechtliches Defizit entsteht. Aber der Autor des Defensor pacis geht noch einen Schritt weiter : Durch die Liebe, die den Einzelfall erfasse, steigere der Herrscher insgesamt seine Fürsorge und seine Güte, deren Nutzen sich alle Bürger erfreuten. So werde für das allgemeine Wohl gesorgt. Mehr noch: Marsilius meint, dass die Bürger nicht ohne Liebe gelenkt werden könnten. Sie ist daher letztlich mehr als nur ein Korrektiv und mehr als nur ein Gnadenakt, mehr als nur eine Ausnahme gegenüber unnachgiebiger Gesetzestreue; die Liebe dringt in das Wesen der Herrschaftsgewalt und des Gesetzesvollzugs vor. Liebe bleibt aber bei Marsilius instrumental konzipiert, nicht institutionell eingelagert. Die Schlussfolgerung lautet: Die Liebe gehört zu den Tugenden, ohne die ein Herrscher das Gemeinwesen nicht regieren kann. Die Liebe ist aber nicht der Grund der Herrschaft.1619 Wie in anderen Fragen erweist sich Marsilius als widersprüchlich. Er stellt Liebe einerseits als Störung in der Rechtsordnung dar, anderseits als ihren unverzichtbaren Bestandteil.1620 Der Widerspruch wird auch nicht aufgelöst, indem er die Liebe als Ausnahme eingesetzt hätte, um nicht auszuräumende Fehler der Rechtsordnung zu korrigieren und auf diese Weise erst die Gerechtigkeit zu garantieren. Wenn die Liebe nicht allein Rechtsversagen kompensiert, sondern 1619 Marsilius de Padua, Defensor, S. 82, 84. 1620 Dieser im Werk von Marsilius angelegt Widerspruch entfacht auch Kontroversen in der wissenschaftlichen Analyse. Stellt Cary Nedermann den Konsens als Grund der Rechtsordnung heraus, so verweisen Joseph Canning und Alan Gerwith auf die Macht und den Zwang, den sie ausübt; Cary J. Nederman, Community and Consent. The Secular Political Theory of Marsiglio of Padua’s Defensor pacis, Lanham 1995, prononciert auf S. 77; Joseph Canning, The Role of Power in the Polical Thought of Marsilius of Padua, in: History of Political Thought 20 (1999), S. 21–34; Alan Gewirth, Republicanisms and Absolutism in the Thought of Marsilius of Padua, in: Marsilio da Padova, S. 23–49.

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dem Recht etwas hinzufügt, das Marsilius für das Zusammenleben der Menschen als notwendig erachtet, präsentiert er letztlich zwei Wirkprinzipien der politischen Kohäsion, die er aber weder in eine komplementäre Relation noch in eine hierarchische Stufung oder in eine gestaffelte Bewertung stellt. Die Liebe stößt ein Tor auf für die freie Entscheidungsgewalt des Herrschers, der daher keineswegs derart in den Fesseln der Gesetze gebunden ist, dass er nicht deutend, mildernd und verändernd in die Ordnung der juristisch definierten Gewalt einzugreifen befugt sei. Ist auch die Liebe nicht durch das Gesetz bestimmt, gestaltet sie doch die Handhabung der Gesetze. Liebe steht aber gleichwohl essentiell außerhalb der politischen Verfassung. Der Widerspruch zwischen Liebe und Verfahrensordnung bezieht sich nicht allein auf den Untersuchungsgegenstand von Marsilius, sondern kennzeichnet auch seine Untersuchung selbst. So bleibt letztlich die Liebe einerseits ein Fremdkörper im Staat, wird aber andererseits in ihm angewendet, um Verfahren zu verbessern und Unvollkommenheiten auszugleichen und letztlich dann doch auch den Zusammenhalt des Staates zu sichern.

9.

Herrschaft jenseits von Naturrecht und Liebe: Wilhelm von Ockham

Der von Marsilius von Padua nicht aufgelöste Widerspruch der Liebe, die Verfahrensordnungen nicht begründet, aber ihre Anwendung verbessert, die Gerechtigkeit behindert, aber sie auch fördert, beschäftigte auch seinen Zeitgenossen und Mitstreiter gegen die Ansprüche der Päpste auf die oberste Gewalt, Wilhelm von Ockham († 1347/48). Wilhelm trat in seiner Jugend in den Franziskanerorden ein, studierte an der Ordensschule in London und an der Universität in Oxford, wurde dort zum Magister promoviert, widmete sich den philosophischen Themen der Ontologie und der Erkenntnistheorie. Er geriet seit den 1320iger Jahren in das Fahrwasser der Auseinandersetzungen seines Ordens mit Papst Johannes XXII. über das Konzept der vollkommenen Armut der Franziskaner, die Wilhelm gegenüber den Versuchen, ihr eine biblische Begründung und Rechtfertigung vorzuenthalten, verteidigte und dazu brachte, Eigentum, Konsum und Einkünfte theoretisch fundiert zu analysieren. Zusammen mit dem Ordensgeneral der Franziskaner musste er sich an der päpstlichen Kurie zu Avignon gegen den Verdacht der Häresie verteidigen. Der drohenden Verurteilung und Gefangennahme entzog er sich am 26. Mai 1328 durch die Flucht zu Kaiser Ludwig dem Bayer, der sich zu dieser Zeit in Pisa aufhielt, und zog mit ihm nach München, wo er bis zu seinem Tod blieb. Seine Stellungnahme im franziskanischen Armutstreit brachte die Wendung hin zur

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Beschäftigung mit der politischen Philosophie und hin zur Parteinahme zugunsten von Ludwig dem Bayer in dessen jahrzehntelangem Konflikt mit den Päpsten.1621 Die beachtliche handschriftliche Verbreitung seiner Werke und ihre Verwendung unter herrschaftsnahen Juristen, sogar an der päpstlichen Kurie, vor allem aber im universitären Umfeld, also in einem Milieu mit Multiplikatorenwirkung, beweisen den bedeutenden Einfluss seiner Schriften.1622 Es kann hier nicht darum gehen, die politischen Konzepte dieses englischen Franziskaners vorzustellen; fundierte Forschungen zu seiner Person und seinem Werk haben dies bereits geleistet.1623 Vielmehr soll hier die Frage geklärt werden, wie Wilhelm Liebe und Schrecken in die Verfassung und Gestaltung von Herrschaft einbezieht. Markante Unterschiede zu Marsilius von Padua treten dabei zutage. Die umfassendste Darlegung seiner Auffassung zur Politik entfaltet Wilhelm von Ockham in seinem Werk Dialogus, dessen Abfassung er sich während mehrerer Jahrzehnte bis zu seinem Tod 1347 oder 1348 widmete. Darin widerlegt er in »energischer Beweisführung« – so Jürgen Miethke – die weltlichen Herrschaftsansprüche der Päpste, behandelt darüber hinaus aber eine breite Palette von weiteren Themen. Mag auch das Werk in der Tat einen Dialog und einen Austausch der Argumente vorstellen, so ist davon auszugehen, dass die Auffassung der als magister bezeichneten Person gegenüber der als discipulus benannten als eigene Auffassung von Wilhelm zu gelten hat. Vor allem dieses umfangreiche Werk hat eine nicht geringe handschriftliche Verbreitung erlangt; mindestens 34 Handschriften sind überliefert.1624 So wie Jean de Quidort, Dante Alighieri und Marsilius von Padua beharrt Wilhelm von Ockham auf der Autonomie jeder weltlichen Herrschaft, weswegen er auch eine normative Bindung an kirchliche Anweisungen, ja selbst an christliche Gebote der Liebe ausschließt. Im Gegenteil ist für Wilhelm weltliche Herrschaft wesentlich, d. h. unumstößlich, ein Gewaltregime, das Liebe nicht vorsieht, das mit Zwang operiert und das den Untertanen den Willen des Herrschers oktroyiert. Gesetze erachtet Wilhelm hierbei als Instrumente des Zwangshandelns. Folglich verbindet er – gerade weil er die Notwendigkeit 1621 Jürgen Miethke, Ockhams Weg zur Sozialphilosophie, Berlin 1969. 1622 Jürgen Miethke, Marsilius und Ockham. Publikum und Leser ihrer politischen Schriften im späten Mittelalter, in: Marsilio da Padova, S. 543–568, S. 549–565. 1623 Ders., De potestate, S. 279; Ders., Paradisiesischer Zustand – Apostolisches Zeitalter – Franziskanische Armut. Religiöses Selbstverständnis, Zeitkritik und Gesellschaftstheorie im 14. Jahrhundert, in: Vita Religiosa im Mittelalter. Festschrift für Kaspar Elm, hg. v. Franz J. Felten, Nikolas Jaspert (Berliner Historische Studien 31. Ordensstudien 13), Berlin 1999, S. 503–532, S. 530f.; Jürgen Miethke, Ockhams Weg zur Sozialphilosophie, Berlin 1969; Ders., Dialogus; Hilary Seton Offler, The »Influence« of Ockham’s Political Thinking. The First Century, in: Die Gegenwart Ockhams, hg. v. Wilhelm Vossenkühl, Rolf Schönberg, Weinheim 1990, S. 338–365. 1624 Jürgen Miethke, Dialogus, S. 707.

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weltlicher Herrschaft bejaht –, Herrschaft mit Gewalthandeln – violentia – und erachtet das allgemeine Wohl zwar als Ziel der Herrschaft, nicht aber als Voraussetzung zu dessen Einsetzung und Berechtigung. Eine Mitwirkung der Untertanen an der Errichtung von politischen Institutionen entfällt, weil das allgemeine Wohl ihnen zwar zukommen soll, sie es aber nicht selbst herstellen. Wilhelm insistiert darauf, dass auch ein schlechter Herrscher legitime Gewalt ausübe. Umgekehrt gebrauche auch ein guter Herrscher Gewalt, die den Willen der Untertanen bezwinge.1625 Entgegen einer zum Beginn des 14. Jahrhunderts gut etablierten Rezeption der politischen Philosophie von Aristoteles schließt Wilhelm sich an ein Konzept an, das einst Augustinus vertreten hatte, indem er auf den inhärenten Fehler jeder weltlichen Gewalt verweist, der ein ihr innewohnender Nutzen zugunsten der Individuen nicht aufgrund einer natürlichen Disposition der Menschen zugesprochen werden könne. In der Darlegung seiner religiösen und politischen Auffassungen, die polemisch gegen Ansprüche und Aussagen von Papst Johannes XXII. gerichtet sind, im Opus nonaginta dierum, schreibt er, dass jede Herrschergewalt genauso wie jedes Eigentumsrecht aus einer natura corrupta entspringe, erst durch den Sündenfall entstehe, gleichwohl, oder besser : gerade deswegen notwendig sei – ausgenommen bei solchen, die geistliche Vollkommenheit und absolute Armut anstrebten wie die Franziskaner. Die grundsätzliche Verderbtheit von Eigentum und Macht schließe aus, dass sich die Ordensbrüder mit ihnen belasteten und befleckten. Diese Reinheit sei freilich den Inhabern weltlicher Gewalt und ihren Untertanen vorenthalten. Ockham setzt vielmehr eine von Makeln behaftete Existenzform von Herrschaft voraus.1626 Er schließt mit dieser Auffassung an seinen Ordensbruder Johannes Duns Scotus an. Das ius naturale unterliege, so erachtet es Ockham in seinem Werk Dialogus und in weiteren Schriften, einem Zerfallsprozess, der schließlich die ursprüngliche Gleichheit der Menschen beendet habe, so dass nun durch den Einsatz der Vernunft ein Ausgleich antagonistischer Ansprüche und ungleicher Berechtigungen anstrebt werden müsse, damit der Frieden erhalten bleibe. Spontane Regungen könnten dies nicht leisten, Liebe ebensowenig.1627 Das materielle Recht ist von einer zwingenden Bindung an das Naturrecht abgesondert und eröffnet ein weites Feld voluntaristischer Akte. In der Schrift Dialogus meint Ockham, dass der Kaiser in seinem Reich und der König in 1625 Wilhelm von Ockham, Dialogus, S. 780f., 794. 1626 Wilhelm von Ockham, Opus nonaginta dierum, in: Guillelmi de Ockham Opera politica, Bd. 2, S. 375–858, bes. S. 435; Klaus Miethke, Paradiesischer Zustand – apostolischs Zeitalter – franziskanische Armut. Religiöses Selbstverständnis, Zeitkritik und Gesellschaftstheorie im 14. Jahrhundert, in: Vita religiosa im Mittelalter. Festschrift für Kaspar Elm, hg. v. Franz Felten, Nikolas Jaspert (Berliner Historische Studien 31. Ordensstudien 13), Berlin 1999, S. 503–532. 1627 Ghisalberti, Sulla legge naturale, S. 303–308.

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seinem Königreich nicht an die Gesetze gebunden seien und sie nicht gemäß der Gesetze Urteile fällen müssten, weswegen die Herrscher auch nicht verpflichtet seien, Kenntnisse über die Gesetze zu haben. Die, wie Ockham meint, im römischen Recht vorgesehene Unabhängigkeit des Herrschers von den Gesetzen verwendet er zur Rechtfertigung arbiträrer Entscheidungen, die nicht einmal – besonders sofern sie die Organisation des Staates betreffen – durch eine Bindung an ein Naturrecht eingeschränkt seien.1628 Ja, der Herrscher müsse, so Ockham, mitunter gänzlich die Gerechtigkeit (iustitia) beiseite lassen oder sie für eine gewisse Zeit vernachlässigen. Der Entscheidungsfreiheit dürften keine rechtlichen Schranken aufgerichtet werden. Deswegen leite nicht allein der rigor iustitiae notwendigerweise und immer das Handeln des Herrschers. Der Herrscher habe die Freiheit, vom Gesetz abzuweichen. Dies geschehe insbesondere durch seine Milde (mansuetudo). Die Willkür führe aber auch zur Zunahme der Strenge. Wilhelm legt dem magister die offensichtlich für richtig gehaltene Auffassung in den Mund, dass der Herrscher willkürlich zu handeln berechtigt sei, so dass er in jedem einzelnen Fall nach seinem Belieben Strafen verhängen könne.1629 Ausdrücklich wird an anderer Stelle des Werkes Dialogus festgehalten, dass der König nach seinem Willen, nicht nach dem Gesetz über alle Untertanen herrsche. Nur das Ziel sei vorgegeben, nämlich dass die Herrschaft den Nutzen der Untertanen mehre, ohne dass aber die Herstellung des Nutzen das Ergebnis geregelter oder gar gesetzlich geformter Kooperation sei. Die Willkür sei dem Kaiser und König vorbehalten, den Untertanen hingegen der Gehorsam gegenüber den Gesetzen auferlegt. In den Angelegenheit der Familie, die die Herrschaft des Ehemanns über seine Frau und seinen Kindern vorsehe, gebe es hingegen – anders als im Staat – rechtliche Bindungen, so dass der Gatte nicht nach seinem Willen, sondern nach dem Gesetz der Ehe handeln müsse.1630 Umgekehrt wie Aristoteles und wie die ihn kommentierenden Autoren wie Albertus Magnus, Thomas von Aquin, Aegidius Romanus und Peter von Auvergne deutet Wilhelm die Herrschaft im Haus und im Staat: Für Wilhelm ist im Haus das Gesetz stets gültig, im Staat aber nicht, sofern der Herrscher anders als gesetzlich vorgesehen entscheidet. Die Autorität des antiken Philosophen war für Ockham in jedem Fall nur ein schwaches Argument und hatte gegenüber Vernunftgründen zurückzustehen, wie er ausdrücklich an anderer Stelle, in seiner Schrift zur Logik, ausführt.1631 1628 Wilhelm von Ockham, Dialogus, S. 788–794: quaestiones libri secundi tertiae partis, III, II, capitulae 1–6; Dieter Wyducke. Princeps legibus solutus. Eine Untersuchung zur frühmodernen Rechts- und Staatslehre, Berlin 1979, S. 163–166. 1629 Wilhelm von Ockham, Dialogus, S. 788–794. 1630 Ebda., S. 793. 1631 Alius locus ponitur super loco ab auctoritate; et ille locus debilis est (…). Et ideo non sequitur »Aristoteles dicti hoc, ergo hoch est verum«, quia ipse decipi potes; Wilhelm von

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»Das Pathos der Freiheit« ist in Ockhams Dialogus in erster Linie gegen kirchliche Ansprüche gerichtet, erfasst aber auch, worauf Jürgen Miethke hinweist1632, die inneren Angelegenheiten der weltlichen Ordnung, in der die Untertanen eines besten Fürsten nicht wie Sklaven behandelt werden dürfen1633, schließt indessen nicht die politische Partizipation ein und mindert nicht den Gehorsam der Untertanen, so dass die Handlungsfreiheit der Herrscher nicht begrenzt ist. Diese sind auch nicht von Tugenden geleitet. Allein das Ziel, das gute Leben bereitzustellen, ist die ethische Begründung der Herrschaft. Eine vollkommene Freiheit der Menschen ist für Ockham im diesseitigen Leben nicht möglich.1634 Gleichwohl ist den Herrschern die Aufgabe anvertraut, die Würde des Menschengeschlechts zu wahren. Die mit dieser Würde verbundene lex libertatis ist freilich heilsgeschichtlich begründet, verweist auf das Neue Testament und ist innerweltlich nur insoweit gültig, als dass der Herrscher den Weg zum ewigen Heil nicht versperren darf. Denn mit dem Gesetz der Freiheit ist nicht die Abschwächung oder gar die Aufhebung der Herrschaft gemeint, weil ohne sie die weltliche Bestimmung des Menschen, sein Glück im Einklang mit dem der Mitmenschen zu erlangen, nicht erreicht werden kann. Die in der Forschung nicht selten präsentierte freiheitliche Konzeption von Ockham, die ihn gar als Begründer von Menschenrechten ansieht, verkennt meines Erachtens die aus der willkürlichen Satzung von Gesetzen und aus der willkürlichen Rechtsprechung, die den Herrschern vorbehalten sind, entspringende Unterdrückung. Auch das Naturrecht bietet ihr keinen Einhalt, denn von ihm könne derogiert werden, wie Ockham – in Einklang mit den zeitgenössischen Überlegungen von Legisten und Kanonisten – ausführt.1635 Ockham schreibt in der kürzer gefassten Schrift zur politischen Philosophie, die polemisch gegen päpstliche Ansprüche Argumente zusammenfasst, in den Octo quaestiones de potestate papae, dass die plenitudo potestatis in der Anlei-

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Ockham, Elementarium logicae, hg. v. Eligius Maria Buytart, in: Franciscan Studies 25 (1965), S. 151–276, S. 275. Miethke, De potestate, S. 295. Wilhelm von Ockham, Dialogus, S. 184. Jürgen Miethke, The Concept of Liberty in William of Ockham, in: Th8ologie et droit dans la science politique de l’Etat moderne (Collection de l’Eole FranÅaise de Rome 147), Paris 1991, S. 89–100, S. 99. Zur Geltung des Naturrechts und des im Neuen Testament angelegten Gesetzes der Freiheit und der gültigen Herrschaftsordnung: Wilhelm Kölmel, Das Naturecht bei Wilhelm von Ockham, in: Franziskanische Studien 35 (1935), S. 39–85; Francis Oakley, Medieval Theories of Natural Law : William of Ockham and the Significance of the Voluntarian Tradition, in: Natural Law Forum 6 (1961), S. 65–83; Brian Tierney, Natural Law and Canon Law in Ockham’s Dialogus, in: Aspectes of Late Medieval Government and Society. Essays presented to J. R. Lander, hg. v. John Gordon Rowe, Toronto 1986, S. 3–24; Anne Eusterschulte, Lex libertatis und ius naturale. Freiheitgesetz und Naturrechtslehre bei Wilhelm von Ockham, in: Das Gesetz. The Law. La Loi, hg. v. Andreas Speer, Guy Guldentops (Miscellanea Mediaevalia 38), Berlin, Boston 2014, S. 399–423, S. 415.

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tung der Untertanen in weltlichen Angelegenheiten den Herrschern zukomme, wohingegen den Untertanen die plenitudo potestatis nur in den Angelegenheiten des Glaubens und ihrer unumstößlichen natürlichen Rechte – die aber einzig individuelle Rechte und Rechte der Haushaltsführung, keine politischen Partizipationsrechte sind – zukomme. Eine plenitudo potestatis der Päpste, von ihnen reklamiert, wird von ihm gänzlich ausgeschlossen.1636 Die subjektiven Rechte werden, trotz ihrer prinzipiellen Anerkennung, trotz ihrer Ableitung aus dem Naturgesetz, in das private Leben abgedrängt und stehen der umfassenden Gewalt der Herrscher im Staat nicht im Wege, denen keine Schranken hinsichtlich der Verwirklichung der staatlichen Angelegenheiten auferlegt sind.1637 Sowohl gegenüber priesterlicher Kompetenz als auch gegenüber individueller Berechtigung ist der Staat abgeschirmt. Wohl aber folgt aus der menschlichen Schwäche, die auch den Monarchen nicht verschont, die Notwendigkeit, wie Wilhelm ausführt, dass dieser sich berate, die Meinung der Vielen einhole, aber dann doch sein Tun nach der Beratung so gestalte, wie es ihm am günstigsten dünke. So könnten die Weisheit und aus ihr folgend die Güte entstehen. Eine rechtliche Einschränkung der Kompetenz erfolgt aus der empfohlenen Beratung nicht; es geht lediglich um die Effizienzsteigerung der Macht und die Berücksichtigung von Argumenten, die für bestimmte Maßnahmen des Herrschers vorgebracht werden. In der Schrift Octo quaestiones wie auch in dem Werk Dialogus ist offensichtlich, dass die der Machtausübung auferlegten Regularien die Machtfülle der Herrscher nicht schmälern, deren Entscheidungskompetenz nicht antasten.1638 Folglich entfällt eine normative juristische Bindung an konkrete Erfordernisse der Gerechtigkeit, so wie auch eine Verursachung des staatlichen Handelns durch affektive Zuneigung nicht vorgesehen ist. Liebe und Freundschaft – caritas et amicitia – sind zwischen den Untertanen vorgesehen, in der Beziehung von ihnen zum Herrscher nicht. Die Aufgabe des Herrschers ist darauf beschränkt, die Voraussetzungen für diese Bindungen unter seinen Untertanen zu schaffen, um so am besten den Frieden zu sichern.1639 In einer Passage der Schrift Octo quaestiones modifiziert indes Ockham seine Ansicht, insofern er verlangt, dass im Fürsten die Liebe zu seinen Untertanen vorhanden sein müsse, damit verhindert werde, dass er sich den Besitz seiner 1636 Wilhelm von Ockham, Dialogus, S. 350f.; Struve, Begründung, S. 302. 1637 Wilhelm von Ockham, Octo quaestiones, S. 29–33; Ladner, Concept; Zur Kontroverse über die Geltung individueller Rechte bei Wilhelm von Ockham siehe Brian Tierney, Viley, Ockham and the Origin of Individual Rights, in: The Weightier Matters of the Law. Essays on Law and Religion. A Tribute to Harald J. Berman, hg. v. John Witte, Frank S. Alexander, Atlanta 1987, S. 1–31; Peter Landau, Officium libertas christiana, München 1991, S. 61f., 113–120. 1638 Wilhelm von Ockham, Octo quaestiones, S. 120f.; Ders., Dialogus, S. 803, 818; Blythe, Ideal Government, S. 182f. 1639 Wilhelm von Ockham, Dialogus, S. 350.

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Untertanen aneigne. Aber der Anwendungsbereich der Liebe ist doch eng gefasst. Er beschränkt sich darauf, die Autonomie der Haushalte der Untertanen zu wahren. Indes nicht rechtliche Schranken soll die Unterwerfung der Untertanen, die nicht wie Sklaven behandelt werden dürfen, ausschließen, sondern die gute Einsicht des besten Herrschers soll ihn dazu befähigen, die Befehlsgewalt in der Weise auszuüben, dass die Freiheit der Untertanen erhalten bleibt. Die Freiheit ist auf den Haushalt und das Gewissen in religiösen Angelegenheiten beschränkt, greift nicht in die Politik ein. Aber selbst diese eng eingegrenzte Freiheit der Untertanen ist nicht garantiert. Wilhelm verurteilt zwar die willkürliche Verfügung über die privaten Obliegenheiten der Untertanen, erachtet sie als Verfehlung des Fürsten, bewertet sie aber nicht als illegitim.1640 Gegen Willkür sich mittels des Rechts zu wehren, ist nur in seltenen Fällen möglich. Wilhelm verengt den Anwendungsbereich des Naturrechts. Handlungsanweisungen, die aus ihm folgen, präzisiert er nicht, weil es, wie er schreibt, nur durch umständliche Ableitungen, Begründungen und Argumentationen für die Setzung des positiven Rechts verwendet werden könne.1641 Um den Herrscher mit den umfassenden Gewaltmitteln auszustatten, die notwendig sind, um die Verbrecher zu strafen und alle Untertanen mit Strafen zu bedrohen, erachtet Wilhelm die Ausstattung mit großem materiellen Reichtum als unumgänglich, wohingegen er Reichtum in den Händen der Bürger für schädlich hält, da er zu Neid und Kampf um Besitz führe. Die Konzentration von Macht verdrängt die Ansprüche der Untertanen, die sich mit der Zuversicht begnügen müssten, dass ihr persönliches Wohl durch die Tätigkeit des Herrschers gefördert werde.1642 Kompetenz und Nutzen gehören unterschiedlichen Bereichen an und sind zwei unterschiedlichen Schichten der politischen Gemeinschaft zugewiesen, die der Herrscher und die der Beherrschten. Hingegen entfaltet Ockham in seiner vermutlich letzten Schrift Breviloquium de principatu tyrannico, die erneut die päpstlichen Ansprüche auf weltliche Gewalt und deren Rechtfertigung prägnant zurückweist, eine leicht geänderte Ansicht zu weltlichen Gewalt: Er stellt sie deutlicher auf religiöse Fundamente. Er behauptet eine göttliche Einsetzung der Herrschaft und verweist auf ein ius divinum, das sie legitimiere. Wilhelm vertritt weiterhin die Auffassung, dass die Gewalt des Herrschers ein Korrektiv des durch den Sündenfall herbeigeführten Makels sei, der zum Verlust des harmonischen, nicht durch Zwang herbeigeführten Zusammenlebens im Paradies geführt habe.1643 Da Herrschaft auch von Heiden rechtmäßig ausgeübt werde, sei nicht jede Herrschaft dazu angehalten, 1640 1641 1642 1643

Ders., Octo quaestiones, S. 108f. Ders., Dialogus, S. 788f.; Prodi, Geschichte , S. 109. Wilhelm von Ockham, Dialogus, S. 791. Wilhelm von Ockham, Breviloquium, S. 39–207, S. 126.

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für das Heil im Jenseits zu sorgen.1644 Die Bindung an christliche Gebote sei nicht vorgesehen, eine religiöse Zielsetzung der Machtausübung nicht erforderlich. Gott habe allein die Einsetzung der Herrschaft vorgenommen. Wilhelm unterscheidet zwischen Grund und Ziel. Weil Wilhelm der Herrschaft prinzipiell Legitimität zuerkennt, unabhängig von der Art ihrer Ausübung, ihrer religiösen Zugehörigkeit und sogar ihres Beitrages zum allgemeinen Nutzen, und stets die Einsetzung durch Gott voraussetzt, ist eine Kontrolle der Machtausübung durch kirchliche Einrichtungen und Personen gerade deswegen ausgeschlossen, weil Wilhelm eine intermediäre Instanz zwischen Gott und der Herrschaft ausschließt. War kirchlichen Kompetenzen der Boden entzogen, so erweitert er aber die der Untertanen in seiner letzten Schrift: Widerstand gegen offensichtliches Unrecht könne vom Volk selbst ausgeübt werden, dem auch die Möglichkeit offenstehe, den Herrscher abzusetzen, ohne dass indes den Untertanen eine rechtlich geregelte permanente Mitwirkung an den politischen Entscheidungen eingeräumt sei. Wilhelm sieht also nur ein Ausnahmerecht vor, das er zwar schon im Dialogus erwähnt, aber nicht weiter ausgeführt hat.1645 Wilhelm von Ockham beharrt in allen seinen politiktheoretischen Schriften darauf, dass die Herrscher nicht durch Zuneigung, Liebe und Freundschaft zu Handlungen bewegt würden. Stattdessen erzeugten der Zwang, den der Herrscher ausübe, und die Bestrafungen, die er verhänge, eine Drohung, die stets auf den Untertanen laste und sie dem Willen des Herrschers unterstelle. Vermeidet Wilhelm auch die Begriffe von Schrecken und Furcht, wenn er beschreibt, wie Herrschaft praktiziert wird, so entzieht die ausdrücklich als willkürlich charakterisierte Macht den Beherrschten gleichwohl die Gewissheit und das Vertrauen in regelhafte Abläufe und unterwirft die Beherrschten der nicht vorhersehbaren und nicht berechenbaren Einwirkung von Zwang und Strafe. Das Gesetz bietet, anders als dies Marsilius von Padua vorsieht, keinen gesicherten Handlungsrahmen, und die Liebe motiviert nicht, anders als dies Aegidius Romanus ausführt, den Herrscher zur Förderung des allgemeinen Wohls. Bezeichnenderweise verwendet Ockham, anders als die beiden hier genannten Autoren, durchweg den Terminus subditus, nicht civis, um die Bewohner eines Königreiches zu bezeichnen, verweist also auf eine auch terminologisch eindeutige Unterordnung, die im Staat existiert. Das allgemeine Wohl als Voraussetzung des individuellen Wohls ist gewiss das Ziel der Herrschaft, aber es legt in den Ausführungen von Ockham nicht den Grund für eine Beziehung der rechtlich präzisierten Kooperation zwischen Fürst und Untertanen und genauso wenig für eine emotionale und natürlich angelegte Beziehung. Aus der Natur des Menschen entspringt nach Ockham keine Neigung zu gegenseitiger Freund1644 Ebda., S. 110. 1645 Wilhelm von Ockham, Dialogus, S. 794.

Die Pflicht zur Liebe: Oresme, Buridan und von Megenberg

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schaft, sondern das Bedürfnis, den Mangel der natürlichen humanen Ausstattung zu beheben, wozu er die Unterordnung unter die Befehle der Herrscher vorsieht, nicht die Kooperation der Bürger. Weil Ockham politische Verfassung und Herrschaft so markant von dem paradiesischen Zustand vor dem Sündenfall absetzt, verneint er eine Ausübung von Herrschaft, die frei von Furcht wäre, Liebe gewähre oder von ihr geleitet wäre. Die Rationalisierung der Gewalt, die anthropologisch begründet ist, vermindert nicht die arbiträre Verursachung und Wirkung. Marsilius von Padua hat den Zwang und den Schrecken in das Recht integriert, hingegen die Liebe außerhalb des Rechts gestellt, ohne sie aber aus der Herrschaft zu entfernen. Wilhelm indessen trennt sowohl Liebe als auch Recht von der Herrschaft. Ockham distanziert sich auch von der bei Aristoteles vorgestellten Definition des allgemeinen Wohls, das nicht allein durch ein inhaltliches Ziel geformt wird, sondern auch durch die Partizipation der Bürger, die bereits selbst gut ist und das Glück hervorbringt, gekennzeichnet ist. Das Gute bei Wilhelm hingegen beruht nicht auf einer prozeduralen Ordnung, sondern auf einer finalen Ausrichtung. Die Wohlfahrt bedarf zu ihrer Herstellung keiner liebenden Zuwendung, keiner Freundschaft, nicht einmal der Zusammenarbeit der Menschen. Liebe gibt es unter den Untertanen, aber sie formt nur deren private Angelegenheiten. Beim Herrscher ist die Liebe nur selten vorhanden und vorauszusetzen, nämlich als ein Movens zur Willkür, d. h. zum Abweichen von den gesetzlichen Vorgaben. Von dem Recht, der Emotion und der Tugend befreit, handelt der Herrscher gemäß seiner Willkür, die nur insoweit eingeschränkt ist, als das undeutlich genannte Ziel der Herrschaft, das allgemeine Wohl, erreicht werden soll.

10.

Die Pflicht zur Liebe: Nicolas Oresme, Johannes Buridan und Konrad von Megenberg

Den Zusammenhalt der Untertanen in einer Herrschaftsordnung ohne oder mit nur geringen rechtlichen Bindungen zu konzipieren, stieß auf Ablehnung, umso mehr, als die Arbitrarität in der Setzung und der Anwendung des Rechts, die Wilhelm von Ockham favorisierte, zu Lasten einer stabilen Normativität zu gehen drohte, auf der die Legitimität der Herrschaft beruhte. Die rechtliche Verfassung bedurfte stabiler Fundamente. Zu ihnen die Liebe zu erklären, war weiterhin vorstellbar. Die Liebe nicht normativ, sondern nur diskretionär einzusetzen, wie dies Ockham in Erwägung zog, machte sie aber ungeeignet, um eine konstitutionellen Beständigkeit herbeizuführen. Während des 14. Jahrhunderts bestand indes die Auffassung, dass die Normativität die Permanenz einer Ordnung gewährleisten müsse und dass die Normativität auch die Liebe

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erfassen könne, die – auch auf die Gefahr hin, ihre Spontaneität und ihre Emotionalität einzubüßen – in ein rechtliches Korsett eingespannt sei, was darauf hinauslief, mehr als nur eine Politisierung der Liebe, die zahlreiche politische Denker, die sich auf Aristotes bezogen, vorsahen, sondern eine Juridifizierung der Liebe zu konzipieren, die den Herrschern die Verwirklichung der Liebe abverlangt – die also nicht mehr nur allein wegen der Beachtung von Tugenden oder wegen der Verwirklichung der natürlichen Disposition der Menschen oder wegen der Herrschaftsordnung besteht, sondern vielmehr aus der Befolgung von Gesetzen hervorgeht. Liebe war ein Gebot des Rechts. Willkür war auszumerzen oder doch zurückzudrängen. Nicolas Oresme († 1382), Weltgeistlicher, der an dem Kolleg von Navarra in Paris studierte und lehrte, war Übersetzer und Interpret der Politik von Aristoteles und einer der Gelehrten im Umkreis von König Karl V. von Frankreich, der dem Hof Wissenstexte bereitstellte.1646 Er nannte in seiner kommentierenden Schrift zur Politik von Aristoteles Voraussetzungen, die geeignet waren, den Spielraum willkürlicher Taten des Herrschers einzuengen. Seine Auffassung widersprach der von Wilhelm von Ockham. Nicolas verlangte den Primat des Gesetzes, dessen unerbittlicher Exekutor der König sein müsse, aber dem auch der König unterstehe. Die Gesetze entfalteten ihre Wirkung zum Guten, da sie ein einvernehmliches Handeln aller ermöglichten. Diese Wirkung ginge selbst von schlechten Gesetzen aus, sofern sie nur befolgt würden und damit auch die Willkür des Herrschers verhinderten, der den Gesetzen ebenfalls gehorchen müsse. Die Ausübung der Macht bedürfe folglich keiner weiteren ethischen Forderung als die Anerkennung der Gesetze und verlange, wenn es um deren Beachtung geht, keine affektive Steuerung des Handelns. Liebe sei nur vorzusehen, insofern das Gesetz sie verlangt, damit es angewendet werde. Die gute Verfassung des Staates, so Nicolas Oresme, schließe die Vollgewalt des Königs aus; vielmehr binde ihn das Recht. Anders als Wilhelm von Ockham erachtet Nicolas die Willkür des Herrschers nicht als Ausfluss besonderer Befähigung, um auch unvorhersehbare Angelegenheiten zu behandeln, sondern als Verstoß gegen eine gesetzliche Ordnung, aus der es kein Entrinnen geben dürfe. Da, wo die Gesetze nicht die Herrschaft hätten, da wo les lays ne ont domination, gebe es nur einen korrumpierten Staat. Nicolas schreibt: »Es wäre verrückt, denjenigen Fürsten große Macht zu geben, die die Macht lieben; es wäre pervers und dumm, anzunehmen, dass der Fürst alles in seinem Besitz hat und dass er über alle Untertanen herrscht, als wäre er Gott auf Erden.«1647 Anders auch als Marsilius 1646 Silvain Piron, Nicolas Oresme. Violence, langage et raison politique, Florenz 1997; Elsa Marmursztejn, Nicolas Oresme et la vulgarisation de la Politique d’Aristote au 14e siHcle, in: Thinking Politics in the Vernacular. From the Middle Ages to the Renaissance, hg. v. Gianluca Briguglia, Freiburg (Schweiz) 2011, S. 103–128; siehe auch Kapitel X.1. 1647 Nicolas Oresme, Livre de politiques, S. 178.

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von Padua sieht Nicolas keine Notwendigkeit, ein eventuelles Versagen der Rechtsordnung in Erwägung zu ziehen, das durch die Liebe des Herrschers kompensiert werden müsste. Hingegen ist für Nicolas die Liebe der Normalfall und die Norm der Herrschaft. Sie ist rechtlich geformt und durch das Recht begrenzt. Eine große Machtfülle sei, anders als dies Aegidius Romanus und Wilhelm von Ockham vorsahen, für den Herrscher und seine Untertanen verderblich – jenem weil es ihn zur Hybris treibe, diesen, weil sie unter der Furcht vor der Gewalt litten. Was die Herrschaft gerecht mache, sei ihre Disziplinierung durch die Gesetze, was nur scheinbar zur Einschränkung der Macht führe, in Wahrheit aber wegen des Abschirmens vor wandelbaren Eingebungen sie beständig mache und stärke. In kontra-intuitiver Wirkung begünstigten die Gesetze die Herrschaft. Die Ablösung vom unbegrenzten Willen des Herrschers ist für Nicolas d’Oresme die Voraussetzung des guten Staates. Der Automatismus in der politischen Ordnung geht von den Gesetzen aus. Liebe oder Furcht sind nur Motivatoren. Es ist nicht einmal vorgesehen, dass ein tugendhafter Herrscher eingesetzt sei; dies sei zwar wünschenswert, aber nicht notwendig für die gute Regierung.1648 Nicolas d’Oresme folgt in seinem Kommentar zur Politik Thomas von Aquin, der in seinem Fürstenspiegel auf die Wirkung von Verfahren setzt, um eventuelle charakterliche Defizite des Herrschers auszugleichen. Nicolas geht aber über Thomas hinaus, indem er den beratenden Versammlungen auch Entscheidungskompetenz zuweist, also den Diskussionsrahmen verlässt, der sich damit begnügt, die Merkmale einer guten Monarchie festzulegen, vielmehr eine Verfassungsordnung vorsieht, in der aufgrund von anerkannten Rechten die Macht des Herrschers definiert ist. Nicolas Oresme bezeichnet im Politikkommentar die Gesetzgebung als Mittel der Verbesserung von Lebensformen. Das gute Leben könne, so schreibt er, weiter befördert werden, weil die Menschen neue Erkenntnisse und Fertigkeiten erwürben. Er wendet sich gegen die Auffassung, dass es schädlich sei, neue Gesetze einzuführen, die doch immer nur schlechter als die älteren sein könnten und dazu beitrügen, die Achtung und Beachtung der bestehenden Gesetze gänzlich aufzuheben. Nicolas hingegen sieht einen beständigen Fortschritt in allen Tätigkeitsbereichen der Menschen. Aus Erfahrung werde neues Wissen gewonnen und altes Wissen korrigiert. Die Dinge, die früher gefunden und erfunden worden seien, könnten so durch neue Erfindungen verändert und ersetzt werden. Et universelement en tous ars et en toutes vertus. Et donques comme ainsi soit que politique est un des ars ou des sciences, il s’ensuit que aussi est il en elle. Dieses Fortschrittsprinzip walte in der gesamten Menschheitsgeschichte, so dass eine Entwicklung von einfachen und barbarischen Gesetzen, 1648 Ebda., S. 157, 159, 207, 274.

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denen die Griechen einst unterworfen gewesen seien, hin zu milderen und gerechteren Gesetzen in seiner Zeit festzustellen sei. Stets die alten Gesetze zu konservieren, sei idiotisch. Diese Meinungen seien foles choses. Die früher lebenden Menschen hätten weniger gewusst, geringere Erfahrungen sammeln können und sich mit weniger Fertigkeiten begnügen müssen, weil sie weniger aus der Vergangenheit hätten lernen können, wohingegen spätere und künftige Generationen auf einen größeren Fundus des Wissens zurückgreifen würden, was sie befähige, sich statt an das Vorbild der Alten zu halten, aufgrund von Erfahrungen Neues anzuwenden. Damit lässt es Nicolaus Oresme aber nicht bewenden. In einem weiteren Argumentationsschritt präsentiert er nun Beweise für das Gegenteil, dass es nämlich nicht günstig sei, Gesetze zu ändern, denn die Stabilität der Rechtsordnung gewährleiste erst die Akzeptanz von Gesetzen und sie aufs Spiel zu setzen, lohnten die Verbesserungen nicht. Der Autor stellt Alternativen gegenüber ; eine Schlussfolgerung weigert er sich zu ziehen. Seine Bemerkung, dass es manchmal besser sei, Gesetze zu ändern, manchmal nicht, belässt die Frage, ob eine Gesetzgebung das Leben verbessern könne, in der Schwebe.1649 Dies ändert aber nichts am Primat der Gesetze, die den politischen Verband dominieren. Nicht Personen, sondern Normen behandelt Nicolas. Auch die Liebe findet ihren Platz in der Rechtsordnung. Aber Oresme schreibt, dass die Liebe des Herrschers und die der Untertanen nicht unmittelbar auf Personen wirkten, sondern erst vermittelt über die Gesetze. Oresme bindet die Liebe institutionell, weil die Gesetzgebung sie realisiert und sie wegen des Gehorsams gegenüber den Gesetzen den Staat formt. Nicolas Oresme variiert seine Auffassung in seinem Ethikkommentar, der die individuelle Handlung und Befähigung bewertet, aber auch das Regierungshandeln ethischen Normen unterwirft. Beiden Schriften, der zur Politik und der zur Ethik, ist gemeinsam, dass Liebe aus den Institutionen des Staates entsteht. Er ist aber nicht der einzige Entstehungsgrund. Im Ethikkommentar ist die Liebe weniger emotional ausgehöhlt; sie ist – der Intention der Schrift angemessen – mehr dem individuellen Verhalten als der institutionellen Ordnung angelehnt. Aber auch in dieser Schrift ist die Liebe als Stabilisator und als Instrument der Herrschaft eingesetzt. Nicolas schreibt, dass der König von Freunden umgeben sei, anders als der Tyrann, der keine habe. Ja, die Freundschaft, die der König hege und die ihn umgebe, gilt dem Autor als Schirm vor dem Abgleiten in die Tyrannei. Dies setze eine Steigerung der moralischen Qualitäten des Königs voraus; er müsse tugendhafter, gerechter, strenger und tatkräftiger als seine Untertanen sein. Der große Unterschied zwischen König und Volk wirke sich auch auf die Liebe aus: Die des Königs sei umfassender und ziele auf das Wohlergehen der anderen, wohingegen die der Untertanen geringer und ei1649 Ebda., S. 97ff., 202f., 222.

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gensüchtiger sei, da diese mittels der Liebe für sich selbst Güter erwerben und erhalten wollten. Die distributive Funktion der Liebe gilt bei Oresme nur für den König; sie schließt Reziprozität aus, weil Bewirkung durch den König gegen Nutznießung zugunsten der Untertanen steht. Die Liebe ist der Grund, dass Oresme eine Gleichheit zwischen König und seinen Untertanen ausschließt. Das distinktive Merkmal erhöht die königliche Würde, zugleich aber auch die Pflichten und Zuständigkeiten des Königs.1650 Liebe ist in ein hierarchisches Gerüst eingefasst, wird in die Institution der Königsherrschaft eingegliedert und löst sich von einer rein personalen Charakterisierung.1651 Die Auffassung zu einer rechtlichen Verfahrensordnung, die Nicolas d’Oresme in seinem Kommentar zur Politik vorgestellt hat, hat der Jurist Philippe de M8ziHres (1327–1405) in seiner am Hofe des französischen Königs einflussreichen Reformschrift Songe du Vieil PHlerin weiter ausgeführt und sie in Verbindung zu den sich formierenden Ständeversammlungen im Königreich gestellt.1652 Alle politischen Instanzen, des königlichen Hofes und der partizipativen Versammlungen, seien, so M8ziHre und auch Oresme, dem Gesetz unterworfen. Die rechtlichen Bindungen, so M8ziHre, verlangen keine Liebe und bringen sie auch nicht hervor. Eine nüchterne Nutzenanalyse der Herrschaft liegt hier vor, aus der Emotionen ausgeschieden sind.1653 Johannes Buridan (ca. 1300–1358), der an der Universität Paris lehrte und die Erkenntnistheorie von Ockham weiterentwickelte, hinsichtlich der politischen Philosophie ihm gegenüber aber deutlich Distanz hielt, hat ähnlich wie Oresme in seinem Ethikkommentar die Pflicht des Herrschers, Tugenden zu verwirklichen, hervorgehoben, aber mehr als Oresme die Liebe als gestaltende Kraft eingeführt. Die Liebe des Königs – ähnlich die eines Vaters – durchtränke, so schrieb Buridan, alle Bereiche des Staates und das Leben in der Familie. Der Unterschied zwischen beiden Anwendungsgebieten der Liebe bestehe darin, dass die väterliche natürlich, die königliche tugendhaft und moralisch – virtuose et morale – begründet sei, denn keine leibliche Verbindung bestehe zwischen dem Herrscher und seinen Untertanen, keine Nähe führe sie zusammen, kein voraussetzungsloser Antrieb bewirke die Liebe. Nur scheinbar sei die Liebe des Vaters größer als die des Königs, in Wahrheit aber die des Königs, da diese eine größere Menge erfasse und eine größere moralische Anstrengung erfordere. Auch ein schlechter Mensch könne seine Kinder lieben, wohingegen allein ein 1650 Nicolas Oresme, Le livre de Ethiques, hg. Albert Douglas Menut, New York 1940, S. 436– 438. 1651 SHre, Penser l’amiti8, S. 173–184, 188–193, 199–206. 1652 Winfried Eberhard, Herrscher und Stände, in: Pipers Handbuch der politischen Ideen, hg. v. Iring Fetscher, Herfried Münkler, Bd. 2: Mittelalter. Von den Anfängen des Islams bis zur Reformation, München, Zürich 1993, S. 467–551, S. 512f. 1653 Blythe, Ideal Government, S. 207.

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guter, tugendhafter König zur Liebe für seine Untertanen fähig sei. Die natürliche Liebe möge zwar intensiver und impulsiver, von spontanen Antrieben angestoßen sein, gerade deswegen weil sie der Sinnlichkeit entspringe, aber die königliche Liebe, weil aus der Vernunft hervorgegangen, sei verdienstvoller. Für Buridan ist die Liebe dem Herrscher normativ auferlegt. Sie ist eine Pflicht, nicht durch das Recht vorgesehen, aber durch die Ethik. Die Argumentation ist einleuchtend, insofern Buridan annimmt, dass die Vernunft zwar aus der Natur des Menschen hervorgehe, nicht aber in ihr bereits essentiell vorhanden sei und sie deswegen von ihr begrifflich geschieden werden müsse und als Ergebnis einer Aktivierung von Tugenden erst zur Geltung komme. In einem weiteren Schritt brächten die Tugenden die Liebe hervor.1654 Liebe ist bei Buridan nur dann politisch, wenn sie geordnet ist, also rational begründet wird. Buridan verknüpft diese Liebe an Institutionen, denn es ist ja nicht das Individuum, das sie fordert und hervorruft, sondern das Amt. Zugleich aber ist die Liebe personal, da von der Tugend abhängig, die allein die eines handelnden Subjekts sein kann.1655 In Deutschland hat der Stiftskleriker Konrad von Megenberg (1309–1374), der in Erfurt, Paris und Wien studierte und lehrte, im Umfeld der habsburgischen Fürsten seine geistliche Karriere begann und schließlich als Kanoniker in Regensburg sein Leben beschloss, in seinem Werk zum Herrscherhof, seinen Institutionen und seinen Aufgaben ein Konzept der Liebe und zugleich der Furcht vorgestellt, die zur Überwältigung der Untertanen führen. Auch hier sind Emotionen als Ergebnisse von Pflichten vorgestellt. Konrad konzipiert darüber hinaus aber eine wesenhafte Verbindung von Liebe und Herrschaft, die durch deren Entstehung, also nicht allein normativ angelegt ist. Mehr als die Erfüllung von Pflichten ist also auferlegt. Die Herrschaft bestehe, so beginnt Konrad sein Werk, bereits in der Familie und sehe die Unterordnung der Frau unter den Mann in der Ehe vor. Die Beherrschung müsse mittels der Furcht geschehen, führt Konrad in einem eigenen Kapitel aus: mulier timore sit regenda. Diese Furcht sei von der Natur vorgegeben, denn sie korrigiere die Veranlagung des weiblichen Geschlechts, das wegen der den Frauen eigentümlichen Dummheit nicht zur Lenkung der eigenen Angelegenheiten befähigt sei. Die Furcht sei durch die Drohung mit strengen Strafen aufrechtzuerhalten, die bis zur Verstümmelung und bis zum Tod reichten. Mit der Furcht, so Konrad ausdrücklich, könne man mehr bewirken als durch die Liebe.1656

1654 Bernd Michael, Johannes Buridan. Studien zu seinem Leben, seinen Werken und zur Rezeption seiner Theorien im Europa des späten Mittelalters, Diss. Phil FU Berlin 1985, II, S. 831–862; John Alexander Zupko, John Buridan’s Philosophy of Mind, Ph.Diss. Cornell University 1989. 1655 Ich folge der Interpretation von: SHre, Penser l’amiti8, S. 202–207; dort die Belegstellen. 1656 Konrad von Megenberg, Yconomia, S. 57f.; Gisela Drossbach, Die Yconomia des Konrad

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Die Beherrschung der Frau stellt Konrad als Sonderfall der in vier Formen unterschiedenen Knechtschaft dar. Sie gehöre der ersten Form an, die der natürlichen Unterwerfung, die ansonsten den Barbaren und Waldmenschen auferlegt sei, die – ähnlich den Frauen – an einem Mangel an menschlicher Unterscheidungsfähigkeit litten. Auch die zweite Form der Knechtschaft, die Konrad als gesetzlich bezeichnet, erfasst impotentes et debiles corpore, also offensichtlich Menschen, die diesmal aber nicht durch die Zugehörigkeit zu sozialen Kollektiven, sondern durch ihre individuelle Eigenschaften als mängelbehaftet gekennzeichnet sind. Die dritte Form der Knechtschaft komme durch den Verkauf zustande und betreffe vor allem Arme. Eine vierte Art sieht Konrad von Megenberg in der freiwilligen Knechtschaft, die dadurch entstehe, dass aus guten Verstandesgründen die Unterwerfung unter die weltlichen Herrscher akzeptiert würde, also dass boni et virtuosi principibus voluntare serviunt. Hier kommt die Tugend ins Spiel, die einen politischen Verband – ausdrücklich geht es hier um einen solchen, der einem Fürsten gehorsam ist – erschaffe und den Hof als Zentrum weitausgreifender Herrschaft im Staat voraussetze. Tugendhaft sind hier aber die Untertanen. In der Relation zwischen ihnen und den Herrschern habe die Liebe ihren vornehmlichen Platz, denn sie führe die Menschen zusammen und ermögliche eine Fürsorge für das Vaterland, so dass diese Art der Knechtschaft eigentlich nicht so bezeichnet werden könne, vielmehr metaphorice einen Menschen als Diener benenne, wenn dieser einem Herrscher untertan sei, der durch seine gute Eigenschaft und durch seine Liebe agiere. Hierbei handelt es sich nicht um eine unabwendbare, durch die natürlichen Eigenschaften hervorgerufene Beherrschung, sondern um eine solche, die freiwillig und in Recht eingegossen sei. Diese gelinge nur, wenn Liebe zwischen Herrscher und Untertanen bestehe. Wenn die patria zu verteidigen verlangt sei, leisteten die Untertanen meist eigenmotiviert den Dienst. Alle Untertanen und Diener sollten ihren Herrn lieben, denn stets müsse das Höhere vom Niederen geliebt werden. Diese Forderung ist das Ergebnis einer Tugend. Der Diener, der seinen Herrn nicht liebe, sei nicht wie eine Biene, sondern wie eine Wespe, die sticht, schreibt Konrad von Megenberg. Liebe ist eingebunden in eine Herrschaftsordnung, setzt hierarchische Stufung voraus, enthält normative Forderungen und verweist auf eine Ethik, die die Dienste von Beherrschten verlangt, und auf eine Rechtsordnung, die die Liebe weniger in der Familie, als vielmehr im Staat vorsieht. Aber auch wenn die Unterwerfung als vernünftig und als freiwillig ausgegeben ist – also im Königreich –, schließt sie Mitwirkung an der politischen Gestaltung aus, ermöglicht nur eine Nutzengemeinschaft, die durch die Liebe hervorgerufen ist, und fordert zu höchstem Einsatz im Kampf für den Staat auf. von Megenberg. Das »Haus« als Norm für politische und soziale Strukturen, Köln etc. 1997.

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Bedrohte Autonomie des Individuums durch Politisierung der Liebe

Furcht und Schrecken haben in dieser Konstellation, die Konrad als politische bezeichnet, ihren Platz in der Weise, dass sie die Liebe erzwängen oder – falls dies nicht gelingen würde – ihr Fehlen ausglichen. Nicht in kleinen Gemeinschaften, vielmehr in großen sozialen Verbänden hat die Liebe ihren bevorzugten Platz. Die Liebe ist nicht spontan angelegt, sondern bedarf der moralischen Normierung. Die Liebe greift gemäß Konrad dort am meisten in die Herrschaft ein, je umfassender sie als staatlich gekennzeichnet ist, und existiert dort am wenigstens, wo sie auf unmittelbaren Beziehungen beruht. In den Nahbereich stellt Konrad vor allem die Furcht.1657 Die Schriften, die Oresme, Buridan und Megenberg im Kontext der Herrschaftspraxis und im Milieu großer Nähe zum Herrscherhof verfassten, bevorzugten eine an Norm und Effizienz angebundene Auffassung der Liebe, die rechtlich geformt werden müsse. Sowohl den Herrschern als auch den Untertanen war die Pflicht auferlegt, in gegenseitiger Liebe sich zu verbinden. Aus dieser Pflicht folgte aber kein gemeinsames Streben nach Nutzen, sondern die Bereitstellung eines gemeinsamen Nutzens einseitig durch die Herrscher. Die Autoren stellten die Liebe in einer Weise in den Dienst der Herrschaft, dass sie der persönlichen Autonomie entglitt. Deswegen könne am Hof, wie Buridan meinte, auch keine Freundschaft gedeihen. Liebe im Staat war kein die Individuen ergreifendes Gefühl und keine Beziehung der Zuneigung, sondern der Regulierung von Relationen. Liebe war in das Recht eingegossen und über das Recht in die Verwendung der Herrschaft gestellt.

1657 Konrad von Megenberg, Yconomia, S. 122f., 126f., 130f.

XIII. Liebe in Texten der Herrschaft während des späten Mittelalters

1.

Liebe als Klebstoff des Staates. Formeln in den Königsurkunden in Deutschland

Liebe war ein Wort. Es war in die Sprache der Wissenschaft von der Politik eingeführt. Aus dem Umfeld des Wissens, wie es an Universitäten und durch Predigten gewonnen und gelehrt wurde, trat das Wissen in die Herrscherhöfe ein. Es soll hier aber nicht eine Dichotomie von Theorie und Praxis behauptet werden, insofern die Praxis nicht minder als die Theorie auf einem Operieren mit Sinndeutungen beruhte, die das, was als »Praxis« bezeichnet werden kann, plausibel und damit im eigentlichen Sinne erst »praktikabel« machten. Die Liebe war entweder automatisch als Ergebnis des Wirkens der Natur oder normativ, d. h. durch Ethik oder Recht, mit der Herrschaft verbunden. In beiden Fällen war der Liebe ihr Ungestüm und ihre Leidenschaftlichkeit entzogen. Allein in domestizierter Form schien die Liebe in die Sprache der Politik und der Herrschaft integrierbar zu sein, um dort eine weit ausgreifende, den Nahbereich der Individuen verlassende Wirkung zu entfalten. Nicht in personaler Wirkung, sondern in formaler Anordnung war das Thema der Liebe politisch fruchtbar. So fand die Liebe Anschluss an die Herrschaft, denn sie war einer Normierung ausgeliefert, die der Herrschaft Einwirkungsinstrumente zur Verfügung stellte, zugleich aber auch Anforderungen an sie begründete. Eine emotionale Mattheit war das Ergebnis dieser institutionellen Integration. Der Begriff der Liebe war in der Sprache von Urkunden der römisch-deutschen Kaiser, bzw. Könige im späten Mittelalter präsent. Die Konzeption, die – theoretisch fundiert und pathetisch aufgeladen – die Kanzlei Kaiser Friedrichs II. formuliert und die die Liebe zugunsten von Verfahrenszwängen, die angeblichen Seinsordnungen (Erbsünde, Naturnotwendigkeiten) folgten, zurückgestellt hatte1658, fanden in der Weise eine Fortsetzung, dass die zeichenhafte Re-

1658 Kapitel VIII.3.

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Liebe in Texten der Herrschaft während des späten Mittelalters

präsentanz der Liebe in den Urkunden sie emotional aushöhlte und institutionell formte, ohne die Herrschaft den beweglichen und bewegenden Auswirkungen von Gefühlen auszusetzen. Weil die Liebe formalisiert und standardisiert war, wurde sie blass und matt. Unter der opaken Oberfläche des Benennens der Liebe verharrte eine begriffliche Leere. Gleichwohl war das Benennen nicht irrelevant, nur leitete sich die Relevanz nicht aus dem Inhalt des sprachlichen Zeichens, sondern aus der Zeichensetzung selbst ab. Die Etikettierung der Herrschaftspraxis und Herrschaftsmotivierung verwendete einen Begriff, der in der theoretischen Literatur ausführlich als Movens des Herrschens und Gehorchens im Staat, als Pflicht und als rechtliches Gebot erörtert wurde. Das Wort Liebe wurde in den Texten der Herrschaft eingesetzt. Seit dem Beginn der Königsherrschaft von Rudolf I. im Jahre 1273 wurden vermehrt Wörter, die Liebe benannten, in Urkunden der römischen-deutschen Kaiser bzw. Könige gebraucht. Erfassen sollte die Liebe zunächst einen exklusiven Kreis, den der Fürsten. Über diese vermittelt sollte sie alle Bewohner des Reiches erreichen. Eine Einheit wurde konzipiert, die eine allgemeine Unterstellung unter die Herrschaft begründete, einforderte und rechtfertigte, was eine liebende Zuneigung voraussetzte, die nicht in erster Linie einer Person, sondern einer Institution galt. Die Glieder des Reiches – offensichtlich waren damit die Reichsfürsten gemeint – sollten, so in einem Rundbrief König Rudolfs I. vom März 1275, durch die Fesseln der Treue und der Liebe mit dem Reich unlöslich verbunden sein.1659 Das Amalgam von Treue und Liebe gab den König und die anderen Glieder des Reiches deren Gewinner aus und sollte die Herrschaft stabilisieren. Ein institutionelles Band, nicht eine emotionale Hinwendung war ausgedrückt. Die Liebe war an Abstrakta angekoppelt. Die Einigung Rudolfs mit dem Kölner Erzbischof war dazu bestimmt, iustitiam et amorem hervorzubringen.1660 Liebe war thematisiert, selbst wenn Frieden mit einstigen Gegnern vereinbart wurde und das begriffliche Instrumentarium von Liebe, Eintracht, Vereinigung, Freundschaft und Zuneigung geeignet erschien, eine wiederhergestellte Ordnung auszudrücken und die Reichsfürsten an den König zu binden, ohne ihn in eine hierarchische Höchstposition zu erheben, was angesichts der Tatsache, dass Rudolf I. wegen der schwachen Ressourcen seiner eigenen Dynastie nur durch ein Einvernehmen mit den Reichsfürsten Gestaltungsmacht gewinnen konnte, auch naheliegend war.1661 Die Begrifflichkeit der Liebe sollte offensichtlich Schwächen seiner Macht überspielen. Die Überhöhung herrscherlicher Würde, 1659 MGH Const 3, Nr., 80, S. 69f. 1660 Ebda., Nr. 333, S. 319f. 1661 Peter Moraw, Der »kleine« König im europäischen Vergleich, in: Rudolf von Habsburg (1273–1291). Eine Königsherrschaft zwischen Tradition und Wandel, hg. v. Egon Boshof, Franz-Reiner Erkens (Passauer Historische Forschungen 7), Köln u. a. 1995, S. 185–208.

Liebe als Klebstoff des Staates. Formeln in den Königsurkunden in Deutschland

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wie sie zuvor Kaiser Friedrich II. in seinen Urkunden vorgeführt hatte, war nicht angemessen. Die Kanzlei Rudolfs hat sogar den lange andauernden Gegensatz seiner Dynastie zur Grafschaft Savoyen in die Termini liebender Zuwendung umgeformt.1662 So konnten selbst die heftigsten Konflikte, selbst die mit König Ottokar II. von Böhmen, in einer Sprache, die Liebe in Aussicht stellte, kaschiert werden, wie dies anlässlich eines letztlich gescheiterten Friedensprojekt mit dem böhmischen König geschah, das am 6. Mai 1277 dokumentiert wurde.1663 Liebe zu benennen, verringerte den hierarchischen Abstand oder hob ihn gänzlich auf. Vor allem im Kontakt zu anderen Königen wurde die Liebe genannt, so als Rudolf I. in einem Brief, der auf den 3. Mai 1278 datiert ist, dem englischen König Eduard I. ihn seiner Liebe und Aufmerksamkeit versicherte, welche ihre gegenseitige Freundschaft bewirkten und unverbrüchlich machen würden, ja sie zu einer ungeteilten Einheit gestalteten.1664 Zwischen den beiden Herrschern war in diesem Fall tatsächlich ein enges Bündnis geschmiedet; es beruhte auf gemeinsamer Gegnerschaft zu Frankreich und wurde durch mehrere Heiratsverbindungen gestärkt.1665 Auch gegenüber König Ladislaus IV. von Ungarn war im Juli 1277 die gegenseitige Liebe zugesichert.1666 Anders als im Verhältnis zu den Reichsfürsten war bei den Königen außerhalb des Reiches keine hierarchische Distanz zu wahren, so dass hier die Zuneigung unter Gleichen proklamiert wurde. Innerhalb des Reiches war der Schrecken ein ungenügendes und schändliches Mittel der Macht, das einzusetzen die anti-habsburgische Historiographie Rudolf zur Last legte. In der Chronik der bayerischen Herzöge war dargestellt: Um dem zunehmenden Ruhm und der wachsenden Macht der Fürsten und Adligen Herr zu werden, habe Rudolf ihnen Schrecken und Furcht eingeflößt, das Volk hingegen habe er mit Vergnügungen und Freuden überhäuft. Die Trennung von Furcht und Zuneigung war üblich. Ungewöhnlich war hier die soziale Differenzierung. Der Schrecken war ein Argument, um den König zu kritisieren, der sich zwar seiner Rivalen erwehre, dabei aber unlautere Mittel anwende und 1662 MGH Const 3, Nr. 171, S. 159f.; Bernard Andenmatten, »Primus in Romania«? La maison de Savoie et l’espace romand, in: Les pays romand au moyen .ge, hg. v. Agostino Paravicini-Bagliano u. a. , Lausanne 1997, S. 191–199. 1663 MGH Const 3, Nr. 129f., S. 123–129; Andreas Kusternig, Probleme um die Kämpfe zwischen Rudolf und Ottokar und die Schlacht bei Dürnkrut und Jedenspeigen am 26. August 1278, in: Jahrbuch für Landeskunde von Niederösterreich NF 44/45 (1978/79), S. 226–311. 1664 MGH Const 3, Nr. 171, S. 159. 1665 Ruth Köhler, Die Heiratsverhandlungen zwischen Eduard I. von England und Rudolf von Habsburg. Ein Beitrag zur englisch-deutschen Bündnispolitik am Ausgang des 13. Jahrhunderts, Meisenheim 1969; Arnd Reitmeier, Grundprobleme der deutsch-englischen Beziehungen im Spätmittelalter, in: Auswärtige Politik und internationale Beziehungen im Mittelalter (13.–16. Jahrhundert, hg. v. Dieter Berg u.a (Europa in der Geschichte 6), Bochum 2002, S. 139–150. 1666 MGH Const 3, Nr. 144, S. 139–141.

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Liebe in Texten der Herrschaft während des späten Mittelalters

unwürdige, bisher tiefstehende Personen begünstige, mit deren Hilfe er die Fürsten in Furcht und Schrecken halte. Die Konflikte zwischen den Dynastien der Habsburger, der Rudolf angehörte, und der bayerischen Wittelsbacher, auch diese mit Ambitionen auf die Königswürde, machten Rudolf zur Zielscheibe von Anschuldigungen. Der Schrecken galt als verwerflich, und ihn zu verbreiten, zeige ja nur deutlich, wie gering die Macht des Königs war.1667 Der Schrecken galt als verfehlt; er war nicht einmal mehr als nützlich erachtet. Die Erfurter Chronik berichtet über König Rudolf I., dass er, als er in Erfurt im Jahre 1290 Gericht über Verbrecher hielt, sie mit Schrecken heimgesucht habe, was aber nur zur Folge gehabt habe, dass sie sogleich vor seinem Angesicht flohen. Eine Bestrafung sei nun nicht mehr möglich gewesen, wie sie Rudolf beabsichtigt hätte. Der Schrecken als Sanktionsinstrument war vorgesehen, erwies sich aber als unwirksam.1668 Für den Chronisten und Franziskaner Johann von Winterthur (ca. 1300– 1349), der die Geschichte der frühen Habsburger, einschließlich Rudolfs, wohlwollend darstellte, bildeten Liebe und Furcht hingegen ein widerspruchsfreies Paar und galten beide als Garanten der Herrschaft und des guten Zusammenlebens, so dass deren Fehlen dazu führe, die Gebote Gottes und die Gesetze der Kirche zu missachten, was dann den Juden Gelegenheit böte, zum Schaden der Christen Wucher zu betreiben.1669 Der Mangel an Liebe öffnete den Feinden des Glaubens die Tür, um sowohl Herrschaft als auch soziales Leben zu untergraben. Der Schrecken fällt aber aus der positiven Bewertung heraus. Ihn erachtet Johann, anders als die Furcht, als ungeeignet für eine gerechte Herrschaft. Der Begriff des Schreckens wird als Ursache schlimmer Fehlentwicklungen eingesetzt, gilt als Kennzeichen verbrecherischer Handlungen. Johann von Winterthur gab als Folge der Ermordung König Albrechts I. durch dessen Neffen am l. Mai 1308 an, dass nunmehr der gesamte Erdkreis mit Schrecken erfüllt sei. Der Schrecken entstand nach dieser Darstellung nicht aus der Herrschaft, sondern aus ihrem Fehlen. Auch ansonsten war der Schrecken in der Darstellung des Chronisten ein negatives Signum von Rivalität, Auflehnung und Streit und stets den Feinden der Habsburger angelastet.1670 Die Gegner der Habsburger verfuhren ähnlich. Die chronica de gestis principum, welche die Position der bayerischen Wittelsbacher stützte, behauptete, dass deren Feinde, sowohl König Adolf I. (1292–1298) als auch Kaiser Heinrich 1667 Chronicon de gestis principum, in: MGH SRG 19, hg. v. Georg Ledinger, Hannover, Leipzig 1918, S. 1–104, S. 29; Peter Moraw, Von offener Verfassung zu gestalteter Verdichtung. Das Reich im späten Mittelalter, 1989, S. 211–239. 1668 Chronica S. Petri Erfordensis hg. v. Oswald Holder-Egger (MGH SRG 42), Hannover, Leipzig 1899, S. 293. 1669 Die Chronik Johanns von Winterthur, S. 239. 1670 Ebda., S. 169, 222, 251, 274.

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VII. (1308–1313), in Italien mit Schrecken gewütet hätten, um die dortigen Städte zu bekämpfen. Umso heller erstrahle König und Kaiser Ludwig der Bayer (1314–1347), der versucht habe, die Liebe zur königlichen Majestät unter den Gliedern des Reiches anzufachen, ja dem Kaiser Bewunderung zuzuführen.1671 In einer Urkunde vom August 1329 zugunsten seines gleichnamigen Sohns, des Markgrafen von Brandenburg, würdigte Kaiser Ludwig den amor naturalis, der ihm darzubringen sei. Hier war nicht nur die familiäre Beziehung ausschlaggebend; vielmehr nahm die Urkunde auch Vorstellungen politiktheoretischer Schriften auf, die auf die natürliche Disposition des Menschen hinwiesen, die sie in staatliche Verfassungen einbettete. Viel spricht dafür, dass die Formulierung Vorstellungen in dem Werk von Marsilius von Padua Defensor pacis aufgriff, um die Auffassung zu begründen, dass familiäre in politische Liebe überführt werde.1672 Der den Habsburgern nahestehende Chronist Johann von Viktring († 1347) verwies auf Ciceros Schrift De Laelio – zu seiner Kenntnis war er durch den Fürstenspiegel von Helinand von Froidemont gelangt – und erachtete Freundschaft als notwendig, damit die Gesetze ihre Wirkung entfalten könnten, so dass Eintracht gedeihe, die letztlich sogar Liebe hervorbringe.1673 Hier war Freundschaft als Motivator, Liebe als Ergebnis vorgestellt. Wer herrschte, war auf sie angewiesen. Es war also mehr als nur die unbeständige politische Opportunität, sondern auch die Beständigkeit des Rechts an die Liebe gekoppelt. Deswegen war es wohl unerlässlich, die Kooperationsangebote deutlich herauszustellen, weswegen nicht mehr nur auf die Treue der Fürsten, sondern auch auf deren Rechte zu verweisen war. Die gesicherte Positionierung der Fürsten wurde behauptet: amor et iustitia bildeten ein Begriffspaar, das die Paarung amor et fides zunehmend zurückdrängte. Die Urkunden Rudolfs und seines Sohnes und späteren Nachfolgers Albrecht I. (1298–1308) und dann diejenigen von König und Kaiser Heinrich VII. (1308–1313) zeigen den Übergang von einem zum anderen Begriffspaar. Die Rechte der Fürsten versprach der König zu achten. Die Beziehung war juristisch fixiert und eines emotionalen Gehaltes entleert, ohne dass dies aber dazu führte, die Liebe als terminologisches Versatzstück gänzlich beiseite zu schieben, um das Band zwischen König und 1671 Chronica de gestis principum, in: Die bayerischen Chroniken des 14. Jahrhunderts, hg. v. Georg Leidinger (MGH SRG us. schol. 19), Hannover, Leipzig 1918, S. 1–104, 49, 71; Stefan Dicker, Landesbewusstsein und Zeitgeschehen. Studien zur bayerischen Chronistik des 15. Jahrhunderts (Norm und Struktur. Studien zum sozialen Wandel in Mittelalter und früher Neuzeit 30), Köln u. a. 2009, S. 41–51. 1672 MGH Const, Bd. 5 hg. v. Jacob Schwalm, Hannover, Leipzig 1909–13, Nr. 801, S. 626; Bd. 6,1, hg. v. Jacob Schwalm, Hannover 1914–27, Nr. 664, S. 534. 1673 Johannes von Viktring, Liber certarum historiam, Teil 1, hg. v. F8dor Schneider (MGH SRG 36), Hannover, Lepzig 1909, I, S. 187; Cicero, Laelius, S. 69–71, 73f., c. 17, 18 u 20; Helinand de Froidmont, De bono regimine principis, Sp. 735–746.

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Fürsten zu benennen.1674 Lediglich König Adolf I. (1292–1298), dessen Königsherrschaft scheiterte und der der Dynastie der Nassauer die Königswürde nicht sichern konnte, stellte die Begriffe von Liebe und Gerechtigkeit zurück. Dessen gegen die Habsburger errungene Königsgewalt und der sich zuspitzende Konflikt mit den Kurfürsten isolierten ihn, was schließlich zu seiner Niederlage gegen Albrecht I. und seinem Tod auf dem Schlachtfeld führte. Den gegen ihn opponierenden Reichsfürsten, die sich mit dem französischen König verbündeten, drohte er unverhohlen den Schrecken an.1675 Kooperationsangebote fehlten. Seiner Herrschaft kam dieses Verhalten nicht zugute. Anders Kaiser Heinrich VII. (1308–1313): Er sei nur dann auf den Einsatz der Furcht angewiesen, wenn er gegen die hartnäckigsten Gegner vorgehe, wie dies der dem Herrscher wohlgesinnte Chronist Nikolaus von Butrinto berichtet, als er das Verhältnis zur Stadt Florenz, die sich gegen Heinrich VII. auflehnte, darstellte.1676 Ansonsten war die Liebe in Aussicht gestellt. Dies geschah in den Urkunden Heinrichs zugunsten der mit ihm verbündeten Städte in Italien.1677 Liebe war ein Band der Herrschaft; aber sie galt als ein unsicheres Band. Sie konnte sogar als eine Gefahr für die Herrschaft vorgestellt sein. Wichtiger als Liebe war eine Ordnung, die normativ vorgegeben sein sollte und ohne die Erwähnung von Emotionen, die als wandelbar und unbeständig galten, auskam. Die Urkunden König Albrechts I. enthielten die Formel, dass weder Liebe noch Hass die Geltung der von ihm verbrieften Rechte und Abmachungen beeinträchtigen sollten. Liebe störe – nicht anders als Geldgeschenke, Gunst, Furcht und Schrecken – die Herrschaft und die Gerechtigkeit. Sie verhindere den richtigen Vollzug von Anweisungen und die gerechte Erteilung von Vergünstigungen. Liebe stand Ordnungskonfigurationen, die auf regulierten Handlungen und Kompetenzen beruhen sollten, entgegen.1678 Auch die Kanzlei Ludwigs des Bayern gebrauchte die Formel, dass Liebe, Hass, Missgunst, Geschenke usw. bei der Gewährung und im Vollzug der Privilegien, beim Abschluss der Verträge und bei der Erteilung von Versprechungen ausgeschlossen sein sollten.1679 Die Beständigkeit der Herrschaft und des von ihr gesetzten Rechts war zu sichern gegenüber allen willkürlichen Regungen und Entscheidungen. Ja, die Liebe, als amor bezeichnet, wurde in mehreren Urkunden in eine Reihe gestellt mit dem 1674 MGH Const 3, Nr. 104, 129, 129, 333, 364, S. 93–95, 123–128, 319–321, 348; MGH Const 4,1, Nr. 56, 64, 102, 211, 407, S. 45f., 50, 78, 182f. , 354; MGH Const 4,2, Nr. 760, S. 750f. 1675 MGH Const 3, Nr. 575, S. 538f., Heinz Thomas, Deutsche Geschichte des Spätmittelalters 1250–1500, Stuttgart u. a. 1983, S. 98–100. 1676 Nicolaus de Butrinto, Relatio de Henrici VII. imperatoris itinere italico, hg. v. Heyck, Innsbruck 1888, S. 72; Schmidt, Povert/, S. 381f. 1677 MGH Const 4,2, Nr. 988, S. 1029–1032. 1678 MGH Const 3, Nr. 473, S. 460. 1679 MGH Const Nr. 5, 93, 185, 564, S. 87f., 172, 452f.; MGH Const 6, Nr. 265, 347, 408, 609, 630, 634, S. 172f., 256, 511, 531f., 534, 308f.

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Betrug. Der Automatismus im Vollzug des Rechts duldete keine Verführungen, zu denen auch die Liebe Anlass bieten konnte. Dagegen behielt der Begriff dilectio seinen hohen Wert. Die terminologische Differenz bezeichnete die unterschiedlichen Wirkungen, die der Liebe zugeschrieben wurden.1680 Die beiden Wörter spiegeln eine Unterscheidung zwischen verwerflicher Privatliebe und heilsamer Staatsliebe wider Die terminologische Trennung war indes unscharf. In den Königsurkunden Ludwigs des Bayern wurde auch das Wort amor im positiven Sinn verwendet. Es war auf die gesamte Herrschaft bezogen und nicht allein Familienmitgliedern vorbehalten. Ludwig sicherte wiederholt den Adressaten der von ihm ausgestellten Urkunden zu, dass ihnen amor et amicicia gewährt würden. Häufig fanden die Begriffe Verwendung in den Urkunden, die an Herrscher außerhalb des Reichsgebietes gerichtet waren, an die Könige von Dänemark, Ungarn und Sizilien. Für Empfänger im Reichsgebiet hingegen war weiterhin die Formel von Gerechtigkeit und Liebe als Voraussetzung des Gehorsams und der Einigkeit im Reich gebräuchlich, damit eine hierarchische Unterordnung unter die Gewalt des römischen Königs bzw. Kaisers und zugleich eine Machtbeteiligung der Fürsten begründend.1681 Eindeutiger und von negativen Konnotationen gänzlich befreit war der Begriff der caritas in die Urkundensprache eingeführt. Sie galt als Kitt und als Klebstoff der Beziehungen des Königs. Sie war das glutinum, das königliche und kaiserliche Herrschaft stark mache, Bündnisse beständig halte und zum gemeinsamen Handeln der Glieder des Reiches führe.1682 Der Liebe, als caritas bezeichnet, war eine große Wirkung zugeschrieben; die Formulierung benannte eine geradezu mechanische Wirkung des Verklebens. Die emotionale Verursachung war dabei wenig wichtig; was bedeutsam war, war das Ergebnis. Die caritias war in den Dienst der res publica gestellt, die mehr als nur rechtlicher Kohäsionskräfte bedürftig vorgestellt war. Die Kennzeichnung der Liebe als Klebstoff des Staates riss auch in den Urkunden König und Kaiser Karls IV. (1346–1378) nicht ab, genauso wenig aber auch der Hinweis auf die Gefahren, die der amor, so wie das odium, wegen ungerechter Begünstigung oder Benachteiligung hervorrufen könne.1683 Damit die Liebe nicht in Willkür mündete, musste 1680 MGH Const 4,1, Nr. 580, 628, 660, S. 535–537, 589f., 628f.; MGH Const 4,2, Nr. 753f., 764, 891, 997, S. 743f.,753f., 754, 904f., 1040f. 1681 MGH Const 5, Nr. 143, 940, S. 98f., 777; MGH Const 6, 1, hg. v. Jacob Schwalm, Hannover 1914–27, Nr. 255, 315, 608, S. 160, 226f., 510f.; zum Konzept der »Mitunternehmer«, als die sich auch Reichsfürsten im Verhältnis zum König anboten: Peter Moraw, Die Verwaltung des Königtums und des Reiches (ca. 1350–1500), in: Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. 1, hg. v. K.G.A. Jeserich, Stuttgart 1983, S. 45–78, S. 70ff. 1682 MGH Const 6, Nr. 813, S. 685f. 1683 MGH Const 8, hg. v. Karl Zeumer, Richard Salomon, Hannover 1926, Nr. 230, 248, 384, S. 287f., 307, 429f.; MGH Const 10, hg. v. Margarete Kühn, Weimar 1979–1991, Nr. 15, 20,

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sie rechtlich eingefasst werden. Nirgends war dies deutlicher zum Ausdruck gebracht als in den Statuten der Stadt Bergamo, die in enger Anbindung an den zu dieser Zeit in Italien operierenden König Johann von Böhmen, dem Vater Karls IV., erlassen worden waren. Die einleitenden Passagen bezeichneten die Bürger als amatores regis und nannten dessen Zuneigung zu ihnen einen legalissimum affectum. Gesetz und Affekt waren terminologisch miteinander verwoben. Jedoch verschob sich die Wichtigkeit hin zur normative Ordnung, was ja auch der Superlatif des Gesetzlichen anzeigte.1684 Letztlich waren es gesetzliche Bestimmungen, die das Zusammenwirken der Glieder des Reiches garantierten, während die Liebe zur terminologischen Hülse wurde. Das Pontifikale von Daniel von Wichterich, der als Weihbischof des Großonkels von Karl IV., des Trierer Erzbischofs Balduin von Luxemburg und seit 1342 als vom Papst promovierter Bischof von Verden amtierte, weist im Abschnitt zur Königskrönung auf die Kooperation der Kurfürsten hin, auf die die Macht des römischen Königs und die Einheit im Reich beruhten. Die im Pontifikale formulierte Predigt des krönenden Kölner Erzbischofs und der Eid, den der Gekrönte leistet, nennt ausdrücklich die Beteiligung der Kurfürsten an der Herrschaft, die mit dem König in Eintracht handeln. Aus ihr leitete Daniel von Wichterich die Einheit des Reiches ab. Eine emotionale Grundierung wurde nicht behauptet. Auch in den politiktheoretischen Schriften des Zeitgenossen Lupold von Bebenburg, der dem Trierer Erzbischof Balduin aus der Luxemburger Dynastie nahestand, wurde auf rechtliche Kompetenzen verwiesen, wohingegen die Liebe als Bindeglied nicht in Erscheinung trat, sofern es sich nicht um die der Königin zum König handelte, also familiär eingehegt war.1685 Aber die Liebe, sofern rechtlich geformt und rechtlich wirksam, vorzuführen, war offensichtlich weiterhin unverzichtbar. Die Rede von der Einheit des Reiches, die es wiederherzustellen gelte und die auf der Liebe aufzurichten sei, war ausdrücklich im Text der Goldenen Bulle präsent, welche auf dem Hoftag in Nürnberg 1356 von Kaiser Karl IV. in Kooperation mit den Kurfürsten auf der Grundlage mehrerer Entwürfe, die die kaiserliche Kanzlei aufgesetzt hatte, erlassen wurde.1686 Die Rechte des römischen Königs und der Kurfürsten definierend, führt sie in mannigfachen Wendungen die Einheit und die Liebe vor, die zwischen den Gliedern des Reiches und insbesondere zwischen den Kurfürsten bestehen solle. Die drei theologischen Tugenden von Glaube, Hoffnung und 31, 38, S. 12f., 21f., 29–31, 60–62; MGH Const 11, hg. v. Wolfgang D. Fritz, Weimar 1978– 92, Nr. 16, 98, 200, 761, 771, S.16, 66, 118f., 428–431, 436f. 1684 Lo statuto di Bergamo del 1331, hg. v. Claudia Storti Storchi, Mailand 1986, S. 12, 15. 1685 BibliothHque Municipale de Verdun, Ms. 90; Hofbibliothek Aschaffenburg, Ms. 12; Schmidt, Politisches Handeln, S. 129–150; Lupold von Bebenburg, Politische Schriften, hg. v. Jürgen Miethke, Christoph Flüeler (MGH. Staatsschriften 4), Hannover 2004, S. 482. 1686 Michail Boycov, Der Kern der Goldenen Bulle von 1356, in: DA 69 (2013), S. 581–614.

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Liebe – letztere als caritas bezeichnet – befestigten das Reich, das, sofern es gespalten wäre, dem Untergang geweiht sei. Das Gegenbild zur liebenden Einheit sei der Streit unter denjenigen, die als Gesellen des Diebstahls – socii furum – in der Urkunde gescholten werden. Selbst wenn die Fürsten, Adligen und Städte in Auseinandersetzungen verwickelt würden, seien sie gehalten, durch das Geleit der zur Königswahl anreisenden Kurfürsten für die Einheit des Reiches Sorge zu tragen. Die nunmehr rechtlich festgelegte Sitzordnung der Kurfürsten führe sie zur Einmütigkeit. Eines Herzens und eines Sinnes sollten sie sein, damit sie durch den Eifer tugendhafter Liebe – virtuose dilectionis studio – dazu gebracht würden, zum Trost des christlichen Volkes nachzudenken und zu handeln. Einen Eid des Gekrönten sieht die Goldene Bulle nicht vor, wohl aber eine Predigt, die des Mainzer Erzbischofs, die nicht an den Gekrönten, aber an die Wähler gerichtet ist. Dies ist folgerichtig, ist doch die institutionelle Kooperation die Grundlage des Reiches und nicht die Tugend des Herrschers.1687 Der Widerspruch zwischen der wankelmütigen und ungerechten Liebe, die es auszuschließen gelte, weil sie ungerecht, willkürlich und unbeständig wirke, und der Liebe, die die Grundlage für die Treue und den Gehorsam wie auch für die Fürsorge für das Reich sei, dieser Widerspruch wurde in der Urkundensprache terminologisch zu lösen versucht: durch die Opposition zwischen amor einerseits und caritas und dilectio andererseits, ohne dass indes eine eindeutige definitorische Trennung erfolgte, denn auch die Bedeutung und die Bewertung des Wortes amor waren changierend. Zweitens wurde der Widerspruch aufgelöst durch die sprachliche Verbindung von Liebe mit Einheit und Gerechtigkeit. So war der Name der Liebe seiner Ambivalenz enthoben. Dies ging auf Kosten emotionaler Authentizität. Die floskelhafte Formulierung war zwar geeignet, Herrschaft zu begründen, war aber sinnentleert, wenn Motive hätten erläutert werden sollen. Die Könige waren auf die Kooperation mit den Reichsfürsten angewiesen; und diese Kooperation war institutionell zu verankern und stabil zu halten und sollte von schwankenden Motiven und Interessen ferngehalten werden, wie dies ja die Goldene Bulle verlangte. Liebe als Emotion sollte ausgeschlossen sein und nur als rechtliche Formierung von Beziehungen aufgerufen sei. Drittens war die Liebe als Bindeglied, als Klebstoff vorzustellen. So war die institutionelle Kohäsion begrifflich gefasst und die Kooperation mit dem ge1687 MGH Fontes iuris Germanici antiqui in usum scholarum, Bd. 11: Die Goldene Bulle, hg. v. Wolfgang Fritz, Weimar 1972, S. 44f., 48, 54–56, 61; Michael Borgolte, Die Goldene Bulle als europäisches Grundgesetz, in: Die Goldene Bulle. Politik, Wahrnehmung, Rezeption, hg. v. Ulrike Hohensee (Berichte und Abhandlungen der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Sonderbd. 12), Berlin 2009, S. 599–618; Bernd Schneidmüller, Monarchische Ordnungen. Die Goldene Bulle von 1367 und die französischen Ordonnanzen von 1374, in: Die Welt des Mittelalters. Erinnerungsorte eines Jahrtausends, hg. v. Johannes Fried, Olaf B. Rader, München 2011, S. 324–335.

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wählten Monarchen begründet. Die Ambivalenz von Bewertungen der Liebe ist nicht allein den Bedingungen und dem Reflexionsniveaus einer Kanzlei geschuldet, die mit einem geringeren Personalbestand als in den anderen Monarchien des welstlichen Europa auskommen musste, einem häufigen Dynastiewechsel und damit verbunden einem Austausch des Personals unterlag, häufig die Einsatzorte wechselte und weniger Chancen hatte, Experten aus Universitäten – die in Mitteleuropa erst seit der Mitte des 14. Jahrhunderts entstanden – heranzuziehen.1688 Die Ambivalenz in der Bewertung der Liebe in der Herrschaft war vielmehr vor allem das Ergebnis einer zunehmenden Dominanz von Verfahrensordnungen, die auch in Deutschland praktiziert wurden und königliche und fürstliche Herrschaft von den Unbeständigkeiten emotional motivierter Antriebe ablösen sollten, wodurch die Berufung auf die Liebe eines eindeutigen Sinns beraubt war, zugleich aber diese Berufung weiterhin üblich blieb, um Kohäsionskräfte vorzustellen. Ähnliche Bedingungen bestanden im Königreich Ungarn. Dort waren die Könige mit einem institutionell und bürokratisch schwach fundamentierten Hof umgeben. Mit dem Beginn der Herrschaft der Anjou-Herrscher aus Süditalien im Jahre 1308 erfuhr Ungarn aber einen innovativen Schub an administrativer Gestaltung und zugleich einen erweiterten Zugang zu theoretischen Konzepten zur Politik.1689 Die Liebe wurde Thema der Sprache der Herrschaft. Sie war terminologisch wenig sortiert; sie galt sowohl als Garant der Macht des Königs als auch der Privilegien der Großen des Reiches; sie war dem Königtum sowohl förderlich als auch abträglich gekennzeichnet. Die ungarische Chronik berichtet von König Ludwig dem Großen (1342–1382), dass er anlässlich seiner Inthronisierung und Krönung im Jahre 1342 allen Fürsten des Reiches, geistlichen wie weltlichen, versprach, sie in spezieller Liebe zu halten und ihre Freiheiten zu bewahren. Liebe und Freiheit gingen parallel, um Zuneigung und Privilegierung, Königsnähe und die politische Partizipation der Fürsten vorzusehen. Die Funktion der Liebe als sozialer Kitt tönte auch hier an und sollte die enge Kooperation zwischen König und allen im Königreich darstellen. Die Liebe war aber auch gefährlich, wenn sie zur Auflösung von Ordnung führte, wie die Chroniken ebenfalls darstellten.1690 Eine Tendenz zur Abwertung des emotionalen Gehalts der Liebe zeichnete sich in Deutschland und in Ungarn ab, ging aber auch mit einer mechanistisch 1688 Peter Moraw, Räte und Kanzlei, in: Kaiser Karl IV. Staatsmann und Mäzen. Katalog der Ausstellung Nürnberg, Köln 1978/79, hg. v. Ferdinand Seibt, München 1978, S. 285–292, 460; Helmut Bansa, Studien zur Kanzlei Ludwigs des Bayern (1314–1329), München 1969. 1689 Stefan Türr, Die Rückwirkingen der Herrschaft der neapolitanischen Anjous auf Ungarn, in: Ungarn-Jahrbuch 12 (1982/83), S. 51–69. 1690 Chronici Hungarici compositio saeculi XIV, hg. v. Alexander Domanovszky (Scriptores rerum Hungicarum 1), Budapest 1937, S. 217–506, S. 504.

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konzipierten, Automatismen hervorrufenden Wirkung der Liebe einher, die, als caritas bezeichnet, das Reich zusammenklebte. Dieses glutinum rei publicae sollte zur Stabilität einer rechtlich geformten Verfahrensordnung beitragen. Die Metaphorik einer politisch nützlichen Liebe begünstigte nicht eine Person, sondern den Staat. Dies setzte die Zähmung einer Emotionalität voraus, die ansonsten den Zusammenhalt im Staat gefährden würde. Dies entsprach dem Reflexionsstand der Politiktheorie, die Liebe von der Emotion wegführte und in das Recht einstellte. Liebe war Ordnungskonfigurationen unterworfen und sollte sie formen. Liebe wurde zum Kitt des Staates. Diese Formel kam ohne die Evokation von Emotionen aus.

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Schwankend und vieldeutig und emotional schwach ausgeführt war die Verwendung der Begriffe der Liebe auch in den Rechtstexten, die die französischen Könige ausstellten: Die Liebe – insofern sie individuelle Beziehungen prägt – verhindere den allgemeinen Vollzug von Regeln, wohingegen die entpersonalisierte Geltung der Liebe den Zusammenhalt aller im Reich herbeiführe. Die fehlende begriffliche Eindeutigkeit war auch hier nicht das Ergebnis mangelnder politiktheoretischer Kenntnisse, die vielmehr am Hof der französischen Könige mit langer institutioneller Kontinuität kultiviert wurden. Aus dem Fundus theoretischer Überlegungen flossen offensichtlich Vorstellungen in die sprachliche Formung des politischen Handelns. Das Engagement juristisch und zugleich philosophisch ausgebildeter Experten am französischen Königshof bereitete das Terrain vor, Vorstellungen zu entwickeln, die Liebe zwischen allen Untertanen und zwischen ihnen und dem König als Fundament der Herrschaft und ihrer Ausübung und als Basis von Loyalität und Legitimität einzuführen, aber auch vor der Liebe zu warnen, sofern sie die juristische Ordnung störte. Liebe wurde auch in Frankreich rechtlich geformt und als Topos in die Herrschaftssprache eingesetzt.1691 Verordnungen und Anweisungen der Könige kündeten seit dem 13. Jahrhundert, die Schwäche der Menschen kompensieren zu wollen, um das allgemeine Wohl herzustellen. Dazu bedürfe es des Eingreifens des Königs. Die uti1691 FranÅoise Autrand, Naissance d’un grand corps de l’Etat. Les gens du Parlement de Paris, 1345–1454, Paris 1981; in: Jean-Louis Gazzaniga, Les clercs au service de l’Etat dans la France du 15e siHcle, in: Droits savants et pratiques franÅaises du pouvoir (11e–15e siHcles), hg. v. Jean Krynen, Albert RigaudiHre, Bordeaux 1992, S. 253–278; HelHne Millet, Peter Moraw, Clerics in the State, in: Power Elites and State Building, hg. v. Wolfgang Reinhard, Oxford 1996, S. 177–188.

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litas publica war der begriffliche Kern einer Konzeption, die die Legitimität der Herrschaft aus den Bedürfnissen der Untertanen ableitete und dabei eine Formulierung des römischen Rechts aufgriff. Der ähnliche Begriff des bonum commune war in den Texten, die die Politik des Aristoteles kommentierten und deuteten, vorherrschend. Der Unterschied bestand darin, dass ersterer eher praktisch und intentional gemeint war, letzterer kausal und institutionell. War einerseits das Ziel vorgegeben, so andererseits ein gesellschaftlicher Zusammenhang vorgestellt, der der Grund des Handelns für ein gemeinsames Gut darstellte.1692 Aber eine Frage war damit nicht beantwortet: Warum sollte der Herrscher sich tatsächlich den Aufgaben widmen, die die Leitung des Staates ihm abverlangten? Der Hinweis auf die Eigenschaften des individuellen Herrschers, auf seine Vorzüge und seine Tugenden genügten nicht. Vielmehr sollte der königliche Leib, der sich in der Person des Herrschers realisierte und der in die dynastische Kontinuität führte, Garant dafür sein, dass der Herrscher für das Wohl seiner Untertanen sorgte. Wer den Leib des Königs berührte, durfte darauf hoffen, von Krankheiten zu genesen.1693 Aus dem Körper des Königs strömte die Liebe zum Volk, so wie das Volk den König liebte. Liebe entspross weniger dem Tun des Herrschers, sondern bereits aus seinem Sein. Dieses Sein war an das Amt gebunden. Die Predigt, die Robert Sainceriax anlässlich des frühen Todes des französischen Königs Ludwig VIII. 1226 hielt, stellte die Liebe heraus, die dieser König für sein Volk gehegt habe, besonders gegenüber den Armen. Die Liebe habe aber auch das gesamte Königreich erfasst, so dass niemand gegen den König feindlich eingestellt gewesen sei. Gesegnet seien diejenigen, so der Text der Predigt, die den König liebten, ihn berieten und ihm halfen, so dass sie zu seinen Freunden wurden. Viele hätten Liebe zum König und nach dessen Tod Trauer empfunden. War auch eine Reziprozität der Liebe nicht gegeben, da allein die Liebe des Königs allen gewährt werde, hingegen unter seinen Untertanen nur wenige seine Liebe erwiderten, behauptete doch die Lobpreisung des verstorbenen Königs eine umfassende Bindungswirkung, die die Herrschaft kräftigte. Die Liebe entsprang nicht einem persönlichen Impuls von Ludwig VIII., sondern war eingebettet in einer von allen Königen Frankreichs dargebrachten Liebe für ihre Untertanen. Sie entspringe, so der Predigttext, der Liebe Gottes zu den Men1692 Jean Gaudemet, Utilitas publica, in: Revue historique de droit franÅais et 8tranger 4/29 (1951), S. 465–499; Ullmann, Law, S. 110–116; Hibst, Utilitas Publica, S. 177–184, 222 f; Gisela Naegle, V8rit8s contradictoires et r8alit8s constitutionnelles. La ville et le roi en France / la fin du moyen .ge, in: RH 306 (2007), S. 727–762. 1693 Joachim Ehlers, Der wundertätige König in der monarchischen Theorie des Früh- und Hochmittelalters, in: Reich, Regionen und Europa in Mittelalter und Neuzeit. Festschrift für Peter Moraw, hg. v. Paul-Joachim Heinig u. a., Berlin 2000, S. 3–20.

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schen, und sie gleiche ihr. Die wie ein Panegyrikus formulierte Predigt präsentiert ein Ideal, das verwirklicht worden sei und Vorbild für künftige Generationen sein sollte, aber auch als ein dem Königtum innewohnendes Element fest eingebunden sei. Die Liebe sei göttlich und zugleich politisch. Sie sei durch die Dynastie gewährleistet, und sie sei an das Amt gebunden.1694 Ein individuelles Vorbild, das die Liebe glaubhaft realisierte und auf persönlicher Vortrefflichkeit beruhte, war gleichwohl verlangt. Besonders König Ludwig IX. (1226–1270) hat diesem Anspruch genügt. Seine exzeptionelle Stellung, die ihn zur Fundierung einer »religion royale« prädestinierte, darf indes nicht darüber hinwegtäuschen, dass seine devotionalen Praktiken, seine Maßnahmen zur Durchsetzung der »Gerechtigkeit«, sein Engagement als Kreuzfahrer typisch waren für das spätmittelalterliche Königtum.1695 Entscheidend scheint mir aber weniger seine »Heiligkeit« zu sein, die sofort nach seinem Tod propagiert wurde und schließlich durch den Kanonisationsprozesses verbürgt war, der in der Pause der Auseinandersetzungen zwischen seinem Enkel und späteren Nachfolger, König Philipp IV., und Papst Bonifaz VIII. am 6. August 1297 zum Abschluss kam.1696 Wichtiger für die Praxis der Herrschaft ist ein anderer Aspekt: Ludwig IX. und seine Nachfolger erhoben den Anspruch, in die Gestaltung des sozialen Lebens der Untertanen einzugreifen, um deren Wohl zu befördern, weil sie Zuneigung zu ihnen hegten. Ludwig IX. verkündete, bestehende Einrichtungen und übliche Verhaltensweisen zu überprüfen. Sie wurden an Idealvorstellungen gemessen, die liebende Beziehungen vorsahen. Bei Abweichungen von der guten Verfassung waren die Missstände zu ändern: in der Sprache der Zeit – zu reformieren. Reform kann nicht allein als Versuch verstanden werden, an ein Altes und Gutes anzuknüpfen und es wiederherstellen zu wollen, sondern als das Anliegen, bewusst Neues zu gestalten, indem das Alte überwunden wird.1697 Reformpolitik war zunächst religiös begründet und sollte die Untertanen bei dem Streben nach dem Seelenheil unterstützen. Der Begriff der reformatio war

1694 Recueil des historiens des Gaules et de la France, nouvelle 8dition, Bd. 23, hg. v. Natalis de Wally, L8opold Delisle, L8opold Victor, Paris 1886, S. 124–131. 1695 Jacques Le Goff, La saintet8 de Saint Louis. Sa place dans la typologie et l’8volution chronologique des rois saints, in: Fonctions des saints dans le monde occidental (3e-13e) siHcle, Rom 1991, S. 285–293; Schmidt, D8votion, S. 35–60. 1696 Louis Carolus-Barr8, Les enquÞtes pour la canonisation de saint Louis, de Gr8goire IX / Boniface VIII, et la bulle »Gloria laus« du 11 ao0t 1297, in: RHEF 57 (1971), S. 19–29; Le Goff, Saint Louis, S. 328–525; Marie Dejoux, Les enquÞtes de Saint Louis. Gouverner et sauver son .me, Paris 2014. 1697 Jürgen Miethke, Reform, Reformation, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 7, München 1995, Sp. 540–550.

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dem kirchlichen Sprachgebrauch entlehnt.1698 Die durch das vierte Laterankonzil von 1215 angestoßenen Reformen hatten ja bereits eine alle Lebensbereiche, auch die der weltlichen Herrschaft, erfassende Verbesserung und Erneuerung ins Auge gefasst, allein schon um die militärische Anstrengung eines erneuten Kreuzzuges in die Wege zu leiten.1699 Die Behauptung, Reformen aufzuerlegen, führte zu einer neuen Herrschaftskonzeption, die die Liebe in Anspruch nahm, um die tätige Fürsorge zu begründen, die allen Untertanen zugute kommen sollte, nicht allein einzelnen Getreuen und Verwandten. Ungerecht behandelte und rechtswidrig unterdrückte Untertanen hat Ludwig IX. aufgefordert, ihre Anliegen vorzutragen; ihre Aussagen wurden gesammelt, so dass ihren Anliegen durch königliche Dekrete Abhilfe gewährt werden konnte.1700 Die historiographischen Werke zum Leben Ludwigs IX. leiteten hingegen seine Fürsorge von seiner persönlichen Frömmigkeit ab. Das Ziel der Texte, seine Heiligsprechung zu befördern, verlangte die Darstellung des Außerordentlichen. Das Mitgefühl des Königs für die Not der Untertanen sei gepaart mit seiner Demut, die ihn dieser Not annähere. Die Chronik von Primat von SaintDenis zum Leben Ludwigs IX. beschrieb ausführlich die milden Gaben, die Ludwig IX. heimlich jeden Tag den Armen gewährt habe. Der Text stellt eine Armenfürsorge dar, die keine Linderung des Loses der Armen als vordringliches Ziel angibt, vielmehr in den Handlungen eine Frömmigkeit vorführt, die die ausführende Person lobt, deren Vortrefflichkeit sich ansonsten in den Gebeten, Fasten und Wachen zeigt, ohne aber stets ein Verbesserungsprogramm zugunsten des Wohl der Untertanen vorzusehen. Ludwig verrichte die Taten heimlich, wie Primat berichtet; dies sei ein Grund mehr, dass seine Tugend sich bewähre, und die Heimlichkeit schließe keineswegs aus, wie Primat an anderer Stelle angibt, dass die oeuvres de piti8 entgegen der angeblichen Absicht Ludwigs allen bekannt würden und als Ausweis der Vortrefflichkeit von Ludwig, dem heiligen König, galten und wohl auch gelten sollten, sonst wäre ja die hagiographische Lobpreisung sinnlos.1701 Das Handeln des Königs war aber in der Realität nicht auf pietas und hu1698 Jacques Le Goff, Saint Louis, S. 216–220; Steven Vanderputen, Reform, Conflict, and Shaping of Corporate Identity (Vita regularis 54), Münster 2103, S. 31–50, 171–192. 1699 Pennington, Pope, S. 190–195; Philipp Schäfer, Innozenz III. und das vierte Laterankonzil, in: Papst Innozenz III. Weichensteller der Geschichte Europas, hg. v. Thomas Frenz, Stuttgart 2000, S. 103–116; Otto Hageneder, Kirche und Christenheit in der neuen Ekklesiologie des Papsttums, in: Pensiero e sperimentazioni istutuzionali nella Societas Christiana (1046–1250). Atti della sedecesima Settimana intern. di Studio, Mendola 26–31 agosto 2004, hg. v. Giancarlo Andenna, Mailand 2007, S. 215–236. 1700 Charles V. Langlois, Dol8ances recuellies par les enquÞteurs de Saint Louis, in: RH 92 (1906), S. 63–95. 1701 Histoire de Primat, übersetzt von Jean de Vignay, in: Recueil des historiens des Gaules et de la France 23, Paris 1894, S. 1–106, S. 15, 64f.; Le Goff, Saint Louis, S. 347f.

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militas beschränkt, überwand das Streben nach persönlicher Heilung, war in das Feld der Politik überführt, weil Verbesserungen der sozialen Situation für die Bewohner im Königreich zu erreichen, behauptet wurde, um die institutionelle Stabilität von einer inhärenten Nützlichkeit abzuleiten. Denn aus dem Mitleid sollten nicht allein Gaben der Mildtätigkeit, sondern auch Taten der Gerechtigkeit entspringen. Diese erschöpften sich nicht allein in der Korrektur erlittenen Unrechts, das die königliche Gerichtsbarkeit ahnden sollte, sondern sollten in umfassende Reformen im gesamten Königreich münden. Nicht individuelle Verfehlungen, sondern soziale Defizite galt es zu beheben. Das erklärte Ziel in den Ordonnancen von König Ludwig IX. bestand darin, dass er in seinem Königreich zum profit seiner Untertanen handele. Dies verlange, Informationen einzuholen, zu korrigieren, das Gute zu vermehren, das Schädliche zu verringern, wie der Biograph Ludwigs IX., Jean de Joinville, später berichtete.1702 Für Jean war das Ergebnis der umfangreichen Ordonnanz von 1254 die Verbesserung des ganzen Königreiches: Par cet establissement amenda moult le royaume.1703 In diesen Reformdekreten, nach der Rückkehr vom Kreuzzug Ludwigs IX. im Jahre 1254 erlassen, gab der König als Aufgabe seiner Herrschaft an, den Frieden und die Ruhe der Untertanen zu befördern, um so auch seinen eigenen Frieden und seine eigene Ruhe zu sichern. Den Untertanen sei er durch gemeinsames Fühlen verbunden. Das Handeln folge einem Affekt, den der König precordialiter zu empfinden vorgab. Mitleid war als handlungsleitendes Motiv angegeben. Es ging aber auch um die Verbesserung der Herrschaft. Mit dem Ziel, ad reformandam statum terrae nostrae zu wirken, seien die Anweisungen erteilt worden, so wie dies auch zwei Jahre später eine weitere Ordonnance verkündete.1704 Mitfühlen und Mitleiden motivierten die Maßnahmen. Die angestrebte Gerechtigkeit war verstanden als das Ergebnis eines emphatisch handelnden Herrschers, führte zur Einrichtung festgefügter Regeln, die der König seinen Beauftragten, den baillis und s8n8chaux, auszuführen auferlegte. Diesen indes waren emotionale Regungen vorenthalten. Sie dürften, wie mehrere Ordonannzen verfügten, niemanden begünstigen und niemanden schädigen; weder durch Liebe noch durch Hass sollten sie sich leiten lassen, die sie nur dazu verführten, vom Pfad der Gerechtigkeit abzuweichen.1705 Die emphatische Re1702 Jean de Joinville, Vie, S. 562, 576. 1703 Ebda., S. 574. 1704 Ordonnances des roys, I, S. 65–81; Louis Carolus-Barr8, La Grande ordonnance de 1254 sur la r8forme de l’administration et la police du royaume, in: SeptiHme centenaire de la mort de saint Louis. Actes des colloques de Royaumont et de Paris, 21–27 mai 1970, hg. v. dems., Paris 1976, S. 85–96; G8rard Giordanengo, Le roi de France et la loi (1137–1285), in: »(…) Colendo iustitiam et iura condendo. Federico II legislatore di Sicilia nell Europa del Duecento. Atti di convegno intern. in Messina e in Reggio di Calabria 20–24 gennaio 1995«, Rom 1997, S. 345–395, S. 371–394. 1705 Ordonnances des roys, VII, S. 186, 262, 292.

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lation zu den Untertanen war allein dem König reserviert. Seine Beauftragten hatten hingegen emotionslos zu agieren. Sie sollten die Exekution des königlichen Willens, der durch Liebe motiviert sei, übernehmen. Die Gefährdungen, die durch Zu- und Abneigung entstehen mochten, waren eingedämmt, nur dem König war zugestanden, die Liebe und das Mitleid angemessen, d.h für das Wohl der Untertanen nützlich, einzusetzen. Die monopolisierte Liebe des Königs war politisch einsetzbar, denn sie hob ihn über alle anderen Akteure der Macht – Lehnsherren und königliche Beauftragte – empor. Die Fürsorge und Liebe wurden abstrakt, von emotionaler Naherfahrung ausgeklammert. Die Liebe des Königs erfasste unmittelbar – jenseits von rechtlichen Verfahren – hingegen den persönlichen Nahbereich. Dort wurde vertrauliche Nähe gewährt und wurden Gaben ausgeteilt. Ludwig IX. linderte die Not, die er selbst sah. Die Liebe sollte aber weiter reichen: auf das gesamte Volk. Sein Biograph Jean de Joinville berichtete über den Kreuzzug: Ludwig habe auf der gefährlichen Schiffsreise nach Zypern ins Heilige Land sein Leben riskiert, das er liebte, um die Leben seiner Mitstreitenden zu retten, die er noch mehr liebte.1706 In Zeremonien war die Fiktion der Nähe zu gestalten. Der Ritus der Fußwaschung, an ausgewählten Armen ausgeführt, sei ein Gebot Gottes, und der König befolge es aus Liebe zu ihm, so wie andere aus Liebe zum König dasselbe tun sollten, schreibt Joinville.1707 Die Liebe des Königs zu seinen Untertanen entsprang der Liebe zu Gott. Aber die Liebe, auch zu seinem treuen Gefolgsmann Jean de Joinville, sollte nicht zu besonderen Vergünstigungen missbraucht werden, wie Ludwig zornig kundtat, sondern als Ausweis persönlicher Frömmigkeit und ohne Nutzen zugunsten eines einzelnen Getreuen gewährt werden.1708 Als der Franziskaner Hugo von Digne vor dem König nach seiner Rückkehr vom ersten Kreuzzug in HyHre predigte, stellte er die iustitia und den amor Dei heraus, die den König leiten sollten, um mit seinen Untertanen verbunden zu sein. Jean de Joinville berichtet über diese Predigt und sieht sie als Anweisung an, wie der König sich verhalten solle, um seinem Volk zu nutzen. Dies geschehe durch die Verwirklichung des Rechts, wohingegen dessen Missachtung zur Ablehung seiner Person durch die Untertanen und zum Untergang des Königreiches führen würde.1709 Die Untertanen müssten, so die Erwartung von Hugo von Digne, die Jean de Joinville wiedergibt, den König lieben. Verlangt war, die Loyalität zu stärken, da nicht in erster Linie der Vollzug von Gehorsam, sondern die Zuneigung für den Herrscher zur Unterordnung unter dessen Herrschaft 1706 Joinville, Vie, S. 516, 518; Michael Clanchy, Law and Love in the Middle Ages, in: Disputes and Settlements. Law and Human Relations in the West, hg. v. John Bossy, Cambridge 1983, S. 47–68. 1707 Joinville, Vie, S. 158. 1708 Ebda., S. 386. 1709 Ebda., S. 536, 538.

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führe. Diese Liebe der Untertanen zu wecken, sei die Aufgabe des Königs. Gelingen könne dies durch die Liebe, die Gott dargebracht werde.1710 Die Liebe war nicht gleichgerichtet zwischen König und Volk. Der König war durch seine Liebe der Garant von Gerechtigkeit und von Nutzen, das Volk Empfänger von beiden. Zuneigung und Liebe waren weniger persönliche Emotionen, sondern normative Festlegungen. In den letztwilligen Verfügungen, die Ludwig IX. an seinen Sohn und Nachfolger Philipp III. kurz vor seinem Tod 1270 erteilte, ist die Liebe vorgestellt, die politischen Einrichtungen und Kollektivgruppen zugewendet werden soll, so u. a. den königlichen Städten, den bonnes villes, und der Geistlichkeit. Individuen als Empfänger der Liebe sind nicht genannt. Auch Gerechtigkeit ist der Leitgedanke der letztwilligen Verfügung; sie soll ohne Ansehen der Person und daher auch ohne Zuneigung zu einzelnen Personen geübt werden. Ludwig verlangt Korrekturen an der bisherigen Herrschaftspraxis, Rückzahlungen von Schulden, Rückerstattung von ungerecht erhobenen Steuern und Entschädigungen zugunsten der Opfer königlicher Gewalt. So wie die königlichen Reformdekrete sind auch die Anweisungen an seinen Nachfolger in einer juristischen Sprache formuliert und zielen auf Nutzenmehrung und gerechte Verteilung der Güter.1711 Mögen auch das Verhalten von König Ludwig IX. und dessen Inszenierung sich im Rahmen der zeitgenössischen Praxis anderer Herrscher bewegt haben, war doch das Prestige von Ludwig verglichen mit dem von anderen Königen deutlich überlegen. Dies lag nicht zuletzt an der Inszenierung, die zu Lebzeiten und nach seinem Tod vorgeführt wurde. Die Frömmigkeit Ludwigs wurde in der Predigt, die Papst Bonifaz’ VIII. anlässlich seiner Heiligsprechung hielt, als außergewöhnlich, ja als übermenschlich bezeichnet. Ludwig habe aus der Menge seiner Untertanen emporgeragt. Die in der Kanonisationsbulle als Verdienst mehrfach genannte Demut verringerte die Differenz von Macht, Würde und Verdienst gegenüber den Untertanen keineswegs, da sie das Verhältnis von Ludwig zu Gott betraf, nicht das zu seinem Volk. Die Fürsorge des Königs war von seiner Person abgeleitet, nicht auf das Königreich zugeordnet. Die päpstliche Urkunde zeigte die Heiligkeit Ludwigs, seine Herrschaft vorzuführen, lag außerhalb der Intention. Die Kanonisationsbulle entrückte das Wirken Ludwigs einer politischen Opportunität, war aber hinsichtlich der politischen Auswirkung gleichwohl außerordentlich bedeutend, insofern die Verehrung eines 1710 Ebda., S. 144, 154, 158, 176, 326. 1711 Jean FranÅois Delaborde, Le texte primitif des enseignements de Saint Louis / son fils, in: BEC 53 (1912), S. 237–262; Joinville, Vie, S. 588–597; Davd O’Connell, The Teaching of Saint Louis. A Critical Text, Chapel Hill 1972; Brigitte Stark, Der König als Lehrmeister. Untersuchungen zu den »Enseignements / Philippe« Ludwigs IX., in: Schüler und Meister, hg. v. Andreas Speer, Thomas Jeschke (Miscellanea Mediaevalia 39), Berlin, Boston 2016, S. 809–827.

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Angehörigen der französischen Königsdynastie ihr einen Vorrang in Europa verlieh, der die folgenden Jahrhunderte anhielt.1712 Auch die Nachfolger Ludwigs IX. beanspruchten, sich einer Fürsorge zu widmen, die aber anders als bei Ludwig dem Heiligen weniger aus der Frömmigkeit abgeleitet wurde, sondern aus der pragmatischen Opportunität erwuchs, zu deren Gewinner Herrscher und Untertanen gehören sollten. Die Liebe, die das ganze Königreich erfassen sollte, war weiterhin den Königen reserviert. Den königlichen Beauftragten waren Zu- und Abneigungen untersagt: faveur, haine ou amour stünden dem geregelten Ablauf der Gerechtigkeit entgegen, die sich abseits von Emotionen entfalten müsse, um gleichmäßige Bedingungen für alle Untertanen zu erreichen, Verzerrungen im Zugang zu Ressourcen zu verhindern und um so einen störungsfreien Handelsverkehr zu erreichen.1713 Die Liebe stand nur dem König zu, der verkündete, sie seinen Untertanen zu gewähren. Die Gewährung der Liebe war mehr und mehr zu einer stereotypen Floskel erstarrt, in den Grußformeln verwendet, inhaltlich entlehrt, repetitiv eingesetzt.1714 Nicht anders als in Deutschland verwendete die königliche Kanzlei eine Terminologie der Zuneigung und der Zuwendung, deren Üblichkeit die Kontinuität königliches Agierens in Liebe suggerierte, aber auch die Bedeutung der Aussagen abschliff. Die Grußformel in den königlichen Urkunden nannte salutem et dilectionem, bzw. salut et amour1715, besonders dann, wenn die besondere Treue der Untertanen herausgestellt wurde, so in einer Urkunde, die König Philipp III. im Mai 1278 an die Stadt und die Bürger von Rouen richtete. Der Status als Bonnes villes, die die jeweilige Stadt unmittelbar der Krone und der Krondomäne zuordnete, verlange – so die Urkunde – gesteigerten Gehorsam, gewähre aber auch Zugang zu größeren Vergünstigungen.1716 Die Schutzversprechen zugunsten der Stadt Toulouse, ausgeführt in mehreren Urkunden Königs Philipps IV. vom Januar 1304, verband die Treue und Tüchtigkeit der städtischen Konsulen, die dem König und dem Königreich 1712 Recueil des historiens des Gaules et de la France, Bd. 23, Paris 1876, S. 148–150, 157–159; Raimond Folz, La saintet8 de Louis IX d’aprHs les textes liturgiques de sa fÞte, in: RHEF 57 (1971), S. 31–45; Pierre Morel, Le culte de Saint Louis, in: Itin8raires (1970), S. 127–151; Raymond Cazelles, Une exigence de l’opinion depuis saint Louis: La reformation du royaume, in: Annuaire-bulletin de la Soci8t8 de l’Histoire de France (1962–63), S. 91–99; Charles Tesseyre, Le prince chr8tien aux 15e et 16e siHcles / travers les repr8sentations de Charlemagne et de Saint Louis, in: Annales de Bretagne 87 (1980), S. 409–414; Schmidt, D8votion, S. 35–60. 1713 Ordonnances des roys, VII, S. 619. 1714 Ebda., S. 297, 476, 603. 1715 Ordonnaces des roys, I, S. 297f., 301–303. 1716 Ebda., S. 306–308; Gisela Naegle, Bonnes villes et guete stete. Quelques remarques sur le problHme des villes notables en France et en Allemagne / la fin du moyen .ge, in: Francia 35 (2008), S. 115–148.

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dargebracht würden, mit der Zuneigung des Königs zu allen Stadtbewohnern.1717 Liebe und Treue waren mitunter sogar Kaufleuten außerhalb des Königreiches auferlegt, denjenigen aus dem Herzogtum Brabant – offenbar wegen des Lehensverhältnisses, das den Herzog an den französischen Herrscher band, wobei die Unterordnung nun auch auf die Bewohner des Herzogtums ausgedehnt werden sollte.1718 König und Königreich und dessen Untertanen waren in gleicher Weise und in gleichem Umfang als die Profiteure des Agierens des Königs vorgestellt. In der Ordonnanz von König Philipp IV. von Frankreich, ausgestellt am 23. März 1302, waren die Begriffe von Reform, Stabilität, Nutzen, guter Zustand, Frieden und Ruhe vorgestellt, in deren Genuss die Kirchen, die Städte und alle Untertanen des Königreichs kommen sollten. So sei die Voraussetzung gegeben, die Herrschaft zu erhalten. Utilitas reipublicae und bonum regimen regni waren als Ziele vorgestellt und wurden in der Schlussformel noch einmal in Erinnerung gerufen. Um einer drohenden Hungersnot vorzubeugen, befahl Philipp IV. am 6. Februar 1304, kein Getreide außer Landes zu exportieren, damit alle Bewohner des Königreiches – als amici regni bezeichnet – in den Genuss der nunmehr im Lande verbliebenen Güter kämen. Einen Monat später war ausdrücklich festgehalten, dass das Exportverbot den Wohlstand der Untertanen befördern solle, deren Wehklagen das Mitleid des Königs erregt habe. Schaden von dem commun peuple abzuwenden, wurde als Grund angegeben, den Umlauf gefälschter Münzen einzuschränken, so in einer Verfügung vom Oktober 1309. Auch hier war der individuelle Nutzen der Untertanen mit dem guten Zustand des Königreiches gleichgesetzt. Die Berechtigung herrscherlichen Handels war einem allgemeinen Wohl verpflichtet; dieses rechtfertigte die Intervention in die Wirtschaftstätigkeit. Eine emotionale Grundierung des königlichen Handelns wurde behauptet: Das Mitleid mit der Not der armen Menschen habe zu den Eingriffen geführt. Die misericordia war es, die der König in den Urkunden als handlungsleitend reklamierte und der damit ein Motiv benannte, das anders als die Liebe Gegenseitigkeit von vornherein ausschloss und die emotionale Motivierung allein dem König überließ. In einer Ordonnanz, zu Beginn des Jahres 1312 erlassen, waren erneut die Vorteile, die die Untertanen erwerben sollten, und die Zuneigung des Königs genannt.1719 Das Mitleid machte die Untertanen zu Objekten des königlichen Fühlens und Handelns. König Philipp IV. von Frankreich ließ in einer am 9. Oktober 1303 ausge1717 Ordonnances des roys, I, S. 392–394. 1718 Ebda., S. 412; Sergio Boffa, The Duchy of Brabant caught between France and England. Geopolitics and Diplomacy during the first half von the Hundred Years War, in: The Hundred Years War. A Wider Focus, hg. v. L. J. Andrew Villalon, Donald J. Kagay, Leiden u. a. 2005, S. 211–240. 1719 Ordonnances des roys, I, S. 354–368, 390, 424–426, 468–470, 494, 507, 516.

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stellten Urkunde verlauten, er habe sich von Mitgefühl und Mitleid dazu bewegen lassen, die Belastung von armen Adligen durch die königlichen Steuern zu senken. Den profit commun zu mehren, leite sein Handeln, so in einer weiteren Urkunde.1720 Den Nutzen aller wolle der König fördern, so scheute sich Philipp IV. nicht zu verkünden, als er im Jahre 1302 die Beschlagnahme der Güter all derer befahl, die das Königreich ohne Genehmigung verließen, und vermutlich auch all derer, die auf Anordnung des Königs ausgewiesen wurden – also der Juden und der Italiener.1721 Der Nutzen des Königreiches und der Nutzen der Untertanen gingen vorgeblich eine Einheit ein, die nicht einmal mehr konkret ausgeführt werden musste, ja selbst dann behauptet wurde, wenn der König Konfiskation und Vertreibung verfügte. Le grand prouvit de nostre royaume et des subgez galt als der Grund für das Verbot von Turnieren, wie auch für das erneute Verbot, Getreide außerhalb des Königreiches zu exportieren.1722 Wenn es um die Unterstützung der Armen ging, war noch vereinzelt und zusätzlich die pietas des Königs aufgerufen: Im April 1309 sah Philipp IV. vor, das Stroh und die Bettunterlagen, die in seinen Schlössern nicht mehr weiter benutzt würden, den benachbarten Hospitälern zu übergeben.1723 Die grant affection de tout nostre coeur bewege den Köng, wenn er gegen den Wucher einschreite, wie in einer Urkunde vom Juli 1311 angegeben wurde. Der Wille des Königs sei durch sein Empfinden angestoßen.1724 Emotionen waren in Worte gefasst; aber sie waren nicht mehr als Worte; sie wurden letztlich banal und schlimmstenfalls verlogen, waren aber gleichwohl Voraussetzungen des Verstehens und Akzeptierens des königlichen Handelns und hörten nicht auf, verkündet zu werden. Aus der Liebe der Könige sollten Recht und Gerechtigkeit entspringen; deren Verwirklichung aber sollte von den schwankenden Regungen der Liebe der königlichen Beauftragten abgeschirmt ein. Als König Karl IV. (1322–1328) EnquÞten anordnete und Reformstatuten erließ, handelte er ausdrücklich gemäß dem Vorbild von Ludwig IX. Die Exzesse der königlichen Beauftragten sollten abgewendet und deren Verbrechen geahndet werden. Liebe hatte in der Anwendung des Rechts keinen Platz, wohl aber in dessen Schaffung durch den König.1725 Liebe wurde so zum edlen Merkmal des Herrschers. Sorge für das gute Leben der Untertanen war mit der Erweiterung der Macht

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Ebda., I, S. 347f., 379. Ebda., S. 349f. Ebda., S. 421, 424–427, 435f. Ebda., S. 437. Ebda., S. 474–487, 567–573, 614–617. Olivier Canteaut, Composer, ordonner, gracier. Les pratiques d’un enquÞteur-r8formateur en Languedoc sous Charles IV, in: Violences souveraines au moyen .ge, hg. v. FranÅois Foronda u. a., Paris 2010, S. 187–203.

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verknüpft, innerhalb und außerhalb des Königreiches.1726 »Bien public« wurde zu einem Wert, der ein Handeln erforderte, das dem entstehenden Staat neue Verantwortung auf dem Feld der Wirtschaft übertrug, wobei die Steigerung der Einnahmen zugunsten des königlichen Hofes als Voraussetzung für die Beförderung des Wohles der Untertanen ausgegeben war, nicht aber dass umgekehrt der König als Nutznießer seiner Untertanen galt – so wurde es behauptet.1727 Nicht mehr allein um Missstände oder um Katastrophen abzuwehren, sondern um Produktion und Ertrag durch wirtschaftliches Handeln zu mehren, erteilten die Könige Befehle. Die »mission providentielle«1728 bürdete dem Herrscher Verantwortung auf, die er zu erfüllen zwar nicht in der Lage war, die zu reklamieren aber ihm gleichwohl notwendig erschien, um seiner Funktion Legitimität zu verleihen. Dass die Begriffe der Liebe, der Fürsorge und des Mitleids zu Floskeln gerannen, ist offensichtlich. Ihre beständige Wiederholung zeigt gleichwohl einen Anspruch, auf den die königliche Kanzlei nicht verzichtete. Liebe war institutionell eingefasst. Deswegen gingen die Begriffe von Liebe und Treue, so wie auch in Deutschland, eine enge Verbindung ein in der Sprache der Urkunden. Deren Adressaten wurden als amez et feaux bezeichnet.1729 Die fest geronnene Formulierung, die oft verwendet wurde, band Loyalität an die Liebe, die der König gewährte, die er vorführte, die er als Begründung seines Handelns ausgab, die aber wegen der Standardisierung keinen emotionalen Gehalt enthielt, aber um nichts weniger Treue einforderte, weil sie gerade wegen der gleichförmigen Wiederholung Herrschaft stabilisierte und vor Unwägbarkeiten abschirmte.1730 Neben die bewirkenden Motive des Königs, nämlich Liebe, Fürsorge, Mitleid, trat in den Texten der Herrschaft das bewirkte Ziel, das seine Maßnahmen anstrebten und das mit Nutzen, Frieden und Ruhe bezeichnet war.1731 Die Untertanen waren einzig als Nutznießer der Ruhe und des Wohlstandes vorgestellt und damit als Objekte königlicher Anweisungen. Urkunden wiesen auf salutem et pacem – Begriffe, die von der Nennung von Emotionen gänzlich Abstand nahmen, aber ebenfalls nicht davor gefeit waren, zur Formel zu erstarren.1732 In einer Urkunde König Philipps V. war der Wunsch des Herrschers vorgestellt, dass die Untertanen in der Ruhe des Friedens leben und auch sterben mögen: puisse vivre et mourir en bonne tranquilit8 de paix – dies als Begründung 1726 Albert RigaudiHre, Pouvoirs et institutions dans la France m8di8vale. Des temps f8odaux aux temps de l’Etat, t. 2, 2. Aufl. Paris 1998, S. 38–52. 1727 Maurice Rey, Les finances royales sous Charles VI. Les causes du d8ficit 1388–1413, Paris 1965; Jean Favier, Finance et fiscalit8 au bas moyen .ge (Regards sur l’histoire I: Sciences auxiliaires de l’histoire), Paris 1971. 1728 Prosper Boissonnade, Socialisme d’Etat, Genf 1977, S. 7. 1729 Ordonnances des roys, I., S. 347f., 379, 449f., 457f. und öfter. 1730 Ebda., S. 608. 1731 Ebda., S. 303, 354, 567. 1732 Ebda., S. 587–594.

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für Konfiskationen, die zur Ablösung der königlichen Schulden verwendet werden sollten.1733 Die Worte, die Liebe bezeichneten, verflüchtigten sich zu sinnentleerten Zeichen, deren Bedeutung weniger wichtig war als die Verwendung des Wortes selbst. Liebe war ein Wort, das in der Urkundensprache als Agens zum Zwecke der Koordination eingesetzt war. Die Begriffe von Liebe, Freundschaft und Zuneigung blieben so als Residuen der emotionalen Sprechens der politischen Semantik erhalten. Freundschaft solle, so die Forderung von Philippe de M8ziHres († 1405), Berater am französischen Königshofs und zeitweise Kanzler König Peters I. von Zypern, deutlich gestaffelt vorhanden sein, je nach der hierarchischen Position, vor allem aber sparsam eingesetzt werden. Er empfahl in seiner Reformschrift Songe du Vieil PHlerin vom Jahre 1389, dem jungen König Karl VI., zugeeignet, nicht eine zu enge Bindung an seine Hofleute einzugehen, denn sie untergrabe seine Würde. Gar mit dem Volk Gemeinsamkeit und Öffentlichkeit zu haben, sei für den König unangebracht. Nur als Instrumente der Herrschaft seien die Manifestationen der Zuneigung einzusetzen. Philippe de M8ziHres hat ausdrücklich davon abgeraten, echte Gefühle zu hegen. Die Liebe des Herrschers sei vielmehr grundsätzlich geheuchelt, und deswegen seien statt der Liebe Verwaltung und Recht einzusetzen. Die Schrift von M8ziHres steht in der Tradition der Fürstenspiegel, weicht aber inhaltlich von ihnen ab, indem die ethische Perfektionierung des Königs deutlich hinter der Effizienzsteigerung der Herrschaft zurückzutreten hat. So seien, wie der Autor meinte, die besten Voraussetzungen geschaffen, um Frieden unter den Christen zu stiften und um in den Kreuzzug gegen die Muslime zu ziehen.1734 Zur selben Zeit, an der Wende zum 15. Jahrhundert, erörterte der anonyme Autor des im Umkreis des französischen Königshofes entstandenen Textes Le songe du vergier Argumente zum geistlichen oder zum weltlichen Vorrang und behandelte in diesem Zusammenhang die Bedeutung von Liebe, Gewalt und Schrecken in der Herrschaftsausübung. Der Autor schloss ebenfalls die Liebe aus der Praxis der weltlichen Herrschaft aus. Der Text war auch zur Kenntnis des französischen Königs Karl VI. gebracht worden während seiner kurzen effektiven Herrschaftsausübung nach dem Ende der Regentschaft 1388 und vor dem Ausbruch seiner Geisteskrankheit 1392. In dem fiktionalen Streitgespräch 1733 Ebda., S. 652f. 1734 Philippe de M8ziHres, Le songe du Vieil PHlerin, hg. v. Georges William Copland, 2 Bde., Cambridge 1969, II, S. 231; Gisela Naegele, »Resveiller ceulx qui dorment en pechi8«. Philippe de M8ziHres et la tradition des miroirs de princes, in: Le Moyen ffge 116, S. 625– 644; Philippe richtete am Ende seines Lebens ein Schreiben an den englischen König Richard II., in dem er Lösungen zum Friedenschluss mit dem französischen König anbot; auch hier war die gemeinsamen Anstrengung aller Christen für einen Kreuzzug das Ziel; Alan Marchandisse, Philippe de M8ziHres et son »Epitre au roi Richart«, ebda., S. 605–624.

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zwischen einem Ritter und einem Kleriker behauptet letzterer, dass durch Gewalt die Könige und die Adligen der Kirche Güter entzögen und sie in Gewaltmittel – in Waffen und Kriegspferde – umwandelten. Zeitgenössische Ausnahmen gebe es keine; falls doch, solle der Kontrahent des Dialogs sie doch nennen, forderte trotzig der Kleriker. In der Tat blieb seine Aussage unwidersprochen: Zwang, Gewalt, Unrecht und Enteignung kennzeichneten die weltliche Herrschaft. Wenn sie ins Gute gewendet werde, gelinge dies einzig dank der Mitwirkung der Geistlichen an der Herrschaft. Das Handeln der Herrscher entspringe nicht der Zuneigung, erbringe keine Fürsorge und gelange nicht zu einem allgemeinen Nutzen. Der Ritter bestreitet zwar das negative Resultat der Herrschaft, vermag aber letztlich, so der weitere Fortgang des erfundenen Streitgesprächs, keine Beweggründe für die Etablierung einer guten Regierung vorzubringen. Die Kontrahenten stimmen überein, dass der König als Stellvertreter der göttlichen Strafgewalt auf Erden zu Recht Herrschaft ausübe. Dass dies zum Wohl der Untertanen geschehe, ist nur in den Passagen, die die Figur des Ritters vorbringt, ausgeführt, aber selbst dann ist die Liebe nicht vorgesehen. Sie bei der Herrschaftsausübung zu nennen, gilt auch in dieser Schrift gar ausdrücklich als verlogen. Die Reduktion des Wortes Liebe auf eine reine Benennung und Behauptung bleibt unwidersprochen. Der Text kritisiert das Sprechen über die Liebe; er entzieht ihm authentische Regungen. Wenn der Herrscher über Liebe spricht, lügt er.1735 Zustimmung fand diese Auffassung am königlichen Hof aber nicht, obwohl der Dialog im Auftrag von König Karl VI. verfasst wurde.1736 Der Gebrauch von Wörtern der Zuneigung, Freundschaft und Liebe in den Texten der Herrschaftspraxis blieb daher weiterhin üblich. Sogar dass der König durch Emotionen angetrieben sei, wurde weiterhin behauptet. Die Ordonnanzen Karls VI. (1380–1422), die zu Beginn seiner Herrschaft die Senkung der Besteuerung, Verkleinerung der Zahl königlicher Beamter, Verringerung der Kosten des königlichen Hofes und Beachtung alter Rechte dekretierten, behauptete die Fürsorglichkeit und die Liebe, die der König den Untertanen gewähre.1737 Die administrativen Verfahren und die Dominanz juristischer Begründungen beendeten nicht die Behauptung emotionaler Motivierung von Gehorsam und Befehl. Auch noch am Ende des Mittelalters war die Liebe in Verbindung zur königlichen Herrschaft gebracht worden. Dies geschah in der Schrift Rosier de guerre. Der Text ist angeblich eine Lehrschrift von König Ludwig XI. (1461– 1483) an seinen Sohn und Nachfolger Karl VIII., vermutlich indes im königli1735 Le songe du Vergier, hg. v. Marion Schnerb-LiHvre, t. 1, Paris 1982, S. 37f. 1736 Jean Quillet, La philosophie politique du Songe du Vergier (1378). Sources doctrinales, Paris 1977; Marion Schnerb, Charles V. au miroir du »Songe du vergier«, in: Le Moyen ffge 116 (2010), S. 545–560. 1737 Ordonnances des roys, I, S. 236–243, 245–249, 768.

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chen Auftrag von seinem Arzt und Astrologen Pierre Choinet verfasst, behauptet aber nichtsdestoweniger, die authentischen Auffassungen des Königs zu formulieren. Die geringe handschriftliche Verbreitung – bis jetzt sind acht Manuskripte bekannt – und zwei nur unvollständige Drucke zu Anfang des 16. Jahrhunderts machen den Text zu einem Dokument, das nur geringe Wirkung außerhalb des Königshofes entfaltete, aber Hinweise auf die in ihm bestehenden Denkschemata enthält. Eine allgemeine Theorie zur Politik war aber wohl nicht beabsichtigt. Der Text zeigt vielmehr den Anspruch Ludwigs, sein Handelns zu reflektieren, aus den Überlegungen Schlussfolgerungen zu ziehen und diese seinem Sohn und Nachfolger zur Belehrung mitzuteilen.1738 Unter anderem ist dort ausgeführt, dass die Aufgabe jedes Menschen gemäß seiner Stellung festgelegt sei, die ihm von Gott auferlegt werde. Die Aufgabe des Königs bestehe darin, für sein Volk die Wohlfahrt herzustellen. So wie ein Gärtner seinen Garten pflege und aus diesem seine Früchte gewinne, so müsse der König sein Volk regieren. Der König ist als Seele des Volkes bezeichnet, als belebendes Wesen, das die Gesundheit des gesamten Körpers gewährleistet. Die medizinische Metaphorik bindet König und Volk in eine Einheit, deren Unauflöslichkeit den König niemals aus der Pflicht entlässt, große Anstrengungen zu unternehmen, um die Glieder des Staates zu nähren. Auf drei Säulen stehe, so der Text von Rosier des guerres, die Regierung des Königs: auf der Gerechtigkeit, der Ehrerweisung und auf der Liebe. Diese werden vom König und gleichermaßen von seinen Untertanen gefordert. Wenn sie erbracht werden, gedeihe das allgemeine Wohl – le profit commun – des Königreiches. Die Liebe ist hier als Entstehungsgrund der guten Regierung und des allgemeinen Wohls eingesetzt. Die Liebe gilt aber auch als Voraussetzung für den Gehorsam. Hingegen sei die Furcht auszuschließen, denn sie sei das Verabscheuungswürdigste, was gedacht werden könne, weil jeder hasse, was er fürchte, und damit gerate auch die Herrschaft in Gefahr, gehasst zu werden. Aber eindeutig sind die Anweisungen der Schrift nicht. Wenn es um die Gerichtsbarkeit geht, wird die Furcht empfohlen; sie sei sogar wirksamer als die Liebe. Auch die Soldaten dienten besser, wenn sie in Furcht gehalten würden. Schließlich wird sogar das gesamte Volk einbezogen: Es gehorche mehr, es bezahle eher die Steuern, leiste zusätzliche Dienste, ja liebe inniger den Herrscher, wenn es bedroht werde und wenn es Furcht vor dem König empfinde. Furcht ist also zunächst auf spezifische Anwendungen bezogen, wird aber schließlich umfassend auf das gesamte Herrschaftsverhältnis ausgeweitet und noch als Verursachung der Liebe in Anspruch 1738 Curt C. Bühler, The Rosier des Guerres and the Dits Moraulx des Philosophes, in: Speculum 34 (1959),S. 625–628; Andr8 Stegmann, Le rosier des Guerres. Testament politique de Louis XI, in: La France de la fin du 15e siHcle. Renouveau et apog8e. Economie, pouvoirs, arts, cultures et conscience nationale, hg. v. Bernard Chevalier, Philippe Contamine, Paris 1985, S. 313–323.

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genommen. Eindeutig ist das Ziel angegeben, das beiden innewohnt: der allgemeine Nutzen.1739 Ob dies der Nutzen für das Königreich, für den König oder für die Summe der Untertanen ist, ist ungeklärt, muss es offensichtlich auch sein, damit eine diffuse Aura eines staatlichen Handeln erzeugt wird, welches die Lebensumstände zu verbessern vorgibt, um aus dieser Absichtserklärung nicht allein die Notwendigkeit der Herrschaft abzuleiten, sondern auch deren Eingriffe in das Leben der Untertanen zu rechtfertigen.1740 Selbst um die Herrschaft nach Aufständen wiederherzustellen, war das emphatische Empfinden, das Mitleid, herausgefordert – behauptet wurde dies von Angehörigen der französischen Kapetingerdynastie außerhalb Frankreichs. Wie eine Urkunde von König Karl I. von Sizilien, dem Bruder Ludwigs IX., festhielt, sei auch den muslimischen Untertanen die misericordia nach dem Vorbild Gottes zu gewähren, obwohl sie gegen ihn rebelliert und ihm großen Schaden zugefügt hätten. Aus Mitleid verzichte der König auf Bestrafung.1741 So sollte die Loyalität wiederhergestellt werden – wohl vergeblich, die Aufstände hielten an, schließlich wurden die Muslime in Lucera im Jahre 1300 auf königlichen Befehl versklavt.1742 Die zunächst auch Ungläubige einbeziehende und sie begünstigende Anwendung herrscherlicher Tugenden brachte den König keineswegs seinen Untertanen näher. Der hierarchische Abstand zu ihnen galt als unüberwindlich und war durch kein Gefühl zu überbrücken. Die Zurschaustellung von Mitleid schloss brutale Unterdrückung nicht aus. Reform wurde zum Leitbegriff der Maßnahmen des königlichen Hofes, vor allem um gegen traditionelle Rechte und Verhaltensformen vorzugehen und um so die interventionistische Herrschaftspraxis zu rechtfertigen. Weil die Herrscher ihre Macht als Werkzeug der Wohlstandsmehrung ausgaben, versprachen sie Vorteile für die Untertanen, selbst dann, wenn der Nutzengewinn zur rein rhetorischen Phrase herabsank und als sinnentleerte, aber gleichwohl unverzichtbare semantische Chiffre perpetuiert wurde und der Entfaltung staatlicher

1739 Le Rosier des guerres. Enseignements de Louis XI Roy de France pour le dauphin, son fils, hg. v. Maurice Diamant-Berger, Paris 1930, chapitre 2, chapitre 3, chapitre 7: einerseits: Le roy doit aymer ses subjects de grant cueur et de chere foy, et veiller jour et nuit au profit commun du Royaume, et des tous ses subjects. Aussi doivent-ils aymer leur Roy de droit cueur ; an weiterer Stelle: Le prince (…) sera aym8 de dieu du mondonde et / souhait viendront toutes ses besognes; andererseits und in Widerspruch zu den vorigen Aussagen: Le peuple est plus ob8issant et a mieulx facult8 de payer et aider / son seigneur, et l’ayment mieulx. 1740 Hans-Joachim Schmidt, »Bien public« und »raison d’Etat«. Wirtschaftslenkung und Staatsinterventionismus bei Ludwig XI. von Frankreich ?, in: »Herbst des Mittelalters«? Fragen zur Bewertung des 14. und 15. Jahrhunderts, hg. v. Jan A. Aertsen, Martin Pickav8 (Miscellanea Mediaevalia 31), Berlin, New York 2004, S. 187–205. 1741 Codice diplomatico del regno di Carlo I. e II., Nr. 75, S. 127–129. 1742 Giuseppe Staccioli, L’ultima citt/ muselmane: Lucera (Questioni di storia 2), Bari 2012.

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Regelungstätigkeit gefügig gemacht war.1743 Obwohl die Liebe als verursachende Kraft, um die Reform im Königreich herzustellen, allein dem König reserviert wurde, war auch das Wort der Liebe dem Vorgang ausgesetzt, zunehmend der echten Empfindung und konkreten Anwendung zu entbehren und zur sprachlichen Floskel abzusinken. Obwohl diese Sinnentleerung durch theoretische Texte im Umfeld des Königshofes vereinzelt eingeräumt und auch kritisiert wurde, blieb das Wort der Liebe, amour, in der Herrschaftssprache präsent. Trotz der Aushöhlung des emotionalen Gehalts, trotz des Verlustes des begrifflichen Inhalts galt die Liebe als Stütze der Herrschaft. War in Deutschland die Liebe als der Klebstoff des Staates bezeichnet, so in Frankreich als dessen Pfeiler. Die Metaphorik war durch die schale Sinnentleerung der Liebe nicht aufgehoben.

3.

Das natürliche Band zwischen König und Untertan im Königreich Kastilien

Am königlichen Hof im Königreich Kastilien wurde ausführlich das Thema der Liebe als Grundlage der Herrschaft erörtert. Philosophische Überlegungen zur Politik haben während des 13. und 14. Jahrhunderts auf der iberischen Halbinsel Eingang in die Gestaltung von Texten gefunden, die an den Höfen geschrieben wurden. Die Etablierung von Königreichen in den Kampf- und Expansionszonen gegenüber muslimischen Herrschaftsgebieten und Bevölkerungen, daraus folgend die erhöhten Anforderungen an die Effizienz der Herrschaft und nicht zuletzt die aus der muslimischen Kultur einwirkenden Beeinflussungen trugen vermutlich zu den großen Anstrenungen bei, Herrschaft theoretisch anspruchsvoll zu begründen. Ein intellektuell anspruchsvolles Themengeflecht von Freundschaft und Liebe zwischen dem König und seinen Getreuen, welche ihm als Lehensherrn zu Diensten verpflichtet waren, und zwischen dem König und seinen Untertanen, die ihm Gehorsam schuldeten, griff Überlegungen auf, die in der zeitgenössischen politiktheoretischen und herrschaftsethischen Debatte erörtert wurden. Texte von Aristoteles und die Schrift Secretum secretorum bildeten wichtige Grundlagen des Nachdenkens und Schreibens. Die Schrift Secretum secretorum wurde aus dem benachbarten muslimischen Kulturkreis übernommen und stand neben den beiden lateinischen Versionen auch in kastilischer Übersetzung zur Verfügung.1744 Hinzu die aus dem 10. Jahrhundert stammende Spruchsammlung Ital adad al-falasifa, verfasst von Hanayan ibn 1743 L’Etat moderne. GenHse, bilans et perspectives. Actes du colloque tenu au CNRS Paris 19– 20 sept. 1989, hg. v. Jean-Pierre Genet, Paris 1990. 1744 Maria Rosa Lida de Malkiel, La leyenda de Alejandro en la literatura medieval, in: La tradicijn cl#sica en EspaÇa, Barcelona 1975, S. 165–197; Heusch, Fondements S. 34–38.

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Shaq, die zu Anfang des 13. Jahrhunderts in die kastilische Sprache übersetzt wurde, den Titel Libro de los buenos proverbios erhielt und umfangreich rezipiert wurde – auch im Umfeld der Herrscherhöfe. Die Texte boten Belehrungen, wie Herrscher handeln sollten.1745 Belehrungen für die Fürsten boten weitere Texte an. In den dreißiger Jahren des 13. Jahrhunderts wurde der Libro de los doze sabios im Auftrag des kastilischen Königs Ferdinand III. verfasst und kurz nach seinem Tod 1252 mit einem Epilog ergänzt. Auch diese Schrift nahm Textgruppen arabischer Provenienz auf.1746 Der Text bietet eine Belehrung an, wie eine gute Herrschaft gestaltet werden soll, und gehört dem Genre der Fürstenspiegel an, zeigt aber auch eine Weisheitslehre, die nicht nur nach Tugenden forscht, sondern Voraussetzungen – institutioneller und emotionaler Art – des guten Regierens nennt. Das Thema der naturaleza wird erstmals erörtert – in der Weise, dass mit diesem Wort eine moralische Disposition des Individuums bezeichnet ist: die des Königs, gut zu regieren, die des Untertanen, treu den Befehlen zu folgen. Die naturaleza ist jedem einzelnen Menschen eingegeben, wohingegen in späteren Schriften der Begriff auf soziale, politische und rechtliche Relationen verweist. Die Schrift enthält die Forderung an den König, sich zum Freund aller guten und rechtstreuen (leales) Menschen im Königreich zu machen; so werde er von ihnen geliebt, so werden sie ihm gehorchen. Die Liebe entspringe innerer Überzeugung, und sie führe zu äußeren Handlungen, die sich einerseits in dessen Fürsorge zugunsten seiner treuen Untertanen, andererseits im Dienst zugunsten des Königs zeige. Liebe ist nicht symmetrisch, aber reziprok, sie gilt als der Motivator zur guten Herrschaft durch den König und zur Bereitschaft zur Unterwerfung der Untertanen. Die Liebe erfasst auch Abstrakta. Nur sofern der König die Gerechtigkeit liebe, könne er als Haupt der Herrschaft bezeichnet werden. Die Liebe verbindet die Politik an die transzendentale Sphäre: Gott werde geliebt, indem die Liebe im Staat verwirklicht werde. Die Abstufungen und Ableitungen führen zu einer hierarchischen Differenz, weswegen die Liebe des Gehorsams bedürfe, der, falls er verweigert werde, den Entzug der Liebe nach sich ziehe. Liebe steht am Anfang der Kausalitätskette für die Ordnung der 1745 Derek W. Lomax, Reforma de la Iglesia y literatura did#ctica. Sermones, ejemplos y sentencias, in: Historia y critica de la literatura espanola. Vol. 1: Edad Media hg v. Francesco Rico, Barcelona 1980, S. 182–186; Christy Bandak, Libro de los buenos proverbios. Estudio y edicijn critica de las versiones castellana y #rabe, Zaragoza 2007. 1746 El libro de los doze sabios, S. 7; Berges, Fürstenspiegel, S. 108–110; Alfonso d’Agostino, Nel testo del »Libro de los doze sabios«, in: Quaderni de Literatture Iberiche e Iberoamericane 2 (1984), S. 5–25; Bizzarri, Estructura, S. 125; Ders., Consideraciones en torno al la elaboracijn de le Libro de los doze sabios, in: La corjnica 18 1989), S. 85–89; Ders., Le croisement de cultures dans le Libro de les doze sabios, in: Didaktisches Erzählen. Formen literarischer Belehrung in Orient und Okzident, hg. v. Regula Forster, Romy Günthart, Frankfurt a M. 2010, S. 243–254; Cort8s, Imagen, S. 40f.; Heusch, Fictio naturae, S. 119f.

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Herrschaft; sie ist als deren erstes bewirkendes Prinzip gesetzt, dessen Fehlen nur unzureichend durch die Furcht ersetzt werden kann, insofern diese als das Ergebnis einer grundsätzlichen Verfehlung kennzeichnet ist, die lediglich als Notbehelf in einem defizitären Zustand einzusetzen ist, ohne einen legitimierenden oder kausalen Ursprung der Herrschaft vorzusehen. Dass der Herrscher darauf achten müsse, gleichermaßen geliebt und gefürchtet zu werden, gilt für die Kriegsführung, also nur für einen Teil des Regierungshandelns. Die Forderung ist opportun, nicht aber legitimierend. Die Furcht hat auch dann einen nur geringen Wert, wenn sie weniger durch Strafen als durch Worte erzeugt wird. Die sprachliche Erzeugung der Furcht meint offensichtlich den Schrecken, mit dem zunächst gedroht wird, ohne die Gewalttat unmittelbar zu verwirklichen.1747 Ebenfalls in einer stufenweisen Anordnung der Entstehungsgründe entfaltet die um die Mitte des 13. Jahrhunderts entstandene Spruchsammlung der Flores de filosofia eine weite Palette von Relationen der Liebe: zu Gott, zur Gerechtigkeit, zu den Gesetzen, die des Königs zu den Untertanen und deren Liebe gegenüber dem König. Die Abfolge der Liebe ist als logisch stringente Konsequenz vorgestellt. »Wer Gott liebt, liebt die Dinge, die er geschaffen hat; und wer diese liebt, liebt das Gesetz; und wer es liebt, muss den König lieben, der das Gesetz erhält.« Die zentrale Bedeutung des Gesetzes verlangt eine institutionelle Ordnung, die aber nur als funktionsfähig beschrieben wird, wenn die Liebe zwischen den Menschen waltet. Es gibt keine voraussetzungslose Geltung rechtlicher Bindung. Die Voraussetzung beruht nicht auf unmittelbarer religiöser Setzung und Normierung, sondern auf humanen Emotionen und sozialen Relationen. Erst über sie vermittelt tritt die göttliche Einwirkung auf die Menschen ein. Instrument dieser Bewirkung soll der König sein, dem eine Gott ähnliche Befähigung zur Schaffung von liebenden Beziehungen zugeschrieben wird und der als Erfüllungsorgan Gottes sogar in die Reihe der Propheten gestellt und als Stellvertreter Gottes bezeichnet ist. Damit ist zunächst die Belehrung durch den König angesprochen; aber noch mehr folgt daraus: Es gibt die Liebe, die diejenige von Gott nachahmt und die dessen Liebe in die Welt bringt. Diese Transaktion von Gott zu den Menschen zu leisten, ist die Aufgabe des Königs.1748 Das Werk Libro de los cien capitulos, ebenfalls eine Darstellung von Weisheitslehren und eine Sammlung von kurzen Sprüchen und die Flores de filosofia aufgreifend und breiter ausführend, hat der kastilische König Alfons X. (1252– 1284) als sein eigenes Werk reklamiert. Es trug, wie die übrigen ihm zugeschriebenen Schriften, dazu bei, ihn in eine Aura des gelehrten und belehrenden 1747 Libro de los doze sabios, S. 90, 92f., 97–99, 114. 1748 Flores de filosofia, hg. v. Hugo Oscar Bizzarri, 1.10; (http//:parnaseo.uv.es/Memorabilia/ Flores.1.htlm); Flores de filosofia, hg. v. Lee Thomas Fouch8, Columbia University 1979, S. 23; Haro Cort8s, Imagen, S. 41f.; Hugo Oscar Bizzarri, Un florilegio de 8tica. Flores de filosofia, in: Incipit 15 (1995), S. 201–217.

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Königs zu hüllen. Die Schrift verlangt die gegenseitige Hilfe zwischen König und Volk und leitet diese Pflicht von der Liebe ab. Der König müsse geliebt werden, nur so könnten die Untertanen gesetzestreu sein. Die kausale Abfolge von Gott, Schöpfung, Gesetz, König und Untertan wird auch hier ausgeführt. Liebe tritt als Antagonismus zur Furcht auf. Letztere ist als Handlungsgrund für den Gehorsam vorgesehen, aber auch hier deutlich abgewertet, da vor der Maßlosigkeit bei der Einflößung von Furcht gewarnt wird, diese Einschränkung für die Liebe indes nicht gilt. Furcht wird als Folge von schwacher und schlechter Königsherrschaft ausgegeben, die zu Gewalt und Kriegen Anlass gibt. Besser sei es, so ausdrücklich der Ratschlag an die Herrscher, Gehorsam durch Liebe zu gewinnen. Furcht wird aber nicht gänzlich aus dem Regierungshandeln ausgeschieden. Die ambivalente Bewertung führt zur terminologischen Doppelung, deren Bestandteile unterschiedlich bewertet sind: Der König müsse temor verbreiten, ohne aber bei seinen Untertanen miedo zu erzeugen. Das begriffliche Arrangement trennt zwischen der Tätigkeit des Königs und dem Ergebnis bei seinen Untertanen. Sie mutlos und furchtsam zu machen, schwäche nicht allein die kriegerische Tüchtigkeit, sondern die Bereitschaft, auch die übrigen Aufgaben im Staat zu übernehmen. Die bessere Herrschaftsgrundlage sei die Liebe. Aber auch sie bedarf eines richtigen Einsatzes, denn die Schrift warnt davor, die Liebe allein auf die Gewährung von Vergünstigungen zu beschränken. Eine solche Liebe vermöge nicht, genauso wenig wie die Furcht, Herrschaft effektiv auszuüben, selbst wenn sie von Gott verliehen sei, denn mittels dieser Liebe gelinge es nur, einen äußerlichen Gehorsam zu erzwingen und nur über die Körper der Untertanen zu verfügen, wohingegen die Herzen aller Menschen zu gewinnen, besser sei, was mit Maßhalten und gutem Tun gelingen könne. Offensichtlich ist hier die in den frühmittelalterlichen Fürstenspiegeln und Fürstenermahnungen verlangte richtige Verbindung von Liebe und Furcht, als ordinatio bezeichnet, angesprochen, die dazu befähigt, Liebe und Furcht angemessen, auf die Situation und auf die Menschen bezogen, hervorzurufen. Hinzu tritt die Forderung, mehr als nur äußeren Gehorsam zu erzwingen, sondern innere Bereitschaft zum Gehorsam gegenüber dem König zu wecken. Als verursachendes Prinzip von Gehorsam und Fürsorge knüpft die Liebe das stärkste Band zwischen König und Untertan. In einer biologischen Metaphorik wird dieses Band beschrieben: Der König ist die Wurzel, das Volk bildet die Äste. Die bewirkende Kraft geht vom König aus, der weniger durch Worte, als durch Taten die Emotionen der Untertanen lenkt. Dies zu leisten, setzt Fertigkeiten – artes – der Könige voraus. Sie sind zu erlernen. Eine sorgfältige Erziehung des Thronfolgers wird verlangt, zu der das Buch Cien capitulos seinen Beitrag zu leisten behauptet.1749 Es heißt dort, dass Vorbereitung, Planung, geordnetes 1749 El libro de los cien cap&tulos, hg. v. Agapito Rey, Bloomington 1960, S. 3–6, 8–10, 26–29;

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Handeln, abwägendes Urteilen des Königs notwendig seien, sie alle aber unnütz wären, wenn die Liebe fehlte. Die Mahnung leitet über zu einer Motivierung der Untertanen. Sie könne nicht vom Verstand geleistet werden, mit dem die Menschen Vorteile abwägen. Deswegen brauche es, so wird behauptet, keine Gemeinsamkeit von Interessen von König und Volk, keine gemeinsame Abwendung menschlichen Mangels, kein Trachten nach Vorteilen, kein Vollzug von Notwendigkeiten. Eine naturbedingte, grundsätzlich vorhandene Disposition wird angesetzt, die die Menschen in eine politische Verfassung eingliedert und sie der Herrschaft unterstellt. Daraus erst entstehen die Pflichten von König und Volk, die in Vollzug der natürlich bestehenden Beziehungen der Zuneigung handeln sollen und so deren Potentialität realisieren. Die verglichen mit den Flores de filosofia philosophisch fundierter ausgeführte Behandlung der Themen beruht vermutlich – so führt Hugo Bizzarri aus – auf einer Rezeption des Werkes von De regimine principum von Aegidius Romanus, die vermutlich rasch – zwischen der Abfassung 1279 und dem Tod des Königs Alfons X. 1284 – in Kastilien erfolgt ist, was angesichts der engen politischen Beziehungen zwischen dem französischen und dem kastilischen Königshöfen auch plausibel erscheint. Plausibel wird damit auch die Übernahme des Konzeptes von Aegidius, der die Liebe als herrschaftsbegründende Kraft vorstellt und sie in einen umfassenden anthropologischen und damit natürlichen Wirkzusammenhang stellt.1750 In dem poetischen, ebenfalls Alfons X. zugeschriebenen Werk zur Marienverehrung, den Cantigas de Santa Maria, das die Forschung am engsten mit einem eigenständigen literarischen Schaffen des Königs verbindet1751, wird dargestellt, wie Alfons um die Hilfe der Gottesmutter bittet und sie erhält, um Freunde zu gewinnen, die dazu eingesetzt werden, um seine Macht gegen die Feinde zu erringen und zu erweitern. Maria soll auch den König vor falschen Freunden und schlechten Ratgebern bewahren, die keinen Nutzen stiften.1752 Maria sei der Urquell der Macht, so stellen es die Cantigas dar ; sie gewähre sie den Kaisern und Königen als Anerkennung dafür, dass sie sie liebe und diese die Gottesmutter. Das Gedicht zeigt, wie die gegenseitige liebende Verbindung der Herrscher mit Maria auch die Liebe der Untertanen weckt, sie zum Dienst für die Herrscher führt und sie zum Kampf gegen die Muslime anspornt.1753 Zu den

1750 1751 1752 1753

Libro de los cien cap&tulos, hg. v. Marta Haro Cort8s (Medievalia Hispanica 5), Frankfurt a. M., Madrid 1998, S. 92–96; Haro Cort8s, Imagen, S. 43–48. Bizzarri, Estructura, S. 127–130; zum Buch De regimine principum von Aegidius Romanus: Kapitel XI.7. Antonella Liuzzo Scorpo, Spiritual Friendship in the Works of Alfonso X of Castile, in: Friendship in the Middle Ages, S. 445–476, S. 452. »Me diffenda de fals’e traedo e outrossi gurde de mal consellador (…), e d’amigo encuberto que a gran coita fal«; Alfonso X, el Sabio, Cantigas de Santa Maria, hg. v. Walter Mettmann, Bd. 3, Madrid 1989, S. 304f. Joseph F. O’Callaghan, The Cantigas de Santa Maria as a Historical Source, in: Studies on

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Wundern, die Maria vollbringt und die die Cantigas darstellen, gehört auch die Vereinigung von Macht mit der Liebe. Macht bringt Liebe hervor und verlangt sie. Natürliche Dispositionen, abseits religiöser Einwirkungen sind in dieser Schrift nicht eingesetzt. Maria agiert jenseits der Beschaffenheit der Welt, was allein schon ihre Fähigkeit zur Bilokation zeigt.1754 Gegenseitige Rechte und Pflichten von König und Untertan darzulegen, erforderte aber doch eine Begründung, die sich mit der Wirkung von himmlischen Kräfte und Wundern nicht begnügte und die statt dessen nach Ursachen, die in der Natur des Menschen liegen, suchte und dabei die Emotionalität in politische Werte transformierte. Der Zorn und die Liebe des Königs wurden in zahlreichen Urkunden der Könige von Kastilien als handlungsleitend angegeben. Diese Begriffe schlossen eine willkürliche Herrschaftsausübung aus, bei der die Untertanen den Launen des Königs ausgeliefert wären, sondern verlangten eine rechtliche Festlegung von Verhalten, basierend auf einer stabilen Konstitution, die alle Menschen gleichermaßen in eine Handlungseinheit überführt und folglich eine geregelte, intentional vernünftig gesteuerte Präsentation von Emotionen vorsieht.1755 Diese emotionale Ordnung ist eine Ordnung der gesamten Herrschaft. Anders daher, als Hugo Bizzarri ausführt, meine ich, dass nicht allein eine vasallitische Relation zwischen König und Adligen durch die Begriffe der Emotionalität geprägt ist, sondern die alfonsinischen Urkunden und Schriften die Totalität der Herrschaft über alle Untertanen des Königreiches darstellen und sie in den Begriff der naturaleza einkleiden. Vasallaje und naturaleza werden daher deutlich unterschieden, wobei letzterer Begriff einen allgemeinen, allen Menschen eigentümlichen Wesenszug vorstellt, der sich umfassend sozial und politisch innerhalb des Königreiches verwirklicht, während das Wort vasalaje verwendet ist, um gesonderte und zusätzliche Pflichten der Lehensmannen vorzusehen. Eine theoretische Begründung von Herrschaft wurde vor allem in Rechtstexten geleistet. Ein erster großer juristischer Text, der Alfons X. zugeschrieben wurde, war das zu Beginn seiner Königsherrschaft zwischen 1255 und 1260 abgeschlossene Gesetzbuch Esp8culo. Am Anfang dieses Werkes steht eine allgemeine Erörterung zu den Gesetzen. Die Gesetze brächten die Menschen dazu, the Cantigas de Santa Maria: Art, Music, and Poetry. Proceedings oft he International Symposium on the Cantigas de Santa Maria of Alfonso X, el Sabio (1221–1284), New York 19–21. Nov. 1981, hg. v. Israel J. Katz u. a., Madison 1987, S. 387–402; Edward L. Holt, Cantigas de Santa Maria – Cantigas de Cruzada. Reflections of Crusading Spirituality in Alfonso X’s Cantigas de Santa Maria, in: El-Masaq. Islam and the Medieval Mediterranean 27 (2015), S. 207–224. 1754 Mercedes Brea, Milagors prodigiosos y hechos maravillosos en la Cantigas de Santa Maria, in: Revista de Literatura Medieval 5 (1993), S. 47–6; Grande Quejigo, Concepto, S. 72–75. 1755 Hugo Bizzarri, Notas para la caracterizacijn de la ira regia, in: Campos abiertos. Ensayos en homenaje a Jenaro Talens, Barcelona 2011, S. 63–72.

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Gott zu lieben und zu fürchten, zeigten allen Menschen, wer ihr natürlicher Herrscher (Sennor natural) sei, denen sie gehorchen müssten, und wie alle Menschen sich gegenseitig liebten. Diese Liebe werde verwirklicht, indem jeder des anderen Recht wahre. Es gebiete: Tue einem anderen das nicht an, was du nicht willst, dass es dir angetan wird. Die hier formulierte »goldene Regel« der Ethik bringt die Liebe in eine rechtliche Normierung. Indem der König, wie das Gesetzbuch ausführt, das Recht durch die Gesetzgebung schaffe, führe er seine Untertanen zugleich zur gegenseitigen Liebe. Die Liebe ist daher herausgehoben von einer individuellen Regung, sie ist keine Emotion, sie ist mehr als nur moralisches Gebot; das Gesetz macht sie zur Pflicht. Sie ist Teil der politischen Verfassung. Sie steht in der Verfügung des Königs.1756 Die gegenseitige Liebe, die den König einschließt und ihn an die Spitze der Zuneigung stellt, ist auch im Fuero real, einem frühen und theoretisch noch wenig anspruchsvollen Gesetzgebungswerk von Alfons ausgeführt und dort mit der Liebe zwischen Eltern und Kindern analog gesetzt, womit die unmittelbare familiäre Relation in die staatliche übergeleitet ist und sie gleiche Muster der Beziehung formt.1757 Die Liebe im Staat wurde umfassend theoretisch reflektiert, indem sie an eine anthropologische Voraussetzung angebunden, mit einer naturrechtlichen Begründung ausgestattet und mit dem Begriff der naturaleza verknüpft wurde, der die sozialen Bindungskräfte im Staat als Ergebnis emotionaler Wirkkräfte erfasste. Dies geschah in dem wichtigsten Gesetzbuch Kastiliens, als dessen Autor sich ebenfalls König Alfons X. (1252–1284) ausgab, das tatsächlich aber von einer Kommission von Juristen seit 1254 auf der Grundlage des Setenario und älterer Rechtstexte zusammengestellt und nach seinem Tod weiter redigiert wurde und unter dem Namen Siete Partidas bekannt ist. Das Buch stellt das Recht des Königreiches Kastilien dar, das subsidiär die vorherigen Rechte ergänzen sollte, sofern diese unzureichend seien. Es gibt sich als ein Kompendium geltenden Rechts aus, auch wenn tatsächlich Neuerungen vorgesehen sind. Die Auffassung von Alfonso Garc&a Gallo, dass das Buch lediglich als Lehrwerk ohne rechtliche Bindungswirkung formuliert und erst seit dem Anfang des 14. Jahrhunderts als Gesetzbuch eingesetzt wurde1758, hat die neuere Forschung zurückgewiesen, auch wenn sie den Reichtum an philosophischen Überlegungen in der Gesetzessammlung anerkennt und untersucht.1759 Das systematisch 1756 Leyes de Alfonso X, vol. 1: Esp8culo, hg. v. Gonzalo Martin8z Diez, Avila 1985, S. 104: libro 1, titulo ley 3–6; zur Abfassung des Werkes ebda. S. 15–39. 1757 El Fuero real de don Alfonso el Sabio, Madrid 1836, S. 9f. 1758 Alfonso Garc&a Gallo, Le »Libro de las Leyes« de Alfonso el Sabio, in: Anuario de historia del derecho espaÇol 21/22 (1951/52), S. 345–528. 1759 Maria Scheppach, Las Siete Partidas. Entstehung und Wirkungsgeschichte, Pfaffenweiler 1991; Isaac V#zquez Janeiro, Las »auctoritates« escolasticas en las Siete Partidas, in:

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strukturierte Gesetzbuch bietet in der Tat neben der juristischen Regulierung eine theoretische Rechtfertigung königlicher Herrschaft und enthält Aussagen, wie diese zu begründen und anzuwenden sei. Alfons X. präsentiert sich als Philosoph und als Gesetzgeber. Seine Weisheit ermögliche ihm, so in einer Passage der Siete Partidas, sich auch als Arzt der Seele zu betätigen, was ihn wiederum befähige, gute Gesetze zu erlassen.1760 Die lange andauernde Geltung dieses Gesetzes im Königreich Kastilien wurde verstärkt durch das ausdrückliche Verbot, den Text zu kommentieren, ihn vielmehr in seinem ursprünglichen Gehalt zu bewahren. Die Starre der Rechtsanwendung konservierte auch die Geltung der theoretischen Begründung.1761 Im benachbarten Königreich Portugal wurden viele Passagen aus den Siete Partidas in königlichen Urkunden übernommen, ohne dass indes die anspruchsvollen konzeptionellen Überlegungen in ihnen Eingang fanden. In einer anderen Weise geschah die Rezeption in dem anderen iberischen Königreich, in dem von Aragon, wo die Philosophen Ramjn Lull und Arnaldus de Villanova an der Wende zum 14. Jahrhundert einige theoretische Überlegungen aufgriffen, wobei sie aber mehr die individuelle Disposition und Ethik als die politische Verfassung behandelten.1762 Das Gesetzbuch Siete Partidas bietet eine Erklärung, wie Herrschaft gelingt, sie den Menschen nützt und sie gestaltet wird. Das Gesetz soll sich nicht damit begnügen, die Gebrechen der Zeit zu heilen, eine Therapie anwenden, sondern soll umfassend eine gute, von Gott gewollte, natürlich begründete Ordnung errichten, also nicht allein das Verhalten im Nachhinein korrigieren und den Staat palliativ vor den Gebrechen abschirmen, sondern das Zusammenleben

Glossae. Revista de historia del derecho Europeo 3 (1992), S. 65–92; Antonio P8rez Mart&n, La obra legislativa alfonsiva y puesto que en alla occupan las Siete Partidas, ebda., S. 9–63; Ders., Las Siete Partidas, obra cumbe del derecho comffln en EspaÇa, in: El derecho comffln y Europa, Madrid 2000, S. 21–34; Joseph F. O. Callaghan, Alfonso X and the Partidas, in: Las Siete Partidas. The Medieval Church. The world of Clerics and Laymen, hg. v. Robert I. Burns, Philadelphia 2000, S. xxx–xl; Ghislaine FournHs, L’id8alit8 royale en Castille au 13e siHcle. Des Sept Parties aux Castigos del rey don Sancho IV., in: Cahiers de linguistique et de civilisation hispanique m8di8vales 27 (2004), S. 293–310; Irina Nanu, La Segunda Partida de Alfonso X el Sabio y el trionfo del aristotelismo formal, in: Le miroir du prince. Ecriture, transmission et r8ception en Espagne, 13e–16e siHcles, hg. v. Ghislaine FournHs, Elvizio Canonica de Rochemonteix, Paris 2011, S. 75–88. 1760 Corinne Menc8-Caster, un roi en quÞte d’autorit8. Alphoses X et l’histoire d’Espagne (Castille, 13e siHcle), Paris 2001, S. 68–76. 1761 Jesffls D. Rodriguez Velasco, La urgente presencia de la Siete Partias, in: La Corjnica. A Journal of Medieval Hispanic Languages and Cultures 38 (2010), S. 99–136. 1762 Ferreira, Pedro de Barcelos, S. 41; Andr8s Grau i Arau, El concepto de naturaleza en los pensadores de la Corona de Aragj, (siglos XIII–XIV): Ramon Llull y Arnau de Vilanova, in: Natura e natureza, S. 99–115; Grande Quejigo, Concepto, S. 71–97.

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gestalten.1763 Im Zentrum steht der König. Er wird Herz und Seele des Volkes genannt. Mit dieser Kennzeichnung setzt der Text der Siete Partidas den König organologisch und emotional mit dem Volk in Verbindung, wohingegen die ebenfalls formulierte Metapher des Kopfes des Reiches die institutionellen Kompetenzen beschreibt. Die Herrschaft ist von Gott und von der Natur begründet, was sich in der Analogie zum Körper zeigt, dessen Einheit – wie die des Königreiches – der Leitung bedarf. Die klassische organologische Sicht ist erweitert durch die Einfügung einer emotional bedingten Anhänglichkeit und Bindung, die erst den Anweisungen des Kopfes ihre Wirkung verleiht. Diese Art der sozialen Bindung hätten, so heißt es im Gesetzbuch, weise Männer erkannt. Also nicht ein Automatismus des Gehorsams, sondern ein Einverständnis und Verstehen und auch ein einvernehmliches Fühlen aller Menschen im Königreich und darüber hinaus die intellektuelle Erkenntnis machen den König mächtig. Der Gesetzestext fasst die seelischen Regungen als sentidos zusammen.1764 Die emotionalen Bindungen werden zusammenfassend mit dem Begriff der naturaleza erklärt. Zugleich begründet und beschreibt er eine rechtliche Verbindung. Sie besteht zunächst in der Verbindung zwischen den Eltern und ihren Kindern, wird als naturaleza del linage bezeichnet und als Element für die Beziehung zwischen König und Untertanen erweitert.1765 Die Begriffe natura und naturaleza werden unterschieden. Dies geschieht in part 4, titulo 24, ley 1: natura es una virtud, d. h. eine Wirkkraft, die dazu führt, dass alles in einem solchen Zustand beschaffen ist, wie ihn Gott angeordnet hat. Die natureleza ist von der natura abgeleitet. Sie ist konzentriert auf zwischenmenschliche Beziehungen und beruht auf der Liebe. Sie ist vor allem eine Verpflichtung, kann daher auch verfehlt werden.1766 Erfasst die natura alles Kreatürliche, so die naturaleza ausschließlich die menschliche Gemeinschaft. Eine ethische und rechtliche Normierung kann es nur geben, sofern die naturaleza besteht. Die Unterscheidung der beiden Begriffe natura und naturaleza und ihre definitorische Präzisierung sind durchaus, anders als dies Georges Martin meint, Neuerungen, denn mag auch das Wort naturaleza seit dem Beginn des 13. Jahrhunderts in kastilischen Quellen verwendet worden sein, so doch noch nicht in einer umfassenden sozialen, politischen und rechtlichen Anwendung.1767 Die Unterscheidung zwischen natura und naturaleza ist trotz der 1763 Marco Ortiz Palanques, Las Siete Partidas de Alfonso el Sabio como instrumento legitimador, in: Revista Filosofia 20 (2009), S. 53–92. 1764 Siete Partidas, II, S. 7f.: part. II, tit. 1, Ley 5. 1765 Ebda., I, S. 13. 1766 Ebda., III, S. 130f.: naturaleza es cosa que semeja # la natura; und: natureleza tanto quiere decir como debdo que han los homes unso com otros por alguna derecha razon en se amar e se querer bien.; Heusch, Fictio naturae, S. 125–129. 1767 Martin, Estrat8gias, S. 136.

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kausalen Verbindung zwischen beiden hingegen erst in dem alfonsinischen Text deutlich ausgeführt. Ist die natura im vierten Teil der Siete Partidas als eine Kraft definiert, die alles so hervorbringt, wie Gott es angeordnet hat, so die naturaleza als etwas, was der Natur ähnelt und aus ihr entspringt und hilft, die Kreativität des Menschen hervorzubringen, um dasjenige so einzurichten und zu erhalten, was in der Natur nicht vorhanden, aber doch aus ihr geschaffen wird und ihr angemessen ist. Die Unterscheidung der Begriffe verweist auf die Schöpfung Gottes einerseits und auf die Formung durch die Menschen andererseits. Die Vorstellung besteht, dass die Menschen die Schöpfung Gottes vermittelt durch die Natur nachahmen und fortsetzen. Diese Idee haben Philosophen des Mittelalters gut begründet. Beschäftigt haben sich mit dem Thema u. a. Wilhelm von Conches, Hugo von Saint-Victor und ausführlich Thomas von Aquin.1768 Also nicht aus einem Automatismus entsteht die naturaleza, sondern sie ist ein moralisch und rechtlich auszuformender Impuls, der in der Natur grundgelegt, aber noch zu wecken ist. Eine weiteres Kriterium trennt natura und naturaleza: das der sozialen Bindung. Alle Bedeutungen der naturaleza kennzeichnen eine Relation. Der Begriff natura wird zwar gleichfalls häufig als Entstehungsgrund und als Rechtfertigung von Institutionen genannt, besitzt jedoch eine auf das Wesen des Einzelnen bezogene Bedeutung und beschreibt den Menschen hinsichtlich seiner Person und seiner Eigenschaften. Die relationale Bedeutung der naturaleza verleiht ihr erst die soziale Potentialität, die in der Pluralität der Menschen realisiert wird und diese Pluralität in eine Einheit überführt. Das Adjektiv natural bezeichnet den Herrn, dem zu gehorchen und untertan zu sein die naturaleza gebietet, verbindet also individuelle Kennzeichnung mit sozialer Kohäsion. Auch wenn das Wort naturaleza mehrere Bedeutungen hat – die Gesetzessammlung der Siete Partidas nennt ihrer zehn – verweisen sie alle auf soziale Bindungen. Die edelste und beste Ausprägung sei diejenige, die ein enges Band zwischen Herrschern und Untertanen begründe. Dann gebe es diejenige, die das Lehenswesen forme, dann drittens das durch die Erziehung hervorgerufene, viertens das durch den Ritterschlag geschaffene, fünftens das durch die Ehe gestiftete, sechstens durch die Erbfolge begründete, siebentens und achtens das durch die Anhänglichkeit an einen Befreier aus der Gefangenschaft entstandene, neuntens das durch die Aufnahme in die christliche Religion geformte und schließlich zehntens das durch die mindestens zehnjährige Niederlassung in einem Land eingerichtete Band zwischen den neuen Bewohnern und den Alteingesessenen. Sowohl aus der Geburt in einem Land als auch aus der Ein1768 Tiziana Suarez-Nani, Cr8ation divine et production humaine: un itin8raire entre Moyen ffge et Renaissance, in: Medieval Theories of the Creative Act, hg. v. Elisabeth Dutton u. a. (Scrinium Friburgense 38), Wiesbaden 2017, S. 31–47.

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wanderung in das Land entsteht also die naturaleza. Die Mehrdeutigkeit des Begriffs erfasst auch Lebensbereiche außerhalb der Herrschaft, immer aber ist eine soziale Bindung gemeint. Sowohl gegenüber den Herren und dem König also auch untereinander schulden die Bewohner aufgrund der naturaleza, sich zu lieben und, auf der Liebe aufbauend, sich gegenseitig nützlich zu sein. In dem Gesetzbuch steht die naturaleza oberhalb der Vasallität; diese stellt nur einen Sonderfall ihrer Anwendung dar ; beide werden in unterschiedlichen titulos behandelt. Erfasst erstere alle Bewohner und Untertanen des Königsreiches, so die zweite nur einen Teil von ihnen, die als Adlige in einer engeren Gehorsamspflicht stehen – dies deswegen, weil sie mit Lehen ausgestattet werden und zur Gegenleistung angehalten sind.1769 Weil die naturaleza die Gesamtheit der Untertanen erfasst, die der Befehlsgewalt des Königs unterstehen, sieht sie von intermediären oder gar konkurrierenden Machtinstanzen ab, formt eine einheitliche Masse, in der die Menschen und das Land, das sie bewohnen, zusammengeführt sind. Die naturaleza gelangt durch die Liebe zur Wirkung.1770 Auch die Beziehung zwischen Lehensherr und Vasall ist eine Beziehung der Liebe. Sie ist die Voraussetzung, die schuldigen Dienste zu leisten. In dem ley II und VI, des titulo XXV des vierten Teils wird dargelegt, wie Herren und Vasallen miteinander agieren. Nicht nur ein Eid, nicht nur eine rechtliche Pflicht, sondern vor allem die Affekte führen zur Über- und Unterordnung. Die Liebe ist der Grund der Herrschaft und des Gehorsams; und sie gesteigert in der vasallitischen Beziehung: Et crece et dura el amor verdadero entre ellos.1771 Die Rechtsbeziehungen verweisen auf eine außerhalb des Rechts stehende, den Menschen im Königreich eingegebene Disposition. Die rechtliche Gestaltung des Lehensverhältnisses legt Zeremonien des Eides und der Lehenseinsetzung fest, aber sie wirken erst kraft der natürlich eingegeben Eigenschaften von Herrschern und Beherrschten.1772 Neben der Liebe ist auch der Zorn als angemessene Emotion genannt. Auch er wird in das Recht integriert. In dem zweiten Teil der Gesetzessammlung heißt es, es gebe mehrere Formen des Zornes, die Aristoteles und andere weise Männer 1769 Siete Partidas, III, S. 131–145; Lucie Dissouva, Natura, natural, naturaleza. Analyse des 8l8ments d’une conceptionalisation politique dans les »Siete partidas« d’Alphonse X, dit le Savant, Paris 1997; Barbara Schlieben, Verspielte Macht. Politik und Wissen am Hof Alfons’ X. (1252–1284) (Wissenskulturen und Gesellschaftlicher Wandel 435), Berlin 2009, S. 326; Georges Martin, Le concept de la »naturalit8« (naturaleza) dans les Sept Parties d’Alphonse le Sage, in: Construir la identidad en la Medad Edia. Poder y memoria en la Castilla de los siglos Vi a XV, hg. v. Juan Fuente u. a. (Humanidades 112), Cuenca 2010, S. 145–162; Martin Rhonheimer, Christentum und säkularer Staat, Freiburg i. Br. 2012, S. 523; Ferreira, Pedro de Barcelos, S. 60f., Heusch, Fictio naturae, bes. S. 129. 1770 Siete Partidas, III, S. 127; Martin, Estrat8gias, S. 136. 1771 Siete Partidas, III, S. 133–135. 1772 Ebda., III, S. 141.

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beschrieben hätten. Unter diesen Formen gebe es eine verwerfliche, aber auch eine gesunde Form. Letztere entspringe dem Herzen und entflamme das Blut und betreffe alle Angelegenheiten, die der König sehe oder höre, ablehne oder annehme. Auch wenn diese Emotion an körperliche Organe und Funktionen angebunden ist, verlangt sie eine moralische Bewertung und sieht juristische Verfahren vor, die sie regulieren, disziplinieren und funktionalisieren, d. h. sie auf die Aufgabenerfüllung des Königs zuführen. Deswegen sei es erforderlich, dass erstens der Verstand den Zorn anleite und zweitens dass er auf das Ziel ausgerichtet sei, die gute Ordnung im Königreich herzustellen und zu sichern, weswegen es von der Intention und vom Resultat abhänge, ob der Zorn eine wertvolle Regung ist. Die saÇa cjlera ist von der ira oder gar der malquerencia zu unterscheiden; die beiden zuletzt genannten Formen des Zorns würden einem bösen Willen entspringen und üble Ergebnisse hervorrufen.1773 Der Zorn erscheint in den Siete Partidas als eine Antriebskraft, die ihre Bewertung aus Absicht und Anwendung erfährt und anhand der Resultate terminologisch differenziert wird. Mehr als nur als motivierendes Movens, wie der Zorn, stellt das Gesetzbuch die Liebe vor: el amor. Sie bringt notwendigerweise und immer Gutes hervor, denn sie vermag Beziehungen zwischen den Menschen herzustellen, damit sie gemeinsam handeln und durch dieses Handeln Gutes schaffen, das allen Bewohnern des gesamten Königreiches Nutzen stiftet. Liebe ist nicht ambivalent, kennt keine Schattenseiten, riskiert nicht, Ordnung zu stören, vereint Individuen, Familien und kleine Gemeinschaften mit dem König und untereinander. Sie formt die Beziehungen im Staat. Garantiert ist dies, weil die Liebe aus der naturaleza entspringt und diese wiederum fördert. Im Abschnitt zu den Gesetzen ist die Liebe rechtlich eingefasst. Mit den Gesetzen wird gezeigt, wie die Menschen sich gegenseitig lieben: Leyes muestran cjmo los hombres se aman unos / otros. Mag auch das »Zeigen« keine zwingende rechtliche Norm einführen, so ist doch die Liebe an das Gesetz gebunden; es fordert und reguliert sie und durch das Zeigen erhält das Recht erst seine Wirkung. Liebe wird so aus dem rein personalen Empfinden herausgelöst. Die Liebe, die auf der naturaleza beruht und die die Gesetze bewirkt, wird auch zum Objekt der Gesetze und der Gesetzgebung des Königs.1774 Auch hier gibt es eine doppelte Kausalität. Im zweiten Buch der Siete Partidas wird dargelegt, dass natürlicherweise jeder einen Meister haben müsse und dass, so wie die Bibel es vorsehe, die Könige eingesetzt seien, damit sie den Auftrag Gottes ausführten, die Menschen in Frieden und in Liebe zu vereinen. In Stellvertretung Gottes errichteten die

1773 Ebda., II, S. 32f. 1774 Ebda., I, S. 17, 18: I, 1,8 und I 1,10.

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Könige eine Ordnung der Gerechtigkeit.1775 Nach dem Urteil von Carlos Heusch hätten die Siete Partidas erstmals eine juristische Doktrin der Freundschaft auf der iberischen Halbinsel eingeführt.1776 Nach Heusch begründet die naturaleza eine »qualit8 civile«, die das soziale Band im Staat knüpft. Aber mehr als eine politische Ordnung wird konzipiert, die Freundschaft anstrebt und verwirklicht, sondern eine Theorie wird angeboten, die den Ursprung des Handelns erklärt und das Handeln der Herrscher und ihrer Untertanen konfliktfrei zusammenführt. Die Herrschaft wird nicht allein als gottgegeben gerechtfertigt, sondern anthropologisch begründet, weil sie auf den den Menschen gemeinsamen Emotionen beruht. Die Handlungsgemeinschaft wird nicht allein durch das Recht geformt, sondern auch durch die Liebe. Ja die Rechtsordnung ist nur dann effektiv, wenn ihre Mitglieder in Liebe miteinander verbunden sind. Die Liebe existiert nicht allein in der Familie, nicht allein zwischen Freunden, sondern ist auch wirksam in sozialen Fernbeziehungen und vermag große Kollektive zu umgreifen. Das Ideal der weit ausgreifenden Liebe ist die zwischen Gott und den Menschen. Schon im vierten Titel des ersten Buches, in dem die theologischen Fundamente des Christentums dargelegt werden, kleidet der Gesetzestext diese Liebe in eine Sprache der Herrschaft. Dort heisst es, dass Gott den Menschen eine große Liebe der Freundschaft erweise, so wie sie der weltliche Herr gegenüber den Vasallen erbringe. Die Liebe Gottes erfasse die gesamte Christenheit; alle Christen sind Freunde Gottes: christianos de Dios amigos.1777 Die Liebe im Verhältnis zu den Vasallen ist eine Analogie zur Liebe Gottes zu den Menschen. In dem König Alfons zugeschriebenen historiographischen Werk General Estoria wird Gott als ein Lehensherr beschrieben, der seine Vasallen beherrscht. Freilich wird dort die Thematik der Liebe nicht ausgeführt.1778 Anders in den Siete Partidas: Sie stellen dar, dass die Liebe alle Beziehungen des Zusammenlebens forme, ausdrücklich die zwischen Vater und Sohn, zwischen Herr und Vasall, zwischen König und Untertan. Anders als bei Aristoteles ausgeführt, bedürfe diese Verbindung keiner Vereinbarung, nicht einmal eines gemeinsamen Zieles, das in der Sicherung des Lebens und der Erreichung eines guten Lebens bestehe, sondern verwirkliche sich dank der Entfaltung natürlicher Anlagen der Menschen, die nicht auf die Korrektur eines Mangels zielten, die zu ihrer Existenz aber einer Belehrung bedürften.1779 Die Liebe ist kausal bedingt, nicht intentional. Daher kann sie nicht an Ergebnissen und am Nutzen bemessen 1775 1776 1777 1778

Ebda., S. 8f. Heusch, Fondements, S. 5; Ders., Fictio naturae, S. 123. Siete Partidas, I, S. 109; Liuzzo Scorpo, Spiritual Friendship, S. 457. Antonella Liuzzo Scorpo, La idea del poder en la peÇiscola ib8rica en la edad media. Perspectivas universales y particulares en la General Estoria y la Estora de EspaÇa, in: Studia historica. Historia medieval 29 (2011), S. 23–50, S. 32. 1779 Siete Partidas, III, S. 145.

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werden, ist vor Enttäuschungen gefeit, vor Ansprüchen abgeschirmt. Die Verbindung der Liebe zum Recht ist erneut eng gefasst: tal amor como este es derecho.1780 Das Volk ist definiert als eine Gemeinschaft der Liebenden. Nicht die Unterscheidung in Aufgaben und in hierarchische Positionen, nicht die Scheidung in Große, Mittlere und Kleine kennzeichnen das Volk, sondern die gefühlte Vereinigung aller. Sie bewirkt die kooperative Aktion. Dass das Recht hinzukommt, um die Einheit zu wahren, mindert nicht die Wirkung der Liebe, ja vermehrt sie noch, da das Recht kraft der Liebe zur Wirksamkeit gelangt.1781 Die Liebe wirkt in einem Herrschaftsraum, erfasst eine geographische Einheit, bindet eine soziale Formation. Das Gesetz sieht vor, dass der König nicht allein die Menschen seines Volkes, sondern sein Königreich und das Land lieben müsse. Diese Liebe ist nicht nur dem König abverlangt; sie ist allen Bewohnern auferlegt. Es ist die tierra misma, die die Liebe einfordert, denn sie spendet alle materiellen Güter, die der Bevölkerung zu gute kommen. Die Gemeinschaft des Nutzens gelingt, weil die Liebe Frieden stiftet und die Harmonie zwischen allen Bewohnern schafft. Die tierra ist der Aktionsraum der Liebe.1782 Es gibt indes Fälle, in denen sich die Liebe auf Personen oder Objekte richtet, ohne Erwiderung zu finden; dann ist sie sozial steril, kann keine Freundschaft herstellen und bleibt in diesem Fall außerhalb rechtlicher Festlegung und bringt keinen Nutzen.1783 Aber auch dann ist es nicht die Liebe selbst, die unangemessen ist, sondern ihre verfehlte Anwendung. Hingegen ist auf der natureleza beruhende Liebe auf das Königreich, ihre Bewohner und ihren Herrscher ausgerichtet und deswegen niemals verfehlt; sie ist sozial und politisch opportun, im Herrschaftsgebiet wirksam und vor jeder Verfehlung gefeit. Sie ist unterschieden von einer allgemeinen, christlich konzipierten Nächstenliebe, weil sie nützlich gemacht ist zugunsten des Zusammenhalts des Staates.1784 Die Liebe müsse aber selbstlos sein, dürfe nicht nach dem eigenen Vorteil trachten, nicht einmal nach einen kollektiven Nutzen suchen, sondern müsse von den natürlichen Ursachen geleitet werden, was dann aber auch entgegen der Absicht den Nutzen für alle herstelle.1785 So entstehen stabile Beziehungen unter den Untertanen und zwischen Untertanen und König, die sich jenseits von Opportunitäten bewähren und gerade deswegen großen Nutzen für das diesseitige Leben erbringen. Die theoretische Begründung durch die naturaleza verzichtet darauf, das Streben nach dem allgemeinen Wohl als Begründung für den Staat einzusetzen. Da eine

1780 1781 1782 1783 1784 1785

Ebda. II, S. 112. Ebda., I, S. 87, 189; II, S. 55f. Ebda., I, S. 12, 230; I, S. 12. Ebda., III, S. 145. Ebda., III, S. 130. Ebda., III, S. 148f.

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uneigennützige Kraft, von der Natur abgeleitet, eingesetzt ist, entfällt die Erwartung auf Nutzenoptimierung, die aber gleichwohl garantiert ist. Sich auf die natürliche Entstehung der Liebe allein zu verlassen, genügt aber nicht, ebenso wenig reicht es aus, die Geltung des Rechts zur Weckung der Liebe vorzusehen, vielmehr bedarf sie auch einer Erziehung, die vor allem den König befähigen soll, die Untertanen zu lieben, und genauso die Untertanen darin unterweist, den König zu lieben, und auch belehrt, wie der König Liebe gewinnt, wie dies im zweiten Teil der Siete Partidas ausführlich vorgestellt wird, dabei auch die dietätischen Anweisungen des Werkes Secretum secretorum heranziehend, um den guten leiblichen Zustand herzustellen und zu erhalten und um einen guten, schönen und leistungsfähigen Körper des künftigen Königs herzustellen, der in der Lage sein müsse, Gefallen zu erregen.1786 Gleichwohl: die naturaleza vermag auch die Furcht zu erregen. Es ist die Furcht, die das Volk dem König gegenüber in ähnlicher Weise hegen muss, wie die Menschen sie auch Gott schulden. Dem titulo zur Gottesliebe und Gottesfurcht folgt daher sogleich derjenige Abschnitt, welcher Liebe und Furcht im Verhältnis zum König darlegt. Die Loyalität der Untertanen wird ohne Einschränkung verlangt, bis zur Aufopferung des eigenen Lebens und ohne Rechte gegenüber dem König einzufordern. Zu den Pflichten gehört es, stets Gutes von dem König zu meinen, ihm zu gehorchen, sein Gerichtsurteil anzurufen und es zu befolgen, ihm stets die Wahrheit zu sagen, ihm nichts zu verschweigen.1787 Liebe und Furcht, gerade weil sie in die Nähe religiöser Pflichten gerügt sind, sind mehr als nur Emotionen, sondern sie begründen Machtverhältnisse und sind normative Werte, deren Geltung von der natürlichen Ordnung, die Gott geschaffen hat, abgeleitet und rechtlich eingefordert ist. Dass die Liebe rechtlich eingebunden ist, wird auch an dieser Stelle ausgeführt. Der leal amor wird genannt.1788 Die Liebe durchtränkt kraft der rechtlichen Formung alle Ebenen der Herrschaft; sie ist nicht nur an die Person des Königs gebunden, sondern ist erweitert in den hierarchischen Relationen der Bewohnern des Königreiches, weil die Gewalt des Königs und genauso die Liebe des Königs sich durch seine Beauftragten und Getreuen fortsetzen. In alle Verästelungen der von der naturaleza geformten und von königlichen Beauftragten regulierten Gesellschaft dringen die Herrschaft und zugleich die Liebe vor. Aber dies gelingt nicht allein durch Delegation und Beauftragung von Kompetenzen; wirksamer geschieht dies durch die allgegenwärtig vorhandenen Dispositionen der Bewohner des Königreiches. Die Liebe verwirklicht sich zunächst in der Familie, auch des Königs. Der 1786 Ebda., II, S. 46–50; Rucquoi, Hugo Bizzarri, Espejos, S. 20. 1787 Siete Partidas, II, S. 91–106; Berges, Fürstenspiegel, S. 94f. 1788 Ebda., III, S. 130.

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König habe, so im zweiten Teil der Siete Partidas, die Pflicht, seine Kinder zu lieben. Dies allein schon deswegen, weil sie Anteil hätten an dem Adel ihrer beiden Eltern. Sie seien außerdem zu lieben, weil sie aus dem Körper des Königs entsprungen seien und weil sie nach dessen Tod sein Werk fortsetzten. Liebe und – aber in minderem Einsatz – Furcht sollten die Antriebskräfte der Erziehung sein, weil jeder Mensch von ihnen gelenkt werde, auch die Kinder der königlichen Familie.1789 Angestrebt ist, dass die Kinder des Königs ihre Eltern und ihre Geschwister lieben, dann auch die anderen Verwandten, dann die Lehnsmannen, dann alle Untertanen, stets auf die jedem zukommende Weise.1790 Das Gesetzbuch der Siete Partidas entfaltet eine Liebesordnung, die für alle Beziehungen im Königreich gültig ist. Die Liebesordnung ist zugleich eine Rechtsordnung. Und sie ist eine Ordnung, die das, was die Natur vorgibt, in richtiger Weise für den Staat zur Entfaltung bringt – durch die naturaleza. Aus der familiären Liebe entsteht die politische Liebe. Diese erfasst alle Untertanen – eine Vorstellung, die auch in dem alfonsinischen Werk Setenario, einer Sammlung von enzyklopädisch angeordnetem Wissen, ausgeführt ist. Der Herrscher sei natürlicherweise eingesetzt, womit offensichtlich nicht eine – im Sinne von der Schrift zur Politik von Aristoteles und von deren mittelalterlicher Kommentierung – notwendige politische Verfasstheit, sondern konkret die Installierung einer Herrscherdynastie und die Macht eines individuellen Königs gerechtfertigt werden soll. Das Volk müsse stets im Gedächtnis bewahren, dass der König die Herrschaft über die Untertanen ausübe, weil er die naturaleza mit ihnen habe.1791 Die naturaleza bestehe außerdem, so im Werk Setenario, im Verhältnis der Untertanen untereinander. Auch in dieser kleineren Schrift ist ausgeführt, dass die naturaleza allen hierarchischen Stufen von Herrschaft eingepflanzt sei. Dies sei allein schon daran erkennbar, dass die Herrscher den Verlust der Freundschaft und der Liebe, die aus der naturaleza entsprängen, als Strafe verhängen könnten gegenüber Menschen, die ihr Land und seinen Herrscher bekämpft hätten und zu deren Feinden geworden seien. Die Vernunft gebiete in diesem Fall, ihnen die naturaleza zu entziehen und die aus ihr entstandenen Bande der Liebe zu kappen.1792 Die naturaleza kann also widerrufen werden, steht in der Verfügung des Herrschers. Sie ist folglich nicht nur auf die 1789 Ebda., II, S. 43–46. 1790 Ebda., II, S. 8. 1791 Ebda., II, S. 111; Alfonso el Sabio, Setenario, hg. v. Kenneth Vanderford, Barcelona 1984, S. 24; Georges Martin, Les juges de Castille. Mentalit8s et discours historique dans l’Espagne m8di8vale, Paris 1992, S. 325f., 390; Ders., Alphonse X ou la science politique. Sept8naire, in: Cahiers de linguistique hispanique m8di8vale 20 (1995), S. 7–34; Ders., Strat8gies discursives et linguistiques du l8giste. La »naturalit8« (naturaleza) dans le Sept8naire d’Alphonse X le Sage, in: E-Spania 15 (2013). 1792 Siete Partidas II, S. 176–178.

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Herrschaft einwirkend, sondern erwächst auch aus der Herrschaft. Im Werk Setenario ist die natureleza enger als in den Siete Partidas mit der Person des Herrschers verbunden. Mit dessen Tod endet sie und muss für den Nachfolger erneuert werden; sie geht auch zugrunde, wenn der Herrscher sich wie ein Tyrann verhält. Anders als in den Siete Partidas formuliert das Werk Setenario ethische Forderungen an den König. Ebenso wie in den Siete Partidas ist die Verbindung von König und Land ausgeführt. Die naturaleza ist territorial eingegrenzt.1793 Die philosophische Reflexion in den Gesetzestexten und Weisheitsbüchern und die behauptete Autorenschaft durch den jeweils regierenden König setzten sich auch nach dem Tod von Alfons X. 1284 fort. Don Juan Manuel (1282–1348), ein Neffe von König Alfons X., war Autor zahlreicher Schriften zur Fürstenbelehrung. Sie fanden weite Verbreitung und standen in der Tradition der Weisheitsliteratur, wie sie am kastilischen Hof gepflegt wurde, wo Exempel und Sinnspruch, eng miteinander verzahnt, in narrativer Zusammenstellung Argument und Schlussfolgerung präsentierten.1794 Auch Juan Manuel erörtert das Thema der Liebe und, anknüpfend an die Siete partidas, lädt er es politisch auf. Auch er leitet in seinem ersten moralphilosophischen Werk, im Libro del cavallero et del escudero von 1326, amor aus naturaleza ab und stellt den amor in den Dienst der Herrschaft. Im Prolog schreibt Manuel: el amor que la naturaleza dava que todos deven aver asi common a su rey e su sennor natural. Die Begründung der Liebe in der naturaleza ist grundsätzlich gegeben, geradezu eine dem Menschen eingepflanzte Regung, die Gewährung der Liebe an die Herren ist eine Forderung. Die Liebe ist allen Untertanen gemeinsam. Aber über die Liebe kann der Herr nicht ohne weiteres verfügen; nur wenn er sich ihrer Herrschaft unterwirft, kann sie von ihm eingesetzt werden: SeÇor vien s8 que el amor non es en poder del omne ante es el omne en poder del amor.1795 Die Liebe streckt in mehrere Richtungen ihre Fühler aus und verwebt die Beteiligten der Herrschaft in ein Netz, dessen Fäden nicht individuell-psychologisch, sondern politischinstitutionell geformt sind. Juan Manuel nimmt auch die Konzepte des mallorquinischen Philosophen Raimund Lull auf, der in seinem gegen Ende des 13. Jahrhunderts verfassten Roman Blanquerna die Liebe und die Freundschaft aus einer Manifestation des Willens herausnimmt und ihre Verwirklichung als Ergebnis einer cienca, einer Weisheitslehre, erklärt. Die intellektuelle Formung öffnet den Weg in eine institutionelle Einbettung.1796 1793 Heusch, Fictio naturae, S. 122; Martin, Estrat8gias, S. 143. 1794 Anita Jude Savo, »Porque fago libros«. Authority and Authorship in the Works of Juan Manuel, New Haven 2014. 1795 Juan Manuel. Libro del cavallero et del escudero (Obras completas 1), hg. v. Alvar Ezquerra u. a., Madrid 2007, S. 12, 282. 1796 Ramon Llul, Romanc d’Evast e Blanquerna, hg. v. Albert Soler i Joa, Barcelona 2009.

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In dem als Libro infinido bezeichneten Text, der als Fürstenspiegel gestaltet ist, erörtert Juan Manuel zunächst das Thema der Furcht als Voraussetzung des Herrschens, stellt es neben das der Liebe, und kommt zur Schlussfolgerung, dass die Liebe einen größeren Wert habe, weil sie das Kennzeichen des guten Königs sei, folgt also auch hier zunächst den Bahnen, die die alfonsinischen Texte vorgezeichnet haben. Die Unterscheidung zwischen der Herrschaft per se und der guten Herrschaft beruht darauf, dass der König liebt. Die Liebe kennzeichnet aber nunmehr den individuellen Herrscher, nicht die Institution der Herrschaft. Sie ist als Pflicht dem Herrscher auferlegt, formt aber kein natürliches Band zwischen den Untertanen und dem König. Die naturaleza als Konglomerat der Bindungskräfte wird hier nicht eingeführt. Als Strafe für die Niedrigkeit und Bosheit von unzivilisierten Völkern setze, so schreibt Don Manuel, Gott Herrscher ein, die grausam, eigennützig, furchteinflößend und quälend handelten, also als Tyrannen zu bezeichnen seien. Deren Herrschaft, so gottgewollt sie auch sein möge, führe zur Zerstörung des gemeinsamen Handelns der Untertanen. Ausdrücklich auf den Text De regimine von Aegidius Romanus verweisend, bezeichnet Juan Manuel den König als Halbgott. Diese Bezeichnung rechtfertige sich aber nicht allein durch die Macht, sondern auch durch die Imitation Gottes hinsichtlich der Liebe, die den Menschen gewährt werde. Juan Manuel behandelt insgesamt fünfzehn Arten der Liebe, unter ihnen auch einer solchen, die einseitig sei, wie die Liebe der Eltern zu ihren Kindern, die natürlicherweise bestehe, aber nicht von den Kindern in gleicher Weise erwidert werde. Dann stellt der Autor die Liebe des Königs zu seinen Untertanen und diejenige von ihnen zum König dar. Hier fehlt es zwar nicht an Reziprozität, aber an Egalität der Ausformung, denn die Liebe ist unterschiedlich stark. Allein die Liebe des Königs hat offensichtlich einen politischen Sinn, denn nur aus dieser Liebe, so Don Juan Manuel, entstehe die Sorge für sein Volk, während die Liebe der Untertanen nicht zur Beschäftigung der öffentlichen Angelegenheit anregen würde. In der breit angelegten Erörterung über das Thema der Liebe reserviert der Autor einzig der Liebe in der Familie die Charakterisierung als natürlich, während u. a. die Liebe der Vasallen zum König einzig aus Pflicht und Recht erwächst. Die Liebe des Königs entspringt offensichtlich ebenfalls nicht aus der humanen Disposition, vielmehr aus einer göttlichen Beauftragung und Nachahmung, einer Normerfüllung, folgt also nicht aus den Bedingungen der Natur. Nicht aus einem, wie einige Jahrzehnte zuvor vorgestellten und von Manuel übernommenen Konzept der naturaleza entsteht die Liebe; sie verweist unmittelbar auf Gott und muss aufgrund eines göttlichen Befehls erfüllt werden.1797

1797 Don Juan Manuel, Libro infinido, hg. v. Carlos Mota, Madrid 2003, S. 138f., 176–190; Ian MacPherson, Amor and Don Juan Manuel, in: Historical Review 39 (1971), S. 161–182;

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Ausführlich behandelt Juan Manuel die Gestaltung von Herrschaft in seiner Schrift zur Ständelehre und entfernt dabei die Liebe noch mehr aus der politischen Verfassung, der Herrschaft und der naturaleza, die folglich als Grund der sozialen Bindungen entfallt. Juan Manuel individualisiert die Liebe. Er behandelt nur die Liebe in der Familie, zwischen Vater und Sohn. Weitere Formen der Liebe stellt diese Schrift nicht vor. Die weltliche Herrschaft ist ausdrücklich, anders als die Siete Partidas vorgesehen hatten, aus der Pflicht entlassen, die Menschen zur ewigen Glückseligkeit zu lenken. Sie ist darauf angelegt, für ein diesseitiges Glück tätig zu sein, ohne dabei die Liebe als motivierende Kraft und als Bindeglied einzusetzen. Auch in den beiden Kapiteln, die das Thema der Herrschaft des Kaisers behandeln, fehlen die Themen von Liebe und Glück. Statt ihrer werden Tugenden vorgestellt. Don Juan Manuel stellt die Begrenztheit des Naturrechts dar, das nicht einmal kraft seiner Vernünftigkeit zur Rettung der Seele beitrage, womit er christliches Recht und natürliches Recht voneinander trennt. Die Liebe wird in dieser Schrift aus der Herrschaftsausübung herausgenommen, dies wohl eine Konsequenz davon, dass Don Manuel nun ein anderes Werk von Aegidius Romanus, das zur Begründung der päpstlichen Vollgewalt, De potestate ecclesiastica, explizit zitiert und dessen Inhalt in einem Kapitel resümiert. Weil weltliche Gewalt der päpstlichen unterstellt sei, so schreibt nun auch Don Manuel, garantiere diese das gute Gelingen von Herrschaft. Die natürliche Veranlagung, die die Liebe hervorbringt, hält Don Juan Manuel nun für entbehrlich.1798 Weitere Mitglieder des Herrscherhofes und der königlichen Familie setzten die Tradition fort, als Autoren und als Empfänger theoretischer Überlegungen zur Herrschaft aufzutreten. Der Wert der Liebe als Antrieb für die Disposition des politischen Zusammenhaltes wurde dabei weiter entwertet. Der Sohn und Nachfolger von König Alfons X., Sancho IV., präsentierte sich als der Autor des um 1300 geschriebenen Werkes Castigos y documentos, dessen Gliederung und Thematik sich eindeutig auf das Buch De regimine principum von Aegidius Romanus stützten. Der Text von Aegidius beinflusste auch einige Abschnitte der Erziehungslehre Zifar del cavallero, kurz nach 1300 von einem unbekannten Alexandra Beauchamp, De l’action / l’8criture. Le De regimine principum de l’infant Pierre d’Aragon V (1357–1358), in: Estudios medievales 35 (2005), S. 233–270, S. 247f. 1798 Don Juan Manuel, Libro de los estados, hg. v. Ian R. MacPherson, Robert Brian Tate, Oxford 1974, S. 19f., 45–47, 70–72, 120–123, 128–131, 253–267; Georgina Olivetto, De las maneras de la amistad en el Libro Infinido de Don Juan Manuel, in: Studia Hispanica Medievalia. Actas de las V Jornadas internacionales de literatura espaÇola medieval, Buenos Aires 21–23 agosto 1996, Buenos Aires 1999, 180–189, S. 184–188; Hugo O. Bizzarri, El concepto de ciencia politica en Don Juan Manuel, in: Revista de Literatura Medieval 13 (2001), S. 59–78; Carlos Heusch, Le libro infinido de Don Manuel ou l’8preuve du miroir, in: Le miroir du prince. Ecriture, transmission et r8ception en Espagne, 13e–16e siHcles, hg. v. Ghislaine FournHs, Elvizio Canonica de Rochemonteix, Paris 2011, S. 131– 144.

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Autor verfasst, dessen letzter Abschnitt sich an den künftigen König richtet, und ein Jahrhundert später auch den Text Libro del consejo e de los consejeros, geschrieben von Pedro Ljpez de Ayala († 1407), einem Vertrauten von König Johann I. von Kastilien.1799 Sie unterschieden sich deutlich von den alfonsinischen Texten: Dass die Herrschaft auf der Liebe gründet und sie einrichtet, wurde nicht mehr ausgeführt. Vielmehr trat die Belehrung über die Pflichten in das Zentrum der Erörterung und drängte die Deskription und Analyse der politischen Ordnung zurück und genauso die Erörterung über die anthropologischen Fundamente des Zusammenhalts im Staat. Als Ort der Belehrung wird der Hof vorgestellt, als deren Verkünder der König, als deren Empfänger der Thronfolger gilt.1800 Gegenüber der Manifestation der natürlichen Disposition tritt die Normierung des Verhaltens in den Vordergrund. Die Vernunft drängt die Emotion zurück. Die Argumentation von Aegidius Romanus wird also in einem entscheidenden Punkt abgeändert. Die Lehre folgt nunmehr einer an den Königshöfen in Deutschland und Frankreich sich durchsetzenden Konzeption, die die Liebe abwertet. Die Belehrung, die das Werk Zifar del cavallero bietet, reduziert die Liebe auf die Bindung zwischen König und Vasall, die damit zwar herrschaftlich weiterhin eingesetzt ist, aber persönlich, nicht kollektiv-anthropologisch begründet wird. Die Liebesfähigkeit und die Befähigung geliebt zu werden, leiten sich von den Tugenden des Königs ab, sind also nicht institutionell und nicht natürlich angelegt, sondern personal eingegrenzt. Weder Macht noch Gesetz leiten sich von der Liebe ab; lediglich das Handeln des Mächtigen wird von ihr bestimmt, bewirkt aber nicht die Kohäsion des Staates, sondern allein den Vollzug der Befehle und motiviert das richtige Handeln des Herrschers.1801 Liebe und Politik werden voneinander entfernt. Deutlich geschieht dies in den castigos e documentos, die König Sancho IV. geschrieben zu haben behauptet. Herrschaft kommt hier ohne Liebe aus. Einzig drei Arten von Liebe behandelt das Werk, die vom Vater für das Kind, die von der Mutter für das Kind und die 1799 Juan Garc&a de Castrojeriz, Glosa castellana al »Regimiento de principes« de Egidio Romano, hg. v. Juan Beneyto P8rez, 3 Bde., Madrid 1947; Fernando Rubio, »De regimine principum« de Egidio Romano en la literatura castellana de la Edad Media, in: La Ciudad de Dios 173 (1960), S. 32–71; Alvarez S. Turienzo, El tratado »De regimine principum« de Egidio Romano y su presencia en la Baja Edad Media hispana, in: Cuadernos Salmantinos de Filosofia 22 (1955), S. 7–25; Jos8 Manuel Nieto Soria, Les mirroirs deds princes dans l’historiographie espagnole (couronne de Castille, 13e-15e siHcles). Tendances de la recherche, in: Specula principum, S. 193–208, S. 195–199; Hugo O. Bizzarri, El concepto de cienca pjlitica en Don Juan Manuel, in: Revista de la literatura medival 13 (2001), S. 59–78, S. 59f.; Ders., Estructura, S. 84f.; Rucquoi, Bizzarri, Espejos; Perret, Traductions, S. 36f. 1800 Bizzarri, Colecciones, S. 53–75. 1801 El libro del Cavallero Zifar, part 1: Text, hg. v. Charles Philip Wagner, Ann Arbor 1929, S. 11, 280f.; Bizzarri, Colecciones, S. 57f.

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vom Kind für die Eltern. Die Kindererziehung, sofern sie in der königlichen Familie erfolgt, soll zusätzlich zur natürlichen Abstammung eine inhaltliche Gestaltung der Macht schaffen. Die Liebe ist aber familiär eingebunden und prägt nicht eine Herrschaft. Im Staat ist statt der Liebe eine strafende und bedrückende Machtausübung vorgesehen, die die Schrift von Sancho IV. wegen der Schlechtigkeit der Menschen und wegen des Sündenfalls den Untertanen auferlegt erachtet. Hier werden nun die Strafgewalt und der Herrschaftszwang als Ergebnis der naturaleza gekennzeichnet, die die Unterwerfung unter den seÇior natur#l verlangt.1802 Liebe ist aus der naturaleza ausgeschieden. Eine Begründung von Herrschaft durch die Erbsünde ist formuliert, die einer naturbedingten, nicht schuldverursachten Entstehung und Ausübung von Herrschaft entgegengestellt ist, wie dies in den Siete partidas auch ausgeführt worden ist. Die persönliche Gegnerschaft von Sancho gegen seinen Vater Alfons vermag den Wandel allein nicht zu erklären. Aber der Konflikt zwischen Vater und Sohn, der ja von Alfons von der Thronfolge ausgeschlossen worden war, machte die Legitimation des neuen Königs problematisch, was dazu führte, dass Sancho seinen Anspruch von der nicht aufhebbaren Geltung der dynastischen Kontinuität ableitete, also eine traditionelle Begründung anführte, die von der Thematik einer allgemeinen harmonischen Ordnung im Königreich absah.1803 Ein weiterer und wichtigerer Grund aber ist wohl, dass die Herrschaftsbegründung und Herrschaftsanforderung in dem Text von Sancho auf dem ursprünglich muslimischen Text Secretum secretorum aufbaut. Der Text, seit der Wende zum 13. Jahrhundert dem Okzident in zahlreichen Handschriften bekannt, wurde auf der iberischen Halbinsel, allein schon wegen der stärkeren Beeinflussung durch die Muslime, mehr als andernorts in Europa rezipiert und war früh in einer kastilischen Übersetzung – mit dem Titel Poridat de poridades – zugänglich. Die in dieser Textsammlung verlangte Grausamkeit des Königs und seine Pflicht, Furcht einzuflößen, sollten sicherstellen, dass die Untertanen gehorchten. Gerechtigkeit wurde aus der Machtvollkommenheit des Herrschers abgeleitet, nicht aus einer Nutzengemeinschaft von Herrscher und Volk und nicht aus einer natürlich angelegten empathischen Zusammengehörigkeit.1804

1802 Castigos del rey don Sancho IV, hg. Hugo O. Bizzarri, Madrid 2001, S. 100f., 130, 140, 306; ältere Edition: Castigos y documentos para bien vivir ordenados por el rey don Sancho IV, hg. v. Agapito Rey, Bloomington 1952; Haro Cort8s, Imagen, S. 49–51; Bizzarri, Estructura, S. 130–134. 1803 Manuel Gonz#lez Jim8nez, Alfonso X el Sabio 1252–1284, Palencia 1993, 126–145, 297–300, 331; Joseph F. O’Callaghan, The Learned King. The Reign of the King of Castil, Philadelphia 1993, 252–269, 325–347; Salvador Mart&nez, Alfonso X el Sabio. Una biografia, Madrid 2003, S. 393–402, 425–428, 454–458, 466–496, 542–544, 753–756. 1804 Pseudo Aristjteles, Poridat de poridades, hg. v. Lloyd A. Kasten, Madrid 1957, S. 7–9, 37– 39, 42f.; Hugo Oscar Bizzarri, Secreto de los secretos. Poridat de poridades. Versiones

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Auch ein anderer ursprünglich arabischer Text, eine Sammlung von Weisheitssprüchen, am Ende des 13. Jahrhunderts ins Kastilische übersetzt und als Bocados de oro bezeichnet, leitet aus der Liebe keine politische Bedeutung im Sinne eines Strebens nach dem allgemeinen Wohl oder einer Ableitung aus natürlicher humaner Bestimmung ab, ja warnt den König davor, sich von der Liebe antreiben zu lassen, da sie mit der Unbeständigkeit und den Launen der Menschen behaftet sei. Es sei weise, sich davor zu hüten, sich den Untertanen in Liebe anzunähern. Allein die Liebe der guten Menschen sei beständig; aber sie sei selten und lenke zur Liebe Gottes. Für die Herrschaftsausübung gab diese Art der Liebe nichts her.1805 Der spanische Infant Pedro de Barcelos greift zwar in seinem Werk Livro de Linhagens, im Jahre 1344 geschrieben, auf das Konzept der naturaleza zurück, aber auch er verändert deutlich den Begriffsinhalt, nicht indem er ihn auf Furcht und Zwang hinführt, sondern aus der theoretischen Begründung von Königsherrschaft gänzlich entfernt und ihn stattdessen zur Erörterung der Freundschaft zwischen den Adligen einsetzt. Die naturaleza stellt Pedro in Widerspruch zur natura, insofern er nur der ersten eine Verfeinerung der Sitten und eine Beherrschung der Triebe, denen die Tiere natürlicherweise freien Lauf ließen, zuweist, aber diese zivilisatorische Wirkung sozial eingrenzt, dem Adel reserviert und die Gesamtheit der Bewohner des Königreiches von ihr ausschließt.1806 Die nach dem Tod von Alfons X. in Kastilien geschriebenen Texte zur Herrschaftsbelehrung entfernen sich von der konzeptuellen Begründung von Politik, wie sie in den Siete partidas ausgeführt ist, weil nun die Liebe aus den Institutionen herausgelöst und in die Gefühlswelt des Einzelnen gestellt wird. Damit wird die Bindung der Liebe an eine naturaleza abgeschwächt, wird vielmehr stärker zur Tugend. Aber die Geltung der Siete partidas setzte sich während der folgenden Jahrhunderte fort, so dass neben der rechtlichen Anwendung auch die in ihr enthaltene politische Theorie präsent blieb.1807 Divergente Konzepte bestanden, wobei aber allein das große Gesetzgebungswerk Autorität genoss und castellanas del Pseudo-Aristoteles Secretum secretorum. Estudios y 8dicion (Coleccijun parnaseo 12), Valencia 2010, S. 115–117; zum Buch Secretum secretorum: Kapitel X.2. 1805 Bocados de Oro, hg. v. Mechthild Crombach (Romanistische Versuche und Vorarbeiten 37), Bonn 1971, S. 1f., 31, 57, 112f. 1806 Ferreira, Pedro de Barcelos, S. 58–60. 1807 Zur langen Wirkungsgeschichte der Siete Partidas: Kurt Seelmann, Die gelehrte Strafrechtsliteratur in der spanischen Spätscholastik, in: Die Ordnung der Praxis. Neue Studien zur spanischen Spätscholastik, hg. v. Frank Grunert, Kurt Seelman, Tübingen 2001, S. 301– 312, Peter Landau, Spanische Spätscholastik und kanonistische Lehrbuchliteratur, ebda., S. 403–426; Yves Le Roy, Las Siete partidas de rey de Castilla Alfonso X el Sabio y el origen de la fjrmula de Guy Coquille Le roy n’a point de compagnon, in: Glossae. European Journal of Legal History 9 (2012), S. 82–95.

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die Wirkung der anderen Schriften in den Schatten stellte. Die Aussage in dem Gesetzbuch legte eine anthropologische Basis für die Herrschaft, die als unvorgreiflich existent galt. Die Herrschaft wurde eingebettet in unverfügbare Begründungen, die außerhalb von positiver Satzung standen, sie aber für die Stabilisierung der Herrschaft einsetzten. Die kollektive Geltung der Liebe, von der naturaleza hervorgebracht, verlangte, weit über die Liebe in kleinen oder gar zweiseitigen Beziehungen hinaus eine politische Konstitution zu verwirklichen.1808 Liebe durchdrang alle Beziehungen. Sie wurde politisch instrumentalisiert und erhielt wegen der theoretischen, auf philosophische Texte (von Aristoteles und von Aegidius Romanus) hinweisenden Begründung eine intellektuell anspruchsvolle Begründung. Diese Texte, an den Herrscherhöfen und angeblich durch die Angehörigen der Herrscherfamilie selbst formuliert, standen in enger Beziehung zur politischen Praxis – enger, als dies in Deutschland und Frankreich der Fall war. Sie stifteten ein Verständnis, wie die Beziehungen im Königreich gestaltet waren und werden sollten und auf welchen humanen Grundlagen sie beruhten. Aber auch in Kastilien wurde die Liebe als Grund, Antrieb und Aufgabe aus der Herrschaft zunehmend entfernt. Der Unterschied zu einer Liebe, die individual-psychologisch angelegt ist, und einer solchen, die kollektiv begründet und institutionell anwendbar ist, war zwar durch das Alfons X. zugeschriebene Konzept der naturaleza aufgehoben und in einer harmonisierende Einheit überführt, aber die Definition und die Anwendung der naturaleza wurden nach dem Tod von Alfons in der Weise verändert, dass sie nicht mehr Liebe im Staat vorsahen, sondern Furcht und Zwang oder gänzlich aus der Begründung staatlicher Kohäsion herausgenommen wurden. Die Integration der Liebe in das Recht hatte sie zur Norm gemacht, aber auch dazu beigetragen, ihre emotionale Stärke abzuschwächen, und schließlich dazu geführt, sie aus der Verursachung des politischen Zusammenhalts herauszunehmen. Aber auch die zur Zeit von Alfons X. entstandenen theoretischen Texte erzeugten nur die Illusion eines empathischen Zusammenhalts im Königreich. Das Konzept der Liebe war formalisiert und entemotionalisiert. Je mehr die Vorstellung zur Liebe sozial erweitert und politisch dienstbar gemacht wurde, desto schwächer erwiesen sich die emotionalen Bindungswirkungen, die zu behaupten auch am kastilischen Königshof seit der Wende zum 14. Jahrhundert wenig opportun erschien.

1808 Liuzzo Scorpo, Spiritual Friendship, S. 450f.

XIV. Konfigurationen von Bedeutungen und Dispositionen von Handlungen

Die Begriffe Liebe und Schrecken schillerten im Mittelalter in mannigfachen Deutungen. Dies verhinderte nicht, sie festzuzurren und mit der Herrschaft zu verbinden. Die Untersuchungen dieses Buches zeigen die Anstrengungen, die unternommen wurden, der Liebe und dem Schrecken soziale Wirksamkeit abzuringen, um der Herrschaft ein Fundament einzuziehen, so dass sie als unausweichlich galt und ihr Instrumente in die Hand gegeben wurden, die auf die Menschen einwirken sollten. Die Vorstellung von Herrschaft, die durch Liebe und Schrecken geschah, war nicht lediglich Abbild einer Realität, sondern auch Voraussetzung für die Herrschaft, denn nur mittels der konzeptionellen Gestaltung war ihre funktionale Existenz möglich. Die Vorstellungen waren an Sprache gebunden. Sie war das Mittel, mit der die Herrschaft zur Wirkung gelangte. Herrschaft als Exekution einer Kommandozentrale zu deuten, die den »Willen« des Herrschers den Untertanen zur Ausführung aufträgt, ist nicht geeignet, das Funktionieren von Herrschaft angemessen zu erfassen. Diese auf Max Weber zurückgehende Deutung, die uni-laterale Beziehungen und Erwartungen – seitens des Herrschers – voraussetzt, lässt das komplexe Gewebe von aufeinander bezogenen Handlungserwartungen und -bereitschaften außer Acht, die Personen miteinander verbinden, die nicht streng Akteure (welche einen »Willen« haben und ihn zur Ausführung durch die Abhängigen bringen) und Untertanen (als Erfüllungsgehilfen des »Willens«) trennt. Herrschaft durch den Verweis auf den Willen zu definieren, ist meines Erachtens ungeeignet, da eine Monopolisierung bei der Exekution des Willens nicht existiert und überdies das, was gewollt wird, das Ergebnis von Bedingungen, Erwartungen und Vereinbarungen ist und – am wichtigsten – die Existenz eines Willens des Herrschers nicht vorausgesetzt werden muss, damit Herrschaft funktioniert. Hingegen sind das Einrichten und das Akzeptieren von Konventionen und die Orientierung von Aktionen an sie und das Vertrauen auf sie entscheidend. Die Konventionen sind effektiv, wenn sie Handlungen und ihre Begründungen als unausweichlich vorstellen, was nicht isolierte Willensakte voraussetzt. Untertanen sind dann

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mehr als passive Ausführende, sondern Akteure einer beständigen Konvention (die aber auch bedroht sein kann), die Herrschaft als unangreifbare Aktivierungsauslöserin begreift. Selbst wenn die Konvention, die Kooperation ermöglicht, eine Illusion sein sollte, so ist doch eine Vorstellung von der Kooperation der Kern dessen, was die Herrschaft funktionsfähig hält: nämlich die beständige Aktivierung von regelhaften Aktionen. Die Regelhaftigkeit ist nicht allein einer Lenkung geschuldet, die eine einzige Instanz ausübt, sondern ist das Ergebnis des Zusammenwirkens vieler Menschen, die in einem Ordnungsgefüge agieren; sie ist wechselseitig und vielseitig und sie bedarf einer Vorstellung, die das Ordnungsgefüge erst erschafft und beständig hält. Das Ordnungsgefüge beruht nicht allein auf dem Gehorsam. Es beruht auf Vorstellungen, die mehr sind als individuelles Verstehen, aber auch weniger als eine umfassende Vorstellungswelt, sondern in mittlerer Position funktional Handlungszusammenhänge herstellt, welche Herrschaft in Kraft setzen. Im Mittelalter war das Ordnungsgefüge der Herrschaft durch Vorstellungen geschaffen. Sie waren innere Bilder von äußeren Gegenständen und Beziehungen. Insofern sie sich auf Emotionen bezogen, war das »Innere« gedoppelt. Selbstreflexiv wurden mentale Zustände in mental geformte Vorstellungen überführt. Emotionen waren aus der inneren Befindlichkeit herausgehoben, indem die Vorstellung bestand, dass sie Beziehungen zu knüpfen und zu gestalten in der Lage seien. Indem Emotionen diese Bindungen zeitlich und räumlich ausdehnten, waren sie sozial produktiv und setzten Herrschaft in Aktion. Die Emotionen waren in die Herrschaft eingewoben, indem sie zur Sprache kamen. Sie waren Konzepte, nicht in jedem Fall in theoretischer Höhe, aber doch zum Bewusstsein gebracht. Die kooperativen Handlungen bedurften eines Sinns. Daher war der Sinn nicht nur normativ als Anweisung zum moralischen Handeln, sondern als Verweis auf die Vernünftigkeit der Handlung zu finden. Der Sinn war nicht gleichbedeutend mit der Semantik, sondern er war eine Funktion, die im Handeln in sozialen Zusammenhängen eingesetzt wurde. Der Sinn bedurfte zu seiner Existenz nicht notwendigerweise der Authentizität, denn er war jenseits der Wahrheit angesiedelt, er war im Tun verankert. Hinter der Fassade des Benennens lauerte die Gefahr, dass eine Leere ausgebreitet war, was einzugestehen aber nicht opportun war, um nicht die Effizienz der sprachlichen Gestaltung zu mindern. Die politischen Sprache zu Liebe und Schrecken war nicht von einer realen Emotion abgeleitet, sondern war hingeführt auf eine reale Intervention. Die Zweckhaftigkeit des Sprechens aber ohne den Anspruch auf Wahrheit bestehen zu lassen, untergrub indes die soziale Wirksamkeit. So ergab sich ein verwirrendes Flimmern von Emotionen, ihren sprachlichen Repräsentationen und deren Verwendungen. Zum Sinn gehörte daher auch die Vorstellung, dass die Herrschaft auf der Ordnungsleistung der Emotionen beruhe. Sie galten nicht nur als Quellen impulsiven Handelns, son-

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dern sie sicherten auch Existenz und Stabilität von geordneten Beziehungen. Die Vorstellungen über sie begründeten Einvernehmen über das, was geduldet, gefordert und angewandt werden sollte. Liebe und Schrecken waren in Institutionen eingefasst. Sie befanden sich in einem Abklingbecken der Gefühle, das ihre Überschwenglichkeit moderierte. So waren sie für die Herrschaft handhabbar. Diese Instrumentalisierung machte die Frage nach der Authentizität letztlich überflüssig, weil diese aus der Zweckbindung selbst entsprang, die eingestanden war und nicht im Verborgenen innerseelischer Vorgänge schlummerte. Gefühle brachten Erwartungen hervor und wurden so handlungsleitend. Der produktive Einsatz der Gefühle war so gleichbedeutend mit der Echtheit der Gefühle. Im Schweigen über Verfahren und im Gebrauch von Ritualen wäre das Bewusstsein zur Herrschaft im Mittelalter in ein selbstverständliches Hinnehmen des Faktischen versunken, ja hätte das Faktische nicht einmal zur Existenz bringen können. Dass Rituale einen Überschuss an Bedeutung in sich trugen und nach außen brachten, änderte nichts daran, dass sie allein nicht vermochten, Fernwirkung zu erzielen, deutliche Vorstellungen zu dem Verwiesenen hervorzubringen und die Vorstellungen Reflexionen auszusetzen. Hingegen zeigen die zahlreichen Zeugnisse des Wahrnehmens, Deutens und Kritisierens von Herrschaft ein ausgeprägtes Problembewusstsein, zeigen ein Ringen um ein Verstehen über das, was die Gesellschaft zusammenhält, die Herrschaft möglich macht, Loyalität schafft und das Handeln im Staat motiviert. Die Frage war zu klären, ob und wie die Totalität sozialer Bindungen aus den antagonistischen Anliegen der Individuen herausgeschält werden konnte, um eine Totalität eines einvernehmlich handelnden Ganzen zu begründen. Dazu waren Emotionen als Treiber der Ausübung der Herrschaft und der Unterwerfung unter sie vorausgesetzt. Die Begriffe von Schrecken und Liebe waren im Mittelalter gebraucht, um Macht und Herrschaft zum Verstehen und zur Aktivierung zu bringen. Der Sprung von der gelebten Anwesenheit zur fiktiven Anwesenheit des Herrscher gelang durch rechtliche Verfahren – Gesetze, Urkunden, Einsetzung von Beauftragten, Zitationen an den Hof. Aber diese Verfahren genügten nicht. Um sie zur Geltung zu bringen, waren Emotionen einzusetzen, denn sie schufen die mentalen Voraussetzungen, dass die gesendeten Impulse der Herrschaft von den der Herrschaft Unterworfenen aufgenommen wurden. Die Emotionen leisteten also das, was als Induktion bezeichnet werden kann, also die Übertragung von Impulsen in die Ferne, um sie dort so zu aktivieren, wie sie von den Sendern der Impulse intendiert waren. Um die Emotionen aus dem Nahbereich heraus in die Ferne wirken zu lassen, waren Distributoren und Exekutoren erforderlich, die repräsentierten, was die Emotionen auszudrücken vorgaben. Aber mehr als Transmissionen leisteten Emotionen. Sie waren, oder sollten es sein, Fundamente des Handelns. Dazu war Sprache zu verwenden. Diskursive Akte waren performa-

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tive Akte und nicht allein Deutungen, nicht allein dogmata, sondern auch practica. Dass die durch Sprache geleistete Realisierung von Emotionen anfällig war für Störungen, war auch den mittelalterlichen Zeitgenossen nur zu deutlich, die ja gerade auch deswegen nach theoretisch abgesicherten Begründungen suchten, bzw. sie verwarfen, die Echtheit der Emotionen behaupteten oder verneinten, die Angemessenheit von Emotionen untersuchten und die Verwendungsmöglichkeiten für das Handeln der Herrscher abwogen. Ich habe die Semantiken folglich nicht als Konstruktion einer von ihr abgetrennten Wirklichkeit vorausgesetzt. Die Attribuierung von Bedeutung, also die Semantik, schuf einen »common ground«, durch den die Beziehugen reguliert wurden. Die Semantik lediglich als Eintrittstor in eine Hermeneutik aufzufassen, wäre eine unzulässige Reduktion, da der Einsatz der Sprache nicht nur ein Instrument zum Verstehen, sondern auch ein Instrument der Gestaltung von Arrangements und von Akzeptanzen sozialer Beziehungen war. Die Emotionen erscheinen auf der phänomenologischen Oberfläche der Sprache. Wenig war über die Emotionen selbst bekannt und dem Wissen zugänglich, vielmehr wurden die Emotionen als Aktivierungsauslöser vorgestellt. Es gilt nicht, wie Sigmund Freud angenommen hat, dass die »Tat sich zum Wort ermäßigt«1809, sondern dass, in umgekehrter Bewegungsrichtung, dank der Wandlung von der Tat zum Wort die Herrschaft zu ihrer Ausdehnung und Stärkung schritt. Denn nur durch das Wort erhielt die Herrschaft eine Fernwirkung. Das Wort schwächte nicht ab, es milderte nicht, es bekräftigte. Die Herrschaft war nicht durch die krude Gewalt allein getragen. Gewalthandeln allein vermochte den Willen des Herrschers nicht zur Geltung zu bringen. Die Legitimität der Herrschaft bedurfte der Sprache und setzte die Sprache ein. Auch Emotionen wurden benannt und gedeutet und mit der Herrschaft verbunden. Der einst von Ernst Kantorowicz vorausgesetzte Gegensatz zwischen dem natürlichen Leib des Königs und dessen institutionellen Leib1810 war aufgehoben in einer Sphäre des Sprechens und Deutens, die Liebe und Schrecken zwar an Personen anband, zugleich aber in Institutionen einbettete. Das individualpsychologische Verständnis von Emotionen war in kollektiv-politische Verfahren des Verstehens überführt worden. Dies zu untersuchen, entspricht dem Befund der mittelalterlichen Quellen und es schützt vor der Illusion, in die Gefühlswelt mittelalterlicher Menschen selbst eindringen zu können. Handlungslogiken waren die Basis für institutionelle Stabilität, denn aus ihnen flossen die Bereitschaften, Institutionen als unumstößlich zu akzeptieren. Dass in die Handlungslogiken Emotionen eingewoben waren, stellte keinen 1809 Sigmund Freud, Gesammelte Werke, Bd. 14, Frankfurt a. M. 1968, S. 214. 1810 Ernst Kantorowicz, The King’s Two Bodies. A Study in the Medieval Political Theology, Princeton 1957.

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Widerspruch zwischen Verstand und Gefühl her ; vielmehr integrierten sie in die Herrschaft humane Antriebskräfte, die hinreichend stark zu sein hatten, um Überwältigungen der Herrschaft über die Untertanen verständlich und akzeptabel zu machen. Die semantisch geronnene Gussform der Emotionen war institutionell verwertbar gemacht worden, damit die mediale Schreckens- und Liebeserzeugung gelang. Die Macht war somit durch Gewalt, Drohung und Schrecken, ebenso durch Zuneigung, Freundschaft und Liebe markiert. Die Redeweise über Emotionen war – um mit Roman Jakobson zu sprechen – nicht allein referentiell oder deklarativ verwendet, also geeignet, um auf einen Sachverhalt hinzuweisen, ebenso wenig expressiv, auf den tatsächlichen Gefühlen der Textproduzenten bezogen, sondern weitgehend phatisch, also eingesetzt, um eine Beziehung zwischen den Akteuren durch einen Sprechakt, dem keine fixe Bedeutung zu eigen sein musste, herzustellen, und vor allem appelativ, um einen Effekt zu erzielen.1811 Den hier genannten Funktionen der Redeverwendung ist eine weitere hinzufügen, die ich als produktiv bezeichnen will, weil sie als Instrument eingesetzt war, die nicht allein auf eine Situation bezogene Wirkungen hervorbringen sollte, sondern langfristig Konstellationen schuf, die soziale Beziehungen in Kraft setzte. Denn Institutionen waren mehr als nur formalisierte und beständige Konzentrationen von Handlungsabläufen, mehr als die Festlegung von Mitgliedschaften, mehr als die Abgrenzung von Kompetenzen und die Dauer der Regelsetzung1812, sondern auch das Aggregat von Handlungsbereitschaften, die auf der Vorstellung und dem sprachlichen Ausdruck beruhten. So war das Handeln der Individuen in eine Summe nicht allein von sozialen Beziehungen, sondern auch in eine mentale Formung des Tuns eingewoben. Dem Individuum sollte keine Regung zugebilligt werden, die nicht als Ergebnis einer herrschaftlich anerkannten und benannten Konstellation benannt werden könnte. Die Praxis der Herrschaft war praktikabel, weil sie mehr als nur akzeptabel war, sondern auf der Natur des Menschen beruhte, d. h. kausal von ihr abgeleitet wurde und die Herrschaft zur Erfüllung ethischer und rechtlicher Norm angehalten sein sollte. Das Auferlegen von Normen brachte die Frage nach der Echtheit der Gefühle, die die Herrscher hegten und die ihnen gegenüber erbracht wurden, auf den Plan. Die Frage mag, wenn sie in die Sprache der Macht eingeführt wurde, für die heutige Forschung irrelevant sein, war aber durchaus für die mittelalterlichen Zeitgenossen relevant, wenn sie Vorstellungen zur Herrschaft schufen und erörterten. Denn ohne Echtheit vorauszusetzen, war die Herstellung einer allge1811 Roman Jakobson, Grundlagen der Sprache, Berlin 1960. 1812 So die für die Geschichtswissenschaft des Mittelalters operationalisierte Definition von Gert Melville, Institutionen als geschichtswissenschaftliches Thema. Eine Einleitung, in: Institutionen und Geschichte. Theoretische Aspekte und mittelalterliche Befunde, hg. v. dems. (Norm und Struktur 1), Köln u. a. 1992, S. 1–24.

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meinen Verständigung nur schwer zu erreichen. Deswegen haben die mittelalterlichen Aussagen stets einen Kern des authentischen Sinns vorausgesetzt oder ihn eingefordert. Die Vorspiegelung von Freundschaft und Liebe galt als eine gestörte Kommunikation und führte zur Störung der Bindungen von Herrschern und Beherrschten. Weil außerdem noch der Liebe und dem Schrecken Normen auferlegt waren, war die Echtheit gefordert, faktisch aber genau aus diesem Grund dem Verdacht der fehlenden Echtheit ausgeliefert. Die Problematik haben mittelalterliche Autoren besonders bei der Erörterung zum Tyrannen behandelt, indem einige von ihnen auch vorgetäuschte Liebe als nützlich für die Herrschaft und selbst noch günstig für die Beherrschten ansahen. Eine Scheidung von Ethiken hinsichtlich ihrer Anwendung wurde als Lösung angeboten, um eine fehlende Authentizität mit einer bestehender Effizienz zu vereinbaren. Die Unterscheidung von Tugenden, die der Mensch als Mensch oder als Bürger zu erbringen hatte, war bereits bei Aristoteles angelegt und wurde von Peter von Auvergne an der Wende zum 14. Jahrhundert ausgeführt. Die Frage nach der Authentizität führt gleichwohl in eine epistemologische Sackgasse, weil nicht der Sinn des Wortes, sondern seine Präsenz den Weltbezug herstellte. Das Sprechen über Herrschaft durch Liebe und Schrecken im Mittelalter hat genau den in der Formulierung steckenden instrumentalen Charakter der Gefühle herausgestellt, der ihnen eine Funktion im Gewebe sozialer Beziehungen zuwies. Mahnungen zur Echtheit waren daher häufig mit der Anweisung zu Tugenden – wie in den Fürstenspiegeln des hohen Mittelalters üblich – oder mit der Anforderung, Konvergenz zur Natur des Menschen herzustellen, gekoppelt, wie dies seit dem 12. und 13. Jahrhundert geschah. Weil die Gefühle ja mehr waren als individuelle Regungen, sondern soziale Größen, wurden sie Regeln unterworfen – der der Ethik, der Religion oder der Effizienz. Die Liebe wurde im Kontext eines dominanten Christentums mit normativer Geltung aufgeladen. Die weltlichen Herrscher waren außerdem, vermehr seit dem 12. Jahrhundert, als Akteure vorgestellt, die eine Ordnung garantierten, die von humanen Grundbedingungen abgeleitet war, die Gesetzen, leges, unterlagen. Die leges hatten mehrere Bedeutungen: Gebote, die Gott schuf, Gebote, die das von Menschen eingerichtete Recht auferlegt, Gesetze, die der Natur konform waren, wobei im letzten Fall die leges naturales, die »Naturgesetze«, sowohl das Handeln der Menschen als auch das Wirken der Naturkräfte (also im modernen Sinne »Naturgesetze«) im Mittelalter ununterscheidbar vorstellten.1813 Die Gewährung der Liebe und die Zufügung des Schreckens waren mehr als Formen des Belohnens und Bestrafens, waren nicht allein Ansporn für die Guten und 1813 Zur Entstehung der Vorstellung von Naturgesetzen in der Moderne: David Papineau, The Rise of Physicalism, in: From Physics to Physicalism, hg. v. Barry M. Loewer u. a., Cambridge 2001, S. 3–36.

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Abschreckung gegenüber den Bösen. Liebe und Schrecken waren auch mehr als Einwirkungen zur Herstellung der Gerechtigkeit. Nicht ein Austausch von Gütern war angestrebt, nicht ein Vollzug einzelner Anordnungen, sondern die voraussetzungslose Gewährung von Gaben und von deren Entzug. Nicht reaktiv auf das Handeln von Untertanen, sondern institutionell verstetigt und von realen Resultaten abgelöst, dabei umso mehr an humane Dispositionen anschließend, sollten Liebe und Schrecken wirken. Also nicht situativ, sondern konstitutiv wurden Liebe und Schrecken eingesetzt. Die Mehrzahl der Wörter für Liebe – dilectio, amor, caritas – spiegelte nicht eine exakte begriffliche Differenz. Die Mehrdeutigkeit und vielfache Verwendungsmöglichkeit der Liebe entsprang den Wörtern. Die Liebe galt als Störung der Herrschaft, als deren Voraussetzung oder als deren Ergebnis. Die polyvalente Bedeutung des Wortes Liebe – angefangen von der erotisch angetriebenen Liebe, über die Liebe in der Familie, die zwischen Freunden und schließlich zu der eines großen sozialen Verbandes – war gekoppelt mit der in der Liebe potentiell vorhandenen, aber nicht notwendigerweise realisierten Reziprozität, die ja dem Schrecken fehlte. Der Schrecken, insofern er zugunsten der Herrschaft eingesetzt war und eingesetzt sein sollte, beruhte auf der Dysemmetrie. Auch er erzeugte eine Permanenz, die die Institutionen der Herrschaft beanspruchten, so dass es berechtigt ist, ihn als Terror zu bezeichnen, ging es doch eben nicht um individuelle Gefühle, sondern die kollektive Überwältigung. Damit ist mehr gemeint als die Übernahme eines mittelalterlichen Wortes (terror) in die moderne Sprache, sondern eine terminologische Präzisierung hinsichtlich einer Herrschaftskonzeption, die im Mittelalter den Schrecken als mit der Herrschaft eng verbunden ansah, gleichgültig ob er positiv oder negativ bewertet wurde und den Schrecken definitorisch, kausal, instrumental und mitunter sogar normativ mit der Herrschaft in Verbindung brachte. Das Wort »Schrecken« füllt diese Bedeutung nicht aus, meint es doch auch eine kurzfristige Einwirkung, die einen ephemeren Eindruck hinterlässt. Das Wort »Terror« hingegen ist institutionell verwoben und bezeichnet die Voraussetzung, um den Schrecken auf Distanz zu erzeugen. Dann aber kann der Schrecken nicht mit einem psychologischen Zustand gleichgesetzt werden, sondern wird politisch und erhält eine Bedeutung, die mehr als etymologisch begründet ist. Bibel und antike Philosophie stellten Verständigungsangebote für das Mittelalter zur Verfügung. Der Text der Bibel war kanonisch, die Deutungen zu ihm gleichwohl vielfältig. Mehrere Figuren und Textteile des Alten Testaments boten die Grundlagen, um königliche Herrschaft moralisch zu entwerten. Vor allem die Gestalt des Königs Nimrod, so beiläufig sie auch im Buch Genesis erwähnt wurde, fand im Mittelalter ausgiebige Deutungen, die Nimrod als Vorläufer des Tyrannen oder jeden Königs vorstellten. Die Abwertung des Königs beruhte auf

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dem Schrecken, den er ausübte. Eigenartigerweise wurde die Fundamentalkritik des Königtums, wie sie im Buch Samuel ausgeführt wurde, zwar bei Gregor dem Großen an der Wende zum 7. Jahhundert, nicht aber in der späteren mittelalterlichen Exegese aufgegriffen. Liebe war in den biblischen Texten durchweg außerhalb der Herrschaft angesiedelt. Dies galt auch für die Deutung des Hohen Liedes, bei dem der in Liebe zu seiner Braut vorgestellte König durch metaphorische Umdeutungen des Textes seine Kennzeichnung als Herrscher einbüßte. Die grundsätzliche Berechtigung der weltlichen Herrschaft war aber durch die Distanzierung der Gottesfürchtigen von den Angelegenheiten der Welt, die auch im Neuen Testament ausgeführt wurde, nicht in Frage gestellt. Die Furcht und der Schrecken, die die Herrscher verbreiteten, wurden in der Bibel und den exegetischen Schriften als Imitation oder gar als Weiterleitung der Furcht und des Schreckens, die Gott in die Welt setzte, gedeutet. Das grundsätzliche Misstrauen gegenüber der weltlichen Herrschaft war damit nicht abgewendet. In der Tradition der griechischen Philosophie, die vor allem seit dem 13. Jahrhundert das Nachdenken im okzidentalen Europa grundlegend prägte, wurden hingegen die liebenden Zuwendungen der Bürger und ihre gemeinsame Suche nach Vorteilen herausgestellt. Liebe und Freundschaft galten als Kennzeichen der Herrschaft, wenn – wie bei den ersten Denkern der politischen Philosophie in Griechenland – nach den Ursachen und den Beweggründen der Entstehung des politischen Verbandes gesucht wurde und dabei Kooperationen vorausgesetzt waren. Wenn Polis und civitas zu ihrem Funktionieren der in Liebe getränkten Freundschaften bedurften, so waren diese emotionalen Kommunitäten aber überfordert, wenn sie in imperialer Expansion überdehnt wurden. So war, sobald zur Zeitenwende die principes das republikanische Rom endgültig überwältigten, auch die Freundschaft als politisches Band hinfällig. Liebe und Freundschaft auf das ganze Imperium einwirken zu lassen, galt als unmöglich. Die Einschätzungen von Cicero waren dann nur noch die letzten Manifestationen eines Freundschaftsideals, dessen Fehlen die späteren Autoren, u. a. Plinius d. J. oder Seneca, elegisch konstatierten. Die Ausdehnung emotionaler Bande jenseits intimer Einkapselung, deren Sprengung einst als die Voraussetzung von Polis und civitas gegolten hatte, war dann nur noch in einem christlichen Verständnis als umfassende Geltung der Nächstenliebe möglich. Das Gebot, seinen »Nächsten« zu lieben, verlangte das Überschreiten der Grenzen von Familie und wenigen Freunden, aber mehr noch, auch das Überschreiten der Grenzen des jeweiligen politischen Verbandes. Die Unbestimmtheit dessen, wer als »Nächster« zu verstehen sei – jede reale Person oder jede mögliche beliebige Person – trug zwar zu einer enormen Ausdehnung der Reichweite der Liebe bei, war aber gegenüber einer politischen Vereinnahmung wenig geeignet. Die Liebe in die politische Konzeption des Römischen Reiches

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einzupflanzen, haben die dem kaiserlichen Hof nahestehenden christlichen Autoren, wie Eusebius von Caesarea, zwar vorgesehen, trafen aber auf Ablehnung der bedeutenderen und für das Mittelalter einflussreicheren Theologen, wie Augustinus und Gregor dem Großen, die auf der Exklusivität der Liebe für die a-politschen Beziehungen der Christen beharrten und sie dem Staat vorenthielten. Diesem war die Ausübung des Schreckens zugewiesen. Legitimität büßte er deswegen nicht ein, aber an ihm haftete ein Makel, der ihn in eine zweitrangige Wertigkeit einreihte, wenn nicht gar ihn grundsätzlicher Entwertung auslieferte. Die Ablehnung der Christen gegenüber dem Staat hielt an und führte dazu, ihm den Schrecken zu attribuieren, die Liebe hingegen der Gemeinschaft der Christen zu reservieren. Die doppelte Distanzierung der Christen gegenüber staatlicher Gewalt – von ihr war weder das Heil der Seelen noch das Wohl der Menschen zu erwarten – hielt bis in das 7. Jahrhundert an. Indem der Schrecken definitorisch mit der Herrschaft verknüpft war, war sie ungeeignet, in einen heilsgeschichtlichen Prozess eingegliedert zu werden. Diese doppelte Distanzierung wich im frühen Mittelalter einer doppelten Integration – die die Kirche in den Schutz der Herrschaft stellte und dieser Legitimationen durch die Kirche zuführte. Wenn indes christliche Denker im frühen Mittelalter diese Einbindung von Herrschaft in eine religiös legitimierte Ordnung vorsahen, konnten sie gleichwohl die langfristige Wirkung nicht vergessen machen, die die antik-christliche Tradition anbot und die die Bewertung der Herrschaft während des gesamten Mittelalters belastete. Indem der Schrecken der Herrscher positiv gewendet wurde, ja so wie die Liebe als Tugend ausgegeben wurde, wie dies vor allem die Fürstenspiegel des 9. Jahrhunderts vorsahen, war der Negation der Herrschaft der Boden entzogen, öffnete dann aber ein umso größeres Einfallstor, sie geistlicher Mahnung und Anleitung zu unterziehen. Die Herrschaft durch den Schrecken zu definieren, war dann nicht mehr ein Argument, sie abzuwerten, sondern sie mit einer pädagogischen Intervention auszustatten. Die Vorstellung zur Herrschaft mit Liebe und mit Schrecken bestand vom 6. bis zum 10. Jahrhundert im Hinblick auf unterschiedliche Anwendungsbereiche, beruhte also auf komplementär eingesetzten Einwirkungen, zur Belohnung und zur Bestrafung, war aber hinsichtlich der Verursachung einheitlich konzipiert, da Herrschaft von Gott eingesetzt und sie mit Liebe und Schrecken ausgestattet sei. Der Schrecken diente der Korrektur, falls die Liebe fehlte. Zugleich war die Liebe vorgesehen, um der harschen Wirkung des auferlegten Schreckens Milde beizumischen. Liebe sollte gegenüber dem Schrecken eine reduzierende Wirkung ausüben. Die Gewalt sollte aber um nichts weniger offen vorgeführt werden; sie sollte den Schrecken erregen. In institutioneller Verstetigung wurde der Schrecken zum Terror. Durchweg war er als Gegenterror vorgestellt, war einzusetzen, um gegen eine illegitime und menschenfeindliche Gewalt einzuschreiten. Der Schrecken war zu inszenieren,

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was auch dazu führen sollte, Gewalt tatsächlich auszuüben. So gab es das Paradox, dass der permanente Schrecken Gewalt entbehrlich machen sollte, zugleich aber die Glaubwürdigkeit und damit Wirksamkeit des Schreckens den Einsatz von Gewalt erforderten. Weil potestas, legitime Gewalt, und violentia, legitime Gewaltausübung, verbunden waren, war der Schrecken, den die Herrschaft hervorrief und der ihr nützte, in eine Ordnung des rechten Gebrauchs einzusetzen. Indem die Fürstenspiegel der karolingischen Epoche den Schrecken in gleicher Weise wie die Liebe von den Herrschern forderten, haben sie einen ethischen Widerspruch negiert. Die Scheidung zwischen Gut und Böse verlief entlang einer anderen Linie: Das Handeln der Untertanen war hinsichtlich christlicher Gebote, aber eben auch hinsichtlich des Gehorsams zu bewerten, zu belohnen und zu bestrafen. Den Herrschern war eine schwere Bürde auferlegt: Sie mussten das Gewalthandeln in Liebe verrichten, und sie mussten den angemessenen Gebrauch beider abwägen. Die Freundschaftsbündnisse der Herrscher mit den anderen Großen des Reiches wie sie im 10. und 11. Jahrhundert im römisch-deutschen Reich verbreitet waren, kompensierten fehlende Machtmittel in einem ausgedehnten Herrschaftsgebiet, machten aber den Einsatz des Schreckens nicht obsolet. Aber er war nicht mehr an die Herrschaft und die Herrscher angeheftet, galt nicht mehr als unumstößlicher Bestandteil der Macht, sondern als reaktive Intervention auf Unrecht, Rebellion und Glaubensfeindschaft. Der Schrecken der christlichen Herrscher war am ehesten gerechtfertigt, wenn er für die von der Kirche vorgesehenen Aufgaben eingesetzt wurde – gegen Feinde des Friedens im Innern und gegen Feinde außerhalb der Christenheit, gegen Heiden und Muslime. Sie waren als originäre Verursacher des Schreckens gekennzeichnet. Der Schrecken gegen sie erfolgte außerhalb einer religiös und herrschaftlich geformten Einheit. Innerhalb der Königreiche waren Freundschaftsbündnisse politische Instrumente. Liebe hingegen war in den familiären Kokon der Herrscher eingewoben, damit für die weit ausgreifende Herrschaft nicht vorgesehen. Der unverhohlene Einsatz des Schreckens durch den Herrscher war im 11. und 12. Jahrhundert in den peripheren Königreichen, in Sizilien und in England und auch auf der iberischen Halbinsel vorhanden, dort also, wo als Folge rezenter Eroberungen die Herrschaft auf unmittelbare Gewalt stärker angewiesen war und sie, weil weniger an etablierte adeligen Herrenrechte gebunden, Schreckensgewalt tatsächlich häufiger anwendete. Auch als Ergebnis der Aufwertung der herrscherlichen Gewalt durch die Wiederentdeckung und des Versuches der Wiederanwendung des antiken römischen Kaiserrechts wurde der Schrecken zur Verteidigung der kaiserlichen Majestät seit dem 12. Jahrhundert vermehrt eingesetzt, vor allem auch als Kaiser Friedrich I. gegen die norditalienischen Städte vorging. Die rechtliche Verfahrensordnung, die unmittelbar gelten sollte,

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wie dies sein Enkel Kaiser Friedrich II., der zugleich König von Sizilien war, zu installieren versuchte und die Fülle der Gewalt vom Recht ableitete, machte aber weiterhin eine Herrschaftskonzeption, die Schrecken und Liebe vorstellte, nicht obsolet, auch nicht bei den Nachfolgern. Denn es galt neue Herausforderungen zu begegnen, die es nahelegten, den Herrschern den Rückgriff auf Liebe und Schrecken zu empfehlen. Die Bestrebungen seit der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts, die Autonomie der Kirche in Abgrenzung zur weltlichen Macht durchzusetzen, mobilisierten Kräfte, die eine Abwertung der weltlichen Herrschaft vornahmen und dabei ihr die Berechtigung zur Liebe verweigerten, welche hingegen den kirchlichen Institutionen nicht nur möglich sei, sondern auch als genuine Aufgabe anheim gegeben werde. Diejenigen, die die weltliche Herrschaft rechtfertigten, erachteten den Schrecken hingegen als Ausweis der Gerechtigkeit, aber nicht mehr wie vor dem 11. Jahrhundert als Ursprung sanktionierender Reaktion auf Dis-Funktionalität (seitens von Verbrechern, Feinden, Rebellen, Glaubensgegnern), sondern als Manifestation der Herrschaft, also nicht gegen die Verfehlungen der Untertanen eingreifend, sondern die Selbst-Affirmation der legitimen Herrschaft vorführend und die große Macht zur Geltung bringend. Der harsche Gegensatz von Kirche und Welt befeuerte die Anstrengungen und die Begründungen zur Reform der Kirche und zu ihrer Ablösung von tatsächlicher oder angeblicher laikaler Bevormundung. Eine extreme Abwertung der weltlichen Herrschaft fand dann statt, wenn sie als Manifestation des Wirkens des Antichrist gedeutet war. Dessen historisch repetitives Eingreifen bediente sich einzelner Herrscher, die über die Christen den Schrecken verbreiteten, aber kontra-intentional dann doch nichts anderes leisteten, als dem Kommen des ewigen Heils den Boden zu bereiten. Mehr als Herrscherkritik, vielmehr Herrschaftskritik bediente sich der Figur des Antichrist. Weil die potestas sich des Schreckens bediente, wurde sie ethisch und legitimatorisch entwertet durch die Kirchenreformer, vor allem durch Papst Gregor VII. Indes gab es einen deutlichen Unterschied zwischen der abschätzigen Bewertung der Herrschaft in der christlichen Antike und der während des hohen Mittelalters, trotz des Verweisens auf antik-christliche Texte: War einst die Herrschaft als außerhalb der wahren Christengemeinde eingestellt, als unerheblich für das Voranschreiten zum ewigen Heil behauptet, so konnten später die innigen Verbindungen zwischen geistlichen und weltlichen Institutionen nicht einfach ignoriert werden. Dies führte dazu, dass geistliche Autoren häufig den Gehorsam der Herrscher gegenüber ihren Anweisungen einforderten, weil nur so ihre Stellung und ihre Handlungen gerechtfertigt werden konnten. Was einst als Definition einer per se ungerechten und grausamen Gewalt vorgestellt war, verlangte nunmehr die Korrektur von Unrecht. Sie zu verweigern, machte die Kritik von Geistlichen an der Herrschaft während des Investiturstreits im 11.

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und 12. Jahrhundert noch unerbittlicher. Dabei war im Unterschied zur karolingischen Epoche den Herrschern ihre Doppelfunktion als Spender von Liebe und Verbreiter von Schrecken entrissen; ihnen blieb nur noch der Schrecken – und dies sogar dann, wenn sie im Einvernehmen mit den kirchlichen Autoritäten handelten. Im Unterschied zu frühmittelalterlichen Vorstellungen beanspruchten viele geistliche Autoren das Alleinstellungsmerkmal einer Liebe. Nicht mehr wie bei Augustinus und Gregor dem Großen haben die Kirchenreformer die Parallelität von weltlicher Gewalt und göttlichem Wirken vorgesehen, sondern die Subordination der weltlichen Gewalt unter die kirchliche Autorität gefordert. Um der Kritik, dass nur noch der Schrecken den Herrschern übrigbleibe, entgegenzuwirken, haben die die weltliche Gewalt unterstützenden Autoren des 11. und 12. Jahrhunderts den Schrecken als eigentümlich und notwendig für die Herrschaft und nützlich für die Menschen reklamiert. Er wurde aber nicht mehr komplementär mit der Liebe verbunden, sondern in eine kausale Relation eingewoben: der Schrecken galt als Verursacher und als Ergebnis der Liebe. Liebe mit der Herrschaft zu verbinden, war auch deswegen unerlässlich, als im 12. Jahrhundert das Thema der Liebe in theologischen Schriften zwar nicht neu erfunden, aber in den Vordergrund geschoben wurde. Mehr als zuvor war die Beziehung zwischen Gott und Mensch als Beziehung der Liebe gedeutet. Zusätzlich entfaltete sich ein Diskurs der Liebe, der Gefühlsregungen literarisch formte. Je mehr die Texte Fiktionen entwarfen, desto echter waren die Gefühle, auch die der Liebe, die in den Texten gestaltet waren. Authentizität war in die Imagination entrückt. Entscheidend war aber nicht die Übereinstimmung zwischen Sprache und außersprachlicher Realität, sondern die Möglichkeit, wie sie seit dem 12. Jahrhundert entwickelt wurde, eine Sprache zu finden, die Gefühle darstellte. Die Vorstellung von der Liebe, die als den Staat begründende Antriebskraft eingesetzt war, entfernte sich zwar von den poetischen Sprechweisen, schöpfte aus dieser Quelle aber die gesteigerte Wertschätzung der Liebe, die die Verbreitung des Schreckens als Mittel der Herrschaft zurückdrängte. Die generative und überwältigende Wirkung der Liebe war besonders im Roman de la Rose vorgeführt, der die Liebe aber – so wie die fiktionale Literatur insgesamt – aus einer Verfahrensordnung heraushob und riskierte, sie der Unbeständigkeit eines heftigen und ungestümen Gefühls auszuliefern. Die Beimischung des Erotischen verlieh der Liebe zwar starke motivierende Kraft, barg aber die Gefahr, die Fundamentierung sozialer Beziehungen zu unterminieren. Als Folge davon schlugen die zeitgenössischen Liebeskonzepte getrennte Pfade ein: Liebe in Fiktionen bot die Möglichkeit, echte Gefühle darzustellen und die fiktive, nur vorgetäuschte Liebe auszumerzen. Liebe als Kitt sozialer Beziehungen sollte indessen reale Wirkung haben, war aber dem Verdacht ausgesetzt, fiktiv zu sein. Einerseits erzählten literarische Texte von der Intensität des Gefühls, andererseits erörterten politiktheoretische und herrschaftspraktische Texte die Exten-

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sivität der Wirkung, die soziale Bindungen herstellen sollte. Einerseits gab es die erzählte Suche nach Erfüllung, andererseits die vereinheitlichte und vereinheitlichende Regulierung, die alle ergreifen und erfassen musste; einerseits wurden die Launen der Liebenden, andererseits die anthropologisch fixierten Eigenschaften dargestellt. Die Politisierung der Liebe trennte sie von den starken Gefühlen. Aber die Potenz der Liebe, Leben zu schaffen, entsprach der allgemeinen Natur allen Seins und machte sie zum Zeichen der Befähigung, ähnlich wie Gott, schöpferisch zu wirken, und ließ sie in alle Lebensbereiche eindringen. Wenn die Liebe umfassend und überall, gar kosmologisch bewegt und bewegend vorgestellt war, konnte aus ihr das politische Gemeinschaftsleben nicht ausgesondert werden. Besonders Dante Alighieri bestand an der Wende zum 14. Jahrhundert auf dieser allgemeinen Wirkung der Liebe. Wenn Liebe Verfahrensordnungen fundierte, wie dies zunehmend Texte bereits seit dem 13. Jahrhundert kündeten, bestand die Option, die individuelle Lebensgestaltung in die Verfügung des Staates zu stellen. Deswegen war die Kenntnis der Texte von Aristoteles zur Ethik und zur Politik im okzidentalen Europa seit der Mitte des 13. Jahrhunderts ein entscheidender Vorgang, denn so bestand die Möglichkeit – und sie wurde genutzt – die Konzepte der Antike zu einer politischen Freundschaft aufzugreifen und sie mit der christlichen Vorstellung der weit reichenden, viele Menschen erfassenden Liebe zu kombinieren. Die Liebe wurde nunmehr nicht nur in eine städtische Gemeinde, sondern in ein Königreich eingepflanzt. Damit verbunden war die Vorstellung, dass politisches Handeln ein Ziel verfolgen müsse, dass das Wohl des Einzelnen befördere, was aber nur gelinge, wenn die Summe des Wohls in einem allgemeinen Wohl eingebunden war. Ein Gegensatz klaffte nun aber zwischen individuellem und kollektivem Wohl: Opfer des Einzelnen für die Gesamtheit waren gefordert. Der Gegensatz wurde aufgelöst, indem Liebe zwischen den Herrschern und den Untertanen und zwischen ihnen vorausgesetzt wurden. Nicht das Streben nach Vorteilen sollte die Menschen miteinander verbinden, sondern eine emotionale Reziprozität. Es ist davon auszugehen, dass theoretische und insbesondere die Herrscher belehrende Texte nicht in einem Arkanum praxisferner Erörterungen blieben, sondern ihre Inhalte in die Höfe vordrangen. Zumindest geschah dies mit den Handschriften. Das drastische Diktum von Johannes von Salisbury, dass ohne Bildung die Könige nichts anderes als gekrönte Esel wären, war gewiss der Eitelkeit eines Gelehrten geschuldet, zeigt aber ein geändertes Bewusstsein an, dass die Praxis theoretisches Wissen voraussetzte. Deswegen waren die Ergebnisse der politischen Philosophie, besonders derjenigen, die der Deutung von Aristoteles gewidmet war, für die Herrschaftsausübung allein schon in der Weise bedeutend, dass Erwartungen an die Herrschaft formuliert waren, die die herrscherlichen Höfe auch durchaus zumindest wahrnahmen und in den Texten

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der Herrschaftspraxis auch übernahmen. Einige Herrscher beanspruchten selbst, Autoren theoretischer Werke zu sein. Der rex eruditus war seit dem 13. Jahrhundert ein Ideal, das mehr als nur passive Aneignung, sondern aktives Verstehen und sogar Gestaltung theoretischen Wissens verlangte. Die administrative Ausweitung der Herrscherhöfe und ihr seit dem 13. Jahrhundert zunehmendes interventionistisches Ausgreifen in das Herrschaftsterritorium und zu den Untertanen waren nur durch die Rekrutierung von universitär ausgebildetem Personal möglich. Das Ziel des politischen Agierens, das die Philosophen als das Glück der Menschen angaben, war nicht individuell zu erlangen, verlangte vielmehr eine kollektive Anstrengung, die durch Herrschaft angeordnet und angeleitet sein sollte. Das verordnete Glück musste verabreicht werden. Die Regulierung der Liebe entzog ihr emotionale Tiefe, schuf aber weite soziale Anwendung. Das Konzept der Liebe war zwar seit dem 12. Jahrhundert in literarischen Texten als wertvolle Empfindung der Menschen gewürdigt worden, die solche Menschen, die bereits als edel und adelig gekennzeichnet waren, weiter veredeln sollte. Aber, in den politischen Kontext umfassender Herrschaft gestellt, legte der Begriff der Liebe zunehmend eine individuelle Verursachung ab und schloss ihn an die allgemeinen humanen Dispositionen und darauf aufbauend an funktionale Beziehungen an. Nicht aus dem Inneren der Seele, sondern aus dem Äußeren der Bindungen, nicht aus der Essenz des Einzelmenschen, sondern aus den Fäden der Vergesellschaftung erwuchs die Liebe. Dies verhinderte nicht, dass aus der reduzierten Intensität der Liebe die Potenzierung ihrer Wirkung erstand. Auch rechtlich wurde die Liebe eingebunden, verpflichtend gemacht, als Ursache staatlicher Kohäsion eingesetzt. In der Legalisierung der Liebe lag der Grund für ihre politische Einsatzfähigkeit. Dass dies auf Kosten der Authentizität ging, war auch im späten Mittelalter offensichtlich. Aber die sich auf Aristoteles berufenden und seine politische Philosophie weiterführenden Denker, wie Albertus Magnus, Thomas von Aquin, Aegidius Romanus, Peter von Auvergne und andere, haben das gedankliche Angebot genutzt, um der Politik Emotionen einzupflanzen. Ohne sie war die Kohäsion im Staat nicht zu verstehen. Wenn, wie Remigio dei Girolami am Anfang des 14. Jahrhunderts, die Liebe der Untertanen in einem Königreich sogar komplett der Herrschaft zur Verfügung stellte und ihnen private Autonomie vorenthielt, war dies indes eine Überschreitung der aristotelischen Konzepte zum Glück der Bürger im Staat, da er das Ziel, das individuelle Wohl herzustellen, gar nicht mehr vorsah. Die Überlegungen von Johannes Duns Scotus haben aus einer entgegengesetzten Position das Glück und die Liebe aus dem Staat entfernt und in das Gehäuse der familiären Intimität gestellt, die vor den Anmaßungen des Staates geschützt werden sollte. Der Schrecken war im späten Mittelalter nicht aus der Herrschaft ausgeschieden. Seine Begründung erforderte aber, den zunehmenden Wert der Liebe

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nicht zu mindern. Dies wurde möglich, wenn der Schrecken von der Liebe, so wie auch umgekehrt die Liebe vom Schrecken abgeleitet wurde. Die Aktualisierung von Liebe und auch von Schrecken war dem Handeln der Beherrschten entzogen und stand statt dessen den Herrschern als deren Verursachern zur Verfügung. Da es – mangels administrativer Effizienz – an Stetigkeit der Kontrolle im Mittelalter mangelte, da die Herrscher keine allzeitige und allörtliche Oktroyierung ihrer Anweisungen erreichen konnten, war die Vorstellung umso wichtiger, dass dem Schrecken und der Liebe eine beständige Einwirkungsmöglichkeit geschaffen wurde. Die Untertanen, die zum Gehorsam verpflichtet waren, sollten jenseits aktueller Gewährung von Zuneigung und aktueller Anwendung von Gewalt und aktueller Zufügung von Furcht die Ordnung der Herrschaft zum Vollzug bringen. Liebe und Terror sollten die räumlichen und zeitlichen Schranken der Gegenwart des Herrschers einreißen; dank ihrer Potentialität wurde er omnipräsent gemacht. Waren Liebe und Schrecken im frühen Mittelalter als Motivatoren für das individuelle Handeln der Herrscher bei ihrer Pflichterfüllung vorgesehen, so im späten Mittelalter zunehmend als Legitimatoren für die Institution der Herrschaft. Galten sie einst als Schalthebel, um den Willen der Herrscher gegenüber den Beherrschten durchzusetzen, als Mittel, mit dem Gehorsam erzwungen werden sollte und mit dem Belohnung und Bestrafung ausgeübt wurden, so seit dem 12. Jahrhundert als natürlich eingewurzelte und beständige Verursacher von Ordnungskonfigurationen. Mehr als zur Instrumentalisierung, sondern zur Stabilisierung der Dominanz waren sie eingesetzt. Zwar haben theoretische Denker des 13. und 14. Jahrhunderts Willkürlichkeit ausgeschlossen, wenn Herrscher Liebe und Schrecken aktivierten, aber eine sichere Erwartung der Untertanen auf die Aktivierung war ausgeschlossen, denn so waren Liebe und Schrecken als Hoffnung und als Bedrohung auch dann präsent, wenn eine reale Einwirkung fehlte. Entgegen des unerwarteten Auftretens war aber auch die Erwartung aufrechtzuerhalten, dass die Liebe in der Herrschaft stets und überall verharrte und der Schrecken nicht minder stets und überall lauerte. Wenn Gesetze Liebe und Schrecken regulierten, war deren beständige und sogar vor den Launen der Herrscher abgeschirmte Existenz theoretisch zu begründen. Marsilius von Padua hat dies geleistet, damit aber die Debatte nicht abschließend geklärt. Dem Widerspruch zwischen der regelmäßigen und gesetzeskonformen Auslösung des Schreckens und der Gewährung von Liebe hat sich insbesondere Wilhelm von Ockham gewidmet. Eine Einschränkung der Handlungsfreiheit des Herrschers lehnte er ab, eine Fundierung auf Regelungen setzte er aber ebenfalls voraus. Die Lösung bestand in der Wirkung der Gesetze. Sie galten als die Hebel, um den Willen des Herrschers zur Geltung zu bringen. Die Untertanen hatten ihnen unumstößlich zu gehorchen, die Herrscher be-

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hielten aber die Freiheit des Handelns, das auch außerhalb der rechtlichen Vorgaben gestaltet werden konnte. Die Liebe als Kitt oder als Klebstoff des Staates zu bezeichnen, wie dies häufig in den königlichen Urkunden in Deutschland geschah, zeigte die politische Funktionalisierung. Als Folge davon glitt aber das Sprechen über die Liebe immer stärker in ein Gefilde, in dem authentische Gefühle nicht mehr vorausgesetzt waren und die Wörter nur noch als selbst-referentielle Vergewisserungen der Herrschaftspraxis vorgeführt wurden. Dies zeigte sich auch in Frankreich. Zwar war das Modell des heiligen Königs, von Ludwig IX., geeignet, Echtheit der Liebe und der Zuneigung glaubhaft zu halten, aber die institutionelle Verstetigung der Nachfolger hat ein repetitives Sprechen und Versprechen hinsichtlich dem allgemeinen Wohl und der weit reichenden Fürsorge nur noch vorführen können und nicht einmal davon abgehalten, offensichtliche Widersprüche zum tatsächlichen Handeln zuzudecken. Theoretisch fundierter war die Selbstdeutung der Herrscher im Königreich Kastilien. Weniger intentional ausgerichtet, vielmehr kausal begründet stellten die tatsächlichen, meist aber nur ihnen zugeschriebenen Texte der Könige die Liebe vor. Sie in der Natur des Menschen einzuwurzeln, entsprach dem zeitgenössischen philosophischen Argumentationsstrang. Die Neuerung zur Mitte des 13. Jahrhunderts bestand in dem Konzept der naturaleza, das von der Natur abgeleitete Dispositionen sozial und politisch formbar präsentierte und als Basis eines inhärenten Konsenses aller im Königreich einsetzte. Nicht alle Menschen waren eingebunden, sondern derjenigen, die im Königreich lebten. Eine harmonisierende Einheit von König und Volk war konzipiert. Das natürliche Band umschloss eine politisch verfasste Summe von Menschen. Aber auch in Kastilien schmolz nach dem Ende des 13. Jahrhundert die Echtheit der Gefühle, die für die Herrschaft vorgestellt wurden, dahin, was selbst am Herrscherhof eingestanden wurde. Nicht die Echtheit, sondern die Handhabung der Gefühle war wichtig. Das Fehlen von Macht bei den Untertanen war konzipiert als Aneignung der Emotionen durch die Herrscher. Die unablässige, lückenlose Überwachung von Individuen, wie sie Michel Foucault als kennzeichnend für die Zwangsanstalten des neuzeitlichen Staates und letztlich für die Existenz des Staates ansah, hatte angesichts fehlender Ressourcen im Mittelalter keine Realisierungschance. Wenn aber, was aus den Erörterungen von Foucault auch abgeleitet werden kann, der Zwang nur als phantasmagorisches Ideal konzipiert wurde, das faktische Wirkungsmacht nur über die Vorstellung vermittelt ausübte1814, erweist sich die Überlegung von Foucault als anwendbar für mittelalterliche Verhältnisse, wenn an die Stelle der Realpräsenz des Zwanges die imaginierte Gegenwart von Emotionen trat, die die Herrschaftsausübung sichern sollte. Macht bestand nicht 1814 Michel Foucault, Surveiller et punir. Naissance de la prison, Paris 1975.

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darin, das faktische Handeln zu determinieren, sondern das mögliche Handeln Bedingungen zu unterwerfen.1815 Mehr als in der Neuzeit fehlte im Mittelalter der Herrschaft institutionelle Dichte. Dem Fehlen der effektiven Gewalt sollte durch eine Präsentation von Potentialitäten abgeholfen werden. Diese waren nicht stets abrufbar, aber entbehrten gleichwohl nicht einer Verstetigung, die humane Dispositionen und eben auch emotionale Fundierungen von Handlungen herbeiführen sollten. Eine Zusammenstellung von Verständigungen und von kommunikativen Verbindungen zwischen Personen und Begriffen legte die Grundlage für ein Ensemble von akzeptierten, nicht bezweifelten Annahmen, die soziale Kohäsion und automatisierte Handlungsabläufe herstellen sollten, also um das zur Ausführung zu bringen, was jüngst in den Sozialwissenschaften als »Dispositive« bezeichnet worden ist.1816 Die vor Stereotypisierung nicht gefeite häufige Verwendung der Begriffe von Liebe und Schrecken und die Verbindung mit offensichtlichen Opportunitäten sollten dazu führen, die Wörter der Emotionen im Mittelalter als Träger allgemein akzeptierter Inhalte in einen ganz und gar nicht herrschaftsfreien Diskurses einzusetzen, um einer herrschaftlichen Verfahrensordnung neben der rechtlichen Normierung emotionale Stützen einzuziehen, ja die Verfahrensordnung überhaupt erst durch die Anbindung an Emotionen praktikabel zu machen, indem sie als unausweichliche Ergebnisse entweder der menschlichen Natur, der über sie hinausreichenden umfassenden Natur aller Lebewesen oder der von Gott hervorgebrachten Schöpfung ausgegeben wurden. Eine anthropologische Beständigkeit der Emotionen war im Mittelalter stets vorausgesetzt, da sie ja nicht als Ergebnis von Praktiken, sondern von essentiellen Merkmalen des Menschseins erachtet waren. Aus der Harmonie der menschlichen Anlagen und Bereitschaften war eine kommunikative Idylle abgeleitet, die zu stören dazu geführt hätte, die Aktionsformen der Herrschaft, also Befehlen, Belohnen, Bestrafen, Güter Zuteilen und Einzutreiben, zu zerstören. Das tatsächliche Funktionieren der semantisch fundierten Konventionen war – auch im Mittelalter – freilich konterkariert durch konkurrierende Deutungen, die Liebe und Schrecken ihrer definitorischen Eindeutigkeit entkleideten, vor allem aber die Berechtigung ihrer Anwendungen und – noch wichtiger – ihre Verbindung zur Herrschaft kontrovers und in nicht wenigen Fällen de-legitimierend beurteilten. Der Widerspruch zwischen Liebe und Schrecken, die gleichermaßen die sozialen Bindungen regulieren sollten, stieß eine Reflexion an, die entweder harmonisierend, ausschließend, auf die Konsequenz orientiert oder dialektisch kombinierend den Widerspruch auflösen sollte. Der Bedarf an 1815 Ders., Subjekt und Macht, in: Ders., Analytikt der Macht, Frankfurt a. M. 2005, S. 240–263, S. 256. 1816 Simon Lemoine, Le sujet dans les dispositifs du pouvoir, Rennes 2013.

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Rechtfertigungen war in der Tat groß und stieß eine Produktion von Texten an, die Herrschaftspraxis plausibel zu machen versuchten. Daher fanden die Begriffe von Liebe und Schrecken und von anderen mit ihnen in Verbindung stehenden Termini, die Zuneigung und Furcht umschrieben, auch Eingang in eine Tugendethik. Die Rechtfertigungsordnung implizierte eine Begründungsordnung und diese eine Pflichtenordnung. Alle richteten sich an Herrschende und Beherrschte, dabei auf einer Unterscheidung der Aufgaben insistierend, nicht notwendigerweise aber auf einer der Verursachungen. Dass die Vorstellungen in Widersprüchen gefangen waren, weil die Gründe weder aus immanent gesetzten, weil vernünftigen Normen, noch aus unvorgreiflichen Tatsachen unwidersprochen abgeleitet werden konnten, minderte nicht ihren Einsatz hinsichtlich der Herrschaftsbegründung und Herrschaftsgründung, selbst wenn die Aporie von angeblichen rationalen Evidenzen, die aber keineswegs Konsens begründeten, nicht aufgelöst werden konnte. Die auch in der Gegenwart konstatierte Pluralität von Begründungsresultaten beseitigte nicht die Notwendigkeit, Handlungszusammenhänge mittels einer uniformen und widerspruchsfreien Konstellation von Begründungen herzustellen und zu bewahren zu versuchen, was auf einen Konsens hinsichtlich der Ableitungen der Gründe zielte, ihn auch zugleich voraussetzte. Der Zirkelschluss war zwar logisch inkonsistent, praktisch gleichwohl angewandt und sollte die Herrschaft stabil halten.1817 Vier Optionen boten sich an, um den Einsatz von Schrecken zu begründen. Indem mittelalterliche Konzepte davon ausgingen, dass die Korrektur eines inhärenten Fehlers der Menschen Herrschaft den Schrecken verlange, wurde der Fehler entweder von der Erbsünde oder von der unzureichenden Grundausstattung der Natur abgeleitet. Sünde und Natur waren Ursache und Regulativ und Hinweis auf die Verderbtheit der Herrschaft zugleich. Denn der Schrecken, so nützlich er auch seit der Etablierung des Christentums als Staatsreligion im 4. Jahrhundert zur Erzwingung der Unterordnung erachtet wurde, war von der Sünde befleckt. Und diese Sünde befleckte auch die Herrschaft. Die Herrschaft war aber nicht allein Ergebnis von Sünde und Natur. Sie wirkte auch auf sie ein – in der Weise, dass sie die Sünde einzudämmen, die Natur zu bewahren hatte. Das Negativum war durch ein von ihm entstandenem Negativum zumindest zu korrigieren. Als zweite Option war die Vorstellung im Mittelalter vorhanden, die den Schrecken von der Liebe ableitete, von ihr seine Berechtigung erfuhr. Nicht allein komplementär und situativ, sondern konsekutiv war die Relation von 1817 Die auch in der Gegenwart konstatierte Pluralität von Begründungsresultaten enthebt nicht von der Notwendigkeit, Handlungszusammenhänge auf die Grundlage von Vertrauen herzustellen, was indes nur gelingen kann, wenn ein Konsens hinsichtlich der Gründe vorhanden wäre. Der paradoxe Zirkelschluss ist zwar logisch inkonsistent, praktisch gleichwohl existentiell; Rainer Forst, Normativität und Macht. Zur Analyse sozialer Rechtfertigungsordnungen, Berlin 2015, S. 14–18.

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Schrecken und Liebe gestaltet. Die dritte Option will ich als reaktiv bezeichnen. Der Schrecken wurde nicht vom Herrscher ausgelöst, sondern von Feinden der guten, der gerechten, der christlichen Ordnung. Die Heiden – unter ihnen Attila – Muslime, Ketzer und Aufrührer seien von Schuld beladen, indem sie Schrecken verbreiteten. Ihm standzuhalten, sich ihm zu widersetzen, war den Herrschern aufgetragen, die selbst Schrecken einsetzten, einen mildtätigen Schrecken, wie Augustinus formulierte. Und schließlich gab es eine vierte Option, die einer sozial differenzierten Anwendung des Schreckens: desjenigen gegen Sklaven, gegen Unfreie im Haushalt. Von diesem Schrecken waren aber die Verhältnisse im Staat verschont, wie die auf Aristoteles beruhenden Vorstellungen dies vorsahen. Oder aber die innige Unmittelbarkeit der Familie sollte ihn ausscheiden, wie Johannes Duns Scotus meinte. Das Gebot der Liebe war religiös begründet. Die Liebe war zusätzlich, besonders seit dem 13. Jahrhundert, von einer anthropologisch-natürlichen Konzeption abgeleitet. Diese sah mehr als nur die Korrektur eines Fehlers vor, der den Menschen eingepflanzt sei, sondern begründete die Forderung, die für das Zusammenleben förderlichen natürlichen Anlagen einzusetzen – und dies auch für die Gestaltung der Herrschaft. Die Liebe war als Bindemittel vorgesehen. Wenn wider die Liebe gehandelt würde, geschähe dies wider die Natur des Menschen. Damit war die Vorstellung der Perversion evoziert, was ebenfalls dem Konzept der Sünde nahe stand. Und auch in diesem Fall bestand ein Widerspruch: zwischen einem den Menschen förderlichen und zugleich in die Unterwerfung drängenden Antrieb. Wenn die Liebe Pflichten verlangte und Nutzen erbrachte, entfernte sie sich aufwühlender, leidenschaftlicher, ungebändigter und verschmelzender Vereinigung von Liebenden und trat ein in eine gesellschaftliche Vereinigung, wurde ordentlich gemacht und ent-emotionalisiert. Attraktion war vorgesehen, die die Intensität des Gefühls nicht voraussetzte. Die Liebe auf Distanz war als geeignet vorgestellt, die Gesamtheit des Staates zu erreichen und alle seine Mitglieder zu verbinden. Auf diese Weise war die Liebe eingebettet in Konzepte der Gerechtigkeit, die auf der Verteilung und der Gewährung von Vorteilen beruhte. Das Konzept der Gerechtigkeit verlangte die Setzung von Recht – durch Urteil und seit dem 13. Jahrhundert durch Gesetzgebung. Wegen dieser Folgerung, die zugleich eine Entwicklungslinie darstellte, wurde Liebe rechtlich eingefangen, damit in eine Ordnung gestellt, die zu ihrem Funktionieren des Zwanges bedurfte. Der Zwang war notwendig, weil so die Liebe verwirklicht werden konnte. Die Liebe, die in der christlichen Antike und im frühen Mittelalter als Tugend galt, als Ausweis einer individuellen Vortrefflichkeit, die die frühmittelalterlichen Fürstenspiegel von den Herrschern einforderten, gerann zur rechtlichen Norm. Aber das Recht bedurfte um nichts weniger der Verursachung, die von außerhalb kam, weil es einer aus ihm selbst kommenden Begründung entbehrte. Weil Liebe als Kennzeichen und als Ma-

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nifestation der menschlichen Natur galt, so wie dies, bedingt durch die Rezeption der Philosophie von Aristoteles im 13. Jahrhundert, vorgestellt wurde, war die rechtliche Pflicht stringent, sollte doch das Verbrechen einer Denaturierung, die gleichbedeutend war mit der Perversion des Menschseins, abgewendet werden. Thomas von Aquin und Aegidius Romanus hielten am Ende des 13. Jahrhunderts noch eine mittlere Position zwischen dem Konzept der Liebe als Tugend, als Naturbestimmung und als Rechtsbestimmung. Eine Generation später haben Denker wie Peter von Auvergne, Brunetto Latini, Wilhelm von Ockham und Marsilius auf den Zwang der Rechtsordnung verwiesen, deren Verbindung zur Liebe nur noch in der Weise bestand, dass sie sozial utilitaristisch, auf dem Feld der staatlichen Verfassung kanalisiert und zur Beförderung des allgemeinen Wohls instrumentalisiert wurde. Der emotionale Gehalt der Liebe wurde verdünnt. Das hier angedeutete Paradox zwischen der Inbrunst der Liebe, wie sie in Fiktionen vorgeführt wurde, und der Mattigkeit ihrer politischen Applikation befeuerte theoretische Überlegungen zu den in der Natur des Menschen angelegten emotionalen Potentialitäten und ihrer Realisierungen und ihrer Normierungen. Die soziale Ungleichheit war hinter einem Schleier des Notwendigen verborgen, welches als Manifestation der Natur ausgegeben war. Die Herrschaftsbegründung war nicht auf Konsensangebote angewiesen, wie sie im 10. und 11. Jahrhundert sich an die adligen und kirchlichen Eliten wandten, vielmehr in den folgenden Jahrhunderten zunehmend ersetzt durch den Verweis auf Automatismen, die Recht und Zwang hervorbrachten und dabei die Bindungen des Lehenswesen überwanden, um Homogenisierung aller Untertanen zu erreichen – bis zum Ende des Mittelalters freilich nur unvollkommen erreicht. Aber auch der Zwang bedurfte der Rechtfertigung, war durch die krude Begründung des Tatsächlichen nicht zu leisten. Deswegen galten Emotionen weiterhin als Kräfte, die menschliches Handeln anstießen, auch seit dem 12. Jahrhundert, indes zunehmend weniger zur Auslösung individueller Motive und individuellen Tuns, damit immer weniger geeignet, Tugenden hervorzubringen, sondern zur Fundamentierung der kollektiven Vereinigung der Menschen. Die Verwendung der Begriffe der Emotionen in der politischen Sprache des Mittelalters war weit davon entfernt, an ein »emotional management« oder ein »managment by fear« angelehnt zu sein, also nicht an das, was in modernen Handreichungen zur »Führung« vorgesehen wird1818, sie sind auch nicht mit

1818 Ronald H. Humphrey, Affect and Emotion. New Directions in Management. Theory and Research, Charlotte 2008; auf beständige und repetitive Relationen wird hingegen verwiesen bei: Daan van Knippenberg, Gerben A. Van Kleer, Leadersphip and Affect. Moving the Heart and Minds of Followers, in: Annals oft he Academy of Management 10 (2016), S. 799–840; aber auch dieser Autor deutet Gefühle instrumental, also von der »Führung«

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einem »gouvernement des 8motions«1819 gleichzusetzen, ging es doch nicht um den situativen Einsatz von Emotionen, nicht um deren Dosierung, nicht um deren Auswahl und Optimierung, nicht um deren Ausrichtung auf einzelne Personen und Personengruppen, um befristete Ziele zu erreichen und um zeitlich und örtlich bedingte Konstellationen zu berücksichtigen, schon gar nicht um manipulative Tricks, sondern um die Aktivierung von permanent bestehenden Dispositionen, um der Herrschaft Loyalität zuzuführen. Nicht die Operationalisierung von Emotionen war während des Mittelalters das Anliegen, sondern ihre Fundamentierung in den humanen Habitus, von dem behauptet wurde, er sei der Herrschaft bedürftig, bringe die Herrschaft zur Entstehung und sei von der Herrschaft zu formen. Wenn, wie in mittelalterlichen Texten der Fürstenbelehrung oft empfohlen wurde, Emotionen zu evozieren waren, so meinte dies, das zu aktualisieren, was in der menschlichen Befindlichkeit als bereits vorhanden vorausgesetzt war. Liebe und Schrecken galten ja nur deswegen als brauchbar für die Herrschaft, weil sie aus einer potentiellen Kausalität in eine reale Funktionalisierung überführt wurden. Wenn, wie in modernen komplexen Gesellschaften und Staaten meist üblich, die Akzeptanz von Dominanz erreicht wird oder doch erreicht werden soll, indem das politische Handeln als einzig vernünftige und somit alternativlos ausgegebene Verfügung vorgeführt wird, die nicht von impulsiv wirkenden Emotionen angetrieben wären, zeigt sich ein deutlicher Unterschied zum Mittelalter, weil nicht unbeständige Bedrohungen und Hoffnungen Emotionen anfachten, sondern die Permanenz der Herrschaft, also Institutionen Emotionen einbanden und einforderten. Diese galten nicht als Ausnahmen, nicht als Störungen, sondern als Voraussetzungen, Begründungen und Rechtfertigungen. Die emotionale Instrumentalisierung machte im Mittelalter ein Arrangement des Interessenausgleichs entbehrlich. Im heutigen politischen Handeln stehen daher die Emotionen stets im Verdacht, Entscheidungsvorgänge und Willensbildungen zu stören. Die Emotionalisierung widersprach im Mittelalter hingegen nicht der Rationalität, entsprang vielmehr aus der Vernünftigkeit der Welt, in der die Ausstattung des Menschen mit Antrieben und Gefühlen als von Gott eingesetzte Disposition vorausgesetzt war. Ein Maßnahmenhandeln, das von Befindlichkeiten, Gefühlen und Beweggründen abgehobenen vorgeführt worden wäre, hätte während des Mittelalters der Akzeptanz entbehrt, ja wäre als widersinnig erschienen. Die Emotionen waren, um sie vernünftig zu machen, kollektiv einzufassen. Störend waren die individuellen Unterschiede. Die Verwirklichung der allgemeinen Herrschaft setzte die Einebnung der Differenzen bewirkt und nicht in der Psyche der »Geführten« prä-existent, also vor der Intervention des Managements bereits vorhanden und damit empfänglich für Interventionen. 1819 Patrick Boucheron, Corey Robin, Renaud Payre, Exercise de la peur. Usages politiques d’une emotion, Lyon 2015.

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zwischen den Individuen voraus, nicht von deren sozialer Position, wohl aber von deren emotionaler Disposition. Deswegen wurde besonders seit dem 13. Jahrhundert mit dem Verweis auf eine allgemein gültige emotionale Verfassung der Menschen argumentiert, die sie der politischen Verfassung gefügig machen würde. Selbst die im späten Mittelalter einsetzenden Prozesse administrativer Steuerung, selbst die in den Urkunden dieser Zeit nicht selten eingefügten Hinweise, dass Liebe und Schrecken die Anweisungen der Herrscher und deren Ausführungen hemmten und daher ausgeschlossen sein sollten, machten Sprechweisen emotionaler Verursachung von Handlungen der Herrschaft weiterhin unentbehrlich. Denn Handlungsdispositionen entsprangen – so die dominante, auch im späten Mittelalter angenommene Auffassung – einer politischen oder sozialen Verfahrensordnung, die von Gott oder von der von ihm geschaffenen Natur abgeleitet war, die Bedingungen auferlege, von denen keine Abweichungen geduldet werden dürften. Die auf das Körpermodell rekurrierende Deutung von Machtungleichheiten war daher mehr als nur Metapher, sondern zeigte die Realisation einer in der Natur liegenden Notwendigkeit. Johannes von Salisbury hat im 12. Jahrhundert die Störung dieser Naturordnung und gar ihr Fehlen beklagt, diese Defizite aber nicht in erster Linie einem persönliche Versagen – des Königs – zur Last gelegt, sondern als Ergebnis institutioneller Fehler, die dem Herrscherhof eigentümlich seien, gedeutet. Die Herstellung des guten Körpers des Staates stand nicht fern zur Herstellung des guten Körpers des Königs. In beiden Fällen sollten vom Körper Emotionen evoziert werden. Die Emotionen waren herrschaftlich eingebunden, sie gehörten keineswegs dem Reich der Freiheit an, sie boten keine alternativen Handlungsoptionen, öffneten keine Ausfluchten aus bitteren Notwendigkeiten, entsprangen nicht der Spontaneität. Vielmehr gingen von den Emotionen die wirksamsten Zwangseinwirkungen aus, wie ja auch die Texte zur höfische Liebe dies keineswegs verhehlten, vielmehr die Unentrinnbarkeit der durch Emotionen gelenkten Antriebe thematisierten. Weil die Emotionen als Vektoren der Natur wirkten, den Menschen überwältigten, fanden sie Eingang in die Sprache der Herrschaft. Emotionen mussten nicht erst domestiziert und in ein reguliertes Verhalten eingefangen werden, da sie bereits durch ihren Ursprung einer Ordnung verhaftet waren und geeignet schienen, in eine Ordnung der Hierarchie gestellt zu werden. Nur sich vor den eruptiven Entstehungen der Emotionen zu hüten, war Herrschenr wie Beherrschten auferlegt. Dem Einsatz von Emotionen war eine wichtige Funktion zugewiesen. Sie sollten das Fehlen von materieller Gewalt und von materieller Belohnung kompensieren. Nicht allein dem König war einsichtig, »dass er nicht genug Gnaden zu spenden hatte« (um eine Formulierung von Norbert Elias aufzugreifen) und auch nicht genug Gewaltmittel einsetzen konnte. »So ersetzte er

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reelle Belohnungen durch eingebildete« (so weiter Elias).1820 Aber weder liebende Zuwendung noch Verbreitung von Furcht und Schrecken waren in Wirklichkeit Einbildungen. Sie waren vielmehr die für notwendig erachteten symbolischen Repräsentationen für Begünstigung und Verfolgung und als solche keineswegs Trugbilder. Sie setzten Emotionen ein, die wirken sollten, auch dort und dann, wenn tatsächliches Handeln wegen räumlicher und zeitlicher Distanz nicht vollstreckt werden konnte. Die Defizite mittelalterlicher Herrschaftsausübung bedurften mehr, als dies in der Neuzeit der Fall war, eines Korrelats, um die Gegenwart des Herrschers und die Wirksamkeit der Herrschaft einzurichten. Was an realer Gegenwart fehlte, war durch die Vorstellung von Emotionen zu ersetzen, die alle erreichten und überall hineinreichten. Eine potentiell allgegenwärtige Bedrohung durch Gewalt erzwang Unterwerfung. Aber die Gewalt, so brutal sie ausgeübt wurde und so gefährlich nahe sie an die Menschen rückte und so wirkungsvoll sie den Willen der Unterworfenen niederrang, konnte allein keine Stabilität erzeugen, die lange Bestand hätte. Erst wenn die Gewalt abwartend lauerte und sie zur Bedrohung gerann, wurde sie permanent gehalten, gewann Wirkung auch jenseits der aktuellen Anwendung, wurde sie zur Macht und, diese weiter perpetuierend, zur Herrschaft. Aber im Augenblick des Handelns wurde die latente Gewaltbereitschaft wieder zur reinen Gewalt. So analog auch die Liebe: Sie war das Versprechen, das der Einlösung harrte. Der schnelle Übergang musste stets glaubhaft sein; die Erwartung oder Befürchtung hinsichtlich von Liebe und Schrecken waren auf die Tat angewiesen. Es bedurfte daher der zumindest sporadischen Aktivierung. Paradoxerweise entsprang aber gerade aus der Unberechenbarkeit, mit der Emotionen der Herrscher zur Tat riefen, die beständige Wirkung. Die Potentialität des Beständigen, dessen Realisierung unbeständig war, brachte die Potenz hervor. Wenn staatliche Gewalt zum Erfüllungsgehilfen der Welterneuerung und der Weltverbesserung, zur Verteidigung der Wahrheit der Religion und des Schutzes ihrer Gläubigen erkoren wird, sind ethische Normsetzungen in gesteigerter Weise verlangt; entbehrlich sind hingegen rechtliche Schranken der Macht. Die Säkularisierung, ein Prozess der im hohen Mittelalter einsetzte und die Verwendung innerweltlicher Zielsetzungen und innerweltlicher Begründungen ermöglichte, trug zwar dazu bei, die Herrschaftsausübung als eigenständiges, selbst-reflektiertes und eigene Ziele setzendes Handlungsfeld zu denken, beendete aber bis zum Ende des Mittelalters nicht die Annahme, Gott als Verursacher und als Zielgeber anzuerkennen und damit als zumindest im Jenseits

1820 Zitiert nach Gerd Althoff, Huld. Überlegungen zu einem Zentralbegriff der mittelalterliche Herrschaftsordnung, in: FMASt 25 (1991), S. 259–282, S. 259.

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tätigen Demiurgen und Korrektor des Handelns der Mächtigen anzunehmen.1821 Die Staatsräson, wie sie klassisch Jean Bodin im 16. Jahrhundert konzipierte, konnte im Mittelalter allein deswegen nicht ultimatives Ziel und alleiniges Handlungsmotiv sein, weil jede Ordnung als von Gott geschaffen erachtet war und also von ihm abgeleitet war, so dass es keine Immanenz der Geschichte und noch weniger der Institutionen der Menschen gab. Die Vernünftigkeit der Geschichte konnte weder aus ihr selbst noch aus ihren Akteuren gewonnen werden und noch weniger aus der Ausübung der Macht.1822 Wenn fixierte Gruppenbindungen gelockert wurden und einer individualisierten Lebensführung größere Entfaltung geboten war, wie dies seit dem 12. Jahrhundert geschah, nahmen Beliebigkeiten und Unsicherheiten zu.1823 Um sie einzufangen und sie zu kompensieren, bot sich an, allgemein gültige humane Grundeigenschaften vorzustellen und einzusetzen, also auf Emotionen zu verweisen, die mehr waren als Schalthebel, um Menschen der Herrschaft gefügig zu machen, sondern Voraussetzungen, damit die Menschen in die Herrschaft eingebunden wurden, weil sie der Herrschaft bedürftig waren. Die Vorstellung einer kosmischen Ordnung, deren Harmonie und Stabilität allgegenwärtig vorgestellt war, ließ die Absonderung von Teilbereichen der Existenz und damit auch der Herrschaft und der politische Organisation nicht zu. Wenn Vorstellungen im Mittelalter diese kosmische Ordnung vorstellten, verbanden sich mit ihr hierarchische Differenz. Als Transmissionsglieder waren häufig Engel eingesetzt. Da auch diese hierarchisch verbunden waren, galten sie als Präfigurationen hierarchischer Beziehungen der Menschen. Ordnungsfiguration bestanden, um Erwartungen stabil zu halten damit Wiederholbarkeit von Handlungen zu gewährleisten.1824 Die Vorstellung, dass Herrschaft darin bestehe, dass sie die Handlungen der Menschen in Ordnung kanalisiere, mündete in der frühen Neuzeit zur Herausbildung eines staatlichen Gewaltmonopols, bei dem die agonale Konfliktaustragung im Staat eliminiert und nach »außen« gelenkt werden sollte.1825 Liebe war ein Angebot an die Be1821 Taylor, Secular Age, S. 77–85. 1822 Raison et d8raison d’Etat. Th8oriciens et th8ories de la raison d’Etat aux 16e et 17e siHcles, hg. v. Yves Charles Zarka, Paris 1996. 1823 Giles Constable, Renewal and Reform in Religious Life: Concepts and Realities, in: Renaissance and Renewal in the Twelth Century, hg. v. Robert L. Benson u. a., Toronto 1991, S. 37–67. 1824 Zu den Überlegungen zu Vorstellungen und Praktiken des geordneten Handelns, das jenseits persönlicher Absichten und ephemerer Konstellationen begründet ist: Bernd Schneidmüller, Stefan Weinfurter, Ordnungskonfigurationen. Die Erprobung eines Forschungsdesigns, in: Ordnungskonfigurationen im hohen Mittelalter, hg. v. dens. (VuF 64), Ostfildern 2006, S. 7–18. 1825 Wolfgang Reinhard, Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 1999, S. 291–301.

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herrschten, sich der Gewalt der Herrschaft anzunähern; sie war die Illusion, an ihr Anteil zu haben, indem von ihr Wohltaten erwartet wurden, ohne dass sie tatsächlich erbracht werden mussten, weil die Gemeinschaft der Liebenden selbstverständlich bestand, natürlich begründet war und dem Menschen eigentümlich zukam, also vor Enttäuschungen gewappnet sein sollte. Aber die Abwertung des politischen Handelns als sowohl für das Seelenheil irrelevant als auch für die Herstellung eines allgemeinen Wohls unfähig, war ein beständiger Strang des Vorstellens im Mittelalter und stand quer zur Etablierung einer Vorstellung, die Herrschaft auf Liebe und Schrecken aufrichten sollte. Obwohl die Theologie den Wert der Weltlichkeit durch die Gegenüberstellung von Schöpfungsordnung und Heilsordnung widerspruchsfrei vorauszusetzen in der Lage war, war doch der Keim gelegt, der Theologie die Deutungskompetenz zu verweigern und tatsächlich seit dem 13. Jahrhundert zumehmend zu entziehen, sofern Angelegenheiten der innerweltlichen Herrschaftsordnung erörtert wurden.1826 Die »Entzauberung der Welt« setzte bereist im hohen Mittelalter ein1827 und löste die Vorstellung, wie Herrschaft beschaffen sei, zunehmend von religiösen Vorgaben, trug auch dazu bei, die Herrschaftsordnung als Zusammenstellung von Verfahren zu deuten, die aber zu ihrer Motivierung und wichtiger noch zu ihrer Begründung auf Emotionen angewiesen waren. Abgesehen davon, dass die »Verzauberung der Welt«, ihre Ableitung aus rational nicht hinlänglich begründeten Vorstellungen und Voraussetzungen bis in die Gegenwart anhält1828, war im Mittelalter mit der Institutionalisierung kein definitiver Verzicht auf den Einsatz von emotionalen Hebeln des Handelns und von emotionalen Ursprüngen von Gemeinschaft, Gemeinde und Staat verbunden, umso weniger als Emotionen erst gar nicht kontra-rational vorgestellt waren. Es war mit den Emotionen vielmehr ein solides Fundament gelegt, um das Wirken von Verfahren zu begründen, die nicht als selbst wirksam vorausgesetzt werden konnten. Die Verwirklichung einer als natürlich angesehenen Weltordnung sollte so möglich sein. Die divergenten Vorstellungen, die im Mittelalter zur Herrschaft durch Schrecken und Liebe bestanden, entziehen sich einer Zusammenfassung zu einer Vorstellung. Nicht einmal ein Komplex von Vorstellungen entstand, dazu waren sie zu diskordant. Eine von keiner Kanonisierung, nicht einmal der Deutungen der Bibel, behinderte Diskordanz prägte den Verlauf der Entstehung und der Entfernung von Vorstellungen. Nicht ein harmonisches Gefüge, sondern 1826 Taylor, Secular Age, S. 77–85. 1827 Die Formulierung ist von Max Weber geprägt worden und verweist auf die Verwissenschaftlichung der Weltdeutung: Über einige Kategorien der verstehenden Soziologie, in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 3. Aufl. Tübingen 1968, S. 433. 1828 Hans Joas, Die Macht des Heiligen. Eine Alternative zur Entzauberung der Welt, Frankfurt a. M. 2017.

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ein störungsempfindliches Konfliktgeschehen prägte die Geschichte der Vorstellungen zur Herrschaft. Aber nur durch die Vorstellungen war soziale und politische Praxis möglich, ja diese Praxis ist wesentlich die Vorstellung über das, was üblich gedacht, geglaubt und gemacht wird. Dass die Vorstellungen keine kulturellen Fixierungen schufen, sondern beweglich waren und plastisch formbar gehalten waren, minderte um nichts ihre Existenzweise als Zusammenfassung von mentalen Zuständen und von aktivierten Interventionen. Das Problem ist offensichtlich bis heute nicht gelöst. Aus dem Dilemma zwischen Automatismen durch Verfahren und Motivierungen durch Emotionen gebe es kein Entrinnen, so die Auffassung von Pierre Ansart.1829 Einen Ausweg, wenn auch keine Lösung, gab es aber durchaus im Mittelalter. Nämlich nicht durch Verwirklichungen, sondern durch symbolische Repräsentationen waren die Emotionen widerspruchsfrei zur Verfahrensordnung eingesetzt. Daher die Wichtigkeit der sprachlichen Arrangements. Die Disziplinierung der Gefühle, die den Prozess der Zivilisation nach Norbert Elias kennzeichnet, machte sie seit dem 13. Jahrhundert zunehmend zu Instrumenten des geordneten Zusammenlebens, was aber nur gelang, wenn die Gefühle homogenisiert, verlässlich abrufbar, in Pflichten gepresst, von persönlichen Schwankungen gereinigt, von Unwägbarkeiten abgeschirmt, aus der unvorgreiflichen Natur abgeleitet, standardisiert, domestiziert, in begriffliche Symbolisierungen eingefasst waren. Die passiones wurden geformt und in die potestates überführt. Dies geschah nicht durch die Verfügung über die Emotionen, sondern durch die Verfügung über die Vorstellungen über sie. Was das Recht allein nicht vermochte, sollte den Vorstellungen zu den Emotionen gelingen. In einer »Überlebensgesellschaft«, die durch den frühen Tod – bereits vieler Kinder – und durch die Erfahrung, dem frühen Tod entronnen zu sein, gekennzeichnet war, war nichts einsichtiger, als den Einwirkungen – im Guten und im Schlechten – der Herrschenden ausgeliefert zu sein.1830 Das vorherrschende Gefühl war das der Unsicherheit. Willkür war allgegenwärtig. Dass Könige und andere Herrscher willkürlich Liebe gewährten und Schrecken verbreiteten, passte zu der Lehre vieler Theologen, dass Gott bei der Gewährung von Gnade und Erlösung an nichts – auch nicht an die Verdienste und Vergehen der Menschen – gebunden sei. Herrscher galten als diejenigen, die die Unvorhersehbarkeit weiterleiteten.1831 Die Kompensierung dieser allgegenwärtigen, nicht 1829 Pierre Ansart, La gestion des passions politiques, Lausanne 1983, S. 197. 1830 Jacques LeGoff, La civilisation de l’Occident m8di8vale, Paris 1964, S. 397; Alexander Patschovsky, Tod im Mittelalter, in: Tod im Mittelalter, hg. v. Arno Borst u. a. (Konstanzer Bibliothek 20), Konstanz 1993, S. 9–24; Norbert Ohler, Sterben und Tod im Mittelalter, München 1990, S. 51–53; Ders., Sterben und Tod im Hochmittelalter, in: Alltagsleben im Mittelalter, hg. v. Karl-Heinz Rueß, Göppingen 2005, S. 136–160. 1831 Hans Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, 2. Aufl., Frankfurt a. M.1988, S. 177–188;

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abzuwendenden Unverfügbarkeit über das eigene Leben war Mächten anvertraut, die gnädig zu stimmen empfohlen war. Das Handeln der weltlichen Herrscher realiter zu beeinflussen, war offensichtlich den fern der Machtausübung stehenden Menschen nur dann vorstellbar, wenn sie Bitten an sie adressierten oder Aufstände gegen sie unternahmen, ohne eine beständige Selbstwirksamkeit vorauszusetzen. Umso wichtiger war es für diejenigen, die von der Macht ausgeschlossen und ihr unterworfen waren, sich ihr fiktiv anzunähern, sich sogar an sie anzuheften, indem sie in Liebe und Schrecken an sie angeschlossen zu sein glaubten, also eine emotionale Nähe imaginierten und imaginieren sollten. Aus der Diskrepanz zwischen idealen Ansprüchen und Anforderungen einerseits und realen Handlungen anderseits entsprang die Quelle emotionaler Beeinflussung gegenüber den Untertanen, denen die authentische Verwirklichung von Gefühlen gar nicht erst zugestanden wurde, denen aber auferlegt war, die Verwirklichung von Gefühlen in eine Sphäre unerreichbarer Ferne zu verlegen, in eine Sphäre der Macht. Die mediale Aufhebung der Distanz operierte mit Begriffen der Emotionen, die Nähe suggerierten. Emotionen waren so letztlich Kompensationen für fehlende Erreichbarkeit. Liebe und Furcht existierten auf Distanz, und zugleich überwanden sie die Distanz. Die Überwindung war die Voraussetzung der Herrschaft, die mehr als auf technische Verfahren der Fernwirkung angewiesen war. Herrscher und Beherrschte verfügten in unterschiedlicher Weise über die Gefühle: Erstere gestalteten sie, zweite unterlagen ihnen. Aus dieser Ungleichwertigkeit sprossen Schuldgefühle, war doch stets ein Mangel hinsichtlich der Echtheit der Gefühle und ein nicht hinreichendes Empfinden präsent, was Robert Jay Lifton als »Trumpfkarten« destruktiver emotionaler Beeinflussung gegenüber den Individuen zwecks Erringung von Macht erachtete.1832 Die von dem Soziologen Talcott Parsons konzipierte Machtbasis, die auf Überzeugung und auf Drohung beruht, verweist auf emotionale Treiber, die jenseits ideologischer Argumentationen existieren. Im Mittelalter waren die Vorstellungen von Emotionen, die Herrschaft erforderten und beförderten, besonders wirkmächtig. Dass diese Vorstellungen bis hin zu zerstörerischen Wirkungen hinsichtlich des Wohls der Individuen reichten, wie dies Robert Jay Lifton hinsichtlich des 20. Jahrhunderts ausführte, haben bereits mittelalterliche Autoren durchaus eingeräumt, am deutlichsten Remigio dei Girolami und Johannes Duns Scotus, andere, wie Albertus Magnus, Thomas von Aquin oder Aegidius Romanus durch die Vorstellung eines allgemeinen Wohls, das die Herrscher befördern, indessen negiert. Jan A. Aertsen, Einführung: Kontinuität und Diskontinuität, in: »Herbst des Mittelalters«. Fragen zur Bewertung des 14. und 15. Jahrhunderts hg. v. dems., Martin Packav8 (Miscellanea Mediaevalia 31), Berln, New York 2004, S. xiv–xx, S. xvii f. 1832 Lifton, Thought Reform, S. 78.

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Das Band zwischen den Menschen, auf dem die Herrschaft beruhte, war nicht allein rechtlich definiert, nicht allein auf die Gewinnung von Vorteilen ausgerichtet, nicht allein durch rituell vorgeführte Gemeinsamkeiten geknüpft, es galt durch Emotionen hergestellt. Die Verwendung von Emotionen war aber auch der Kritik ausgesetzt. Sie wurden mitunter als Störfaktoren, bei den Herrschern wie auch bei den Beherrschten, angesehen. Wenn das Recht gelten sollte, waren Emotionen auszuscheiden. Das Mittelalter legte den Grund für ein ambivalentes Erbe: Es gab die Forderung nach Eindämmung von Schrecken, mitunter auch von Liebe, damit die Herrscher und ihre Beauftragen unbeeinflusst von Neigungen handelten. Es gab die Apologie und die Negation hinsichtlich der Herrschaft, weil sie Schrecken in sich barg und Liebe gewährte oder versagte. Emotionen waren in die Begründung und die Organisation der Herrschaft eingewoben. Die Herrschaft durch Schrecken und Liebe hatte bedrückende Auswirkungen für die Untertanen. Die asymmetrische Relation beließ den Herrschenden die Initialisierung von Emotionen, den Untertanen die Reaktion auf sie. Liebe und Schrecken sollten gleichermaßen das soziale Fundament des Vertrauens im Lebensumfeld der Untertanen zerstören, die Erwartung in vorhersehbare Handlungen der Mächtigen unmöglich machen. Zu ersetzen war das Vertrauen durch das Band der Abhängigkeit. Dieses Band war als Gewährung und Entzug, als Ausübung und Zurückhaltung von Liebe und Schrecken gestaltet. Das Ziel, Macht nicht zu zerstreuen, setzte voraus, Menschen selbstständige Handlungsoptionen zu entziehen. Liebe und Schrecken zu verkünden, waren gleichermaßen geeignet, diese Abhängigkeit zu schaffen, denn sie formten Gedanken und lenkten diese zu Handlungen. Diese standen dem Gefüge intermediärer Gewalten des Lehenswesen entgegen. Der Einsatz und der Kampf pro patria ließen binäre Bindungen zwischen Lehnsmann und Lehnsherrn hinter sich und formten Aufopferungsbereitschaft aller Untertanen, die zu verwirklichen mehr als der unmotivierte Vollzug von Gehorsam und mehr als die Demonstration von Idealen voraussetzte, vielmehr emotionale Antreiber einsetzte, die für die Herrschaft eingesetzt wurden. Je mehr die Vorstellungen zur Formel erstarrten, umso stabiler waren sie, umso waren sie mehr geeignet, Herrschaft zu begründen. Je matter und konventioneller die Emotionen waren, desto weniger standen sie in Gefahr, in unbeständige Ausbrüche abzugleiten und außerhalb der Kontrolle der Herrschaft emporzusteigen. Statt individueller Regungen sollten ja kollektive Verfügungen hergestellt werden. Die Vorstellungen zur Herrschaft durch Liebe und Schrecken waren daher nicht auf eine Verwirklichung von beiden angewiesen, vielmehr auf eine dauerhaft angelegte sprachliche Repräsentation, die Einvernehmen erzeugen sollte. Konsens zu erzeugen, war aber schwierig. Die Konzepte in ethische Werte einzuhüllen, sollte sie der Kritik entheben, riskierte aber auch, sie einer

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ethischen Beurteilung zu unterwerfen und eine kritische Debatte anzuheizen. Die Verhaftung an Traditionen verringerte keineswegs eine vielstimmige Deutungsfülle. Sie stieß eine Reflexion an, die wegen der Unterschiede ihrer Resultate viele Tore aufstieß, die Selbstverständlichkeit von Herrschaft unangreifbar zu machen und auch sie in Frage zu stellen. Das Fehlen realer Gewaltmittel und die Abwesenheit der Herrscher von den meisten Orten ihrer Herrschaft wurde durch die sprachliche Repräsentation von Schrecken und Liebe kompensiert. Aber mehr als nur eine symbolisch ParallelExistenz entstand. Es entstand damit überhaupt erst die Wesens-Existenz der Herrschaft. Da Herrschaft eine Summe sozialer Beziehungen bildete, die durch Repräsentationen auszudehnen waren, war die Gestaltung der Beziehungen essentiell, und diese Gestaltung war an Sinnangeboten gebunden, die die Beteiligten an der Herrschaft akzeptierten oder akzeptieren sollten. So war die Vervielfältigung möglich, so war die zeitliche und räumliche Permanenz erreicht. Und mehr noch: So kam die Herrschaft erst durch das Wort zu ihrem Sein. Das Sprechen über Liebe, Schrecken und Herrschaft brachte sie in soziale und politische Beziehungen und Wirkungen. Die Dauererregung von Emotionen des Schreckens und der Liebe war nicht möglich. Stattdessen gab es eine Dauervorstellung über sie, die in Sprache geformt war. Die Sehnsucht nach dem »starken Mann«, der herrscht, schützt und Gunst verteilt, sie verweigert und sie entzieht, der seine Untertanen herabsetzt, unterdrückt und mit Schrecken heimsucht, zugleich sie aber umsorgt und liebt – diese Sehnsucht wurde von den Mächtigen gestillt und sollte gestillt werden. Sie galten als die Urheber und Garanten der Ordnung, die dem Leben mehr als nur Nutzen stiftet, sondern ihm Sinn verleiht. Es gab die Vorstellung, dass die Kraft der Herrschaft auf das Leben von jedem, der ihr untersteht, überspringt und es durchflutet. Die Vorstellung war ein Irrtum. Aber sie wirkte. Denn sie verband die Menschen miteinander und schuf Loyalität gegenüber der Herrschaft.

Verzeichnis der mehrfach genannten Quellen und Literatur

Abkürzungen nach dem Lexikon des Mittelalters

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Verzeichnis der mehrfach genannten Quellen und Literatur

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Quellen

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Wissenschaftliche Literatur

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Verzeichnis der mehrfach genannten Quellen und Literatur

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Wissenschaftliche Literatur

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Verzeichnis der mehrfach genannten Quellen und Literatur

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Wissenschaftliche Literatur

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Verzeichnis der mehrfach genannten Quellen und Literatur

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Wissenschaftliche Literatur

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Wissenschaftliche Literatur

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Verzeichnis der mehrfach genannten Quellen und Literatur

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Wissenschaftliche Literatur

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Specula principum. Riflesso della realt/ giuridica, hg. v. Angela de Benedictis (Ius commune. Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Europäische Rechtsgeschichte. Sonderhefte 117), Frankfurt a. M. 1999 Sita Steckel, Kulturen des Lehrens im Früh- und Hochmittelalter. Autorität, Wissenskonzepte und Netzwerke von Gelehrten (Norm und Struktur. Studien zum sozialen Wandel in Mittelalter und Früher Neuzeit 39), Köln u. a. 2011 Günter Stratenwerth, Die Naturrechtslehre des Johannes Duns Scotus, Göttingen 1951 Joseph R. Strayer, The Reign of Philip the Fair, Princeton 1980 Tilmann Struve, Die Begründung monarchischer Herrschaft in der politischen Theorie des Mittelalters, in: ZHF 23 (1996), S. 289–324 Ders., Die Entwicklung der organologischen Staatsauffassung im Mittelalter, Stuttgart 1978 Wolfgang Stürner, Die Gesellschaftsstruktur und ihre Begründung bei Johannes von Salisbury, Thomas von Aquin und Marsilius von Padua, in: Soziale Ordnungen im Selbstverständnis des Mittelalters, 2 Bde., hg. v. Adolar Zimmermann (Miscellanea Mediaevalia 12), Berlin, New York 1979, I, S. 162–178 Ders., Natur und Gesellschaft im Denken des Hoch- und Spätmittelalters. Naturwissenschaftliche Kraftvorstellungen und die Motivierung politischen Handelns in Texten des 12. bis 14. Jahrhunderts (Stuttgarter Beiträge zur Geschichte und Politik 7), Stuttgart 1975 Ders., Peccatum und Potestas. Der Sündenfall und die Entstehung der herrscherlichen Gewalt im mittelalterlichen Staatsdenken (Beiträge zur Geschichte und Quellenkunde des Mittelalters 11), Sigmaringen 1987 Vasileios Syros, Die Rezeption der aristotelischen politischen Philosophie bei Marsilius von Padua. Eine Untersuchung zur ersten Diktion des Defensor pacis (Studies in Medieval and Renaissance Traditions 134), Turnhout 2007 Charles Taylor, A Secular Age, New Haven 2007 Thorsten Thielen, Friede und Recht. Studien zur Genese des frühmittelalterlichen Herrscher- und Tugendideals in der lateinischen Literatur der römischen Antike und des frühen Mittelalters, Frankfurt a. M. 2017 Bernhard Töpfer, Das kommende Reich des Friedens. Zur Entwicklung chiliastischer Zukunftshoffnungen im Hochmittelalter, Berlin 1964 (Forschungen zur mittelalterlichen Geschichte 11) Ders., Urzustand und Sündenfall in der mittelalterlichen Gesellschafts- und Staatstheorie, Stuttgart 1999 Marco Toste, The Naturalness of Human Association in Medieval Political Thought Revisited, in: Nature, norme e morale. Ordre de la nature et loi(s) naturelle(s) / la fin du moyen .ge, hg. v. Malke van der Lugt (Micrologus 59), Florenz 2014, S. 113–188 Ders., Virtue and the City. The Virtues of the Ruler and the Citizen in the Medieval Reception of Aristotle’s Politics, in: Il bene comune. Forme di governo e gerachhie sociali nel basso medioevo. Atti del XLVIII convegno storico internazionale, Todi 9–12 ott. 2011, Spoleto 2012, S. 75–100 Mario Turchetti, Tyrannie et tyrannicide de l’Antiquit8 / nos jours, Paris 2001 Karl Ubl, Engelbert von Admont. Ein Gelehrter im Spannungfeld von Aristotelismus und christlicher Überlieferung (Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 37), München 2000

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Verzeichnis der mehrfach genannten Quellen und Literatur

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Personenregister

Aaron (biblische Person) 58, 147 Abraham (biblische Person) 128, 131 Abulafia, David 368 Accursius (Jurist) 128, 131, 598 Acerbus Morena 358f. Adaboldus von Utrecht 176 Adalbero von Laon 286f., 328f. Adalbert von Prag 270 Adam (biblische Person) 150, 156f., 160, 369, 526 Adam von Bremen 304 Ademar von Chabannes 284 Adolf I. (römisch-deutscher König) 666, 668 Aegidius Romanus 30, 100, 154, 493, 547–579, 583f., 586, 596, 616, 623 626f., 639, 644, 650, 654, 657, 692, 705f., 710, 724, 730, 737 Aelred von Rievaulx 118, 393, 400–402 Agnes (Gattin von Kaiser Heinrich III.) 349 Agobard (Erzbischof von Lyon) 241f. Agrippina (Mutter von Nero) 123 Aimo von Bourges 286 Alanus de Insulis 451 Alban von Mainz 265 Albertus Magnus 100, 102, 189f., 481f., 484, 490–502, 506, 512f., 515, 569, 608, 650, 724, 737 Albrecht I. (römisch-deutscher König) 666–668 Alexander III. (Papst) 312 Alexander IV. (Papst) 548

Alexander der Große 304, 432–437, 576 Alexander von Hales 55f., 526 Alexander von Paris 432–435 Alexander von Roes 634 Alexander von Telese 344 Alfons X. (König von Kastilien) 456f., 690–710 Algazi, Gadi 34 Alkuin 220–222, 224, 247, 257 Althoff, Gerd 30f., 33, 38, 269, 274, 349 Alvaro Pelayo 324, 576f. Ambrosius (Erzbischof von Mailand) 66, 71, 149–151, 251 Anaklet II. (Gegenpapst) 343, 395 Andreas von Bergamo 236 Andreas Capellanus 412f., 558 Andreas von Fleury 286 Andreas von Ungarn 368 Angilbert von Saint-Riquier 228f. Ansart, Pierre 736 Anselm von Laon 49, 58 Anselm von Lucca 303 Antiguus (Feldherr Alexanders des Großen) 434 Antiochus (König des Seleukidenreiches) 310 Antoninus Pius (römischer Kaiser) 125 Antonius, Marcus (römischer Politiker) 107 Arcadius (römischer Kaiser) 149 Arendt, Hanna 12, 23f., 154 Aristoteles 35, 89, 91–106, 132, 137, 159, 248, 364, 402, 435, 458, 461f., 466, 473,

762 481f., 485–497, 500–503, 506, 508f., 516, 518, 525, 530, 532, 534, 537, 540, 547–549, 555, 563–568, 570, 572f., 578, 581–591, 594, 598, 606–610, 615f., 619f., 626, 630–635, 641, 643, 645, 649f., 655, 674, 688, 699f., 703, 710, 716, 723f., 729f. Arnulf I. (östfränkischer König) 240f. Arnulf von Lisieux 336f. Arpad I. (König von Ungarn) 266 Assmann, Jan 43 Artus (=Arthur) (legendärer britischer König) 414, 428–431 Astronomus (Anonymer Autor) 235f. Attila (König der Hunnen) 264–267, 729 Atto von Vercelli 77 Augustinus, Aurelius 12, 22, 53, 56, 70f., 78, 100, 106, 117, 132, 152–171, 177, 179–181, 206f., 209, 212, 218, 245, 251– 253, 298, 304, 315, 317f., 321, 482, 545, 548f., 575, 591, 649, 719, 722, 729 Augustus (römischer Kaiser) 119, 121 Averoes 616 Azo Portius (Jurist) 128, 597f. Balduin I. (Graf von Flandern) 277 Balduin von Luxemburg (Erzbischof von Trier) 259, 670 Bartholomaeus Anglicus 190, 527 Bartholomaeus Brixensis 320 Bartolo da Sassoferrato 129 Beda Venerabilis 216f. Beetham, David 20 Benz, Arthur 27 Benzo von Alba 68, 331f. Berenguela (Königin von Lejn) 348 Bernardus Silvestris 90, 176, 404 Bernhard (Neffe von Kaiser Ludwig dem Frommen) 232 Bernhard von Clairvaux 66, 344, 393, 395–400 Bernhard von Konstanz 304 B8roul (mittelaterlicher französischer Autor) 415f. Berthold I. (Herzog von Zähringen) 301 Berthold von Regensburg 190f., 532f.

Personenregister

Bizzarri, Hugo 692f. Bloch, Marc 31 Blumenberg, Hans 21 Bodin, Jean 734 Boethius, Anicus Manlius Severinus 89f., 174–177, 370f., 404, 471, 493, 632, 635 Boleslaw (polnischer Herzog) 263 Bonaventura von Bagnoregio 69, 190, 454, 527–533, 543, 593 Bonifatius (Freund von Augustinus) 166 Bonifaz VIII. (Papst) 522, 577f., 639, 675, 679 Bonizo von Sutri 303 Boshof, Egon 381 Boucheron, Patrick 35 Bouquet, Damien 36 Bourdieu, Pierre 21, 25 Broekmann, Theo 35, 339, 341, 343 Brunetto Latini 522, 624–631, 730 Bruno (Autor des Buches vom Sachsenkrieg) 300, 349 Bruno von Querfurt 171, 264, 273 Bruno von Toul (=Papst Leo IX.) 296 Buc, Philippe 14, 33, 167 Burchard von Worms 270 Burke, Peter 20 Caesar (=Julius Caesar) 107, 119 Caesarius von Arles 213 Cassian (=Johannes Cassian) 117 Cassiodor, Flavius, Aurelius 172 Cassirer, Ernst 64 Cato, Marcus Porcius 111 Charibert I. (König der Franken) 214 Chaucer, Geoffroy 469 Childebert II. (König der Franken) 214 Chilperich I. (König der Franken) 58, 197f. Chlodwig (König der Franken) 195–199, 211f. Chlothar I. (König der Franken) 214 Chlothar II. (König der Franken) 215 Chr8tien de Troyes 414f., 417, 420, 428– 430 Christian von Stablo 255 Christine de Pisan 458

Personenregister

Cicero, Marcus Tullius 12, 106–119, 124, 150, 159, 175, 212, 279, 307, 321, 394, 401, 535, 542, 620, 667, 718 Clemens (römischer Bischof) 141 Coelestin V. (Papst) 576, 578 Colman (Bischof in Britannien) 216 Crescentius (Patrizier der Römer) 271 Curtius Rufus 432, 436 Cyprian, Pseudo- 217–219, 241, 248 Cyprian von Karthago 132 Dagobert (König der Franken) 201f. Daniel (Prophet) 63 Daniel von Wichterich 259f., 670 Dante Alighieri 106, 177, 323, 469, 569, 630–641, 648, 723 Darius I. (König der Perser) 304 David (König der Juden) 60f., 167, 219, 257f., 346, 530 David I. (König von Schottland) 400 Desiderius (König der Langobarden) 230 Desiderius von Cahors 201f. Diogenet (frühchristlicher Briefadressat) 136f. Diokletian (römischer Kaiser) 142 Dionysius (Tyrann von Syracus) 112f. Dionysius Areopagita, Pseudo- 91, 185– 193, 328, 527, 533, 543, 612 Donatus (römischer Grammatiker) 249 Drews, Wolfram 15 Duby, Georges 414f. Ebroin (fränkischer Hausmeier) 201 Eduard I. (König von England) 665 Egidius (Bischof von Reims) 197 Eickels, Klaus van 268, 347, 362 Einhard (Geschichtsschreiber) 220, 223, 226–229 Ekkehard von Aura 266 Eleonore von Aquitanien (Königin von England) 305 Elias (Prophet) 58, 165, 252 Elias, Norbert 36, 76, 451, 732f., 736 Engelbert von Admont 454, 556, 619– 624, 626, 634 Epikur 104–107, 144

763 Epp, Verena 35 Erasmus von Rotterdam 77 Etienne Tempier 413 Eugen III. (Papst) 395f. Eusebius von Caesarea 140, 146–148, 152, 317, 321, 719 Eva (biblische Person) 150, 156f., 160 Ezechiel (Prophet) 50 Falco von Benevent 345 Federico Franconi 457 Ferdinand III. (König von Kastilien und Lejn) 689 Flavius Josephus 56, 316f. Foucault, Michel 726 Francesco Petrarca 569, 632 Fredegar (Geschichtsschreiber) 200f. Freud, Sigmund 714 Freudenberg, Bele 34 Friedman, Jean-Pierre 24 Friedrich I. (römisch-deutscher Kaiser) 228, 290f., 322, 351–362, 367, 377f., 434, 439, 448, 453, 721, 720 Friedrich II. (römisch-deutscher Kaiser) 68f., 364–387, 389, 434, 436, 663, 665, 721 Friedrich I. (Herzog von Schwaben) 290 Garc&a Gallo, Alfonso 694 Garnier, Claudia 35, 239 Gehlen, Arnold 23 Genet, Jean-Philipp 37f., 328 Geoffrey Gaimar 428 Geoffrey von Manmouth 408 Geoffroy Chaucer 469 Gerbert von Aurillac (=Papst Silvester II.) 261 Gerhoch von Reichersberg 312–315 Gervasius von Canterbury 440 Gervasius von Tilbury 339f., 448f. Giercke, Otto von 302 Gilli, Patrick 24 Giordano da Pisa 613 Giraldus Cambrensis 118, 123 534–536 Goetz, Hans-Werner 31, 40f., 448 Görich, Knut 354

764 Goswin (Geschichtsschreiber) 265 Gottfried (Herzog von Lothringen) 295f. Gottfried (normannischer Anführer) 228 Gottfried von Fontaines 618f., 623 Gottfried von Plantagenet 332 Gottfried von Straßburg 415f. Gottfried von Viterbo 265, 322f., 434 Gottschalk (Bischof von Freising) 275 Gratian (Jurist) 301, 318–320, 604 Gregor I. der Große (Papst) 49, 53, 58, 64, 66, 177–185f., 212, 315, 319, 374, 538, 718f., 722 Gregor V. (Papst) 271 Gregor VII. (Papst) 55, 278, 298–303, 334, 349, 452, 721 Gregor IX. (Papst) 58, 371f., 389 Gregor X. (Papst) 387 Gregor von Nazianz 179 Gregor von Tours 68, 195–203, 214 GueniviHvre (legendäre britische Königin) 414 Guibert von Nogent 288, 404, 342 Guibert von Tournai 527, 542–546, 552, 556 Guicciardini, Franceso 591f. Guido Vernani 591f. Guillaume de Lorris 421–425 Guillaume de Pouille 341 Gunibald (König der Burgunder) 172 Gunthram (König der Franken) 197 Gunzelin (Markgraf von Meißen) 275 Hadrian II. (Papst) 239 Halbwachs, Maurice 43 Hanayan ibn Shaq 689 Hartmann von Aue 434 Haug, Walter 419 Heinrich I. (römisch-deutscher König) 262, 269f., 272 Heinrich II. (römisch-deutscher Kaiser) 271–273 Heinrich III. (römisch-deutscher Kaiser) 331, 348f. Heinrich IV. (römisch-deutscher Kaiser) 55, 68, 290, 299f., 302–304, 331, 349–351

Personenregister

Heinrich V. (römisch-deutscher Kaiser) 334 Heinrich VI. (römisch-deutscher Kaiser) 345, 352, 373, 385, 411 Heinrich (VII.) (römisch-deutscher König) 370, 379 Heinrich VII. (römisch-deutscher Kaiser) 387, 614, 633, 635, 666–668 Heinrich I. (König von England) 346f. Heinrich II. (König von England) 108, 306–308, 332, 439f., 469, 471, 536 Heinrich III. (König von England) 388 Heinrich von Gent 453f., 615–618, 623 Heinrich von Rimini 123, 524, 589 Heinrich von Schweinfurth (Graf) 275 Helinand von Froidmont 552, 667 Henricus de Segusio (= Henricus Hostiensis) 320, 604 Hermann II. (Herzog von Schwaben) 272f. Hermann (Pfalzgraf am Rhein) 362 Hermann (Bischof von Metz) 300f. Hermann von Schildesche 542 Hermannus Alemannus 93 Herodes (König der Juden) 68, 198, 530, 576 Herodes Antipas (König der Juden) 68 Heusch, Carlos 700 Hieronymus (Kirchenvater) 47, 56, 58, 317 Hilduin von Saint-Denis 185f. Hinkmar von Reims 76, 169, 250–255 Hobbes, Thomas 17 Höffe, Otfried 18 Homann, Eckard 550 Honorius I. (römischer Kaiser) 301 Honorius Augustudonensis 186, 278 Horaz 120f. Hugo I. Capet (König von Frankreich) 328 Hugo III. (König von Zypern) 516 Hugo von Digne 678 Hugo von Flavigny 333–336 Hugo von Fleury 277 Hugo von Saint-Cher 54, 478

Personenregister

Hugo von Saint-Victor 58, 186f., 305, 311f., 402, 447, 697 Humbert von Silva Candida 296f. Hunald (Rebell gegen Kaiser Ludwig den Frommen) 234 Illouz, Eva 28 Imbach, Ruedi 512 Innozenz II. (Papst) 395 Innozenz III. (Papst) 376, 383, 388 Innozenz IV. (Papst) 68, 373 Irenaeus von Lyon 141f. Isaias (Prophet) 62, 259 Isidor von Sevilla 56f., 204–210, 215, 217, 245, 248, 255, 296, 318 Ivo Chartres 338f. Jaeger, Stephen 35, 441, 447 Jakob (biblische Person des Alten Testaments) 64 Jakob I. (König von Aragjn) 455f., Jakob II. (König von Aragjn) 457 Jakob I. (König von England) 55 Jakob von Romain 715 Jakob Twinger von Königshofen 266 Jakob von Viterbo 522, 548 Jakobson, Roman 715 Jean d’Antioche 449 Jean Golein 469 Jean de Joinville 677f. Jean de Meung 421–425 Jean Quidort de Paris 522–524, 648 Jean de Vignay 449 Jeremias (Prophet) 376, 379 Joachim von Fiore 315f., 533 Johann I. (König von Kastilien) 707 Johann (König von Böhmen) 670 Johann von Sevilla 462 Johann von Viktring 667 Johann von Winterthur 666 Johannes (Autor des Evangeliums) 71, 609, 611 Johannes (Autor der Johannesbriefe) 80 Johannes der Täufer (biblische Person) 68 Johannes XXII. (Papst) 640, 647, 649

765 Johannes II. (oströmischer Kaiser) 438 Johannes Buridan 659, 662 Johannes Cassian 117 Johannes Duns Scotus 191, 325, 533, 543, 559, 565, 571, 584, 593–607, 610, 615f., 618, 649, 724, 729, 737 Johannes Eriugena 186f., 527 Johannes Rothe 324 Johannes von Rupella 56 Johannes von Salisbury 92, 106, 118, 123, 176, 305f., 322, 325, 333, 450–452, 467– 479, 536, 723, 738 Johannes Sarracenus 527 Johannes Teutonicus 320 Jonas von Orl8ans 244–247, 249f., 255 Jonathan (König der Juden) 62 Juan Manuel 704–706 Judith (biblische Person) 62f. Julian (römischer Kaiser) 106 Julian von Aeclanum 157 Julius Caesar 107, 119 Jussen, Bernhard 37 Justin (christlicher Martyrer) 138 Justinian I. (oströmischer Kaiser) 127, 341 Kain (biblische Person) 160 Kantorowicz, Ernst 384, 608, 714 Karl I. der Große 220f., 223–231, 233f., 235, 241, 243, 257, 262, 301, 437 Karl I. der Kahle (westfränkischer König) 229, 231, 230, 237f., 240, 244f., 250f., Karl III. der Dicke (ostfränkischer König, Kaiser) 228, 241 Karl III. (westfränkischer König) 269 Karl IV. (römisch-deutscher Kaiser) 260, 387, 459f., 669f. Karl IV. (König von Frankreich) 682 Karl V. (König von Frankreich) 104, 458f., 469, 656 Karl VI. (König von Frankreich) 459, 684f. Karl VIII. (König von Frankreich) 685f. Karl I. (von Anjou) (König von Sizilien) 368, 375, 386, 630, 687

766 Karl II. (von Anjou) (König von Sizilien) 375, 457 Karl (Herzog von Nieder-Lothringien) 262 Karolus de Tocco 128 Kaster, Robert 32 Kloos, Robert 369 Knut der Große (König von Dänemark, Norwegen und England) 308 Kolumban (irischer Mönch und Abt) 219 Konrad II. (römisch-deutscher Kaiser) 274f. Konrad III. (römisch-deutscher König) 438 Konrad IV. (römisch-deutscher König) 369, 380, 386 Konrad von Megenberg 660–662 Konstantin I. der Große (Römischer Kaiser) 70, 126, 131, 142, 145–148, 162, 301 Konstanze (Königin von Sizilien) 346 Konstanze (Herzogin der Bretagne) 439 Koselleck, Reinhart 11, 22 Krieg, Heinz 35, 337, 359 Kubach, Theo 549 Kyros I. (persischer König) 62 Ladislaus I. (König von Ungarn) 267 Ladislaus IV. (König von Ungarn) 665 Lähnemann, Ulrike 63 Laktanz (christlicher Theologe) 142–144, 208 Lambertini, Roberto 567 Lampert von Hersfeld 304 Lanfranc (Erzbischof von Canterbury) 299 Le Goff, Jacques 15 Le Jan, R8gine 35, 204 Lenoir, Remi 38 Leo I. (Papst) 264f., 376 Leo III. (Papst) 225 Leo IX. (Papst, = Bruno von Toul) 296 Leo von Vercelli 271 Leonardo Bruni 522 Lifton, Robert Jay 24, 737 Ljpez de Ayala, Pedro 707

Personenregister

Lorenzo Valla 105 Lothar I. (König der Franken, römischer Kaiser) 236–238, 240 Lothar II. (König der Franken) 240, 248 Lucas de Tuy 348 Lucretius, Titus 105f. Ludwig der Fromme (König der Franken, römischer Kaiser) 77, 231–237, 241– 243, 245, 301 Ludwig der Deutsche (ostfränkischer König) 237–240 Ludwig der Stammler (westfränkischer König) 250 Ludwig IV. der Bayer (römisch-deutscher Kaiser) 640, 647f., 667–669 Ludwig VI. (König von Frankreich) 330, 335 Ludwig VII. (König von Frankreich) 290, 399, 439 Ludwig VIII. (König von Frankreich) 674 Ludwig IX. (König von Frankreich) 371, 387, 450, 482, 536f., 542, 675–680, 682, 687, 726 Ludwig XI. (König von Frankreich) 685f. Ludwig I. der Große (König von Ungarn) 672 Ludwig I. (Markgraf von Brandenburg) 667 Ludwig II. (Landgraf von Thüringen) 377 Luhmann, Niklaus 28, 486 Luitprand (König der Langobarden) 299 Luitprand von Cremona 264 Lukas (Evangelist) 74, 76, 169 Lupold von Bebenberg 670 Lutz, Eckart Conrad 447 Machiavelli, Niccolk 10, 582, 591–593 Macrobius 107 Manegold von Lautenbach 302 Manesse (Erzbischof von Reims) 299 Manfred (König von Sizilien) 368 Manselli, Raoul 455 Manuel II. (oströmischer Kaiser) 438 Marc Aurel (römischer Kaiser) 125f. Marcelus, Claudius 111

Personenregister

Margarethe (Gattin von Ludwig IX., König von Frankreich) 547 Margarethe (Herzogin von Brabant) 59, 503 Markus (Evangelist) 75 Marsilius von Padua 522, 640, 648, 654– 657, 725, 730 Martin, Georges 696 Marx, Karl 42 Mathaeus Parisiensis 314f., 372f. Mathäus (Evangelist) 75f. Mathilde von Tuscien 295 Mauritius (oströmischer Kaiser) 178 Maximilian I. (römisch-deutscher Kaiser) 324 Meinwerk von Paderborn 272 Melchisedek (biblische Person) 147, 214 Menenius Agrippa 88 Methodius, Pseudo- 318 Miethke, Jürgen 447, 645, 648, 650 Mohammed 288f. Moln#r, P8ter 388 Moses (biblische Person) 58, 64, 218, 257 Nagy, Piroska 36 Nebukadnezar (biblische Person, König von Babylon) 63, 576 Nero (römischer Kaiser) 68, 198, 323 Nicolas Oresme 458, 656–659, 662 Nietsche, Friedrich 11 Nikolaus II. (Papst) 341 Nikolaus von Bari 369 Nikolaus von Butrinto 668 Nimrod (biblische Person, König) 56f., 207, 316–325, 477f., 540, 576, 604f., 717 Ninus (biblische Person, König) 321f. Nithard (Geschichtsschreiber) 231, 237f. Notker der Stammler 229 Noah (biblische Person) 180 Ordericus Vitalis 346 Origines (Kirchenvater) 66, 140 Oschema, Klaus 35 Osea (Prophet) 57 Osterberg, Eva 35 Oswin (angelsächsischer König) 216

767 Otto I. (römisch-deutscher Kaiser) 262f., 272 Otto III. (römisch-deutscher Kaiser) 261, 270f., 350 Otto IV. (römisch-deutscher Kaiser) 339, 383, 448f. Otto (Herzog von Sachsen-Braunschweig) 380 Otto von Freising 68, 266, 321f., 343, 352–363, 439, 448–358 Otto von Morna 356 Otto von Sankt Blasien 352 Ottokar II. (König von Böhmen) 665 Ovid 120–174 Parsons, Talcott 22, 737 Paschalis III. (Gegenpapst) 228 Paulinus (frühchristlicher Geschichtsschreiber) 149 Patzold, Steffen 10 Paulus (Apostel) 72, 74f., 77, 79, 89, 141, 161, 246, 504 Paulus Diaconus 229, 236, 294 Paulus von Nola 71 Payre, Renaud 35 Pedro de Barcelos 709 Pedro Ljpez de Ayala 707 Peter III. (König von Aragjn) 457 Peter I. (König von Zypern) 684 Peter von Auvergne 100, 103, 493, 572, 581–593, 616, 619, 650, 716, 724, 730 Peter von Blois 305–307 Petrarca, Francesco 569, 632 Petrus (Apostel) 73, 233, 246, 376 Petrus Abelard 123, 395 Petrus Comestor 49, 53–55, 68, 314f., 321f., 604 Petrus Damiani 53, 59, 294–296, 302 Petrus de Ebulo 345, 373 Petrus Johannis Olivi 30, 191f., 575, 597 Petrus Lombardus 55, 78, 187, 405f., 497 Petrus Venerabilis 288, 330, 393 Philipp I. (König von Frankreich) 298 Philipp II. August (König von Frankreich) 435, 440

768

Personenregister

Philipp III. (König von Frankreich) 536, 679f. Philipp IV. (König von Frankreich) 522, 552, 577, 675, 780 Philipp V. (König von Frankreich) 683 Philipp von Tripoli 462 Philippe de M8ziHres 659, 684 Philo von Alexandria 52, 56, 317 Phokas I. (oströmischer Kaiser) 178 Pierre d’Aubernum de Fetcham 464 Pierre Choinet 685f. Pietro da Vigna 373, 386 Pippin I. (König der Franken) 256 Pippin (Sohn von Karl dem Großen) 236 Plinius d. J. 124, 718 Platon 78, 84–92, 332f., 346, 402, 469, 473, 494, 508, 564f., 606 Plutarch 120f. Poggio Bracciolino 105 Pompeius (römischer Politiker) 304 Porrus (indischer König) 433 Praiectus von Clermont 281 Primat von Saint-Denis 676 Prinz, Friedrich 198 Prudentius von Troyes 237 Ptolomaeus von Lucca 520–522, 608 Quilichinus von Spoleto

434

Rabanus Maurus 48, 53, 59, 67 Radegundis (Witwe von König Chlotar I.) 214 Radulf Glaber 284f. Rahewin (Geschichtsschreiber) 352 Raimund Lull 695, 704 Rainald von Dassel 356 Reddy, William M. 36 Regino von Prüm 227, 231 Rekkared I. (König der Westgoten) 209, 256 Remigio dei Girolami 607–615, 724, 737 Remigius (Bischof von Reims) 211f., 217, 241, 263 Reynolds, Susan 270 Richard I. (Löwenherz) (König von England) 440

Richard von Saint-Victor 39, 402–404 Richard von San Germano 373 Richter, Vladimir 594 Robert II. (König von Frankreich) 328 Robert I. (der Weise) (König von SizilienNeapel) 375, 457 Robert von Blois 429 Robert Grosseteste 93, 102, 491, 527 Robert Guiscard (normannischer Herrscher in Süditalien und Sizilien) 341f. Robert Sainceriax 674 Robin, Corey 35 Roboam (biblische Person, Sohn von König Salomon) 530 Roger I. (Normannenherscher in Sizilien) 342f. Roger II. (König von Sizilien) 342–345, 366, 373 Roger Bacon 462, 464 Roger Howden 440 Romuald von Salerno 344f., 351 Rosenwein, Barbara 33, 36 Rudolf I. (von Habsburg) (römischdeutscher König) 387, 664–667 Rudolf (Herzog von Zähringen) 303 Rudolf von Ems 436 Rudolf Glaber 276 Rufinus von Aquileia 147, 317 Rupert von Deutz 66, 68, 186, 309–312 Saladin (Sultan) 352 Salimbene da Parma 68, 373f.,. Salomon (König der Juden) 58, 60f., 257f., 530 Salvian von Marseille 171f. Samuel (Prophet) 50–55, 58f. Sancho IV. (König von Kastilien) 457, 706–708 Sarah (biblische Person) 166f. Saul (König der Juden) 51–56, 60, 303 Schaller, Martin 381 Scheibelreiter, Georg 195 Schmitz, Hermann 34 Schneidmüller, Bernd 269 Schnell, Rüdiger 32 Schubert, Ernst 377

769

Personenregister

Sedulius Scottus 248–250 Seneca., L. Annaeus 106, 120–125, 323, 535, 718 SHre, B8n8dicte 35 Shakespeare, William 55 Siccard von Cremona 452 Sigebert I. (König der Franken) 214f. Sigebert (König der ripuarischen Franken) 199 Sigebert von Gembloux 283 Sigwin (Erzbischof von Köln) 285 Silvester II. (Papst) 261 Simon K8zai 267 Smagghe, Laurent 35 Smaragd von Saint-Mihiel 243–246, 255 Socrates 85, 402 Stearns, Carol 27 Stearns, Peter 27 Stephan II. (Papst) 256f. Stephan I. von Blois (König von England) 347, 400 Stürner, Wolfgang 316 Sueton (römischer Geschichtsschreiber) 226 Suger von Saint-Denis 335f. Syagrius (Provinzstatthalter in Gallien) 196 Synesios von Kyrene 119 Talcott, Parson 22f. Tertullian (antiker Theologe) 139–141 Thegan (Geschichtsschreiber) 77, 233f. Theoderich der Große (König der Ostgoten) 90, 172, 174 Theodosius I. (römischer Kaiser) 149, 162, 301 Theodosius II. (römischer Kaiser) 131, 133 170 Theodulf von Orl8ans 229 Theudebald I. (König der Franken) 199 Theudebert I. (König der Franken) 200f. Thietmar von Merseburg 262f. 270–272, 275, 277 Thomas d’Angleterre 416 Thomas von Aquin 30, 54, 59, 79, 100– 103, 189f., 388, 453f., 488, 493, 502–524,

536f., 547f., 564f., 572f., 582, 584, 596, 600, 606–608, 616, 641, 644, 650, 657, 697, 724, 730 Thomas Beckett 469f. Thomas Morus 106 Tiberius (römischer Kaiser) 124 Titus Livius 88 Trajan (römischer Kaiser) 124 Ugo Falcando 343 Ulrich von Zell 348 Urban II. (Papst) 287f. Urban III. (Papst) 362 Ursmar (Heiliger in Flandern) Usija (biblische Person) 61

283

Valentinian II. (römischer Kaiser) 151 Valla, Lorenzo 105f. Venantius Fortunatus 195, 197f., 214f. Verecundus (Freund von Augustinus) 154 Vergil 91, 120f. Vincenz von Beauvais 49, 436f., 469, 536–540, 542, 546, 552, 556, 573 Vincenz von Cartenna 165 Walafried Strabo 49, 58 Waldenfels, Bernhard 95 Walter von Ch.tillon 535 Walter Map 307f., 347, 451 Walter von Mortagne 405 Walter von der Vogelweide 434 Waltrada (Konkubine von Kaiser Lothar I.) 238 Wamba (König der Westgoten) 256 Weber, Max 19, 23, 711 Weinfurter, Stefan 269 White, Stephen D. 33 Wibald von Stablo 361 Widukind von Corvey 262f. Wilhelm I. (König von England) 346 Wilhelm II. (König von England) 346 Wilhelm I. (König von Sizilien) 345 Wilhelm I. (König von Sizilien) 449 Wilhelm V. (Herzog von Aquitanien) 284, 289

770 Wilhelm von Auvergne 30, 80, 188f., 482–484 Wilhelm von Auxerre 187f., 406f. Wilhelm von Champagne 435 Wilhelm von Conches 90, 107, 176, 332f., 339, 469, 697 Wilhelm d. Ä. Durandus 259 Wilhelm von Malmesbury 342, 346 Wilhelm von Moerbeke 91, 93, 487, 491, 506, 550, 587, 589 Wilhelm von Ockham 54, 493, 647–65, 725, 730

Personenregister

Wilhelm Peraldus 454, 541f., 552, 584, 608 Wilhelm von Saint-Thierry 66, 393–396 Wilhelm von Tyrus 288 William of Malmesbury 342, 346 Wipo (Autor der Vita von Kaiser Konrad II.) 274 Wirnt von Grafenberg 430f. Wolfram von Eschenbach 415 Xerxes (König der Perser)

304