Sei also ohne Sorge, Liebling: Briefe über Liebe und Schrecken im Dritten Reich [1 ed.] 9783666315459, 9783525315453

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Sei also ohne Sorge, Liebling: Briefe über Liebe und Schrecken im Dritten Reich [1 ed.]
 9783666315459, 9783525315453

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Peter Matheson Heinke Sommer-Matheson

Sei also ohne Sorge, Briefe über Liebe und Schrecken Liebling im Dritten Reich

Peter Matheson / Heinke Sommer-Matheson

Sei also ohne Sorge, Liebling Briefe über Liebe und Schrecken im Dritten Reich

Vandenhoeck & Ruprecht

Copyright © 2019 Peter Matheson and Heinke Sommer-Matheson, of the English original version by Peter Matheson and Heinke Sommer-Matheson. This edition licensed by special permission of Wipf and Stock Publishers. www.wipfandstock.com Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2021 Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Lilo, Heinke und Ernst Sommer (1941). Foto aus Familienbesitz. Externes Lektorat: Constanze Lehmann, Berlin Satz: textformart, Göttingen | www.text-form-art.de Umschlaggestaltung: SchwabScantechnik, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-666-31545-9

Für Gesine, Catriona und Donald.

Inhalt 9

Vorwort

13

Danksagung

15

Chronologie

17

Liebesbriefe im Krieg (1935–1942)

27

Kindheit, Jugend, Ehe

53

Falscher Frieden

73

Warum Hitler? Warum Nationalsozialismus?

93

Fotos

109

Russland

145

Die letzten Tage

167

Die Bedeutung der Briefe

179

Schlusswort

183

Nachwort. Eine Pilgerfahrt

189

Anmerkungen

197

Quellen und Literatur

Vorwort Es ist ein ungewöhnliches Buch, dass die Lehrerin Heinke Sommer-­ Matheson gemeinsam mit ihrem Ehemann, dem Kirchenhistoriker Peter Matheson 2019 zunächst in englischer Sprache veröffentlicht hat und das nun glücklicherweise auch in deutscher Sprache vorliegt. Es handelt sich um den kommentierten Briefwechsel der Eltern von Heinke Sommer-­ Matheson, Ernst Sommer und seiner Frau Lilo (geb. Struck). Zwischen dem Jahr ihres Kennenlernens, 1935 und dem Tod von Ernst Sommer im russischen Dorf Borki am 11. Februar 1942 hatte sich das Paar 1.026 Briefe und Postkarten geschrieben, die Lilo Sommer zeitlebens in einer Holzkiste aufbewahrte. Heinke Sommer-Matheson hat die in Sütterlin-Schrift verfassten Briefe ihrer Eltern jahrelang transkribiert. Für die Publikation haben sie und ihr Ehemann die Briefe ausgewählt und mit Fotos und Tagebucheinträgen ergänzt. Die Briefauszüge und ihre Analyse eröffnen zwei wichtige Perspek­ tiven in die subjektive Dimension der Gesellschaftsgeschichte des »Dritten Reichs«. Sie zeigen zum einen die Wahrnehmungen des NS-Regimes durch ein junges Paar aus der Mittelschicht, das sich in hohem Maße mit dem Nationalsozialismus identifizierte. Zum anderen dokumentieren sie den schwierigen Umgang mit den Kriegsereignissen und vor allem mit der kriegsbedingten jahrelangen Trennung. Die Briefe, die zumeist Liebesbriefe sind, vermitteln intensive Einblicke in die persönliche Beziehung von Lilo und Ernst Sommer, sie verweisen aber auch auf das Alltagsleben in der Zeit des Zweiten Weltkriegs an der »Heimatfront« ebenso wie auf die Erfahrungen und inneren Rechtfertigungen von Wehrmachtssoldaten. Insofern leistet der Band einen wichtigen Beitrag zu einer Geschichte des Privaten im Nationalsozialismus, wie sie in den letzten Jahren vor allem am Institut für Zeitgeschichte, München erarbeitet wurde. Es waren eine ähnliche Herkunft, geprägt durch eine protestantische Erziehung, und die Begeisterung für die nationalsozialistische Jugendbewegung, die das Paar zusammenbrachte. Der Nationalsozialismus, der Glaube daran, an dem Auf‌bau eines »neuen Reichs« mitwirken zu können und in einer »großen Zeit« zu leben, waren für Lilo und Ernst Sommer gleichermaßen attraktiv. Der Nationalsozialismus schien die Möglichkeit zu bieten, der dörflichen Enge in Mecklenburg-Vorpommern bzw. SchleswigHolstein zu entkommen und neue Handlungsspielräume zu erhalten. Lilo wurde Führerin im »Landjahr«, Ernst unternahm als HJ-Führer zahlreiche Auslandsreisen mit seiner Jugendgruppe und trat 1936 der SA bei. Das ErleVorwort

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ben der Gemeinschaft war bei beiden mit der Erfahrung der Selbstbedeutungssteigerung verbunden. Gemeinsam wollten sie Teil sein einer geistig überhöhten Zukunft unter Adolf Hitler, dessen Führermythos von beiden zu keinem Zeitpunkt in Frage gestellt, sondern im Gegenteil eng mit dem christlichen Glauben verwoben wurde. Der kommunikative Austausch über das Medium der Briefe war für das junge Paar von Anfang an wichtig. Erst am 11. März 1938, einen »Tag vor dem Anschluss Österreichs« durften die Beiden heiraten, bis dahin hatte dies Ernsts Mutter verhindert. Nur ein Jahr, bis zur Einberufung von Ernst im Juli 1939 lebte das Paar zusammen im schleswig-holsteinischen Wrohm, wo Ernst eine Stelle als Volkschullehrer antrat. Davor und vor allem danach waren sie oft lange Zeit getrennt. Besonders wichtig wurde das Briefeschreiben für Lilo und Ernst Sommer im Zweiten Weltkrieg, um Nähe zu bewahren und eine trennungsbedingte Entfremdung abzuwenden, um sich ihrer Liebe zu vergewissern und um die Korrespondenz nach dem Krieg gemeinsam lesen zu können, so die gemeinsame Hoffnung. Dabei verweisen die Briefe und Karten, die sich die beiden nun nahezu jeden zweiten Tag schrieben, von Heinke Sommer-Matheson und Peter Matheson sorgfältig herausgearbeitet, auch auf die sehr unterschied­liche Wahrnehmung des Zweiten Weltkriegs von Lilo und Ernst. Für Ernst hatte das Leben als Soldat zunächst eher abenteuerhafte Züge. Zunächst in Potsdam, dann in Pornic (Frankreich) und Graudenz (Polen) stationiert, wartete er auf seine Bewährung an der »Front« und schilderte seinen Einsatz mitunter fast als Ferienaufenthalt. Als er ab 1941 am deutschen Angriff auf die Sowjetunion teilnahm, blieb es bei heiteren Beschreibungen bzw. geradezu liturgischen Umschreibungen der Bedeutung des Krieges für den »Auf‌bau des neuen Reichs«. Seine junge Frau Lilo hingegen beurteilte den Krieg von Anfang an skeptisch, verbunden mit großer Angst um das Leben ihres Mannes. Die 1939 und 1940 geborenen Kinder Heinke und ­Hartmut zog sie allein auf, litt unter Erschöpfung und Einsamkeit und filterte immer wieder Nachrichten von der Front und Berichte von anderen Soldatenfrauen auf die reale Situation an der Front hin. Dabei stellte sie immer wieder die Frage nach dem Sinn des Krieges, der die Menschen wenn nicht tot, so doch körperlich und psychisch verletzt zurücklassen würde. Die Hoffnung ihres Mannes auf ein baldiges Ende des Krieges, sein optimistischer Blick auf die russischen Soldaten, die froh waren, sich den überlegenen Deutschen ergeben zu dürfen, konnte sie kaum teilen. Je größere Sorgen sich Lilo machte, um so mehr meinte Ernst, sie trösten und beruhigen zu müssen, was fast zum Zerwürfnis führte. Nur in wenigen Briefen benannte Ernst die Kriegsgräuel, die er erlebte, offen. Während Ernst sich in ständiger Aufregung, Bewährung und Bewegung befand, bedeutete für Lilo der Krieg Stillstand, Einsamkeit und vor allem Angst um ihren Mann und vor den Luftangriffen. 10

Vorwort

Im Sommer 1941 flüchtete sie mit ihren Kindern nach einem Bombenangriff in ihren Heimatort ­Spantekow. Am 11. Februar 1942 fiel Ernst, den Lilo ein Jahr zuvor das letzte Mal gesehen hatte. In der Traueranzeige schrieb Lilo, dass ihr Ehemann »im schwersten Kampf gegen den Bolschewismus sein Leben für Familie, Führer und Vaterland mit dem Heldentode krönte«. Trotz ihrer pessimistischen Sicht auf den Krieg, die Lilo in ihren Briefen offen äußerte, stellte sie wie Ernst zu keinem Zeitpunkt das NS-Regime in Frage. Weder der Holocaust noch die Begegnung mit KZ-Insassen geschweige denn die mögliche Beteiligung von Ernst Sommer an Verbrechen der Wehrmacht spielen in den Briefen eine Rolle, wie Heinke Sommer-Matheson und Peter Matheson herausarbeiten. Das Buch ist aber nicht nur bedeutend, weil es den Wahrnehmungs-, Erwartungs- und Erfahrungshorizont von »ganz normalen« Deutschen beispielhaft erfasst. Bemerkenswert ist auch die kriegsbedingte Vater­losigkeit als Signatur des 20. Jahrhunderts, die subkutan mitläuft. Von der Erfahrung der kriegsbedingten Vaterlosigkeit waren alle der an den beiden Weltkriegen beteiligten Länder und ihre Gesellschaften, die hinterbliebenen Jungen und Mädchen sowie ihre Mütter betroffen. Ernst Sommer hatte seinen Vater August Sommer 1916 als Soldat im Ersten Weltkrieg verloren. Doch als junger Erwachsener sah auch er seine Bestimmung darin, sich im Krieg zu »bewähren«. Er selbst wiederum hinterließ mit Heinke und Hartmut Sommer zwei vaterlose »Kriegskinder«, die mit einem toten Vater aufwuchsen, der von der Mutter als »Lichtgestalt« dargestellt wurde, wie dies in Millionen Familien der Fall war. Seit den 2000er Jahren wurde der »Generation der Kriegskinder« sowohl in der geschichtswissenschaftlichen Forschung als auch im erinnerungskulturellen Diskurs Aufmerksamkeit geschenkt. Lebensgeschichtlich befanden sich insbesondere westdeutsche »Kriegskinder« zu diesem Zeitpunkt in einer biografischen Phase, in der sie ihr Leben bilanzierten und sich dabei auch und gerade mit dem Thema der Vaterlosigkeit auseinandersetzten. Heinke Sommer-Matheson reiste mit ihrem Bruder im Jahr 2001 nach Staraja Russa und Borki, wo ihr Vater verstorben war. Der Schluss des Buches enthält eine eindrucksvolle Beschreibung dieser Orte, die durch die Gespräche mit den dort lebenden Menschen zu einem »Platz der Freundschaft« wurden. Der Tod der Mutter führte ähnlich wie bei Heinke Sommer-Matheson bei vielen Betroffenen dazu, sich intensiv mit dem Nachlass der Mutter zu beschäftigen. Das Wissen um die Lebensgeschichte der Eltern wurde dabei vielfach erweitert bzw. modifiziert. Insofern stellt die Arbeit von Heinke Sommer-Matheson und Peter Matheson auch einen Beitrag zu einer Erinnerungskultur dar, die die Folgen der Teilhabe an Gewalt und Diktatur in Familienbiografien explizit thematisiert. Lu Seegers, Bückeburg und Hamburg, Juni 2021 Vorwort

11

Danksagung Viele Menschen standen uns zur Seite beim Entstehen dieses Buches und wir schulden ihnen mehr als wir ausdrücken können: Freunde und Freundinnen, Berater und Ermutiger, Computerexperten, Bibliothekare und Archivare. Ohne sie wäre das Buch nie erschienen. Es wäre unmöglich, alle zu nennen, aber ganz unvergesslich war die Unterstützung von Heather C ­ ameron, Kevin Clements, Lindsay Matheson, Andrew Schuller, Brett Knowles, John Miller, Will Storrar, Ernst-Otto und Elke Bech, ­Susanne ­Greiter. Bei der Übersetzung des Buches ins Deutsche war der weise Rat von Professor emeritus Jochen Hoffmann unentbehrlich. Dank geht zudem an den Verlag Vandenhoeck und Ruprecht. Es war eine echte Freude, Ihre professionelle und freundliche Mitarbeit zu erleben.

Danksagung

13

Chronologie 12. September 1912

Ernst Sommer in Wienboeken, Schleswig-Holstein, geboren

4. August 1913

Lilo Struck in Spantekow, Mecklenburg, Vorpommern geboren

1914−1918

Erster Weltkrieg

1916

Tod von August Sommer, Kriegsgefangener in Rumänien.

1920

Gründung der NSDAP

1929−1938

Weltwirtschaftskrise

30. Januar 1933

Hitler wird Reichskanzler Deutschlands

September 1935

Nürnberger Gesetze

31. Dezember 1935

Verlobung von Ernst Sommer und Lilo Struck

März 1936

Einmarsch deutscher Truppen ins Rheinland

September 1937

Ernst besteht das praktische Examen als Lehrer

11. März 1938

Ernst und Lilo heiraten, wohnen in Wrohm, Schleswig-Holstein

12. März 1938

Österreich ins Reich einverleibt

30. September 1938

Münchener Abkommen; Sudetenland annektiert

9. November 1938

»Reichskristallnacht«; Synagogen in Flammen

12. Februar 1939

Heinke geboren

März 1939

Einmarsch in die Tschechoslowakei

Juli 1939

Ernsts Einberufung

1. September 1939

Einmarsch in Polen; Kriegsbeginn

10− March 1940

Hartmut geboren

Mai−August 1940

Ernst in Potsdam, Offiziersausbildungs-Lager

10. Mai 1940

Einmarsch in die Niederlande und in Frankreich

Chronologie

15

23. August 1940

Nichtangriffspakt Deutschlands mit der Sowjet­ union

Dezember 1940

Ernst in Pornic, Bretagne, Frankreich

März−Mai 1941

Ernst in Graudenz / Grudziądz, Polen, und Tilsit, Ostpreußen

22. Juni 1941

Einmarsch deutscher Truppen in Russland

Juni 1941 – Februar 1942 Ernst an der Front in der Nähe von Staraja Russa

16

21. Juli 1941

Lilo flieht von Wrohm nach Pommern

15. Januar 1942

Tod von Hans Sommer, Bruder von Ernst

11. Februar 1942

Tod von Ernst in Borki, in der Nähe von Staraja Russa

13. Oktober 1943

Tod von Lilos Bruder Hans-Dieter Struck

März 1945

Lilo flieht mit den Kindern von Pommern nach Wrohm

September 2001

Heinke Sommer-Matheson und Hartmut Sommer reisen nach Borki und Staraja Russa

22. August 2005

Tod von Lilo

30. August 2005

Heinke entdeckt die Briefe ihrer Eltern

Chronologie

Liebesbriefe im Krieg (1935–1942) Es ist erschütternd, wie Tag für Tag nackte Gewalttat, Rechtsbruch, schrecklichste Heuchelei, barbarische Gesinnung ganz unverhüllt als Dekret hervortritt. Victor Klemperer. März 1933

Ohne die begeisterte Bejahung im Familienmilieu wäre der rasende Erfolg des Nationalsozialismus undenkbar. Wie kam es dazu? Was brachte normale, liebenswerte Menschen dazu, Hitler als Deutschlands Erlöser zu bejubeln, sich apokalyptische Visionen von Rache und Eroberung zu eigen zu machen, jegliche Nüchternheit, Vernunft und Moral aufzugeben? Die zufällige Entdeckung von fast tausend Briefen und Postkarten eines unauf‌fälligen jungen Paares, Liselotte (Lilo) und Ernst Sommer, wirft ein Licht auf diese Frage. In Sütterlinschrift geschrieben, wurden diese Briefe von ihrer Tochter Heinke, jetzt in Neuseeland lebend, transkribiert. Durch ihre Offenheit, menschliche Wärme und ›Unschuld‹ öffnen diese Briefe zwischen dem zwanzigjährigen Liebespaar ein Fenster in die Welt junger Menschen in Hitlers Deutschland. Ihre Bücher, Liedersammlungen und Fotos ergänzen das Bild. Man ahnt, was es hieß, in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg aufzuwachsen, beginnt auch zu begreifen, warum ein frommer, sensibler Mann wie Ernst Sommer sich mit solcher Begeisterung in die Hitlerjugend warf, danach in die SA, warum seine Verlobte Lilo Struck in den BDM eintrat, den Bund Deutscher Mädel, warum die harte Arbeit in dem »Jahr auf dem Land« ihnen so sinnvoll und lebenspendend erschien. Sie berichten ja von achtzehnstündigen Werktagen, Idealismus und Erschöpfung! Ernst Sommer und Lilo Struck, das junge Paar, dem wir in diesen Briefen begegnen, sind recht sympathische junge Menschen. Umso rätselhafter, dass und wie sie die dunklen Seiten des Nationalsozialismus ignorieren konnten: Gewalt‌tätigkeit, Antisemitismus, Kriegsvorbereitungen. Und warum lauschten sie dem Volksempfänger mit solcher Ergriffenheit, wenn Goebbels und Hitler ihre hetzerischen Reden schwangen? Aus diesen Briefen strömt die Luft einer uns gänzlich fremden Welt. Der Lebensrhythmus in den kleinen Dörfern in Schleswig-Holstein und Vorpommern hat mit unseren heutigen Lebensbedingungen fast nichts gemein. Es war ein einfaches Leben, in dem sich alles um die Jahreszeiten drehte: Frühling, Sommer, Herbst, Winter; Plumpsklo draußen, Kochen am Liebesbriefe im Krieg (1935–1942)

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Herd, Kohlen aus dem Keller holen, kein Supermarkt um die Ecke. Für die Hausfrau war die Arbeit nie fertig: Kleider flicken und waschen, Obst einmachen, Kinder pflegen, pflanzen und jäten im Garten. In der Küche keine elektrischen Geräte. Dorf‌leben hieß eigentlich Subsistenzwirtschaft. Autos waren unbekannt. Man ging zu Fuß oder bestieg das damals noch recht unhandliche Fahrrad. Manchmal radelte Ernst Sommer die ganze Nacht hindurch, um nach Hause zu kommen. Für längere Reisen standen nur Bus und Zug zur Verfügung. Mitten in dieses recht traditionelle Leben platzte der Nationalsozialismus, von vielen als befreiende Revolution erfahren. Aber mit der Bewegung kamen auch allerlei neue Erwartungen und Pflichten. Alle Medien  – Radio, Film, Zeitungen, Zeitschriften  – fielen unter die Kontrolle der Partei. Diese sogenannte Gleichschaltung umfasste ebenso Gewerkschaften, Jugendgruppen, Berufsverbände und alle bis dahin selbstständigen Organisationen. Nationalsozialismus bedeutete Gleichschaltung des Denkens, der Wahrheit. Lilo und Ernst hatten nie Kontakt mit liberalen oder sozialistischen Gruppen, geschweige denn mit ausländischen Kollegen oder Freunden. Abgesehenen von der Familie war die Kirche die einzige Quelle von Ideen und Werten. Ihr Idealismus und ihre Hoffnungen für die Zukunft stammen alle aus der nationalsozialistischen Bewegung. Einmal, als sie und ihre Landjahr-Mädchen am Rand der Straße warteten, stand Lilo direkt vor Hitler. »Es war ein kurzer, aber unvergesslicher Augenblick. Er sah ganz auf­merksam unsern Wimpel an und grüßte ihn. Bis in die Nacht haben wir noch genäht, und nun ist er so herrlich durch seinen Blick geehrt worden.«1 Hitler hatte diese intuitive, magnetische Fähigkeit, junge Menschen wie Lilo zu fangen. Für Ernst waren kulturelle und nationalsozialistische Werte nahtlos miteinander verbunden. Er schätzte klassische Musik, liebte Volkslieder und Märsche, kaufte sich von einem »Zigeuner«2 eine Geige und übte jeden Tag fleißig. Als junger Volksschullehrer liebte er die lokale und regionale Geschichte, und seine Schüler bemerkten schnell seine Leidenschaft für Wald, Felder und Flüsse. Mit der Hitlerjugend unternahm er viele Treffen, Lager, und Reisen, auch ins Ausland. Nach seiner Ausbildung in Pädagogik wollte er sein Denken weiterentwickeln, vertiefte sich in Psychologie und Geschichte, versuchte, den Sinn seines Lebens und die Sendung seiner Nation besser zu verstehen. Trotzdem hing er weiter an dem tiefen religiösen Glauben, den seine Mutter ihm vermittelt hatte, und erstrebte eine Synthese dieses Glaubens mit nationalsozialistischen Ideen. Eigentlich wollte er sich in seinem Dorf engagieren, war aber auch von den geopolitischen Strategien der Partei begeistert. Lilo als junge, sportliche Frau sang, turnte und tanzte gern. Hitlers »Neues Deutschland« bot ihrer Meinung nach allen Mädchen attraktive 18

Liebesbriefe im Krieg (1935–1942)

neue Möglichkeiten und ein gesundes, glückliches Leben. Sie verstand es als ihre Aufgabe, den jungen Mädchen unter ihrer Aufsicht zu helfen, ihre Begabungen zu entdecken und zu entwickeln, das Leben in Gemeinschaft zu genießen und ihren Beitrag zum Gemeinwohl zu leisten. Wie Ernst war Lilo von einer Welle von Idealismus getrieben. Mehr als siebzig Jahre später sollte ihre Tochter ihre Korrespondenz finden. Ihr Staunen über das widersprüchliche Zeugnis von Hoffnung und gebrochener Integrität, das diese Briefe ausdrückten, wollte niemals enden. Dies sind ihre Worte: »Meine Mutter starb 2005. Als ihrer Tochter oblag es mir, ihren Nachlass zu sortieren. Dabei fiel meine Aufmerksamkeit auf eine große Holzkiste auf dem Boden des Kleiderschranks. Die Existenz der Kiste war mir bekannt, was die Kiste enthielt, jedoch nicht. Als ich den Deckel zurückschob, fiel ich aus allen Wolken. Der Inhalt bestand aus einem Berg von Briefen. Bruder Hartmut wusste mehr als ich über die Existenz dieses Briefwechsels. Aber für ihn waren die Briefe zutiefst persönlich und privat. Diese Briefe, die von Liebe und Verlust und Gewissheit sprachen, gehörten einzig und allein unseren Eltern und waren nicht für die Augen anderer bestimmt. Ich selber war mir auch bewusst, dass ich in das Privatleben meiner Eltern eindrang und mich auf ethisch empfindlichem Boden bewegte. Wie dem auch sei, ich nahm sie mit nach Neuseeland – diese Sammlung von Briefen, eingequetscht in diese Holzkiste. Für eine geraume Zeit widmete ich mich nicht ihrem Inhalt, denn ich war mir nicht sicher, ob und wie ich mich ihnen nähern sollte. Die Briefe waren in Sütterlinschrift geschrieben und diese war mir völlig fremd. Einer der Briefe war jedoch von meiner Mutter mit der Schreibmaschine transkribiert. Es ging in diesem Brief um die Reaktion meines Vaters zum Beginn des Krieges 1939. »Es ist Krieg«, schrieb er. Auf Urlaub vom Militärtraining in Heide, nicht weit von dem Dorf in Schleswig-Holstein, in dem er als Lehrer tätig war, saß er bis spät in die Nacht an seinem Schreibtisch und gab seinen Gedanken und Gefühlen schriftlich Ausdruck. Es war mir klar, dass dieser Brief für meine Mutter eine besondere Bedeutung gehabt hatte. Ich wunderte mich warum, und für wessen Augen er bestimmt war. Dieser getippte, ominöse Brief öffnete mir den Weg. Ich wurde neugierig, was die Briefe betraf. Ich war tief bewegt von einem Besuch in Russland, dem Land, in dem mein Vater gefallen war. Der Kontakt mit einer holländischen Historikerin in St. Petersburg, die sich für die Reaktion der Kinder der deutschen Gefallenen interessierte, bahnte mir einen weiteren Weg. Ihr Interesse Liebesbriefe im Krieg (1935–1942)

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ließ mich erahnen, wie wenig ich von meinem Vater wusste. Diese Begegnung beschämte mich durch die Tatsache, dass ich, zum Beispiel, keine Kenntnis hatte von der Existenz des Westerbork Sammellagers, in dem die zusammengetriebenen holländischen Juden ihr grausames Schicksal erwarteten. Wie wenig, in der Tat nichts, wusste ich von der holländischen Arbeit der Versöhnung mit jüdischen Überlebenden des Dritten Reiches. Weitere Lektüre über die Gründe, die zum Zweiten Weltkrieg führten, über Antisemitismus und vor allem über meine Generation, also die Kinder und deren im Krieg gefallene Väter, brachten mich näher an die Zeit des Dritten Reiches. Ich war sehr von Ulla Hahns Roman Unscharfe Bilder beeindruckt. Das Buch spricht von dem Schweigen, den Missverständnissen zwischen meiner Generation und der meines Vaters. Ich widmete mich intensiv dem Inhalt der Liederbücher, hinterlassen aus der Nazizeit, und den noch existierenden Kinderbüchern aus der Kindheit der Eltern. Das Fotoalbum meiner Mutter gab mir einen Einblick in die Familiengeschichte, die zurückging bis zu den ernst aussehenden Urgroßeltern. Familienfeste wurden zum Leben erweckt, meine eigene Kindheit wurde lebendig, und das Leben meiner jungen, strahlend in die Kamera blickenden Mutter. Vor allem ließen die Fotos mich hineinblicken in das Leben meines Vaters: Ernst als Junge, als Student, dann als Lehrer, danach in der Uniform der Wehrmacht im grausam kalten russischen Winter. Schnappschüsse aus einer Wirklichkeit, die mir völlig fremd war. All dies rumorte in mir. Ich hatte die schwere Holzkiste den langen Weg nach Neuseeland mitgeschleppt. Sie stand dort in der Ecke und wurde zu einer Herausforderung. Die Briefe mussten gelesen werden, um meine Neugier zu befriedigen. Anfänglich war es ein schweres Unterfangen, diese zu entziffern. Ernst und Lilos Briefe mussten sortiert und dann chronologisch geordnet werden. Zu Beginn verging eine Stunde, bis ich einem Satz seinen Sinn entlockt hatte; viele Namen von Personen und Orten waren verschlüsselt. Die schräge Handschrift meines Vaters bereitete mir besondere Schwierigkeiten. Zu Beginn verbrachte ich Stunden über einzelnen Abschnitten, es gab zahlreiche inhaltliche Lücken – es war ein fragwürdiges Unterfangen. Immer wieder unterliefen mir Fehler – bei schwierigen Paragraphen war es ein einziges Rätselraten. Die Fragen häuften sich. Warum handelten meine Eltern in der Art und Weise, was motivierte sie zu gewissen Aussagen? Der Inhalt machte mich unruhig, seelische Aussagen wühlten mich auf, verstörten mich. Ich erinnere mich, dass ich mir sagte; Hör auf, lies nicht weiter, du gerätst beim Lesen in einen intimen, ganz privaten Bereich, den du nicht 20

Liebesbriefe im Krieg (1935–1942)

betreten solltest. Aber ich war gefangen, wie gebannt. Ich musste dahinterkommen, das Geheimnis lüften, das ihre Sorgen und Nöte betraf, ihren Einsatz für den Nationalsozialismus begreifen, und vor allem, wie es zu ihrer leidenschaftlichen Beziehung zueinander kam. Ich war zäh und wollte nicht die Flinte ins Korn werfen, wollte nicht aufgeben. Zunehmend begriff ich, wie Lilo von Ernst abhängig war, wie er sie formen konnte, geistig beleben und emotional unterstützen. Ich war als Kind Zeuge ihrer resoluten Loyalität gewesen, was die Erinnerung an ihren toten Ehegatten betraf. Jetzt endlich konnte ich meine mageren Kenntnisse mit Leben füllen. Meine Arbeit an den Briefen dehnte sich über Jahre aus. Sie wurde unterbrochen von Krankheit, namentlich Brustkrebs, und einem Wohnungswechsel, aber ich ließ nicht ab vom Transkribieren. Dazu galt es, eine ziemlich große Fotosammlung aus meiner Kindheit und der Kriegszeit auszusortieren. Ich widmete mich der »Pilgerschaft« nach Russland, wurde weiter animiert von meinem Vetter Ernst Otto Bech und seiner Frau Elke, die an ihrer Familienchronik arbeiteten und mir Briefe zusandten, von Ernsts Mutter und seiner Schwester Leni geschrieben. Die Überzeugung, dass die Beschäftigung mit den Briefen sinnvoll war, wurde stärker. Sie bot eine Gelegenheit zu einem detaillierten und echten Zugang in die Gefühlswelt und in das Leben und Denken meiner Eltern. Es genügte bei dieser Arbeit nicht, an der Oberfläche zu kratzen. Alles musste transkribiert werden, all diese Briefe und Postkarten, Spuren aus einer anderen Welt. Ich hatte als Dreijährige meinen Vater verloren, jetzt war auch meine Mutter gestorben – alles, was ich von ihnen besaß, lag in den Briefen vor mir. Es überraschte mich, eine Mutter zu entdecken, die ich nicht kannte, und ich gewann beim Lesen ein neues Bild von ihr: ihre feste Entschlossenheit, der langen Verlobungszeit mit Ernst ein Ende zu setzen; mit welcher Entschiedenheit sie sich bemühte, die Hindernisse aus dem Weg zu räumen, die Ernsts Familie der Heirat in den Weg stellte; mir unbekannt war auch ihr Hass gegen den Krieg. Ich fühlte in mir ein großes Mitleid. Mein Gott, wie hatte sie fast immer alleine und ohne Beistand anderer gelitten. Dickköpfig fuhr ich fort mit dem Transkribieren, wenngleich ich oft das Gefühl hatte, dass mir die Arbeit emotional und intellektuell über den Kopf zu wachsen drohte. Hinzu kam, dass es so viel meiner Zeit in Anspruch nahm. Sicherlich sah ich mich nie als Historikerin. Doch langsam verdichtete sich das Bild aus der Vergangenheit, vom Leben eines Lehrers und seiner Frau in dem Dörfchen Wrohm. Ich gewann einen Einblick in das Schulhaus und den Gemüsegarten, in das dörfliche Leben. Und ich sah Liebesbriefe im Krieg (1935–1942)

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mich als kleines Mädchen. Wer war ich? Wer war dieses Kind, das mich anschaute? Durch Ernsts ungewöhnlich detaillierte Fragen, die ständig aus Frankreich oder Russland kamen, füllte sich diese für mich verlorene Welt mit Leben. Ich sah, wie wissbegierig Ernst war, die Entwicklung seiner Tochter Heinke und seines kleinen Sohnes Hartmut aus der Ferne, bis in die kleinste Einzelheit, zu verfolgen. Ich begann teilzunehmen an den kleinen kindlichen Abenteuern, an allen Kinderkrankheiten bis hin zu den ständig wachsenden sprachlichen Errungenschaften. Durch diese Briefe konnte ich einen Einblick in diese verlorene Welt gewinnen. Vieles war mir neu. Ich wurde Zeugin der erstaunlich tiefen Liebe zwischen Lilo und Ernst. Diese zeigte sich an dem Reichtum der Briefe und vor allem in der Leidenschaft, die in den Briefen Ausdruck fand, bis hin zur praktischen Sorge füreinander. Ich war überrascht, von den intensiven Konflikten zu lesen, die ab und zu auftauchten. Vor allem lernte ich, innerlich erschüttert, viel über die Brutalität des Krieges und die sinnlose Verwüstung, die er mit sich brachte und die auch vor dieser kleinen Familie nicht haltmachte. Ich bin geneigt zu sagen, dass die Briefe mich näher zu Ernst als zu Lilo brachten. Durch die Kindheit hindurch war mir der Vater unbekannt geblieben, er blieb mit seinem Foto auf dem Klavier ein fernes Heiligenbild, eine Ikone. Beim Lesen der Briefe jedoch sah ich ihn als Ehemann, gefüllt mit inniger Liebe für seine Lilo, auf die er so stolz war. Ständig kreisten seine Gedanken um sie. Mit Geringschätzung sah er auf andere Offiziere, die ihren Ehefrauen untreu wurden. Es blieb nicht aus, dass die lange Trennung voneinander ihnen Schwierigkeiten bereitete. Zwar sorgte er sich um sie und bestand darauf, bei meiner Geburt anwesend zu sein. Ständig bot er Ratschläge über die kindliche Entwicklung, und die unvermeidlichen Trotzphasen erklärte er Lilo als ein natürliches Phänomen. Alles in allem hatte ich den Eindruck, dass er Tag und Nacht über mich und Hartmut nachdachte. Ich fühlte mich betrogen, dass ich  – selber Lehrerin – keine Gelegenheit gehabt hatte, mir eine Meinung zu bilden über die pädagogischen Fähigkeiten meines Vaters. Ohne Zweifel war er ein ausgezeichneter Lehrer mit seinen musikalischen Fähigkeiten, seiner Liebe zur Natur, zur Geschichte und Tradition, zum Märchenund Sagengut seines Heimatlandes Schleswig-Holstein. Es war mir jedoch unmöglich, ein Gespür zu bekommen für dieses »Neue Deutschland« und für Hitler als »Führer«. Ich empfand kein Verständnis für sein tiefempfundenes Pflichtgefühl, für seinen Patriotismus. All diese Dinge ließen mich kalt. Es lag mir auch fern, Ärger zu empfinden für diesen Soldatenvater, ihn als »Nazi« zu sehen. Mehr als Lilo empfand er Verantwortung für ein weiteres Feld als nur für seine Kar22

Liebesbriefe im Krieg (1935–1942)

riere und seine Familie. Über allem stand sein überwältigend tiefer Sinn für die Pflicht seinem Vaterland gegenüber. Die Briefe veranlassten mich, über meine eigene Identität nachzudenken. Was geschah mit mir in diesem Krieg, der mir den Vater raubte, der Krieg, der mir die innere Sicherheit nahm? Und immer wieder quälten mich Gewissensbisse, dass ich mich nicht mehr meiner Mutter gewidmet hatte, da ich jetzt, im Nachhinein, wusste, wie schwer der Krieg ihr mitgespielt hatte. Oft überwältigten mich die Briefe emotional. Das traf insbesondere für die letzten Briefe vor seinem Tod zu, um Weihnachten 1941 herum und zum Jahresbeginn. Am schwersten war es, Lilos letzte Briefe an Ernst zu lesen, Briefe an einen Ehemann, der bereits unter der Erde lag. Einen Monat lang ging ich den Briefen aus dem Weg. Die Einsamkeit meiner Mutter nachzuempfinden, war sehr schmerzhaft. Dazu kamen ihre Schlaflosigkeit und Verzweiflung. Meine emotionalen Kraft­ reserven reichten nicht aus, mich den Todesanzeigen in der Zeitung zu stellen, Anzeigen, die den Heldentod für das Vaterland verherrlichten. Hinzu kamen die Kondolenzbriefe von seinen ehemaligen Offizierskameraden, mit echter Anteilnahme geschrieben, aber qualvoll zu lesen. Das Transkribieren war eine Liebesarbeit, ich verbrachte tausend und mehr Stunden dabei mit dem Resultat, dass ich heute nicht nur besser informiert, sondern stolz auf beide Eltern bin. Sie waren entschlossen, mit Integrität und Zielstrebigkeit ihr Bestes für ihre Kinder zu tun. Sie waren normale Menschen in außergewöhnlichen Zeiten, auseinandergerissen durch den Krieg, betrogen von denen, die es hätten besser wissen müssen. Es war nicht leicht, die Tatsachen, die ich über das Dritte Reich aus den Briefen erfuhr, von den Tatsachen zu trennen, die mir in zahllosen Büchern und Filmen begegneten, von Berichten anderer Menschen, zum Beispiel von denen meiner jüdischen Freunde, und den Erlebnissen, die sich mir in Israel boten. Die Gesamtheit dieser Erlebnisse bestimmte mein Denken. Sie gewannen an Klarheit durch die Postkarten, Fotos und die Inhaltsbeschreibungen der Päckchen, die Ernst und Lilo sich schickten. Durch das Lesen der Briefe kannte ich die Gefühle der Sorge und Angst um ihre Kinder, als die Bomben auf ihr kleines Dorf regneten. Zuvor hatte ich nur eine vage Idee von dem Effekt, den die Bomben erzielten. Jetzt jedoch konnte ich mich von Frau zu Frau identifizieren mit dem, was meine Mutter empfunden hatte. Desgleichen vermittelten mir die Briefe ein Bild von dem nächtlichen Marschieren, dem Vorwärtsdrängen der deutschen Truppen zur russischen Grenze. Ich konnte die Kameradschaft zwischen Ernst und Liebesbriefe im Krieg (1935–1942)

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seinen Männern, als sie das Blockhaus im russischen Wald bauten, nachempfinden. Ich sah die Brüder Hans und Ernst vor mir während des unglaublichen Treffens in Ostpreußen auf dem Vormarsch zur Grenze. Sie liehen sich Fahrräder und trafen sich an einem kleinen Fluss, warfen sich, nur mit Turnhosen bekleidet, ins Wasser und sangen aus voller Kehle Lieder wie »Schon wieder blühet die Linde«. So wurde Ernst ein leibhaftiger Mensch. Mein Vetter Ernst-Otto kommentierte dieses Treffen der beiden Brüder mit den Worten »Nur die Sommers konnten so etwas tun!« Wie beschränkt ihr Wissen war und wie eng ihr Einblick in die Ereignisse, die sie umgaben, war offensichtlich. Ich bemerkte, wie schnell Lilos anfängliche Begeisterung über die Siege in Polen und Frankreich sich in Stress, Spannung und Angst verwandelte, verdeutlicht durch ihren drastischen Gewichtsverlust, als sie von Ernsts Einmarsch in Russland hörte. Sie war von Natur aus ängstlich und beobachtete die Entwicklung des Krieges mit Sorge. Ihre Einschätzung des Krieges war wesentlich realistischer als die meines Vaters, der immer zuversichtlich, fast gutgläubig war. Ihre Briefe brachten mich der Realität des Frontlebens näher, sie verliehen ihrer Besorgnis um seine Gesundheit, seine Zahnhygiene, seinen Schutz gegen den grimmigen Winter und vor allem seine Überlebenschancen Ausdruck. Doch viele meiner Fragen blieben unbeantwortet. Lilo fand Verständnis für ihre Besorgnis um Ernst bei anderen Soldatenehefrauen. Sie erzählten von schrecklichen Szenen im Lazarett und der zunehmenden Anzahl der Todesfälle. Es befriedigte oder beruhigte Lilo keineswegs, die Nachrichten in der Zeitung und im Radio zu lesen und zu hören. Die offizielle Propaganda wurde von den Erfahrungen und Gesprächen anderer beteiligter Frauen widerlegt. Es war ihr unverständlich, dass die Versorgung der Armee, was die Bekleidung betraf, völlig unzureichend war. Die Verhältnisse im russischen Winter waren den Verantwortlichen schließlich bekannt, da die Erinnerung an Napoleons Russlandfeldzug immer noch präsent war. Von Goebbels dazu angehalten, Socken zu stricken und für warme Kleidung zu sorgen, begann sie, die ganze Kriegsplanung in Frage zu stellen. Ernsts Briefe bestätigen, dass er Lilos Sorgen ernst nahm, obwohl seine grundsätzliche Einstellung auf einer falsch verstandenen Fürsorge beruhte. Es ärgerte Lilo, dass er die Schwierigkeiten und Gefahren bagatellisierte, wenngleich sie Ernsts Reife und Weisheit niemals in Frage stellte. Ernst war besorgt, dass Lilo die militärische Zensur und Geheimhaltung auf die leichte Schulter nahm, konnte auch ihrem Wunsch, seine genaue Position an der Front zu erfahren, nicht nachkommen. 24

Liebesbriefe im Krieg (1935–1942)

Alles in allem überwältigten mich die realistischen Einzelheiten und die tiefe Zuneigung und Liebe, die sich mir beim Lesen bot. Aus verschiedenen Gründen brauchten beide Partner die Bestätigung ihrer Liebe zueinander, und diese Liebe lebte für mich in den Briefen weiter.«

Liebesbriefe im Krieg (1935–1942)

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Kindheit, Jugend, Ehe Wenn man weit voneinander ist mit dem Leibe, doch kann man mit Briefen und Schreiben gegenwärtig sein, der eine mit dem anderen reden und sein Herz anzeigen. Martin Luther

Denkt man an das Dritte Reich, kommen einem sofort seine Gräueltaten, der Totalitarismus und Nihilismus in den Sinn. Doch der Fokus auf das System, auf die Nürnberger Reichsparteitage, die Konzentrationslager, den Blitzkrieg und dergleichen verdeckt leicht den Abgrund der alltäglichen menschlichen und sozialen Tragödie des Dritten Reiches. Die radikale Bosheit, die Perversität der Ideologie erscheint noch krasser und subtiler in den familiären Schicksalen, in der Art und Weise, wie das totalitäre Regime die Liebe und Begeisterung gerade junger Menschen missbrauchte. Persönliches und Politisches gingen Hand in Hand. Im neuen Reich musste Familie und Haushalt ebenso umgestaltet werden wie Nation und Welt. Hitler war auch die unfehlbare Autorität für Familie und Weiblichkeit. Zwischen den grotesken Extremen, den protzenden Gauleitern und den gespensterhaften Gestalten in Auschwitz, den Luftmenschen, lagen endlose Schichten von scheinbarer Normalität: liebevolle Mütter, junge Menschen auf der Suche nach Gemeinschaft, gewissenhafte Lehrer, die mit Blockflöten und Volksliedern die Kinder ermunterten. Die Unmenschlichkeit und Brutalität des Dritten Reiches stehen außer Zweifel. Alle moralischen und religiösen Werte fielen schließlich unter seine Räder. Und vielleicht bestand eine der furchtbarsten Steigerungen dieser Perversität darin, dass idealistische junge Menschen ahnungslos für dämonische Zwecke funktionalisiert wurden. Corruptio optimi pessima. Nichts Schlimmeres als die Verführung guter Menschen. Lilo Struck und Ernst Sommer führten ein recht sparsames Leben. Jede Ausgabe musste vorsichtig erwogen werden, aber ohne ein Klavier zu leben, war ihnen unvorstellbar. Ihre Briefe, Tagebücher, Fotoalben, Kinderbücher, Gesangbücher, die billigen Editionen deutscher Lyrik und Literatur öffnen uns eine Tür in die Gedankenwelt normaler Bürger in einer höchst anormalen Zeit. Ihr kulturelles Leben war reich, auch tief empfunden, aber sein synkretistischer Inhalt lässt einen erstaunen. In ihrem Bücherschrank lagen neben der Bibel und den Werken Schillers, gleichsam als Klassiker, auch Hitlers Mein Kampf und Rosenbergs rassistischer Kindheit, Jugend, Ehe

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Mythus des zwanzigsten Jahrhunderts. Wie Ernst Sommer an Lilo schrieb: »Bin gern bei den Alten zu Gast und genieße das geistige Brot, sei es nun von Jesus, Kant, Schiller oder Rosenberg gereicht.«3 Das ist keineswegs untypisch. In zahllosen Dorf‌kneipen und zu Hause am Klavier sang man die alten Volkslieder, dazu lutherische Hymnen und mitreißende Marschlieder der Hitlerjugend. Im Winter drängten sich die Kinder um den Ofen, lauschten den Märchen von Hans Christian Andersen und den Geschichten Mark Twains und Karl Mays – ebenso aber auch den Heldengeschichten aus dem Ersten Weltkrieg.4 Die zerlesenen Gedichtsammlungen Ernsts und Lilos, oft dicht kommentiert, bezeugen ein brennendes Interesse für deutsche Literatur, das selbst mittelhochdeutsche Gedichte einschloss. Zahllose Gedichte lernten sie auswendig. Die Briefe von Ernst Sommer und Lilo Struck bieten uns einen Einstieg in diese Welt. Sie schrieben einander fast jeden zweiten Tag. Die Menge der Briefe, Pakete und Fotos dokumentiert ihr einfühlsames Auge für jeglichen Aspekt des Lebens ihres Partners. Sie berichten über ihre Mahlzeiten, die Krankheiten der Kinder, ihre Familientreffen. Während seiner Zeit als Soldat bündelte Ernst Lilos Post, die er bis dahin in der Satteltasche seines Pferdes Titus auf‌bewahrt hatte, und schickte sie an Lilo zurück, damit sie die Briefe nach Kriegsende gemeinsam lesen könnten. Oft dachten sie an die Nachkriegszeit. Wie Lilo einmal schrieb: »Wie gern will ich Dir später helfen, Dich im Zivilen zurechtzufinden, wie wird es schön werden, wenn wir ganz bewusst unsere Liebe leben ohne die Erst­ lingskrankheiten einer Ehe, nicht wahr?«5 Ihnen war bewusst, dass die Trennung während des Krieges sie voneinander zu entfremden drohte. Lilos Erfahrungen als junge Mutter im Dorf waren so anders als die ihres Mannes im Kampfgebiet: »Ich kann mir denken«, schrieb sie, »dass sich viele Eheleute auseinander leben. Krieg ist das Schlimmste auf Erden. Glaubst Du, dass wir bald wieder vereint sind? Es ist mein innigster Geburtstagswunsch für Dich«6 Das emsige Briefeschreiben war auch als Strategie gedacht, um eine eventuelle Entfremdung zu vermeiden. Tragisch nur, dass dieses retrospektive Lesen nie statt‌finden sollte. Unglaublich aber, dass alle Briefe den Krieg überlebten. Trotz des Chaos am Kriegsende, als die Mutter Hals über Kopf mit zwei Kleinkindern aus Pommern in den Westen flüchten musste, gelang es ihr irgendwie, die ganze Korrespondenz zu retten. Jahrelang lagen die Briefe ungelesen in einem großen braunen Holzkasten. Obwohl Lilo viele Male versuchte, sie wieder zu lesen, konnte sie es nicht über sich bringen. Es war ihr, wie sie an ihre Tochter Heinke schrieb, einfach zu schmerzlich. Die Korrespondenz fing 1935 an, als Lilo und Ernst sich verliebten und sich bald danach verlobten. Die erstaunliche Fülle von Briefen entstand, weil sie auch nach ihrer Heirat fast immer an entfernten Enden Deutsch28

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lands getrennt leben mussten. Die Briefe bieten einen faszinierenden Blick auf ihr Zusammenleben in Wrohm, einem kleinen Dorf in Schleswig-Holstein, ebenso auf ihre sehr verschiedenen Familien, von denen eine in Hamburg und in schleswig-holsteinischen Dörfern, die andere weit weg im Osten, in Vorpommern, lebte. Es sind vor allem Liebesbriefe, zuerst in Friedenszeiten geschrieben, dann mitten im Krieg. Ihre Liebe füreinander fanden beide einmalig erhaben und schön. Mag sein, dass alle Liebenden das so empfinden. Tatsächlich aber bemerkt man an der Beziehung dieses jungen Paars etwas sehr Bewegendes. Als der Krieg ausbrach, waren Ernst und Lilo Sommer noch in ihren Zwanzigern. Was bedeutete es für junge Menschen, deren eheliches Leben erst am Anfang stand, unversehens in die großen politischen und militärischen Dramen des Zweiten Weltkrieges geworfen zu sein? Nach einer schmerzlich langen Verlobungszeit im März 1938 endlich verheiratet, hat die Kriegsmobilisierung sie fast sofort auseinandergerissen, und dann kam Ernsts Kriegsdienst in Frankreich und Russland. Beide waren in der nationalsozialistischen Jugendbewegung begeisterte Mitglieder und später sogar Leiter gewesen. Beide hatten eine ausgeprägte christliche Erziehung hinter sich. Aus den Briefen strahlt Ernsts pädagogische Begabung als Volksschullehrer. Auch bekommen wir von ihm, noch zu Friedenzeiten, ungewöhnliche Einsichten in seine Ausbildung als Leutnant. Wir lernen, wie beide die Erfolge von Hitlers Außenpolitik genießen, registrieren auch ihren Stolz, dass Deutschland wieder eine wichtige Rolle in der Weltpolitik spielt. Ihre Freude aneinander und an der Geburt ihrer zwei Kinder geht unmittelbar über in ihre Begeisterung für Hitlers »Neues Deutschland«, ihre Bewunderung über die geniale Begabung des Führers. Die geschickte Symbolik der Bewegung, das dramatische Hissen und Einziehen der Fahne bei Sonnenauf- und Sonnenuntergang, bei Schnee, Wind und Regen, die raffiniert choreographierten Massenversammlungen  – dergleichen hat beide, wie viele Briefe bezeugen, zutiefst bewegt. Aller Reserviertheit sentimentalen Exzessen gegenüber zum Trotz wurden sie wie Millionen Andere von der Gewalt übermächtiger Hoffnungen beschwingt, ja durchdrungen. Eine neue Ära sei angebrochen, und sie durften ihren Teil dazu beitragen. Aus unserer heutigen Perspektive ist klar, dass in den späten dreißiger Jahren alles auf einen kommenden Krieg deutete. Davon ist aber in den frühen Briefen kaum etwas zu spüren. Hitler werde dafür sorgen, so ihre Überzeugung, dass das Schiff des Staates einen sicheren Hafen erreiche. Krieg brach trotzdem aus. Ernst fand sich bald in einer kleinen Besatzungsstadt an der französischen Küste. Anschließend wurde er nach Russland versetzt. Britische Bomben fielen auf Wrohm, wo Ernsts Frau und Kinder lebten, und Lilos Ängste vor dem Schrecken des Krieges wuchsen, Kindheit, Jugend, Ehe

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als sich die Zahl deutscher Verwundeter und Toter im Ostfeldzug täglich vermehrte. Ganz schrecklich sei dieser Krieg! Ernst Sommer aber blieb bis zum bitteren Ende der sorgende Vater und Ehemann, zuversichtlich, immer Trost spendend, in festem Glauben an den Endsieg. In dieser Gewissheit starb er 1942 in einem weltvergessenen russischen Dorf, am Vorabend des dritten Geburtstags seiner Tochter Heinke. Lilo war von nun an allein, Witwe mit zwei kleinen Kindern, alle Hoffnungen und Träume in Trümmern. Sie musste mit dem Tod von Ernst, dem ihres Vaters, ihres Bruders, fast jeden Mannes in ihrer Familie leben. Ihre Ehe, mit so großen Hoffnungen begonnen, hatte in einer Tragödie, wie Hunderttausende sie erleiden mussten, ihr Ende gefunden. Stunde Null, 1945, markierte auch keinen Endpunkt, keinen wirklichen Neuanfang. Zwar verliert sich die Spur der Briefe. Aber für die Schmerzen von Mutter und Kindern, den täglichen Kampf ums Überleben, für bittere Fragen – persönlich, politisch und geistig – schlug erst jetzt die Stunde. In diesen Briefen von Lilo und Ernst folgen wir einer Liebesgeschichte, die uns von entlegenen Dörfern im Norden Deutschlands zu Ausbildungszentren für Offiziere im Baltikum führt, dann ins besetzte Frankreich und letztendlich zu den entsetzlichen Kämpfen an der russischen Front wechselt. Wir werden recht intime Briefe lesen, in ihrer Ekstase und Verzweiflung ungeschminkt, oft in extremis geschrieben, niemals für fremde Augen gedacht. Welche Handschuhe sollen wir anziehen, wenn wir sie durchblättern? Mit welcher ethischen Berechtigung können wir Lilo und Ernst über die Schulter schauen? Lilo Struck und Ernst Sommer haben sich leidenschaftlich ineinander und in Hitlers »Neues Deutschland« verliebt. Ihr christlicher Glauben lag ihnen am Herzen, und sie glaubten zugleich innig an die Sendung des Nationalsozialismus und an seinen Führer. Sie waren entschlossene junge Menschen mit hochfliegenden Hoffnungen. Ihre Postkarten und Briefe bezeugen in jeder Zeile das Ineinandergreifen von öffentlichen und familiären Welten, die Umwälzung jeglicher politischer und militärischer Sicherheit, ihre unbegrenzte Freude als Liebespaar und Eltern. Am Neujahrsabend 1940 fügt Lilo unmittelbar nach einer leidenschaftlichen Liebeserklärung an Ernst die Mitteilung an, dass sie sich jetzt auf eine Radiosendung von Goebbels freue.7 Ihre soziale und persönliche Rolle als Eltern und Liebende war unlösbar verknüpft mit einer katastrophal falschen Sicht auf die kulturelle und politische Wirklichkeit. Ihre intensive Liebe, Ernsts Tod, ihr lebenslanges Dasein als Witwe stellen unerbittliche Fragen. Wie soll der normale Mensch seine Haltung und Integrität bewahren in einem Land, in dem Krieg herrscht, seine Integrität bewahren, dem Partner im Sturmwind geopolitischer Kämpfe gegenüber loyal bleiben? Was hieß eigentlich »Deutschland« für sie? Für die 30

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meisten Menschen dürften Land und Nation eher kulturelle und linguistische Wirklichkeit als politische Realität sein, allenfalls gepaart mit patriotischen Träumen. Neil MacGregor hat uns eindringlich erinnert, wie fremd politische Einheit im zwanzigsten Jahrhundert für die Deutschen war. Wolf Lepenies hat gezeigt, wie wenig Fingerspitzengefühl die kulturelle Elite für empirische politische Fragen zeigte, wie wenig Toleranz die Deutschen in den Jahrhunderten ihrer nationalen Zerrissenheit für politische Kompromisse entwickelt hatten, die in demokratischer Praxis gang und gäbe sind.8 Konzilianz war ihnen fremd, ein Zeichen der Schwäche, der dekadenten »Zivilisation«, verglichen mit hehrer deutscher »Kultur«. Noch schwieriger ist zu begreifen, was es für normale Deutsche wie Lilo und Ernst hieß, Christen zu sein. Schließlich sah Hitler das Christentum als die systematische Kultivierung von Schwäche an. Wie kam es, dass so viele, die ihn verehrten, wie Ernst und Lilo auch, in der Überzeugung lebten, dass ihr christlicher Glaube und ihre christliche Praxis mit den Idealen und Programmen vom Nationalsozialismus zu vereinbaren waren? Ernst Sommer wurde im September 1912 in Wienböken, einem Dorf in Schleswig-Holstein, geboren. Sein Vater, August Sommer, entstammte, wie Ernst bemerkt, mitteldeutschem und ostfriesischem Blut, und zog, als der Sohn erst vier Jahre alt war, als Freiwilliger in den Ersten Weltkrieg. Er berichtet 1936 an Lilo: »Als 1918 die Nachricht kam, dass Vater 1917 in der ru­ mänischen Gefangenschaft höchstwahrscheinlich an Hungertyphus gestor­ ben wäre, da brach Mutter zuerst zusammen. Ich erinnere mich deutlich an die Stunden. Wir Kinder spielten im Walde. Grete Peters, die Nachbarstochter holte uns. ›Din vater ist dot‹ sagte sie zu mir und ging mit mir. Mir war nicht klar, was mir da passierte. Nur von dem Ton und dem undeutlichen Gefühl eines Furchtbaren geschüttelt, ging ich voller Angst nach Haus. Mutter lag im schwarzen Kleid auf dem Liegesofa, Frau Dunkere bemühte sich um sie. Ich habe nur noch ein totenbleiches Gesicht vor Augen und weiß, dass wir zu Tode erschrocken unsere Mutter anstarrten.«9 August war Diakon in der lutherischen Kirche, leitete ein Waisenhaus und später eine Baracke für Arbeiter am Kieler Kanal. Seine Frau Frieda war eine imposante Erscheinung, eine entschiedene Christin, und die Kinder, auch die Jungs Ernst und Hans, wuchsen in einer Atmosphäre strenger, aber warmherziger lutherischer Frömmigkeit auf. Am Sonntag ging Frieda in die Kirche, besuchte abends auch eine Gemeinschaftsgruppe. Eng verbunden mit ihrer Frömmigkeit war ein bedingungsloser Patriotismus. Diesen unbändigen Stolz auf Deutschland teilten die Kinder: Treue, Mut, Ehre seien die Werte der Deutschen. Kinderbücher aus dieser Epoche zeigen Jungs in makellosen Uniformen der Armee und der Flotte, marschierend, trommelnd, Fahne schwenkend, während die Mädchen den Truppen als Krankenschwestern dienten. ExKindheit, Jugend, Ehe

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emplare von Ernsts und Lilos Kinderbüchern haben sich erhalten. Noch als Baby bekam Lilo 1915 als Weihnachtsgeschenk das Buch Vater ist im Kriege: ein Bilderbuch für Kinder; auf dem Buchdeckel hält die Kronprinzessin ihr Baby; der Kronprinz erscheint hoch zu Pferd; Bilder zeigen Matrosen, die eine Kanone bedienen, als »unsere blauen Jungen«, U-Boote, Landwehr im Schützengraben, Patrouillenritt, Weihnacht im Felde. Patriotische Verse lauten: »Väter und Söhne ziehen aus, Geschultert das Gewehr Für’s deutsche Land, Für’s deutsche Haus Kein Weg zu weit und schwer. Jung war sein Herz, und stolz sein Tier Und Sieg und Ruhm, das war sein Ziel. Es war ein braver Offizier Der gern für seinen König fiel! Durch nächtliche Straßen ein harter Klang Grenadiere marschieren die Straße entlang Und singen jubelnd die ›Wacht am Rhein‹ Die Deutschen ziehen in Frankreich ein!«10 Allerdings zeigt ein ziemlich zerlesenes Exemplar der Märchen von Hans Christian Andersen auch, wie falsch es wäre, den Eindruck zu geben, dass alle Kinderbücher diesen militärischen Ton atmeten. Die Kinder wuchsen mit typischen Kinderbüchern auf, und offensichtlich fing das Lesen sehr früh an. Lilo las zum Beispiel die rührende Geschichte Perlguckelchen und Weißmäuschen; leider war Perlguckelchen ihren Eltern nicht gehorsam und musste deswegen recht früh sterben! Man darf annehmen, dass Ernst und Lilo auch die illustrierten Abenteuer vom unartigen Struwwelpeter genossen haben, alle mit moralischem Anstrich. 1919 bekam Ernst Bei Gacks und andere Geschichten für kleine Leute von Vera Niethammer als Weihnachtsgeschenk.11 Gedichte, Geschichten, Bücher, Lesen und Vorlesen waren den Familien wichtig. Ihre Kultur war die des gesprochenen und gesungenen Wortes. Filme gab es äußerst selten, Radios noch kaum. Leider wissen wir nicht, was die beiden über ihre eigene Familiengeschichte wussten oder was sie gebetet haben, wenn sie zu Bett gingen. Als Witwe musste Frieda Sommer sehr sparsam leben, aber die freundliche Unterstützung der Gemeindemitglieder hielt sie über Wasser. Ernst erinnert sich an ein einfaches, frugales Leben. Die katastrophale Inflation

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der dreißiger Jahre machte es nicht leichter. Wie Ernst summierte: »Geld­ knappheit ist eine sommersche Krankheit. Schiet, aber dat giv sik all.«12 Die Familie war relativ groß: zwei Mädchen, Leni und Tudi, und zwei Jungs, Ernst und Hans. Die zwei Brüder kamen gut miteinander aus. Ernst war ein eifriger Schüler, lernte Englisch und Französisch, liebte Sport, Schwimmen, Singen. Sein Überfluss an Energie verleitete ihn zu vielen Streichen, und wenn es, wie oft, zu weit ging, lernte er den Stock der Mutter kennen. »Seltsame Blüten hat meine knabenhafte Abenteuerlust und mein Übermut getrieben. Immer wieder sauste der Knüppel auf mein Hinter­ teil.«13 In späteren Jahren dachte er mit tiefer Dankbarkeit und Liebe an seine Kindheit und seine Mutter. Mit Leni blieb er lebenslang eng verbunden. Sie war unternehmungslustig und intelligent und half ihm bei seinen Schularbeiten, musste aber die Schule früh verlassen, um zum Unterhalt der Familie beizutragen. Der Tod des Vaters warf auch einen Schatten, wie Frieda Sommer an Lilo schrieb: »Ernst und ich waren am Heldengedenktag in der Kirche, es ging mir doch durch Mark und Bein, als Ernst auf der Geige das Lied vom guten Kame­ raden zur Orgel begleitete – vor 20 Jahren saß ich mit unserem Vater in der Husumer Kirche zur Abschiedsfeier ins Feld … Nun spielte sein Kind ihm das Kameradenlied!«14 Sein Familienleben war glücklich gewesen, aber seine Werte waren traditionell, eng und autoritär. Seine jugendliche Armut vergaß Ernst aber nie. Leben sei Kampf, und nur ein starker Wille triumphiere über seine Härten. Am Ende seiner Schulzeit ging er in die Pädagogische Akademie in Kiel, um sich als Volksschullehrer ausbilden zu lassen. Ende März 1933, gerade als Hitler an die Macht kam, bestand er sein erstes Examen. Ernsts Liebe zu seinem Heimatland Schleswig-Holstein ist in seinen abgenutzten Liederbüchern gut dokumentiert: Gern besang er seine Flüsse, Wälder, Felder, Berge. Für ihn hingen wohl die soldatischen Tugenden von Ausdauer und Entschlossenheit mit dieser Liebe zum Land zusammen. Wie er an Lilo schrieb: »Doch spürt ich dort erst recht der Heimat Fesseln, die um das Herz in Enge dicht gelegt mich grüßten. Heut nimmst du, traute Erde, mich an deinen Busen und deckest still, was wild sich mir entrungen. All’ Not und Sorgen sind in Freud verklungen und lächelnd, strahlend, selig Glück er­ kündend, steht über dem Erleben eine Sonne.«15 Er lobte die oft sandige Erde, die zähe Heide auf den Hängen, die Knicks genannten erhöhten Ränder der Felder, so voller Büsche und Vögel. Harte Arbeit war hier verlangt, die an den Händen Schwielen verursachte, aber er gehörte hierher, es war sein Land, es gehörte auch ihm. Nach sechs Monaten im Arbeitsdienst nahm er 1934 mit Begeisterung teil am Landjahr, dem nationalsozialistischen Programm für Jugend­liche nach der Schulzeit. In einem Brief an Lilo vom September 1935, einer Art Kindheit, Jugend, Ehe

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Selbstporträt für seine künftige Frau, beschreibt er seine Entwicklung in diesen Jahren, seine allmähliche Befreiung von den »Bindungen durchs Elternhaus«. »Was ein Mensch zu erreichen imstande ist, steht unsichtbar über seiner Wiege geschrieben. Es ist das väterliche und mütterliche Erbe, das Geschenk der Vorsehung, Gottesgabe. Was er wird, was er erreicht, ist teils ein Werk seines Willens.« »Ich fand die weltliche Ausrichtung, die in Grund­ zügen schon vom Jungenalter an festlagen; sie wurden gefestigt im Arbeits­ dienst, im Landjahr, im Leben. Ich fand die berufliche Ausrichtung während des Studiums, ob es ein Abschluss ist, glaube ich nicht, die Blickrichtung aber liegt fest.« Sein Ziel war es, eine »freie Persönlichkeit« zu werden, er erstrebte »Wahrhaftigkeit«. »Was Du denkst und tust geht aus von Deiner in­ neren Einheit, betrüge Dich nicht um eines äußeren Erfolges willen, sondern brich mit allem, wenn Deine Ehre auf dem Spiele steht!« Diese hochtrabende Sprache kommt in einem Liebesbrief vor, der von der Klarheit seiner Liebe für Lilo spricht, und von seinem Entzücken, dass sie sich von ihm angezogen fühlt.16 Um diese Zeit trat Ernst in die SA ein und schwor im April 1936 den feierlichen Eid. Vieles an der Dummheit und dem unsinnigen Gehabe der lokalen Leiter der Bewegung gefiel ihm nicht. Er bedauerte »die Blödigkeit ge­ wisser SA Anwärter und die primitive Rede des Standartenführers in Heide«.17 Er genoss das Marschieren und die Paraden im Schein der Fackel. Wie er Lilo erklärte: »Die Marschkolonne, das Marschlied hatte mich wieder ein­ mal in ihrem Bann. Unser Leben ist Marschieren, aufwärts, das ist die Haupt­ sache, dem Unendlichen, Namenlosen, das wir Gott meinen, entgegen.«18 Er verbrachte oft vier Stunden am Abend damit, von Haus zu Haus zu ziehen, um Geld für das Winterhilfswerk zu sammeln, das NS-Wohlfahrtsprogramm.19 Er war auch aktiv in der Leitung der Hitlerjugend, obwohl er über die Menge an Geld und Zeit stöhnte, wenn er an den regionalen Paraden oder dem Bannaufmarsch, teilnahm. Er tadelte auch die »saumäßige Verfassung«, die Gleichgültigkeit einiger Jungen der NS-Bewegung gegenüber. Im September 1937 bestand Ernst sein zweites praktisches Examen in seiner kleinen Dorfschule in Schalkholz. Da war er bereits als engagierter und fähiger Lehrer anerkannt. Wie er kurz vor seinem Tod in Russland schrieb: »Ich bin nun einmal von Grund auf Optimist, halte jeden Menschen für gut und möchte allen Menschen Gutes tun. Deshalb bin ich auch mit Leib und Seele Pädagoge. Ich brauche Menschen zum Leben und wer nicht an das Gute im Menschen glaubt, kann kein Erzieher sein.«20 Im März 1936 berichtete er Lilo: »Am Sonnabend hatte ich die Eltern eingeladen und war erfreut über die Kinder. Da sangen wir dreistimmige Kanons (in Grundschule natürlich leichte Dinger) und flöteten, dass es eine Lust war.«21 Dann im Mai 1936

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»ging ich mit der Klasse spazieren. Das war ein Spaß, was gab’s da alles; die kleinen Bäume und Kräuter, die Bauernhäuser einsam im Felde … Ich hob nur die Hand an die Lippen und alles horchte. Einige Minuten hielten die Kinder sogar ihre Mäuler und ließen sich vom Weidenlaubfänger ein Lied singen. Auf einem kleinen Grasflecken setzten wir uns zum Frühstü­ ckessen. Ich hatte deine Flöte und spielte zum Tanz. Das dritte und vierte Schuljahr sang und tanzte prima […]. Dann zeigten die Jungen im Ringen ihre Künste. Das 1. Schuljahr spielte dazwischen. Die Bastler bliesen längst auf ihren halbfertigen Flöten aus Weiden und Kälberrohr. Ein Hünengrab sahen wir an. Ich erzählte eine Geschichte vom Germanenherzog ›Mingolf‹. Um 11 Uhr waren alle durstig und tranken fast die Schulpumpe leer.«22 Lilo beschrieb er sein Erstaunen, wie gut das Examen gelaufen war: »Mein Lütten, Es ist so seltsam. Vor einigen Tagen war dieser gewaltige Druck, der not­ wendig auf einem gewissenhaften Menschen lasten muss und heute diese Freiheit und Sorglosigkeit! Man ist wie ein Rennwagen, der mit 150 Stun­ denkilometer dahinbraust und nun plötzlich mit allen Bremsen gestoppt wird. Man saust weiter und kann kaum anhalten. So ganz allmählich beruhigten sich die Sache und der Geist. Ich konnte das Ergebnis kaum fassen: Mit Auszeichnung. Verflixt u. zugenäht, davon hatte ich wirklich nicht einmal geträumt. Was sagst Du bloß zu deinem Ernst? Bist ein klein wenig stolz auf ihn? Ich bin glücklich, wenn ich Dir eine Freude machte. Dein Miterleben gibt mir erst die rechte Stimmung. Meine Arbeit galt nicht mehr nur mir, nein auch Du standest mit mir an der Front und gabst mir Rückhalt. Liebes Mädel, könntest Du jetzt meinen Kopf hal­ ten und die süßen Träume meiner Liebe in Dich aufsaugen, Geliebte, Du! Ich will Dir erzählen. Um halb acht Uhr sollte am Donnerstag, den 16. Sep­ tember, die Prüfung beginnen. […] Ich sollte in Deutsch, Rechnen und Heimatkunde ja eine Lehrprobe halten und zwar eine Neueinführung im Deutschen im 2. Schuljahr, in R.  u.  H. im 3. und 4. Sch. Der Stoff war mir überlassen. […] Ich wollte im Deutschen (2.  Sch.) ein Gedicht ›das Korn‹ behandeln. Im Rechnen (3. 4. Sch) gedachte ich die schriftliche Subtrak­ tion einzuführen und in der Heimatkunde über Bedeutung der Schleuse in Brunsbüttelkoog und das Durchschleusen zu sprechen. Du weißt, dass ich Beobachtungshefte und Aufsatzhefte angelegt hatte. Die waren in Perga­ ment eingeschlagen und von den Kindern mit selbstentworfenen Deck­ bildern geschmückt. Um 7 Uhr gab’s Kaffee: Mutter und Tudi waren in ge­ waltiger Aufregung. Keiner hatte von den beiden geschlafen. Ich hatte gut geschlafen, war nun begreif‌licherweise auch in erregter Grundstimmung. […] Die Gören waren zwischen halb 8 und 8 Uhr fast pünktlich erschienen. Kindheit, Jugend, Ehe

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Das 1. Schul. schrieb Wörter ab, die wir auch an die Tafel geschrieben hat­ ten, so dass ich nun das 2. Schuljahr allein vor mir hatte. Wir sprachen von der Arbeit des Bauern, von der Not beim Gewitter, wenn das Korn nass wird. Die Kinder waren lebhaft. Es machte Spaß. Ich trug dann das Gedicht vor: es wirkte. Ich ließ nachlesen [?], es klappte prima. Die Sache hatte ge­ funkt. […] Die 2. Stunde begann. Rechnen. Alles klappte nach Vorschrift. […] Und die 3 Heimatkunde […] wurde zu einem vollen Erfolg. Am Sandkasten war unsere Schleuse aufgebaut und erfüllte ihre Aufgabe zu aller Zufriedenheit. Werner und Friedrich waren Glanznummern in dieser großen Stunde. Abschließend an diese Stunde flötete und sang ich noch ein wenig. Auch das klappte. […] Nun will d. Reg.-Rat etwas über Rassenkunde hören. Er hat sich die Ge­ schwister in der Klasse angesehen und fragte nach ihrer rassischen Zu­ sammensetzung, körperliche Merkmale, geistig-seelische Eigenschaften und die Erziehungsmaßnahmen des Lehrers. Na, da habe ich losgelegt. Diese rassische und psychologische Fragestellung kamen mir gelegen. […] So manche kniffligen Kurven galt es zu nehmen und nur meine Bomben­ ruhe hat mich richtig geführt. Der Reg.-Rat fing an, von den Schwächen zu reden. Mensch, denk ich, wat nu? ›Sie haben mit Auszeichnung bestanden‹. Mir blieb die Spucke weg, ein paar Tränen konnte ich nicht halten, das hatte zu toll gezogen. […] Ganz besonders betont hatte der Reg.-Rat meine Ruhe und Überlegen­ heit. […]« Sein Idealismus als Lehrer ist unverkennbar: »Rein bleiben und reif werden, das ist die Losung. Gott im Herzen, die Welt vor Augen und Deutschland als Aufgabe; so wird’s mit dir zusammen gehen.«23 Was hieß das aber in Praxis? Ein illustrierter Schultext, den er brauchte, ist erhalten geblieben: Küken steigt ins Leben (Berlin, 1938) ist eine Einführung in die NS-Ideologie, auf Kinder ausgerichtet. Die Bedeutung einer reinen Blutlinie wird betont, und die letzten sechs Seiten sind dem angeblichen korrupten und kriminellen Einfluss der Juden gewidmet, die mit groben Bildern karikiert werden, wie auch die geistig schwachen Menschen, die für die Gesellschaft angeblich eine schwere Bürde darstellen. Die geistige Enge im kleinen Dorf Schalkholz bedrückte ihn, vor allem in Winter. »Das Dorf hängt mir aus dem Halse heraus«; die Eltern »kennen bloß noch Arbeit, Essen und Saufen«; und die »lütten Lüd sehnen sich nach ähnlichen Herrlichkeiten.«24 Jeden Tag übte er Geige, und nach dem Abendbrot plauderte er mit Bruder Hans und mit seiner Mutter, die den Haushalt für ihn betreute. Oft sangen die Brüder. Hans fügte seinen Briefen ein 36

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»Heil Hitler« an, und er wurde für die NS-Sommerschule, die Schulungsburg, ausgewählt, die zukünftige Leiter trainierte.25 Ernst machte sich Sorgen, dass seine eifrige Beteiligung in NS-Versammlungen seine Studien beeinträchtigten könnte. Als Hans die Hochschule besuchte, beherrschte die ­ S-Ideologie schon den ganzen Lehrstoff. N 1938 kam Ernst als Oberlehrer nach Wrohm. Um 8 Uhr fing der Tag dort an mit »Heil Hitler« und einem Lied. Mittags hörte der formale Unterricht auf, aber oft gab es am frühen Nachmittag Singen, Blockflötenspiel, Lesen oder Turnen. Für die Kleinen zog Ernst die beliebte Anthologie Tausend Sterne leuchten. Kindgemäße Gedichte mit Illustrationen heran; und für die Älteren Tausendstimmiges Leben  – traditionelle Gedichte, einige mit militärischem Ton.26 Die Bauerndörfer Schalkholz und Wrohm waren traditionelle Gemeinschaften. Man sprach Plattdeutsch. Jedes Dorf hatte einen Chor und einen Turnverein. Die Jahreszeiten wurden mit besonderen Feiern gefeiert. Das Erscheinen der Störche im Frühling war immer ein Ereignis. Man heizte mit Torf, Koks und Briketts. Die Winter konnten bitterkalt sein. Eigentlich herrschte Subsistenzwirtschaft, ein Vorteil in Kriegszeiten, als das Essen rationiert wurde. Jedes Haus hatte seinen Garten für Gemüse und Obst, und im Sommer und Herbst hatte man mit dem Einmachen des Obstes zu tun. Außerdem gab es Dörrobst. Viele Haushalte hielten Kaninchen und Hühner. Nur die Wenigsten hatten Radio oder Telefon. Das einzige Auto im Dorf war das Taxi. Man war äußerst sparsam mit Geld. Nur in extremen Fällen konnte man es sich leisten, den Arzt zu holen. Wenn wir uns Lilo zuwenden, sind die Verhältnisse ihrer Familie ganz anderer Art. Ihre Kindheit war nicht glücklich, obwohl Geld kein so großes Problem war. Es gab andauernde, bittere Konflikte zwischen dem Vater und einer Mutter, die es verstand, ihre Beschwerden stets offen zu äußern. Diese sehr gut aussehende Frau hatte mit Haus und Garten mehr als genug zu tun. Lilo litt darunter, dass ihr Bruder Dieter bevorzugt wurde, obwohl die Geschwister ein gutes Verhältnis hatten. Auch Dieter hatte es nicht leicht im Leben. Lilo kam mit ihrem Vater Paul Struck gut zurecht. Er war Volksschullehrer und Kantor in der Kirche. Spantekow, mit 600  Einwohnern, lag in Vorpommern. Ihr Vater war in der Gemeinde hoch angesehen, auch außerhalb der Schule, obwohl Lilo von einem Verhältnis mit einer ehemaligen Schülerin wusste. Er war chronisch überbeschäftigt, oft sehr angespannt, einem Zusammenbruch nahe. Einmal zerschmetterte er in einem Wutanfall ein Fenster. Ein anderes Mal versteckte Lilo seinen Revolver aus Furcht, er könne seinem Leben ein Ende bereiten. Lilo hielt es kaum aus, zwischen ihren Eltern stehen zu müssen. »Vati müsste einmal raus hier, weg von der Schule und der Kasse und ausspannen. Aber da darf man gar nicht Kindheit, Jugend, Ehe

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von anfangen, da meint er, er sollte ins Sanatorium für Geisteskranke. Und beinah sind seine Anfälle noch schlimmer, dann schlägt er alles kaputt. Und Mutti muss auch raus. Nächste Woche wahrscheinlich. Ob sie wiederkommt? Sie tun mir beide so sehr leid, wir alle hier sind unglücklich. Jeden Tag ist was los, jedem soll ich beistehen. Das kann ich nicht. Ich stehe dazwischen, ich habe doch beide lieb.«27 Die Musik war Lilos große Leidenschaft. Sie spielte Klavier, Blockflöte und Laute. Ihr Liederbuch, Das aufrecht Fähnlein, enthält eine breite Palette von Kirchenliedern, patriotischen Liedern, Balladen, Kinder-und Volksliedern, die sie wohl von Kindheit an kannte. Um der giftigen Atmosphäre zu Hause zu entfliehen, verließ sie schließlich Spantekow, wohnte mit ihrer Tante Lisbeth in der Küstenstadt Swinemünde und besuchte das Lyzeum, eine Oberschule, an der ihr Onkel Arthur Friedrich unterrichtete. Wie so viele Mädchen musste sie die Schule verlassen, bevor sie das Abitur ablegen konnte. Gegenüber Ernst, der natürlich das Abitur hatte, litt sie deswegen unter Minderwertigkeitskomplexen. Paul Struck war Mitglied der Partei. Vielleicht durfte seine neunzehnjährige Tochter dank seines Einflusses als Leiterin der Mädchen in der Landjahr-Bewegung ausgebildet werden. Auf Fotos erscheint sie jung, attraktiv und sportlich in der Uniform des BDM , des Bundes Deutscher Mädel. Das Landjahr öffnete neue Welten für sie. Ihr Idealismus für Hitlers »Neues Deutschland« war fast grenzenlos: »Arbeitsdienst und Landjahr kamen bei mir nur aus Idealismus.«28 Im Sommer 1935 trafen Ernst und Lilo in Burg, Schleswig-Holstein, zum ersten Mal aufeinander. Als Leiterin des Landjahr-Programms wohnte Lilo im Haus Sonnenschein, einer attraktiven alten Residenz. Burg mit seinen 3 000 Einwohnern war Ernsts Heimatstadt, die er sehr liebte. Er entdeckte diese gut aussehende junge Frau, als sie Orgel in der Kirche spielte. Trotz Lilos Schüchternheit verliebten sich die beiden leidenschaftlich. Dass auch Lilo sehr glücklich in Burg war, wird dazu beigetragen haben. Wegen ihrer Natürlichkeit und Wärme genoss sie ihre Rolle als Gruppenleiterin junger Mädchen, die auf dem Land arbeiteten, von einer besseren Zukunft träumten, aus vollen Kehlen sangen. So jedenfalls die T‌heorie. In Wirklichkeit kamen viele aus den Städten, hatten Heimweh, trauten sich nichts zu. Sie zu motivieren, war nicht immer leicht. »Aber in diesem Jahr kommen sie schon mit Ansprüchen! Vor allem die Westfalen. Wann werden wir fotographiert, bekommen wir Kleider, ma­ chen wir Fahrten usw? Bei der Arbeit tun sie nur etwas, wenn ich neben ihnen stehe, die Koblenzer sind die allerschlimmsten. Es liegt allerdings in ihrer Art. Sie küren den ganzen Tag, und so schnell, dass man kein Wort versteht. Sind faul und liederlich und nehmen nichts ernst. Das richtige 38

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oberflächliche verweichlichte Rheinvölkchen. Dagegen die Schlesier! Sie sind ganz herrlich. Dankbar für alles, erwarten nichts und stellen keine An­ sprüche. Sie sind sehr fleißig und zuverlässig. Auch innerlich viel ernster u. gereifter. Man merkt doch, dass die Menschen aus dem Osten mehr im Kampf stehen, und für alles dankbar sind. Die Rheinländer und Westfalen nehmen alles mit einer Selbstverständlichkeit hin, die manchmal verblüf­ fend wirkt. So sind die Schlesier, gegen die ich ein so großes Vorurteil hatte, meine Liebsten geworden. Wir beneiden alle Elsa, die diese Gruppe führt. Annelore erzählte uns, dass sie mit den Saarkindern die größten Kämpfe habe. An u. für sich gar kein so wertvoller Menschenschlag, wie immer ge­ schrieben wurde. Die meisten Väter sind 8–9 Jahre arbeitslos, die Mädels kamen an mit Ohrringen, Lackschuhen, Krimmerjacken, beladen mit Ket­ ten usw. Sie sind auch gar nicht so glücklich wieder in Deutschland zu sein. Sie haben sich wohl gedacht, jetzt als zurückgekehrtes Kind verwöhnt und beschenkt zu werden. Auch zwischen unsern Koblenzern sind viele Reste aus der Besatzungszeit. Ein richtiges Marokkaner Mädchen und mehrere Franzosen werden natürlich zurückgeschickt. Andere wieder mit blondem Haar und blauen Augen dazu breite Nasen und dicke Lippen und krauses Haar. In allernächster Zeit bekommen wir 20 Saarländer auf Besuch, weil es unmöglich ist, in einem Heim nur Saarländer zu haben. Man wird nicht mit ihnen fertig. Da steht uns noch was bevor!«29 NS-Propaganda sprach ja von »Rheinland-Bastarden«.

Lilos eher nüchterne Denkart ließ sie den übertriebenen Romantizismus in einem Lager an der Ostsee im August 1935 kritisieren, obwohl sie das Schwimmen und Zelten sehr genossen hatte: »Die letzten acht Tage waren so voller Ereignisse und so grauenhaft, dass wir gar nicht daran denken mögen. Also: Führerinnenferientreffen bei Annelore Hagemann im Landjahrlager Mowi, d. h. Schulungslager, Lehr­ proben, Sprechchöre, Lieder, Zeltlager an der Ostsee, Rundfahrt durch sämtliche Gaue im Südbezirk usw. Überschrift: weg mit dem Intellekt, zurück zum Primitiven. Erlebnisbetont das ist ja alles sehr schön, aber ganz fürchterlich, wenn es verkrampft und an den Haaren herbeigezogen ist. Man kann unmöglich eine ganze Woche nur Lieder aufsagen von ›Saatkorn sein‹ und ›nach Sonne gehen‹. Dazu noch ein gutes Gesicht machen und mit verzückten Augen in den Sonnen­ untergang sehen. Nur ist alles viel zu natürlich und selbstverständlich, ich kann mir auch keine Wärme in die Augen zaubern und barfüßig gegen den wehenden Wind über die heilige Erde schreiten. Und dies nun acht Tage lang!

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Mögen sie denken, man wäre oberflächlich und instinktlos und intellek­ tuell, ich kam mir schrecklich unehrlich vor, aber um nicht unhöf‌lich zu sein, musste man Begeisterung heucheln und ergriffen sein! Gott sei Dank gab es noch einige vernünftige Leute darunter, die auch so dachten, nur durfte man es nicht laut sagen.«30 Ein bewegender Brief zeigt ihre Verwirrung über Ernst Sommers Heiratsantrag. Sie erbittet Zeit, alles zu durchdenken. Im hektischen Leben mit ihren Landjahr-Mädchen fehlte die nötige Ruhe, um über alles nachzudenken. »Ich kann es alles gar nicht fassen, zu viel ist in den letzten Tagen auf mich eingestürmt. Ist es wirklich erst ein paar Tage her, dass Du bei mir warst? Es liegt mir so unendlich weit und fern, wenn ich doch nur einmal Ruhe hätte. So viel Neues und Aufregendes an äußeren Schwierigkeiten, so viel Arbeit und Unruhe, und immer eiliger als der andere. Willst Du ein wenig mit mir Geduld haben. Ich bin innerlich so sehr zerrissen und aufgewühlt, ich kann mich nicht konzentrieren. Die Arbeit drängt, ich sitze immer davor, gucke nur aus dem Fenster und hänge meinen Gedanken nach, die so ganz an­ ders wollen, als man im Augenblick vor mir verlangt. Das Zusammensein mit Dir, das Erleben. Alles kam so unvorbereitet, so plötzlich über mich, in mir drängt und rumort es, irgend etwas will sich da lösen und frei werden, andererseits wird es wieder eingezwängt. Ich kann es so schwer ausdrü­ cken, bitte, lass mir Zeit, lass mich zu mir selbst kommen, erwarte nichts von mir, nimm mich so wie ich bin. In mir ist ein einziger großer Wunsch, Ruhe, Stille, Besinnung. Wird das im Landjahr möglich sein? Ich kann Dir auch deine Frage heute nicht beantworten, lass es langsam wachsen in mir. Du hast so wunderbar geschrieben von dem Mitklingen einer liebenden Seele, die das Fehlende erfüllt. Hilf mir Ernst. Du bist so klar und gereift, so verständig und ausgerichtet. All das fehlt mir, irgend­ wie bin ich innerlich schief. Wie schwer ist doch die Arbeit an einem selber, wohl die schwerste. Ich bin so unzufrieden mit mir, es fehlt mir an Selbst­ vertrauen. Ich bin beinahe am Verzweifeln. […] Ich habe einmal so fein ge­ lesen: ›Die Seele des Menschen will geboren werden, da muss man eben die Schmerzen, die Wehen aushalten.‹ Kann man es schöner aus­drücken? Ich bin durch sehr viel Leid gegangen, meine frühesten Kindheitserinne­ rungen sind mit größten unmenschlichen Schmerzen verbunden, die Ehe meiner Eltern, die ich über alles liebe, ist nicht glücklich. Unaussprechlich Trauriges verknüpft sich mit meinem bisherigen Leben. All das ist auch an meiner Entwicklung nicht spurlos vorübergegangen, vielleicht erklärt sich daraus mein Zersplittertsein, mein Versperren gegen das andere Geschlecht, und doch ist in mir ein Sehnen nach Ergänzung, eine fast heilige Scheu. 40

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Lieber, Du, meine Seele liegt vor Dir, was soll ich Dir noch schreiben? Ich möchte jetzt Deine Hände fassen, weiter nichts, und an und in Dir stille werden. Es ist 1 Uhr, mir fallen die Augen zu. Gute Nacht, Deine Liselotte.«31 Allmählich überwand Ernst mit seiner mitfühlenden Art ihre Sorgen und ihr Zögern. In Wirklichkeit war ihre Selbstkritik übertrieben. Mit einer Mischung aus Begeisterung und Sachlichkeit hatte sie die Anforderungen des Landjahr-Heims recht gut gemeistert. Ernst versprach seine Hilfe, wenn es um die traurigen Erinnerungen ihrer Kindheit und Jugend ging: Wohin ich gehe, begleitest du mich. Was ich auch treibe, Du schaust mir über die Schulter. Alles ist verklärt durch Deine Gegenwart. Ich muss jetzt immer froh sein und kann arbeiten, wie noch nie. Könntest du nur hier sein und mit leben im trauten Kreise. Ich sitze hier in der warmen Küche. Die Uhr tickt schneller als der langsame Kuckuck in der Stube. Liebe Lilo, wieder und wieder lese ich deinen Brief. Vorsichtig und leise möchte ich Deine Seele umschließen und die Unschuld und Scheu deines Wesens erhalten für ganze Leben. Ich will zu einer Frau hinaufsehen, sie soll ein köstlicher Schatz sein und nicht zur Abreaktion von Trieben veran­ lassen. Auch die Natur fordert ihr Recht, aber ein Wille hat sie zu regieren. Nicht Ausleben des Triebes, sondern beglückende Erfüllung in gegenseiti­ ger Ergänzung in Körper, Seele und Geist ist das Ideal. Du Lilo, jetzt muss ich dich noch bitten, heute Abend um 10 Uhr ins Bett zu gehen. Bis dahin ist viel geschafft. Dann träumst du schön und schläfst. Und morgen bist Du frisch und frei. Verschanze Dich hinter einer dicken Elefantenhaut, denn was kann schon viel passieren. Der Mensch hätte halb so wenig Sorgen und doppelt so starke Nerven, wenn er die Dinge an sich herankommen ließe und nicht immer im voraus alles zergrübelte. Werd’ mal ein bisschen dickfällig, nicht wahr? Dann klappt der Laden. Vor allem aber schlafe Dich aus und herzl. Grüße und einen Kuss von deinem Ernst.« Das Leben sei mehr als das Landjahr und dessen Anforderungen. »Zufrie­ denheit und Freiheit kommen, wenn man seine Pflicht getan hat, so gut es geht, aber überlässt alles Andere Gott dem Allvater.«32 Trotz Ernsts Neigung, ihr predigtähnliche Ratschläge zu geben, war ihre Beziehung zueinander keineswegs einseitig. Den mittelhochdeutschen Dichter zitierend, sagten sie gern zueinander »Dû bist mîn, ich bin dîn«, aber Lilo hatte nicht die geringste Absicht, sich von ihrem »großen Jungen« bevormunden zu lassen. Als Ernst bemängelte, dass sie am Vorabend des Heldengedenktages an einer Tanzveranstaltung teilgenommen hatte, war sie Kindheit, Jugend, Ehe

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»maßlos empört. Ist das alles, was Du mir auf meinen Brief zu antworten weißt? Schien Dir diese harmlose Sache das wichtigste? Ich möchte so einen Brief nie wieder erhalten. Ich denke ja nicht daran, etwa Milch oder Fliedersaft zu trinken. Hast Du so wenig Vertrauen zu mir, dass Du glaubst, ich könnte auch nur zu einem andern Mann gleiten? Ich habe weder eine Maske aufgesetzt noch bin ich ›verliebt‹! Ich liebe Dich. Ich kann es einfach nicht begreifen, dass Du mir so etwas schreibst, was soll der Quatsch? […] Wärest Du jetzt hier, Du könntest was erleben! Bitte, keine Gardinenpredigt, hab keine Angst. Ich werde mich auch nicht als giftige Schlange zeigen, aber meine Meinung sollst Du hören. Kranz hatte nicht im geringsten die Absicht, mich dünn [betrunken] zu machen oder blau!!! Kannst Du überhaupt keinen Spaß vertragen? Meinetwegen setze mich in einen Glaskasten, Mensch, ich hau die Scheibe entzwei. Oder sonst heirate mich sofort, da kannst Du mich anschmieden. Noch eins: Hast Du nicht auch getanzt? Ich werde nie daran denken, dir darüber Vorhaltun­ gen zu machen, Gott sei Dank bin ich nicht kleinlich, und will es auch nicht werden. Würde mich ein anderer Mann auch nur anfassen, ich würde ihm ins Gesicht schlagen. Wenn ich den Schluss deines Schreibens lese, wird mir übel.«33 Sie wusste, wer sie war, führte ein strenges Regiment im Heim, und blieb selbst dann ruhig, wenn zum Beispiel der Besuch einer Gruppe von zweihundert Mädchen anstand. Sie hatte einen eigenen moralischen Kompass. Die Herzlosigkeit von Landjahr-Leiterinnen wie Frau Hagemann beim Tod einer Kollegin und als viele andere Kolleginnen erkrankt waren, hatte sie entrüstet. »Ein Moment Seelenschwanz, im nächsten gehen sie über Lei­ chen. Erna Siegel, die Lagerleiterin aus Eutin, liegt fast erblindet im Kran­ kenhaus. Doch das wird gar nicht beachtet, mit einer Handbewegung abge­ tan.«34 Auch ein Redner der Deutschen Arbeitsfront war für sie »ein ganz großer Dussel. Ich hatte keine Lust ihm zuzuhören, er sprach ganz ohne Be­ geisterung, viel zu hoch für die Mädel, war aber furchtbar von sich eingenom­ men und arrogant.« Andererseits glaubte sie ohne den leisesten Zweifel die NS -Mythologie über die sogenannten Helden von Langemark. In Wirklichkeit starben zahllose junge Soldaten bereits zu Kriegsbeginn 1914 in Langemark bei einem unsinnigen Angriff.35 Sie war sehr stolz auf ihren Vater, als er zum Kameradschaftsführer ernannt wurde. Er habe so selbstlos all die Jahre für das Dorf gearbeitet. Sie sprach auch mit Begeisterung von dem Film, der in der Veranstaltung gezeigt wurde: Im gleichen Schritt und Tritt. Ein großer Chor sang in ­Hitlers Gegenwart: »Ich hatt’ einen Kameraden«. Der ganze Film war eine sentimentale Glorifizierung des Ersten Weltkriegs und ein kaum zu übertreffendes Beispiel für den NS-Totenkult.36 42

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Ein Höhepunkt im Herbst 1935 war die Reise nach Kiel. »Kiel ist nun vor­ bei. Fein war es, wirklich! Alle Mühe und Arbeit in den Wochen vorher hat sich gelohnt. Ich bin wieder froh, dabei geholfen zu haben und jung zu sein und arbeiten zu dürfen. Ab und zu muss einem das wieder klar gemacht werden, man wird zu leicht unzufrieden. Kiel hat gestaunt, das ganze war eine Probe auf Disziplin, und unsere Mädel haben sie gut bestanden. 2 000 Mädel in der Nord-Ostsee-Halle und es war beinah unheimlich still. Stiller als hier im Lager … Du kannst Dir denken, alles strahlte. Die Kinder waren aber auch un­ geheuer müde, anstrengend waren die Tage doch.«37 Oft war Lilo selber todmüde, weil sie rund um die Uhr arbeiten musste. Am Anfang waren die Programme des Landjahres flexibler, und der Besuch des Gottesdienstes war noch möglich. Einige Mädchen sangen sogar im Kirchenchor, und Lilo und der Organist arbeiteten gut zusammen. Ein Blatt mit Notizen über Weihnachten, mit Engeln und Christsternen dekoriert, ist erhalten geblieben: »Warum lieben wir alle, groß und klein, unsere alten vertrauten Weih­ nachtslieder? Gestalten werden lebendig, Maria, Josef, das Christkind­ lein, Knecht Rupprecht, der Nikolaus! Bilder tauchen vor uns auf, wir sehen den Tannenbaum daheim, die erwartungsvollen Gesichter der kleineren Geschwister. Wie ist es möglich, dass Lieder so etwas vermögen? Warum wird einem so eigen zu Mute, warum strahlen die Augen unserer Mädels, wenn endlich das erste Adventslied gesungen wird? Nie kann ein Lied in­ nerlicher und reiner gesungen werden, als wenn es aus dieser Stimmung heraus wächst. […] nebenan wird zum Krippenspiel geübt, dazu auch die Lieder der Engel und Hirten durchgesungen. Die Mädel heben die Köpfe von ihrer Arbeit, horchen gespannt, mit strahlenden Augen: ›Ich kann gar nicht schreiben, ich muss erst einmal zuhören‹. So sagt eine, alle haben es gedacht, und sind der einen, die es aussprach, dankbar. Das Singen in der Adventzeit soll aber ein ganz besonderes Singen, ein Klingen und Vorbereiten, ein Besinnliches, ein vor Freude klingendes Tönen von den weihnachtlichen Gestalten sein. Singen und Flöten, Lauten- und Geigenspiel gehören ins Lager. Nie werden wir das gemeinsame Singen in der Adventszeit vergessen, ist es doch mit das letzte gemeinsame Zusam­ menklingen in unserer Lagergemeinschaft, ehe wir in die Heimat fahren zum Weihnachtssingen beim brennenden Tannenbaum […].«38 Hier werden NS-Ideale und christliche T‌hemen eng miteinander ver­bunden. Die Liebe zwischen Ernst und Lilo verfestigte sich. »Herr Sommer« wurde »mein lieber Ernst« in den Briefen, die zwischen ihnen hin- und herflogen und die immer wieder gelesen wurden. Lieblingslieder wurden ausgetauscht, sie wollten Haydn und Mozart zusammen spielen, Lilo am Kindheit, Jugend, Ehe

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Klavier, Ernst auf der Geige. »Und Bilder müssen wir haben und Walzer ge­ nießen, und Opern hören, die Meistersinger, Tristan, Egmont! Kunst überwin­ det die Erdenschwere. Liebevoll strömt das Herz und es weiß was es soll.« Die Trennung, als Lilo nach Pommern zurückkehren musste, habe sie verrückt gemacht, sie konnten es kaum aushalten, während ihr Zusammensein als märchenhaft glücklich empfunden wurde.39 Lilo erkannte sich selbst nicht mehr wieder. »Ach Du, ich kann kaum schreiben, ich bin so übervoll, dass ich meine, es müsste mir die Luft zer­ sprengen. Was hast Du nur aus mir gemacht, ich kenne mich selbst nicht wieder. Nie habe ich geglaubt, dass ich so lieben könnte. Ich bitte Gott, dass meine Liebe so stark bleiben möge, dass ich nie schwach werde, die frohe Zuversicht behalte und den Glauben an Dich! Ich bin nicht mehr ich selbst. Mir ist, als ströme ich ganz in dich hinein, du in mich. Gibt es etwas schö­ neres, als wenn zwei Menschen sich in übergroßer Liebe zueinander be­ kennen? Ich glaube, deine Liebe macht mich gut und fromm, ich bin ganz demütig. Heute kam Dein lieber Brief, oft musste ich anhalten, ich konnte einfach nicht weiterlesen. Deine Worte waren wie ein liebes Streicheln Dei­ ner Hände.«40 Ihre Spontaneität ergänzte seine eher logische Denkweise, wie beide anerkannten. Er sah die empirische Wirklichkeit, das Was, sie die emotionale Seite, das Wie.41 Weihnachten 1935 reiste Lilo nach SchleswigHolstein, und wohnte in Burg bei Freunden der Familie Sommer. Bald verlobten sie sich. Lilos Familie freute sich, dass Ernst auch eine Ausbildung als Lehrer machte und der Bruder Hans ebenfalls. Zwei Familien von Lehrern würden jetzt eine Partnerschaft eingehen. Paul Struck schrieb an Ernst einen freundlichen Brief. Er berichtete von seinen eigenen pädagogischen Ideen. Interessanterweise fand er den Stoff über Rassenbiologie nicht ganz verständlich.42 Dramatische politische Umwälzungen gingen Hand in Hand mit diesen persönlichen Entscheidungen. Kurz nach der Verlobung, im März 1936, marschierte die deutsche Wehrmacht ins Rheinland ein. Lilo fand es alles großartig: »Heute war ein herrlicher denkwürdiger Tag! Du weißt, die Rede des Führers, der Einmarsch unserer Truppen im Rheinland. Unser herrlicher Führer! Unbeschreiblich ist der Jubel der Bevölkerung beim Einmarsch, die Militärmusik, der Beifall im Reichstag. Nun heute Abend der Fackelzug! Du, ich möchte mitten darunter sein, möchte mich mitreißen lassen mit dem ju­ belnden Volk, möchte unsere Landjahrmädels in Saarbrücken sehen, die zum ersten Mal deutsche Reichswehr erleben.«43 Hitlers »Verständnis für die Frau« sei auch wunderbar: »Hast Du eigentlich Hitlers Rede auf der Frauentagung in Nürnberg ge­ hört? Das war ganz wundervoll. Volles Verständnis für die Frau, für alle Fra­ gen in der von der Natur gewollten, also Gottgewollten Neuerung zwischen 44

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Mann und Frau. Er hat so jeder Frau aus dem Herzen gesprochen, voller Hochachtung und […] von der Mutter geredet. Ich hörte mit Ingrid zusam­ men die Rede. Wir lagen im Dunkeln auf der Chaise und waren ergriffen. Ich fühlte mich bei seinen Worten immer getroffen und dachte an das, was zwischen uns werden sollte, so hoch und rein, wie’s der Führer in so zarten, feinen Worten formulierte. Auch wir beide wollen eine Familie gründen, ich will so Gott will, Dir, unserem Volke Kinder schenken. Ich freue mich auf unsere Kinder, auf das Leben, das in mir durch Dich werden wird. Mein lie­ ber, lieber Ernst, mir wird fast schwindlig, wenn ich den Gedanken nach­ gehe. Wir beide, du und ich, eins in unserem Kinde. So groß und mächtig ist die Liebe, dass sie Neues schafft in der engsten Verbindung zwischen Mann und Frau. Ich glaube, in den Jahren, die uns bis dahin noch bevor­ stehen, wird der Wille zum Kinde in mir größer und stärker, die Angst davor fällt mehr und mehr ab und weicht einem sehnsüchtigen Verlangen nach Erfüllung.«44 Leider mussten Lilo und Ernst nach der Verlobung zwei lange Jahre warten, bis sie heiraten konnten. Ernsts Mutter Frieda war nicht überzeugt, dass Lilo für ihren geliebten Sohn gut genug war, und stellte zahlreiche Hindernisse in den Weg: Lilo sollte zuerst ganztägige Kurse für Kochen, Nähen, Gartenarbeit und Haushalten absolvieren. Sie bestand auch darauf, dass Ernst seinem Bruder Hans, der immer noch studierte, finanziell beistehe. Das habe Vorrang! Sie bat sogar Lilos Eltern und Tante Martha, ihr beizustehen. Obwohl die Beziehung sich etwas verbesserte, spürte Lilo immer, dass es der Schwiegermutter an Wärme fehlte, zum Beispiel, als sie im Februar 1941 an Grippe litt: »Heute bin ich aus dem Bett gekrochen und halte mich müh­ sam auf den Beinen […]. Vier Tage habe ich ganz gelegen, mir scheint auch, ich muss nochmal ins Bett. Ich bin schwindlig, friere und schwitze abwechselnd. Die Brust ist noch ganz verschleimt, und der Husten tut weh. Dienstag ließ ich Mutter rufen, da Wäsche war und doch richtiges Mittag da sein musste. Mon­ tag hatte Frau Doose gekocht. Mittwoch versuchte ich eine halbe Stunde auf zu sein, musste aber gleich wieder ins Bett. Da sagt Mutter: ›Morgen kann ich wohl wieder nach Hause fahren‹. Ich war sprachlos. Und sie ist tatsächlich gestern abgefahren.«45 Aber Lilo war eine selbstständige junge Frau, die ihre Reife und Fähigkeiten während der zwei Jahre als Scharführerin im Landjahr bewiesen hatte. Sie empfand die Erwartungen der Schwiegermutter als unsinnig und unfair, und ihre Verbitterung überschattete auch die Beziehung zu Ernst, der zwischen Mutter und Braut zu vermitteln versuchte. Lilo solle nicht von der Mutter respektlos reden: »Ich würde mich so sehr freuen, wenn Ihr beide jedenfalls normal zueinander steht. Da hab ich Euch beide lieb und Kindheit, Jugend, Ehe

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muss nun erleben, dass zwischen Euch nicht alles klappt. Mutter denkt, sie sei Dir nicht gut genug und Du hast einen Bammel vor Mutters Kritik und verlierst Dein Gleichgewicht. Liebling, mir erscheint dieser Zustand unmög­ lich. Ihr beide müsst Euch etwas weniger Gefühl und mehr Schnurzigkeit und leichte Schulter und frische Unbefangenheit anschaffen.«46 Lilo war fast verzweifelt, weil Ernsts Bedingungen ihr hart und unmenschlich schienen. Nahm die Liebe zu ihr etwa nur den zweiten Platz ein, hinter der Liebe für die Mutter? Das Abwarten schien ihr endlos. Man darf nicht vergessen, dass zu jener Zeit Geschlechtsverkehr vor der Ehe tabu war. Auch gab es keine Gewähr dafür, dass von der Schwiegermutter nicht noch andere Bedingungen erhoben würden. Es gab überhaupt nichts Schöpferisches in der Lilo aufgezwungenen Hausarbeit. Ernst hatte seine anregende Lehrtätigkeit, Lilo aber war von der Sinnlosigkeit ihrer Lage fast so bedrückt, als ob sie tot wäre. Schließlich schrieb sie Ende Oktober ein Ultimatum an Ernst. Die Verzögerungen vonseiten der Mutter müssten endlich auf‌hören: »Mein lieber Ernst! Ich habe so viele Sorgen und Fragen. Ich schrieb so oft davon. Liebster, was ist denn los? Du bist doch sonst so hellhörig und fühlst sofort, wenn ich Kummer habe. Ich bin eigentlich nicht sehr zufrie­ den mit Dir. Und drum muss ich dich sprechen, ich muss mir mein Herz leichter machen, ich halt’s einfach nicht mehr aus. Diese lange Verlobungs­ zeit lastet auf mir, es glaubt gar keiner. Ich bin ja so anders geworden, ich bin gar nicht mit mir zufrieden […]. Mir fehlt jede Fröhlichkeit. Ich möchte sorglos glücklich sein. Du weißt, dass ich Dich unbeschreiblich lieb habe und dass Du für mich des Lebens Sinn bist. Ich bin glücklich in dir, wenn Du bei mir bist, wenn Du lieb zu mir bist. Ach, das weißt du ja alles. Ich leide jetzt und das zehrt an mir. Ich singe so ungern dieses Klagelied und möchte nicht, dass du viel­ leicht an gewolltes Märtyrertum denkst. Weil Du das weißt, kann ich nicht verstehen, dass du nicht alles daran setzt, um mich zu Dir zu holen und zu heiraten. Ist der Preis, den du für Hans und Deine Mutter einsetzt, nicht zu hoch? Du hast mir so oft gesagt, dass Du nicht noch einen Winter durch­ machen willst mit deiner Mutter in Schalkholz. Schriebst vom Heiraten so bald wie möglich. Anfang des neuen Jahres […]. Nun schreibst Du im letz­ ten Brief: die Hochzeit findet in den Osterferien statt. Ist das Dein Ernst? Was soll ich dann noch beginnen von Weihnachten bis Ostern? Deine Mut­ ter schrieb immer, das letzte halbe Jahr Aussteuer nähen!«47 Ernst kapitulierte. Sie sollten doch im März 1938 heiraten! Im Oktober 1937 hatte seine militärische Ausbildung im Ersatzheer in Kolberg / Pom46

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mern angefangen, und schon bald wurde er als Reserveoffiziersanwärter ange­sehen. Zärtliche Briefe wechselten zwischen ihnen. Lilo schickte Ernst auch Kuchen; beide freuten sich vor allem auf die gemeinsame Weihnachtszeit in Lilos Elternhaus in Spantekow. Aber Lilo war auch in eine tiefe Depression gefallen, die sich in ihren Briefen spiegelte und die Ernst schwere Sorgen bereitete. Lilos Vertrauen in ihn schien geschwunden. Die Verschiebung der Heirat und die Verdächtigungen durch Ernsts Familie hatten sie zutiefst erschüttert. Es war bestimmt ein stürmisches Verhältnis, voller Höhen und Tiefen. Beide waren überarbeitet, Lilo verbrachte oft schlaf‌lose Nächte und verlor an Gewicht. Wenn sie am Ende eines langen Tages ihre Briefe schrieb, waren Ton und Sprache verständlicherweise unbeherrscht, manchmal beinahe hysterisch. Als Ernst jedoch zu Weihnachten in Spantekow ankam, schien alles vergessen. Lilo schrieb ein paar Tage später: »Ich bin so unglaublich glücklich, wenn ich an Dich denke, und Deine Postkarte sagt mir, dass es Dir nicht an­ ders geht. Nie habe ich ein neues Jahr mit solchem Vertrauen angefangen. Ich lag im Bett, die Augen weit offen, und dachte an Dich.«48 Trotzdem waren die Monate vor der Heirat erneut von Stress und Spannung gezeichnet. Lilo wohnte im Elternhaus und beobachtete jeden Tag das böse Blut zwischen den Eltern. Sie verschwendete ihre Zeit für die entwürdigenden Aufgaben, die ihre Schwiegermutter ihr aufnötigte. Auch gestalteten sich die Vorbereitungen für die Trauung äußerst schwierig: Eine Unterkunft musste gefunden und Reisepläne von Hamburg und Schleswig-Holstein nach Spantekow geschmiedet werden –- für eine Familie Sommer, die davon nicht gerade begeistert war. Obendrein mussten Ernst und Lilo an ihr künftiges Haus in Wrohm denken, vor allem Geld für die Möbel leihen.49 Und zu allem Überfluss bestand Ernst eine Zeit lang gar darauf, dass seine Mutter mit ihnen zusammen wohnen sollte! Um zusätzlich Geld einzunehmen, nahm Lilo eine Stelle in einem Büro an, die Ernst unakzeptabel fand. Frauen gehörten seiner patriarchalischen Ansicht nach ins Haus und in die Küche, nicht in ein Büro. Ernst selber hatte allerlei zu tun, weil seine Zeit in Schalkholz zu Ende ging und die Versetzung nach Wrohm geregelt werden musste. Über solche Angelegenheiten diskutierte und stritt das junge Paar in langen Briefen. Um die Unterkunftsprobleme zu lösen, schlug Lilo sogar vor, dass sie in der Hochzeitsnacht separat schlafen sollten! Hier legte Ernst allerdings ein heftiges Veto ein. Die deutsche Bürokratie trug ihren Teil bei, um alles möglichst kompliziert zu machen. Inzwischen wurde bei Eheschließungen der Nachweis arischer Abstammung verlangt, also galt es – oft mühsam –, die entsprechenden Dokumente aufzutreiben. Endlich, am 11. März, fanden die Zeremonien in Spantekow statt, zuerst im Standesamt, dann in der Kirche, danach das Hochzeitsmahl. Alles lief Kindheit, Jugend, Ehe

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erstaunlich harmonisch ab. Lilos Sorge, Ernsts Mutter könne sich ungeziemend benehmen, erwies sich als unbegründet. Eine ungewöhnlich herz­ liche Ehe konnte jetzt ihren Lauf nehmen. Nur einen Tag nach der Heirat marschierten deutsche Truppen in Österreich ein. Obwohl die Mehrheit offenbar selbstständig bleiben wollte, erzwang Hitler die Kapitulation der schwachen Regierung Österreichs. Schon im September folgte das Münchener Abkommen. Hitler nutzte die Illusionen Englands und Frankreichs und die Kurzsichtigkeit Polens aus, um unter Berufung auf größere deutsche Bevölkerungsanteile in das sogenannte Sudetenland einzumarschieren, die stark befestigte westliche Seite der Tschechoslowakei. Den meisten Deutschen, unser junges Paar eingeschlossen, bewies dieser Coup den Kontrast zwischen dem Charisma des Führers, der genau wusste, was er wollte, und auch die Mittel dafür besaß, und der Halbherzigkeit und Uneinigkeit der Westmächte. Obwohl nur wenige es wussten, plante Hitler schon zu diesem Zeitpunkt den Angriff auf Frankreich und England. In Mein Kampf, dem Buch, das in zahllosen deutschen Wohnzimmern lag, aber wohl genauso wenig gelesen wurde wie die Bibel, hatte er bereits sein Programm dargelegt, Lebensraum für das Reich zu gewinnen und Land im Osten für deutsche Siedler zu erobern. Für alle Hellsichtigen war offensichtlich, dass Polen als erstes Feindesland auf der Liste stand. Der Anfang von Lilo und Ernsts Ehe fiel mit dem siegreichen Gelingen von Hitlers Diplomatie zusammen, unterstützt von der Militarisierung der Wirtschaft. Die Träume des jungen Paars von einem glücklichen Zusammenleben schienen mit einer glorreichen Zukunft von Hitlers Deutschlands Hand in Hand zu gehen. Die neue Ehe war nicht ohne Schwierigkeiten, wie einige Hinweise zeigen. Ernsts »Liebesspiel« war nicht immer willkommen. Es gab ab und zu einen gewissen »Kampf« zwischen ihnen, wie Ernst bemerkte. Lilo war ihm aber »zu einem unerschöpflichen Quell für mein irdisches Leben geworden. Du hast Dich mir wiederum in wundersamer Weise geoffenbart, so einfach und schlicht und doch, vielleicht gerade darum, so tief und innig. Blick zu­ rück, Herzlieb. Ich kam zu Dir. Unbändig glühte in mir der Wille, Dich zu ge­ winnen, d. h. nicht nur zu heiraten, sondern, tief und fest zu besitzen, ich wollte, dass wir zwei eins würden im Körperlichen und Seelischen. Da standest Du stille und blicktest erstaunt und freudig um Dich. Und dann kam das Wunderbare, Du gabst Dich aus einem unerforschlichen Gefühl diesem Mann, der Dich forderte, tastend hin, bis ein Sturm Dich erfasste. Da wurdest du mein eigen. Und es begann für uns beide ein Kampf. Wir müssen beide an die Wildheit, die Schwere, [sic!] und doch gaben uns die 48

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Stunden glückseliger Gemeinsamkeit die Kraft zum Durchhalten. Gott sei Dank, mein Lieb, wir trieben nicht, wir schritten und ich bin Dir aus tiefstem Herzen dankbar, dass Du ausgehalten hast. Ich habe aus Deiner Weiblich­ keit eine innere Einheit geschöpft, und Du bist durch mich erfüllt, Liebling, das soll uns stark machen auch in dieser Zeit der Trennung. Tausendfältig haben wir uns gegenseitig geformt, und jeder von uns ist nicht mehr ein Ein­ zelner, sondern Du bist auch ein Stück von mir und ich von Dir geworden.«50 Später sprach Lilo auch von den »Erstlingskrankheiten einer Ehe«.51 Im April 1941, als Ernst schon Soldat war, kam ein »wunderbarer Brief« von ihm, der sie an die Verlobungszeit erinnerte: »Es ist ja so wahr, was Du über unsere Liebe und Zusammengehörigkeit sagst. Hinter dem gefühlsmäßigen steht der unbändige Wille. Ich will mir ein Glück bauen. Dieser Wunsch ist in mir so lange wir uns kennen. Und oft nach den Spannungen im ersten Ehejahr habe ich mir gesagt – so geht das nicht, gib’s auf, geh hin zu Ernst, als Frau muss Du den ersten Schritt tun. Und nie hast Du mich abgewiesen, Liebster. Wenn ich dann bittend zu Dir kam, fanden wir uns wieder, weißt Du noch? Ich glaube von mir sagen zu können, dass das seelische Moment unserer Liebe am stärksten ist. Jetzt in den Jahren unserer Trennung, ist es mir so recht zum Bewusstsein gekommen. Wenn ich Dein Bild in Händen halte, dann steigt es heiß in mir hoch, alles kommt zusammen in dem einen Wort – Du! Da ist so gar nichts von Sinnlichkeit, von Körperlichem. Meine Seele liegt offen vor Dir, ich schenke sie Dir immer wieder neu.«52 Ihre feste Absicht, »ein Glück zu bauen«, wurde vom Schatten ihrer unglücklichen Kindheit angespornt. Beide liebten Sport (obwohl Lilo nichts für Fußball übrig hatte) und Wandern und fanden schnell Kontakt zu anderen Menschen. Ernst hatte, wie oft erwähnt wird, ein ruhiges Temperament; man fühlte sich bei ihm wohl. Beide liebten Musik, ob Volksmusik oder Klassiker, sangen gern, spielten verschiedene Instrumente: Blockflöte, Klavier, Orgel, Geige. Ihre Gedichtbücher sind oft kommentiert. Lilo hatte ein ungewöhnlich gutes Gedächtnis für Lieder, Gedichte, Märchen. Ernst »grübelte« gern, bildete sich ein, Philosoph zu sein! Nur das Geld fehlte an allen Ecken und Enden. Glücklicherweise konnte Lilo gut haushalten. Sie improvisierte, nähte, stopfte Socken, setzte Prioritäten. Schulden waren ihr irgendwie nicht geheuer, des Öfteren warnte sie Ernst davor, zu viel Geld auszugeben. Wir können uns ein relativ genaues Bild von ihrem täglichen Leben in Wrohm machen. Die Welt des Dorfes war sehr ordentlich. Jeder passte auf den anderen auf. Der Kies vor dem Haus musste regelmäßig geharkt werKindheit, Jugend, Ehe

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den. Das traditionelle Familienleben und die Arbeit auf den Feldern waren zu bewahren. Schon in Burg hatte Lilo den Widerstand gegen alle Neuerungen gemerkt. Man verteidigte den eigenen Raum, die Selbstständigkeit, die eingeborenen Rechte. Außenseiter waren nicht erwünscht, selbst wenn sie vom Staat oder der Partei bevollmächtigt waren. Man verstand, dass das Haus des Lehrers etwas anders war. Hier sprach man Hochdeutsch und nicht Platt. Man hielt einen gewissen Abstand und zollte dem Lehrer und seiner Familie Achtung. Bei geselligen Zusammenkünften wurde erwartet, dass Frau Sommer Klavier spielte. Ab und zu findet man auch Hinweise darauf, dass die Sommers etwas zu viel Abstand hielten. Als im April 1941 ein Gerücht die Runde machte, dass der Lehrer, Ernst Sommer, für eine Stelle in der Auf‌bauschule in Burg, einer NS-Ausbildungsstätte für bessere Schüler, vorgesehen sei, soll die alte Frau Grönhoff gesagt haben: »Man kennt die Leute ja kaum, gehen nirgends aus und halten sich immer zurück«.53 Als Lehrer war Ernst Sommer beliebt. Er führte die Hitlerjugend im Dorf, reiste mit ihr nach Belgien, Dänemark und in die Niederlande. Blut und Ehre, das Gesangbuch der Hitlerjugend, von Baldur von Schirach herausgegeben, gehörte ihm, und sein abgegriffenes Exemplar bezeugt, wie oft es in seiner Hand war. Die Fahne sei »größer als der Tod« war die Devise, und die Betonung auf Tod und Ehre ist unverkennbar. Diese jungen Nationalsozialisten sollten bereit sein für jedes Opfer für das Volk, um das »Neue Deutschland« aufzubauen. Die Melodien waren bestens geeignet zum Marschieren unter Fahnen und Fackeln, feierten Kameradschaft und romantische Liebe zur Natur. Unter alte patriotische Texte mischten sich die neuen Lieder der NS-Bewegung.54 Man fragt sich, was die Eltern dieser Jungen, Dithmarscher Bauern, im Winter zu endlosen Kartenspielrunden versammelt, eher konservativ und oft als stur angesehen, von diesem Romantizismus hielten. Das erste Kind von Lilo und Ernst, Heinke, wurde im Februar 1939 geboren. Ernst bekam Heimaturlaub, um bei der Geburt dabei zu sein. Zwei Jahre später erinnerte sich Lilo gern an ihre Aufregung während der Schwangerschaft: »Mein lieber Ernst! Ich denke sehr gerne an diese Zeit, in der wir glückselig auf unser erstes Kindchen warteten. Magst du ein bisschen mit in jene Zeit zurückkommen? Wie oft haben wir träumend auf dem Sofa gesessen und waren ganz still vor dem kommenden Glück, weißt Du noch? Unsere tägli­ chen Spaziergänge, wie war das alles schön! Du warst so rührend lieb und besorgt um mich, hast mir überall geholfen, sogar beim Küchenschrubben, Du Lieber Du! Wie oft legte ich abends im Bett deine Hand auf das stram­ pelnde Kindlein. Ich mochte es so gern, wenn Du daran teilnahmst. Du 50

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zucktest dann immer zusammen und erschrakst. Ich weiß noch alles so genau. Ich nähte die winzigen Hemdchen, all die Tücher und Bezüge und machte das Körbchen hübsch. Es war eine wundervolle Zeit. Bei allem warst Du dabei, mit allen Sorgen und bangen Gedanken kam ich zu Dir, mit Dir sprach ich über alles und Du halfst mir in Deiner wunder­ vollen Art und Ruhe und mit Deiner großen Liebe. Und zum Schluss kam alles so unerwartet. Vier Wochen ehe wir es dachten! Ich weiß noch alles, alles, jede Kleinigkeit. Wie ich Dich nachts um ½ 3 Uhr weckte, wir waren ja beide ganz dumm und unerfahren. Bis 7  Uhr morgens ließ ich Dich noch im Bett, aber gegen ½ halb 8 gingst du dann zu Buhmann. Und dann kamen die vielen, vielen Stunden des Wartens, Geduld und immer wieder Geduld. Um 1.30 kam dann Dr. Meier, um bis abends 7 Uhr mit Dir und Frau Schlüter (Hebamme)  bei mir zu sitzen. Ich sehe Dich an meinem Kopf­ ende sitzen, hattest deinen dunklen Anzug an. Du bedrängtest mich gar nicht mehr, weißt Du noch, Liebster? An besondere Schmerzen kann ich mich gar nicht erinnern. Gegen ½ 8 Uhr fuhr Meier fort, um die Schwester aus Albersdorf zu holen. Ich war da schon sehr müde und es war mir alles ziemlich gleich. Ich hatte nur den Wunsch, dass endlich alles vorbei wäre, egal wie. Um ½ 9 Uhr kamen sie zurück und Du hantiertest mit Meier lange in der Küche, Handtücher auskochen usw. Doch das erfuhr ich ja erst hinterher. Dann hobst Du mich aus dem Bett und legtest mich auf den Küchentisch und ehe ich mich versah, hatte ich schon etwas auf der Nase und musste tief einatmen. Immer dumpfer wurde es um mich, in den Ohren läuteten laufend Glocken und Ihr wart mir so weit weg, nur Eure Stimmen vernahm ich ganz deutlich. Ich sagte noch, fangt noch nicht an, ich merke noch alles – das war meine letzte Erinnerung – ich erwachte von weit her wieder in meinem Bett, schlug die Augen auf und wollte mich aufrichten. Still lie­ gen, rief jemand und dann hörte ich ein Baby quäken, sah Frau Gudenrat, Frau Schlüter, und Schwester Magda am Tisch hantieren. ›Frau Sommer, Sie haben ein Töchterchen!‹ Ich höre noch heute ganz deutlich den Klang der Stimme. ›Ist es gesund?‹ fragte ich. Du saßt mit Dr.  Meier im Esszimmer und trankst Kaffee und kamst so­ fort zu mir und fragtest, wie es mir ginge. Ich fühlte mich sehr wohl. Nun war unser Sonntagmädel da, unsere Heinke! An die folgenden bösen Tage denke ich nicht gern zurück. Weißt Du noch, die grässlichen Schmerzen in den Schenkeln, und wie Du mich gleichmäßig auf beiden Armen hoch­ heben musstest? Dazu die Schmerzen der Schnittwunden, das Verstopft­ sein, das Wasserablassen, das Stillliegen und Hungern. Ach, und dann hin­ terher die Nierenentzündung. Die hätte ich nicht nötig gehabt, wäre ich nicht zu früh rausgegangen. Ganz eklig waren die Schmerzen, Und bei all dem warst Du mein lieber, treuer Kamerad und Krankenpfleger. Wie hast Kindheit, Jugend, Ehe

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Du mich lieb umsorgt und noch dazu das Baby gewickelt und ihm Flasche gegeben. Ach mein Junge, wie lieb ich dich, dich, meinen überallesgelieb­ ten Mann und Lebenskamerad.«55 Zurück im Lager verfolgte Ernst mit Inbrunst jede Kleinigkeit über den Fortschritt des Kindes, schickte aber der Mutter auch ohne Bedenken seine schmutzigen Kleider nach Hause! Lilo war bald schwanger mit dem zweiten Kind, und Ernst machte sich ihretwegen Sorgen. Er war äußerst enttäuscht, dass er diesmal keinen Urlaub bekam: »Du Lütten, wir dür­ fen eigentlich nicht schreiben. Hier sind im Lager einige Scharlachfälle und darum Postverbot. Du musst aber doch Nachricht haben. Ich bin quietsch­ fidel und puppenlustig, steh aber auch un­schuldigerweise unter Quaran­ täne.« »Ich hatte dem Leutnant Deine Lage erklärt: Kind krank, Heizung ge­ stört, Leitung gefroren, Kohlensorge, Frau in anderen Umständen. Wir hoffen, dass die Quarantäne bald aufgehoben wird.«56 Im Mai durfte Ernst endlich kommen, aber am Ende des Besuches gab es Spannungen. Lilo meinte, dass er ihre häuslichen Sorgen nicht ernst genug nehme. Zurück im Lager entschuldigte er sich: »Ich kann nicht in Spannung mit Dir leben und muss schreiben. […] Ich bekenne mich schuldig und bereue meine Unbeherrscht­ heit. Was nützt es, sie philosophisch zu erklären? Jedenfalls wollte ich dich weder bloßstellen noch gleichgültig schimpfen. Gleichgültigkeit? Tolle Zumutung.«57 Als Ehepaar hatten sie angefangen, sich aneinander zu gewöhnen, und die Kinderschar wuchs.

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Falscher Frieden Alles wird gut sein und alle werden gut sein, und aller Art Dinge wird gut sein.58 Julian of Norwich

Schon 1937 wollte Ernst der Reservearmee beitreten, ein klares Indiz seiner Begeisterung für die Ziele des Nationalsozialismus. Lilo unterstützte ihn, aus patriotischen ebenso wie aus finanziellen Gründen. Trotz der Erinnerung an den Ersten Weltkrieg und den schaurigen Tod seines jungen Vaters freute sich Ernst darauf, die Uniform der deutschen Wehrmacht anzuziehen. »Ich sehe den Sinn des Lebens in der Arbeit, im Kampf, im Einsatz«59, schrieb er. Und in Nazi-Deutschland hieß Einsatz militärischer Einsatz. Im Juli 1939 wurde er einberufen, und damit ging sein Schuldienst in Wrohm zu Ende. Während der Ausbildungszeit durfte er aber relativ oft nach Wrohm zu Lilo fahren. Dass er bei ihrem Geburtstag am 4. August nicht dabei sein konnte, weil er als Gefreiter vom Dienst eingesetzt wurde, enttäuschte ihn. Er blätterte das Fotoalbum, das Lilo ihm geschickt hatte, betrübt durch und versicherte ihr: »Ich will weiterhin als treuer Lebenska­ merad neben Dir stehen und Dir helfen, wie Du mir hilfst. Wenn man bei den Soldaten ist, weiß man, was im allgemeinen unter Gattentreue verstanden wird. Du darfst ruhig sein […]. Willst Du bitte verzeihen, wenn alle Geschenke verstreut anfliegen. In diesem Päckchen noch zwei Laternen für die Leute. Hoffentlich erleben wir noch einen schönen Abend im Flackerlicht ihrer Ker­ zen.« Sie solle sich ein neues Kleid für Heinkes Taufe kaufen. Kurz danach kreuzte er bei der Taufe als stolzer Vater auf.60 Ernsts Bruder, Hans, und Lilos Bruder, Dieter, wurden ebenfalls einberufen. Ernst wurde in der nahen Kreisstadt Heide ausgebildet, dann in Lübeck. Die ewigen Exerzierübungen lagen ihm überhaupt nicht: hin und her zu marschieren, in Habachtstellung zu stehen, zu rennen und herumkommandiert zu werden. Er wunderte sich auch, dass viele Kameraden nur an Saufen und Frauen dachten. Ein Brief an Lilo zeigt seine Sorge um ihre Schwangerschaft, aber auch seine politische Ahnungslosigkeit: »Du glaubst ja gar nicht, wie sehr es mich täglich zu Dir zieht. Nur der ange­ spannte Dienst hält meine Gedanken von Dir, Heinke, und unserem Wrohmer Heim ab. Ich bin bestimmt ein häuslicher Typ, denn die Touren der Ausgänger hier bei den Soldaten sind mir innerlich so fremd. Schade, dass ich ein Soldat sein muss, wo die Lehrer noch einen ganzen Monat Ferien bekommen, nicht wahr? Die politischen Ereignisse überraschen! Sieh, nun wird wohl klarer, Falscher Frieden

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dass eine allgemeine Kriegsgefahr nicht besteht. Polen wird ja seinen Lohn haben müssen. Mach Dir bitte keine Sorgen, Herzlieb. Es ist kein Grund vor­ handen. […]. Weckst Du schon Pflaumen ein? Ist noch so viel im Garten zu tun? Bitte, mein Lütten, schon Dich!«61 Wie die meisten Deutschen nahm er an, dass Frankreich und England, wie zuvor beim Einmarsch ins Rheinland und nach Österreich und nach dem Münchener Abkommen, dem Reich nicht widerstehen würden. Politisch sah Lilo die Situation realistischer: »Die Lage ist doch unge­ heuer ernst. […] Eben hörte ich bei Johannsen die Rede des Führers! Meine Ahnung hat mich nicht betrogen, ich wusste, dass es so kommen würde. Nun nehmen die Dinge ihren Lauf, ich kann nichts weiter als hoffen und wün­ schen und für Dich beten, mein Ernst. Ich will tapfer sein, Gott hat uns in sei­ ner Hand […].«62 Als Frankreich und England Deutschland den Krieg erklärten, war sie schockiert. »Zu gern möchte ich mal wieder meinen Kopf an Deine Brust packen und ruhig werden, alle Sorgen und dummen Gedanken bei mir loswerden. Es ist so schön, zu zweien sich das Leben leichter zu machen, einer dem andern zu helfen und sich aneinander aufzurichten. Nun muss ich mich immer sel­ ber wieder aufrappeln, ich habe jetzt öfter ganz trübselige Stunden mit den Gedanken an die Zukunft. Wenn nur an dem Ende Du wiederkommst, will ich schon fertig werden, aber selbst diese Gewissheit hat man nicht. Die Rede des Führers hat keine Erleichterung gebracht, es wird jedes Opfer ge­ bracht, und von England eine Entspannung zu erhoffen, ist wohl sehr kind­ lich. Es muss unbeschreiblich sein, sein Liebstes hergeben zu müssen und dennoch weiterzuleben, ein ganzes Leben lang [sic] mit diesem Schmerz herumzutragen. Ein Krieg mit Waffen wird Millionen kosten, schon die 10.000 Gefallenen im Osten sind erschütternd ganz gleich, ob es im Ver­ hältnis zum Feind sehr wenig sind.«63 Aber ob Krieg oder nicht, der Alltag nahm seinen Lauf. Lilo berichtete ihm über das Kind und die häuslichen Dinge, die Einzelheiten, die er so gern hörte: »Mein lieber Ernst! Es war mir gestern ganz ungewohnt, dass Du nicht bei uns warst. Dir geht es sicher auch nicht anders, hast öfter mal hergedacht, Liebster? Frl.  Butenschön (Hilfslehrerin) dankt für Kaffee, anschließend haben wir gestrickt, auch über Abendbrot bis ein halb 10 Uhr. Ich stricke Heinkele Strümpfe, sie muss notwendig warmes Zeug haben. Ich will in Hamburg allerlei besorgen. Sonnabend rief ich Meier noch einmal an, er kam endlich und stellte keinen Keuchhusten fest! Untersuchte auch Herz 54

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und Bronchien und konnte nichts Besonderes sagen. Er verschrieb Medi­ zin. Die Anfälle sind noch gleich stark. Sie quält sich so mit dem Schleim, den sie natürlich runterschluckt. Ich bin so froh, dass es kein Keuchhusten ist, wenn auch dieser schlimm genug ist. Sonst äußerte sich Meier sehr zufrieden, so ein Baby sähe man nicht immer, ihr Köpfchen ist ganz fest, meine Ernährung ist richtig gewesen. Schön, nicht? Von Vater und Dieter kam eine gemeinsame Karte! Dieter musste sich beim Regiment stellen und war nur einige Stunden zu Hause. Er kam aus der Nähe von Bromberg, die Nachricht vom Tode eines Spantekow Schul­ kameraden in Polen hat mich sehr beschäftigt. Auch Wrohm hat einen Gefallenen, den Sohn von Sobronitzky. Der Klaussen-Mühle liegt mit bei­ den Schenkelbrüchen in Berlin im Lazarett, war noch 10 Tage in Gefangen­ schaft. Frahm ist entlassen, ebenso Erwin, wegen Magengeschwür.«64 Eine verlorene Uhr tauchte wieder auf. »Torf ist auch da. Ebenso die Nachzahlung. Ich kaufte gestern noch 10  Weckgläser und 12  Dosen, da alle meine Gefäße voll sind. Ist es dir recht? Es machte 11 Mark! Ich muss ja gerüstet in den Winter gehen! Mir geht es gut. Heinke bekommt ein ganz anderes Stimmchen. Ganz hoch, sie artikuliert auch anders. Unser goldiges Kindchen, nicht? Ich habe eben schnell Deine Taschentücher geplättet, Du brauchst sie sicher. Daher die Eile. In heißer Liebe, mein Ernst, küsst Dich Deine Lilo.«65 Es gab immer allerlei zu tun: »Heute habe ich das kleine Bäumchen mit den großen Pflaumen geplün­ dert und sie eingemacht. Es sind noch viele unreife dran, komisch, sie sind so ungleichmäßig reif. Dann hatte ich große Kinderwäsche und morgen will ich meine große Wäsche plätten. Die Tage laufen wie im Fluge und sind ausgefüllt mit Arbeit. Dann habe ich das Regenfass ausgescheuert und mit dem Beil den Stöpsel rausgehauen. Ja, mein Junge, Du fehlst mir viele Male am Tag, aber ich komme gut zurecht, will noch viel mehr tun, wenn ich Dich nur wieder kriege! Der Garten grünt mächtig, den Vorgarten habe ich so weit in Ordnung, aber zum anderen komme ich nicht. Ist das sehr schlimm? Frl. Butenschön ist hier, und hat ihren Volksempfänger bei mir stehen. Prima, nicht?«66 Der schlechte Schulunterricht unter dem Ersatzlehrer bekümmerte sie, viel mehr jedoch litt sie unter der Trennung. »Wie gern, und mit wie viel Liebe ich Dir Deinen 27ten Geburtstag verschönt hätte, weißt du sicher. […] So ein Krieg lastet doch schwer auf den Gemütern der Heimgebliebenen, da sind Falscher Frieden

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so viele stille Stunden! Draußen regnet es in Strömen, bei Euch sicher auch. Heinkele hält Mittagsschlaf. Eben hörten wir die Nachrichten. Nun geht’s also los, Saarbrücken ist beschossen! Das Schicksal nimmt seinen Lauf, wir müs­ sen stille werden.«67 Ernst versuchte, sie zu beruhigen. »Ich bin so froh, eine tapfere, kleine Frau zu haben. Ich weiß, was hinter den Worten steht. Da sind die langen Nächte, einsame Stunden. Herzlieb, eine Hilfe ist immer der Gedanke an die Gemeinsamkeit so vieler Schicksale. Ich erlebe dieses Gefühl: Du bist nicht allein in dieser Trennung von Weib und Kind, neben Dir stehen die unzähligen Kameraden mit ähnlichen Sorgen. Bei Dir ist es schwieriger. Auch Du siehst die Häuser, denen ein gleiches Schicksal auferlegt wurde, aber daneben stehen die Menschen, die durch die Umstände oder auch durch Schmierereien vor schweren Stunden be­ wahrt blieben. Liebling, lass diese Menschen. Ich möchte jedenfalls nicht in Betten liegen, während meine Kameraden an der Front ihren männlichen Mut beweisen. Ich weiß, dass Frauen es am schwersten haben, aber auch wir gehen nicht verantwortungslos in den Kampf. Ich weiß aber meine Pflichten, um vor meinem Gewissen Ruhe zu haben. Ich erfülle sie freudig, und weiß bestimmt, dass Du mir im Herzen zustimmst. Lieber einen toten Mann als ein Feigling besitzen.«68 Der letzte Satz wird Lilo kaum beruhigt haben. Vor Ende September war der tapfere Widerstand Polens vorbei. In einem erstaunlichen Blitzkrieg hatten die zweitausend Panzer der Wehrmacht, zusammen mit einer totalen Übermacht in der Luft, das Land an sich gerissen, während die russische Armee den Osten Polens übernahm. Zur Überraschung von Ernst reiste Lilo im November nach Pommern, um den Geburtstag des Vaters zu feiern, eine Reise, die in jeder Beziehung höchst erfolgreich war. Ernst hatte ihr ursprünglich davon abgeraten, weil sie schwanger war, machte auch dunkle Andeutungen über militärische Entwicklungen, die ihre Rückkehr eventuell verhindern könnten. Als sie trotzdem die Reise unternahm, war er begeistert über ihren Mut und ihre Ausdauer.69 Anschließend besuchte sie ihn dann in Lübeck. Sie waren wieder ein junges verliebtes Paar. Lilo erzählte von ihrem »goldigen« Töchterlein im neuen blauen Kleid, das mit den Händen klatschte, als Lilo ihr etwas vorsang. Auf der Rückreise im Zug sprach sie über den Krieg mit einem Oberleutnant, der in ihrem Abteil saß. »Es war interessant, seine Ansicht zu hören. Er meinte, nie sei es so günstig für uns gewesen wie heute. Er glaubte nicht an ein Zurück. Der Führer hat gesprochen und damit Schluss. Es würde ja noch viel mit Frankreich verhandelt. Er dachte an ein Stürmen der Maginot-Linie. 56

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Diese unheimliche Ruhe löst in nächster Zeit die Entscheidung. Mein Ernst, was hat das Schicksal wohl noch mit uns vor? Im Großen gesehen sind ja Einzelschicksale unwichtig, im Einzelnen aber kann eine Welt von Friede und Glück zusammenbrechen, und Not und Leid ist im Augenblick da. Dieser Kampf gegen England, für beide Völker ein Kampf um Leben und Tod, wird uns unzählige Opfer kosten.«70 Am 30. November schrieb Ernst aus »Adolfs Höhe«, einem Truppenübungsplatz in der Nähe von Münster. Es regnete Bindfäden, aber nach seiner Zeit im Arbeitsdienst, im Landjahr und in der Hitlerjugend konnte ihn nichts aus der Fassung bringen. Die Stimmung der Kameraden war verständlicherweise sehr gut.71 Die Wehrmacht errang Sieg um Sieg! Wenn sie gewusst hätten, dass der zähe Widerstand der finnischen Armee den schlecht vorbereiten Feldzug Russlands vereitelt hatte, wären sie noch fröhlicher gewesen. Nach dem Blitzkrieg in Polen gab es monatelang kaum militärische Aktionen, obwohl im Westen die alliierten Armeen viel mächtiger waren als die deutschen. Lilo fand diesen »Scheinkrieg« entnervend, und Ernst bemühte sich, sie zu verstehen. »Dein Brief war lieb und lang, ich danke Dir aus liebebedürftigem Herzen und freue mich schon auf den nächsten. […] Ich freue mich, dass du keine Angst hast, aber Liebste, warum so kraftlos? […] Liebe, Du fasst das tägli­ che Leben so mutig an, wenn es dich fordert. Auch deine Schrift zeigt die­ ses Rangehen und Fertigwerden mit den Dingen. Etwas mehr Ruhe, mein Lieb! Ich will einmal im nächsten Brief auf den ruhigen Zug achten, darf ich? Sieh, mein Lütten, dieser Einsatz ist das Entscheidende. Da passt ein Fatalismus nicht. Übrigens bist Du gar kein Fatalist, der kennt keinen Ein­ satz mehr. Tu, was du tust im Vertrauen auf Gott und aus einem Wollen he­ raus. Das Wollen bin ich und sind unsere lieben Kleinen, sind Volk und hohe Güter. Das erstere ist greif‌bar, darum denk an mich, die Kleine hast Du ja täglich vor Dir. Liebe, ich wollte dir helfen und merke, dass ich viel zu weit ging. Ich habe aus der Mücke einen Elefanten gemacht. Dein Brief war so lieb und gut. Das tut sehr gut. Ich danke Dir nochmals.«72 Spannungen zwischen den Frauen zu Hause und den Männern, die sich seelisch auf den Kriegsdienst vorbereiten mussten, waren weit verbreitet und der Gestapo schon sattsam bekannt. Ernsts Auf‌fassung von männlicher Tugend war konservativ und traditionell geprägt »Auch ich bin mit heißem Herzen an der Front und beherrsche schwer die Lust mitzumachen. Du verstehst mich doch, ja? Wir Männer gehören nun einmal an die Front. Dass ich mich mit ganzer Seele nach dir und unseren lieben Kleinen sehne, ist dabei klar, und ich freue mich kindlich auf das Kriegsende und den ersten Tag Falscher Frieden

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im Heim. Im August, meinst du, könne alles aus sein. Das ist, nicht so unrecht, obwohl man sich vor solcher Gesinnung hüten muss. Wir erfüllen bis dahin unsere Pflicht und das ist alles.«73 Im Advent 1939 wollte sich bei Lilo keine Vorfreude auf Weihnachten einstellen. Der Krieg brachte so viel Unsicherheit mit sich: »Heute in drei Wochen ist Heiligabend! Wie die Zeit rennt! Es kommt dies­ mal gar keine Adventsstimmung in mir auf, alles wird überschattet vom Krieg, der drohend in der nächsten Zukunft steht. Wohl habe ich auch dieses Jahr einen Tannenkranz am roten Ständer und gestern den ersten Kriegshonigkuchen gebacken und doch, diese äußeren Ding machen es ja nicht, sie können nur einen festlichen Rahmen geben zu einer inneren Trau­ rigkeit. Ich will mir auch gar keine Hoffnungen betr. Deines Kommens zum Fest machen. Ich bin vorsichtig im Freuen geworden, da ist man auf alles gefasst und die Enttäuschung vorbereitet und nicht gar so heftig. Nun bist Du noch weiter von uns weg, Liebster. Schade, ich hatte jetzt eine Vorstel­ lung von Deiner Lübecker Umgebung, leider für so kurze Zeit. Auf dem Atlas kann ich Dich jetzt nicht finden, Liebling, seid ihr mitten in der Heide? Es muss doch sehr einsam sein, keine Geschäfte und Menschen ringsum, nur die Kaserne, ist’s so? Wir daheim haben doch noch unsere Gemütlichkeit im Heim, haben zu essen und warme Stuben und über nichts zu klagen als über das Fernsein des geliebten Mannes. Euch macht die Gemeinschaft die Trennung leichter, ja? Es ist für beide Teile gleich schlimm, Krieg ist das allerschlimmste auf Erden. Ich denke oft, wie viele Männer kommen nicht wieder und warum sollte gerade ich es besser haben als die andern?«74 Trotz ihrer Befürchtungen bekam Ernst zu ihrer übergroßen Freude Heimaturlaub, und sie durften Weihnachten zusammen feiern. Am Silvesterabend, als Ernst schon weg war, dachte sie an ihre Zeit zusammen: »Nun geht das alte Jahr zu Ende, die Gedanken gehen zurück und die Frage nach dem neuen steht daneben. Silvester hat für mich immer eine beson­ dere Erinnerung, unser Verlobungstag! Du lieber, guter Ernst, nie hätte ich es mir so herrlich vorgestellt, Deine Frau zu sein! Ich weiß, dass es nur we­ nige Männer gibt, die das sind, was Du bist! Ich bin so stolz auf Dich und Dir unendlich dankbar für den Reichtum und die Liebe, die durch Dich in mein Leben gekommen sind. Alles, was ich innerlich in den Jahren unserer Ehe geworden bin, verdanke ich Dir. Es ist ein großes, unendliches Glück, an deiner Seite durchs Leben gehen zu dürfen! Ich frage mich oft, womit habe ich es wohl verdient, einen so herrlichen Mann zu bekommen? Es ist ein unverdientes Glück und darum bange ich so oft um unsere Zukunft, um Dein Leben. Gott hat unsere Wege zusammengeführt und unsere Ehe 58

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gesegnet, schenkte er uns doch Heinkele und ein zweites neues Leben. So stehe ich mit heißem Herzen vor dem neuen Jahr und bitte Gott, dich mir und den Kindern neu zu schenken! Du mein lieber, lieber Ernst! Wie schön waren die Tage hier und wie nett das Bild von unserem letzten Abend. Du warst mir nach Deiner Abfahrt so nah, dass ich niemanden um mich haben mochte und Herta nicht geholt habe. So bin ich heute noch al­ lein, will an Dich schreiben, Goebbels hören und dann zu Bett gehen. Die Heizung ist uns ausgegangen und es wird so allmählich kalt hier. Ich habe sie jeden Morgen neu angemacht und konnte so früh schlafen gehen. Die Asche half mir Frau Erdmann raustragen. Meggers war hier wegen der Heizens. Frahm sei in Verlegenheit, er täte es ja nicht gern, hätte aber zugesagt usw. Ich habe ihm angeboten, nachmittags auf zu schaufeln. Ich gab ihm eine Zigarre, peinlicherweise war die zerbrochen, eine von Schlotfeldts […].«75 Briefe flogen zwischen ihnen fast jeden zweiten Tag, dazu gab es für Ernst Esspakete. Lilo war jetzt hochschwanger, und das Leben schwierig geworden, vor allem als Heinke krank wurde. Wenn Ernst an die kommende Geburt dachte, waren seine Briefe voller Sorge um sie: »Ach, was gäbe ich darum, bei dir zu sein. Gott sei Dank, dass ich Dich ab und zu einmal sprechen darf. Ich weiß dann doch ziemlich Bescheid. Lieb­ ling, wenn’s mit Heinkele schlimm wird, rufe bitte an. Schreibe bitte sofort, mein Süßen. Du schreibst so schön von unserer Lütten. Wie gern sähe ich sie einmal wieder. Am 1. ging es Heinkele denn anscheinend noch gut? Mein Deern, der Brief wird nicht lang. Ich habe ein fürchterliches Ziehen im unteren Ellbogen. Ich glaube, es ist Rheuma. Erinnerst Du, dass ich schon einmal früher davon sprach. Es hat sich hier durch Kälte und Regen er­ heblich verstärkt. Kein Grund zur Sorge, mein Lieb […] Du, mein Lieb, wenn Du rechtzeitig anrufen lässt, komme ich vielleicht noch rechtzeitig an. Ich sprach heute mit dem Leutnant. Ich glaube, es wird gehen. Es wäre fabel­ haft. Ich wäre so gern bei Dir in der schweren Stunde, Du liebe Süße. Von Fortgehen hier ist noch keine Rede. Es ist aber so wunderbar, dass nie­ mand fort möchte. Dieter geht es sicherlich auch gut. Die wenigen Späh­ trupps machen doch nichts aus. Mach dir nur keine Sorgen, bevor es so weit ist, mein Goldmädel […].«76 Oft erwähnte Ernst in seinen Briefen die Ausritte auf seinem Pferd Prinz. Herrlich fand er das Reiten durch den herbstlichen Wald, die Farben der Blätter an den Bäumen und auf der Erde, im Trab, im Galopp, obwohl es ihn natürlich auch müde machte. Einmal, als der Zugtrupp durch die WaldFalscher Frieden

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wege preschte, spaltete ein Ast ihm die Unterlippe, sodass er für kurze Zeit ins Lazarett musste. Im Februar 1940 berichtet er von minus 30 Grad Kälte: »Reiten war immer Spiel mit dem Tode durch Erfrieren. Beim Absteigen glaubte man, die Glieder müssten zerspringen. Gott sei dank empfing uns an jedem Abend die Molligkeit des Privatquartiers.« Sie waren bei einem Bauern einquartiert, und er malte ein romantisches Bild von dessen Familienleben: »Am Ofen streckt sich behaglich im Ohren­ sessel der Bauer Dietrich Meyer, ein Sechziger, der vier Jahre Front als Feld­ webel hinter sich hat! Mit Umsicht und Ruhe regiert er nun seinen tadellosen Hof. Ums Licht herum gruppieren sich die Frauen, mit fleißigen Händen. Die Oma schält Kartoffeln, die Mutter – ich schätze vierzig-fünfzig, strickt, zur Lin­ ken die Vierzehnjährige strickend, zur Rechten die Sechzehnjährige häkelnd. […] Wir gehören zur Familie, geben unsere Verpflegung ab und essen mit der Familie, herrlich, kannst dir wohl denken!«77 Das zweite Kind, Hartmut, wurde am 10. März 1940 geboren. Ernst wurde erst ein paar Tage später beurlaubt. Dann allerdings genossen sie die Zeit miteinander. Nach Kriegsende schrieb Lilo ihrer treuen Freundin Eva darüber: »Es war auch wirklich einzig schön wie Ernst damals auf drei Tage kam. Morgens um 6 Uhr kam unsere Bäckersfrau schon rein, Nachthemd, Man­ tel drüber und in Zöpfen. Ernst hatte sie aus dem Schlaf geklingelt und wollte wissen, wie es bei uns steht. Ich rief ihr schon entgegen, ein Junge, es geht uns gut, 8 Pfund. Und dann schlief ich nicht mehr vor Aufregung, dass Ernst käme. Es wurde spät, erst abends um halb zehn, von unterwegs rief er noch an, er lag fest, da das Soldatenauto in einer Wirtschaft ein­ gekehrt war. Und dann habe ich doch wohl etwas geschlafen, denn plötz­ lich stand Ernst am Fußende des Bettes und fragte leise: Lilo? Er war hin­ ten herum gekommen, hatte [sic] sich schon etwas bequem gemacht und ich hatte von all dem nichts gemerkt. Und dann kniete Ernst an meinem Bett und sagte, Lilo, ich bin so glücklich! Es war ein Höhepunkt unseres Le­ bens, voll Glück und tiefer Dankbarkeit. Es war wahrlich der Höhepunkt unserer Ehe, denn von nun an sollte es ra­ send bergab gehen, nur noch zwei Jahre, eins davon in Russland, eins mit wenigen Urlaubstagen. Ernst ahnte, dass er fallen würde. Heute verstehe ich, warum er so tief erfüllt war von seinem Jungen, sein Blut und Erbe ging weiter, er konnte, wenn es das Schicksal wollte, abtreten. Am nächsten Tag fuhr unser Vati selbst nach Tellingstedt, seinen Sohn anmelden, er brachte eine wundervolle Azalie mit und eine Flasche 4711. Weißt Du noch, dass Ihr ihm eine Apfelsine mitgabt? Ja, der nächste Tag war schon wieder ein Ab­ schiedstag, ich blieb wie immer zurück, bekam noch eine kleine Blutung, dieses ewige Abschiednehmen ging mir immer sehr nahe.«78 60

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Ernst schrieb ihr, sobald er zurück im Lager war: »Geliebte Lilo, ich durfte ein Stück Heimat genießen. Ich bin so glücklich, bei Dir gewesen zu sein. Dass Du nur recht bald zu Kräften kommst und aufstehen kannst. Ich bin ohne Sorge, weil Du mir größte Vorsicht versprochen hast. Wie’s Dr nun wohl geht? Heinkele meldet sich gleich. Die süße Deern. Hartmut hat schon sein Teil be­ kommen. Wie gern wäre ich noch bei Dir. Es war wundervoll. Aber Herzlieb, mir geht es hier so gut und es ist gut so, denn Du brauchst Dir keine Sorgen zu machen. Mein Lieb, Du glaubst nicht, wie lieb die Leute sind. An meiner Tür hing ein Willkomm. Es war gegen neun Uhr, da durfte ich schon an den Tisch mich setzen und den Empfangskuchen essen. Post war reichlich gekommen. Von Dir zwei Briefe und eine Karte. Von Schlotfeldt ein Päckchen, von meinen Kameraden Karten.«79 Trotz ihrer Ängste und Sorgen behielt Lilo ihr Ziel fest im Blick: die Kinder zu hüten, »sich ein Glück bauen«, Ernst beizustehen, während er half, Deutschland wieder stark zu machen. Und wenn die Wogen sich geglättet hatten, wollte sie ihn als ihren Mann, als Vater ihrer Kinder und als beliebten Lehrer in Wrohm willkommen heißen. Am 10. Mai 1940 machte der deutsche Einmarsch in Luxemburg, Belgien und Frankreich dem »Scheinkrieg« ein spektakuläres Ende. Ein erstaunlich schneller Sieg folgte. Bereits am 23. Juni schritt Hitler durch Paris und schon am 25. Juni kam der Waffenstillstand. Ernst erlebte diese fast unglaublichen Siege in der Offiziersschule des Heeres in Potsdam. Seine Briefe aus Potsdam schildern in lebhaften Farben, wie die Wehrmacht die einberufenen Offiziere ausbildete. Mit 28 Jahren war Ernst etwas älter und auch gewissenhafter als die meisten. Tag und Nacht lief das Programm, vormittags praxisbezogener Unterricht, nachmittags T‌heorie. Abends bo­ ten Filme Entspannung. Sport gab es auch, etwa Handballspiele. Lilo fragte, ob er Freude am Kursus habe. »Liebling, mein größter Wunsch ist, zu dir zurückkehren zu können, um in meinem Beruf zu wirken. Da das nicht im Augenblick erfüllbar, möchte ich an der Front helfen, den Feind zu schlagen. Du siehst, meine Wünsche ziehen mich fort von hier. Ich bin aber gewohnt die Wirklichkeit voll aus­ zuschöpfen, und so erfülle ich denn meine Pflicht hier im Lehrgang. Ich gewinne dem Dienst manche interessante Seite ab sowie auch über die Ausweitung meiner Kenntnisse und der Aussicht, später verantwortlich Leute zu führen, so wie ich es bisher im Landjahr, HJ usw. gewohnt war. […] Das junge Volk hier im Kursus weitaus in der Überzahl schwärmt dann aus und erquickt sich an Berlins Damenwelt. Für sie ist dieser Kursus eine Zeit köstlicher Erholung neben der ernsten Arbeit natürlich. Ich sehe die Pflicht und im übrigen ist mein Herz bei Dir Liebling. Wenn ich dennoch Freude am Dienst finde, so ist sie die Folge meiner positiven Einstellung zum Männ­ Falscher Frieden

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lichen und einer jungenhaften Ecke in meiner Seele, die sich früher einmal ganz im Karl May erschöpfte und der ich mich hier wieder ausliefere, um über Spinnereien erhaben zu sein.«80 Alles in allem war Ernst begeistert: »Unser Quartier ist fabelhaft. Vier Mann bewohnen jeweils zwei Stuben. Im Arbeitsraum stehen vier große Spinde, vier geräumige Schreibtische mit Stiften, ein vierteiliger Stiefelschrank und ein Papierkorb. Alles ist in Natur gehalten und braun gebeizt. Heizung ist klar, es wird geheizt. Im Schlaf­ zimmer haben wir Betten zum sanften Schlummer, Feldbetten aber kulti­ viert, Sprungfeder und Matratze, weißes Bettzeug, neben den Betten je ein Nacht‌tisch, an einer Wand vier Waschbecken mit vier Spiegeln und Zier­ platten für Toilettensachen. Die Stuben werden von Ordonnanzen gesäu­ bert. […] Gegessen wird morgens, mittags, und abends im Fähnrichsheim. Essen auf den Stuben ist verboten!!! Trotzdem hoffe ich auf nachhaltige Unterstützung, sonst sehe ich sehr schwarz. Ippener und Schalkholz wer­ den hoffentlich nicht versagen. Heute morgen gab’s Brot und Marmelade, mittags Nudelsuppe und abends Kartoffelsuppe ohne Fleisch mit Brot. Na, es wird schon gehen, nur die Umstellung ist reichlich plötzlich.«81 Leider fehle ihm nur »die Zeit zur inneren Besinnung. […] Du weißt, dass ich Idealist bin, dass ich in Stunden der Selbstbesinnung die Gegenwart und die äußere Welt gern vergesse. Das ist mir hier versagt. […] Schade, ich ließe mich gern in die Tiefen der Seele steigen und brächte Dir voller Freude bescheidene Opfer einer großen, starken Mannesliebe.«82 Die blumige Sprache fällt auf, auch sein ausgeprägtes Pflichtbewusstsein. Der Sommer 1940 war in Deutschland eine Zeit nie vorher erfahrener Freude und Zuversicht auf ein baldiges Ende des Krieges. Frankreich war besiegt, und Ernst meinte, dass die Luftwaffe England im Juli so traktieren würde, dass »den Briten Hören und Sehen vergeht.«83 Die Korrespondenz aber führt vor Augen, dass der Krieg für das junge Paar irgendwie sekundär blieb. Nichts war wichtiger als ihre Liebe füreinander. Ernsts größte Freude war, Lilos Briefe zu lesen; je länger diese waren umso besser. Ständig war er enttäuscht, dass er so wenig Zeit hatte, an sie zu ­schreiben. »Ich sehne Dich herbei, mein Lieb, und dann erwartete mich Dein Brief. Ein Alpdruck löste sich von mir und ein wonniges Glücksgefühl ließ mich den Brief öffnen. Geliebte, meinst Du, ich könnte Deine Liebe nicht ermessen? Heißer und inniger kann kein Mann eine Frau lieben. Es gibt Momente, in denen ich mich mit aller Macht des Sehnens nach Dir erwehren muss. Ich 62

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darf hier nicht weich werden. Herzlieb, Du weißt es auch, wie inbrünstig ich Dich liebe. Ich könnte das gar nicht, wenn ich nicht die unbedingte, unwiderruf‌liche Gewissheit hätte, in Dir eine Frau zu besitzen, die mich im Leben und Tod, in Glück und Unglück liebt, die sich mir im wahrsten Sinne verschworen hat. Ich bin unsagbar glücklich, ach Du, Worte können mein Gefühl nicht wiedergeben. Was sind schon andere Frauen? Körper, wenn’s hochkommt, Geister und Seelen für den Augenblick, Liebling, jede Trennung festigt immer mehr die Gewissheit, dass ich nur einmal mich verschenkte. Du hast mich mit allen Fasern meines Wesens. Du brauchst mich und meine Briefe. Herzlieb, Du, ich kann auch nicht mehr ohne Deine Zeilen.«84 Ehe hieß für Ernst strenge Monogamie, die ihm nie leichtfiel. Aber: »Sehn­ sucht macht schöpferisch! Weißt Du noch, dass ich Dir oft schon schrieb und sprach von der Kraft, die dem Sehnen innewohnt? Der Mann in mir findet die naturgewollte Erfüllung im Weibe und der Aufschub drängt nach Ausgleich. Du kennst meine Auf‌fassung über die Ehe und weißt, dass ich die billige Ent­ ladung mit fremden Frauen oder durch Selbstbetrug verachte. Oft genug schon drückte mich die Wucht des Triebes, schier Übermenschliches zu ver­ langen und immer wieder zeigte sich die innere Stärke infolge der Selbstbe­ herrschung und die tragende und antreibende Kraft der Sehnsucht.«85 In seinem letzten Brief aus Potsdam vom 8. August 1940 drückte er seine Erleichterung aus, dass die oft langweiligen Übungen vorbei waren. Er hatte auch nichts übrig für die ausgedehnten Abschiedszeremonien, für Völlerei und Betrunkenheit: »es hatte allerhand Alkohol gegeben«.86 Er freute sich darauf, wieder in Wrohm zu sein. Zu seinem Verdruss fand er sich schon am 19. August zurück in Lübeck, in der Kaserne. Er sollte neue Rekruten ausbilden, hauptsächlich Studenten und Abiturienten. Seine Stimmung war dementsprechend mies. Außerdem musste er als Offizier Geld auf‌treiben, um eine Mütze für 8–9  RM und einen Säbel für 31  RM zu kaufen.87 Im November konnte er zumindest nach Spantekow fahren, als Lilo ihre Familie dort besuchte. Endlich konnte er auch mit den Kindern spielen. Im Dezember wurde Ernst als Teil einer Küstenverteidigungseinheit unerwartet nach Pornic, einem kleinen Fischerdorf in der Bretagne, abkommandiert. Obwohl es ihm seltsam vorkam, in einem fremden, besetzten Land zu wohnen, schien das Leben bequem und reibungslos zu verlaufen. Die Einwohner erledigten ihre normalen Geschäfte, als ob sich nichts geändert hätte. Anscheinend sprachen sie auch ohne Erbitterung mit ihm, wenn er einkaufte oder unterwegs war. Er übte jeden Tag Französisch und las Alexandre Dumas.88 Ernst wanderte die Küste entlang und genoss, fast in Ferienstimmung, Sonne, Landschaft und Meer. Die Grenzlinien der Felder erinnerten ihn an Falscher Frieden

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die Knicks in seiner Heimatlandschaft in Schleswig-Holstein. »Im Soldaten­ heim aß ich zu Mittag und hörte den Führer. Ein wunderbares Gefühl der Ver­ bundenheit durchströmte uns.«89 Schon dachte er an Weihnachten, wagte aber nicht, um Urlaub zu bitten, weil seine Kameraden ihr letztes Weihnachten an der Front verbracht hatten. Lilo jedoch war jeden Tag bei ihm im Geist. In ihr fand er seine Geborgenheit, eine tiefe, innere Sicherheit. »Ich sehe unseren Hartmut im Körb­ chen, denke an den Morgen, wenn Du ihn an dein Bett ziehst, um den Jungen zu füttern. Ich sehe die Deern, unsere süße Maus, über ihren Zaun gucken und höre, wie sie uns ruft«. Er schickte Päckchen nach Hause, Apfelsinen, Strümpfe, Pullover, Süßigkeiten, Spiele für die Kinder. Ihn störte die Hemmungslosigkeit, die Haltlosigkeit seiner Genossen, ihre Bordellbesuche und Masturbation. »Das ekelt mich an!«90 Der Kontrast zu ihrer Selbstkontrolle vor der Ehe hätte nicht größer sein können: »Welch Maßen Seligkeit können zwei reine Herzen einander bereiten! Welch Spannung lag in unserer Unberührtheit!«91 Er war sicher, dass Lilo ihm zustimmen würde, dass die Geburt eines »neuen Deutschlands«, an der sie teilnahmen, die Opfer rechtfertigte, die sie brachten, vor allem ihre schmerzliche Trennung voneinander.92 Für Lilo ging das Leben in Wrohm weiter. Geld war knapp und viele Briefe enthalten sehr genaue Berichte über Einkäufe von Essen, Kleidern und Schuhe für die Kinder, Rechnungen vom Zahnarzt, Kirchensteuer. Jeder Groschen zählte. Telefon im Haus gab es nicht. Einmal musste sie im Nachthemd und in Strümpfen zum Nachbarhaus laufen, um einen Anruf Ernsts entgegenzunehmen. Besuche beim Zahnarzt oder bei Ernsts Mutter in Tellingstedt wurden per Fahrrad erledigt. Längere Reisen, nach Spantekow oder Swinemünde, unternahm sie mit der Eisenbahn, was mit Kind und Reisegepäck sicherlich beschwerlich war. Weihnachten 1940 mussten sie getrennt feiern. Ernst berichtet: »Der 24. ist vorbei. Morgens ritten die Pistolenträger sieben Kilometer aus und schossen mit der Pistole. Ich holte nur den zweiten Preis, eine Weih­ nachtsausgabe unserer Soldatenzeitschrift ›Die Westfront‹. Ich schicke sie Dir gelegentlich, sie ist wundervoll. Am Nachmittag überstanden wir die Vorbereitungen für das Weihnachtsfest. Wir schmückten unseren Ess­ saal mit Immergrün, deckten die Tische und stellten unseren Tannen­ baum auf. Jeder bekam einen Naschteller mit Nüssen, Äpfeln, Apfelsinen, Datteln, Feigen, Schokolade, Keks und dazu ein Geschenk im Werte von drei Mark. Ich ließ mir einen Teller schenken, der zu einem Likörservice gehörte. Wir sangen also unsere alten Weihnachtslieder, ich sprach zehn Minuten von der Frontweihnacht, las eine Geschichte vor und ließ Kameraden 64

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das Wort zu lustigen Einfällen. Nach der Kaffeetafel gab es Glühwein. Zum ersten Glas versuchte sich der Lt. (26  Jahre)  in einer Ansprache. Er ist kein Redner, als Mensch aber im Ganzen nett. Leicht zu beeinflussen. Ich werde mit ihm auskommen. Um elf Uhr ging alles in die Quartiere. Ich hielt Einkehr bei Dir, mein Süßen, öffnete die Päckchen von Tante Schlot­ feldt und von Stührcks, und las Deine und andere Post. Dank Dir, mein Lieb, für das Buch. Ich kann’s hier gut gebrauchen. Und zum Haarwas­ ser lachte ich. Mein Deern, meinst, dass es hilft? Ich werde es regelmäßig benutzen.«93 Lilo schrieb ihrem Ernst fünf Briefe im Advent, dann am ersten Weihnachtstag eine ausführliche Schilderung der Fest‌tage: »Liebster, Du! Der heutige Abend soll ausschließlich Dir gehören. Ich habe mich schon den ganzen Tag darauf gefreut. Ich sitze in aller Ruhe auf dem Sofa, habe die Tischlampe vor mir, dazu Nüsse, Äpfel, Marzipan und die ganze Weih­ nachtspost. Der Tannenbaum blinkt mit seinem Lametta zu mir herüber, rechts auf der Truhe hat Heinkele ihren Gabentisch. Welch Kinderglück, welche Schätze! Ein Püppchen mit Kleid, Schuhchen u. Strümpfen. Kann sitzen und stehen! Daneben ein stabiler Wagen mit roten Rädern und acht bunten quadratischen Bauklötzchen, die unser Töchterchen immer noch einmal aus und ein packt. Das ist gar nicht so einfach, denn die Klötzchen passen genau hinein.« Es folgt eine lange Liste von anderen Geschenken. »Ein Tag vor Heiligenabend kam Dein so heißersehnter Weihnachtsbrief. Mein Ernst, wie hast Du mein Herz gerührt, wie bist Du lieb und mir so ver­ bunden. All’ die guten Vorsätze, tapfer zu sein, waren weg. Es schlug über mir zusammen! Auch ich gelobe Dir unbedingte Treue und endlose Liebe, und nie wird es anders sein! Es ist so schwer, Opfer zu bringen, wenn es das Teuerste auf Erden betrifft. Ich kann leider nicht sagen, dass es aus be­ reitem Herzen kam. Ich will mein Glück halten, mit aller Macht, die mir zur Verfügung steht. Die Sehnsucht ist so groß und das Blut singt und strömt und ein übervolles Herz muss sich Luft machen. Da hilft mir dann mein Kopf‌kissen! Wie gerne wäre ich dann Dein, spürte Deine lieben Hände und Deine Nähe, ließe mich so gern küssen und möchte in Dir versinken. Ich weiß, dass auch Du Dich nach mir sehnst, ich weiß ja, wie gerne Du Dich liebhaben lässt, Du lieber, großer Junge! Ich bin Deiner so sicher und so fest Deiner Liebe und Treue! Liebling, so soll es bleiben, unser Glück wol­ len wir hüten, es macht uns so reich. Wie oft habe ich in diesen Tagen vor Falscher Frieden

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Weihnachten Dein Bild vom Schreibtisch in beiden Händen gehabt, habe mit Dir Zwiesprache gehalten und Dein liebes Gesicht ergründet. Mit tau­ send Ketten bin ich an Dich geschmiedet, Dir geht es ja auch so, Geliebter! Die süßen Kinderlein sind Früchte unserer Ehe. Sie haben mir viel geholfen in diesen Tagen.[…] Der Heiligabend war wehmütig. Wie wir ›O Du fröhliche‹ sangen, wurden doch die Augen nass, auch die Choräle im Radio ergriffen mich. Heinke sah einen Augenblick staunend den Lichterbaum an, dann stürzte sie sich mit dem Ausruf: Puppi, auf ihre Puppe. […] Gucklicht, Sternchen und Englein verstand sie aber auch. Das Auspusten ist für sie eine ernste, große Sache. Ihr Mäulchen dabei, ehe sie lospustet, ist gottvoll. Hartmut saß auf den Kissen und seine Äugelein gaben den Lichterglanz wieder. Um halb 8 Uhr gings zu Bett mit der Deern, sie schlief bald ein. Ich verweilte noch einen Augenblick in Besinnung und Ruhe auf dem Sofa. Dachte an Dich, mein Ernst! Seh Dich am langen Tisch sitzen mit all den feldgrauen Kameraden, seh den Tannenbaum, höre Euch singen und den Kompaniechef sprechen. Ihr hörtet deutsche Lieder am Radio, dachtet an die Lieben daheim. Ich merke ja, Du warst bei uns mit Deinem vollen Herzen.«94 Ernst beschrieb die Routine des Armeelebens. Sie patrouillierten regelmäßig, marschierten oft bis zu 50  Kilometer weit. Das Reiten durch die winterliche Landschaft, meinte er, härte den Körper ab. Wirklich fit zu sein, war Ernsts Lebenselixier. Ganz besonders liebte er es, mit den Pferden zu arbeiten. Aber nach einem anstrengenden Tag Nachtwache zu halten, das sei schwer. Im Sommer sei der Krieg aber vorbei. »Der Führer wird’s schon machen.«95 Im Januar 1941 wurde Ernst zum Leutnant befördert, was natürlich die Finanzen ihrer kleinen Familie verbesserte. Bei einem Empfang für eine Theatergruppe saß er zum ersten Mal mit den anderen Offizieren zusammen. »Ich bin froh, dass alles Steife und Förmliche fort­ fällt.«96 Oft gab es Filme, aber selten lohnte es sich, sie anzusehen. Gelungen fand er die Verfilmung von Gottfried Kellers Novelle Kleider machen Leute. Fast täglich schickte er Päckchen nach Wrohm: Seife, Apfelsinen, Kleider für Lilo und die Kinder, Gläser, Teller, Schokolade. Lilo antwortete mit begeisterten Berichten über die Kinder: »Ich habe heute eine große Freude mit Heinkele erlebt. Wir besahen beide dein Fotoalbum und plötzlich, aus eigenem Antrieb, ohne dass überhaupt von dir gesprochen war, guckt sie auf das Bild, auf dem Du mit den Landjahrjungens Kartoffeln schälst und sagt: ›Pappi‹! Ich war ganz überrascht. Nun fragte ich ja bei jedem Bild und überall fand sie Dich, im größten Soldatenhaufen. Du siehst, wie lebhaft und deutlich Du in Heinkeles Vorstellung lebst. Freust Du Dich? Sie wird Dich bestimmt er­ kennen, wenn Du endlich mal auf Urlaub kommen solltest.«97 66

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Am Anfang machten Schnee und Eis viel Spaß. Lilo packte ihre Schlittschuhe aus, auch den Schlitten: »Morgen will ich mal wieder die Schlitt­ schuhe anziehen und mit Frl. Berg laufen. Wir haben so herrliches Schnee und Frostwetter.«98 Die Nachrichten aus Wrohm waren nicht immer so gut. Der Winter 1940/41 war ungewöhnlich kalt, und der Schnee stürzte in Schüben vom Dach herab. Lilo musste jeden Tag vor dem Haus Schnee schieben, der auf einer tiefen Schicht Eis lag. Zahllose Eimer mussten zum Waschkessel gehievt werden, keine leichte Aufgabe, vor allem, als sie hochschwanger war. Kleider, die man im Eimer über Nacht zum Einweichen ließ, waren am nächsten Tag stocksteif. Das Klo bestand aus einem einfachen Eimer, der im Sommer stank und im Winter zufror. Um ihn auszuleeren, musste sie kochendes Wasser hineingießen. Obendrein war die Heizung defekt: »Oh, diese Kälte! Du glaubst es nicht. Der eisige Ostwind holt die letzte Wärme aus den Stuben. Ich sitze mit dem Rücken an der Heizung. Die an­ dern Zimmer sind eisig, so dass einem die Hände beim Reinmachen frie­ ren. Die Häuser tauen gar nicht mehr ab. Und wie warm könnte es sein, wenn die Heizung, dieses alte Monstrum, funktionierte! Unten ist nur Glut im Kessel, dass ein Affe braten kann. Die Wohnung wird mir ganz verleidet durch die Heizung, nichts als Ärger hatten wir bisher damit. Und nun friert heute auch noch die Leitung ein. Vorher ließ ich sie immer laufen. Heute nachmittag um 2 Uhr lief sie noch prima, um halb vier Uhr war sie zu. Wir haben kochend heiße Feudel ans Rohr gehalten, alles umsonst. Und es ist so glatt draußen! Bis April dauert’s sicher bis Wasser wieder da ist. Wenn ich bloß die Kinder gesund durch den Winter kriege.«99 Aber Torf und Koks zu bekommen war schwierig, und auch im Dorf merkte man, wie streng alles rationiert war. Ernst, der in der Bretagne einen milden Winter verbrachte, war entsetzt über das schlechte Wetter in Wrohm, und vor allem, dass die Heizung nicht funktionierte. Lilos Sorgen brannte ihm »wie Feuer in der Seele.« Als Leutnant und Zugführer hatte er ganz neue Aufgaben, musste zum ersten Mal Feldübungen planen und durchführen. Der Übungsplatz war teils eisig, teils matschig. »5 Uhr wecken, ab ins Gelände, im strömenden Regen zwei Stunden Ritt, dann Scharfschießen. Glücklicherweise klärte das Wetter auf. Ich be­ schoss zwei Ziele auf 1 125  m und 1 075  m Entfernung, ein Volltreffer im 1. Ziel, beim 2. Ziel ein Treffer zwei Meter hinterm Ziel. Prima, nicht wahr? Das war mein erstes Schießen als Leutnant. 14 Uhr Rückkehr, nachmittags Fortsetzung – Gewehrreinigung, Schreibereien bis gegen sechs Uhr. Falscher Frieden

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Fertig ist man nie. Ein Führer muss an Gegenwart und Zukunft zugleich denken. Er kommt kaum zur Ruhe und muss sich seine Mußestunde oft stehlen. Und doch, mein Deern, ich bin froh, endlich Verantwortung zu haben, Leute führen zu dürfen und für sie sorgen zu können. Wohl muss Zucht und Ordnung herrschen, aber der Mann muss sich geborgen fühle, muss wissen, dass der Führer zur Kameradschaft dazu gehört.«100 Das einjährige Bestehen des Regimentes wurde am 6. Februar 1941 erstaunlich üppig gefeiert: »Die Egmont-Ouvertüre von Beethoven leitete die Feier ein. Nach einem Vorspruch und einem weiteren Musikstück der Reg.-Kapelle sprach Oberst Dr. Mayer. Er gab einen Überblick über die Geschichte des letzten Jahres. Einen besseren Kommandeur hätten wir nicht bekommen können. Ein Ge­ dicht und der Friderikusmarsch beendeten die Stunde. Auch der Essraum war ausgezeichnet hergerichtet. Man fühlte sich nach Spanien versetzt. Orangengrün an allen Wänden, und in den Zweigen hingen die gelb-roten Früchte. Das erste Glas Sekt wurde auf das Regt. getrunken dann gab’s eine frische Suppe. Es folgten Muscheln in rauen Mengen und endlich das sehnlichst erwartete Fleisch mit Rosenkohl und Kartoffeln. Dazu trank man Rotwein. Ein waschechter Plumpudding hätte mich fast umgeworfen. Ich hatte eine gute Portion genommen und saß dann doch davor wie ein armer Sünder. Das Ding liegt schwer im Magen und darf nur in wohldosier­ ten Mengen genossen werden. Ein Stück Ananas beendete die Mahlzeit. Bis drei Uhr saßen dann die Herrn Offiziere beim Trunk. Reden lösten ein­ ander ab und eine gute Musik sorgte für das Ausfüllen der Lücken. Am 7.2. feierten dann die Kompanien. Unsere 13. natürlich auch. Es wurde wieder zwei einhalb Uhr, so dass ich den Schlaf heute begrüße. Ich bin aber bei Dir und Dir nahe. Im stillen Traum und in Gedanken an unser Wiedersehen am 26. oder 27.2. In Liebe Dein Ernst.«101 Die Feier markierte auch das Ende von Ernsts Zeit in Frankreich. Es folgten ein paar Urlaubstage in Wrohm. Fotos bezeugen die freudige Begegnung mit Frau und Kind. Man ahnt, wie schwer die unvermeidliche Trennung danach war. In Abwesenheit ihres Mannes war Lilo für den großen Garten des Schulhauses verantwortlich. Mit Frühlingsbeginn wärmte sich die Erde auf, und sie konnte mit dem Pflanzen von Zwiebeln, Karotten, Bohnen, Kartoffeln, Spinat, Spargel und Erdbeeren anfangen. Im Herbst erntete sie Pflaumen und Unmengen von Äpfeln, machte Kompott, Marmelade, Dörrobst. Ihr Vater und ihre alte Freundin Ruth Krügler und ab und zu auch Nachbarn halfen mit. Die meisten Männer waren nicht da. 68

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Oft war es einfach zu viel für die junge Mutter: »Ich bin mal wieder tief unten. Der Garten drückt mich. Er liegt noch so roh da. Auf meiner Fahrt nach Tellingstedt sah ich unterwegs die schö­ nen fertigen Gärten. Bei Mutter ist alles prima geklopft, die Spargel­ beete sauber geglättet, lange Reihen von Dahlien gepflanzt usw. Ich sitze ganz allein vor dem großen Garten, wer denkt mal daran, dass ich auch alles zurecht kriege? Jeder ist sich selbst der Nächste. Ich kann heulen. Von der vielgepriesenen Volksgemeinschaft habe ich noch nichts gespürt, ganz im Gegenteil. […] Ich sprach eben mit einem Wachmann. Am 1. Mai kriege ich zwei Franzosen zum Graben. Es muss ja irgendwie geholfen werden. Vati, Du hast dich damals mit nur 9 Tagen abspeisen lassen und meintest bestimmt, Du kriegtest die 8  Tage noch. Wird das nichts? Du musst Deinen Garten bestellen! Und zu Pfingsten ist ein Vierteljahr um, da kommst Du auf 3  Wochen. Ich will zum Fest auch mal meinen Mann hier haben. Es haben schon viele Soldaten geschrieben, dass sie kommen. Sonst meutere ich. Wenn der Krieg nicht bald aus ist, ist mein Idealismus am Ende.«102 In den wärmeren Monaten war der Gemüsegarten ohne Zweifel ein Segen. Ende Mai schrieb sie: »Sonnabendabend! Es ist so still draußen, wunderbare Luft, die letzten Sonnenstrahlen fallen in die Essstube u. draußen summen ein paar Bie­ nen in den Kirschblüten. Ich ging eben durch den Garten, wie Du es frü­ her so gern tatest. Was gäb ich drum, mit Dir zusammen einmal nach den Beeten, Sträuchern und Bäumen zu sehen. Ich hab jetzt so viel mehr Lust zum Garten, wie muss es schön sein, wenn wir ihn wieder gemeinsam be­ stellen. Die Erdbeeren zeigen die ersten Blüten, der große Kirschbaum blüht leider sehr spärlich, man sieht kaum, dass er blüht, der kleine Pflau­ menbaum hier vorne mit den großen Aprikosenpflaumen blüht schön. Die Frühkartoffeln kommen auf und morgen wollen wir die ersten Spargel in der Suppe essen. Ich habe heute Wurzeln gejätet. Das Unkraut nimmt überhand. Im vorigen Sommer war ja die Wiese nicht gut gemäht und mein Garten ist voller Löwenzahn, Diestel usw. Die Sträucher blühen wie immer übervoll. Kannst Du dir den Garten vorstellen, Liebster? Die Wiese ist ein gelbgetupfter Blumenteppich. Wie glücklich könnten wir sein! Mir ist oft das Herz so schwer, wenn ich an Dich denke. Ich habe Dich doch so lieb und darf Dich nicht liebhaben. Tagsüber vertreiben mir die leuchtenden Kinderaugen die Gedanken. Unser Hartmut ist ja so lieb. Ich halte gar zu viel von ihm und wie oft sage ich zu ihm: Könnte Dich doch Dein Vati mal sehen!«103 Falscher Frieden

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Lilo hatte keine Hemmungen, Ernst über die eigene Gesundheit detailliert zu berichten: Schlaf‌losigkeit während der Schwangerschaft vor Hartmuts Geburt im März 1940, als Ernst abwesend war; und nach der Geburt Verdauungsprobleme, die Brüste schmerzhaft hart wie Stein. Immer wieder musste sie ihrer Zahnschmerzen wegen zum Zahnarzt. Alles war jedoch vergessen, wenn sie ihren kleinen Sohn ansah. Ihre eigene Mutter hatte ihr wenig Liebe gegeben, und Lilo war entschlossen, dies an ihren Kindern gutzumachen. Jeden Tag machten sie ihr Freude. Ihr Stolz auf die Kinder kannte kaum Grenzen: »Vati, Dein Junge kann laufen!! Zwölf freie Schritte machte er heute. Er ist so froh darüber, dass er laut kreischt. Ein goldiger Bub, der Hartmut. Und flink und wendig ist er, Du glaubst es kaum. Essen ist seine liebste Beschäftigung. Er stopft mit dem Handrücken nach. Heinkele ist so lieb zu ihm. Ich glaube, sie hat ein goldiges Gemüt. Gestern zum Beispiel. stand Hartmut neben dem Sandberg in der Karre. Ganz unvermittelt geht Heinke zu ihm, streichelt ihm die Backe und sagt: ›Liebe Sonne scheint, Hart­ mut!‹ Gestern Abend weint er im Bett. Ich hörte Heinke durch die Tür: ›nicht weinen Brüderlein!‹«104 Im Mai kam Ernsts Schwester Leni mit Ernst-Otto (ihrem kleinen Sohn) zu Besuch. »Es war sehr nett und harmonisch. Ich hatte Kuchen gebacken vom Fett, das eigentlich zu Pfingsten vorgesehen war. Dazu gab’s prima Böhnchen, noch von Dir, Liebster aus Pornic. Die Kinder hatte ich hübsch gemacht. Ach, hättest Du deinen süßen Jungen gesehen. So ein richtiger Bub mit kariertem Hemd, roter Trägerhose und roten Halbstrümpfchen. Weißt Du, er könnte als Ernst-Ottos Bruder gelten. Hans, Ernst-Otto, Hartmut, das ist ein Gesicht. Wir sprachen auch darüber. Wie würdest Du ihn in die Luft heben, den Sohn, was? Und er würde kreischen vor Wonne. Wie traurig, dass er Dir nicht das Herz erwärmen kann. Und die Muschi, die schon ihr eigenes Kinderleben hat und ihre Erlebnisse der Mutti entgegenschreit. Sie war heute Abend mit Tante Johannsen zum Melken gefahren. Nein, war das eine Freude! Eine Handvoll Gänseblümchen brachte sie mit heim. Tante Johannsen ist wie ihre Mutti, sie ist dort kaum wegzukriegen, will am liebsten da schlafen. Sie geht dann mit Eier ausnehmen, [sic] Bulle trinken geben. Sie singt auch ein Liedchen vor und kriegt zur Belohnung ein Ei. Und dann war sie heute Vormittag im Kindergarten. Da es keine Brot‌tasche gab, hängte ich ihr Deine Botanisiertrommel um mit Brot drin. Oh wie war sie sich wichtig. Sie hat dort fein gespielt, geschaukelt usw. Ich verspreche mir viel vom Kindergarten. Es ist so nett dort mit Händewaschen, Töpfchen gehen, Frühstückessen usw. Ja, Vati, wir haben schon eine große Tochter, nicht wahr? Sie ist den anderen Kindern so weit voraus. Wie reich machen doch Kinder und unzählige Freuden bringt jeder Tag.«105 70

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Als sie die Kinder in der Badewanne nackig sah, war es ihr eine große Wonne! Bücher waren reichlich vorhanden für die Kinder. Heinke liebte Märchen, Gedichte, und Geschichten, »Du Vati, den Riesen Timpetu kann sie ganz auswendig, und Rotkäppchen mag sie auch schon hören. Sie macht dann ganz große Augen und hängt an meinen Lippen. Bin ich fertig, sagt sie prompt: Nochmal!106 Ebenfalls beliebt waren Der kleine Häwelmann von Theodor Storm und die schöne Geschichte des Zuckertütenbaumes: Nach Weihnachten kommt Ruprecht mit seiner magischen Zwiebel ins Land der Zwerge und pflanzt einen neuen Zuckertütenbaum. Die Hilfslehrerin in Wrohm, Frau Butenschön, gab ihren »geliebten Sommer Kindern«, eine hübsch illustrierte Sammlung von Wiegenliedern.107 Lilo und Ernst kauften das Soldatenspiel von Curt Junghändels. Die farbigen Bilder zeigen behelmte Kinder, Jungs und Mädchen, zwischen 5 und 7 Jahren, die Schwerter schwingen und Geschütze handhaben, ein Feldgeschütz bedienen, Brücken bauen, im Lazarett den Verwundeten beistehen. Das war reine NS-Propaganda. Die meisten Kinderbücher waren kind­ gerechter, durchaus mit moralischem Anstrich, wie Erwin Jäckels Für Dich und Mich. In Schönes Haus von Hagdis Hollriedes halten sieben Mädchen Puppen, Blumen oder Kätzchen fest in den Händen und träumen von ihrer zukünftigen Rolle als Mutter oder Krankenschwester. In Lucy Kempins Heilige Insel wandert ein verträumtes Mädchen mit wehenden Haaren nackt über eine verzauberte Insel. Auch gab es unter ihren Büchern eine billige Ausgabe der Schelmenstreiche von Max und Moritz; und ein attraktives Büchlein Heinzel wandert durch das Jahr.108 Zusätzlich zu den Briefen verschickte Ernst ein Bündel bunter Postkarten für die Kinder. Heinke hatte am 12. Februar Geburtstag: »Liebe Heinke, Dein Pappi denkt an Dich an Deinem Geburtstag, und wünscht Dir Guten Appetit.« Er war immer sehr besorgt, wenn die Kinder krank waren, oder wenn ihr Benehmen Lilo ärgerte. Als die Hausgehilfin Herta, offenbar von anderen im Dorf angestiftet, im Frühling 1941 kündigte, fand Lilo ihre Einsamkeit besonders hart. Sie war schlicht erschöpft: Haus, Garten, Kochen, Waschen, Einmachen usw. Sie fürchtete sehr, dass Ernst zu Pfingsten keinen Urlaub bekommen könnte. »Na ja, dann man los, ich bin ja Kummer gewöhnt und genieße hier in Wrohm alle ›Vorteile‹, die einer alleinstehenden Frau zukommen. Nun hat Herta zum 1. Juni gekündigt und damit ist der Bart ganz ab. Das Schick­ sal will es wohl so, dass ich mich ducken muss. Gestern Abend habe ich mich richtig satt geweint. Du weißt ja, wenn es mich packt, schüttelt es mich wie eine Kasperlefigur und vollkommen leergebrannt geh ich ins Bett, um mit Kopfschmerzen mir die Nacht um die Ohren zu schlagen. Doch es Falscher Frieden

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hilft ja alles nicht, man muss weiter. Hertas Kündigung war hässlich u. ge­ radezu boshaft. Die Leute im Dorf machten sie mir schlecht. Ich brauchte überhaupt kein Mädchen, sie stände nur bei mir rum. Jeden Tag Stuben saubermachen, das täten die anderen Leute auch nicht. Sie ist groß und kräftig, niemand könne es verstehen, dass sie für 20,- RM bei mir bliebe. Sie könnte viel mehr Geld verdienen, usw. Bei ihrer Tante im Laden würde über­ haupt nichts anderes gesprochen. Du glaubst nicht, wie ich mich aufge­ regt habe, sind die Leute hier schlecht! Ich tue niemandem etwas, arbeite von morgens bis abends. Warum gönnen sie mir die Hilfe nicht und wiegeln Herta gegen mich auf? Und für so ein Pack musst Du Dein Leben einsetzen! Ich komme nicht darüber hinweg. Wie viel Schlechtigkeit! Und vor allem nachts, in Scharen fliegen die Tommies hier, ein ewiges Gebrumme, Flak schießt seltener. Ja, das ist der Krieg! Ich will nichts mehr davon wissen. Auch kein Mitleid von der Schwiegermutter; sie war ganz gelassen, nahm es auch nicht tragisch.«109 Das Leben im Dorf war offensichtlich nicht einfach, niemals. Doch bald sollte es viel schlimmer kommen.

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Warum Hitler? Warum Nationalsozialismus? Wir haben das Herz mit Fantasien gefüttert Und damit das Herz herzlos gemacht; Mehr Substanz in unserem Hass Als in unserer Liebe.110 W. B. Yeats

Als der Krieg wieder vom Westen nach Osten drehte, und bevor wir uns mit der Konfrontation mit Russland, Unternehmen Barbarossa, beschäftigen, wird es Zeit, die Frage zu stellen, was diese gewaltigen geopolitischen Ereignisse für unser junges Paar bedeuteten. Welche Wirkung hatten sie auf ihre Begeisterung für den Nationalsozialismus? Wie sahen sie ihre eigene kleine Welt, ihre Liebe füreinander, ihre Freude an den zwei Kindern, ihre Zukunftshoffnungen im Kontext dieses gigantischen militärischen und politischen Kampfes? Nicht nur, dass der Nationalsozialismus den Krieg verherrlichte. Seine Zeremonien, Lieder, und Schriften zeigen ohne Frage, das er ein Totenkult war. Warum haben Lilo und Ernst das nicht gesehen? Ernst war ein erfolgreicher, gewissenhafter, sehr beliebter Volksschullehrer in seinem Dorf in Schleswig-Holstein. Seine Briefe vermitteln den Eindruck eines Gatten und Vaters, der sich die größte Mühe gab, Frau und Kindern beizustehen, die Spannungen zwischen seiner Familie und der neuen Braut zu lindern. Ebenso bemühte er sich um ein hohes persön­ liches Ethos.111 Andrerseits steht seine volle Identifikation mit den Zielen des Nationalsozialismus außer Frage. Nach dem Nürnberger Parteitag im September 1935 schrieb er an seine Schwester Leni; als er als Fahnenträger vor Hitler marschierte, habe er sich vor Aufregung buchstäblich elektrisiert gefühlt, seit 3 Uhr früh seien sie hellwach gewesen.112 1936, als Hitler den Einmarsch in das Rheinland befahl, empfand er einen »Konflikt meiner Ideenwelt mit der Brutalität des Lebens. In mir ein Glühen und Brennen. Dort draußen die aufgeregte Welt. Deutschland erlebt eine Hochzeit seines Daseins. Ich gebe mich ganz dem tiefgehenden Willen der Begeisterung, aber ebenso dem ver­ pflichtenden Mahnen der Toten hin. Ich bin kein Toller und schreie ›Krieg‹ aber das Suchen nach dem mir gemäßen Leben würde beendet sein. Ich würde nur eine heilige Aufgabe sehen: kämpfen für Deutschland. Sterben? Ja, wenn’s sein muss auch das.«113 Warum Hitler? Warum Nationalsozialismus?

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Hitlers Entschiedenheit, so Ernst, habe Deutschland befreit. Ohne Adolf Hitler wäre all das niemals möglich gewesen. Die Ängste der Frauen in Schalkholz vor einem kommenden Krieg seien nicht ernst zu nehmen. Kleingeistige Menschen wollten nur ein bequemes Leben haben. Die Gesellschaft brauche eine viel weitere Sicht der Dinge. Deutschlands Ziele würden die alte Welt umstürzen.114 »So ein Führer. Solch ein Volk! Die Politik ist weltwendend. Das Alte bricht.«115 Ende September 1939 schrieb er aus Lübeck, immer noch sicher, dass es nicht zu einem großen Krieg kommen würde. »Ich stehe hier ja auch nichts aus, so dass auch du beruhigt sein kannst. Der Krieg? Nun ja, es lässt sich Endgültiges heute noch nicht sagen. Eins steht fest: die zögernden Operationen deuten auf eine Unentschieden­ heit hin. Diplomatische Kämpfe sind im Augenblick wohl wichtiger. Einmal haben wir die Verhandlungen Deutschland–U. D.S. S.R. zu beachten. Hin­ ter Russland tauchen nun die Balkanpartner auf. Die Türkei scheint auch eine Neuorientierung zu wünschen. Stalin steht hinter Deutschland. U. S.A. scheint neutral. Japan ist natürlicherweise der Feind Englands und Frank­ reichs […]. Es käme nun darauf an, ob in England gewissenlose Elemente den Krieg bis aufs Messer wollen. Die Sache ist sehr zweifelhaft, auch wenn es äußerlich anders aussieht. Vorläufig bleibt Ruhe und hoffentlich ist bald Schluss.116 Ich sagte dir doch, dass unsere Division in Polen in ihren drei Inf. Gesch.Kompanien ungefähr 10–20  Tote und 20–30  Verwundete hatten. […] Wir sind noch auf Wochen in Lübeck gebunden. Wir werden im Westen wohl keine besonderen Angriffe erleben. Ich sehe die wichtigsten Entschei­ dungen auch heute noch auf politischem Gebiet reifen. Da fließt noch alles. Für uns ist die Hauptsache, in unserer Geschlossenheit hinter unse­ rem Führer zu stehen. Die Feinde haben Angst vor unserer Entschlossen­ heit. Hinzu kommt der Druck der deutschen Bündnisse und das Wesent­ lichste: die Völker wollen keinen Krieg. Also, mein Süßen, vorläufig in Ruhe abwarten.«117 Seine Sprache, die Rede von Entschlossenheit und später vom Widerstand gegen die roten Horden spiegelte die Ideologie der Partei: »Zum Abschluss wollen wir aber doch feststellen, dass wir beide als deutsche Menschen im­ merhin unsere Aufgabe kennen. Hart ist’s, aber es wird geschafft.«118 »Ich weiß, dass ein Volk aufgebrochen ist, sein Reich endgültig festzulegen und zu verteidigen.«119 Ernst bejahte die pädagogischen Ziele des Nationalsozialismus ebenso wie seine außenpolitische Zielsetzung  – ein europaweites Wirtschafts­ system, von Deutschland geführt – und die Schaffung von Lebensraum für 74

Warum Hitler? Warum Nationalsozialismus?

das deutsche Volk im Osten. Nach anderthalb Jahren als Soldat schrieb er: »Der Zivilberuf verblasst immer mehr. Die neue Entwicklung in der Schulpoli­ tik lässt immer mehr die Gewissheit in mir erhärten, dass ich in Wrohm und in der Volksschule überhaupt nicht bleibe. Ich will versuchen, während mei­ nes Urlaubes Hermannsen zu sprechen. Ich glaube, diese Nachwuchsschulen sind eine bessere Aufgabe. Was meinst Du zu einer Umsiedlung in den Osten? Lieber nicht, wie? Vorläufig freue ich mich, nach Wrohm in mein altes trautes Heim zu meiner lieben Frau und unseren süßen Kinder zurückkehren zu kön­ nen, wenn der Krieg ein Ende hat.«120 Im Juni 1941 glaubte er, der Krieg »gibt dem deutschen Volk heute seine Existenzgrundlage für Jahrhunderte. Seine Erscheinungsform ist allerdings abscheulich und schrecklich sucht er die Völker heim. Besser ist es, ihn hinter sich zu haben. Nun, der Krieg ist übel.«121 Gelegentlich war Ernst deprimiert, die Beziehung zu anderen Offizieren war nicht immer harmonisch. »Man hat hier wenig fürs Herz. Die Offiziere des Bataillons, dem ich hier zugeteilt bin, sind mir ziemlich fremd. Sie bemü­ hen sich auch nicht, mich in ihren Kreis hineinzuziehen und ich dränge mich nicht auf. Also bleibe ich für mich.« Sein Grundton blieb aber positiv, optimistisch. Aus Polen schrieb er im Juni 1941: »Radio höre ich auch noch ab und zu. Viel Neues gibt es ja nicht. Die nächsten Wochen müssen entschei­ dende Wendungen bringen. Im August will ich doch bei Dir daheim sein.«122 Wie so viele Deutsche nahm Ernst an, dass die Kämpfe in Russland sowie die Blitzkriege in Polen und Frankreich bald vorbei sein würden. Aus heutiger Sicht sind seine frühen Briefe aus Russland unglaublich optimistisch. Sie reflektieren aber die weit verbreitete Stimmung in Deutschland und die Berichte in Presse, Radio und Film. Er war überzeugt, dass England im Sommer 1941 kapitulieren müsse. Selbst im Dezember 1941 schrieb er, dass der Endsieg sicher sei, obwohl er schon die Stärke des Russischen Widerstands erlebt und bittere Kämpfe hinter sich hatte. Durchhalten hieß jetzt die Parole. Was ihn vor allem antrieb, waren wohl Patriotismus und ein ausgeprägtes Pflichtgefühl. Familie, Volk und Gott waren für ihn untrennbar verbunden. »Glut im Herzen, weil wir wissen, wir stehen hier für Deutschland. Kriegs­ begeisterung! höre ich jemand sagen. Schwer getäuscht! Wir sind alle lieber bei Frau und Kind, im Beruf oder in produktiver Arbeit, aber ein eiserner Wille glüht in uns: Unser Volk, unsere Lieben sollen so eine Not, so ein Elend, wie wir es sehen, nicht kennenlernen. Wir müssen hier stehen, um Euch vor dieser roten Horde zu schützen.«123 Der Traum eines neuen Reiches war der grandiose Horizont seines Denkens: »Das Ziel ist so groß, dass ich mich immer wieder dafür begeistern kann. Was sind da alle unsere kleinen Sorgen! Der Führer baut unser Reich und wir dürfen ihm helfen. Sollte man sich da nicht freuen? Nun ich sehe auch die Nöte, spüre die Sehnsucht wie kein anderer, Warum Hitler? Warum Nationalsozialismus?

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entzünde mich aber immer wieder am großen Ganzen.«124 Zu diesem Patriotismus gesellte sich die helle Freude. Man war Teil einer großartigen Revolution und Zeuge weltbewegender Ereignisse, die eine fundamentale Neuordnung Europas mit sich bringen würden. Also kamen weder Kompromisse noch Zweifel in Betracht. »Der Krieg ist unser Krieg, in dem es um Sein oder Nichtsein geht. Alles Schwere ist nicht so entsetzlich wie ein Sieg der Roten oder der Briten. Wir würden nie mehr glück­ lich werden. Täglich hatten wir den Jammer der Menschen, ihre Armut und Not unter dem Stalinregiment vor Augen. Wer diesen Feldzug mitmachte, hat offene Augen bekommen. Er weiß, hier gibt es keine Kompromisse. Hier ge­ winnen oder verlieren wir alles. Man bekommt so langsam eine heilige Wut. Das Herz will heim und die Sehnsucht ist übergroß und doch fordert das Reich, unsere große Idee. Immer noch lebt, wenn auch in letzten Zügen, der Bolschewik. Er steht dem Reich und unserer Herzenssehnsucht entgegen. Darum die Wut!«125 »Heil Hitler« fehlt in seinen Briefen an Lilo, und es gibt auch wenig ­ S-Jargon, auch nicht in den Briefen seiner engen Kameraden. AntisemitiN sche Parolen kommen in den Briefen nicht vor, aber es ist klar, dass er die Propaganda schluckte, dass die Juden für die Taktik der gebrannten Erde während des russischen Rückzuges aus Dünaberg verantwortlich seien. Er war froh, dass die SS die Lage wieder in Ordnung gebracht hatte: »Die Juden sollen die Stadt an vielen Stellen angezündet haben. Stoß-Truppen u. a. die S. S., die hat Ordnung geschaffen.«126 Er nahm es als selbstverständlich, dass er vor seiner Heirat eine rassenreine Abstammung beweisen sollte. Auch den infamen anti-semitischen Film Jüd Süss fand er »in Ordnung.«127 Als Volksschullehrer besaß er, wie schon erwähnt, das rassistische Material des NS-Lehrerbundes. Wir wissen nicht genauer, ob und wie er es im Schulunterricht anwendete. Als er farbige französische Gefangene sah, äußerte er: »Scheußlich sich auszudenken, dass man gegen solch Volk kämpfen soll.«128 Obwohl er die ethnozentrischen Ansichten der Partei teilte, scheinen Antisemitismus und Rassismus in seinem Denken eine untergeordnete Rolle gespielt zu haben. Lilos politische Meinungen waren denen von Ernst sehr ähnlich, hatten aber eigene Akzente. Auch sie las den Völkischen Beobachter; jeden Abend um 8 Uhr hörte sie im Radio natürlich die Reden von Hitler und die Deutung der innen- und außenpolitischen Ereignisse durch Goebbels. Ihre Sicht der Welt stammte hauptsächlich aus den NS-Medien, aus Zeitungen, Radio und Film. Nur wer über ausländische Kontakte verfügte, hatte Zugang zu unabhängigen Informationsquellen. Wie bei anderen jungen Müttern war auch bei Lilo die Meinung ihres Mannes über die Politik für sie ausschlaggebend. Sie reagierte mit Stolz auf die frühen politischen und militärischen Erfolge des Dritten Reiches und die Blitzkriege in Polen und 76

Warum Hitler? Warum Nationalsozialismus?

Frankreich. Sie zweifelte nicht an einem baldigen Sieg über England. Wie wir gesehen haben, nahm sie mit Begeisterung an der NS-Jugendpolitik, am Landjahr und am BDM Anteil. Lilo war aber kein politischer Mensch. Die Linse, durch die sie die Welt sah, war von Familie, Kindern und der Liebe zu Ernst geprägt – oder, wie sie selbst zusammenfasste: Sie wollte »sich ein Glück bauen«. Die Rhetorik vom schönen Tod für das Vaterland ließ sie kalt, und sie fand die großen Worte über eine Volksgemeinschaft ziemlich leer, verglichen mit dem offensichtlichen Eigeninteresse der Nachbarn im Dorf. Einige, wie Familie Doose, waren außerordentlich hilfreich. Sie luden Lilo zu Silvester ein, waren freigiebig mit Milch. Auf allen Seiten aber sah Lilo den Schwarzmarkt florieren. »Das sind einige Fälle, von denen ich hörte, was sonst an Schleichhandel getrieben wird, bleibt ja im Stillen. Wie mag es wohl in diesen Menschen inner­ lich aussehen? Mein ganzes Gerechtigkeitsgefühl lehnt sich dagegen auf. Es gibt kein wahrhaftes Bauerntum, das ist Phrase. Nur 5 % aller Soldaten sind mutig und tapfer, alles andere ist feige und geht nur mit, weil er muss. Ich darf gar nicht weiter darüber nachdenken.«129 Sie beobachtete mit scharfem Auge die Folgen der deutschen Siege in Belgien und Frankreich: »Das Schümann Baby protzte in wollenen Sachen, alles aus Belgien. Doch es waren noch mehr in belgischen Sachen, man konnte das gleich sehen. So was gibt’s hier schon lange nicht mehr.«130 An erster Stelle wollte die junge Mutter ihre Familie intakt und gesund zusammenhalten. Ihr war von vornherein klar, dass der Krieg dieses Ziel bedrohte, und sie gab die Hoffnung nie auf, dass man Ernst aus dem Frontdienst entlassen würde. »Nun noch Wichtiges, Liebling. Meggers [der Ersatz­ lehrer] holte Angaben über Dich für den Schulrat, Geburtsdatum usw., da Du vorgesehen bist für Burg für die Aufbauschule! Wer hat das wohl getan, Süßen? Du, wenn man Dich evt. reklamieren sollte, Du schlägst es doch nicht aus? Bitte, bitte, bitte, nimm es an, ja? Die brauchen doch im 2. Jahr sicher hier Lehrkräfte. Ich hätte Lust nach Burg, vielleicht ist es auch Fügung. Der Schulrat will an Dich schreiben.«131 Im März 1941 schrieb sie nochmals darüber: »Vorgestern besuchte mich der Schulrat, kam extra aus Heide wegen der dringenden Sache betr. Auf‌bau­ lehrgang. Er wollte allerhand Daten wissen von Deiner 1. Übung und Feldpost Nummer usw. Er sagte, Du würdest direkt vom Minister reklamiert. Der Haupt­ mann würde nicht lange gefragt. Nun geht mein Hoffnungslämpchen wieder, Geliebter! Bitte unternimm nichts dagegen, wie es kommt, ist es gut, ja? Sieh, ich wäre so froh, wenn Du wiederkämst. Mitte Mai fängt das Schuljahr wohl an. Es werden viele neue Schulen eingerichtet.«132 Diese Auf‌bauschulen bildeten vom siebten Schuljahr an besonders begabte Schüler aus. Lilo machte sich trotzdem die Mühe, Ernsts BegeisteWarum Hitler? Warum Nationalsozialismus?

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rung zu teilen, als er Ende 1940 nach Frankreich zog. Umgekehrt versuchte er, ihren Verdruss über den Krieg zu verstehen. Nirgendwo findet man in Lilos Briefen eine ausdrückliche Kritik an der NS-Politik oder gar an Hitler. Im Gegenteil, Lilo war bitter ent‌täuscht, wenn sie eine Rede von Hitler verpasste. Sie war auch nicht erbaut, als der Lehrer in Wrohm skeptische Äußerungen über die Partei machte. »Meggers hat nicht die geringste Lust, meckert über Zeitung und Rundfunk, über WHW [Winterhilfswerk] meint, Deutschland wolle die ganze Welt erobern.«133 Sie war sehr bewegt, als Hitler das Winterhilfswerk lobte und wunderbare Worte fand für die deutsche Infanterie.134 Nach der Kapitulation Frankreichs bewunderte sie Hitlers Angebot eines Separatfriedens mit England. »Diese Nacht bringt uns vielleicht auch deutlich das englische Ja oder Nein. Das Angebot des Führers ist so groß.«135 Eine flammende Rede Hitlers überzeugte sie im Januar 1941, dass innerhalb des Jahres der Krieg gewonnen sein würde. Völlig unerklärlich war es ihr, dass Norweger deutsche Piloten bespuckt hatten, als sie mit Fallschirmen notlanden mussten. Ihre Welt war Deutschland. Was Engländer oder Franzosen, geschweige denn Russen, bewegte, war ihr ein Rätsel. Sie beneidete Ernst zwar, dass er etwas von einem fremden Land sah, konnte jedoch auch recht naiv sein: »Ich habe hier ge­ hört, in Frankreich stünden die Weiber nackend in den Türen. Ist das wahr?«136 Auf der anderen Seite war sie oft realistischer als Ernst, fast möchte man sagen hellseherisch: »Ich habe so die Ahnung, als wenn der Krieg noch lange, lange nicht zu Ende ist. Japan soll bloß nicht mit Amerika anfangen. Es hat genug in China zu tun.« Auf den letzten Flugblättern (von den Tommies abgeworfen) habe gestanden: »Schleswig-Holsteiner, bleibt in Euren Betten, wir wollen nur nach Berlin zu den Fetten!«137 Wie viele Deutsche wartete Lilo höchst ungeduldig auf die Invasion Englands. »Der Engländer bombardiert jetzt mit aller Gewalt Wohnhäuser. In Köln war’s doch auch wieder toll. Wie lange wollen wir uns das wohl noch ge­ fallen lassen? Es könnte wirklich bald mal aus sein. Liegt es immer noch am Wetter? Die Invasion lässt lange auf sich warten.« Sie ahnte, wie viele Tote und Verwundete ein solcher Angriff kostete, und hoffte, dass er längst Geschichte wäre, wenn Ernsts Ausbildung als Offizier beendet wäre.138 Es ist verständlich, dass Lilo von England besessen war. Fast jede Nacht hörte sie die Flugzeuge der Tommies auf dem Weg nach Hamburg oder Berlin brummen. »Lieber Ernst, ich bin nachts so schrecklich bange. Es schnürt mir fast die Luft ab. Immer sind die Flieger über uns. Diese Nacht flog ein Granat­ splitter bei Peter Glüsing auf die Straße, prallte ab und ging durchs Fens­ ter und Gardinen in die Stube. Die andern Splitter sprangen an die Bäume. 78

Warum Hitler? Warum Nationalsozialismus?

Ich kann doch nicht mit den Kleinen in unsern winkligen, schmutzigen Kel­ ler. Ich kann schon richtig Minen und Bombenabwurf unterscheiden und Flak und M. G. Feuer. Ganz von selber wache ich um 1 bis halb 2 Uhr auf, dann liegt man und horcht, ob die Flieger näher kommen und noch nicht bald wieder weg sind. Ich glaube bestimmt, dass wir noch allerhand er­ leben, wenn dem Tommy das Wasser an der Kehle sitzt. Dann schmeißt er alles ab, egal, wo es hinfällt. In Hemmingstedt und Brunsbüttel gab es wieder Flugblätter, auf denen er Gas ankündigt. Dann sind wir allesamt verloren.«139 Die kriminelle Verantwortung der Briten für den Krieg war im Sommer 1941 ein großes Thema für die NS-Propaganda. Mehr als sechs Monate später provozierte Lilos England-Obsession die bizarre Idee: »Es ist mir inzwi­ schen zur Gewissheit geworden, dass Ihr alle dort in Ostpreußen für England vorgesehen seid. Wenn man sich auch im Augenblick diese Angriffsbasis nicht erklären kann.«140 Schon im September 1939, als die Zahl der Gefallenen im Blitzkrieg in Polen bekannt wurde, unter ihnen jemand aus Wrohm, war ihre Sicht des Krieges pessimistisch. Sein Ende konnte nicht schnell genug für sie kommen. Krieg stumpfte die Menschen ab: »Ich habe jetzt öfter ganz trübselige Stunden mit den Gedanken an die Zukunft. Wenn nur an dem Ende Du wie­ derkommst, will ich schon fertig werden, aber selbst diese Gewissheit hat man nicht. Die Rede des Führers hat keine Erleichterung gebracht, es wird jedes Opfer gebracht, und von England eine Entspannung zu erhoffen, ist wohl sehr kindlich. Es muss unbeschreiblich sein, sein Liebstes hergeben zu müssen und dennoch weiterzuleben, ein ganzes Leben lang [sic] mit diesem Schmerz herumzutragen. Ein Krieg mit Waffen wird Millionen kosten, schon die 10.000 Gefallenen im Osten sind erschütternd, ganz gleich, ob es im Ver­ hältnis zum Feind sehr wenig sind.« Ernst Wiecherts Jedermann fesselte sie: »Eine furchtbar traurige, leidende Vorstellung des Krieges.«141 Ernst war anderer Meinung, war zuversichtlich, dass der Krieg vor Ende des Jahres vorbei sein würde. Er, Hans und Lilos Bruder Dieter würden bald wieder zu Hause sein. »Furcht ist unbegründet, richtige Lausejungen hauen sich über­ all durch«142 Tatsächlich waren alle drei innerhalb von zwei Jahren tot. Lilo überzeugte Ernst auch nicht. In Alpträumen sah sie die Bomben auf Wrohm fallen und Ernst und sie eng umschlungen sterben.143 Die Sprache des Dritten Reiches war durchsetzt von der Ideologie von Blut und Boden. Deutschlands Wohlergehen war das höchste Gut. Rasse, die Erhaltung reinen Blutes, war der Schlüssel zur Geschichte. Das Leben war ein Kampf, wie man ihn an den elementaren Realitäten der Natur beobachten konnte. Verglichen mit dem Auf‌bau des Reiches war alles andere, alle normalen politischen, wirtschaftlichen, materiellen Rücksichten, seWarum Hitler? Warum Nationalsozialismus?

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kundär. Der Name Deutschlands war heilig, und kein Opfer war zu groß, selbst das eigene Leben, um sein Tausendjähriges Reich zu bewahren. Mochte der Einzelne sterben, das Vaterland blieb ewig. Die strahlende Zukunft des Reiches gab dem Leben Richtung, Sinn und Freude. Der Traum seines Erstehens würde jetzt Wirklichkeit. Das Liederbuch der Hitlerjugend, das Ernst besaß, öffnet ein Fenster in diese Welt.144 Die Lieder stammten aus allen Teilen Deutschlands, von Friesland im Westen bis Schlesien im Osten. Sie feierten die Natur, romantische Liebe, die Jagd; traditionelle Weber- und Bergwerklieder, Lieder von Seeleuten und Landsknechten. Einfache Kanons mischen sich mit Liedern von Schiller und Beethoven und sogar mit Chorälen der christlichen Tradition, z. B. Der Mond ist aufgegangen von Matthias Claudius. Die Melodien waren leicht, wirkten ansteckend, waren gut geeignet für junge Menschen, die durch die Straßen marschierten oder sich um das Lagerfeuer scharten. Patriotische Gesänge gaben den Ton an. »Lewer dod as Slav«. Ernst Moritz Arndts Lyrik, Der Gott der Eisen wachsen ließ (1812) ehrte diejenigen, die mit Schwert und Speer fürs Vaterland kämpften: »Wir siegen oder sterben hier den süßen Tod der Freien.« Die Gruppen der Hitlerjugend, die diese Lieder aus vollem Hals sangen, während sie unter Fackeln und dem blutroten Hakenkreuz marschierten, sahen sich – wie Ernst Sommer auch – auf dem Weg in eine bessere Zukunft. Sie konnten jetzt ihren heroischen deutschen Vorgängern treu bleiben, ihr Leben dem Führer Adolf Hitler weihen, Verräter, Juden und Bolschewiken bekämpfen. Arm in Arm mit Kameraden zogen sie aus für Freiheit, Arbeit, ein würdiges Leben, die Veränderung der Welt. Der Idealismus von Ernst und Lilo wuchs aus dieser apokalyptischen Vision. Individueller Wohlstand, ein bequemes Leben, Sicherheit, Familie waren allesamt zweitrangig. In der Praxis hieß das, menschliche und materielle Mittel dem Wiederaufbau des Heeres, der Flotte und Görings Luftwaffe abzutreten, angeblich veraltete ethische Normen und politische Ziele über Bord zu werfen. Liberale und demokratische Prozesse, so die Propaganda, hätten das Volk gespalten und eine feige Annahme des Versailler Vertrages ermöglicht. Das war jetzt endlich Geschichte geworden. Der Führer personifizierte die echten deutschen Werte: kommunale Solidarität und unzweifelhafte Autorität. 1936 schrieb Ernst an Lilo: »Der S. A. Aufmarsch ist beendet. Die Marsch­ kolonne, das Marschlied hatte mich wieder einmal in ihrem Bann. Unser Leben ist Marschieren, aufwärts, das ist die Hauptsache, dem Unend­lichen, Namenlosen, das wir Gott meinen, entgegen, welch unerfüllbare Sehn­ sucht ist und doch in Jesus geklärt. Ein Wegstück zu Gott ist unser irdisches Höchstziel – unser Volk. Ihm zu dienen ist Gottes Wille. Deutschland ist alles, 80

Warum Hitler? Warum Nationalsozialismus?

weil wir Menschen Deutsche sind. Deutschland ist Ziel, weil wir Gottes Kinder sind. Adolf Hitler sagt dem Sinne nach: der Mann steht vornehmlich im Dienst des Volkes, sei es durch Beruf oder ehrenamtliche Tätigkeit, die Frau gestal­ tet die Familie. Unsere Pflicht ist es, in diese Aufgaben hineinzuwachsen. Der Mann dient dem Großen, die Frau in Liebe und Geduld und Opfer dem Kleinen, ohne das nichts bestehen kann.«145 Als er im März 1936 vom Einmarsch der deutschen Truppen ins Rheinland hörte, wurde »dieser Ernst, der immer so abgeklärt« tut, fast ekstatisch vor Freude: »In mir ein Glühen und Brennen; Deutschland erlebt eine Hoch­ zeit seines Daseins.«146 Er war hin- und hergerissen zwischen seiner Liebe für die Familie, für seinen Beruf als Lehrer und dem persönlich empfundenen Ruf zum Kampf für Deutschland. Für Ernst Sommer gingen das Politische und das Persönliche, Kameradschaft und Ehe, Kampf und Kultur, Schwert und Geige Hand in Hand. Sie waren untrennbar verwoben. Das Wort »Elektrizität« beschreibt sowohl seine Empfindungen gegenüber dem Nürnberger Parteitag als auch die sexuelle Liebe: »Liebe und Kameradschaft tragen das Leben. In der Liebe ergänzen sich zwei Menschen zum Ganzen, bilden einen Bund und schöpfen Kraft. Wenn die Liebe einen Menschen verbraucht, ist sie falsch, Wie zart, wie überaus glückhaft sie sein kann, wissen wir aus so manchen stillen heimlichen oder heißen Stunden. Ich versinke gern in der Erinnerung an Stunden unserer Gemeinsamkeit. Liebe ist nicht nur zwischen Mann und Weib. Sie lebt auch im stummen Zwiegespräch mit dem Tier. Sie ist das ewig Weibliche, aus dem wir leben und nach dem wir uns sehnen. Und die Kameradschaft, ihr Gegenpol! Eine Frau muss mit ihrem Mann, wenn er wirklich Mann ist, Strapazen auf sich nehmen, muss ihm in steter Kameradschaft zur Seite stehen, wenn’s unruhig wird im Leben. […] Kampf und Einsatz, Leistung will der Mann, und hier draußen gilt es. Mann und Weib, Kameradschaft und Liebe sind die Höhen unseres Lebens. Dass ich ein Weib finde, das mir in Kameradschaft und Liebe verbunden ist, be­ trachte ich als Gottesgeschenk, und ich bin dankbar darüber.«147 Das »ewig Weibliche« wird seinem Verständnis von Männlichkeit gegenübergestellt, obwohl Lilo nicht völlig aus seiner kameradschaftlichen Welt ausgeschlossen ist. Hingabe an die Arbeit und an den militärischen Kampf durfte seiner Liebe für sie nie im Wege stehen. Solch exaltierte Sprache war nicht Lilos Sache. Bestimmt floss ihr leidenschaftliches Engagement für ein »Neues Deutschland« unter Hitler mit ihrer Liebe für Ernst und die Kinder zusammen. Aber als der Krieg den Mann von ihrer Seite nahm, und als sie den globalen Charakter des Krieges spürte, vor allem mit dem Einmarsch in Russland, wurde sie geWarum Hitler? Warum Nationalsozialismus?

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wahr, dass ihr persönliches Ziel gefährdet war: ein erfülltes und glück­ liches Leben mit Mann und Familie. Im September 1941 schrieb sie an Ernst in Russland: »Mein lieber, großer Junge! Heute hast du nun Geburtstag, den ganzen Tag denke ich an Dich, denke, wie mag es Dir gehen, wo Du wohl bist, was Du machst, ob du auch nicht krank bist? Ich bin so traurig, lieber Ernst, das Leben macht keinen Spaß mehr, bin so mutlos und voller Sorgen. Dieses trostlose Wetter! Seit einem Monat regnet es Tag für Tag, und wie! Dann gehen meine Gedanken zu dir an die Front. Ihr seid allem Regen ausgeliefert, das Zeug oft durchnässt, die Stiefel nass, Ihr friert und fühlt Euch ungemütlich, was gibt das für Krank­ heiten, manch einer, den die Kugel verschont, erliegt einer Krankheit, Ruhr, Lungenentzündung usw. von Durchfall schreiben so viele. Ach, mein Ernst, sag selbst, ist das noch ein Leben? Die Jahre vergehen, das Leben ist schwer und sorgenvoll. Nimmt dieser entsetzliche Krieg kein Ende? Hier in der Heimat rechnet man noch mit mindestens zwei Jahren. Es heißt immer noch, ›zäher Widerstand‹ und Petersburg ist noch nicht unser. Es geht alles langsamer, als wie selbst alle Soldaten von der Front schreiben. Petersburg wird wohl ein Häuserkampf werden, Dieter ist mitten drin. Vom Ilmensee bis östlich Smolensk werden harte Kämpfe gemeldet. Mein lieber, guter Ernst, stehst Du immer noch im Feuer? Am 26.8. schriebst du froh von Ruhe für mehrere Wochen, auf den Karten vom 1.9.41 erwähnst Du nichts mehr davon, bestimmt ist nichts danach gekommen. Ich ahnte es gleich, hatte es schon im Gefühl und freute mich gar nicht über deine ›Ruhemeldung‹! Es geht diesen Winter nicht mehr zu Ende, daran glaubt niemand, im Frühjahr wird’s dann weitergehen. Ich weine jetzt so viel, Liebster, jeden Abend wenn ich Dir auf dem Bild gute Nacht sage, schießen mir die Tränen hervor. Meine Begeisterung für den Krieg ist weg, ich sehe nur noch Leid und Elend und kein Ende. Ich sehne mich so nach Deiner Liebe, nach dem Frieden unseres Heims, nach Familienleben und Glück. Dieses Leben hier ist nur vegetieren. Und wenn ich dann an Dich denke, was Du entbehrst, leisten musst an Nervenkraft und körperlichen Anstrengungen! Du tust mir so leid, ich liebe Dich doch so sehr u. muss zusehen, und kann Dir nicht helfen. Gott möge Dich weiterhin behüten. So weit, so sehr weit bist Du von mir, so lange sehen wir uns nicht. Wie gern hätte ich dir Deinen süßen Jungen auf den Arm gesetzt. Heinke hat heute oft gesagt ›Vati hat Geburtstag‹. Immer wieder heißt es stille werden, abwarten, Geduld haben.«148 Die wiederholten Ent‌täuschungen hinsichtlich eines Fronturlaubes verschärften Lilos Bewusstsein, dass ihre Prioritäten im Krieg überhaupt 82

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nichts galten und dass sie nicht mal von Ernst geteilt wurden. Die Bomben, die ab und zu auf ihr unbedeutendes Dorf fielen, galten ihr als ominöses Zeichen, dass der Krieg verlustreich und von langer Dauer sein würde. Ende Mai schrieb sie zum Luftkrieg über Hamburg: »Diese Lufttorpedos sind tolle Dinger. In Hamburg fielen mehrere. Sie haben einen gewaltigen Luft­ druck, reißen ganze Häuserreihen zusammen, z. B. in einer Straße 5 mehr­ stöckige große Häuser. Die Bergung der Opfer war nicht 100 %, tagelang hat man noch Klopfzeichen gehört ohne zur rechten Zeit helfen zu können. Ernst, siehst Du einen Sinn u. Segen in diesem Morden? Ich möchte Pazifist werden, es hat viel für sich.«149 Nicht dass sie sich eine kritische Analyse der Strategien von Göring und Hitler erlaubt hätte – das war undenkbar. Aber sie fand es rätselhaft, dass aus dem immer angekündigten Angriff auf England nichts wurde und dass die Briten weiterhin deutsche Städte bombardierten. Wie Tausende von Frauen verfolgte sie eifrig den Lauf des Krieges, vor allem die Beteiligung von Ernst und Hans Sommer, von ihrem Bruder Dieter Struck und von Verwandten wie Martin und Hans-Joachim Friederich. Was sie aus Radio und Zeitung lernte, wurde mit Nachbarn und Freunden diskutiert. Frauen besprachen die Lage und bildeten sich ihre eigenen Meinungen. Besorgt las Lilo die Todesanzeigen in den lokalen Zeitungen und konnte die schwarz gekleideten jungen Witwen auf den Straßen nicht vergessen. Lilos persönliches Netzwerk bot ihr ein Gegengewicht zu der offiziellen Linie, und sie wird nicht allein gewesen sein. Die Art und Weise wie die NS-Propaganda die Machtkämpfe und das zynische Karrieremachen der Goldfasane, der Parteibonzen, verdeckte und ermöglichte, war ihr weniger bekannt. Zwei Jahre im Landjahr hatten sie aber gegen falsche Rhetorik empfindlich gemacht. Soldaten, die von der Front kamen, waren oft über das protzige Benehmen und die Geschäftemacherei, die sie zu Hause vorfanden, entsetzt. Der SD, der Sicherheitsdienst, wusste genau Bescheid über die Unruhe und die in der Bevölkerung gesunkene Moral.150 ­Goebbels selber war angeblich ungehalten über die viel zu optimistische Propaganda der ersten Monate, die ganz unrealistische Erwartungen erweckt habe. Lilos Briefe an Ernst hielten nichts zurück. Im August 1941 – der Angriff auf Russland hatte am 21. Juli begonnen − schrieb sie aus Swinemünde in Pommern: »Du mein lieber Ernst! Ich kann meiner Unruhe kaum noch Herr werden. Wenn doch bloß nichts passiert ist, Du schreibst so lange nicht mehr. Ich warte, warte [sic] jede Post, es kommt nichts. Die Karte vom 2. ist das letzte. Bestimmt liegt Ihr in harten Kämpfen, damals vom 22–27.7. kam auch keine Post. Ich bin so erledigt, diese schreckliche Angst um dich, die nächt­ Warum Hitler? Warum Nationalsozialismus?

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lichen Alarme, es ist kaum noch zu ertragen. Jeden Tag Gefallene in der Zei­ tung, so viele junge Frauen gehen schwarz, es ist zu schrecklich. Wrohm hat nun schon 4 Gefallene, Böcker Martens (Hermann) ist bisher der letzte. Ich sage mir oft, warum soll ich gerade meinen Mann behalten, so viele, viele sind doch schon gefallen. Lieber, lieber Ernst, könnte ich Dich doch wiedersehen, ich halte es kaum noch aus. Ich habe Dich doch so lieb, ich kann Dich nicht entbehren. Mein Gott, wer hätte dies alles gedacht! An der gesamten Front wird wieder hart gekämpft, Du bist dabei, ich weiß es. Wann nur hat alles ein Ende? Nur ein Gedanke beherrscht mich, Dich, Dich, lieber Ernst, Dich muss ich wiederhaben. Morgen mehr, lieber Ernst, ich kann heute nicht mehr. Deine Lilofrau.«151 In der folgenden Woche schrieb sie wieder mit ähnlichen Sorgen. Sie wusste durch das Radio, dass heftig gekämpft wurde um Staraja Russa, wo Ernst war. »Ich bin so niedergeschlagen, der Krieg tobt immer weiter, gerade in Dei­ ner Gegend ist so viel los. Wie soll es überhaupt noch werden? Nun ist Iran besetzt, sicher kommt die Türkei auch noch. […] Vom Kriegsende spricht niemand mehr, alles macht sich noch auf Jahre gefasst und der Druck mit Russland lastet zu sehr. Das hätten wir nie gedacht, dass der Bolschewist sich so verbissen verteidigen würde. Jeder Tag bringt Gefallene in der Zeitung, heute neun bei Staraja-Russa. Du mein lieber, lieber Junge, wie furchtbar gern will ich dir später helfen ins Zivilleben zurückzufinden, wenn Gott uns gnädig ist und dich mir behütet. Weißt Du, mir kann nicht mehr zu viel werden, keine Arbeit und keine Sorge und Not. Wenn Du nur erhalten bleibst, was ist alle Mühe später gegen diese entsetzliche Seelennot jetzt? Du wirst mich nicht abstoßen noch befremden, ich weiß sicher, dass ich mit meiner Liebe und meinem feinen Empfinden bestimmt den richtigen Weg finden werde. Unvorstellbar, dass ich dir später vielleicht einmal wieder helfen darf, dass Du wieder bei uns sein wirst! Wann, Liebster? Wann wohl? Oft denke ich, es geht nicht mehr, ich kann nicht mehr weiter ohne Dich, und es muss doch wieder gehen, aber das ist kein Leben mehr, Ich lasse die Tage hinter mir als abgetan und blicke nur nach vorne, einmal muss Russland doch am Ende sein. Ein halbes Jahr sahen wir uns nicht, mein lieber Ernst, Du bist mir so fern, ich weiß gar nicht mehr, wie es ist, wenn der Mann bei einem ist. Ich kann mir Dich so schlecht vorstellen, das war ja schon immer so, Liebling. Was haben wir bloß bis jetzt von unserem Leben gehabt? Und von deinen lieben Kinderlein hast nur den schweren Auf‌takt von Heinkeles Leben und ihr ers­ tes Vierteljahr erlebt. Es ist alle so furchtbar traurig. 84

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Und Du schreibst ja auch, dass Du nun den Krieg satt hast und so gerne nach Hause kämst. Ja, mein Butzi, es war dein sehnlichster Wunsch. […] Dieter schrieb, dass er jetzt zu Deiner Gegend abschwenkt. Gibt es einen neuen Kessel in eurer Gegend? Mein Gott, was soll das bloß werden? Mein lieber, guter Ernst, lass es dir gut gehen! Unser Nachrichtendienst wird jetzt immer gestört durch bolschewistische Zwischenrufe. Was ist das nur alles! Du weißt wohl, dass Hans dort damals verwundet wurde? Was macht Lt. Tetzerow und die Kameraden aus deinem Zug? Seid Ihr noch voll­ zählig beisammen?«152 Der schlimmste Schlag für Lilo war unzweifelhaft der Einmarsch in Russland. Die NS-Propaganda von Blut und Boden fing für sie an zu bröckeln. Zu viel Blut ging verloren, um den Gewinn an Boden zu rechtfertigen. Am 3. September schrieb sie an Ernst: »Heute gehen wir ins dritte Kriegsjahr. Weißt Du noch, damals warst Du in Heide, und ich kam in die Kaserne um dir Zivil zu bringen. Was waren das für aufregende Tage und noch heute sind es die gleichen, schweren Gedan­ ken, die einen bewegen. Ich habe damals doch nicht zu schwarz gesehen, viele, viele Hoffnungen sind inzwischen zerstoben und die Welt sieht bunter aus denn je. Deutschland steht z. Zt. im schwersten aller Kämpfe und viel deutsches Blut fließt auf russische Erde. Kann überhaupt ein Mensch ge­ sund an Leib und Seele aus diesem entsetzlichen Morden zurückkehren? Können Eure Nerven noch durchhalten und habt Ihr noch Kraft zum Kampf bei aller Entbehrung? Zehn Wochen steht Ihr an vorderster Stelle, werdet Ihr Armen nicht einmal abgelöst und kommt [sic] in Ruhe? […] Immer nur hoffen, warten, beten, an dich denken, das ist alles. Ich mag gar nichts mehr hören von Frontberichten und Krieg, es nimmt kein Ende. Immer heißt es, harte schwere Kämpfe an allen Fronten, heute sogar von der Nordfront, Einzelkämpfe, Mann gegen Mann. […] Lt. Telzerow schreibt von Kämpfen um den 15. herum und dass ihnen noch schwere bevorstehen. Er schreibt sehr gedrückt, so dass seine Frau ge­ weint hat. Mein Ernst, was glaubst Du denn, geht es vorm Winter zu Ende, was ist Deine Meinung? Mir scheint, die russische Front muss doch end­ lich zusammenbrechen. Noch nie schriebst Du von dem, was Du durch­ gemacht hast, Geliebter. Schütte mir doch dein Herz aus, tut es nicht gut, wenn du Dich einmal aussprichst? Du bist so stark und soldatisch, was habe ich nur für einen herrlichen Mann. Wenn ich Dir nur noch einmal zei­ gen darf, wie ich dich verehre und liebe!«153 Lilo schickte Ernst Zigaretten und Berichte von den Kindern und war froh, dass sie mit den winzigen Päckchen etwas für ihn tun konnte. Er sollte sein Warum Hitler? Warum Nationalsozialismus?

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Herz so ausschütten, wie sie ihm ihre Sorgen um ihn und Dieter mit‌teilte, der jetzt mit seinem Schützenzug Petersburg erstürmte. Die Front­berichte fand sie grauenhaft. Mitte September sollte der Feldzug vorbei sein, aber der Kampf tobte weiter. Es bedrückte sie sehr. »Oft erscheint es mir, als ob aus dieser Hölle gar niemand lebend herauskommen kann. Ich las in Deinem Tagebuch gestern Abend die Worte Deines Vaters, sein Bild und das Tele­ gramm. Ich habe fassungslos geweint, es ist zu grausam.« Täglich standen die Namen von Gefallenen in der Zeitung. »Dieser wahnsinnige Krieg.«154 Nach dem gezielten Luftangriff auf Wrohm und nach ihrer Flucht nach Pommern – im nächsten Kapitel beschrieben – waren ihre Hoffnungen zerstört. Jetzt blieb ihr nur das Überleben von Ernst und den Kindern als Ziel. Sie war noch stolz auf die Siege der Wehrmacht, betete aber, dass Ernst wohlbehalten zurückkehren möge. Er sollte Heldentum und Eisernem Kreuz nicht nachjagen. Lilo konnte nicht verborgen bleiben, dass Ernst jetzt in einer ganz anderen Welt lebte, außerordentliche Erfahrungen hinter sich hatte, und dass sie jetzt anfingen, verschiedene Sprachen zu sprechen. Sie respektierte Ernsts Hingabe und die Bemühungen um die Männer seines Zuges, aber nichts in ihren Briefen spricht von Begeisterung für den Kampf gegen den Kommunismus. Sie war vor allem eine junge Mutter, noch in ihren Zwanzigern, unsicher, ob sie, ihr Mann, und ihre Kinder noch auf eine Zukunft hoffen konnten. Wenn sie den Sondermeldungen im Radio zuhörte, interessierte sie fast nichts als Ernsts Sicherheit und sein Wohlergehen. Für sie war der Krieg sozusagen privatisiert, eine höchst persönliche Sache. Daraus entstand eine gewisse Nüchternheit. Sie schaute der Wirklichkeit ins Auge: Not und Entbehrungen der Männer; Hitze, Regen und Kälte, Schlaf‌losigkeit, der anstehende Winter in Russland. Sie bewunderte Ernsts Standhaftigkeit und Mut. Der Cantus firmus ihrer Briefe aber war eine schreckliche Angst, denn »das Morden« schien kein Ende zu nehmen: »Du glaubst nicht, was für Seelenkraft von der Soldatenfrau verlangt wird, es ist unbeschreiblich, wenn ich Dich nicht so unendlich lieb hätte und mich so sehr nach Deiner Liebe sehnte! All das Klagen nützt nichts. Du tust es auch nicht und hättest doch Grund dazu. Acht Wochen liegst Du nun im Dreck, entbehrst alles, erleidest Hunger und Durst und siehst dem Tod ins Auge. Ge­ liebter, gibt es ein Wiedersehen? Das weiß nur Gott, wir müssen stille halten. Das Leben wird zur Qual und ein Tag vergeht nach dem anderen. Man war­ tet nur, dass alles einmal ein Ende hat.«155 Sie wehrte sich auch gegen die tief im nationalsozialistischen Denken verwurzelte Idee, dass Kriege not­ wendig seien: »Liebster, kann sich ein so wahnsinniger Krieg überhaupt segensreich aus­ wirken? Überall bringt er Leid, Not, Unglück, nimmt den Kindern den Vater 86

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und den Frauen ihre Männer. Abertausende haben nichts mehr als ihr Leben, jede Nacht fordert Opfer durch Bombenabwurf und die besten Soldaten geben ihr Leben dahin? Wo steckt da Segen? Sollte ich Dich verlieren, die Welt gälte mir nichts mehr, einerlei ob wir noch fünf Jahre oder Monate Krieg hätten. Ich sehe nicht ein, dass Krieg naturnotwendig ist, dass kultivierte Na­ tionen einander zu Grund richten. Gibt es keinen anderen Ausweg zu Ausein­ andersetzungen?«156 Ihr Mitleid galt nicht den Alliierten, aber ihre Ablehnung des Krieges unterlief Goebbels Propaganda. Für Lilo Sommer sollte Leben mehr sein als ein ewiger Kampf. Wenn man diese Briefe liest und versucht, ihrer Humanität gerecht zu werden, dann muss man sich immer wieder in Erinnerung rufen, dass der grausamste aller Kriege im Gange war. Umso schwieriger zu verstehen, dass ihre Beteiligung am Kriegsgeschehen für Lilo  – und noch mehr für Ernst – auf ihren christlichen Glauben begründet und so verstärkt wurde. Andauernd wird man bei beiden mit ihrer Synthese von Christentum und Nationalsozialismus, der kaum hinterfragten Identifikation mit diesem konfrontiert. Ernst betrachtete sich als Christ, für ihn keineswegs eine formale Sache, sondern ein tiefer, persönlicher Glauben, den er von seiner Mutter mitbekommen hatte. Er riet z. B. seinen jungen Schülern in Wrohm, sich konfirmieren zu lassen, trotz starker Gegenstimmen in der Partei. Er erwiderte auch die Grüße von Herrn Krause, Pastor der Bekennenden Kirche in Spantekow.157 Er fand Frieden und Trost im Gebet und war besorgt, dass Lilo das nicht so empfand. Es wäre interessant zu wissen, wie er als Lehrer mit der deutschen Geschichte umging, weil beispielsweise die erzwungenen Bekehrungen der Sachsen zum Christentum nach dem Verständnis des Nationalsozialismus als Skandal galten. Weder Ernst noch Lilo gingen regelmäßig in die Kirche oder lasen täglich die Bibel. Ernst kannte aber sein Neues Testament gut genug, um sein Lieblingsevangelium (nämlich das Johannesevangelium) zu erwähnen. Lilo spielte gern die Orgel in der Kirche, liebte auch die Choräle. Wie für viele Deutsche war ihr Glauben individueller, häuslicher Natur. Die Kirche war für sie eher Institution als Gemeinde. Trotzdem waren ihre Überzeugungen echt genug und im Fall von Ernst vorsichtig, wenn auch reichlich verschwommen, ausgedacht. Schon 1935 hatte er an Lilo einen Bericht über seine Ansichten geschickt, als Teil eines ungewöhnlichen Liebesbriefes an seine zukünftige Braut. Sie sollte dadurch seine innersten Bestrebungen kennen lernen, Vertrauen zu ihm fassen, zu seiner Suche nach Reinheit und Wahrheit: »Das Ziel ist also die Wahrheit und die Wahrheit ist Gott, d. h. das Vollkom­ mene, die Einheit in Geist, Seele und Willen. Wie soll aber das Ziel erreicht werden? Es wird auf Erden nie erreicht. […] Ich denke an Lessings Para­ Warum Hitler? Warum Nationalsozialismus?

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bel von der Wahrheit und sehe ihn, nach der Gotteshand greifen, die das Suchen nach Wahrheit umschließt, höre ihn rufen, denn die Wahrheit ist doch nur für dich. Danach bleibt also nur ein Weg, das Ziel ist in unerreich­ bare Fernen gerückt. Wichtig ist also die Erkenntnis der Unerreichbarkeit des Endzieles und die Entscheidung für den Weg, für das Suchen, für die dynamischen Kräfte. Diese dynamischen Kräfte sind für mich die Seele, der Geist und der Wille. […] All diese Begriffe werden leicht zu bloßen Worten. Was ist Seele? Schon die Frage dünkt abgeschmackt. Ich weiß es nicht und kann’s nur erfühlen. Die Seele wurzelt nur im Jenseits, im Irrationalen, im Mythischen, im Unbe­ wussten. Sie ist Gott am nächsten. Sie überwindet die menschlichen Gren­ zen und setzt an, wo der Geist endet. Warum schreibe ich dies alles auf? Meine Natur treibt zum Grübeln, zur Klarheit. Die Seele sucht die Bindung im Metaphysischen, der Geist stellt die Mittel zum Ausdruck zur Verfügung, er gliedert und ordnet und ein Wille gibt die Kraft zur Ausführung. Religion und Kunde sind für mich Bindungen an das Göttliche. Ich habe versucht, Bindungen aufzuzeigen, die aus den Kräften der Natur, der Seele, des Geistes und des Willens resultieren. Nun gilt es, in die Wirklichkeit hineinzuleuchten und [sic] in Realität zu sehen, wo und wie die dynamischen Kräfte innerhalb der vorhandenen Bindun­ gen wirksam sind..«158 Zu Weihnachten 1936 reflektierte er gern über Gott, eine Macht, die ein »herrisches« Leben ermögliche. Wir brauchen, so Ernst, diesen Funken von drüben. 1937 sprach er vom Tannenbaum als Schöpfung der urdeutschen Volksseele, Symbol von Unschuld und Klarheit. Man spüre die Hand des Allmächtigen. Nicht Vernunft, sondern Gefühl sei, wie Hitler sagt, das Wesentliche. Gott war für ihn die »tiefe Ewigkeit.«159 Unsere Kinder, meinte er 1940, »sollen den lieben Gott nicht nur mit Worten nennen. Sie sollen ihn als wirk­ liche Kraft im Leben erfühlen und erkennen. Er soll nicht der gute Onkel sein, von dem man sich alles schenken lässt, sondern sie sollen lernen, ihn um Kraft zu bitten und nicht mit Protzen auf sich allein zu bestehen. Chris­ tus ist der herrlichste Verkünder dieses Gottes. Er hat uns Gott so kind­ lich nah gebracht, damit wir ihm vertrauen. Unsere Kinder sollen nicht um Gnade bitten, aber sie sollen in Dank Gottes Größe und ihre eigene Winzig­ keit erkennen. Winzig in Gott und seiner Ewigkeit und Unendlichkeit. Diese Demut gibt den rechten Stolz und die feste Haltung den Menschen gegenüber. Wer Du bist, bist Du vor Gott und Volk. Danach richte Dich. Es ist nicht nötig, die Bibel wörtlich zu nehmen. Hast Du das Wesentliche erfühlt und erfasst, dann bleibe nicht beim Wort stehen. Lass Dich nicht 88

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in Debatten über Nebensächlichkeiten ein. Gottesglaube und Erkennen der Größe Christi sind die Merkpunkte. Himmelfahrt usw. sind sekundäre Dinge, auch der Streit um Paulus usw. Glaube und lass Dich nicht erschüt­ tern, dann stehst Du sicher.«160 Man kann annehmen, dass diese Bemerkungen sich auf frühere Diskussionen mit Lilo beziehen. Es gibt einige Ähnlichkeiten zum Denken der Deutschen Christen, das einen arianischen Christus als Helden darstellte und die Theologie des Rabbi Paulus verwarf. Ungefähr ein Drittel aller Protestanten war wenigstens zeitweise Anhänger der Bewegung der Deutschen Christen, der ganz dem Nationalsozialismus verschriebenen evangelischen Theologie. In Schleswig-Holstein war sie weit verbreitet. Bischof Adalbert Paulsen sah in Hitlers Reich eine missionarische Chance für die Kirche. Paulsen war Antisemit; die Rasse eines Menschen bestimmte seine Sicht der Gesellschaft, in der Juden keine öffentlichen Ämter bekleiden sollten.161 Soweit wir wissen, war Ernst nie Mitglied der Deutschen Christen. Wie sie glaubte er jedoch: »Wir beide sind unserem Gott, unserem Volk und unserer kommenden Familie verpflichtet. Du, mein Lieb, ich glaube an unsere Aufgabe.«162 Unter Ernsts Büchern nahm Rosenbergs Mythus des 20. Jahrhunderts einen besonderen Platz ein. Der Text war an vielen Stellen unterstrichen und kommentiert. Das Buch war eine sehr einflussreiche, rassistische Deutung deutscher Geschichte, den Jesuiten besonders feindlich gesinnt. Rosenberg behauptete wirr, dass der echte Germanische Glaube durch eine Art apostolische Linie getragen werde: von »Odin, Siegfried, Widukind, Friedrich II. (Hohenstaufen), Meister Eckhart, Walter von der Vogelweide, Luther, Friedrich  I., Bach, Goethe, Beethoven, Schopen­ hauer, Bismarck.«163 Ernst hatte aber auch Walter Künneths Kritik an Rosen­berg gelesen, die von einem orthodoxeren christlichen Standpunkt aus geschrieben war.164 Ernsts verworrene Aussagen über das Christentum waren unter Protestanten weit verbreitet. Viele zeitgenössische Gedichte und Lieder setzen diese Symmetrie von Gott und Volk voraus, die ein frommes, eisernes Geschlecht ins Auge fasste. Am Karfreitag 1941, erfreut über die deutschen Siege, aber auch an Ostern denkend, schrieb Ernst an Lilo: »Lassen wir uns durch Jesu gewaltiges Leben und übermenschliches Sterben unserem Vater im Himmel zuführen und stille werden in der Geborgenheit in Gott.«165 Patriotismus, Glauben und Nationalsozialismus waren für ihn untrennbar verbunden! »Du kennst die Gefühle, die mich stets erfüllen. Wir wissen beide um die heilige Not­ wendigkeit unseres Aushaltens und Durchbeißens. Machen wir uns frei von aller Angst, und lasst uns bewusst das große kommende Reich eines riesigen Warum Hitler? Warum Nationalsozialismus?

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deutschen Volkes wollen. Mein Lieb, mit Gott voran In tiefer Liebe, Dein glück­ licher Ernst.«166 Nichtsdestotrotz unterstützte er seinen Bruder Hans, als dessen Braut Gerda von der Partei Lehrverbot bekam. »Gerda schrieb seit Weihnachten ihren ersten Brief. Sie hat einem Kreisleiter gegenüber das Christentum ver­ teidigt, und man hat ihr deswegen geraten, um ihre Entlassung anzusuchen. Sie könne nicht mehr als Lehrerin tätig sein. Sie hat Hans aufgeklärt und ihn noch einmal vor die Wahl gestellt. Hans hält zu ihr und will höchstwahr­ scheinlich im Krieg noch heiraten.« Ernst kritisierte auch einen Film, Der Frisen Not, der den orthodoxen, biblischen Glauben einer MennonitenGruppe in Russland lächerlich machte.167 Lilo liebte Choräle wie Jesu geh voran, Wach auf du deutsches Land, Hinun­ter ist der Sonne Schein und half dem Pastor in Swinemünde mit dem Kindergottesdienst. Die Bibel aber blieb ihr ein verschlossenes Buch und sie gab zu, dass sie immer noch ihrem Kindheitsglauben anhing. Sie war »empört über den Pastor«, als er den Einmarsch der deutschen Truppen ins Rheinland im März 1936 im Gottesdienst nicht mal erwähnte.168 Sie hoffte, dass Ernsts tiefe Frömmigkeit ihr helfen würde, weil sie ahnte, »dass Du in Gott stehst«.169 Als der Krieg sich immer mehr ausweitete, und Ernst in heftige Kämpfe verwickelt wurde, half es ihr wenig, als er monierte, dass sie Gott vertrauen sollte. Eher sprach sie fatalistisch vom Schicksal. Ernst schrieb: »Liebling, warum denkst Du an das, was nach dem Tode ist? Da setzt der Glaube ein. Warum Trennung? Warum Verantwortung? Liebe und Hoffnung sollen uns tragen und unser Glaube an unseren himmlischen Vater. Leg alles in seine gütigen Vaterhände. Wozu sorgen? Gottvertrauen soll uns stark machen. Grauen vor dem Russen? Ach Liebling, lass doch diesen Russenschreck. Jesus bot uns die Gnadenhand unseres Gottes an. Wir packen zu, tun unsere Pflicht und stehen fest im Glauben an Gottes Liebe und Gerechtigkeit. Wenn Du mir eine liebe Frau, den Kindern eine treue Mutter und dem Volk eine ver­ antwortungsfreudige Kameradin bist, so erfüllst Du deine Pflicht. Grübeln hat keinen Sinn. Arbeit und Besinnung formen das Leben. Ich bin so glücklich, dich zu besitzen. Deine Hingabe strömt Kraft aus.«170 Lilo brachte den Kindern ihre ersten Gebete bei. Als ein Nachbar unerwartet starb, meinte sie, dass wir alle in Gottes Händen seien, unserem Schicksal nicht ausweichen könnten. Vielleicht zeigt ihre Bemerkung, dass jemand die Hände eines Pastoren hatte, den Verdacht, dass Kleriker ein bequemes Leben führten. Jeden Tag betete sie, dass Ernst wohlbehalten zurückkehre. »Unser liebes Heinkele betet jeden Abend  – Lieber Gott, behüte unsern Vati! Mir laufen jedes Mal die Tränen übers Gesicht.«171 Als der Winter die Russische Front einhüllte, seufzte sie: »Dieser wahnsinnige Krieg. Wie viel Herzeleid bringt er, was wird gebetet, geweint und wohl auch geflucht. 90

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Stündlich fließt bestes deutsches Blut und über alldem steht Gott und heißt es gut. Ich bin der Meinung, aus Krieg kann nie Segen ergehen. Alles Leben ist von Gott geschenkt und jetzt wird es tausendfach gemordet. Ich als Frau kann nicht ja sagen zu diesem Kriege. Immer weiter greift das Kämpfen um sich und die Kriegsfurie rast weiter und sucht neue Opfer. Es wäre an der Zeit, dass es ein Ende hätte.«172 Weihnachten, das Fest des Friedens, wäre für sie im dritten Kriegsjahr wohl sinnlos, fürchtete Lilo. So viele Gefallene! Der Tod des Freiherrn von Harnier, Schwiegersohn des Grafen von Schwerin, mit jungen, reizenden Kindern, traf sie schwer: Sie kannte die Familie gut, hatte ihre Gastfreundlichkeit in der Festung Spantekow genossen. Die Witwe, die mit dem fünften Kind schwanger war, tat Lilo so leid, als sie an der Feier in einer vollgepferchten Kirche teilnahm. Das ganze Dorf war bedrückt. »Es geschieht nichts ohne Gottes Willen, aber kann das Gottes Wille sein, all das Elend, die Herzensnot, die Tränen, all das Morden ist Gottes Wille? Ach, lieber Ernst, ich kenne mich nicht mehr darin aus. Oft scheint es mir anmaßend, Gott zu bit­ ten, Dich uns zurückzugeben, warum sollen wir verschont bleiben, wo Millio­ nen opfern müssen? Habe ich das verdient? Ach, Liebster, es ist schwer zu leben in dieser grausamen Welt. Dieselbe Welt, in der wir so überaus glücklich waren und die Stunden am liebsten halten möchten.«173 Lilos Verwirrung und Schmerz waren das Los von zahllosen Frauen und Müttern. Und sicherlich stellte sie dazu die richtigen Fragen. Ihre Kontakte mit der Kirche boten ihr aber offensichtlich keinen Rat, keine Antwort auf ihre verzweifelten Fragen. Ernst tat, was er konnte, um sie zu trösten, als das Jahr zu Ende ging: »Meine liebe kleine Lilofrau! Dein Brief vom 7.12. liegt neben mir. Du erzählst von dem Heldentode Lt. von Harnier. Ja, mein Lilo, es ist erschütternd, Einzelschicksale in sol­ chem Schmerz mitzuerleben. Ich bin ja selber aus solcher Not gewachsen und kenne Vater nicht. Es ist unsagbar schwer, sein Liebstes zu verlieren. Mögen alle, die es trifft, so voller Gottvertrauen sein, wie meine Mutter. Es wurde ihr nichts geschenkt und doch blieb sie voller Tatkraft und Liebe. Ihr fester Halt in Gott half immer wieder über die schwersten Stunden hinweg. Wie oft haben wir uns an das Wort erinnern lassen müssen – Wenn die Not am größten, ist Gott am nächsten. Wer will in seiner Not angesichts aller Tränen und allen Mordens mit Gott rechten? Gott ist Geist und über alle menschlichen Begriffe erhaben. Wir sagen ›Dein Wille geschehe‹ und bekennen uns damit zu seinen Gesetzen. Menschenwille pendelt, Gottes Wille ist ehern und wir stehen unter ihm. Reif werden, d. h. seinen Willen in uns erfüllen, ist unsere Aufgabe. Ist das Gesetz erfüllt, unter dem wir standen, dann treten wir ab, sei es im Frieden Warum Hitler? Warum Nationalsozialismus?

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oder im Kriege. Wenn wir alles Menschliche, Irdische dahinten lassen, dann ist es schon so, es geschieht nichts ohne Gottes Willen. Gott hat uns hin­ eingestellt in die Dualität oder Problematik des Lebens, zwischen Freude und Schmerz, Tränen und Lachen, Glück und Not, Tod und Leben. Da hilft es nicht, wenn wir schwach werden und keinen Sinn mehr sehen. Entwe­ der wir bekennen uns zu Gott auch in der Not, beugen uns in Demut und schöpfen aus ihm neue Kraft oder das Schicksal geht mitleidslos über uns hinweg. Unser Gebet währt in den Tiefen seines Seins. Es erfordert ganze Hingabe, soll es uns Kraft spenden. Nicht rechten und richten, nicht sorgen und deuten, sondern vertrauen und glauben und immer wieder um Kraft beten, dann gelingt uns das Leben.«174 »Ganze Hingabe!« Es gab nichts Nominelles, Formelhaftes in Ernsts Verständnis von Glauben. Er lieferte ihm den festen persönlichen Grund für seine Bereitschaft, alles für das »Neue Deutschland« und für Hitlers Kriege aufzuopfern.

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Fotos Fotos haben ein Eigenleben. Sie sind nicht als einfache Illustrationen eines Textes zu verstehen. Sie erzählen Geschichte anders. Fotos entlocken Realitäten, auf die Texte und Dokumente nur hinweisen können. Das gilt im Besonderen für die etwas unbeholfenen Schnappschüsse, die von, und für Ernst und Lilo aufgenommen wurden. Sie sind nicht vergleichbar mit den technisch perfekten Photographien, die uns über jeden Aspekt des Lebens im Dritten Reich zur Verfügung stehen. Wir kennen nur zu gut diese prunkvollen und schrecklichen Abbildungen. Diese Schnappschüsse bieten etwas anderes: Familienfotos, intime Einblicke in das persönliche und häusliche Leben von Lilo und Ernst. Wie wir von den Briefen wissen, wurden sie eingerahmt und hochgeschätzt als Darstellungen ihrer abwesenden geliebten Menschen. Sie fanden eine prominente Stelle in Lilos Wohnungen in Wrohm und Spantekow, und wurden in Ernsts Ausbildungslagern, Hütten und Schützengräbern ausgestellt. Sie wurden wie Ikonen geehrt und geküsst. Sie halfen Ernst und Lilo durch ihre Aktualität der Tyrannei der Entfernung zu lindern. Sie riefen nicht nur das Gesicht des Partners in Erinnerung, sondern boten den Beweis, dass ihre und seine Welt intakt geblieben war, kein Traum war, sondern Wirklichkeit. Die Kinder lebten wirklich, Lilo und Ernst ebenso. Sie waren fragmentarische Boten von Hoffnung, schimmernde Versprechungen, dass ihr Leben wieder ein Gemeinsames werden soll. Mit Ausnahme von Abb. 14 stammen alle Fotos aus Familienbesitz.

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Abb. 1: Ernst mit seiner Landjahr-Gruppe (1935).

Abb. 2: Lilo mit ihrer BDM-Gruppe (1935).

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Abb. 3: Lilo und Ernst (1936).

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Abb. 4: Ernst mit Fahrrad in Wrohm (1938).

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Abb. 5: Ernst mit den Wrohmer Schulkindern (1938).

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Abb. 6: Ernst (1939).

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Abb. 7: Lilo und Ernst lesen zusammen (1939).

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Abb. 8: Ernst mit Heinke (1939).

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Abb. 9: Ernst mit ›Prinz‹ in Frankreich (1940). Fotos

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Abb. 10: Ernst zurück aus Frankreich, mit Heinke (1941).

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Abb. 11: Ernst mit Heinke (1941).

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Abb. 12: Lilo, Heinke und Ernst (1941).

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Abb. 13: Hartmut, Lilo und Heinke (1941). Fotos

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Abb. 14: Ernst an der russischen Front (1942).

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Dieses Foto wurde von einem unbekanntem Soldaten aufgenommen.

Abb. 15: Lilo als Witwe mit Heinke und Hartmut (1943).

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Abb. 16: Heinke und Hartmut (1946). 108

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Russland Was Hitler wollte, war Deutschlands Vorherrschaft in Europa und direkte Herrschaft über Russland. […] Eine Macht-Pyramide mit den alten europäischen Überseekolonien und der neuen deutschen Kolonie Russ­ land ganz unten an der Basis, den übrigen europäischen Ländern abgestuft in deutsche Nebenländer, Hilfsvölker, Satelliten und schein- oder halbunabhängige Bundesgenossen als Mittelbau, und Deutschland an der Spitze.175 Sebastian Haffner

Nach der Zeit in Frankreich und kostbaren Tagen mit der Familie wurde Ernsts Division nach Osten abkommandiert. So befand er sich im Frühling 1941 in der polnischen Stadt Graudenz (Grudziądz), das ihm sehr deutsch vorkam. 700  Jahre zuvor hatte der Deutsche Orden die Stadt gegründet. Im September 1939 marschierten deutsche Truppen in die Stadt ein. Ein KZ wurde gebaut, die Juden wurden zusammengetrieben und in den Wäldern erschossen. Auch polnische Intellektuelle und 150 Priester wurden verhaftet; viele von ihnen wurden umgebracht. Ein Jahr später wohnte Ernst im ehemaligen Haus eines polnischen Lehrers. In den vielen positiven Briefen an Lilo findet sich nicht der kleinste Hinweis auf diese Gräueltaten. Ernst hoffte nur, dass Lilo ihn dort besuchen käme, aber mit den zwei kleinen Kindern war das nicht machbar. Er empfand die militärischen Routinen als lästig, vor allem nach der Zeit mit Lilo und den Kindern. Lilo wurde inständig gebeten, ihm so oft wie möglich zu schreiben, damit er auf dem Laufenden bleibe. Die Briefe beschäftigen sich vornehmlich mit praktischen Angelegenheiten: Finanzen, Kleidung für die Kinder, Gartenarbeit, Lilos Beschwerden über den Ersatzlehrer Herrn Meggers: »Unser Garten sieht jetzt schon wieder ganz manierlich aus. Hof ist gejätet, der Trockenplatz und Steg prima sauber, auch der Steg rund um den Garten ist sauber, auch die Erdbeeren, ebenso Rinnstein und Hecke. Bist zufrieden? Außerdem war Donnerstag große Wäsche, heute am Sonntag hab ich Wäsche gelegt, und aus meinem alten zertrennten BDM Rock Heinke ein Kleidchen zugeschnit­ ten. Auch habe ich inzwischen Dieters alten Lodenmantel zertrennt und ihn zu Stänge gebracht, der daraus einen neuen für Heinkele näht. Diese Woche sollen die Kartoffeln raus und der Garten weiter sauber gemacht, Schlaf­ Russland

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stube u. Küche groß reingemacht und geplättet werden. Abends stopfe ich alles heil.«176 Leitmotiv der Briefe war immer die Liebe. Sie sei verliebt wie als junges Mädel, schreibt Lilo, überhaupt so voller Lebenslust. Ernsts 290. Infanterie-Division war halb motorisiert, zum Teil von Pferden abhängig; zwei Drittel waren professionelle Soldaten, der Rest Reservisten.177 Der Pakt mit der UdSSR war immer noch gültig, und Ernst hatte keine Ahnung, dass er bald aufgekündigt sein würde. Seine Sorge war eine ganz andere: nämlich, dass der Krieg vorbei sein könnte, bevor er aktiv beteiligt wäre. Er war verantwortlich für kulturelle Angelegenheiten und die organisierten Ausritte für die (deutschen) Kinder. Die Tage wurden mit Ausbildung und Übungen verbracht, abends gab es ab und zu ein Treffen für die Offiziere. Meistens hatte er jedoch Zeit genug, um Briefe zu schreiben, Radio zu hören, Bücher zu lesen. Es gab auch anstrengende Eilmärsche, ungefähr 45 km pro Tag. Die mangelnde Motorisierung der Wehrmacht machte lange, erschöpfende Märsche erforderlich: »Heute morgen um halb 3  Uhr war Wecken, um 4  Uhr Abmarsch, heute Nachmit­ tag halb 5 Uhr kommen wir zurück. Heute Abend ist ein Offiziersabend an­ gesetzt. Hoffentlich geht’s nicht zu lange, man hat doch redlich die Knochen müde.«178 Schon in der zweiten Aprilwoche rückte die Division von Graudenz ab, um teilweise nachts und mit nur kurzen Schlafpausen in Richtung Ostpreußen zu marschieren. Ernst lehnte die freundlichen Angebote von Bauern ab, bei ihnen zu essen, weil er es vorzog, bei seinen Männern zu bleiben. Er war sehr erfreut, als er von deutschen Siegen in Griechenland und Afrika hörte, und nahm an, dass Lilo das genauso empfinden würde. Der Krieg sei in seine letzte Phase eingetreten. »Liebste, was sagst du nur zum Krieg im Südosten und in Afrika? Das geht Dir schon ans Herz. Ich sehe Dich in atemloser Spannung vor unserem Radio sitzen, so wie wir hier, und die Meldung förmlich schlucken. Es ist etwas Gewaltiges um Deutschlands Raum und Führung.«179 Aufgrund der langen Märsche, die oft Blasen an den Füßen hinterließen, waren die Männer nicht in allzu guter Stimmung. Ernst ermunterte sie mit einigem Erfolg zum Singen. In NS-Liederbüchern wie Wohlauf Kamera­ den war Singen ein Kampfruf. Deutschland sollte erwachen, die Waffen schultern, Treue dem »alten Gott«, dem »wahren Gott«, dem Führer, dem Reich, den Kameraden und der Freiheit schwören, die Fahne hochhalten; es gebe kein Land so wunderbar wie das ihre; man marschiere einer besseren Zukunft entgegen.180 Ernst stieg oft von seinem Pferd und ist, wie er Lilo schrieb: »die 35 km mit den Jungen gelatscht«. Selbst die Pferde seien wacker. »Es ist etwas Besonderes um die Treue dieser Tiere. Sie ziehen und tragen, ohne sich zu sträuben. Man spricht mit ihnen und sie verstehen, spit­ 110

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zen die Ohren oder halten ganz still. Ich lebe ganz mit ihnen und verliere sie nie aus den Augen.«181 Am 14. April erreichten sie Ostpreußen. Das Wetter konnte unbeständig sein, auch im Mai fielen Schneeflocken, aber seine »Tour Gruppe« zog weiter, legte Strecken von bis zu 60 km pro Tag zurück. Der Frühling ließ auf sich warten, und die Felder waren mit Frost bedeckt, sogar eisig. Er begegnete den Bauernfamilien wieder, mit denen er im Landjahr gearbeitet hatte: »Höre und staune! Ich habe heute den alten Haldt besucht. Er, seine Frau, seine Tochter, alle waren so rührend zu mir. Es gab Kaffee, Brot mit Ei und Schinken und dann wurde erzählt. Acht Jahre sind seit den Tagen des Arbeitsdienstes verstrichen. Du, es war wie im Traum oder im Film. Alles war wie beim Alten. Die abgebrannte Scheune war wieder da, unser Schlafstall stand auch, ich fand den Haken wieder, an dem mein Tornister hing. Auf dem Gut begrüßte ich Herrn Below und seine Frau. Ich habe mich mächtig über das Wiedersehen gefreut.«182 Es machte ihm Spaß, durch die Landschaft zu reiten, durch die Flüsse, die Berge hinunter, über Zäune zu springen. Seine Gastgeber, die Kretsch­ manns, boten ihm Honig, Schinken und herzhafte Suppen an. Sie waren katholisch, aber Diskussionen über die Religion wurden vermieden. Trotz seiner Erschöpfung wegen der kurzen Nächte schrieb er nach den Eilmärschen lange Briefe und Karten an Lilo und pries die ›unfassbare Macht‹ ihrer Liebe. Sechzehn Fotos von Lilo und den Kindern standen in seinem Zimmer und: »Ein herrliches Gefühl der Geborgenheit beschleicht mich und macht mich glücklich, wenn ich deine lieben Zeilen lese. Können wir beide nicht dankbar sein, dass wir einander so fest gehören und unser so sicher sind? Liebe, ich bin so froh, in dir eine körperlich freudig bereite und so hinge­ bende Frau gefunden zu haben, aber dass wir uns seelisch finden, macht uns erst restlos glücklich.«183 Sorgen machte ihm allerdings Lilos Hang zur Melancholie. So überlegte er, ob sie nicht wegen der Einsamkeit und der Luftangriffe in Wrohm zu ihren Eltern in Spantekow ziehen sollte. Lilos Vater befürwortete das eifrig. (Die Briefmarke auf seinem Brief an Ernst zeigt Churchill, auf dessen kahlem Kopf ein Kriegsschiff auseinanderbricht. Darunter steht: »Wert keinen Pfennig«.)184 Ernst versicherte Lilo, der »Film« (der Krieg) werde bald vorbei sein. Im August werde er wieder zu Hause sein. Ein merkwürdiger Brief illustriert seinen Glauben, dass man grenzenloses Vertrauen in Hitler hegen könne, obwohl in der Politik alles unvorhersehbar sei: »Hier schwelt ein unter­ drücktes Feuer, dort grüßt ein Orkan die Gemüter. Was wird werden? Was ist mit Hass? Herzlieb, mir können weder Natur noch Politik etwas anhaben. Mein Glaube an Deutschland und seinen Führer, meine einmalige Liebe zu Dir und die Gewissheit deiner treuen, festen Zuneigung und Hingabe heben mich Russland

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über alles Zeitgeschehen hinweg. Mein Schnucki, ich bin so unfassbar glück­ lich, Dich zu besitzen.«185 Unklar ist, ob er mit »Hass« Russland oder die USA meinte. Andere Briefe erzählen von seinem Unmut und sogar von Trübseligkeit über Aspekte des militärischen Lebens. Er sehe keine Produktivität und viele widrige Dinge: »Ich habe nur einen Wunsch, möglichst bald wieder vor einer Klasse ste­ hen und wieder im vertrauten Leben zu sein. Dieses Soldatenleben ist der beste und kürzeste Weg zum geistigen Tod. Ich bin gar nicht so glücklich, wie Du meinst, mein Lieb. Das, was andere Menschen befreiend äußern, überwinde ich in mir und erstehe dafür meine grauen Haare. Viel leichter wäre es doch, mit zu schimpfen. Es ändert sich damit nun aber gar nichts. Da ist es wohl besser, man ist sich über das große Endziel klar und lässt alles Kleine am Wege liegen. Das ist oft übel. Ich bin zum Beispiel nicht für einen ewigen Soldaten geschaffen. Ich kann dieses ewige Getreten werden, diese Abhängigkeit, dieses verdammte Stei­ gen über Leichen bei den Herrn Strebern, Radfahrer genannt, nicht ausste­ hen. Man kommt nicht zur Besinnung, ein gegebener Befehl wird im nächs­ ten Augenblick schon widerrufen. Es fehlt eine feste Norm, ein Schreiten nach vorn, man lebt und tritt auf der Stelle. Vielleicht fliegt mal ein Stern vom Himmel, aber das Leben erschöpft sich im Dienst oder in gesell­ schaftlichem Getue. Nein, ich möchte keinen Tag länger als nötig beim Kommiss sein. Meine Pflicht erfülle ich freudig, ich hoffe aber auf ein bal­ diges Ende.« Es gab aber auch schöne Ablenkungen. Sehr willkommen und eine Neuheit für Ernst waren die Freilichtabende, Filme im Freiem. Die größte Freude aber bereitete ein zufälliges Treffen mit seinem jungen Bruder: »Du Schnucki, Sonntag war Hans bei mir. Er kam die 25 km mit dem Rad. Wir tranken gleich nach seiner Ankunft Kaffee und aßen Kommissbrot mit guter Butter, zogen uns unsere Turnhose an und wanderten durch die Sonne an die Gollume, einem kleinen Bach. Im Adamskostüm tollten wir im knietiefen Was­ ser und spritzten uns ab. Es war herrlich. Ein ganzes Stück sind wir dann im Flussbett barfuß gewandert und haben gesungen: ›Schon wieder blühet die Linde‹, ›Nun will der Lenz.‹ Ach Liebste, wärest Du hier.«186 Mitte Mai erreichten sie das kleine Dorf Szugken in der Nähe von Tilsit. Da hatten sie schon fast 500 km zu Fuß hinter sich. Inzwischen war es auch recht heiß geworden, und am Ende des Monats befanden sie sich nur noch vier Meilen von der russischen Grenze entfernt. Pfingsten, das uralte christliche Fest, wurde jetzt von dieser deutschen Armee mit traditionellem Kaffee und Kuchen, dann mit Sekt und Rotwein gefeiert! 112

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»Pfingstsonntag! Allein bin ich. Von nebenan dringen Märsche und Lieder, das deutsche Wunschkonzert zu mir herüber. In der Küche klappern Teller und Kannen. Die Männer schlafen. Wir haben gerade gegessen. Ich bin bei Dir. Wieder ist eine Woche vorbei. Sie fliegen dahin. Ich riss soeben dem Heimat­ kalender ein Wochenblatt ab und mein Blick fällt auf das Gedicht von Her­ mann Claudius. In der ersten Strophe heißt es: ›Mann, Weib und meine Kinder, Ihr seid ein süßes Lied, das auf allen Wegen mit mir zieht‹. Es ist so, Ihr seid bei mir Tag und Nacht.« Er stellte sich vor, wie Lilo ihr Haar kämmt, wie Heinke und Hartmut sich bloß strampeln. »So muss ich mir mein Glück aus der Erin­ nerung schöpfen oder sehnsüchtig in die Zukunft bauen. Ich muss mich täg­ lich überwinden, weil ich immer bei Dir bin.« Ernst, der mit seinen Männern gut auskam, berichtete auch von einem schwierigen Disziplinarfall: »Ich habe einen scheußlichen Kerl in meinem Zug, eine Berliner Schnauze, gerissen und falsch. Mir werden seine Reiterre­ den nun zu viel und ich melde ihn zur Bestrafung. Das macht mich aber ganz krank. Ich habe bisher keinen Mann bestrafen lassen müssen. Dieser Filius ist aber derart unverschämt und frech, dass ich mich täglich um ihn ärgere. Aber das sind so Dinge, über die man schwer schreiben kann.«187 Lilo merkte, dass Ernst ihre Fragen oft nicht beantwortete. Seine Briefe hatten eine gewisse liturgische Qualität, immer dieselben Gedanken wiederholend, ständig versichernd, dass alles in bester Ordnung sei. Seine Vorsicht lässt sich natürlich gut verstehen. Lilos detaillierte Fragen konnten vertrauliche Angelegenheiten berühren, z. B. wenn sie von massiven Truppenbewegungen nach Osten und von Panzereinheiten sprach. Was das bedeuten solle, wie lange der Krieg überhaupt dauern werde? Immer wieder betonte sie, dass es viel besser für sie wäre, wenn er ihr die wahre Situation schonungslos beschriebe. Die Berichte aus Hamburg im Sommer 1941 von den Luftangriffen hatten sie sehr gestört; Ernsts Schwester Leni und andere Verwandte wohnten dort. Als Ernst von neuen Initiativen im Krieg spricht, ist Lilo erleichtert: »Dein Brief heute hat mir wunderbar wohl getan und ich bin wieder ein Stück höher gestiegen in dem seelischen Wetterglas. Weiß ich nun doch, dass Du Verständnis hattest für meinen Ärger und den seelischen Druck. Auch dass Du schreibst, dass wir bald wieder gemeinsam schreiten, hat mich so glücklich gemacht. Dass Du an baldige militärische Operatio­ nen glaubst, gab mir auch wieder Hoffnung und Mut. Man hört näm­ lich nur immer das Gegenteil und alles ist missmutig. Leni sagt das auch von Hamburg. Elsa schrieb gestern aus Heringsdorf aus ihrem Lager der evakuierten Kinder und berichtete, dass sie sich auf den Winter einstel­ len sollen, Ofen und Zentralheizung wird überall eingebaut. Ich war ganz erschüttert. Russland

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Von Hamburg weiß ich, dass sie heute noch anfangen, gewaltige Luft­ schutzkeller zu bauen und dass sich Betriebe erst jetzt auf Rüstungsarbeit umstellen und erst in zirka einem Jahr serienmäßig produzieren können. Sieh mal, das lässt doch alles auf einen langen Krieg schließen, nicht wahr? Das Fünkchen Hoffnung, das noch im Herzen glimmt, wird dann allzu leicht immer wieder erstickt. Wie geht dir, mein Ernst? Meine verzag­ ten Briefe machen Dir das Leben schwer, ja? Ach, Du, verstehst du, dass ich einmal auspacken muss. Es dauert nur so lange, bis dann Nachricht kommt und meistens ist man dann über das Schlimmste hinweg, nicht wahr?«188 Die Ausdehnung des Krieges nach Griechenland betrübte sie; vor allem, wenn Ernst in großer Entfernung von ihr kämpfen musste. Noch schlimmer war der Gedanke an Russland. Ihre Zweifel, ob er wirklich die Kinder wiedersehen wollte, machten dem geduldigen Gatten zu schaffen. »Du hast mich mit Deinen Briefen vom 5. und 13. ganz traurig gemacht. Mein Schnucki, soll ich einmal meine Fesseln fallen lassen, soll ich einmal loswettern? Ach Du, das hat doch keinen Zweck. Ich sehne mich mit immer gleicher Inbrunst in deine Arme, zu meiner Familie, in die Gewalt Deiner un­ endlichen Liebe, aber ich erfülle meine Pflicht. Dass ich sie immer noch freudig erfüllen kann, macht mich glücklich. Sieh, das große Geschehen hat mich gepackt, unsere Herzen müssen die­ sen Kampf durchstehen. Es soll doch nicht heißen, der Engländer ist zäher als der Deutsche, seine Männer und Frauen halten mehr aus? Ich knirsche auch oft mit den Zähnen und die Gedanken an Euch wollen mich erdrü­ cken, aber Schnucki, was würdest Du zu einem schlappen Mann sagen? Ich stehe durch und freue mich auf das Wiedersehen. Ich kenne meine Verpflichtung Dir und meiner Familie gegenüber. Ich weiß, was ich Dir bin und vergesse das nie, weil auch Du mir alles bist auf Erden. Liebling, sieh doch nicht so schwarz! Wieso ist Russland das große Schreckgespenst? Ich glaube an keinen Krieg mit Russland. Die Diplomatie spielt im Augen­ blick wie nie zuvor. Wir können keine der Zusammenhänge ahnen. Aber schau, in Japan treffen sich die Botschafter Japans, Deutschlands, Sta­ lins und Russlands.«189 Ein Brief von Dieter an seine Schwester, im Juni, wirft Licht auf die Stimmung in der deutschen Wehrmacht. »Meine liebe Lilo! Also ich lebe noch! Nun so selbstverständlich ist das ja auch wieder nicht. Und so als Normal-Mensch fühle ich mich im Augen­ blick ja auch nicht. Einen schweren Kradunfall bei einer dummen Gelän­ 114

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defahrt überstand ich glücklich, mein Beifahrer und ich. Neun Tage später verknackste ich mir zur Abwechslung wieder mal den Fuß. Du weißt, mit den Füßen habe ich darin Routine. Trotzdem brachte ich es nur zu einem dummen Bluterguss im rechten Knöchel. Bei dem schönen Wetter  – wo alles grünt und sprießt auf dieser Erde – hielt es mich natürlich nicht im Bett. Also raus und losgehumpelt. Ob ich mich nun zu luftig angezogen oder wer weiß was, jedenfalls bekam ich langsam Fieber und starke Kopf­ schmerzen. Im Revier ließ ich Montag 37,5 messen, aber damit legt sich ja ein Offizier nicht ins Bett. Die andern Tage waren dann Übungen, dann ein toller Herrenabend mit unserm Alten, hier zufällig vorbei kommen­ den Rg. Kdr., dem jetzigen General von Chappuis – nun, ein Tag kam zum andern. Jedenfalls am Mittwoch Nachmittag bei der Streife ging’s nicht mehr, ich ging zu Boden. Im Revier maß man dann nur 40.4 aber das ge­ nügte mir. Den Ärzten auch. Also ins Bett. Seitdem liege ich nun also lang. Diagnose: Lungenentzündung und zwar recht dumm. Das Fieber und die Schmerzen haben nachgelassen, aber trotzdem jagt noch eine Spritze die andere. Außerdem bin ich Mitglied einer neuen Tiergattung: die der Tablettenfresser. Wie ich mich hier zu Pfingsten und überhaupt bei dem feinen Wetter so im Bett fühle, kannst Du dir ja denken. […] Aber weißt Du, ich will gern auf alles verzichten, wenn ich nur zum Abmarsch wieder da bin. Ein Abmarsch lässt sich nun ja nicht länger verheimlichen und in 8–16 Tagen werden wir wohl rollen. Aus den letzten Vorbereitungen und den vielen Impfungen kann man sich ein ungefähres Bild machen, wohin es geht. Die dummen Ärzte geben mir nun aber noch 4 Wochen – und das ist mir unerträglich. Ich muss doch mit. Das ist die letzte Gelegenheit, die sich uns jungen Leut­ nants ja bietet. Ich muss mit, so oder so.«190 Nur schwer können wir uns vorstellen, dass Ernst ebenso wie Dieter von dem gigantischen Überfall auf Russland nichts ahnte. Die Divisionsgeschichte jedenfalls berichtet, dass fast jeder spürte, dass ein Angriff bevorstand. Allerlei Gerüchte machten die Runde. Die Feldpost war beansprucht wie selten. Es fällt einem schwer, Ernsts unkritische Übernahme der deutschen Propaganda zu verstehen. Am 22. Juni startete das sogenannte Unternehmen Barbarossa, also der Einmarsch in Russland. Bis kurz zuvor enthalten Ernsts Briefe nichts Wichtiges, nur Einzelheiten über sein Essen, beschäftigen sich mit dem Gemüse und den Blumen im Wrohmer Garten, mit Lilos geröteten Augen oder den kleinen Unartigkeiten der Kinder. Was sollte das? Setzte er seine Beruhigungsstrategie fort? Hatten Lilos Briefe eine solche Wirkung auf ihn, dass er in dieser tröstlichen Welt versinken wollte? Anscheinend stand er zwischen den zwei Welten, konnte nie genug hören Russland

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über die Kinder: Hartmut im Sandkasten eingeschlafen, Heinke bei ihrem abendlichen Gebet.191 Am 20. Juni malte er Lilo ein romantisches Bild seines Lagers im Wald: »Herzlieb! Es ist aber auch wunderbar hier. Du müsstest nur die Vögel hören, zwei Finken schlagen mit kräftigem Pinkepink. Einer will es bes­ ser können als der andere, dort ruft unermüdlich der Kuckuck, ein klei­ nes Waldhähnchen zirpt dazwischen. Der Wind fährt rauschend durch die Baumwipfel. Vom blauen Himmel scheint die Sonne und wärmt den moo­ sigen Waldboden. Schade, dass die Bick- oder Blaubeeren nicht gerade reif sind. Sie wachsen hier in Massen. Ein kleines Übel sind die Mücken. Sie machen einem vor allem nachts zu schaffen, trotzdem schlafen wir aus­ gezeichnet in unsern Zelten. Zelte haben wir uns gebaut und in jedem Zelt liegen vier Mann. Du müsstest uns hier einmal sehen. Ich sitze auf meiner Moosbank vor meinem Zelt und schreibe auf meinen Knien. Mein Tisch ist schon wieder abgeräumt und fortgestellt. Das ist nämlich mein Koffer. Nun sitzen meine Leute auf unserm Tingplatz im Halbkreis, die Beine in den Gräben und trinken Bier. Gestern saßen wir beim Wein. Es wurde Mitter­ nacht und immer noch saßen wir beisammen.«192 Dann aber folgte die abrupte Veränderung. Mit dem nächsten Brief waren die Truppe schon tief in Litauen eingedrungen. Einige fast unlesbare Zeilen aus Ernsts Tagebuch vermitteln einen Eindruck von den chaotischen Zuständen in den ersten Tagen des Angriffs: »3 Uhr 5: Angriffsbeginn, . . . . . 3.  Zug III   Btl. unterstellt, Wald . . . . Grenzübertritt, . . . . Spähtrupp, Reiter­ zug. 14  Mann, Russische Flieger, deutsche Jäger. . . . . . 8.  Panzerdivision u. 6. Panz. Div, hinter 502 Division, hinter 269 I.D (Infanterie Division). Sand, Sonne, Hitze… Bevölkerung gibt Wasser, Eier, Milch, Speck, Käse. Wofür? Vollständig kaputt, schlafen auf Pferd ein,…Unsinn, Quartier requi­ riert…Kommunisten gefangen. . . . In manchen Dörfern Hakenkreuzfahnen u. litauische Fahnen . . . . . . . . .​ . . . . . . . . . ungepflegt, . . . . . . . . . . . . 2 Tage Regen vor Dünaburg (Daugavpils) Dünaburg, nur durchgezogen, zerstört, russischer Traktor, Kanonen. 8. Juli Ssebesh,1. Artilleriefeuer, brennende Stadt. Straße große Seltenheit Kolonne im direkten Schuss beschossen (30 Schuss) Oft starkes Schützen­ feuer…unmenschlich heiß, 38 grad. Spähtrupp, schade, 3 Verwundete. Mit Mannschaftszug, Artilleriebeschuss, Bruch, Sumpf, Moor, Kornfelder.«193 116

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Der Angriff auf Russland war für Lilo der allerschlimmste Schlag, denn sie wusste, dass Ernst spätestens jetzt in Lebensgefahr schwebte. Ihr war auch klar, dass es jetzt Unsinn wäre, auf ein baldiges Ende des Krieges zu hoffen. Wie sie es später lapidar zusammenfasste: »Russland hätte nicht kommen dürfen.«194 Bis der erste Brief von Ernst aus Russland eintraf, war sie so von Angst erschüttert, dass ihre Nachbarn in Wrohm sehr um sie besorgt waren. Lilo erkannte wohl, dass es Ernsts sehnlicher Wunsch war, für das Vaterland zu kämpfen, aber der erste Brief, nachdem sie vom Angriff erfahren hatte, endete in Tränen: »Mein innigst geliebter Mann, lieber, lieber Ernst, und guter Vati! Endlich ist die Schwere gehoben und ich darf wieder schreiben. Wenn ich nun doch bloß erst wüsste, wie es dir geht, wo Du steckst. Ich habe schon verschiedene Briefe nach dem 22. geschrieben. Ich erhielt heute deinen Brief vom 21. Ach, mein lieber Ernst, wie sorge ich mich um Dich. Die Tage und Nächte werden zur Qual, diese wahnsinnige Spannung reißt an den Nerven. Ich darf gar nicht so viel an all das Schreckliche denken. Mein Liebstes auf der Welt in Gefahr. Könnte doch meine große Liebe Dich be­ hüten. Sei versichert, Tag und Nacht bin ich um dich und bitte Gott, dich mir und den Kindern zu erhalten. Bist Du noch gesund und unverletzt, Lieb­ ling? Wie erträgst du die Strapazen, Anstrengungen? Bitte, bitte, gib mir ein Lebenszeichen. Ich telefonierte mit Vater und bat ihn, sofort zu kommen, leider kann er erst am 13.7. Ich ertrage es jetzt nicht, allein zu sein. Der Krieg in Russland war mir ja Gewissheit und danach war Sonntag mor­ gen die Nachricht ein Schlag ins Gesicht und mein Herz schrie auf, wusste ich dich doch mit beim Angriff. Ich hörte im Frontbericht, dass im Nord Osten der Angriff nur mit schweren Infanteriewaffen, ohne Artillerie ge­ macht wurde. Ich nehme an, dass Ihr das Baltenland aufrollt und Verbin­ dung mit Finnland erstrebt. Der Wehrmachtsbericht sagt noch gar nichts, kündigt nur für Morgen Sondermeldungen an. Man hört, der Krieg sei so hinterhältig, schlimmer als in Polen. Ich mag gar nicht daran denken, hast du wohl noch die Bilder von den Kindern gekriegt? Es wäre schön, wenn sie Dich als Talisman begleiten. Dein sehnlicher Wunsch mit dabei zu sein, ist nun in Erfüllung gegangen, lieber Ernst. Ich wünsche Dir alles Soldatenglück, das dazu gehört, um wie­ der heimzukehren. Um uns mach Dir keine Sorgen. Es ist alles in Ordnung, wir sind gesund und bangen nur um Dich. Die zwei Jahre Trennung zählen gar nicht mehr, ich will gerne noch lange warten, wenn nur am Ende mein lieber großer Junge wieder da ist. Meine Liebe ist grenzenlos und über den Tod hinaus. Lass mich schließen, Geliebter, ich kann nicht weiter. Ich schreibe täglich an dich und meine Gebete sind bei Dir. Worte können nicht sagen, was mich bewegt.195 Russland

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Zwei Tage später schickte sie einen anderen Brief ähnlichen Inhalts: »Zwölf gewaltige Sondermeldungen kamen gestern. Ich höre sie nur mit ehrfürch­ tigem Erschauern an. Wie viel deutsches Blut ist wohl schon geflossen und ich denke nur, wenn doch bloß Ernst lebt! 4000  Flugzeuge in einer Woche vernichtet. Unvorstellbar. Dieses Tempo überbietet alles bisher dagewesene, wenn es so weitergeht, kann es, wenn Gott will, angehen, dass wir uns im Au­ gust, wie Du schreibst, wiedersehen. Oh mein Ernst, wenn ich dich gesund wieder habe, will ich mein ganzes Leben Gott dafür danken. Ich habe diese Nacht so wunderbar von Dir geträumt.«196 Vom Standpunkt der Partei aus gesehen war Lilos Sicht der Dinge vollkommen verkehrt und selbstsüchtig, nur auf ihre individuellen Interessen bezogen. Eigentlich musste sie dankbar sein, dass ihre massiven Beschwerden die Zensur passierten. Wehrkraftzersetzung oder Feindbegünstigung, alles, was soldatische Moral und soziale Solidarität schwächen könnte, wurde nach der Kriegssonderstrafrechtsverordnung (1938) als Verrat angesehen und mit Gefängnis bestraft, in schweren Fällen mit der Todesstrafe geahndet. Freie Meinungsäußerungen waren selbst in privater Umgebung gefährlich; stets drohte die Gefahr, Opfer einer Denunziation zu werden. Flugblätter warnten Frauen davor, defätistische Briefe an ihre Männer zu senden. »Verzagte Briefe schreibt man nicht; Die Front erwartet Zuversicht«, mahnte ein Flugblatt und zeigt eine weinende Frau, die einen Brief schreibt, den ein betrübter Soldat lesen muss. Lilo hielt es nicht mehr aus, allein in Wrohm zu leben, und machte einen kurzen Besuch in Spantekow, um bei ihren Eltern zu sein. Ihr Vater versprach, den Besuch zu erwidern. Eine Karte von Ernst am 27. Juni berichtet, dass die Truppe schon 250 Kilometer »getippelt« sei und nur deutsche Flugzeuge gesehen habe. Ein detaillierter Brief am selben Tag beschrieb die nächtlichen Eilmärsche, oft mit nur drei Stunden Schlaf: »Und dann sind wir marschiert, den Tag über in die Nacht hinein. Von 2 Uhr bis 5 Uhr lagen wir am Wege. Immer vorwärts, Pferde tränken, essen oft nur im Stehen, Reiten oder Gehen. Oft gab es nichts zu essen, weil die Verpfle­ gung nicht ran kam. Die Sandwege sind teilweise fürchterlich, die Sonne brennt unbarmherzig auf den Pelz und vor Staub sieht man seinen Vorder­ mann nicht mehr. Der Feind rennt wie verrückt vor uns her, es gibt nichts zu schießen, nur marschieren müssen wir. Sei also ohne Sorge, Liebling. Im Augenblick liegen wir am Wege, um eine Panzerdivision vorbeizulas­ sen. Die Nacht schenkte uns einen gesunden Schlaf und heute […] wir uns. Nun sind alle Mühen vergessen. Übrigens haben wir oft nicht das Gefühl, in Feindesland zu sein. Die Leute sind nur teilweise geflohen, die meisten blieben und begreifen uns heute als ihre Befreier. Litauische Fahnen wehen über vielen Häusern, die Leute bringen Wasser, Milch, Käse, Schinken, Eier 118

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an die Vormarschstraße. Die guten Sachen gibt es nur hin und wieder. Wasser ist aber überall an der Straße. Die Menschen atmen auf, wir be­ freien sie tatsächlich von einem fürchterlichen Druck, von den Bolschewis­ ten. Mit Blumen hat man geschmückt, vor Freude haben Frauen geweint. Russische Flieger haben wir seit Überschreiten der Grenze nicht mehr ge­ sehen, dafür um so viel mehr deutsche. Wir fühlen uns wie im Manöver.«197 Fast jeden Tag schickte er einen Brief ab. […]»Russische Soldaten, Bomber, Flieger werden wir wohl nicht mehr sehen. Wir können mit Panzern keinen Schritt halten, die haben einen Schwung, fabelhaft! Im modernen Krieg muss man motorisiert sein. Die Infanterie marschiert nur noch und besetzt. […]198 Die Letten kommen mit Spaten und helfen gern. Man braucht oft gar nicht zu fragen. Auch hier stehen die Leute mit Wasser am Wege, die ersten in der Marschkolonne bekommen sogar Milch. Die Leute sprechen vielfach deutsch. Es ist kaum eine Schwie­ rigkeit der Verständigung. Die Häuser sind die reinsten Ställe. Wir schlafen lieber draußen als in diesen Stinkbuden. Alle Häuser sind aus Holz gebaut und mit Holzschindeln gedeckt. Ungestrichen stehen sie da, dunkelgrau, wenig einladend. Ihre Lebensdauer kann nicht besonders sein. Nur die Schulen und einige Häuser in den Städten sind aus Stein gebaut […].«199 »Die Armut der Bevölkerung ist groß und das Letzte haben die Roten mitge­ nommen. Die Frauen laufen sämtlich barfuß, alle Lebensmittel sind geraubt. Es ist trostlos. Die Leute haben eine tolle Wut auf die Roten.« Er denke dauernd an Lilo und die Kinder. »Wie reich wir sind, spüre ich hier in dieser wüs­ ten armen Gegend in doppeltem Maße. Wir können in der Küche, im Eßzim­ mer, im Herrenzimmer oder in der Laube trinken.«200 Die Mitteilungen für die Truppe betonten, dass Briefe nach Hause männlich und positiv sein sollten, um die Moral der Heimatfront zu stärken. Ernsts Briefe folgen diesem Muster. Am 10. Juli hatte er schon die russische Grenze hinter sich. Verpflegung war prima. Eigentlich war alles etwas langweilig. Er erwähnt aber ein paar Todesfälle. Die Briefe bieten kleine Skizzen des Armeelebens. Die Männer kümmern sich um die Pferde, säubern ihre Waffen, ruhen sich aus, sooft sie können, leben in den Tag hinein. Er kommt als junger Offizier mit seinen Männern gut aus. »Jetzt haben wir Ruhetag, können uns ausziehen, baden in einem herr­ lichen See. Das ganze Bataillon und wir als unterstellter Zug liegen nackt oder in der Turnhose am Ufer oder im nahen Wald und baden uns. Ich brachte eine Flasche Benediktiner an und dachte an Dich und die schönen Stunden beim letzten Urlaub. Kameraden tranken mit. Diese Stunden der Russland

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Ruhe sind köstlich. Wunderschöne Seen, mit Wiesen und Wäldern umge­ ben, Dörfer dicht herangebaut. So bietet sich Russland dar. Wir denken gar nicht an Krieg, der Soldat nimmt die Stunden wie sie kommen. Das Schreiben auf den Beinen ist etwas umständlich, aber es geht. Ich weiß aber ja, wie sehr Du die Briefe von mir ersehnst, wie sehr Du an mich denkst. Da kommt es auf Äußerlichkeiten nicht an, nicht wahr? Vom Krieg ist wenig zu berichten. Der Russe geht zurück und wir folgen mit der Prä­ zision einer Maschine.«201 Wenn Ernst Lilos Briefe liest, findet er ihre Sorgen und Ängste um ihn nur schwer begreiflich: »Ich stehe erschüttert vor Deiner Not und Deinen Ängs­ ten, die Du, mein Lieb, meinetwegen ausgestanden hast. Ich stehe in der Hand eines Höheren und vertraue ihm. Mir geht es sehr gut. Gebräunt und ab­ gehärtet gehen wir vorwärts. Kämpfe sind im Augenblick nicht zu erwarten. Andere Truppen sind vor uns und der Russe läuft. Es beruhigt mich zu wissen, dass Vater jetzt bei Dir ist. Gestern kühlte ein Gewitter die Luft derart ab, dass mir heute die Finger klamm sind. Was Ihr wohl jetzt macht! Was schreiben Hans und Dieter? Wie geht es dir und unseren Kleinen? Morgen bin ich nun zwei Jahre von Dir fort. Liebling, unsere Opfer [sic] erkämpft mit all den vielen anderen eine neue Welt. Weiter mit Gott für Deutschland!«202 Die Truppe zog inzwischen weiter in nord-östlicher Richtung durch die endlosen Steppen, die Kornfelder, die riesigen Wälder, das Heideland. Staraja Russa im Bezirk von Novgorod schien das Ziel zu sein, allgemeine Richtung war wohl Moskau. Einige Dörfer, wenn auch nicht alle, waren verlassen. In der Gegend baute man Kartoffeln, Bohnen, Gerste und Weizen an. Wenn sie ihre Schüchternheit überwunden hatten, hießen die Leute die Deutschen willkommen, verfluchten Stalin und den Kommunismus, boten ihnen Milch und Wasser an. Kinder spielten um die Zelte herum: »Lagerfeuer brennen im Umkreis um mich herum. Es werden Gänse gebra­ ten oder gekocht, Kartoffeln bereitet. Du hättest sehen müssen, wie sich die Landser heute Nachmittag auf die Gänse stürzten. Ach, das war ein gro­ ßes Morden. So mancher fiel beim Greifen auf die Nase und noch im Fallen schnappte er sich ein Federvieh. Der dritte Zug hat sich an Häuser herange­ macht. Gänse gibt es hier anscheinend in Massen. Wir haben Herden bis zu 200 Stück gesehen. Es ist wenig Widerstand. Wir marschieren nun mit unse­ ren Geschützen hinterher. Mir geht’s ausgezeichnet, hab nur Sehnsucht nach meinen Lieben.«203 Die bittere Ironie, von der Freundlichkeit der Einwohner zu berichten, während seine Männer ihre Gänse schlachten, entging Ernst offensichtlich. Als sie die Stadt Staraja Russa erreichten, die unter Artilleriefeuer schwer gelitten hatte, taten ihm die Einwohner leid. »Die 42 000 von ­St.-R. waren größtenteils in der Umgebung in Erdlöchern. Über 14  (?)  Tage 120

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lang lagen sie da, ohne richtiges Essen. Obendrein platzten noch Granaten bei ihnen auseinander. Ein grauenhaftes Bild!«204 Einen Monat später, als er durch den Wald ritt, stieß er auf eine elende Gruppe von Frauen und Kindern. »In Erd- und Lehmhütten hausten die Flüchtlinge, deren Dörfer am Waldrand lagen und von uns besetzt waren. Vom kleinen Kind bis zum Mädel von 18 Jahren waren sie dort der Kälte und Nässe ausgesetzt.205 Lilo hatte mittlerweile ihre eigenen Erfahrungen mit der Brutalität des Krieges gemacht. Mitte Juli gab es einen Luftangriff auf ihr kleines Dorf. Sofort und ohne Ernst zu benachrichtigen, verließ sie ihr geliebtes Schulhaus samt Garten in Wrohm und floh mit den Kindern nach Spantekow. Ernst bekam diesen fesselnden Bericht aus Swinemünde ein paar Tage später: »Du mein lieber, guter Ernst! Wie geht es dir Liebster? Ich sorge mich so. Seit dem 9. schriebst du nicht mehr. Liebling, wie ist es nur schwer, diese ewige Angst und Unruhe um Dich. Es ist inzwischen so viel passiert, man hört so viel Grausiges und Schreckliches, dieser wahnsinnige Krieg. Wann mag er ein Ende haben? Gott möge Dich behüten, Geliebter, meine Gedanken, mein Sehnen und Wünschen sind ausschließlich bei Dir, dass darfst Du felsenfest glauben. Und uns geht es gut, liebster Vati. Wir sind gesund. Gott hat uns behütet. Es war so grauenhaft, dass ich es kaum beschreiben kann. Wir haben nicht geglaubt, den nächsten Tag noch zu erleben. Wie eine Fügung, dass Vater abends um halb 9 Uhr mit einem Rendsburger Auto kam. Ich hatte mich so gefreut und wir saßen bis 11 Uhr und klönten. Ich ging so ruhig zu Bett. Ich schlief noch nicht, als wir eben vor 2 Uhr von 3 Bomben hochschossen. Wir hielten uns an den Händen und zitterten, dachten ja, nun ist’s vorbei. Da er­ tönt schon das Feuerhorn und wir springen aus den Betten. Mit fliegenden Händen etwas Zeug über und mein erster Gedanke war – verdunkeln. Wir traten ins Herrenzimmer, da ist die Straße taghell und voller Feuerschein, der ganze Himmel glutrot. Da rasten auch schon Läufer vorbei und schrien ›Fliegeralarm‹. Vater rief immer ›geh vom Fenster weg‹, doch ich musste ja verdunkeln, hörte auch, dass sich die Flieger entfernten. Dann weiter ver­ dunkeln in Küche und Esszimmer. Die Kinder schliefen noch. Wir gingen zu ihnen, im selben Augenblick heulten wieder 3  Bomben in nächster Nähe runter. Wir lagen auf dem Fußboden. Danach sofort jeder ein Kind auf den Arm, nur in die Bettdecke geschlagen u. runter in den Keller. Da, wieder und wieder Bomben, bis zu 26 Stück. Wir saßen auf dem Koks, bei jeder Bombe dachten wir, jetzt, jetzt trifft sie uns. Dieses furchtbare Heulen der Bomben vergesse ich nie. Wir zogen die Köpfe ein, drückten die Kleinen an uns und sagten nur ›Lieber Gott, behüte uns‹. Bald konnten wir beide nicht mehr sprechen, keinen Speichel im Mund, wir bewegten die Lippen u. es kam Russland

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nichts heraus. Dies dauerte ca. 50 Min. Das Licht ging aus, im Dorf brannte die Leitung. Da klopft es an die Haustür, ich hin, es war Oma Doose. Ich mit ihr raus, die Straße stand schwarz voll Menschen, die Flieger waren weg. Nun hörte man Näheres. Alle Menschen zitterten noch, die meisten weinten. Es kamen Krankenautos, fünf Ärzte usw. Erst hörte man, es sei niemand tot, bis Buhmann ins Dorf kam u. sagte, da hinten liegen Menschen. Da fanden sie dann die Toten und Verletzten. Das halbe Dorf war auf die Koppeln hin­ ter den Wällen gerannt, da alle Häuser brannten. Manche Häuser bekamen sieben Brandbomben, da sind die Leute rausgerannt, da sie nicht wussten wo zuerst löschen. Die ganze Ecke von Meyhof bis Agge, Glüsing, Schmied Thiessen bis zu Stolley brannte. Mindestens 20  Häuser. Und die armen Menschen rennen direkt dahin, wo die Bomben fallen. 3 waren sofort tot, sie wurden in der Schule aufgebahrt. Darunter ein 10jähriges Mädel aus Kiel, beide Beine ab, war noch 5 Stunden am Leben. Hans Messer mitten durchgerissen, Frau Stolley ebenfalls. Viele sind im Krankenhaus noch in Lebensgefahr. Kühe und Pferde und Kälber sind tot. Das Schreien der Men­ schen und Tiere war entsetzlich. 26 Sprengbomben und über 200 Brandbomben gingen runter. Es war ein planmäßiger Angriff, da zuerst fünf oder sechs Leuchtbomben um das Dorf gesetzt wurden, da gab es Brandbomben und wie dann das halbe Feuer ausbrach, gab es Sprengbomben dazu. Viele Häuser müssen abge­ rissen werden. Da sich die Türen verklemmt hatten, konnten die Menschen nicht raus und mussten mit der Axt die Türen einschlagen. Einen Volltreffer gab es nirgendwo, die meisten fielen auf die Straße, in die Gärten und Kop­ peln. Wir haben dem Tod ins Auge gesehen und ich habe mir gelobt, sofort mit den Kindern abzureisen. Ich will Dir doch die Kleinen gesund wieder­ geben. Nach Aussagen der Kommission und des Landrats ist mit noch mehr Angriffen zu rechnen, da der Scheinflugplatz in Dellstedt ist. Am nächsten Morgen rief ich Mutter an u. bat sie, mir zu helfen, in 2 Tagen wollten wir abreisen. Mutter war ahnungslos, Tellingstedt hatte nichts ge­ merkt. Aber kein Bauer, keine Frau hat am nächsten Tag in Wrohm gearbei­ tet, man zitterte noch und sah sich die Verwüstungen an. Ich hatte den Kopf voll. Große Wäsche war fällig und ich war umsonst bei sechs Frauen. So stand ich um 5 Uhr auf und wusch selber, Vater half. Bei den Kindern war Erna Bolz. Herta [die Haushilfe] habe ich am 15. rausgeschmissen, sie wurde boden­ los frech, es war eine große Aufregung für mich. Ich stand kurz vorm Zu­ sammenbruch, meine Nerven versagten, ich sah furchtbar aus, Vater war sprachlos. Mein Entschluss stand fest – weg nach Pommern. War das eine Packerei, alles mögliche ging mit der Post ab. Wir fuhren mittags über Rendsburg und wollten Hamburg umgehen und in Neumünster übernach­ 122

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ten. Unser Omnibus erreichte den Zug nicht mehr u. wir hatten vier Stun­ den in Rendsburg Aufenthalt. Die Fahrt mit den Kindern im überfüllten Zug war unbeschreiblich. In Oldesloe übernachteten wir, um früh den einzigen D-Zug zu schnappen. Alle Hotels voll, im strömenden Regen abends um halb neun Uhr standen wir obdachlos auf der Straße und kamen schließlich privat unter, muss­ ten in schmutzige Betten steigen in einer Notwohnung, aber besser als auf der Straße. Der D-Zug war gepökelt voll, alles Evakuierte aus Hamburg. In ›Mutter und Kind‹ saßen acht Babys mit Anhang. Ich mag nicht daran den­ ken, so furchtbar war die Fahrt, Du weißt ja noch vom letzten Mal, nur viel, viel schwerer. Um halb 3 Uhr waren wir in Swinemünde. Gott sei dank. Kin­ der waschen und ins Bett war eins. Nun kann ich doch ruhig schlafen, vorläufig. Wenn die Nächte länger sind, gibt’s hier auch Besuch. Schlimm ist es hier mit der Verpflegung, Gemüse u. Kartoffeln schrecklich teuer. Doch das ist Nebensache. Mutter macht so viel sie kann in Wrohm ein, dafür darf sie von meinen 40 Pfd. Zucker für sich mitnehmen. Es ist mir sehr, sehr schwer geworden, alles zu verlassen, mein herrlicher, üppiger Garten. Ob ich alles wiedersehe, wer weiß? Doch vor allem muss ich Dich wiedersehen, Liebling, wenn wir nur alle zusam­ men bleiben, das genügt. Gott behüte Dich, mein über alles geliebter Mann. Es grüßen Dich 1 000 Mal Heinke und Hartmut, Vater, Tante Lisbeth und Martha sowie die Cousinen Gertrud und Hildegard. In Liebe Dein Lütten.«206 Der Verlust von Schulhaus und Garten war auch ein gravierender Verlust von Selbstständigkeit und vom Traum einer soliden Zukunft mit Ernst und den Kindern. Für ihn war es eine Zeit schwerer Kämpfe, die ihm nur Zeit für kurze Karten ließen, aber man merkt, wie besorgt er war: »Über deinen Brief habe ich mich immer noch nicht ganz beruhigt. Euch ist doch gar nichts passiert? Und sind Haus und Garten heil? Keine Scheiben kaputt? Wer ist tot? Hast du noch mit Mutter gesprochen? Wer hat den Hausschlüs­ sel?«207 Er freute sich, dass Lilo und die Kinder jetzt in der Ostsee baden konnten und staunte, dass Heinke schon im Fragealter war. Sein Bruder Hans sei am Arm verwundet worden und liege im Lazarett. Er habe das Eiserne Kreuz bekommen. Ein längerer Brief am 10. August beschreibt, wie Ernst jetzt wohnte: »Ich liege in einem kleinen Dorf. Die Bewohner sind fort, und wir haben ein Haus ob des kalten nassen Wetters bezogen. Es ist ein Holzhaus, wie 99 % aller Häuser auf dem Lande. Eineinhalb Meter hoch führt eine Treppe in die Wohnstube, bestehend aus einem großen Raum, der durch Holzbretter oder Schränke in vier Abseiten aufgeteilt wird. Unter uns ist ein eineinhalb Russland

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Meter hoher Raum, der als Keller dient. Über uns soll eine Art Boden sein. Es liegt dort voll Hausrat, Dreck, altem Gerümpel und Lumpen. Nach hin­ ten schließt sich ein zerfallener Stall an. Wir wohnen oder besser hausen also in einer dieser Abseiten. Fliegen beschäftigen uns zu Tausenden und heute Nacht konnten drei Mann im Nebenraum vor Bremsenstichen nicht schlafen. Ich habe nichts von Wanzen gespürt und schlief gut auf unserem Strohlager, das wir uns in Ermangelung von Betten aufgeschlagen hatten. Unsere Russenkate muss von einem wohlhabenden Russen sein, es gab doch Tapeten. Tische und Stühle sind längst von anderen Landsern be­ sorgt. Wir haben eine Kommode auf die Seite gelegt und sitzen auf den Schubladen. So haben wir einen netten Ess-und Speisetisch. Unsere Ver­ pflegung ist gut. Es gibt mal Erbsen-, Bohnen-, Linsen- und Graupensuppe. Und es fehlt das frische Gemüse, aber man wird doch satt. Die kalte Kost ist knapp. Sobald das Mittagessen einmal ausfällt, da wird das Brot alle. Außerdem gibt es ab und zu saure Drops und sehr selten Schokolade. Zi­ garetten sind alle zwei Tage da. Im ganzen genommen klappt die Verpfle­ gung aber ausgezeichnet, und man muss immer wieder die Organisation be­wundern. Wir verhungern nicht. Leben oft sogar wie die Fürsten.«208 Hasensuppe gab es ab und zu. Ernst fing an, ein bisschen Russisch zu lernen. Seine große Freude waren Lilos Briefe, die »ein hohes Lied der Frauen­ liebe« waren. Er wolle sie zurückschicken, weil es unmöglich sei, sie alle mitzunehmen. Lilo sandte ihm häufig Pakete  – eine Pfeife, einen Federhalter, Süßigkeiten, Zigaretten, Schreibpapier – und erzählte stolz von den Kindern. »Schnucki, wie geht es Euch? Du glaubst nicht, wie ich mich nach Euch sehne! Die liebe Heinkemusch ist schon so klug! Und unser Hartmut ein richtiger Junge! Spaziert er schon an Deiner Hand durch die Straßen? Ich nehme doch an, dass Du ihn meistens führst. Ich bin so froh, dass es Euch gut geht.«209 Er erzählte, russische Überläufer, »die täglich von den Roten zu uns kom­ men, berichteten von der Stimmung der Truppen. Die roten Kommissare zwin­ gen sie zum Kampf und wer überläuft, wird erschossen. Die Russen sind froh, wenn sie bei uns sind und atmen befreit auf, weil sie merken, dass die Kom­ missare lügen. Es wird keiner bei uns erschossen, wie sie erzählen.« Dass Lilo viel mit Frau Telzerow über den Krieg gesprochen hatte, gefiel Ernst nicht. »Telzerow ist ein Hasenfuß. Was schreibt er so etwas nach Hause. Dass wir hier nicht spazieren gehen, weißt du genauso gut wie Frau Telzerow, aber nun noch große Worte machen vom Kämpfen, von Toten, vom Gräuel usw.? Ich freue mich, wenn ich dir schreiben kann, dass ich wohlauf bin, und mich sauwohl fühle. Übrigens ist Frau Telzerow nett, aber Stadtpflanze. Sie drängt sich leicht ein wenig auf. Der Sohn ist verzogen. Hans T. hat nichts zu sagen, er ist ein gutmütiger Junge und sie hat die Hosen 124

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an.« Sein Oberleutnant wurde verwundet. »Ich führe seitdem den vierten, schweren Zug. Mit 15 cm Geschützen kann ich so allerhand machen und das Eisernes Kreuz zeugt von unseren Taten. Von unserem Regiment sind bisher fünf Mann gefallen. Bitte, behalte alles für dich. Weißt Du immer noch nicht, wo wir sind? Kannst Du Staraja Russa am Ilmensee nicht finden? Der Russe wird weich. Täglich laufen sie zu uns über. Ich denke, in vier Wochen ist die Geschichte hier fertig.«210 In späteren Briefen riet er Lilo, Frau Telzerow zu meiden. Ihr Mann habe offensichtlich viel zu viel von den grauenhaften Zuständen am Verbandsplatz berichtet. Es sei unnötig, einer Soldatenfrau diese Schrecken auszumalen.211 Gegen Ende August gab es eine Kampfpause, und die Truppe ruhte sich aus. Er erinnert sich aber an die Anstrengungen der letzten Tage. »Das mörderische Artilleriefeuer werden wir nie vergessen. Dann folgte wieder Vormarsch mit vereinzelten Kämpfen, mit Fliegerangriffen und Minen, bei Aleksino. Von dort bis hierher war täglich Spannung und Kampf ohne Rast und Ruhe. Die Namen Sabolottja, Michalkino und besonders Staraja Russa werden wir nie vergessen. Wie ich schon schrieb, führe ich nun den vierten Zug, also den schweren mit 15 cm Geschützen. Bisher habe ich einen Toten, Schütze Tribien, Vater Pastor in Hamburg und drei Leicht­ verwundete. Drei Pferde sind tot. Mein Titus ist mit mir vom 3. zum 4. Zug gewechselt. Es geht ihm ganz prima. Der russische Klee macht ihn dick und fett. Er hat immer noch Feuer in sich. In der letzten Woche bin ich allerdings selten geritten. Zu Fuß geht das Hinwerfen schneller und die Artillerie überholt uns oft. In StarajaRussa saßen wir mit unserer B. Stelle im Kirchturm bei der Artillerie, da gab’s Kugeln und Granaten, das krachte und splitterte! Da hat mir in einer stillen Minute Kreft, der nun die Kompanie führt, das EK gegeben. Um uns herum brannten die Häuser und wir schickten Gruß auf Gruß den Russen hinüber. Und dann kam etwas Neues für uns. Deutsche Bomber und Stu­ kas, die wir bisher kaum sahen, haben den Russen mürbe gemacht. Über 700 Mann wurden gefangen, noch mehr getötet, so dass nun die Luft rein ist. Du kannst nun also beruhigt, Herzlieb, schlafen und wenn Leningrad und Moskau unser sind, denke ich, dass Urlaub winkt. Im September ist es wohl so weit. Ach, wird das schön. Vorzustellen ist das gar nicht. Ich glaube, ich werde erst einmal eine Woche lang schlafen, vorher muss ich allerdings ein Bad nehmen, damit der Russengeruch von mir abfällt. Wir sind ja kaum noch Menschen in diesem Dreck. Allem Anschein wird über die Linie, die wir erreichten, nicht mehr vorgegangen. Ich denke mir, man besetzt die Linie Petersburg-Moskau, Kiev-Krim vom Schwarzen Meer u. überlässt den weißen Russen die Säuberung der übrigen Teile. Die Armee ist vernichtet, das wäre also nur ein Aufräumen.«212 Russland

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Als Lehrer dachte er oft an die Erziehung der Kinder, die jetzt in Spantekow waren: »Wie werden Heinkele und Hartmut dort umhertollen! Wie viel mehr wird sich Heinkemusch für die Musik interessieren! Lasst sie bitte nicht zu viel in der schlechten Schulluft sitzen oder nachmittags spielen. Die Schule ist ein Ort voller Bazillen und es ist früh genug, wenn unsere Deern dann mit sechs Jahren in der schlechten Luft sitzt. Du meinst, sie spielte allein noch nicht. Das ist schade, aber bisher verständlich. Die Kinder in ihrem Alter lernen das Sprechen, erfassen ihre Umwelt und erweitern ihren Vorstel­ lungskreis. Ihr sprachlicher Ausdruck wird stark beeinflusst von der Zeit und Muße, die die Eltern den Kindern widmen können. Hoffentlich hast Du, mein Schnucki, Zeit, die Fragen unserer Ältesten zu beantworten. Sie muss aber auch allein spielen können. Wie benehmen sich unsere Beiden Bilder­ büchern gegenüber. Ist Heinkemusch noch so wild darauf? Und was sagt Hartmut dazu? Liebelos gehen wir hier durchs Land und die Strapazen lassen oft die eigene Not unter die Bewusstseinsschwelle treten. Jetzt in der Ruhe sehnt man sich nach seinen Lieben in der Heimat. Man muss sich beschäftigen und nicht so viel denken, aber wir hier draußen lernen das Leben im Frie­ den schätzen. Ewig wird uns die Not, der Schmutz, die Kälte und Nässe des Krieges vor Augen, die toten Kameraden werden uns mahnen, Kleinigkei­ ten klein zu lassen und dem Großen nachzustreben. Mein Glaube ist un­ gebrochen, meine Liebe tief und unstillbar, und die Hoffnung trägt mich über alle Mühen hinweg. Lass es auch bei dir so sein, Herzlieb, dann hat der Krieg auch in unserem kleinen Leben segensreich gewirkt. Mir scheint, es geht hier dem Ende zu. Unsere letzten Gefangenen waren Männer ohne Kriegslust und Ausbildungen. Material ist beim Russen knapp. Maschinengewehre hatten sie gar nicht mehr, einige sogar nur Sei­ tengewehre, Artillerie ist selten, ebenso Flieger.«213 Im Herbst nahm der Regen zu: »Bedeckter Himmel über der russischen Weite. Regenschwer hängen die Wolken, die der Nordwester über das Land treibt. Der Wald beherrscht die Landschaft. Fichten, Kiefern, Birken, Buchen und viele Eschen stehen durcheinander. Durch den Wald ziehen sich Straßen, Wege und Schnei­ sen, aber keine Straße ist fest und gut. Am Bachlauf entlang siedelten die Menschen. In kurzen Abständen reiht sich ein Dorf ans andere, immer den Bachlauf folgend. Die Brunnen sind schlecht; der Fluss muss ihr Wasser für Mensch und Vieh bereithalten. Die aufgeweichte Dorfstraße lässt die Fahr­ zeuge nur schwer passieren. Selbst Fußgänger müssen festes Schuhzeug 126

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beim Verlassen der Häuser anziehen. Links und rechts laufen wohl die klei­ nen Gräben, aber sie helfen wenig gegen den Dreck. An beiden Straßenseiten stehen die Holzhäuser. Wie überall ist Holz das einzige Baumaterial. Vier Wände aus dicken Baumstämmen roh behauen wurden hochgezogen, ein Dach aus Stroh und Schindeln daraufgesetzt und die Wohnung ist fertig. Die Innenausstattung ist so primitiv wie mög­ lich. Wenn man sich vor Augen hält, dass hier die Menschen seit Hunder­ ten von Jahren leben und nichts von ihrer Primitivität verloren, versteht man das Sprichwort, du bist hinter den Russen zurück. Durch einen kleinen Windfang steigt man über eine kurze Treppe zur Wohnstube hinauf. Es ent­ hält einen großen Raum, der durch eine dünne Bretterwand in Küche und Wohnraum getrennt wird. In der Küche findet man neben dem im allge­ meinen üblichen Dreck die gebräuchlichen Tontöpfe, Eimer, Holzlöffel und Geschirr. Ein Backofen wird gleichzeitig zum Essenkochen und zum Brot­ backen benutzt. Selten ist der Ofen zum Feuern von unten eingerichtet. Zu­ erst stellt man die bauchigen Tontöpfe mitten ins Feuer und heizt dann von den Seiten, oder man hängt den Topf auf. In dem Kellerraum, der sich aber zu ebener Erde befindet, steht die Korn­ mühle mit Handbetrieb. Man erntet, mahlt und backt alles selber. Bäcker, Schlachter usw. gibt es auf den Dörfern nicht. Ich sah auch kaum einen Laden. Der Wohnraum ist zumeist mit Zeitungspapier ausgeklebt. Natür­ lich sind der Sowjetstern und die Bilder der roten Machthaber fast überall zu finden. Trotzdem sind die meisten Landbewohner christlich. Die Herr­ gottswinkel in den Räumen zeugen davon. Die Fenster unterscheiden sich nicht von den uns bekannten. Lange Bänke, Tische, Hocker oder Stühle sind dann die Möbelstücke, zu denen ab und zu ein Schrank, ein Bett, eine Uhr oder eine Lampe, kommen. Gar­ dinen sind selten und immer dreckig. Über der Wohnstube lässt das Spitz­ dach einen Bodenraum frei, der überhaupt nicht oder als Dachwinkel be­ nutzt wird. Stroh, Spinnweben, Lumpen, Holzreste liegen dort umher und der Wind pfeift kalt durch die Löcher in dem Dach. Den Straßen entgegen­ gesetzt hängt sich zumeist der vor Schmutz starrende Stall an das Wohn­ haus an. Wieder steigt man eine Treppe hinunter und sucht ratlos nach fes­ tem Grund für die Stiefel. Erst ein paar Bretter ermöglichen ein Passieren. Abgeteilt werden dann oft noch zwei Ställe mit Bretterüberlage. Sie stehen unter demselben Dach, bilden aber mit ihrer Balkenüberlage einen war­ men Boden für Stroh und Heu. Viel Krautfutter brauchen die […] Bauern hier nicht, da nur eine Kuh zu füttern ist. Ein Garten ist meistens hinterm Haus. Kartoffeln nehmen den größten Platz ein. Erbsen, Gurken (reichlich!) Fäs­ ser mit eingemachten Gurken fanden wir oft im Keller. Mangold, Zwiebeln, Kohl, Rote Beete kommen hinzu. Die Gärten sind im allgemeinen gut, der Boden durchwegs fruchtbar.«214 Russland

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Ernsts gewissenhaften, verständnisvollen Briefen zum Trotz wurden Lilos Ängste um ihn keineswegs geringer. Es half nicht, dass Lilos Mutter die Störung ihres Lebens durch zwei aktive Kleinkinder nicht begrüßte. Zähne zusammenbeißen und möglichst Krach vermeiden war sein Rat. Lilo schlief schlecht, und Ernst war ehrlich erschrocken, als ihr Gewicht nur noch 108 Pfund betrug. Das sei katastrophal: »Was hilft alles Wehklagen? Es bessert nichts an der Sache und ist undeutsch«.215 Er versuchte alles, um sie zu überzeugen, dass er wohlauf war: »Die Finger sind sauber wie selten. Sie sind weich vom Waschen. Gerade komme ich herein vom Wäsche auf‌hängen. Ich hing sie an den großen Back- und Kochofen in der Küche; es ist schon 18  Uhr und die Sonne ist vom wolkenbedeckten Himmel verschwunden. Es schummert schon mächtig und ich muss mich mit diesem Brief beeilen, wenn ich ihn heute noch beenden soll. Bei Kerzenlicht schreibt es sich nicht gut. Man verdirbt sich die Augen. Mein Schnucki, Deine letzten Briefe vom 26., 27.und vom 29. sind da. Ach, wie lieb du schreibst. Du weißt ja, wie ich mich immer auf Deine Post freue. Dein Geburtstagsbrief ist also rechtzeitig angekommen. Bisweilen läuft die Post so langsam, und diesmal ging es doch einigermaßen schnell. Dank dir, Herzlieb, für Deine guten Wünsche. Wir wollen der Hoffnung im Herzen sagen, dass wir bald wieder vereint unser Leben gestalten und unsere Kin­ der erziehen können. Ja, mein Lilo, bisher können wir von der Erinnerung zehren und in die Zukunft träumen. Du malst es so nett aus, wie wir beide unser Glück genießen wollen. Ich weiß es von Dir und bin des Abends vorm Einschlafen bei Dir. Mein Schnucki, du hast ganz recht, den Krieg haben wir alle satt und ich würde mich riesig freuen, wenn ich im Kreise meiner Familie leben darf und die Schule meine Kräfte wieder fordert. Aber Herzlieb, ich bedaure nie, die­ sen gewaltigen aller Feldzüge mitgemacht zu haben.216 Ich weiß, dass ich wieder so sprechen würde wie seinerzeit bei Opa Johannsen. Ich urteile nicht anders, mein Lieb, sondern habe die Erfüllung meines Wunsches ge­ funden. Nie möchte ich diesen Einsatz, diese Mühen, und das Stehen vor dem Tod missen. Es wird dieser Krieg in mein Leben als eins meiner größ­ ten Erlebnisse eingehen, das schließt aber doch nicht aus, dass ich mich sehne nach meiner lieben Frau und meinen Kinderchen. Unbändig sehne ich mich nach Euch, aber noch erfülle ich hier freudig meine Pflicht, weil ich der Meinung bin, dass wir hier aus Überzeugung kämpfen und nur der Wille diese Strapazen meistert. Im Augenblick haben wir seit Tagen Ruhe. Ich schrieb Dir ja schon und bin vor allem deinetwegen froh. Du darfst nun ruhig sein, der Kampf um Staraja Russa ist längst beendet. Liebste, das Gerücht vom Wegkommen 128

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hatte eine reale Grundlage. Es standen zwei Divisionen zur Wahl, dar­ unter die unsere. Die andere ist tatsächlich fortgekommen. Schnucki, was tühnst Du denn [Unsinn reden] von alt und verblasst? Wieviel Jahre willst Du denn noch warten? Hoppla, mein Deern, ich habe noch Blut in den Adern. Das Verblühen treibe ich Dir noch aus. Kommst übers Knie, Du liebe süße Maus. In inniger Liebe küsse ich Dich, meine liebe kleine Lilo­ frau. Dein Ernst.«217 Man kann sich nur schwer vorstellen, wie andere Offiziere über die Gefahren dachten: Tod, schwere Verletzungen, Amputationen. Meistens lebte man von Tag zu Tag, in Solidarität mit den Kameraden, ohne Zeit zum Nachdenken. Im Fragment eines undatierten Briefes, unter Dieters Papieren gefunden, heißt es: »Lieber, treuer Gott, lass mich in diesem wilden Völ­ kerringen nicht untergehen, sondern führe mich zu Weib und Kind zurück, aber Dein Wille geschehe.« Es kann gut sein, dass der Schreiber reflektiert, was viele empfanden. Während Ernst jeden Tag die Nachricht erwartete, dass Stalingrad kapituliert hätte, war Lilos sehnlicher Wunsch, der Krieg möge sich nicht in den Winter hineinschleppen. »Ich gratuliere Dir zum Eisernen Kreuz, mein Ernst. Nun wo Du es hast, freue ich mich natürlich für Dich, ein Auge lacht, und das andere weint. Stolz bin ich auf Dich, mein lieber Junge. Ich glaube, wenn Du mir wie­ der geschenkt werden solltest, habe ich Scheu vor Dir. Mir ist jetzt schon manchmal so, Du stehst in einer ganz anderen Welt, hast so viel durch­ gemacht, Übermenschliches geleistet, alle Entbehrungen getragen mit einer Haltung, die ihresgleichen sucht. Ich bin ja so winzig klein neben Dir, stecke im Kleinkram des täglichen Lebens und kann Dich nur bewundern u. in Ehrfurcht an Dich denken. Immer noch leistet der Gegner erbitterten Widerstand, es sieht nicht so aus, als ob ihm die Luft wegbleibt. Du meinst, in 4 Wochen sei die Geschichte zu Ende? Ach, mein Ernst, danach müsste Ende September Schluss sein. Ich glaube es nicht, wenn es bloß nicht in den Winter geht. Du lieber Mann musst ja frieren, es ist schon so kalt. Handschuhe, Kniewärmer usw. ge­ brauchen. Ihr müsst doch furchtbar im Zelt frieren, Gibt es denn noch Stroh zu finden? Was soll aus der Bevölkerung im Winter werden, alles ist doch abgebrannt und zerstört? Was für ein wahnsinniger Krieg!«218 Sie mahnte ihn zur Vorsicht, nicht alleine auf dem Motorrad oder zu Pferd durch die Wälder zu streifen, hoffte immer noch, dass er für die Auf‌bauschule zurückgerufen werde. Ihre wachsende Verzweif‌lung war nicht nur Temperamentssache. Einsam wie sie war, ohne Kameraden, wie Ernst sie Russland

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hatte, nahm sie die Erschütterung ihrer intakten Welt realistischer wahr. Zunehmend zweifelte sie, ob seine Hoffnungen berechtigt wären. Die Kinder waren natürlich nicht immer leicht zu erziehen. »Du machst Dir gar keine Vorstellung von Hartmut. Ist das ein lebhaftes Kind, viel, viel le­ bendiger als Heinke. Er hat keine Ruhe, nicht zwei Sekunden. Das wird mal ein doller Bursche, den kann ich nicht bändigen. Dabei kernig und unverwüstlich. Er hat jetzt seine Bockzeit, macht sich steif wie ein Stock, wenn er sitzen soll und die Knie weich, wenn er stehen soll. Ich habe leider nicht mehr die Energie und Ruhe, die dazu nötig ist. Wenn Du doch hier wärst und mir helfen könn­ test. Wie eine Nachbarin, Frau Tollach, kommentierte: ›een Kerl mit Düwels­ haut övertreckt‹.«219 Im September beschrieb sie seine Fortschritte. »Ich war mit den Kindern im Park. Hartmut will anfangen zu sprechen. Er weiß schon so vieles. Wo seine Augen sind, seine Haare, Schuhe, Hose, Zunge, Hände usw. Er kennt auch schon Tiere im Bilderbuch, der lütte Mann. Aber Ruhe hat er nicht, er ist ein unbeschreiblicher Quirl. Ein strammer Bub. Wie wirst du Dich über ihn freuen, er ist ja Dein Bub. Kürzlich stand er vorm Bienenhaus und pulte im Flugloch. Die Bienen summten um ihn herum, eine saß ihm auf der Hand. Ich sah es und riss ihn hinweg, es ging alles gut.«220 Ihre Perspektiven gingen zunehmend auseinander. Ernst sah den Krieg als Auslese, die Besten würden bestehen. Lilo entgegnete: »Ich weiß nicht recht. Bestimmt fallen mehr tapfere, einsatzbereite mutige Soldaten als Feig­ linge und Drückeberger. Wo ist da Auslese? Ich glaube eher im umgekehr­ ten Sinne. Die Besten bleiben und die, die ein gütiges Geschick bewahrt, sind wenige.«221 Von Anfang an hatte er das in seinen Augen Positive über­ betont – die schwache Ausrüstung der Russen, die vielen Gefangenen und Überläufer: »Ich sitze als Wachhabender beim Schein unserer bewährten Karbid­ leuchte. Draußen steht unser Posten im Regen. Aller Frost, alle Kälte sind dahin, die Wege unergründlich, unsere Zuversicht und unsere Hoffnung auf ein baldiges Ende größer denn je. Täglich kommen die Ruskis herüber zu uns. Meistens kommen sie im Haufen an. Ihre Waffen bringen sie mit, damit sie sich auf ihrem Wege gegen ihre eigenen Leute wehren und die Kommissare erledigen können. Mit weißen Tüchern winken sie von weitem, werfen dann ihre Waffen fort, laufen heran und werden durch die Minen­ sperre geführt. Sie laufen und freuen sich und schütteln freudestrahlend jedem die Hand. Nur die Politniks und Kriegstreiber halten noch einige bei der Stange. Gestern kamen 25, heute 24. Wir sind immer gespannt auf die nächsten. Im übrigen ist alles unverändert und ruhig. Es gibt kaum etwas Neues. Hier fällt keine Entscheidung und so warten wir ab und hoffen auf das baldige Ende. 130

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Heute Abend sangen wir alte und neue Lieder. Lt. Kramer, Zugführer vom II Zug 13 Kp. wohnt mit seinem Zugtrupp hier bei mir. Wir sangen die be­ kannten Landknechtslieder, Soldatenlieder, Liebeslieder, Kanons. Es war nett. Lt. Magerhans kommt auch des öfteren. Es sind alles nette Kerle. Da ist dann noch Lt. Zirner. Der schließt den Reigen der Offiziere. Ab und zu kommen dann im Wechsel mal Lt. Kreft, immer nett und der Alte, oder der General. Frisch, aber leicht bissig. Na, uns kann keiner. Bei alten Kämpfern klappt’s immer.«222 »Nun schreiten die Operationen rüstig voran,« schrieb er im Oktober. »Die Aussicht, vor dem Winter ein Ende zu sehen, ist doch erfreulich, nicht wahr? Genial ist alles erdacht und unerbittlich. Diese Erfolge krönen die Mühen und Entbehrungen und machen die Soldaten stolz. Wenn auch das Vertrauen in die Führung felsenfest ist, es ist doch gut, wenn man den Erfolg errungen hat. Gestern ritt ich wieder mit meinem Titus aus. Er ist immer noch derselbe unverwüstliche Renner. Herbstlich bot sich der Wald dar und warm schien die Sonne. Ich reite gern und kehre erfrischt zurück.«223 Solche Versicherungen provozierten am Ende bei Lilo einen Ausbruch von Zorn. Schon vor einiger Zeit hatte Ernst von einem neuen Unternehmen erzählt. Mit Stolz berichtete er darüber in einer Reihe von Briefen: »Mitten im Wald haben wir uns ein Blockhaus gebaut, am Waldrand. Viel Arbeit, aber Arbeit verscheucht dumme Gedanken. Sollst Du wissen, dass es mir sehr gut geht, das ›Trapper‹leben hier in unserm Blockhaus erinnert uns alle an Karl May oder Cooper. Wir sind sieben aufeinander eingespielte Kameraden und vertreiben uns die Zeit, so gut wir’s können. Die Nächte sind frisch und kühl im Walde, aber wir haben ja unsern Ofen und doppelte Wände. Nun warten wir in Bälde auf den Schnee, Pferde haben wir ja und Schlitten sind von uns besorgt. Sollst einmal sehen, wie wir hier spazieren fahren. Ich glaube ja nicht, dass wir den Winter hier erleben, wir haben si­ cher für andere gebaut. Ich glaube, es gibt doch noch Überraschungen. Warten wir ab. Wir sind alle quietschvergnügt und puppenlustig. Wir essen wie Scheunen­ drescher und sind gesund bei unserer Arbeit, in der guten Waldluft. Wer hat denn diese Parolen ausgegeben? In unserem Blockhaus sind weder Flöhe, Läuse noch Wanzen. Eine Fliege scheint bei uns in der Wärme überwintern zu wollen und eine Maus scheint sich verirrt zu haben, das ist alles. Mein Schnucki, im nächsten Brief erzähle ich mal wieder von unserem Märchenhäuschen im Walde, vom Herd, von meinem prima Bett allerdings ohne Bettwäsche, von unserem Schrank und allem, was hier so geschafft ist. Schön ist es, durch die Wälder zu reiten. Russische Gefangene und unsere Pioniere bauen die Wege aus. Gestern Abend kam eine Kompanie Russland

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mit geschulterten Spaten von der Arbeit zurück. Russen waren es und sie sangen. Ein Vorsänger beginnt und alle fallen in einen etwas monotonen und schwermütigen, für uns fremdartigen Gesang ein.«224 Bei Lilo löste seine Begeisterung tiefe Empörung aus. Sie hatte ihr schönes Haus und den Garten in Wrohm aufgeben müssen, musste täglich mit einer unfreundlichen Mutter fertigwerden, war allein und einsam. Und Ernst sprach von seinem Märchenhaus in den Wäldern. Sie platzte vor Wut. »Mein lieber Ernst! Ich habe einen sehr schweren Tag hinter mir, an dem es in meinem Innern rumort hat wie kaum zuvor. Dass Du und Deine letzten Briefe der Anlass sind, wirst du kaum ahnen. Schon die letzten Briefe u. besonders der heutige lange vom 28.9. haben mir immer mehr zum Bewusstsein gebracht, dass Du in deinem jetzigen Zustand ein vollkommen glücklicher Mensch bist, Du nichts entbehrst, alles ausgezeichnet findest und dich ›pudelwohl‹ fühlst! Du möchtest es gar nicht anders haben, sehnst Dich in stillen Stunden wohl mal nach Frau und Kind, aber das alles ist Hintergrund und nicht mehr die Hauptsache Deines Lebens. Wenn Du auf Urlaub kommst, wirst Du Dich nach deiner Blockhütte sehnen und nur halb bei uns sein. Du hast nun den Einsatz er­ lebt und standest vor dem Tod. Ich habe mich immer bemüht, diesen Dei­ nen Wunsch nach Einsatz zu verstehen, da Du noch nichts mitgemacht hattest. Aber jetzt kann ich nicht mehr mit. Ich verstehe Dich nicht mehr. Ein lediger Mann, wie Hans und Dieter, kann wohl so schreiben, aber ein Vater von 2 kleinen Kindern u. einer Frau, deren Liebe u. Treue Du garantie­ ren kannst, nicht. Wenn unsere Ehe kinderlos und wir nicht glücklich wären, auch noch. Aber so, wie es bei uns steht, nicht. Du solltest Gott danken, dass Du noch am Leben bist und den sehnlichsten Wunsch haben, zu den Deinen zurück zu kehren. Wenn Du nun gefallen wärest, dann wäre das auch in Ordnung, nicht wahr? Ich möchte Dich bitten, nichts mehr zu unternehmen, dass evt. Deine Reklamation veranlassen könnte, woran ich übrigens nicht im Geringsten glaube. Tu von nun ab so, als ob Du keine Familie hättest, melde Dich zur Front oder Waffen SS, damit Du später ohne Komplexe vor den Bauern bestehen kannst. Tue das, wozu Dich Dein Wunsch und Deine Pflicht gegenüber dem Vaterland treibt, ohne Rücksicht auf uns. Melde Dich für England oder was dir richtig erscheint. Wir wollen nicht Hemm­ schuh sein. Ich habe gesorgt und gebetet, geweint und verzweifelt, da mir Deine Leistungen unmenschlich erschienen, mein höchster Wunsch war immer, dich nicht im Feuer zu wissen und am Leben. 132

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Alle meine Briefe an Dich waren nur Sorge und Liebe. Dass ich körper­ lich wie seelisch vollkommen auf dem Hund bin, hat nur die Sorge um Dich bewirkt. Wenn ich meine Briefe an Dich lese, tritt mir alles wieder vor Augen. Die Briefe von mir, die Du heute schicktest, habe ich ungelesen weg­ gepackt. Hast Du mein Gejammer und meine Not um Dich überhaupt lesen mögen? Du findest doch alles in Ordnung, siehst alles selbstverständlich einfach an. Ich sorge mich um Dich im kommenden russischen Winter, Du freust Dich aufs Schlittenfahren. Was soll ich da noch schreiben? Ich kann doch nur von Liebe, Sehnen und Sorgen erzählen. Ich kann es mir noch nicht abgewöhnen, egoistisch zu sein. Ich möchte noch nicht auf Glück verzichten, möchte wieder einmal unbeschwert und sorglos sein wie es eigentlich meine Art ist. Möchte noch mal tanzen und fröhlich sein, und das Leben genießen, Ich bin jetzt im 3. Jahr allein, habe Hartmut ohne Dich geboren und großgemacht, die Erziehung u. Sorge der Kinder allein gemacht, Haus und Garten und alles drum und dran ausge­ zeichnet gemeistert. Es war bestimmt nicht immer leicht. Vor allem kosten die Kinder ungeheure Nervenkraft, von der ich ja nicht allzuviel habe. Wie oft hast du zu Leni gesagt, wie bist Du nervös und abgekämpft, die Kinder reiben dich auf. Außerdem stand ihr ein Mann zur Seite. Meinst Du, dass es bei mir anders ist? Du kennst Deine Kinder nur von kurzen Tagen, in denen alles schön und gut erscheint. Aber Jahr um Jahr Geduld, Arbeit und Ruhe bei den Kin­ dern aufzubringen, das kennst du nicht. Dazu kam die Sorge um dich, die Bomben in Wrohm und vor allem der Aufenthalt hier, der mich vollkommen aufreibt. Ich kann einfach nicht in dieser Atmosphäre leben und möchte so sehr, sehr gerne in mein eigenes Haus. Ich weiß nicht, wie es werden soll. Ich liege hier fest, in Wrohm sind die Flieger und ich wäre ohne Mäd­ chen, wichtiger, ohne einen Menschen Tag und Nacht allein. Ich habe wohl Grund kriegsmüde zu sein. Und bei Dir ist es so, dass Du nicht genug krie­ gen kannst, und unser eigenes Leben so unwichtig findest. Ich sehe den Krieg als notwendiges Übel an, aber meine Begeisterung und mein Idealis­ mus sind restlos hinüber. Du schreibst, wozu Sorgen um die Zukunft machen? Ja so kannst nur Du reden, der Abstand von den Dingen hat. Wann Du auf Urlaub kommen sollst? Ja, so weit ist es ja noch lange nicht. Ob Weihnachten oder gleich? Darauf kann ich Dir keine Antwort geben, das musst Du selber wissen. Im Februar wirds ja erst ein Jahr, dass du weg bist, wir sind ja hart geworden, d. h. nur Du, mir macht meine Gefühlsduselei recht viel zu schaffen. So wie Du es machst, ist es richtig, das soll auch hier gelten. Was Du von Swinemünde und Berlin schreibst, lieber Ernst, kann ich nicht ganz unterschreiben. Ob Du wohl einmal ganz rückhaltlos für mich ein­ trittst und mich in Schutz nimmst, sei es Mutter, Leni oder sonst wem Russland

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gegenüber? Wer soll mir denn glauben und mir beistehen, wenn nicht mein Mann? Natürlich sind Gerda und Knolls negativ von Mutter und Hans ge­ färbt, warum willst Du das nie zugeben? Sie sind ja nur einseitig unterrich­ tet, ebenso Deine Schwestern. Ich bin ganz mächtig geknickt und verlassener denn je zuvor. Mann und Frau werden sich wohl selten über den Krieg einig sein. Ich bin weder tapfer noch heldisch und Phrasen liegen mir nicht. Bei Gerda wirst Du wohl mehr Verständnis finden, allerdings hat sie nicht das durchgemacht, was ich in meinem Elternhaus […] und hat keine Kinder. Ich aber habe mir ein Glück und Heim erkämpft und eine Seelen Gesundung an deiner Seite, die mich zum frohen, glücklichen Menschen machte. Der Krieg nimmt mir alles, zumal Du dich so wunderbar mit ihm abfindest. Unsern Kindern geht es gut. Dass aus allem nur meine Liebe zu dir spricht, merkst Du sicher. Alles Gute wünsche ich dir weiterhin. Deine Lilo.«225 Nachdem Ernst sehr lieb geschrieben hatte, schickte sie in den nächsten Tagen Briefe in gemäßigterem Ton ab. »Gestern schickte ich meinen verzweifelten Brief an Dich ab und heute gab’s fünfmal Post von Dir. 4 Karten vom 30., 31.,1.4. [sic] und Dein lieber Brief vom 22.8. Du schriebst so lieb, mein Junge, bist immer der alte, liebe Ernst, der sein Lütten und die Kinderchen liebhat. Ich habe beim Lesen ge­ weint, Glück und Weh kämpfen dann in meiner Brust. Heinke sah das und kam zu mir ›bist traurig, Mutti? Komm wisch ab‹. Die liebe süße Deern!« Wie in Wrohm gab es in Swinemünde Fliegeralarm: »Die letzte Nacht war der Russe hier von viertel 12 bis halb 3 Uhr. Ich selber schlafe fast gar nicht mehr. Vorm Alarm schon gar nicht und hinter erst recht nicht. Wie kommt es nur, dass der Russe immer noch einfliegt, woher? Tommies und Sowjets geben sich ein Stelldichein.« Sie sei nervlich am Ende. »Ich bin bald sanato­ riumsreif. Dünn wie ein Stock, übernervös und gereizt und abgespannt durch die Kinder, der Schlaf fehlt und dazu die Angst um Dich, die alles überwiegt. Wir Kriegsfrauen gehen jetzt durch eine harte Schule. Die geringste Aufregung bringt mich auf 100. Du kennst das ja. Ich zittere am ganzen Körper und so manches schießt aus mir heraus, was besser nicht gesprochen wäre.« Sie waren nicht mehr willkommen in Swinemünde, »also geht es auf den Treck zu Spantekow.« Sie hatte Krach dort mit den Tanten Martha und Lisbeth. Onkel Arthur, der unverhofft Urlaub von der Westfront bekam, bemerkte unwillig, dass sie ein Elternhaus in Spantekow habe. Er riet ihr auch, die unruhigen Kinder mehr zu hauen. Die Kinder fielen allen auf die Nerven. Lilo verteidigte sie: »Ungezogen sind beide nicht, nur lebhaft und 134

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beide zu klein und zu dicht aufeinander.« Hartmut sei »ein toller Quirl […] geht auf Tische und Fensterbänke und fällt auch dementsprechend. Wo gibt es Ruhe? Wir sind wahrhaftig Flüchtlinge, nirgends ist Ruhe. Nur im eigenen Heim ist Frieden und Geborgenheit, alles, alles ist zerbrochen durch den un­ seligen Krieg.«226 Die Hoffnung auf ein erfolgreiches Ende des Krieges hatte sie noch nicht aufgegeben, aber als das Jahr endete, dachte sie an die vielen Offiziere, die in Ernsts Regiment gefallen waren. »Es müssen ja über 50 sein, wenn es noch mehr sind als bei Dieter. Und der Krieg ist noch lange nicht aus. Die paar Offiziere, die noch leben, kann es noch erwischen, wenn im Frühjahr das Mor­ den weitergeht. Wer lebendig aus Russland rauskommt, kann Gott danken und von Glück sagen.«227 Als Ernst ihren verzweifelten Brief bekam, brach seine Welt zusammen. »Liebe Lilo! Ein Sturm brauste über mich dahin, kalte Schauer schüttelten mich, Erstarren, Entsetzen! Das war die Wirkung deines Briefes vom 12.10. Zu der Nervenanspannung, die der Kampf, in dem wir ununterbrochen seit dem 22. Juni stehen, mit sich bringt, zu der körperlichen Beanspruchung kam seit dem ersten Abschiedstag die Sorge um meine Lieben, die mich nie verließ, weder in Stunden des schwersten Feuers noch in stillen Stun­ den wiedergefundener Ruhe. Ich wusste um die Not einer liebenden Frau, deren Lebenskamerad vor dem Tode stand, ich kannte die Wehen und Sor­ gen einer Mutter um ihre Kinder. Dieses Wissen zwang mich immer wieder, nichts von den Scheußlichkei­ ten dieses Krieges zu erzählen, nichts zu erwähnen von den vielen, vielen Toten und Verwundeten, von den Kameraden, die rechts oder links von mir fielen, von grauenhaften Bildern bestialisch Hingemordeter, von Füßen und Fleischresten, die mir über den Kopf flogen, von verwesten Russen im Schützenloch, in das ich bei Artilleriefeuer hineinsprang, von den ver­ kohlten Leichen am Steuer eines ausgebrannten LKWs, von grässlichsten Bildern, die mir nun fürs Leben anhaften. Dieses Wissen hat mich immer wieder bewogen, mich zu überwinden, die Schrecken zu vergessen, um ja keinen Grund zur Sorge entstehen zu lassen. Ich schrieb im stärksten Feuer, im Sattel, in der B-Stelle, nur um meinen Lieben die Sorgen möglichst zu nehmen. Ich will nicht von den Überwin­ dungen sprechen, die das kostet bei Überspannung der Nerven oder bei der Bleischwere der Glieder. Ich schrieb, weil meine Lieben wissen sollten, Ernst lebt. Alles wird gering vor der einen Tatsache, dass man lebt und das musstet Ihr immer wissen. Wie oft habe ich Gott gedankt, dass er mich Euch erhielt. Wie oft war ich bei Euch, wenn ich dachte, es wäre vorbei. Gezwungen habe ich mich, den Druck, die Primitivität, den Druck der Ein­ samkeit, das Sehnen zu vergessen, um Euch Lieben die Sorge um mich zu Russland

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nehmen. Den Tod, alle Schrecken wollte ich aus Euren Gedanken brennen, damit du weniger Sorgen hattest. Und nun dieser entsetzliche Brief. Ich bin tief erschüttert. Noch hält meine Nervenkraft, es ist aber bezeichnend, dass alle Offiziere, die von Anfang an den Feldzug hier mitmachten, irgendwann einmal entlastet werden. Wir von der 13. werden’s nicht. Ich will dir die Zahl der toten Offiziere nicht mit­ teilen, auch die Verwundetenzahl kann ich Dir später sagen, aber wer nicht ausfällt, muss seine Nervenkraft mächtig beisammenhalten, um nicht zu­ sammenzubrechen. Mancher hält’s nicht durch. Ich hoffe doch, dass Gott mir die Kraft schenkt, Dein letzter Brief ist allerdings keine Unterstützung. Ich werde richtig verwirrt, wenn ich Deine Zeilen lese. Die Sorge um Dich ist während des ganzen Feldzuges stärker gewesen, als die um mich. Der Tod hatte nur Schrecken, wenn ich an meine Lie­ ben dachte. Jetzt aber wird die Sorge um Dich stärker denn je. Wäre nicht gleichzeitig heute Dein lieber Brief vom 13.10. gekommen, ich hätte geheult. Ich hätte annehmen müssen, dass Du völlig zerbrochen seist. Im Brief vom 13.10. schreibst Du, ich soll auf den vom 12. eingehen. Ich kann es nicht. Ich bin nur traurig und frage mich erschüttert, glaubt Lilo wirklich, ich sei hier glücklich und zufrieden, ich sehnte mich nur in stillen Stunden wohl mal nach Frau und Kindern? Oh, diese Not des Herzens, wenn Du weiter so quälst, frisst sie mich auf. Ich werde verrückt. Ich denke an eine Situation in Wrohm. Im Innersten aufge­ wühlt kann ich nicht mehr weiter. Wenn Du mich aufgibst, bin ich am Ende. Mit Dir fällt meine letzte Stütze in diesem grauenhaftesten aller Kriege. Ich kann nicht mehr. Dein Ernst.«228 Lilo ihrerseits war entsetzt, als sie seinen Brief las, und bat ihn um Verzeihung: »Du mein lieber Ernst! Nun ist der Brief da, den ich lange mit bangem Her­ zen erwartete. Ich bin halb krank davon, du hast mich sehr beschämt und ich bitte Dich um Verzeihung für das Unrecht. Aber ich hatte bei all Deinen letzten Briefen das Empfinden, dass du nichts entbehrst. Und das konnte ich nicht begreifen, zumal ich so sehr unter diesem Krieg und unserer Tren­ nung leide. Ich habe nie starke Nerven gehabt, dazu hat man als Kind zu viel an mir gesündigt, und nun reiben die Sorge um dich, die Fliegerangst, all der Ärger in Wrohm, die Kinder und zu guter Letzt die hiesige Atmo­ sphäre mich ganz auf. Wenn der Krieg noch zwei Jahre dauert, bin ich am Ende und erholungs­ reif. Bitte versuche, unter diesen Gesichtspunkten den Brief zu verstehen und sei nicht mehr so traurig. Ich bin unglücklich, dass Du so darunter 136

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leidest. Ich will Dich doch nicht quälen, wie Du schreibst. Ich habe Dich so unbeschreiblich lieb und kann deine Einstellung zum Krieg, wie Du sie in den Briefen kund tatest, nicht teilen. Dein Brief heute hat mich restlos überzeugt, dass es anders ist. Ich bin jetzt so in Not um Dich, wie viel ein­ facher wäre es, wärest du hier und wir könnten uns aussprechen. Immer dieses Alleinsein! Lieber Ernst, Du weißt ja, Gewissheit kann ich eher vertragen, als wenn Du schweigst. Schreib mir doch in Zukunft wie die Dinge sind, ja? Ich bin in Sorge um dich. Bei Volchow, das ist gar nicht so weit von dir, ist al­ lerhand passiert, und ich fürchte, bei Euch ist die Luft auch nicht rein. Und weil Ihr auch Euer Häuschen verlassen habt, das gibt mit zu denken. Habt Ihr nun nicht mehr die Küche in der Nähe? Ach ja, was bringt die Zukunft? Wie danke ich Gott, dass du überhaupt noch lebst, was hast Du da alles geschrieben. Es wird seine Zeit dauern, bis Du all das Hässliche abwerfen kannst. Ich glaube wirklich, Du flößt mir Scheu ein, wenn ich dich wieder­ habe, es liegt so viel zwischen uns, du hast zu viel erlebt. Es ist auch so sehr lange her, dass wir beisammen waren. Wenn doch endlich einmal die Spannung abfiel und Ruhe und Geborgenheit in unsere Herzen einziehen möchte. Du schriebst mal vom Segen des Krieges, mein Ernst, ich verwün­ sche ihn, er bringt Leid und Tod. Gott gebe dir weiter seinen Schutz und die Nervenkraft, alles zu ertragen. Ich werde dir keinen Kummer mehr ma­ chen, ich bereue es sehr. Es stehen immer noch jeden Tag Gefallene in der Zeitung. Das ›SU‹ bei den Russen heißt Sowjet-Union. Die Kerle sehen aus wie Gespenster, völlig entkräftet, sie können kaum gehen. Einer liegt schon auf dem Kirchhof. Sie fressen Gras, Kartoffeln und Rüben, da sie auch hier hungern, dieser wahnsinnige Krieg, es ist nur Mord. Äußere dich doch mal dazu, ja? Ich sehe mir immer wieder die Bilder an. Ein Päckchen geht morgen auch ab. Deine Zigaretten kamen an, rauchst du gar nicht mehr? Die Schoko war wundervoll. Bitte, bitte, behalt sie für Dich!!! Ich denke doch, dass dich die Bildchen erfreuen. Dein ›Bub‹ ist so goldig, nicht wahr? Er wird dir sicher das Herz erwärmen. Ich lebe nur für dich, lieber Ernst, und möchte Dir so gerne gut sein, vor allem weil ich Dich betrübt habe! Sei wieder gut und behalte mich weiterhin lieb. Für immer Deine Lilo.«229 Die direkte Sprache auf beiden Seiten, die puren Emotionen, die Schärfe dieser Konfrontation – sie sind die Kehrseite ihrer engen Beziehung zueinander. Lilos Frustration über den Krieg, die schwierigen Verwandten und die falschen Hoffnungen wurden auf Ernst projiziert, während das paradiesische Bild von Lilo und den Kindern, das Ernst sich als Gegenstück zu Russland

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den Härten des Krieges ausmalte – »Ich zaubere mir täglich die Heimat­bilder vor Augen«  –, sich als Chimära erwies.230 Das Fortschreiten des Krieges stellte unmögliche Forderungen an ihr Miteinander und Füreinander. Um sie herum brach eine ehemals vertraute Welt zusammen. Die Ehrlichkeit ihrer Briefe, mit denen sie versuchten, ihre Liebe und Treue in diesem Notstand zu vertiefen, ist bewundernswert. Der Friede zwischen ihnen wurde wiederhergestellt. Bald war sie für ihn wieder seine alte Lilo. Aber man hatte schlimme Worte gewechselt, die keiner völlig vergessen konnte. Die Wunden blieben offen. Wie ihre Bemerkung über den Volkhov zeigt, wusste Lilo, dass eine entscheidende Wendung des Kampfes bevorstand. Die russische Armee versuchte, die Belagerung Leningrads zu beenden und das Vorrücken der Deutschen auf Moskau aufzuhalten. Wie Fotos zeigen, wartete auf Ernst der russische Winter mit Schnee, Kälte und Eis. »Dunst liegt über der weißen Fläche und versperrt die Aussicht. Undeutlich erkenne ich den dunklen Wald von meinem Fenster aus. Der Wind kommt aus Westen und bringt Feuchtigkeit. Es ist nicht sehr kalt. Langsam kriechen Baum und Strauch wieder aus der Schneedecke hervor. Der Schnee liegt schon lange und wird von Sonne und Wind allmäh­ lich gefressen. Dreißig Zentimeter ist der Frost allerdings in der Erde drin. Die erste Bärenfamilie ist hier in der Gegend gesichtet worden. Sie darf nicht ge­ schossen werden. Ich hatte dir gerne einen Pelz geschickt. So ein Bärenpelz wäre das richtige für diese Kälte. Im Januar soll das Thermometer bis auf -40 und -50 fallen und die durchschnittliche Schneedecke soll 50 cm Dicke haben. Wollen einmal abwarten.«231 Mitte November schrieb Lilo Ernst einen innigen Liebesbrief. Um dem Gemetzel des Krieges und dem pausenlosen Hämmern der NS-Propaganda etwas entgegenzusetzen, pflegte sie ihren eigenen Kalender, den Familienund christliche Feste bestimmten. Sie steuerte ihren Weg von einem Geburtstag zum nächsten, von Ostern zu Pfingsten und Weihnachten. Der Krieg mochte allgegenwärtig sein, aber er durfte ihren Lebensrhythmus nicht völlig bestimmen, tat er auch nicht. »Wenn Du diesen Brief hast, Liebster, sind es nur noch knapp vier Wochen bis Weihnachten. Als ich voriges Jahr allein in Wrohm saß, tröstete ich mich mit dem Gedanken, es geht schon vorüber, nächstes Jahr ist alles wieder gut und schöner als je zuvor. Ich stand aber in meiner glücklichen Welt des eigenen Heims und fühlte mich dadurch geborgen, während ich heute in einer Umwelt lebe, die mich innerlich abstößt und alles Helle und Große aus dem Herzen fegt. Meine lieben kleinen Kinder geben mir oft Kraft, aus meiner Liebe zu ihnen finde ich mich immer wieder, wenn ich des abends an ihren Betten stehe und in die schlafenden Gesichter sehe, wer­ den ich wieder die alte, liebe Lilo. 138

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Ich fühle dann die Wärme ihres kleinen Körpers, Hartmuts reinen frischen Atem. Sie sind Dein Fleisch und Blut, liebster Mann, Du gabst den Grund­ stein zu ihrem Leben. Und doch sind mir die Kinder nicht alles, immer wie­ der suche ich Dich und das Leben an Deiner Seite. Ich möchte noch weiter nach oben, weiter werden und innerlich wachsen, bis ich Dir immer ähn­ licher werde. Du hast oft gesagt, dass deine Liebe auch Aufgabe und Hilfe zugleich ist. Ich weiß heute, was mir fehlt, wenn ich Dich nicht hätte. Und dass auch Du mich brauchst und Du in meiner Liebe glücklich bist, ist die Krone des ganzen. Ich hungere nach Dir und sehne mich unaussprechlich nach Dir. In immerwährender Liebe bleibe ich Deine Deern Lilo.«232 In glühenden Farben malte Lilo sich Ernsts Rückkehr von der Front aus, dazu die Bequemlichkeiten der Heimat, seine Freude an den Kindern, ihr liebendes Zusammensein. Ihr Mann war tief berührt von diesem Brief, der von Heimat sprach und von der Liebe, die ihn hielt – sie war sein Halt, wenn alles andere ihn übermannte.233 Als die Front weiter vorwärtsrückte, musste Ernst sein schönes Blockhaus verlassen. Und obwohl sein neues Quartier warm genug war, machte sich, wie bei Abertausenden anderen, das Fehlen adäquater Winterkleidung höchst unangenehm bemerkbar. Schon um 3 Uhr nachmittags war es stockdunkel und Kerzen fehlten. Andere Probleme gab es auch. »So, mein Deern, jetzt haben wir auch Läuse, Wanzen und Flöhe. Wenn man bei dieser kalten Jahreszeit verlassene Häuser oder Bunker bewohnen muss, ist das Erbe auch zu übernehmen. Da nützt kein Saubermachen und kein Wa­ schen. Es ist zum Kotzen. Unsere Stimmung ist danach. Jeden Morgen geht’s auf Läusejagd. Fast alle zwei Tage wechsle ich die Unterwäsche, wasche sie und bürste die Klamotten aus. Ich glaube nicht an eine Befreiung von diesen verfluchten Biestern. Ist man sie los, dann bringt der nächste Gast neue oder man holt sie sich im nächsten Haus. Es ist eine Wonne, hier zu leben!«234 Die kleinen Schnappschüsse, die er nach Hause schickte, illustrieren den miserablen Zustand, in dem die Truppen sich befanden. Andere bildliche Quellen dokumentieren das ebenso. Während der Vorweihnachtszeit gab es kaum Kämpfe an ihrem Frontabschnitt. Was die Deutschen nicht wussten, war, dass die Russen die Gelegenheit nutzten, um ihre Truppen neu zu organisieren. Ernst und seine Männer verbrachten die Zeit mit Essen und Schlafen, spielten Skat, Mühle, Hand- und Mundharmonika sowie Schach: »Ich habe viel Spaß am Schach­ spiel. Es gab die Figuren auf Papier gedruckt. Wir schnitten sie aus und kleb­ ten sie auf kleine Holzklötzchen. Primitiv, aber es geht. Was ist hier schon nicht primitiv?« Viele Pakete mit warmen Kleidern und Essbarem kamen an, und am ersten Advent freute er sich vor allem über die »zwei lieben Briefe, vom Russland

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16. und 20., die mich gestern erreichten. Sie haben mir so gut getan. So lieb und innig, so voller Hinwendung waren sie, dass sie mich wundervoll stärk­ ten. Deine Briefe neben mir und die lieben Bilder und Dein liebes Gesicht vor mir, dann ist Festtag für mich. Du schreibst aber auch so innig. Es geht mir durch und durch, wenn ich lese ›ich schlafe jede Nacht an deinem Herzen‹. Ach, ich möchte täglich so einen innigen Brief von meiner lieben, treuen Frau bekommen.«235 Auf einem erbeuteten russischen Grammophon spielten sie eine Schallplatte nach der anderen ab. »Ein Soldat hatte zwölf neue Plat­ ten, die mir für ein paar Stunden auch zur Verfügung standen. Großartig war die Musik. Zarah Leander sang aus dem Film Heimat ›Lied aus der Kluft‹, ›Es war eine unbeschwerte Ballnacht‹; Heinz Rühmann unterhielt uns mit ›Das kann doch einen Seemann nicht erschüttern‹.«236 Ein anderer sentimentaler Schlager war sehr beliebt: Hörst du mein heimliches Rufen. Weitere neue Freuden bot eine Sauna. »Gestern nahm ich mein erstes Saunabad. Es war herrlich. Von den vie­ len Bädern steht nur noch eins im Nachbardorf. Ein Mann der 2. Kompa­ nie ist als Bademeister angestellt. Große Ansprüche darf man allerdings nicht stellen. Ein unscheinbarer strohgedeckter Holzschuppen, ein großer Raum, nach außen völlig abgedeckt, mit einem kleinen Vorraum zum Um­ ziehen, das sind die Herrlichkeiten. Im großen Raum ein Steinhaufen, der von innen hohl und heizbar ist. Der Saunaraum muss sorgfältig vorbereitet werden. Unter den Feldsteinen wird ein starkes Feuer angelegt. Dann lässt man den Rauch abziehen. Acht bis zehn Mann können dann in den heißen Raum eintreten. Nur in gebückter Haltung kann man sich in der Hitze auf‌halten. Alles setzt oder legt sich hin. Dann beginnt das Bad. Der ›Bademeister‹ gießt Eimer kalten Wassers über die erhitzten Steine und zischend verdampft es, und der Raum füllt sich mit heißem Wasserdampf. Man beginnt zu schwitzen, dass es eine Lust ist. Die heiße, feuchte Luft wirkt ebenfalls reinigend auf die Luftwege. In die höheren Regionen hängt man sein verlaustes Zeug. Der Wasserdampf ist so schnell verflogen, dass die Sachen am Ende des Bades knochentrocken und heiß sind. Nach ungefähr zwanzig Minuten hat man als Anfänger genug des Guten. Die Tür wird geöffnet und man wäscht sich Dreck und Schweiß vom Körper. Eine kalte Dusche (Eimer voll Wasser) macht dann den Schluss. Hungrig und müde macht so ein Bad, aber es ist gesund und doch erfrischend und vor allem die Läuse gehen tot. Es scheint mir doch, dass meine im Augenblick alle geworden sind. Übrigens vor jedem Urlaub wird alles entlaust. Kannst ohne Sorge sein, mein Deern!«237 Lilos Brief vom 2. Dezember zeigt, dass sie von der russischen Offensive wusste, die begann, als die Deutschen Rostov nicht halten konnten. Die140

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ter hatte sie auch über das starke russische Artilleriefeuer in der Nähe von Ernst informiert. »Ihr Bruder sei ein Dussel, sie in dieser Weise zu alarmieren. Sie seien sowieso in bombenfesten Bunkern.«238 Man merkt beim Lesen der Briefe immer wieder, dass Lilo zwar in Spantekow wohnte, geistig aber in Russland lebte. Ernst dagegen kämpfte in Russland, während er mit dem Herzen in Pommern war. Auf diese Weise entwickelte sich eine ungewöhnlich tiefe Empathie. Der Krieg trennte sie gnadenlos, brachte sie aber durch Sehnsucht und Leid auch viel enger zusammen. Beide lebten in dieser fast unerträglichen Spannung. Briefe halfen, die Spannung auszuhalten, wie Lilo Anfang Dezember 1941 schrieb: »Heute löste sich meine Spannung etwas, da viele liebe Post von dir kam, vom 18., 20., 22., 23.11. Ein Brief war auch darunter. Dank Dir mein Ernst. Aber Du weißt ja, der 26. ist Stichtag [Hochzeitstag] und daher sind meine Sorgen die gleichen. Die nächsten Tage müssen mich erlösen, wenn ich weiß, dass Du hoffentlich alles gut überstanden hast. Diese Einbrüche der Roten werden sich wiederholen. Ich lese mit Erstaunen vom 24.10. (der Schlacht um Kharkov). In Deinen Briefen hast Du nie etwas erwähnt. Du Lieber, schreibst immer nur von Ruhe. Ich weiß jetzt aber, dass das nur Au­ genblickserscheinungen sind. Der Russe muss sich doch noch stark füh­ len, sonst würde er das nicht machen. Mein Liebster, finden wir uns damit ab, dass wir zum Fest wieder nicht zusammen sind. Ich mache mich auf daran zu glauben, dass es vor dem Frühjahr bez. Sommer gar keinen Urlaub gibt. Die Bahnverhältnisse wer­ den nicht besser werden, sondern durch mehr Raumgewinnung immer schwieriger. Ehe es nicht ganz dort zu Ende ist, gibt es keinen Urlaub. Und wann ist Russland zu Ende? Es wird nie Schluss machen und über den Kaukasus geht es nach Suez usw. Das Ziel ist weit gesteckt und das Ende unsichtbar. Herr Graming erzählte gestern Abend von seinen 4 Wintern in Russland. Ein-dreiviertel Jahr war er nicht auf Urlaub. Weihnachten wird schwer für uns, Liebling. Aber ich will Gott danken, wenn Du noch am Leben bist. Wie furchtbar muss das Fest für die werden, die ihr Liebstes verloren haben. Wie sehr wirst du Dich nach den Kindern seh­ nen. Wenn ich als Mutter so viel von meinen Kindern fern wäre, ich würde krank daran. Heinke betet sehr niedlich ›Lieber, guter Weihnachtsmann, sieh mich nicht so böse an! Stecke Deine Rute ein, will auch immer artig sein.‹ Der Weihnachtsmann muss in natura erscheinen, mal sehen ob Herr Staack das macht. ›O Tannenbaum‹ und ›Alle Jahre wieder‹ singt sie auch. Im Schummern kommt sie immer an, ›Mutti, erzähle‹. Und Bube kommt auch dazu, obwohl er wenig versteht, ist er ganz still dabei und hört zu. Hartmut ist so ein lieber Junge. Handkuss wirft er auch nach Russland für Russland

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Vati. Heute beim Pfeffernüsse backen hat Heinke wieder sehr schön ge­ holfen. Die Ärmchen hat sie hochgerollt und dann rollt sie zwischen den Handflächen Nüsse. Als ein Blech fertiger Kuchen aus dem Ofen kam, sagte sie, ›Oh, wie wunderbar!!!‹. Sie spricht auch schon von ›meiner Mutter, meinem Vater‹! Ja, Vati, du wirst staunen über Dein großes Töchterchen. Es wird dir sicher eigen zu­ mute sein, wenn Du deine großen Kinder wiedersiehst. Aber dass meine Päckchen schon da sind! Ich dachte, Du solltest sie zum Advent dort haben. Wie schön, wenn Du Dich freust! Aber du hast falsch geraten. Ich werde Dir noch einen Tip geben. Es ist 4  teilig, so, nun rate weiter! Liebling, was heißt denn ›alte Kämpfer‹? Muss man da schon Frankreich und Polen mitgemacht haben? Mir scheint, Russland überwiegt alles und es müsste danach gehen, wer voriges Jahr nicht zu Hause war und Kinder hat. Das mit den Auszeichnungen finde ich nicht richtig. Hörst du mal was von W. Bornholt? Mein Ernst, Hustenpillen gibt’s kaum noch. Werden wegen Zuckermangel nicht mehr hergestellt. Auch Margarine bekam ich nicht. Sind die Winter­ sachen noch nicht da? Gebe Gott, dass es Dir gut geht Liebster. Ich warte sehr auf die Bestätigung. In heißer Liebe und Fürbitte denkt an dich deine Lilofrau. Herzliche Grüße von den Eltern. Es ist heute Vollmond, da bin ich immer fliegerkrank.«239 Am 12. Dezember schickte sie dann den Weihnachtsbrief ab: »Was soll ich Dir sagen, mein lieber, großer Junge? Meine Liebe war nie grö­ ßer und fester als in diesen ernsten Kriegsjahren, meine Treue gehört Dir bis in den Tod, du weißt das alles längst, Geliebter. Aber an diesem stillen Abend, der so ganz dem Herzen und unserer Seele gehört, sollen uns diese Worte Kraft geben und unser Herz stark machen. Unsere Gedanken werden sich umspielen, unsere Wünsche und unsere Sehnsucht ist die gleiche. Voll und schwer wird uns ums Herz sein, ich habe unsere Lieblinge um mich und Du deine Kameraden. Die ganze Kraft meiner Liebe lege ich in die Gedanken an Dich, Du bist nicht allein, Geliebter. Wenn Du ein Stündchen für Dich alleine bist, draußen im Wald und guckst in die Sterne, so ist die Heimat Dir ganz nahe. Deine liebe Lilofrau, Dein Bub und Dein Mädchen. Ich hoffe bestimmt, dass Du meine lieben, sichtbaren Grüße am Heilig­ abend auspacken kannst, Dir das rote Lichtlein anzünden wirst und vor dir unsere Bilder und Briefe liegen hast. Ihr werdet die schönen deutschen Weihnachtslieder singen und Euer Herz ganz fest in die Hand nehmen, wie wir alle es tun müssen. Und wenn Du dich auf Dein hartes Lager streckst, 142

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mein lieber, guter Ernst, komm ich zu Dir, leg Dir meine Arme um den Hals, kuschele meinen Kopf an deine Brust und bin Dir ganz nahe, Liebling, und schlafe friedlich in Deinen Armen ein. Unsere Liebe ist so herrlich, tief und rein, wie sie schöner nicht sein kann. Ich danke Dir für den Reichtum, den Du durch deine Liebe in mein Leben gebracht hast und für den Glauben, den Du von Anfang an an das Gute in mir hattest. Mein Leben gehört dir und darüber hinaus deinen Kin­ dern, in denen dein Blut fließt. Ich bitte Gott, uns zu behüten, mir den Mann und Kameraden, meinen Kindern den Vater. Er möge Dich weiter­ hin in seinen Schutz nehmen, das ist mein heißer, inniger Wunsch am Weihnachtsabend. Dass Du nächstes Jahr unter uns bist, wage ich nicht zu hoffen, die Zeit war nie so ernst und schwer und zukunftsgeladen an Ereignissen wie zu dieser Jahreswende. Dein Leben gehört der Pflicht, Du bist Adolf Hitlers treuer Soldat, der sein Leben einzusetzen bereit ist für Deutschland und die Zukunft unserer Kinder. Möge Gott uns dein Blutopfer ersparen, damit am Ende ein Wiedersehen steht. Und nun fröhliche, gesegnete Weihnacht, mein lieber, lieber Ernst. Gib Dei­ nen Kameraden etwas ab von Deinem fröhlichen, wohlgemuten und star­ ken Herzen. Wo Du bist, kann es nicht dunkel sein. Hartmut und Heinkele werfen Vati ein Kusshändchen nach Russland und haben ihn ganz, ganz lieb. Ich küsse Deine lieben Augen und deinen lieben Mund und bin immer Deine liebe, treue Lilofrau.«240 Ernst konnte nur seufzen: »Wie gern würde ich mich von meinem Frauchen verwöhnen lassen, an Deiner Brust schlafen und ganz stille werden in Dei­ ner Liebe und alles, alles Hässliche vergessen. Ich glaube, mir würden vor Glück die Tränen kommen. Ich sehne mich ja so unendlich nach dir, dein blon­ des Haar, Deine lieben Augen, Dein Küssen, Dein wunderbarer Körper, alles, alles.«241 Zwei Monate später war er tot.

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Die letzten Tage Die Menschen leiden. Sie foltern einander. Werden verletzt und werden hart. Seamus Heaney 242

Ein paar Tage vor Weihnachten war Ernst in gedrückter Stimmung: »Neben mir liegt der Brief vom 5.12. Dank Dir, dass Du trotz schlechter Stimmung lieb an mich dachtest. Mir geht es im Augenblick nicht viel bes­ ser. Ich habe Verlangen nach dem ewig Weiblichen. Da nur Du mir das Verlangen stillen kannst, ist es immer dasselbe Lied. Sehnsucht nach Dir. Ich will nicht versumpfen. Und muss mich immer wieder zusammenneh­ men. Kein Grund zur Sorge, Herzlieb. Was ich bis zu meinem 26. Lebensjahr gekonnt habe, bringe ich heute auch noch fertig, aber Du als mein einzi­ ger, innigster Vertrauter sollst meine Nöte kennen. Wir sind beide so völ­ lig eins, dass wir uns gegenseitig wirklich stützen können. Ich richte mich immer wieder auf an Deiner Liebe. Ich weiß, du stehst bis zum Tode bei mir […] Eine dolle Zeit, ja, es ist schon bitter, hart und schmerzlich. Mich selbst bedaure ich weniger. Wo soll ein gesunder Mann heute anders sein als an der Front, aber Du, Herzlieb, hast ein gut Gewicht an Sorgen und Ent­ behrungen zu tragen. Du schreibst auch davon, wie traurig die Weihnacht für die Lieben unserer Gefallenen ist. Lt. Kluge, Lt. Schade, jung verheira­ tet, Hptm. Brinkmann, Oberlt. Böttcher, ach alle die vielen Kameraden, die nicht mehr bei uns sind, ich denke an ihre Lieben. Es ist unsagbar schwer. Aber alle starben, dass Deutschland größer und herrlicher lebe. Ich bin stolz, dass ich alles Schwere mitgemacht habe. Die Urlaubsliste des Regt. ist nun heraus. Ich bin der elfte und rechne so mit Ende Januar, Anfang Februar.«243 Heiligabend 1941 war keine ›gnadenreiche Zeit‹ für Lilo, obwohl die freudige Aufregung der Kinder ihr half, die Sorgen zu vergessen. Trotzdem schrieb sie am 1. Weihnachtstag einen erstaunlich langen und tapferen Brief an Ernst: »Ach, wie viele liebe Gedanken waren in den Festtagen bei dir im kalten, fernen Russland! Ich hatte bis zum letzten Omnibus immer noch ein Fünk­ Die letzten Tage

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chen Hoffnung, dass Du vielleicht doch noch als Überraschung aussteigen würdest. Genau so habe ich voriges Jahr am Fenster in Wrohm gestanden. Mein Junge, nun haben wir es hinter uns und ich war Deine tapfere Lilo­ frau, dank der Kinderlein, die mich so in Anspruch nahmen und mit denen ich mich freuen musste. Sie haben uns alle abgelenkt und uns geholfen. Aber als dann ein riesiger Blumenkorb mit Tulpen, Hyazinthen, Maiglöck­ chen, Begonien, Azalien usw. ins Zimmer getragen wurde, und wir Dieters Karte lasen, fielen alle guten Vorsätze zusammen und die Tränen brachen gewaltsam durch. Es war zu viel, selbst Vater weinte. Heinkele sah ganz er­ staunt von einem zum anderen, da musste ich mich wieder gewaltsam zu­ sammennehmen und mich ihr widmen. Mein Ernst, wie geht es Dir in diesen Tagen? Ach, ich weiß alles, will gar nicht fragen. Ich kenn ja meinen lieben großen Jungen und seine Sehn­ sucht nach Frau und Kindern und seinem glücklichen Daheim. Und wen sollte wohl in den Weihnachtstagen nicht das Verlangen nach zu Hause doppelt schwer drücken? Wir wollen nun wieder mutig vorwärts schauen und uns nicht unterkrie­ gen lassen. Wir müssen alle hindurch, es hilft uns niemand davon ab. Trotz allem Schweren haben wir so viel Grund dankbar zu sein. Wir dürfen ja noch auf ein Wiedersehen hoffen, ich weiß ja, dass dort draußen ein lie­ bendes Herz schlägt, das uns ganz gehört. Und das will was bedeuten in dieser Zeit, in der ein Menschenleben nicht mehr viel gilt. Gott bewahre uns unsern lieben Vati. Heinkele betet es jeden Abend. Lieber Gott, behüte unsern lieben Vati, Amen. Und Hartmut faltet auch schon seine Händchen und wartet, dass ich zu ihm komme. Liebster, Sandini ist schon auf Urlaub? Angerufen hat er noch nicht. Aber ich schicke ein Paket an ihn, das kann er Dir mitnehmen. Zu gerne möchte ich ihn nach dir ausfragen. Mein Liebster, besteht da für Dich auch Aus­ sicht, auf Urlaub zu fahren? Warum denn vorläufig für Offiziere nicht? Ihr habt es doch zuerst verdient durch Vorangehen, Verantwortung und mehr Nervenbelastung! Sieh, mein Ernst, die Sorge um Dich da draußen ruht nie, die furchtbare Kälte und der Kampf, der selbst in den Fest‌tagen in schwerster Art ge­ kämpft wurde. Der Feind gibt den ganzen Winter keine Ruhe. Wenn Du doch nur nicht frieren möchtest, Liebster. Wir sammeln ja jetzt Winterzeug für unsere Soldaten, vor allem Pelze und dgl. Jeder fragt sich, warum hat man das nicht schon vor zwei Monaten getan? Jetzt sind schon so man­ chem Gliedmaßen erfroren. Die meisten schreiben, dass sie kein Winter­ zeug empfangen haben. Die Luftwaffe soll besser dran sein. Du hast doch auch nichts bekommen außer Deinen eigenen Sachen, nicht wahr? Und dann sind Rodelschlitten abzugeben. Unser großer Schlitten geht auch morgen mit ab. Die Kinderlein sind heute zum ersten und letzten 146

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Mal damit gefahren, aber jedes Opfer wird leicht im Hinblick auf Euch. Die Front braucht uns dringender. Wir lassen unsern Stuhlschlitten reparieren und behelfen uns damit. Ja, Liebster, seit gestern abend haben wir Schnee und minus 3 Grad Kälte. Ganz plötzlich kam sie. Am Heiligabend goss es in Strömen und es wütete ein furchtbarer Sturm. Am Weihnachtsabend war ich mit Heinkele in der Kirche, oben bei Vater auf dem Chor. Die Maus ist ein so liebes Ding. Sie sah die brennenden Tan­ nenbäume, Opa macht Musik und Mama hat ›gesungt‹. ›Da is der Pastor‹, flüsterte sie mir zu. Ich war nur die letzten 10 Minuten mit ihr da, während des Orgelspiels schlichen wir uns leise hinein. Frau von Harnier hatte ihre 3 ältesten Kinder mit, 6, 5 und 4 Jahre alt. Wie mag es wohl in ihrer Brust aussehen? Diese Gedanken ließen mich die ganze Zeit nicht los, ich sah sie oft die Augen wischen. Ich darf gar nicht daran denken! Nach der Kirche kam dann gleich der Weihnachtsmann. Alles so wie immer. Du weißt ja, Liebster, in dem Esszimmer der Tannenbaum und auf dem gro­ ßen Tisch die Geschenke. Er war voll, wie immer. Uns berührt der Krieg ma­ teriell und in Bezug auf die Ernährung fast gar nicht. Du kannst da ganz, ganz ruhig sein. Unser liebes Vaterland wird durch Euch von allen Seiten gesichert, und wir spüren nicht die Kriegsfurie im eigenen Land. Das haben wir alles Euch zu verdanken. Von allen Seiten waren wie immer die lieben Päckchen gekommen. Hart­ mut bekam ein Bilderbuch. Das ist seine liebste Beschäftigung, er ist ganz närrisch nach Büchern. Dann eine kleine Musik zum Drehen, ein Beutel­ chen mit Häusern, Bäumen usw,, einen prima Bollerwagen. Wunderbar stabil und groß. Selbstgemacht von einem Berufsschüler Vaters, der Stell­ macherlehrling ist. Im Frühjahr zum Sandfahren wird er zu seinem Recht kommen. Weißt Du, mit Deichsel zum Anfassen. Dann hat Meister Staak ganz aus sich ihm eine große Lokomotive (Loke­ mative, sagt Heinke) geklütert. So groß, dass Harmut sich aufs Dach set­ zen kann. Ich finde das ganz rührend von Staak. Außerdem sind noch 2 Holzeisenbahnen da. Eine von Elsa B. Die stell ich wieder weg, ist noch viel zu schade für den Kleinen. Die andere brachte Vater im Sommer mit nach Wrohm. Ich stellte sie damals gleich für Weihnachten zurück. Die gute Elsa hat es wieder viel zu gut gemacht. Für mich ein gutes Buch: Die große Heimkehr von Karl Götz. Es geht um den Treck der Wolhyniendeut­ schen in der jüngsten Vergangenheit. Dazu für Heinke ein gestricktes Woll­ höschen und zwei Schachteln Hautcreme aus der Drogerie ihres Bruders. Eine schicke ich Dir davon. Und an Dich hat sie auch noch ein Buch geschickt, nicht wahr? Da hast Du ja jetzt Stoff zum Lesen, hoffentlich lässt der Ruski Dich dazu kommen. Von Vater liegt hier für Dich ein kostbares Buch: Jelusich: Der Traum vom Reich.244 An Elsa schickte ich auch eins von ihm: Der Löwe. Ich kenne ja Die letzten Tage

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seine Cromwell, Caesar und den Löwen. Hast Du mein Buch auch bekom­ men und das Kuchenpäckchen? Elsa Bartsch sogar schickte für unser Kinderlein ein ganz entzückendes Bilderbuch. Dann Schlotfeldts für mich einen Kasten für Messer und Gabel (selbstgemacht). Ein hübsches Holz­ kästchen für Briefmarken und ein Patent zum Laufmaschenaufnehmen für seidene Strümpfe, den Kindern beide eine Mütze und Holzherzchen zum Umbinden. Ich selbst musste sie vertrösten mit meinem Geschenk bis zu unserem Erscheinen dort oben. Ich dachte eine Flasche Rum oder dgl. aus unse­ rem Bestand. Vielleicht auch Wein, denn bei Leni in Hamburg steht immer noch ein Koffer von Dir mit Sachen aus Frankreich, weißt Du noch? Tudi schickte für jedes Kind ein kleines Bilderbuch, beides die gleichen. Eins davon schickte ich weiter an Wolfgang Telzerow. Leni hatte auch ein Bilder­ buch, einen sehr originellen Clown, der am Reck turnt. Den habe ich auch weggelegt, ist noch zu schade für die Lütten. Für mich Kinau: Ein fröhlich Herz. Ich kenne es schon, schick ich Dir auch hin. Für Heinke ein Bilderbuch und ein Täschchen zum Umhängen für Ta­ schentücher. Du merkst schon, lieber Vati, Bilderbücher in rauhen Mengen. Ich habe viele zum Geburtstag weggelegt. Doch der Clou des Ganzen war das Püppi im Puppenwagen. Die Freude und den Stolz von Heinke kann ich Dir gar nicht beschreiben. Ich selbst wusste nichts davon, Oma hatte das besorgt und ich habe mich auch so sehr dazu [sic] gefreut. Ich hatte mir in Anklam die Hacken wegerannt nach einer Puppe. Vergebens. Durch Frau Wilde hat Mutter sie bekommen. Wie ja in Deutschland über­ haupt nur noch etwas zu bekommen ist durch Vitamin  B. (Beziehungen) und durch Gegengabe von Butter, Speck usw. Heinke ist selig. Sie sah nichts von all den andern Sachen – hatte für nichts mehr Augen als für ihre Puppe im Wagen. Ihrer alten Puppe hatte Hartmut die Beine ausgerissen, ich ließ sie heilmachen, und der Weihnachtsmann brachte sie ihr persön­ lich. Oh, da hat sie ganz fürchterlich geschrien, als sie ihn sah. Und steckte Hartmut natürlich an, so dass wir alle Mühe hatten, sie zu beruhigen. Als er ihr ihr Püppi zeigte, wurde sie etwas zugänglicher und hat dann laut und klar gebetet. Das war ganz fabelhaft. Die Tränen standen in den Augen, aber sie nahm sich großartig zusammen. Ich habe mich sehr darüber ge­ freut. Aber heute wird die alte Puppe nicht mehr angesehen, nur die Neue, die Mama sagt. Gegen acht Uhr kam die kleine Gesellschaft ins Bett. Aber um halb drei schlief die Deern noch nicht. Ich selbst lag auch wach im Bett, die Ge­ danken waren bei dir. Um halb eins ertönte noch das Feuerhorn, kaum zu hören bei dem Orkan. Bei Bröckers brannte der Stall ab. Zum Glück stand der Wind auf das Feld hinaus, sonst hätte das ganze Dorf abbrennen können. 148

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Tante Ruth machte mir eine riesige Freude. Die beiden Bildchen, die sie Dir geschickt hatte, hatte sie mir seinerzeit unterschlagen als die beiden hübschesten. Sie ließ sie vergrößern (Postkartenformat) in einem gemein­ samen Rahmen. Immer wieder vertiefe ich mich in die Bilder. Hartmuts Gesichtsausdruck ist prima. Die leichte Falte in den Augenbrauen, der energische Blick! Und Muschi ist so natürlich, ein verträumtes Gesicht­ chen. Welches Bild hast Du denn an Mutter abgegeben? Ich dachte, Du möchtest Dich von keinem trennen. Sieh, ich bedenke ja Mutter auch mit Bildern von den Kindern. Und gar zu gern hätte ich mich mit den beiden fotographieren lassen. Es ist unmöglich von hier aus. Nachmittags von 3–6 wird man nur angenommen, ich kann nicht von morgens 7 Uhr bis 3 mit den Kindern in der Stadt sein. Aber es muss sich ein Weg finden lassen. Ich will mal sehen, ob ich nicht eine Taxe kriege gegen Eier oder so. Es wird ja dadurch sehr teuer, aber das ist egal. Und Du, Lieber, hast zu Weihnach­ ten auf ein Bild gehofft? Ich verstehe das so gut. Es ging mir schon lange durch den Kopf. Deinen gemeinsamen Gruß bekamen wir rechtzeitig. Lieben Dank. Ich aber bekam am 1. Festtag einen lieben Brief für mich ganz allein. Ich war so froh darüber. Wie lieb Du schreibst, ich verstehe alles, lieber Junge. Mach Dir nur keine falschen Vorstellungen von meiner Dauerwelle. Ich sehe aus wie immer, wenn ich beim Frisör war, der Zopf ist auch noch dran, manchmal hat man verrückte Ideen in dieser Zeit. Er bleibt auch dran. Meine Weihnachtspost schicke ich Dir alle mit zum Lesen. Auch Mutters Zettelchen, sie schickte vor einiger Zeit einige Boskopper Äpfel. Eine Frage, Liebster, ganz ohne Gehässigkeit. Ich fragte mich, ob Gerda wohl auch mit so einem Brief abgefunden wurde? Ich glaube nicht, Du auch nicht, nicht wahr? Na, Schwamm drüber, das gehört nicht in diesen Brief! Noch mal zu Heinke. Wenn Du sie einmal singen hörtest! Wenn ich ein Lied ein paar mal singe, kann sie es schon. Ich habe sie am Klavier auf dem Schoß und dann singt sie alle Lieder mit. Heute sah ich sie allein am Klavier sitzen, auf die Tasten drücken und dazu singen. Auch singt sie ihr Püppi in den Schlaf. Du kannst Dir das gar nicht vorstellen, sie zählt richtig bis 10. Dabei liegt mir nichts ferner, als mit ihr zu pauken. Sie kann alles aus sich. Bübi, scheint mir, singt manchmal auch schon ein Stückchen Melo­ die, ich bin aber nicht ganz sicher. So, mein Ernst, mein Stoff ist erschöpft. Du wirst eine ganze Zeit an diesem Schrieb zu lesen haben. Verzeih die vielen Fehler, aber mit Stahlfeder kann ich so schlecht schreiben. Gute Nacht, lieber, lieber Ernst. Lass es dir gut gehen und Gott behüte Dich! In Liebe immer Deine Lilo. Und Opa Struck schreibt: Mein lieber Ernst, so hast Du uns geschenkt, und wir doch ohne Dich das Fest verleben müssen. Die lieben Kinderchen haben uns ja geholfen, Weih­ Die letzten Tage

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nachten zu empfinden. Und unser großes Mädchen hat Dir ja gefehlt. Hof­ fentlich warst Du wenigstens wohlauf und ungestört, wenn wir das letzte hoffen dürfen. Hoffentlich kannst Du bald in das Buch hineinsehen, das ich auf deinen Platz gelegt hatte. Das ist jedenfalls unser größter Wunsch, dass Dich der Urlaub zu Deiner Familie bringt. Mit nochmaligen herzlichen Wünschen für 1942 und ebensolchen Grüße, dein Vater.«245 An Heiligabend schrieb Ernst einen fast elegischen Brief: »Herzlieb! Weit wandern die Gedanken über die dunklen, düsteren Wälder, die zerschossenen Dörfer, die endlosen Ebenen Russlands, über die kalte Winterpracht hinweg zu Dir. Müde muss die Sonne sinken und die Erde im Dunkel zurücklassen. Tot, leblos steht die Natur in ihrer Starre. Die weiße Weite ist wie ein Leichentuch. Es legte sich leise und schonend auf die blut­ getränkte Erde und will den tiefen Schmerz jüngster Vergangenheit lindern. Sie will vergessen lassen die unsagbare Not, die tiefe Sehnsucht. Und dennoch, der deutsche Soldat lebt. Sein sehnend Herz lässt ihn nicht verzweifeln. Ihm grünt die Hoffnung besserer Tage und sein Verlangen da­ nach, und die Erinnerung spiegelt sich im deutschen Weihnachtsbaum. Jeder Bunker hat sein Bäumchen und sei es noch so klein. Mit unend­licher Hingabe und inniger Inbrunst schmückt er es und zündet die Lichter an. Und dann werden sie lauschen in dunkler Nacht vom Eismeer bis zum Schwarzen Meer. Stille werden die Herzen, heim wandern unsere Seelen und stark wird der Glaube an das Licht. Das Gute muss siegen, auch wenn wir durch dunkle Nacht hindurch müssen. Und leise wird es mir vom Him­ mel herunterklingen und ich werde mich erfassen lassen von Gottes Liebe und Gnade. Ich werde mich finden lassen vom Christkind und mein Herz soll jubeln voller Weihnachtshoffen. Wie dunkel es auch wäre, uns leuchtet das Licht. Liebling, wir wollen glauben an Gottes Liebe, an seine Allmacht, wollen freudig die Weihnachtsbotschaft aufnehmen und die Hoffnung auf eine gute Wendung aller Dinge nähren. Unsere Liebe bindet uns und gibt uns Kraft zum Glauben, zum Hoffen und zur Treue. Jetzt will ich zu meinem Zuge, es ist 15 Uhr, ganz leise will ein Weihnachts­ engel mich fortbringen zu Euch. Ich gebe mich ihm freudig hin und bin bei Euch, Ihr meine Lieben. Ganz innig grüße ich Euch, Dich, meine liebe Lilo, und Euch, Ihr lieben Kin­ derchen. Euer Vati.«246 Ernsts Kameraden berichteten, dass er im Schlaf mit Lilo redete. Er wusste, dass er oft von ihr träumte. Er schloss die Augen, und stellte sich das Spielen der Kinder vor, auch, welche Lieder sie sangen. 150

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Am Silvesterabend, schrieb Lilo, »ist mir furchtbar schwer geworden, wir tragen ja alle eine Last auf dem Herzen, sie wollte mich fast erdrücken. Die letzten Minuten im alten Jahr, die ernsten Worte von Clausewitz, das Glockengeläut, das Gedenken an Dich dort im weißen Russland, dazu Wagners ergreifende Musik der Göt­ terdämmerung. Nun sind wir drin im neuen Jahr und wir müssen mit ihm, ob wir wollen oder nicht. Was da kommt, muss ertragen werden, möge es nicht zu schwer werden. Es ist alles so ernst! Auch die Botschaft des Füh­ rers an das Volk und seine Soldaten ist getragen von tiefem Ernst. Wohl ist uns der Sieg gewiss, wehe uns, wenn wir den Krieg verlieren soll­ ten, aber hart wird er werden. Das wissen wir alle! Das Frühjahr entfacht den Krieg im Osten wieder in unverminderter Stärke. Du wirst wieder dabei sein, lieber Vati. Die Tage und Nächte der Angst und Sorge werden wieder erstehen, kaum dass sie überstanden sind. Möge Gott mir die Kraft geben durchzuhalten und vor allem Dich weiterhin behüten in allen Todesgefah­ ren. Wieder wird vieles, vieles deutsches Blut fließen. Ich gehe mit bangem, schwerem Herzen in das neue Jahr. Das verflossene war bisher das sor­ genreichste für mich, was das neue bringt wissen wir nicht, aber mir will oft bange werden. Mir fehlt auch der richtige Glaube, in dem Du stehst. Ich habe Dich auch hierin so bitter nötig. Du musst mich noch auf den richtigen Weg bringen. Du bist mir in jeder Beziehung Vorbild und ich möchte Dir so gerne ähnlich werden und an deiner Seite innerlich wachsen und höher hinauf‌kommen. Nur Du kannst mir dabei helfen, weil mein Inneres vor Dir liegt wie ein of­ fenes Buch und ich so felsenfest an Dich glaube und Dir in allem blind ver­ traue. So wie Du bist und denkst, ist es für mich richtig. Wenn ich Dich ver­ lieren sollte, würde eine Welt zerbrechen, die ich mir eben bauen will, mit Deiner Hilfe. Dass ich dich finden durfte, ist ein höherer Wille, zu begreifen ist das nicht, so wunderbar ist es gefügt. Kein Mensch auf der Welt ahnt, was Du mir bedeutest. Dass wir uns lieb haben, weiß man wohl, aber das umfasst ja für die meisten Menschen nicht mehr als es allgemein üblich ist. Ich wünsche mir nichts sehnlicher für unsere Kinder, als dass sie von Dir erzogen werden in Deiner wunderbaren Art, mit der Du die Gabe hast, mit Kindern umzugehen. Und nun erst, wenn die Vaterliebe dazu kommt. Du glaubst nicht, lieber Ernst, wie sehr ich das ersehne. Ich denke zu gerne an deine Klasse in Schalkholz. Wie hattest Du nur die Kinder am Band, es machte direkt Spaß, das mitanzusehen. Heinkele freut sich so auf Dich. Wie oft sprechen wir von Dir, sie sagt immer, ›Vati kommt bald.‹ Sie will dann auf Deinen Schultern reiten und mit Dir toben. Die glücklichen Kinder! Wann das ›bald‹ ist, ist ihr kein Begriff. Aber sie will mich damit trösten. Wenn ich traurig bin, heißt es sofort, ›Vati kommt Die letzten Tage

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ja gleich.‹ Kürzlich meinte sie, Opa sollte nun mal nach Russland gehen und Vati hierher kommen! Sie vermisste unsern großen Rodelschlitten, ich sagte ihr, der ist in Russland. ›Will Vati auch Schlittenfahren? Das denk ich aber nicht‹! Man muss oft staunen, was für Überlegungen und Zusam­ menhänge sie schon sieht. Du wirst bestimmt deine Kinder eine Zeitlang stumm ansehen und Dich erst mit ihrer Entwicklung langsam abfinden können.« Die Verschiebung von Ernsts Urlaub war ein besonders harter Brocken. »Dass man Dich an elfte Stelle gesetzt hat, passt mir nicht. In mir revol­ tiert es immer leicht. Ich sehe das nicht ein und finde das nicht gerecht. Ihr wisst heute nicht, ob Ihr morgen noch lebt. Der Russe lässt keine Ruhe, immer wieder bricht er in die deutschen Stellungen ein und jeder Tag mel­ det erbitterte Kämpfe. Er will absolut jetzt im Winter eine harte Scharte auswetzen. Es sieht nicht rosig aus an der Front, selbst Leningrad ist nicht eingeschlossen, wie es immer heißt. Von See her und über den Ladogasee haben sie noch Verbindung. Mein Liebster, frierst Du auch nicht? Und das Essen? Wirst Du noch satt? So viele schreiben vom Hunger und erfrorenen Gliedmaßen. Sieh Dich nur vor, lass nicht die Zehen ans Leder anfrieren usw.«247 Sein stimmungsvoller Weihnachtsbrief berührte sie zutiefst: »Ich habe beim Lesen geweint. Du schreibst so ernst von Deiner Weih­ nachtsstimmung dort. Ich hoffe, in den nächsten Tagen mehr von dei­ ner Weihnacht in Russland zu hören. Ich kann Dich nur zu gut verstehen. Könnt ich dir doch nur ein wenig helfen. Es ist ja so natürlich, dass alles in uns zueinander drängt, noch nie waren wir so lange getrennt. Ach, wird das ein Wiedersehen werden, wenn ich mir das ausmale. Ich kenn doch meinen Jungen und sein Herz und seine starke Liebe. Du hat mir mal ge­ sagt, ein richtiger Mann muss vital sein. Es gibt für mich nichts Schöneres, als mich dir hinzugeben als dem Einzigen, der mich bisher besessen hat und je besitzen wird. Ich habe kein Verlangen nach dem Mann schlechthin, sondern nur nach Dir, immer bist Du es, der in meinen Träumen mir nahe ist. Ach neulich träumte mir, Du wärst bei mir. Ich sah Dich immer nur an und fand so etwas Fremdes in Deinem Gesicht und wir konnten auch gar nicht gut miteinander auskommen. Du bist doch noch mein lieber, guter alter Ernst, nicht wahr? Es kann ja gar nicht anders sein, Du meintest in einem Brief, wenn Du mich verlieren würdest, würdest du den Tod suchen. Mein Ernst, das wirst Du niemals tun. Denk doch an unsere Kinderchen, sollen die dann niemanden mehr haben, der sie wahrhaft lieb hat. Und 152

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dann, sieh einmal umgekehrt, Liebster. Ich muss doch täglich bereit sein, Dich dem Vaterland hinzugeben. Ich sage, ich muss, ich werde es niemals sein. Ich hätte dann auch keinen sehnlicheren Wunsch, als Dir nachzu­ kommen. Das kann ich doch unseren Kleinen nicht zumuten. Ich müsste weiterleben mit blutendem Herzen, es würde eine Qual und ein nie ver­ siegender Schmerz werden. Wir müssen alle das tragen, was Gott uns be­ stimmt hat […]. Nun aber zu Bett. Es ist gleich elf Uhr. Ich weiß so wenig über Deinen jetzi­ gen Aufenthalt. Wohnst Du im Haus und schläfst des Nachts im Bunker? Darfst Du darüber nicht ein bissl näher schreiben? Hast Du ein Bett? Ach, was weiß ich schon von deiner Welt! Man hat uns auseinander gerissen, und jeder muss sein Leben für sich leben. Wann hab ich Dich wieder? Mir ist, als sind wir noch Jahre getrennt. Es ist alles so trostlos, Das Leben ist so nicht wert, gelebt zu werden.«248 Als ihre Briefe als nicht zustellbar zurückkamen, war Lilo entsetzt. Warum, war Ernst verwundet oder gar tot? Der wirkliche Grund war eine Postsperre, da Munition und andere dringend benötigte militärische Vorräte an die Front gebracht werden mussten. Das allgegenwärtige Leiden jedoch zehrte an ihren Nerven. Es gab Gerüchte, dass es den Truppen verboten sei, nach Hause zu schreiben. »Überall von der Front werden erbitterte Winterkämpfe gemeldet. Heute las ich vom Heldentod des Ritterkreuzträgers O. Lt. Bock, südlich vom Il­ mensee. Du schreibst mir ja nie von Kämpfen und lässt mich im Ungewis­ sen. Ich bin aber so ebenso wenig ruhig. Schreib mir doch mal die Wahr­ heit, ich denke so viel und innig an Dich. Ob es Dir noch gut geht? Was musst Du nur alles durchmachen! Wie ich dieses Russland verwünsche! Wenn ich keine Post von Dir habe, bin ich so verzagt und allen Dingen des Lebens gleichgültig gegenüber, mir ist dann alles so egal. Ein furchtbarer Zustand. Mir ist das Leben dann so über. Warum muss bloß dieser wahnsinnige Krieg über uns kommen? Die Menschheit leidet furchtbar darunter. Alles wird zerstört, alles, was nach Glück und Frieden aussieht. Und wer aus dieser russischen Hölle lebend herauskommt, hat einen Nervenknacks und im Alter Ischias und Rheuma. So wie Ihr wart, kehrt Ihr nicht wieder. Ihr werdet den Sommer über noch zu tun haben im Osten und England kriegt wieder ein Jahr Frist und gute Zeit, sich mehr und mehr zu rüsten. Nun kommen nächstens noch die Yankees auf die Insel und wir werden ihren Bomben ausgesetzt sein.«249 Im darauf‌folgendem Brief beklagte sie sich, sie habe seit drei Wochen habe nichts von ihm gehört. Die letzten Tage

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»Gestern kam ein Bericht vom Ilmensee. 48  Std. im Einsatz, 3  Tage ohne warmes Essen bei 40 Grad minus Kälte. Wie kommt es bloß alles anders, als wir denken. Wir hofften auf Winterruhe und bestenfalls Mitte bis Ende Januar auf Urlaub! Lieber, lieber Junge, Du! Wir wollten in Wrohm glück­ svolle Tage genießen  – Ach, nur nicht denken, das Leben ist hart und grausam. Wir haben bald Vollmond. Diese Nacht (23  Uhr) war Alarm. Der Tommy wollte nach Berlin. Ich habe nichts gehört. Ich denke viel an Wrohm und habe Sorge um die Wohnung. Sicher sind alle Kartoffeln erfroren usw. Unseren Lieblingen geht es gut. Nur die Kälte mögen sie nicht. Über 20 Grad minus. Oben ist es lausig kalt, trotz Heizen. Wie mollig war es in Wrohm.«250 Es war ihr unverständlich, dass er immer an vorderster Front stand und nie entlastet wurde. Ab Anfang des Jahres 1942 war Ernst in schwere Kämpfe verwickelt, wie er einem Freund, Willi Falkemeier, am 5. Januar schilderte: »Mein lieber Willi! Ich danke Dir herzlich für Deinen so inhaltsschweren Brief. Tief erschüttert hat mich der Tod meines guten Kameraden, Wilhelm Bornholt. Dass er in seiner Frische so enden musste! Du hast aber recht, wir müssen ja danken, wenn wir selber durch diese Hölle gekommen sind. Dies war ein Feldzug ohne Vorbild. Der hat Blut und Energien gekostet. Wenn ich recht vermute, habt Ihr auch jetzt noch keine Ruhe. Übrigens ist mein Bruder, Lt. Hans Sommer, mit einem Marschbataillon nach der Krim unterwegs gewesen. Ob er Euch Erfolg gebracht hat? Unser Einsatz war hart. Bei Staraja Russa hatte man uns aufgegeben. Die Flieger haben uns dann geholfen. Nun liegen wir dem Russen gegenüber in unseren Bunkern südlich des Ilmensees. Artillerie, Pak, Granatwerfer, MG lärmen täglich, ansonsten herrscht hier Ruhe. Urlaub ist auch jetzt noch Glückssache. Ich habe viel Spaß an meiner Waffe. Bin auch zufrieden mit meinen Leu­ ten. Hier auf B. Stelle habe ich zwei Hamburger, einen Schleswiger, einen Hannoveraner und einen von der Mosel. Den Bremner habe ich noch ver­ gessen. Die Feld Artillerie ist 1 500 m zurück, auch dort überwiegt der nord­ deutsche Einschlag, zumeist stämmige Kerle, die die schweren Granaten handhaben können. Über 1 200 Schuss hat der Zug bisher abgegeben, und ich glaube, das sind sie noch lange nicht alle. Alle paar Tage müssen wir die Ruski zur Vernunft bringen und einige Koffer rüber schießen. Am 24. Okto­ ber ? hatten wir einen Großangriff. Noch heute liegen die hundertfünfzig Toten vor unserer Minensperre, der Schnee zog inzwischen sein Leinen­ tuch darüber. Bei uns gab’s nur einige Verwundete. Seit der Zeit kommt es 154

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mit Artillerieschuss oder Granatenwerfer die Hucke voll. Auch MG Kugeln zwitschern täglich durch die Gegend. Aber bisher hatten wir nur einen Ver­ wundeten, Gott sei dank!«251 Die Postsperre dauerte den ganzen Monat Januar an. Am 10. Februar hatte Lilo immer noch keine Briefe bekommen. Die Ungewissheit machte ihr zu schaffen. Ernst und Lilo hatten die Möglichkeit seines Todes schon lange in Kopf und Herz erwogen. »Ach Liebster, wie oft laufen mir die Tränen übers Gesicht, es ist so furcht­ bar, Dich in dem allen zu wissen. Wenn ich Dich in Gefahr weiß, ist es furchtbar. Meine Liebe geht über Zeit und Raum und kann nicht tiefer sein. Du weißt das alles, Liebling! Wie oft sind wohl Deine Gedanken bei mir und den süßen Kleinen, wenn der Kampf und die Müdigkeit dir ein wenig Zeit lassen. Wenn Du doch von uns Post bekämst, das ist viel notwendiger als für uns, weil sie für euch das Ein­ zigste und Schönste ist in all dem Schrecklichen. Ist Dir auch schon etwas erfroren, mein Junge? Ach, der Winter ist ja noch lange nicht bei Euch zu Ende, Februar und März ist noch grimmig kalt. Wie du wohl Deine Wäsche vermisst. Es ist immer noch Sperre. Draußen scheint es, als ob es tauen will. Es ist Westwind und heute Nach­ mittag 2 Grad plus. Wenn doch nur, die Briketts gehen zur Neige. Elektri­ sche Öfen zu benutzen ist verboten wegen Stromersparnis. Jeder darf nur ungefähr 80 % Strom vom vorigen Jahr Februar verbrauchen. Alles, was drüber ist, wird pro Stunde mit 1.– M. angerechnet. Alles nur wegen Koh­ lenknappheit auf dem E. Werk. Ich bin in Wrohm abgemeldet für Feuerung, dafür hat Vater für uns fünf Zentner mehr gekriegt. Den lieben Kleinen geht es gut. Sie sind täglich etwas draußen. Hartmut im Stuhlschlitten. Der Bub ist unverwüstlich. Im Schlitten summt er meis­ tens vor sich her. Sein neuestes Lied ist ›Grete, Grete, liebes Gretelein.‹ Ganz richtig im Takt und Melodie. Heinke singt ›Wir fahren gegen Enge­ land‹ und ›Wenn die Soldaten …‹. Sie fegt draußen gerne Schnee, hat dabei Überschuhe und Trainingshose an. Ach Vati, Dein hellblauer Training! In dem springen Deine Kinder nun umher! Er ist bald unkenntlich vor lauter Stopfen. Er reißt jetzt überall. Überhaupt Stopfen ist jetzt Trumpf! Muschi träumt ihrem ›Burtstag‹ entgegen und singt ›Ich freue mich, dass ich gebo­ ren bin und hab Geburtstag heut.‹ Aber Du, der Hartmut hat einen Dickkopf, unbeschreiblich, er lässt nicht locker! Heinke ist lieb. Spricht viel von Vati. Liebling, denkst Du am 12.2. an dein Töchterlein und die Mutti? Ach, mein Liebster, komm doch bald wieder zu uns. Kraft und Schutz geliebter Mann! Bleib unser lieber guter Vati!«252 Die letzten Tage

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Diesen Brief hat Ernst nicht mehr gelesen. Als diese Post ankam, war er bereits tot. Umso schwerer fällt es einem, Lilos folgenden Brief zu lesen, in dem sie über Heinkes Geburtstag berichtet: »Der Kindergeburtstag ist zu Ende. Ich bin ziemlich erschöpft ob des Tru­ bels. Halb zehn ist es gleich. Ich saß eben noch ein Weilchen im Sessel am Ofen und war bei dir und dachte zurück. Vor 3 Jahren um diese Zeit wurde Heinke geboren. Die Hauptsache erscheint mir heute, dass Du damals bei mir warst, so nahe, immer an meiner Seite! Liebster, Du, wie anders sieht es jetzt aus. Krieg ist in der Welt und alles Glück weggeblasen. Ach, ich bin so traurig und einsam. Die Sehnsucht nach Dir ist unsagbar groß, sie tut direkt weh, wenn ich an dich denke. Ich habe eben schon geweint, oft erscheint es mir untragbar schwer, dieses Leben. Ich habe Dich doch so unendlich lieb. Kein Lebenszeichen von Dir kommt durch! Ich hatte mir so gewünscht, viel­ leicht heute Post zu haben. Immer wieder vergebens, wie ist das nur aufrei­ bend. Draußen wütet den ganzen Tag schon ein mächtiger Schneesturm mit W.-Wind. Meine Gedanken sind bei solchem Wetter immer bei Euch. So ein Schneetreiben liebt der Russe ja zum Angriff. Wahrhaft Übermensch­ liches müsst Ihr leiden. Die Heimat weiß das und ahnt, was Ihr aushalten müsst, Ihr lieben Soldaten da draußen. Wüsste ich nur, mein Ernst, was Du machst, dass Du noch gesund bist. Wie Du wohl aussiehst, lieber Junge? Liebling, dürft ich Dir doch einmal in Deine lieben Augen sehen, über Dein Haar streichen. Ich halt die Sehnsucht nach Dir kaum noch aus. Liebster, ich glaube bestimmt, dass meine Post auch nicht zu Dir kommt und alle meine Briefe irgendwo festliegen. Warum nur sagt man im Radio nicht, dass Sperre ist. Dann ist die Bevölkerung doch etwas ruhiger. Musst du sehr frieren, und wirst du satt, lieber Ernst? Mein Herz ist voll von Fra­ gen und Sorgen nach dir, wann wohl werde ich deine geliebten Schriftzüge wiedersehen? Ich fürchte, dass der Februar auch noch vergeht. Ach, und dann kommt im März – April die Schneeschmelze. Dann ist es auch schwie­ rig mit dem Transport und Munition muss ran für das Frühjahr. Geliebter, wann nur wann kommst Du zu uns? Ich muss Dich bald einmal sehen. Aber wer fragt danach, wie es in unserem Innern aussieht?«253 Das Wetter war tatsächlich kaum auszuhalten. General Heinrici beschreibt den Wind, der das Gesicht mit tausend Nadeln stach, Handschuhe und Kopfschutz durchdrang. Man sah fast nichts, weil die Augen wegen der enormen Kälte tränten. Völlig inadäquate Kleidung und Ausrüstung, verglichen etwa mit den sowjetischen Skibataillonen, lähmte die Vorwärtsbewegung und verursachte massive Probleme, insbesondere mit erfrorenen Gliedmaßen.254 156

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Die Briefe zu lesen, die Lilo an ihren toten Mann abschickte, ist fast makaber. Schlimmer noch, die Briefe, die er kurz vor seinem Tod geschrieben hatte, kamen endlich an und überzeugten sie, dass er wohlauf sei. Er bedauerte z. B. am 3. und 6. Februar die Postsperre, betonte aber, dass es ihm einigermaßen gut gehe: »Immer noch spannt Dich die Postsperre auf die Folter und wiederum hoffe ich, dass Du diese Karte erhältst. Die stärkste Kälte (40–50 Grad) scheint vorüber zu sein. 21–30 Grad kommen uns schon annehmbar vor. Bisher ist mir nichts erfroren. Ich bin wohlauf. Meine Stellung ist unverändert, nur ich bin mit einigen Leuten vorübergehend bei Zivilisten einquartiert. Die Schneedecke ist jetzt 1 1/2 – 1 m, Kältegrade um -20 Grad, herrlicher Sonnen­ schein. In der Sonne ist’s wesentlich wärmer. Mein Liebling, wie es euch geht, wüsst ich gar zu gern. Wie sehne ich mich nach Dir und den lieben Kinderchen! Nun auch diese bittere Zeit geht vorüber, es kommt nur darauf an, dass wir tapfer durchhalten. Immer wieder gehen die Gedanken zu Euch, dass Heinkele Geburtstag hat, ich bin in Gedanken mit Euch. Vor kurzem haben wir uns Roggen besorgt, selber gemahlen und von den Russen backen lassen. Das Brot schmeckt ausgezeichnet. Im Augenblick stehen wieder 40  Pfund in Reserve. So haben wir sogar zusätzliche Ver­ pflegung. Ab und zu gibt es einmal ein Huhn, Fett von den Ziegen zum Kartoffel­braten. Kartoffeln liegen unten im Haus. Das zur Lage des Fleisch­ lichen. Seelisch birgt der Aufenthalt hier in diesem verfluchten Lande grö­ ßere Klippen. Ohne Nachricht von daheim, ungewiss die Zukunft, undisku­ tabel der Urlaub, da muss man sich schon ganz fest beisammen haben. Da helfen Kameradschaft und die Erinnerung an daheim. Nun ist unser Trennungsjahr bald voll. Ich hätte nicht geglaubt, dass man’s aushalten kann. Es ist kaum zu glauben, was ein Mensch aushält. Liebste, was machen die lieben Kinderchen? Noch sechs Tage und unsere Älteste hat ihr drittes Lebensjahr vollendet. was gäbe ich drum, könnte ich sie an ihrem Ehrentag auf meinen Schoß nehmen! Ich sehe hier nur die Russenkinder, dre­ ckig und in Lumpen, allerdings in Massen, und sehne mich doppelt nach mei­ nen eigenen Trabanten. Unser Hartmut muss doch jetzt sprechen. Immer ge­ spannter werde ich, wenn ich an die Kinderchen denke. Märchenhaft schön muss das sein, in Ruhe und Frieden bei seiner Familie zu leben, aber leider so ungewiss fern. Täglich ringe ich mich zu meiner Tat durch. Hier heißt es wach sein und bereit, aber ich kann die Heimat, Euch nicht vergessen. In in­ niger Liebe, meine liebe Lilofrau, Dein Ernst. Kuss für die Lütten vom Vati.«255 Weitere Briefe im Februar zeigen, dass Lilo von den schweren Kämpfen im Ilmensee-Gebiet wusste, obwohl er nie etwas davon schrieb. Die letzten Tage

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Sag, Liebster, wie habt ihr nur 40–50 Grad minus ausgehalten? Dafür fehlt mir einfach die Vorstellung. Was wird das für Wasser geben, wenn der eisige Schnee einmal taut. Bei uns ist auch noch Winter, alles weiß. Alles fährt Klingelschlitten, Heinke ist auch schon ein Stück mitgefahren. Wie es uns geht, Liebling? Natürlich gut, wir haben ja unser normales Leben, mach Dir nur unseretwegen keine Sorgen und Gedanken. Die Frage nach dir ist 1 000mal berechtigter. Unser Bub fängt jetzt endlich an zu sprechen. Er sagt: ›Mama, Papa, Opa, heiß, Arm, doch256 auch, ich, da, mein‹. Das ›doch‹ kommt nach jedem Ver­ bot, er ist ein kleiner Schlingel, kaum zu bändigen.257 Ein schöner Brief beschreibt eine Schlittenfahrt: »Wieder geht ein Sonntag zu Ende. Wir hatten heute mal eine kleine Ab­ wechslung. Nachbars nahmen mich und Heinke mit zu einer Tour mit dem Klingelschlitten. Heinke war selig. Dick eingemummelt konnte uns die Kälte nichts, es war sonniges Wetter. Es ging über Neuenkirchen, Strizzow wieder nach Spantekow. Am Schlitten klebte die halbe Schuljugend, z. T. hatte sie sich mit Schlitten angebunden. Die Fahrt war prima, ein bissl Auf­ regung und allerlei drum und dran war auch dabei: Wir fuhren ja Landwege und der Schnee ging den Pferden oft bis an den Bauch, 2mal mussten wir kehrtmachen, da die Wege verschanzt waren. Dann ging es über die Äcker und die Gräben. es war wirklich alles dran. Die Pferde klebten vor Schweiß. Nach zweieinhalb Stunden waren wir wieder zu Hause und brachten guten Appetit mit. Es geht ja immer noch doll her an der ganzen Front. Gerade die letzten Wochen des Winters wird der Russe nochmal mit aller Gewalt versuchen durchzubrechen. Du glaubst nicht, was verschiedene Soldaten in ihren Briefen nach Hause schreiben, wir lesen öfter welche. Immer wieder hört man, dass Infanteristen aus verschiedensten Regimentern zusammen­ geholt werden, damit es wieder einen größeren Haufen gibt. Dieters Div. ist auch überall zerstreut und ohne Zusammenhang. Ihr habt doch wahr­ haftig verdient, abgelöst zu werden. Lasst doch ’mal andere ran, die noch nicht in Russland gekämpft haben. Glaubst Du auch, dass der letzte Stoß der schlimmste wird? Was wird das Blut kosten? Liebling, werden wir uns vor der Offensive sehen? Ach, stündest Du doch einmal plötzlich vor mir! Meine Liebe hat noch nicht einen Deut abgenommen, im Gegenteil, so tief, einfach und klar war sie noch nie. Ich denke an Dich als an meinen Gelieb­ ten, ich sehne mich nach Deinen Küssen und Deiner Nähe wie damals als junges Mädchen. Immer nur Du bist es, der in meinen Gedanken mich so ganz ausfüllt. Jeden Abend, wenn ich einsam zu Bett gehe, denke ich an Dich und werde traurig. 2 1/2 Jahre bist Du fort von mir! Bei Tanzmusik im 158

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Radio tanze ich in Deinen Armen und bin glücklich in der Vorstellung. Du, nur Du, kein anderer auf der Welt!«258 Lilo rätselte, wie man den starken Widerstand der Russen verstehen könne, ihre große Reserve an Flugzeugen. Dass ein großes Päckchen an Ernst, mit Schokolade, Kuchen, Marmelade und mit großer Liebe verpackt, nicht ankam, bereitete ihr bittere Ent‌täuschung. Aber dann kam die Nachricht von Hans’ Tod, Ernsts Bruder: »Mein lieber, lieber Mann. Unsagbar schwer wird mir heute dieser Brief. Ich finde nicht die Worte, die das sagen können, was mich bewegt und unend­ lich traurig macht. Ich möchte bei dir sein und Deine Hände fassen, damit Du nicht so verlassen bist in Deiner tiefen Not. Wie, lieber Mann, muss es Dich treffen, wie wird es dich bis ins Innerste erschüttern. Dein geliebter Hansbruder! Nein, es ist im Augenblick nicht zu fassen, die Zeit erst muss es uns lehren, dass wir ihn nie wiedersehen, den fröhlichen, sonnigen Hans Sommer. Unvorstellbar ist es, ihn nicht mehr am Leben zu wissen. Ich weiß, mein lieber, guter Ernst, was Du verloren hast, was Hans Dir war, wie er Dir ans Herz gewachsen ist durch den Tod Eures Vaters und die Not, die daraus entstand. Wie Du Dich für ihn verantwortlich fühltest und stolz auf ihn warst. Nie, nie wirst Du, Mutter, Gerda, wir alle, diesen Schicksalsschlag überwinden. Oh, dürfte ich bei dir sein. Ich möchte Dir tragen helfen. Es ist so schwer, Dich allein zu wissen in dieser bittererns­ ten Zeit. Vor mir liegt die schwarze Karte, die mich im ersten Augenblick erstarren ließ, bis dann die Gewissheit durchbrach, dass Dein liebster Bruder gefal­ len ist. Ich denke immerzu an Mutter und Gerda. Wie wird es Mutter gehen? Es ist zu viel für sie, erst den Mann und dann den Jüngsten. Sie glaubte so fest an Euer Wiederkommen, sagte mir noch, den Jungens passiert nichts, die kommen wieder, beide haben noch Aufgaben zu erfüllen. Der Glaube ist eine gewisse Zuversicht, auf das man glaubet, auch wenn man nicht sieht. Ich habe sehr oft an diese Worte gedacht. Wie sehr hing sie an Hans, wie liebte sie ihn. Oh, es ist unsagbar hart, unfassbar für uns alle. Und Gerda! Ihr ganzes Lebensglück ist gebrochen, ihre gemeinsame Pil­ gerfahrt kaum begonnen, so jäh abgerissen. Ich kann mich so gut in sie hinein­denken, ihre Liebe zu Hans gleicht der meinen zu Dir. Einmalig ist sie an Tiefe, Treue und Reinheit, und das Glück, einen Hans Sommer besessen zu haben. Gott gebe ihr Kraft das Leid zu tragen. Ich wünschte ihr, dass sie einen Buben von Hans unterm Herzen trägt, dem sie alle Liebe schenken kann und in dem Hans’ Blut fließt. Unser Hartmut, Dein Ebenbild, trägt auch dein Leben weiter. Gäbe ein gnä­ diger Gott Dich uns und Deiner Mutter zurück, er schütze und behüte Dich Die letzten Tage

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und gebe die Kraft an Leib und Seele, alles zu ertragen. Ich bin im Leid noch enger mit Dir verbunden, Dein Schmerz ist auch mein Schmerz.«259 Als Ernsts Mutter von dem Tod hörte, beantragte sie einen Soforturlaub für Ernst. Lilo hatte jedoch »wenig Hoffnung«. Sie war auch sehr um ihren Bruder Dieter besorgt, der schon mehrere Male verwundet worden war. Vorübergehend war er der Division  269 zugeteilt, die »arg auseinander« war, in einem Kessel südlich von Leningrad. Nie hatte sie so viele Todesanzeigen gesehen, sowohl in regionalen Zeitung als auch im Völkischen Be­ obachter. »Ich war ja auch 7 Wochen ohne ein Lebenszeichen von Dir. Jetzt, Anfang März, kommt Deine Januarpost vom 6. und 7.1. Ist die Sperre nun auf­ gehoben?«260 An ihrem vierten Hochzeitstag hatte sie immer noch nicht die Todesnachricht erhalten und lebte in einer »furchtbaren inneren Span­ nung, diese große Sorge um Dein Leben. Vom 6.2. ist Deine letzte Karte, fünf Wochen sind das her. Aber das schlimmste ist die zurückgekommene Post. ›Nicht zustellbar‹! Ernst, mein lieber Ernst, was soll ich bloß dabei denken? Es ist Grund zu den schlimmsten Befürchtungen. Dieser Gedanke bringt mich fast um. Was hab ich schon geweint. Was ist wohl los mit Dir?«261 Ernst war längst tot, mit anderen Kameraden neben der Bahnlinie hastig beerdigt, zwischen Borki und Owscha, ungefähr 25  km von Staraja Russa entfernt. Die offizielle Benachrichtigung von seinem Tod wurde schon am 17. Februar abgeschickt, aber leider nach Wrohm. Es dauerte eine Ewigkeit, bis sie in Spantekow ankam. Nachdem Lilo die Nachricht erhalten hatte, gab sie die folgende Anzeige auf: »An meinem Hochzeitstage erhielt ich die erschütternde Nachricht, dass mein innigstgeliebter Mann, der glückliche Vater seiner Kinderlein, der sor­ gende Älteste seiner Mutter, der Lehrer und Führer des Stammes 3/85 der HJ, ERNST SOMMER Ltn. in einem Inf.  Rgt., Inh. des EK11, am 11. Februar, dem Geburtstag seines Töchterchens, im schwersten Kampf gegen den Bolschewismus sein Leben für Familie, Führer und Vaterland mit dem Hel­ dentode krönte. Er folgte seinem im Weltkrieg gefallenen Vater und seinem ebenfalls im Osten gefallenen einzigen Bruder. Sein Bekenntnis: ›Eine maß­ los glückliche Ehe gibt mir die Kraft‹, ist auch mein Licht und mein Halt. In unendlicher Dankbarkeit, Liebe und Treue, in tiefster Trauer für alle Liselotte Sommer, geb. Struck Heinke und Hartmut. Spantekow, Krs. Anklam Wrohm, Heldengedenktag 1941.«262 In ihrer Trauer drückte sie sich in der üblichen Sprache des Dritten Reichs zum sogenannten Heldentod für das Vaterland aus. Es stand ihr wohl 160

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nichts Anderes zur Verfügung. Sie brach zusammen. Alle Geborgenheit war weg. Die Kinder wurden vorübergehend von Verwandten übernommen. Sie fuhr nach Berlin und verbrachte einige Tage mit Gerda, Hans Sommers Witwe. Wir wissen nicht, wie sie die nächsten Tage und Wochen überlebte. Irgendwie blieb sie aber erstaunlich stark, erlaubte sich keine Schwäche. Ihre Briefe an andere sind voller Empathie, vor allem an Ernsts Mutter. Frieda Sommer erlitt das unermessliche Leid nun schon zum dritten Mal, hatte erst ihren Mann und einen Sohn – und nun auch den zweiten verloren. »Meine liebe Mutter! Nun ist auch unser lieber, lieber Ernst nicht mehr unter uns. Diese Erkenntnis ist wahnsinnig bitter und schwer. Ich war so geborgen und behütet bei ihm. Unendlich weise bin ich durch ihn gewor­ den und das gibt mir die Kraft, stark zu bleiben, unserer lieben Kinderchen wegen. Wie unendlich lieb hat Ernst mich gehabt, wie war er stolz auf seine Lieblinge. Und bei all dem tiefen Weh bin ich doch voller Dankbarkeit, dass ich ihn glücklich machen durfte und er mich würdig sieht, sein Blut und seinen Geist in seinen Kindern weiterzutragen. Ernst war bis zum letzten Atemzug ein glücklicher Mensch, liebe Mutter, das darfst Du gewiss glau­ ben. Sein junges Leben hat sich vollendet. Das Gesetz Gottes hatte sich in ihm erfüllt, er musste abtreten. Seine Liebe ist bei uns, und niemand kann sie uns nehmen. Ernst schläft und ist aller übermenschlichen Strapazen entflohen und darf ausruhen. Ohne Qualen und Schmerzen ist er einge­ schlafen mit dem Gedanken an seine liebe Frau und sein Töchterchen. Er war stark im Leben wie im Sterben. Da dürfen wir nicht schwach werden. Ernst glaubte an seine tapfere Frau, und darf ich da schwach werden? Hätte er uns doch noch einmal sehen dürfen! Alle seine Briefe sprechen von nicht mehr zu stillender Sehnsucht. Hätte er doch noch einmal sei­ nen Bub und sein großes Töchterchen herzen können. Ach, es ist unfass­ bar schwer, sein Liebstes zu verlieren. Der Schmerz ist noch so frisch, erst 8 Tage her! Dass da das Herz noch blutet ist so natürlich. Unser tapferer, lieber, lieber Ernst! Ich grüße Euch alle, die Ihr Ernst so lieb hattet. In tiefer Verbundenheit, Deine Lilo.«263 Auch die Kinder in der Schule in Spantekow zeigten Lilo ihre Anteilnahme: »Liebe Frau Sommer. Sie und die lieben Kleinen tun uns so schrecklich leid. Wir haben sehr ergriffen gesungen: ›Ich hatt’ einen Kameraden‹ und mit gefalteten Händen bei geöffnetem Fenster dem Klang der Trauerglocke zugehört. Ihren lieben niedlichen Kinderchen aber wollen wir sehr liebe Spielgefähr­ ten sein. Die letzten Tage

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Begrabe Deine Toten, tief in das Herz hinein, sie werden Deinem Lieben lebendige Tote sein. So werden sie im Herzen stets wieder auferstehen, als gute lichte Engel mit Dir durchs Leben gehen. Heil Hitler! Die Kinder der Schule Spantekow. Dora Potenberg.«264 Viele Beileidsbriefe erreichten Lilo von Ernsts Kameraden. Der Major des Regiments beschrieb seine letzte Aktion: »In den schweren Kämpfen der letzten Tage wurde der Ort, den er besetzt hatte, vom Feinde angegriffen. Schnell hatte Ihr Gatte eine Kräftegruppe zusammengestellt, um den Feind nieder zu werfen. An der Spitze dieser Gruppe ist Ihr Gatte dann gefallen durch einen Bauchschuss. Er hat noch 10 Minuten gelebt, ohne die Besinnung wie­ derzugewinnen. Er ist ohne Qual und Schmerzen entschlafen. Durch den von ihm angesetzten Angriff ist vielen Soldaten das Leben gerettet worden.«265 Sein Freund, Leutnant Magerhans, schrieb einen recht persönlichen Brief: »Liebe Frau Sommer! Vor etwa drei Monaten verfassten drei Kameraden einen freudig-hoffnungs­ vollen Umschrieb, der aus einer frohen Augenblicksstimmung heraus ge­ boren war. Damals ergriffen wir leichten Herzens die Feder, um unsere Frauen und Bräute in der lieben Heimat mit einigen Zeilen zu bedenken. Wie wahnsinnig schwer es mir heute fällt, kann ich keinem Menschen sagen: Heute habe ich die traurige Pflicht, Ihnen den Heldentod Ihres lie­ ben Mannes, unseres so hochgeschätzten lieben Kameraden Ernst Som­ mer, mitzuteilen. Am 11.2.42 bei der heldenhaften Verteidigung von Borki traf in die tödliche Kugel. Er war Vorbild und Ansporn seinen Männern bis zum letzten Atem­ zuge. Sein Geschütz hat er nicht im Stich gelassen, als er nicht mehr schie­ ßen konnte, hat er es als Infanterist mit dem Gewehr in der Hand gegen den überwältigenden Ansturm der Russen verteidigt. In ihrem grenzenlo­ sen Schmerz wird Ihnen das ein Trost sein. Ja mehr noch, Sie werden das stolze Bewusstsein haben, dass Ihr über alles geliebter Gatte und Vater der zwei prächtigen Kinder getreu seinem heiligen Soldateneid als deutscher Offizier und Held gefallen ist. Ich schreibe Ihnen diese Zeilen namens des Kompanieführers, der augen­ blicklich nicht dazu in der Lage ist. Ich selbst liege ebenfalls im Lazarett mit einem Beinschuss und habe so die beste Gelegenheit, dem Kameraden die harte Pflicht abzunehmen. Überdies ist es für mich ein Bedürfnis, das der herzlichen Freundschaft entspringt, die mich mit Ernst verband und noch über den Tod hinaus verbinden wird. 162

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Die Verzögerung des Schreibens wollen Sie bitte entschuldigen: es waren schwere und ereignisreiche Wochen, die hinter uns liegen. Eine gewisse Zeit der Sammlung war unbedingt erforderlich. Mancher andere gute Ka­ merad hat an diesen stürmischen Tagen sein Leben noch hingeben müs­ sen für den endgültigen Sieg unseres geliebten Vaterlandes. Mancher Bräutigam, Gatte und Familienvater, auf den zu Hause die Frau und viele Kinder warten. Die Erkenntnis ist wahnsinnig bitter, aber die Opfer müssen sein. Und sie sind nie und nimmer umsonst gewesen. Dafür wird der liebe Gott in diesem Jahr unsere Waffen segnen. Das ist mein fester, unerschüt­ terlicher Glaube. Ich möchte Ihnen, auch im Auftrage des Kompanieführers der 13. Kom­ panie, Oblt.  Bergmann, sowie aller Offiziere des Regiments, meine aller­ herzlichste Teilnahme aussprechen. Sollte ich heil und gesund zurückkeh­ ren266 werde ich es auch nicht versäumen, Sie persönlich aufzusuchen. Beiliegende Fotos wurden bei Ernst gefunden. Ich schicke sie Ihnen mit. Die üblichen Sachen (Geld, Wertsachen usw.) sind vermutlich in russische Hände gefallen. Es grüßt Sie herzlichst Ihr Karl Ludwig Magerhans. 2.3.42. Soeben habe ich von einem Kameraden noch einige Einzelheiten ge­ hört. Demnach möchte man fast glauben, Ernst hat eine Ahnung gehabt. Am Vortage äußerte er in Pola etwa folgendes einem Oberfeldwebel gegen­ über. ›Wenn ich nicht wiederkommen sollte, dann grüßen Sie bitte meine liebe Frau und die Kinder. Und wenn es unbedingt sein muss, so sterbe ich gern fürs Vaterland‹. Dem Obergefreiten Amst sagte er noch kurz bevor er starb: ›Grüßen sie meine Frau und mein Töchterchen, das heute Geburts­ tag hat.‹ Das eine steht fest: In seinen Gedanken ist er sehr, sehr oft bei seinen Lieben daheim gewesen. Noch bei unserem letzten Beisammensein hatte ich den Eindruck, dass er wie abwesend war und den Erzählungen kaum folgte. Wir sprachen oft vom Urlaub, weil das eine Zeitlang ein sehr akutes Thema war. Sein sehnlichster Wunsch war, recht bald bei seiner Familie zu sein. Die eiserne Pflicht hielt ihn hier fest. Es war bestimmt kein böser Wille der Vorgesetzten, einen willigen und gewissenhaften Offizier auszunutzen. Die allgemeine Lage war damals schon recht undurchsich­ tig und zwang die höhere Führung, Befehle durchzugeben, die dem Einzel­ nen die größten Opfer abverlangten. Kurz vor meiner Verwundung habe ich noch eine Aufnahme von der Grabstätte gemacht. Ich werden sie Ihnen so früh wie irgend möglich zuschicken. Der Ort Borki liegt an der Pola, etwa 50 km südöstlich Staraja Russa. K. L. Magerhans.«267 Leutnant Otto Schwarzkopf, ein guter Freund von Ernst, unterzeichnete seinen nüchternen Kondolenzbrief nicht mit Heil Hitler«. Auch sonstiges NSVokabular fehlt bei ihm und den anderen Kameraden, die an Lilo schrieben: Die letzten Tage

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»Meine Zeit ist sehr bemessen, da wir täglich in härtesten Abwehrkämpfen liegen. Dieser Krieg ist unerbittlich. Er fordert das Letzte an körperlicher und seelischer Kraft von jedem vorn eingesetzten Offizier und Mann. Mit Ernst zusammen sind sehr viele Offiziere gefallen. Es war ein schwarzer Tag für unser Regiment. Durch diesen Einsatz, der so viele junge Menschen hin­ wegraffte, gelang es aber vielen, vielen Kameraden, sich durchzuschlagen. Dadurch sind hunderte deutscher Soldaten am Leben geblieben. So schwer die Verluste waren und so sehr sie den Einzelnen treffen, war es doch eine der denkwürdigsten Befreiungsgefechte unseres Frontabschnittes. Viele sind gefallen, ihr Heldentod gab Hunderten das Leben zurück. Wie geht es Ihnen und Ihren Kindern? Mir selbst geht es gut. An uns liegt es nun, das Ziel zu erreichen, für das viele unserer Tapfersten das Leben gaben.«268 Ein enger Freund, Lt. Beck, schwer verwundet, schickte Fotos an Lilo: »Wer konnte ahnen, dass das Schicksal die vielen Hoffnungen und Erwartungen, die er an die Zeit nach dem Kriege knüpfte, so grausam zertreten würde. Wir haben oft davon gesprochen.«269 Seine Kameraden gebrauchten natür­lich schonende Worte, um seinen Tod zu beschreiben. Es besteht aber kein Grund, an ihrer substantiellen Richtigkeit zu zweifeln. Ihre eigene Menschlichkeit und Verletzbarkeit ist erkennbar, obwohl die Sinnlosigkeit und die Grausamkeit des ganzen Feldzuges nur dadurch akzentuiert werden. Die offizielle Divisionsgeschichte betont, dass die Russen zahlenmäßig sehr überlegen waren. Der Widerstand in Borki ermöglichte den Ausbruch der deutschen Truppen aus dem Kessel. Es entstand sogar ein neues Lied: »Wir kamen von Norden gezogen und sprengten bei Borki den Ring. Die Riegel sind aufgeflogen, die Schlinge gelöst, die uns fing.«270 Frieda Sommer, Ernsts Mutter, habe nie gedacht, dass ihr »so besonnener Junge« Ernst in Gefahr sei. »Als die beiden befördert wurden, beide das EK er­ halten hatten, schreibt mir Ernst, ›Ja Mutter, deine Jungens machen alles ge­ meinsam‹, und nun gehen sie auch gemeinsam in den Tod, ehe wir den Letz­ ten zurückreißen können, oh wie unsagbar schwer ist das. Dir, mein liebes Kind, den beiden lieben Lütten und den lieben Eltern herzliche Grüße, Deine so traurige Mutter und ebenso traurige Leni und Tudi.«271 Viele Kondolenzbriefe kamen aus Wrohm, Heide und Burg. Der Bürgermeister von Burg meinte: »Ein Nationalsozialist kämpft für die Zukunft. Ernst Sommer war ein Kämpfer der nationalsozialistischen Bewegung bis zur höchsten Vollendung.«272 Sein ehemaliger Lehrer in Burg schrieb einen herzlichen Brief: »Ihr lieber Mann, der eine Zierde unseres Standes war, der mit der Jugend lebte und sie ganz verstand, war auch sicher der geborene 164

Die letzten Tage

Offi­zier und gute Vorgesetzter der ihm anvertrauten Soldaten. Mit dieser Stel­ lung war natürlich die Verantwortung und damit auch die Gefahr gewachsen. Und nun hat die Vorsehung es anders mit ihm beschlossen und er für die Frei­ heit und Zukunft seines lieben Vaterlandes sein junges hoffnungsvolles Leben als heiliges Opfer bringen müssen. Mit ihm ist einer der Besten unseres Stan­ des, ein guter idealveranlagter Deutscher dahingegangen. Meine Familie und ich werden ihm immer ein freundliches Andenken bewahren und uns seiner gern als einem lieben Menschen erinnern.«273 Die genaueste Beschreibung seines Todes, von Karl Schmidt, erreicht Lilo erst im Juni: »Im Osten. Mir selber begegnete Ltn. Sommer zum letzten Mal in den etwas herbstlich wehmütigen Septembertagen im letzten Jahr. Es war noch Sonnenschein und ich stand an der breiten sandigen Heerstraße zwischen Heidekraut, Birken und kleinen Kiefern am Wegesrand. Er kam auf schönem Pferd daher geritten. Als er mich sah, lenkte er auf mich zu, wir begrüßten uns auf das Herzlichste und sich von oben etwas herniederbeugend, sprach er mit mir in seiner heiteren lächelnden Art. Dieses Bild hatte ich immer vor mir, als ich von seinem Tode hörte. Es ist mir unvergesslich. Von seinen letzten Stunden hörte ich dies: Wie an vielen Stellen unse­ rer Front im Verlaufe der Winterkämpfe, versuchte der Russe eines Tages auch bei Borki in unsere Linien einzudringen. Die nicht sehr starke Besat­ zung verließ den Ort, so dass der Russe in den südöstlichen Teil eindringen konnte. Da wurde Ltn.  Sommer der Befehl übertragen und ihm zur Aufgabe ge­ macht, Borki wieder feindfrei zu bekommen. Ltn.  Sommer suchte sich einen Haufen Soldaten zusammen, drang in das Dorf ein und säuberte es bis auf drei oder vier Häuser. Mit dem Befehl an seine Leute, nicht weiter zu gehen, sondern nur zu halten, steigt er auf den Kirchturm, wo noch immer ein Beobachter mit schwerem M. G. sitzt, um von oben die Lage zu überbli­ cken. Dann steht er am Fernsprecher und meldet Borki bis auf 3–4 Häuser feindfrei und fügt noch hinzu, er werde versuchen, den restlichen Teil auch zu nehmen. Ihm wird zur Antwort, er solle selbst sehen, was zu machen sei. Wichtig wäre, das bis dahin Gewonnene nur zu halten. Ltn.  Sommer be­ steigt dann noch einmal den Kirchturm und als er wieder unten um eine Hausecke biegt, trifft ihn das tödliche Geschoss, ein Schrapnellsplitter. Nicht viel später fällt Borki in die Hand des Russen. Ich will dem Bericht nichts weiter anfügen. Mit Stolz entnehmen wir aus ihm, dass unser prächtiger Schulmeister-Offizier die Seele des Gegenan­ griffs gewesen ist. Mit seinem Dasein war das Gelingen und Nichtgelingen verbunden.«274 Die letzten Tage

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Lilos Leiden fing mit dem Tod ihres Mannes erst an. Ihr eigenes Leben wie auch das ihrer zwei Kinder blieb fortan von dem Verlust gezeichnet. Sie heiratete nicht wieder. Und nie mehr trennte sie sich von der Holzkiste, in der Ernsts Briefe auf‌bewahrt waren, auch nicht von seinem Schwert, seiner Geige, seiner Pfeife. Das war alles, was ihr von Ernst blieb. Doch es gab noch etwas Einmaliges, worin er fortlebte: Sie hatte die Kinder. Und an besonderen Tagen entzündete sie neben einem Foto von Ernst eine Kerze.

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Die letzten Tage

Die Bedeutung der Briefe Die besondere Bedeutung, die das Briefeschreiben für mich hat, hat mehrere Gründe: Vor allem vergegenwärtige ich mir dabei das Zuhause, Dich, meine Nächsten und überhaupt unsere Welt; es ist für mich hier die einzige Gelegenheit, etwas zu schreiben; es ist für mich die einzige Gelegenheit zu leidlicher intellektueller Selbstverwirklichung; manches wird mir erst beim Schreiben klar; es ist meine einzige Kommunikation mit Dir und unserer Welt. Vaclav Havel an seine Frau Olga aus dem Gefängnis.275

Wie soll man die Briefe von Ernst und Lilo Sommer verstehen? Man schreibt Briefe, weil direkte Kommunikation mit dem Partner, Kollegen oder Freund nicht oder nicht mehr möglich ist. Man schreibt, weil man nicht von Angesicht zu Angesicht reden kann, weil man den Anderen nicht anfassen, in die Arme nehmen kann, nicht mit ihm essen, singen, tanzen, ins Bett gehen kann. Man schreibt Briefe, weil man eine fremde Luft atmet und sich die heimatliche Luft wieder vergegenwärtigen will. Briefe halten uns auf dem Laufenden. Ohne persönlichen Kontakt bleibt man durch Briefe doch irgendwie in Berührung. Aber Briefe schreiben ist nicht so einfach. Schon Zeit und Energie zu finden zu regelmäßigem Schreiben, gelingt den Menschen oft nicht. Wenn man am Ende des Tages müde ist, mit drängenden Aufgaben beschäftigt oder vielleicht auch seelisch an einem Tiefpunkt angelangt, braucht man einen starken Willen, um nach Tinte und Feder zu greifen. Selbst wenn man weiß, dass ein Brief sehnlichst erwartet wird.276 Eines aber verlangt ein gelungener Brief vor allem: Einbildungskraft, Vorstellungs- bzw. Einfühlungsvermögen. Viele Menschen, die im täglichen Leben bestens miteinander auskommen, versagen, wenn es ans Briefeschreiben geht. Dafür gibt es eine ganze Reihe von Gründen. Erzählbriefe stoßen schnell an eine Grenze. Es verlangt mehr, wenn man tiefer schürfen will, um den Anderen in eine fremde Lebenswelt zu führen, geschweige denn in die innere Welt von Herz und Seele. Dazu bedarf es einer großen Portion Selbstwahrnehmung. Die Humanisten in der europäischen Renaissance wussten sehr wohl, dass ohne Selbsterkenntnis Freundschaft Die Bedeutung der Briefe

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unmöglich sei. Den Anderen zu verstehen, als Individuum zu erreichen, als Subjekt, ist eine hohe Kunst. Und dabei eine, in der man nie Vollkommenheit erreicht! Wenn es darauf ankommt, sich klar zu artikulieren, Konflikte auszutragen, Meinungsverschiedenheiten zu schlichten, kommen wir alle zu kurz. Für unsere Augen sind die Briefe von Ernst und Lilo oft verworren. Häusliche Sorgen, patriotische Gedanken, erotische Gefühle jagen einander durch die Zeilen. Von einem Satz zum nächsten schalten die Briefe von militärischen Siegen, etwa dem Einmarsch in Paris, zu der Freude, dass die Kinder im Gehen oder Reden kleine Fortschritte machen. Wir wissen jetzt ziemlich genau Bescheid über den Lauf von Hitlers Krieg, seiner äußeren Landschaft sozusagen. Die innere Landschaft bleibt uns weitgehend verborgen. Es ist deswegen nicht leicht, den Gewissheiten, der »Unschuld«, den Voraussetzungen dieses jungen Paars gerecht zu werden.277 Briefe schreiben hatte in Deutschlands Mittelschicht eine feste Tradition, und Ernst und Lilo waren begabt darin. Eine kritische Analyse der Ereignisse bieten sie zwar nicht. Sie waren keine Intellektuellen. In ihrer Korrespondenz gibt es nichts, das vergleichbar wäre mit den Briefen von Victor Klemperer oder Dietrich Bonhoeffer, oder auch mit den Abschiedsbriefen zwischen Helmuth James und Freya von Moltke.278 Die Perspektiven unseres jungen Paars sind im Großen und Ganzen völlig konventionell. Genau darin könnte aber der historische Wert dieser Korrespondenz liegen. Sie spiegelt die tragische Verwirrung von ›ordentlichen‹ Menschen in außerordentlichen Zeiten. Heute wird unsere soziale und politische Realität ganz anders gefiltert. Wir, die wir jeden Tag Dutzende von E-Mails versenden, haben fast vergessen, was es seinerzeit hieß, einen ersehnten Brief zu bekommen. Man küsst E-Mails oder digitale Fotos nicht! Heutzutage können wir versuchen, uns auf die Bücher, Gedichte, Filme oder Zeitungen, die Ernst und Lilos kulturelle Welt bestimmten, einzulassen. Unser Blick, unsere Perspektive, bleibt eine andere. Wir sind Kinder von Twitter und E-Mail, daran gewöhnt, ständig Tausende von Eindrücken zu verdauen. Unsere Gesellschaft ist medial geprägt, pluralistisch, relativierend. Es fällt uns schwer, in jene intakte Welt von damals, mit ihren festen Überzeugungen, einzudringen. Ernst und Lilo waren temperamentsmäßig sehr verschieden. Bei beiden war die emotionale Intelligenz jedoch hoch entwickelt. Beide waren starke und eigenständige Persönlichkeiten, aber auf die Dauer fanden sie meistens einen Weg, einander zu verstehen und zu erreichen. Auch mit Tinte und Feder. So blieben Lilo und Ernst dabei. Sie schrieben und schrieben. Die Stärke ihrer Liebe wird durch die Intensität ihrer Korrespondenz dokumentiert. Trotz häufiger Erschöpfung schrieben sie einander fast jeden zweiten Tag. 168

Die Bedeutung der Briefe

Als Lilo einmal einen von Ernsts Briefen als dürftig beschrieb, verteidigte er sich mit dem Satz: »Ich falle abends todmüde ins Bett.«279 Und dann drehte sich der Spieß um, und Lilo musste sich für einen kurzen Brief entschuldigen. Meistens aber waren ihre Briefe detailliert und erstaunlich offen. Lilo spricht freimütig von der sogenannten ›Tante‹ (ihrer Periode), Ernst von Onanie. Im Sommer 1941 gestand Lilo: »Ich habe mir schon öfter des abends einen großen Grog gebraut. (wir haben’s ja!) Mit Gurgeln und hei­ ßer Milch halte ich mich auf den Beinen. Nun stellt sich die jedes Jahr fällige Bindehautentzündung ein. Ist doch komisch. Habe ich vor der Ehe nie gehabt. Heinke und Hartmuts Augen eitern noch etwas.«280 Ernst konnte von Depressionen und Tränen reden. Ihm fiel die Ähnlichkeit auf zwischen seinen Briefen an Lilo und dem Tagebuch, das er früher geführt hatte: »Mein Liebling! Früher schrieb ich ins Tagebuch, wenn seelische Hoch- oder Tiefzeiten eintrafen. Heute bist Du, mein Deern, mein Begleiter, der Freud und Leid mit mir teilt.« Lilos Briefe sind noch offener, ohne jegliche ›Schere im Kopf‹.281 Aufmerksam beobachten beide ihre innere und äußere Welt, ohne Scheu, dem Anderen intimste Gedanken, Hoffnungen, Ängste mitzuteilen. Ernsts Treue zum Nationalsozialismus hemmte zwar seine Spontanität. Und wenn es um politische oder militärische Angelegenheiten ging, unterwarf er sich der Parteilinie. Beiden jedoch gelang es, sich das Leben und Denken des Anderen vorzustellen. Die Trennung stimulierte diese Fähigkeit noch. Sie waren entschlossen, die Kluft zwischen ihren verschiedenen Welten durch die Briefe zu überbrücken. Lilo stellte sich den Staub, Schweiß und die Erschöpfung Ernsts während der Eilmärsche in der schonungslosen Hitze des Sommers 1941 lebhaft vor; ebenso die nassen, schlammigen Wege im Herbst, die beißende Kälte im russischen Winter. Alles vermochte sie geistig mitzuerleben. Ernsts Fähigkeit, die Langeweile und Frustration Lilos mit ihrer endlosen Haus- und Gartenarbeit zu verstehen, war ebenso beträchtlich. Deutlich nahm er ihre Schwierigkeiten mit den Verwandten wahr, ihre Sorgen um die Kinder, auch ihre Einsamkeit. Wie Lilo schrieb: »wie schön Du Dir alles ausmalst, mir wurde ganz weh ums Herz.«282 Die Briefe bieten uns Schnappschüsse der Ereignisse, durch die enge Linse ihrer ganz spezifischen Lage aufgenommen. Wenn man Lilos Briefe liest, riecht man den Garten in Wrohm, und bei Ernst nimmt man an den Gesprächen der Soldaten teil. Man spürt Lilos Aufregung, wenn sie den aufpeitschenden Reden Goebbels oder Hitlers am Radio lauscht. Ernsts Stoizismus, aber auch Lilos wachsende Ent‌täuschung und Verzweif‌lung treten klar zu Tage. Schon im Herbst 1941 beurteilte Lilo das sogenannte Unternehmen Barbarossa sehr pessimistisch: »Von Moskau hört man nichts. Ich glaube nicht, dass noch ’was mit Moskau unternommen wird. Es wird wohl zum Stellungskrieg kommen, es werden schon Bunker mit Öfen ge­ Die Bedeutung der Briefe

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baut. Dann liegt Ihr also den langen kalten Winter in der Erde und im Frühjahr geht’s dann weiter. Ich habe allen Glauben verloren. Noch zwei Jahre Krieg, dann vielleicht sieht man ein Ende. Die Zukunft sieht schwarz aus, es macht wirklich keinen Spaß mehr zu leben!«283 Deutschland sei wie ein ausverkaufter Laden, meinte sie verdrossen: Schuhe, Kleidung, Bonbons, Zigaretten seien nirgendwo zu bekommen. Aus der Zeit von 1935 bis kurz nach Ernsts Tod im Februar 1942 sind insgesamt 1 026 Briefe und Karten erhalten. Auch gibt es viele Fotos aus den entsprechenden Alben. Überraschend ist, dass Ernst fast doppelt so oft Post an Lilo schickte wie sie an ihn. Allerdings waren darunter viele kurze Karten, während Lilo ihm viel mehr Päckchen sandte. Die Briefe von der Front waren für Lilo ihr »tägliches Brot«, gaben ihr neuen Mut und Freude. »Meine Post aus dem Felde ist mein Heiligtum, aus dem ich in freien Stunden immer wieder Kraft schöpfe«, erklärte Lilo einmal. »Post, Post, das ist alles.« »Ach, wie wurde mir beim Lesen das Herz so weit!« Auch die zweijährige Tochter lernte schnell, wie wichtig Briefe für ihre Mutter waren: »Bei jedem Brief und Päckchen, das kommt, ruft Heinke sofort: Pappi!«284 Es besteht kein Zweifel: Die Briefe, Postkarten, Päckchen und Fotos waren für beide lebensnotwendig. Als Ernst bei seiner Ausbildung in Lübeck war, konnte er ein paar Mal mit Lilo telefonieren. Die Kommunikation geschah aber überwiegend durch die Briefe. Die Pakete konnten auch groß sein, Äpfel, Kuchen, Kleidung enthalten. Leider müssen wir uns diese Pakete bildlich vorstellen. Aus Frankreich schickte Ernst Datteln, Feigen, Zitronen und Spielzeuge für die Kinder. Lilo verpackte mit viel Liebe zahllose Päckchen mit Schokolade, Zigaretten, Kerzen, Textilien, die nach Lübeck oder Potsdam oder an die Front gingen. Auch sind die Sendungen mit Ernsts sauberen und gebügelten Kleidern nicht zu vergessen! Die deutsche Post, sowohl zivil wie auch die Feldpost, funktionierte bestens, selbst im Krieg.285 Die Briefe enthielten oft detaillierte Nachrichten über die Kinder, informierten über Geldprobleme, Besuche von Familie und Freunden, über den Lauf des Tages, ob zu Hause oder an der Front. Vor allem teilten sie Freude und Trauer mit, boten Beruhigung und dienten – vor allem bei Lilo – dazu, Dampf abzulassen. Sie brachten Lilo »einen Sonnenstrahl«. Der Empfang eines Briefes wurde gefeiert, und mit einem »Rausch« verglichen. Ernst verglich Lilos Handschrift mit einem Kuss und wurde unwillig, als sie mal einen getippten Brief schickte. Anfang 1940 freute sich Lilo: »Zwei liebe Brief von Dir liegen vor mir. Ach Du, Deine Briefe sind so wundervoll und bedeuten mir so unendlich viel. Wenn Du von unserer Liebe sprichst, muss ich immer an mich halten. Du sagst alles so wunderbar und findest Worte, die mir ins Herz gehen.«286 Ohne Luft konnte sie nicht atmen; ohne seine Briefe nicht leben. 170

Die Bedeutung der Briefe

Briefe konnten aber auch alarmierend sein. Einmal bekam Lilo einen Brief mit dem Namen von Lt. Magerhans als Absender: »Als ich heute mor­ gen den Feldpostbrief mit der unbekannten Handschrift sah und dann den Absender Lt.  Magerhans las, durchfuhr mich ein eisiger Schrecken und die Knie wurden ganz weich. Ich klopfte Vater aus der Schule raus und konnte vor Aufregung kaum sprechen. Ich bin dann nach oben gestürzt und konnte mich nicht zwingen, den Brief zu öffnen. Vater kam nach, meinte, vielleicht bist Du nur verwundet, ich sollte doch lesen, bis er endlich schimpfte und ich den Brief aufmachte. Ich überflog beide Seiten und sah dann zum Schluss deine geliebten Schriftzüge!«287 Sie fürchtete immer das Schlimmste, wenn eine Woche ohne Briefe verstrich: »Nun haben alle Männer geschrieben, nur ich habe kein Lebenszei­ chen von Dir. Ich bin fast am Rande und befürchte das schlimmste. Kann es kaum noch ertragen. Hans schrieb schon 2 mal. Die Leute sehen mich schon so komisch an.«288 Die Briefe, die Fotos aus der Heimat, die ersten Wörter der Kinder, ihre Krankheiten – Erkältung, Keuchhusten, Masern –, ihre Abenteuer in Haus und Garten befreiten Ernst für einen Augenblick von den Belastungen des Lebens an der Front.289 Sie lieferten ihm ein Bild von einer anderen Welt, einem heimatlichen Paradies, und halfen ihm, weiterhin den Einmarsch in Russland zu idealisieren, dessen vermeintliches Ziel es war, dieses Paradies zu erhalten und sogar zu vergrößern. Es war sicherlich anstrengend, Briefe von dieser Länge und in dieser Häufigkeit zu schreiben, so lang und so oft. Lilo musste häufig bis spät in die Nacht hinein auf‌bleiben, um einen Brief fertigzustellen. Und Ernst setzte sein Schreiben auch unter den schwersten Kämpfen fort; er kritzelte eine Karte auf dem Bauch liegend oder auf dem Rücken des Pferdes. Einige mit Bleistift geschriebene Briefe sind heute fast unlesbar. Lilo wusste aber seine Entschlossenheit zu schätzen: »Wie ich mich freue und Dir dank­ bar bin, dass Du so fleißig und regelmäßig schreibst. Ich glaube, ich bin eine der wenigen Frauen, die so viele liebe Post aus dem Felde erhalten. Einen so regen Briefwechsel haben wohl nur verliebte und jungverheiratete Paare.«290 Wahrhafte Lawinen von Briefen und Geschenken wurden vor Geburtstagen, Hochzeitstagen, Pfingsten, Ostern und vor allem vor Weihnachten abgeschickt. Ernsts Mutter, seine Geschwister, sein Schwager Dieter und andere Verwandte und Freunde – alle schrieben ihm. Bis zu sechzehn Briefe konnten an einem Tag ankommen! Lilos Geburtstag war am 4. August. 1941 schrieb sie an Ernst: »Morgen ist der 4., mein Liebster. Es wird ein wehmütiger Tag werden, der dritte Geburtstag ohne Dich. Ich weiß auch ohne Brief, dass Du an mich besonders lieb denkst und mir verbunden bist. 28 Jahr, mit 22 lernte ich dich kennen. Sechs kurze, inhaltsreiche Jahre haben uns un­ endlich reich und glücklich gemacht, trotz allem Schweren.«291 Die Bedeutung der Briefe

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Es regte beide auf, wenn Briefe aufgehalten wurden. Ernst wollte immer sofort über Kinderkrankheiten unterrichtet werden. Er schlug ihr vor: »Schnucki, schickst mir mal wieder einen Brief mit ›Extrapost‹. Mal sehen, wie schnell oder langsam das hier geht. Schreibst auch einmal, wie lange die Feldpost läuft? Ich glaube, das wird eine lange Zeit sein.«292 Ihre Briefe wurden von ihm buchstäblich verschlungen. Nach Möglichkeit sollten sie zwei Seiten lang sein, weil er sich ohne ausführliche Post verloren vorkam. Ernsts stete Sorge um Frau und Kinder war echt, konkret und wohl überlegt. Wegen seiner detaillierten Fragen und seiner psychologischen Kommentare in den Briefen wissen wir genau, wie es im Familienleben zuging. Lilo und Ernst konnten sehr direkt, fast schroff miteinander sein. Wenn Ernst nicht auf ihre spezifischen Fragen einging, ließ Lilo nicht locker. In einem seiner Briefe meinte Ernst: »[…] ich lasse mich so gern von Deinen Worten streicheln. Nicht immer tust Du das, wohl sind Deine Briefe immer lieb und gut, aber manchmal unmöglich. So können nur Liebende schreiben, Du Süße Du!«293 Lilo wusste, dass ihre Worte ihn verletzten konnten. »Bist Du nicht ganz zufrieden mit meinen Briefen, und erschwe­ ren sie Dir das Aushalten? Gelt, ich jammere zu viel und lass mich gehen, ja? Es tut mir leid, mein Ernst, es kommt wohl, dass ich gewöhnt bin, Dir alle in­ neren Regungen und Empfindungen mitzuteilen. In meinen Briefen an dich schütte ich dir immer mein ganzes Herz aus und zeige mich ohne Maske. Es ist ja wahr, Du darfst nur mutige und frohe Briefe kriegen, die Dir die Schwere des Daseins etwas erhellen. Glaub mir, ich lasse mich nicht unterkriegen und äußer­lich merkt mir kein Mensch etwas an. Nur mit Dir spreche ich offen, dann, wenn der Tageslärm abgeklungen und ich horchte nach innen.«294 Die Briefe wurden einmal gelesen und dann im Bett oder Lager wieder und wieder. Lilo und Ernst vereinbarten eine Zeit, vor allem am Abend, an den Anderen zu denken, um sich vorzustellen, wie es wäre, wenn er / sie gegenwärtig war. Aber Ernst erkannte sehr wohl: »Man kann nie die Wirk­ lichkeit durch Briefe ersetzen.«295 Wegen der detaillierten Beschreibungen in den Briefen konnten sich beide ein ziemlich genaues Bild machen von den Lebensbedingungen des Anderen. Sie ›hielten Kolloquium‹ auch mit den gerahmten Fotos des Partners. Voller Stolz stellte der Leutnant die Fotos von Frau und Kindern seinen Männern und Besuchern im Zimmer oder im Bunker vor. Sie verwendeten eine große Zahl von Kosenamen füreinander. Ernst redet von Schnucki, Schnuckilein, mein Deern, Liebling, der Angelpunkt mei­ ner Sehnsucht. Lilo nennt ihn: Butzi, mein großer Junge, mein lieber Ernst. Die Sprache der Briefe war selten originell; wichtiger war ihre emotionale Energie. Sie beschrieben ihre Liebe als tief, einmalig, als eine geistige Gemeinschaft, als Lebenslust: »Die Sehnsucht ist so groß und das Blut singt und strömt und ein übervolles Herz muss sich Luft machen.«296 Ernst konnte 172

Die Bedeutung der Briefe

von »heißem Erschauern und stiller Andacht« reden, in sentimentale Phrasendrescherei verfallen. Im Herbst 1941 erinnern Ernsts liebevolle Briefe Lilo an ihre Verlobungszeit, »die so voller Heimlichkeiten war. Wie schön war die Zeit, in der wir uns näher kamen, so unverfälscht und einmalig.« Diese Briefe weckten glückliche Erinnerungen, ließen sie für einen Moment die Gegenwart und den Krieg vergessen und schürten Hoffnung auf eine bessere Zukunft.297 Der Krieg hatte sie räumlich weit voneinander entfernt. Die primäre Funktion ihrer Briefe, Postkarten, Päckchen und Fotos war – wie für zahllose andere junge Paare auf beiden Seiten des Krieges  –, diese ›Tyrannei der Entfernung‹ zu mildern. Unzählige Volkslieder und Balladen erinnern uns daran, dass Kriege immer mit dem Trauma der Trennung einhergehen. Aber Ernst und Lilo waren hinsichtlich ihres Temperaments so verschieden, dass Krach zwischen ihnen von Anfang an unvermeidbar war. Ernst mochte zwar Mitleid für seine »gute, liebe Lilo« haben, als sie ihre Einsamkeit beklagte, wies sie aber auch in ihre Schranken: »Herzlieb, eine Hilfe ist immer der Gedanke an die Gemeinsamkeit so vie­ ler Schicksale. Ich erlebe dieses Gefühl: Du bist nicht allein in dieser Tren­ nung von Weib und Kind, neben Dir stehen die unzähligen Kameraden mit ähnlichen Sorgen. Bei Dir ist es schwieriger. Auch Du siehst die Häuser, denen ein gleiches Schicksal auferlegt wurde, aber daneben stehen die Menschen, die durch die Umstände oder auch durch Schmierereien vor schweren Stunden bewahrt blieben. Liebling, lass diese Menschen. Ich möchte jedenfalls [nicht] in […] Betten liegen, während meine Kameraden an der Front ihren männlichen Mut beweisen. Ich weiß, dass Frauen es am schwersten haben, aber auch wir gehen nicht verantwortungslos in den Kampf. Ich weiß aber meine Pflichten, um vor meinem Gewissen Ruhe zu haben. Ich erfülle sie freudig, und weiß bestimmt, dass Du mir im Herzen zustimmst. Lieber einen toten Mann als einen Feigling besitzen.«298 Zunächst einmal war die Trennung eine geographische. Nach ihrer Verlobung hatte Ernsts Mutter ihnen eine zweijährige Trennung auferlegt. Schleswig-Holstein und Vorpommern liegen sehr weit voneinander entfernt. Endlich durften sie heiraten, aber ihr Zusammenleben in Wrohm dauerte nur ein Jahr. Von dieser Zeit an mussten sie einen Weg finden, um ihre Beziehung zu bewahren und zu vertiefen, obwohl sie einander kaum sahen. Viele Metaphern in ihren Briefen drückten ihr Bemühen aus. So schrieb Ernst, als er Lilo verließ, er habe ihr Herz im Auto, im Zug, mitgenommen; oder er höre es im Ausbildungslager für sich schlagen. Mit der geographischen kam aber auch die kulturelle Entfernung. Lilos Welt war durch Haus und Garten begrenzt. Ernst fuhr nach Frankreich, Die Bedeutung der Briefe

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hatte die Kameradschaft von anderen Offizieren und von seinen Männern, ritt auf seinem Pferd. Der Lauf seiner Tage hatte mit den ihren nichts gemein. Er konnte seine Ausbildung, sein Leben als Soldat bejahen, während für Lilo das Dorfleben beengend war. Nur die Kinder machten ihr Freude. Er fühlte sich in Bewegung. Sie fühlte sich verlassen, steckengeblieben. Die Trennung während ihrer zweiten Schwangerschaft war sehr schwierig. Bei der Geburt von Hartmut war Ernst nicht da. Besonders schmerzlich empfunden wurde immer die Trennung zu Weihnachten. »Ein Tag vor Heiligenabend kam Dein so heißersehnter Weihnachtsbrief. Mein Ernst, wie hast Du mein Herz gerührt, wie bist Du lieb und mir so verbunden. All’ die guten Vorsätze, tapfer zu sein, waren weg. Es schlug über mir zusam­ men! Auch ich gelobe Dir unbedingte Treue und endlose Liebe, und nie wird es anders sein! Es ist so schwer, Opfer zu bringen, wenn es das Teuerste auf Erden betrifft. Ich kann leider nicht sagen, dass es aus bereitem Herzen kam. Ich will mein Glück halten, mit aller Macht, die mir zur Verfügung steht. Die Sehnsucht ist so groß und das Blut singt und strömt und ein übervolles Herz muss sich Luft machen. Da hilft mir dann mein Kopf‌kissen! Wie gerne wäre ich dann Dein, spürte Deine lieben Hände und Deine Nähe, ließe mich so gern küssen und möchte in Dir versinken.«299 Ein Brief nach dem anderen dokumentiert Lilos wachsende Ungeduld und Zweifel, ob Ernst jemals Urlaub bekommen würde. Zu Pfingsten 1941 waren beide zum letzten Mal zusammen. Nach dem Überfall auf die Sowjetunion verlor Lilo jegliche Hoffnung auf Urlaub. Briefe blieben von nun an die einzige Brücke zwischen ihnen. Und wenn der Briefverkehr dann auch noch durch eine Postsperre aufgehalten wurde, überkamen Lilo Trübsal und Empfindungen von Hilfslosigkeit oder Wut. Sie fiel von einem Extrem ins andere, und lud diese Gefühle dann bei Ernst ab. Hinter diesen persönlichen Spannungen lag die Unvereinbarkeit zweier Welten: die der Maschinerie des Krieges und die des Familienlebens. Obwohl Lilo das nie artikulieren konnte, ahnte sie, dass ihr geliebter Mann dem Volk, bzw. dem Krieg geopfert wurde. Hier liegt die Bedeutung der Briefe. Sie bezeugen den entschlossenen Versuch zweier leidenschaftlich Liebender, ihre Beziehung unter unmöglichen Bedingungen und über Grenzen aufrechtzuhalten. Zu Hause fühlte Lilo sich leer: »Ich habe aber auch wirklich keinen Spaß mehr am Leben, ich lebe hier in den Tag hinein ohne besondere Aufgaben ohne ein Vorwärtsstreben wie in Wrohm. Du bist weit, weit weg, schon eine endlose Zeit. Monat um Monat, Jahr um Jahr vergeht weiterhin. Es kann noch 2 Jahre dauern, sicher wird es das.« »Ich kann einfach keine Begeisterung mehr für den Krieg auf‌bringen. Hierdrin scheiden sich unsere Welten. Sprechen wir nicht mehr davon, das ist wohl das Beste. Ich habe es satt bis oben hin. 2-ein 174

Die Bedeutung der Briefe

viertel Jahr bin ich ohne Dich. Und wie lange wird es noch dauern? Man sieht kein Ende vor sich und das macht so mutlos. Ich bin innerlich so unbefrie­ digt, so zerrissen, komme mir überflüssig vor, mir fehlt einfach der Mann, für den ich sorgen und lieben kann, ich liege brach, und das ist nie gut.«300 Es dürfte für Ernst nicht leicht gewesen sein, Lilos traurige Briefe zu lesen. Im Frühling 1941 konnte sie sich noch freuen, als sie von den deutschen Siegen hörte. »Wenn die Prinz Eugen Fanfare ertönt, fiebere ich der Meldung entgegen und bin dann ergriffen und stolz über die Erfolge. Heute Mittag das Deutschlandlied trieb mir die Tränen in die Augen, Belgrad genommen.«301 Als Frau konnte sie die militärischen Erfolge aber nicht sehen, ohne an die Opfer und Entbehrungen, die dahinter standen, zu denken. Schon im Herbst, als es um Ernst persönlich ging und sie ahnte, dass er in Gefahr war, war aller Stolz vorbei. Die Postsperre im Dezember 1941 vertiefte den Abgrund zwischen Ernst und Lilo. Symbolisch zeigte sie den Zusammenstoß zwischen den Zwängen eines Krieges und den Erwartungen Lilos. Ernst gegenüber seufzte sie: »Wenn Du wüsstest, wie schmerzlich ich auf Post von Dir warte. Tag auf Tag vergeht, ich vertröste mich immer auf die nächste Post, es kommt nichts.« Als sie von ihrem Cousin Hans-Joachim Friedrich hört, dass in Russland kein Urlaub gegeben werde, schrieb sie »es blutet mir das Herz«. Trotzdem nährte sie unsinnige Hoffnungen: »In einer Woche ist Weihnachten. Trotz aller negativen Aussagen stehe ich wie auch voriges Jahr bei jedem Omnibus am Fenster und schaue nach dir aus. Meine Vernunft sagt mir, es kann nicht sein und das Herz ruft dazwischen, vielleicht doch!«302 Im Advent 1941 musste Ernst akzeptieren, dass sie jetzt zum dritten Mal Weihnachten getrennt feiern würden. »So muss es denn sein, dass wir auch die dritte Weihnacht getrennt feiern. Es ist bitter. Ich nährte immer wieder die Hoffnung, weil ich Euch so lieb habe und euch zu gern die Freude gemacht hätte, Euren Vati und eure Mut­ ter zu haben und gemeinsam das schöne Fest zu erleben. Es ist unmöglich. Die Versorgung der Truppe für die schneereichen Monate, das Heranbrin­ gen der nötigen Munition ist wichtiger als der Urlaubsverkehr. Man rechnet mit Beginn des Urlaubs zu Anfang bis Mitte Januar. Herzlieb, du hast recht, wir wollen die Hoffnung auf das ›vielleicht bald‹ im Herzen tragen und uns auf das Wiedersehen freuen. Mein Liebling, eine gesegnete Weihnacht wünsche ich Dir und viel Freude am hellen Glanz staunender Kinderaugen. Auf unsere Große wird der Lich­ terbaum in seinem Glanz besonders wirken. Heinkele ist nun schon in die Welt des Magischen, Fantastischen eingetreten. Ich glaube, es wird für unsere Deern eine besondere Weihnacht. Sie darf den Baum vorher nicht sehen, dann wird sie ihn wie etwas Wunderbares erleben. Es wird wie im Die Bedeutung der Briefe

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Märchen sein. Ach meine liebe Lilo, was gäb’ ich drum, könnte ich die Augen unseres Mädels beim Eintritt in die Stube sehen. Sie werden weit geöffnet sein mit einem unsagbar glücklichen, träumerischen Glanz. Ihre Backen werden glühen und schließlich wird das übervolle Herz sich Luft machen und ihr kleiner Mund wird jubeln und singen. Hartmut hat diesen Abstand von den Dingen noch nicht. Er weiß und fühlt noch kaum etwas vom Ich und Umwelt. Er ist selber ganz Erleben. Aber auch seine Augen möchte ich sehen, heller Lichterglanz wird sich drin spiegeln. Wie wird dann die Stube glänzen […] ›und die Kinder stehen mit hellen Bli­ cken‹! Ach, Liebling, deutsche Weihnacht ist wunderbar, vor allem mit Kin­ dern. Wie wird unsere Große schon mitsingen, wenn der Großvater auf dem Klavier Weihnachtslieder spielt und die Mutti anstimmt. Schade, dass der Vati in diesem Jahr nicht so viele schöne Sachen schicken kann, wie im vorigen Jahr aus Frankreich. Ich freue mich aber mit Dir, Herzlieb, dass die Kleinen und Du so gut verpflegt werden. Den vollen Naschteller werden unsere Trabanten schon leeren und so manchen Leckerbissen vom Baum pflücken. Mein Lieb, Du bringst dann die lieben Kinderchen ins Bett. Gib jedem zwei Küsse, einen vom Vati. Ich weiß, Herzlieb, der Rest des Abends gehört mir. Weit, weit von dir bin ich hier im endlosen Russland und bin Dir doch so nahe. Ich sitze ganz allein in der warmen Stube. Der Adventskranz hängt in der Ecke, in der auch der Weihnachtsbaum stehen wird. Über Raum und Zeit hinweg war und bin ich Dein. Mir ist so herrlich ruhig ums Herz, wenn ich Dein gedenke. Auch der Weihnachtsabend wird Dir gehören. Wir beide wollen uns gemeinsam fin­ den im Dank und im Gebet. Gott der Herr hat mich bisher meinen Lieben erhalten. Ich bin so dankbar und lege mein Schicksal weiterhin vertrauend in seine Hände. Er wird’s wohl machen. In tiefer Liebe bin ich dein Ernst.«303 Was sie trennte, meinte er, sei nicht nur die Entfernung, sondern die qualitative Differenz: »Liebling! Ihr seid eine ganz andere Welt, traumhaft fein, märchenhaft schön, fast wie ein Paradies. Hier ist alles kalt und weiß, weit und leer, arm und traurig, verbrannt und zerschossen, doch bei Euch ist alles schön. Ich weiß, dass da manches übertrieben ist, aber es tut so wohl, sein Glück da­ heim zu wissen und sich ein Bild davon zu machen. Heute erwarte ich wieder liebe Post von Dir, Liebling. Ich bin ein ganz an­ derer Mensch, wenn ich Post von Dir habe. Wann Du diesen Brief wohl be­ kommst? Sicherlich nach dem 24. Wenn’s geht, lass doch bitte den Baum noch bis Mitte Januar stehen. Ich hoffe immer noch, dass ich ihn noch sehen kann. Vielleicht hoffe ich ja vergebens, aber ich bin nun einmal von 176

Die Bedeutung der Briefe

Grund auf Optimist, halte jeden Menschen für gut und möchte allen Men­ schen Gutes tun.«304 Er freute sich auch auf neue Fotos: »Wieder blicken mich Eure lieben Gesichter aus den Bilder an. Wie würde ich mich freuen, wenn zu Weihnachten wieder neue einträfen. Du musst aber auch dabei sein, beim Spaziergang, in der Küche, an der Arbeit, in der Stube beim Schreiben, abends, wenn Du die Lütten ins Bett legst, ach, alles würde mich hocherfreuen. Ob Du von Weihnachten Bilder machst, bitte ja! Ich muss Euch immer wieder ansehen. In inniger Liebe bin ich dein Ernst. Kuss für Heinke u. Hartmut«305 Es folgte der letzte Brief vor seinem Tod: »Liebling! Meine Gedanken sind heute nicht zu bändigen. Immer wieder su­ chen sie dich. Ach, mein Herzlieb, alles will zu Dir, selbst im Traum soll ich von Dir reden, wie mir die Kameraden erzählen. Gestern war ich Dir ganz nahe. Weißt Du mein Deern, ein seliges Versinken im Traum und fast die Er­ füllung. Ich erzählte dir schon früher davon. Ach, war das schön. Ich denke sechs Jahre zurück. Was liegt alles in diesem Jahren! Immer lieb ich dich und küsse dich, Dein Ernst!«306 Die Briefe zeigen die Unmittelbarkeit und Lebendigkeit aller Ego-Dokumente, d. h. persönlicher Papiere, aber man darf ihren Kontext, ihre Begrenztheit nie vergessen. Diese Korrespondenz muss im Kontext gesehen werden mit den Tagebüchern und Briefen derer, die tapfer und einsichtig genug waren, den Widerstand gegen das NS-Regime aufzunehmen. Um einen solchen Briefwechsel angemessen zu beurteilen, muss er auch mit Büchern wie Saul Friedländers Die Jahre der Vernichtung. Das Dritte Reich und die Juden, mit Walter Kempowskis Echolot oder mit Nicholas Stargardts Der Deutsche Krieg verglichen werden.307 Hölderlin beschreibt das Leben nicht nur als im Gespräch, sondern als ein Gespräch. Was Ernst und Lilo betrifft, könnten wir fragen: Gespräch mit wem? Wie eng war ihr Kreis, ihre soziale und kulturelle Welt? Wer war aus ihrem Gespräch ausgeschlossen? Dieses junge Paar, diese jungen Eltern sind recht sympathisch. Sie meinten es wirklich gut. Umso wichtiger sind die kritischen, unvermeidbaren Fragen über die Gefahren von jugend­lichem Idealismus und seine zynische Ausbeutung, über begrenzte Einsicht, ebenso über Kirchen und Behörden, die ihnen keine oder falsche Horizonte boten. Die Bedeutung der Briefe

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Schlusswort It is difficult at times to repress the thought that history is about as instructive as an abattoir.308 Seamus Heaney

Briefe, vor allem Liebesbriefe, sind wie Tagebücher, intim und privat. Im Schutz dieser Intimität äußert man Gedanken und drückt Gefühle aus, die man sonst geheim hält. Weil man Vertrauen zum Partner hat, gelten die normalen Vorsichtsmaßnahmen nicht. In einem totalitären Staat ist das noch mehr der Fall. Die Briefe dieses jungen Paars öffnen uns deswegen ein ungewöhnliches Fenster zum Innenleben von Herrn und Frau ›Jedermann‹ im Dritten Reich. Detailliert, emotional offen und auch gut formuliert, lernen wir die Perspektiven der ›kleinen Leute‹ kennen. Ihre Leidenschaft füreinander ging konform mit ihrer Leidenschaft für den Führer und sein Reich. Sie waren beide Idealisten; die Briefe zeigen, wie dieser Idealismus missbraucht und fragwürdig wird. Die von ihrer Korrespondenz aufgeworfenen Fragen sind komplex, letztlich kaum zu beantworten. Man erkennt die menschliche Qualität der Briefpartner, zur gleichen Zeit aber den brutalen und unmoralischen Kontext, den beide teilten. Wie reimt sich das alles zusammen? Oder ist das, wie Seamus Heaney uns nahelegt, eine falsche Frage? Fast achtzig Jahre später und in einer vollkommen anderen Lebensrealität lebend ist es für den heutigen Leser schwer, sich vorzustellen, wie die Wirklichkeit im Dritten Reich durch die Medien gefiltert wurde. Selbst das Wort ›Propaganda‹ ist irreführend, denn es setzt ein Bewusstsein dafür voraus, dass die öffentliche Meinung gesteuert wurde. Für Ernst und Lilo war Propaganda die Sache der Franzosen und der Engländer. Die Informationen und Nachrichten, die sie im Volksempfänger hörten, in Zeitungen und Zeitschriften lasen, waren für sie einfach die Wahrheit. Sie wurde bestätigt durch patriotische Familientraditionen, durch die Volkslieder, die sie sangen, durch die Literatur in den bürgerlichen Bücherschränken: romantische Novellen, Geschichtsbücher, Kinderbücher. Obendrein waren Millionen von Plakaten im Umlauf. Selbst Schreibpapier und Umschläge trugen Schlachtrufe wie: Den Kämpfer der Front stützt Du, deutsche Frau, daheim.309 Zunehmend war die Schulpädagogik von der NS -Ideologie durchtränkt. Wir haben schon gesehen, wie effektiv die Choreographie der Nürnberger Parteitage und der Heldengedenktage sowie die säkulariSchlusswort

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sierte Liturgie der HJ, des BDM, das Marschieren der SA war. Jeder Schultag wurde mit »Heil Hitler« angefangen, Bilder des Führers hingen an den Wänden, überall wurden die Hakenkreuz-Fahnen geschwenkt, mit Andacht gehisst und eingezogen. Durch ihre Kontrolle der Medien konnten Hitler und Goebbels den Einzelnen im Wohnzimmer direkt ansprechen. Selbst in einem kleinen Dorf wie Wrohm waren propagandistische Filme zu sehen. Sehr beliebt war die bombastische Wochenschau, die im Kino vor dem Hauptfilm gezeigt wurde. Ernst und Lilo sahen sich den berüchtigten Film Jud Süss an. Der Film stellt einen jüdischen Geldverleiher im 18. Jahrhundert vor, der für angebliche Verbrechen gehängt wurde. Angeblich hatte er eine deutsche Frau verführt. Die NS-Propaganda war nicht immer erfolgreich. Wenn sie übertrieben war, wie beim Film Der ewige Jude, kam sie nicht an. Während seiner Potsdamer Zeit war Ernst nicht immer begeistert von den Filmen, die angeboten wurden. Reine Unterhaltungsfilme waren auch populär, und viele Schlager hatten einen melancholischen Unterton, der nicht unbedingt mit dem NS-Kampfgeist vereinbar war. Man denke an Lili Marleen, oder Hörst Du mein heimliches Rufen, die zu Lilos Lieblingsliedern gehörten. Christ­ liche Werte und Frömmigkeit waren nie völlig abwesend, aber in der öffentlichen Sphäre kaum bemerkbar. Ernst und Lilo hatten fast keine Kontakte außerhalb Deutschlands. Abgesehen von Ernsts kurzen Reisen mit der Hitlerjugend sind sie auch nie in andere Länder gereist. Sie hatten keinen Zugang zu unabhängigen Quellen über politische Hintergründe und militärische Entwicklungen.310 Viele Fragen, die uns beschäftigen, tauchten für sie nie auf. Die sogenannten Sekundär-Tugenden  – Loyalität, Pflicht, Disziplin, Ordnung  – übten auf viele Menschen eine Macht aus, die uns heute unvorstellbar ist. Ernst und Lilo hatten keine führenden Funktionen. Als Anhänger des Nationalsozialismus waren sie gleichwohl in vielerlei Hinsicht für ihre Zeit typisch. Auch lange vor dem Blitzkrieg in Polen und Frankreich war man im Kreise ihrer Familien und Kollegen der Meinung, dass eine neue, aufregende und heroische Zukunft für Deutschland angebrochen sei. Man erinnere sich zudem, dass fast jede Institution im Lande vor der nationalsozialistischen Macht und Ideologie kapituliert hatte: das Militär, das Justizsystem, die Universitäten, Vereine und Verbände, weitgehend auch die Kirchen. 1933 schloss der Papst ein Konkordat mit dem Reich, ein Drittel der Protestanten schwamm mit der rassistischen Welle mit, und der begrenzte Widerstand der Bekennenden Kirche in Bezug auf T‌heologie und kirchliche Selbstständigkeit scheint Ernst und Lilo unbekannt gewesen zu sein. Die Hetze gegen Pfarrer und Gemeinden erwähnen beide in ihren Briefen mit keinem Wort. 180

Schlusswort

Es war wohl die Genugtuung, dass Deutschland dabei war, seine ver­ lorene Ehre und Freiheit wiederzugewinnen, die sie so tief bewegte, und die Freude darüber, dass sie an diesem großartigen Projekt teilnehmen konnten. In der Person von Hitler wurde dieses Ziel verkörpert. Seine geniale Leitung würde es zustande bringen. Die Verehrung Hitlers kannte keine Grenzen. Im März 1938 berichtete Ernsts Mutter, Frieda Sommer, dass eine dreistündige Rede Hitlers sie »ganz im Bann« gehalten habe, so dass sie nachher einen langen Spaziergang im Sonnenschein machen musste, um sich wieder zu beruhigen.311 Wenn Hitler sprach, klärte sich alles. Vor fast achtzig Jahren wurden diese Briefe verfasst, aber die Worte springen uns entgegen, als ob sie erst gestern geschrieben wurden. Uns wurden sie nicht geschrieben, und wir haben lange überlegt, ob wir ihre Veröffentlichung verantworten können. Wir haben versucht, die Briefe sine ira vorzustellen, die darin enthaltenen Äußerungen weder zu ver­ urteilen noch zu entschuldigen. So spiegeln sie die intimen Tragödien des Krieges wider, das Wunder und die Tiefe menschlicher Liebe, die Hilfs­ losigkeit und begrenzte Einsicht der ›kleinen Leute‹, die in solche Feuersbrünste hineingefegt werden. Durch die Jahrhunderte hatte Deutschland ein reiches Erbe an Literatur, Musik und Kunst entwickelt. Es wurde von Ernst und Lilo gepflegt. Ernsts Geige ist ein Symbol dafür, wie andererseits sein Schwert für Deutschlands militärische Geschichte steht. Die Liebe des Paars zur Heimat verband Kultur und Krieg, und man fragt sich, ob es genau diese Liebe war, die ihre Verehrung von Hitler erklärt. Die Überzeugung, dass er diese Heimat gegen die Kommunisten verteidigen musste, wird in Ernsts Briefen aus Russland immer wieder bezeugt. Je näher man den Blick auf das tägliche Leben im Dritten Reich richtet, desto schwieriger ist es, pauschale Urteile zu fällen: politisch, moralisch, intellektuell, theologisch. Die Erfahrungen von Ernst und Lilo dürfen auch nicht vorschnell verallgemeinert werden, als würden sie alle ›kleinen Leute‹ vertreten. Beide fallen aus dem Rahmen des Normalen, wie ihre ungewöhnlich reiche Korrespondenz zeigt.312 Ernst war ein begabter Lehrer und erwähnt, dass er nicht immer mit den anderen Offizieren zurechtkomme. Lilo war auch irgendwie anders. So ängstlich, wie sie auch manchmal sein konnte, nannte sie die Sachen beim Namen, stellte unbequeme Fragen über den Krieg, den Glauben. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass die Briefe nur das berichten, was Ernst oder Lilo sehen konnten oder wollten. Viel bleibt uns unbekannt, unbenannt. Was für Rechtsbrüche hat Ernst in Frankreich gesehen? Woher stammen die Geschenke, die er an Lilo schickte? In den Briefen aus Russland hören wir nichts oder fast nichts, über die Aktionen gegen Juden. Das KZ in Graudenz bleibt unerwähnt. Wir wissen, dass es nicht nur die Schlusswort

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SS war, die grausame Maßnahmen gegen die Partisanen durchführte, son-

dern, dass die Wehrmacht dabei war und als Instrument des Völkermordes fungierte. Da schweigen unsere Quellen. Wir wissen nicht, ob Ernst Sommer solche Gräueltaten beobachtete oder selber Mittäter war. War seine Verschwiegenheit typisch für das ›subtile Schweigen‹ im Dritten Reich? Er sprach gelegentlich davon, dass er hart geworden sei. Selbst die offizielle Regimentsgeschichte spricht von »unumgänglicher Härte gegen Land­ einwohner und Gefangene.«313 Andrerseits sagte Lilo, als sie die franzö­ sischen Gefangenen sah: »Es ist schwer, in den Gefangenen zuerst den Feind zu sehen, wir Frauen sehen erst den Menschen.«314 Ernst konnte auch die Russen mit menschlichen Augen sehen. Wie soll man die Anfälligkeit von Ernst und Lilo für den Nationalsozialismus erklären? Die Briefe stellen die Frage, beantworten sie aber nicht. Sie liefern keinerlei Beleg dafür, dass Lilo und Ernst jemals an Alternativen zum Nationalsozialismus gedacht haben. Ebenfalls schwer einzuschätzen ist die Rolle von Religion, Moral, Pflicht in ihrem Leben. Welche Aspekte vom Nationalsozialismus haben sie besonders angezogen? Was haben sie unter Christentum verstanden? Es ist klar, dass sie nicht völlig unkritisch waren. Ernst befürwortete die Konfirmation von jungen Menschen im Dorf. Lilo verpönte exzessive Sentimentalität zum Land, der Erde, der Natur. Man findet aber keine Kritik am Rassismus und Ethnozentrismus. Die Briefe stellen die echte Menschlichkeit ihrer Liebe neben die Brutalität des Krieges. Lilo und Ernst verstanden ihre Ehe als ein Zusammen­ gehören im Leben und im Tod. Obwohl keiner von ihnen besonders begabt war, weder intellektuell noch kulturell, überwanden sie durch Tinte und Feder die Grenzen, die sie voneinander hätten entfremden können. Ernst gab zu, dass der Feldzug nach Russland ihn härter gemacht habe, aber durch den Briefverkehr blieben Zärtlichkeit, Wärme und Empathie erhalten, wenigstens für Frau und Kinder. Der Krieg zerstörte Lilos Gelassenheit, aber die Konkretheit, Vitalität und emotionale Tiefe der Briefe hielten sie als Mutter und Frau aufrecht und befähigten sie, ihr Leben nach dem Krieg neu aufzubauen. Fast alles in Lilos Leben wurde vom Nationalsozialismus zerstört. Die Wirklichkeit ihrer Liebe überlebte.

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Schlusswort

Nachwort. Eine Pilgerfahrt Im Mai 2001 hörte ich zufällig, dass mein Bruder Hartmut den Gedanken hegte, sich einer ehemaligen Soldatengruppe anzuschließen, die nach Russland reisen wollte. Diese Gruppe wollte nach St. Petersburg und Nowgorod fahren, um in Korpowo an der feierlichen Eröffnung eines neuen Soldatenfriedhofes teilzunehmen. Sie hatten auch vor, andere Friedhöfe zu besuchen und wollten die Gefallenen beider Nationen ehren. Mein Bruder erwähnte nur so nebenbei in einem Telefongespräch diese geplante Reise. Dies traf mich wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Ich lebte in Neuseeland und hatte nur geringen Zugang zu Hartmuts Gedanken und Plänen. Ich wusste zwar, dass er gerne reiste – nach Italien, Griechenland und Nordafrika. Doch war es mir völlig unbekannt, dass er mit dem Verband der ehemaligen Soldaten in Kontakt stand und ein großes Interesse daran hatte, auf den Spuren seines Vaters Russland zu erkunden. Wie es der Zufall wollte, lernte er in seinem Wohnblock in Neu-Ulm einen ehemaligen Offizier der Wehrmacht kennen. Sie kamen ins Gespräch über das Kriegsgeschehen in Russland. Es war nicht leicht für diesen Herrn, sich der Vergangenheit zu stellen, und die Erinnerungen an den Krieg in seinem Gedächtnis wachzurufen. Dieser Offizier hatte eine Verbindung zu Herrn von Mackensen. Er organisierte die wahrscheinlich letzte Reise der alten Soldaten zu den Kriegsgräbern. Es war mir völlig klar, und zwar sofort, dass ich an dieser Expedition teilnehmen musste, und zu Hartmuts Überraschung bestand ich darauf. Schon wenige Monate später flog ich nach Deutschland, nachdem Hartmut großzügig für die Finanzierung aufgekommen war. Anfänglich sah ich diese Reise als Entdeckungsreise auf den Spuren des Vaters, den ich nie gekannt hatte. Ich hatte zur Kenntnis genommen, dass er in Russland gefallen war, doch ich wollte mehr darüber erfahren. Es war dringend an der Zeit, dass ich erkannte, wie fremd mir dieses Land und seine Einwohner waren. Und vor allem drängte es mich, etwas über die letzten Tage meines Vaters in diesem fremden Land zu erfahren. Vor Ort würde ich vielleicht sein Grab finden, und das Geheimnis über sein Leben und Sterben, das ich seit meiner Kindheit empfand, würde sich klären. Ich hoffte, mein Vater würde ein Mensch aus Fleisch und Blut für mich werden. Später verstand ich die Bedeutung dieser Reise für mich; sie wurde zu einer Pilgerfahrt, zu einer Reise durch Zeit und Raum und damit zu einer heiligen Pflicht. Es ging auch darum, meiner Mutter gerecht zu werden. Ernst war für sie eine lebenswichtige Stütze, die es nach seinem Tode nicht mehr gab. Nachwort. Eine Pilgerfahrt

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Erst allmählich wurde sie zu einer eigenständigen Persönlichkeit. Zu wem schöpfte sie Vertrauen, damals und nach dem Krieg? Ernsts Schulkollegin, Elsa Butenschön, wurde eine enge Vertraute. Doch sie war unerreichbar an ihrem Wohnsitz Pinneberg. Vielleicht übernahmen ihre Verwandten Inge und Hans-Joachim Friedrich diese Rolle? Ohne ihren Mann an ihrer Seite war sie gehemmt. Meine Cousine Hannelore, die Tochter von Tudi, Ernsts Schwester, fasste ihre Gefühle zusammen in der Aussage, »ich denke, es lastet ein Fluch über unserer Familie, denn alle Männer fielen dem Krieg zum Opfer.« Lilo hatte große Hemmungen, meinte sie sei nicht kompetent und intelligent genug, um einen Beruf wie den der Apothekergehilfin auszuüben. Niemand riet ihr zu einer Ausbildung. Mir wurde bewusst, dass weder für Mutti noch für Hartmut und mich der Krieg 1945 ein Ende gefunden hatte. Wir waren alle vom Krieg gezeichnet. Die Lilo, die mir aus den Briefen entgegenkam, war eine fähige, kompetente zielstrebige Frau, so gänzlich anders als die Witwe, die ich aus meinen Studientagen im Bonner Talweg kannte, eine Frau, die sich von ihrem Hauswirt, einem ehemaligen SA -Mann, terrorisieren und einschüchtern ließ. Zurück zu meiner Reise. Die Vorbereitungen fielen mir nicht leicht. Während eines früheren Besuches bei meiner Mutter, zu jener Zeit in einer Wohnung in der Londoner Straße in Bonn, sah ich Mutter und Bruder einmal bei der Lektüre der Regimentsgeschichte meines Vaters. Meine Mutter holte dazu auch einige ihrer Briefe an meinen Vater aus einer braunen Spanholzkiste. Nachdem sie mein Interesse bemerkt hatte, schickte sie mir einen getippten Brief von Ernst. Ich hatte aber damals keine Ahnung vom Umfang dieses Briefwechsels. Die Kenntnis vom deutschen Einmarsch in Russland, wie auch die Erfahrungen der verwirrten Generation, die, wie ich, ihren Vater verloren hatte, all dies sollte der Reise nachfolgen. Ich wusste auch wenig von den politischen und rassistischen Zielsetzungen Hitlers. Ich war mir aber bewusst, dass diese Reise seelisch eine Qual werden würde. Seit meinem dritten Lebensjahr fehlte der Vater. Jetzt will ich ihn suchen und mich gleichzeitig von ihm verabschieden, ihm Lebewohl sagen. Sein Tod soll mir gegenwärtig sein, sein Leben ebenfalls. Ich muss so quasi sein Foto vom Klavier entfernen, ihn zu einer wirklichen Person werden lassen. So fliege ich vom kleinen Städtchen Dunedin nach Hamburg. Dort auf dem Flugplatz treffen Hartmut und ich mit der Gruppe zusammen. Sie besteht nicht nur aus Kriegsveteranen, sondern auch aus Menschen wie uns, die dem gefallenen Vater Respekt erweisen wollen, wenn möglich, einen Kranz auf seinem Grab niederlegen. Man trifft sich mit deut­scher Förmlichkeit: Wir begrüßen einander mit Handschlag und stellen uns vor. Es gibt kein Gespräch, kein Treffen des Geistes. 184

Nachwort. Eine Pilgerfahrt

Im Flugzeug nach St.  Petersburg bin ich voller Neugier und auch Be­ sorgnis. Vergleichsweise komfortabel werden wir mit Flugzeug und Bussen durch ein Land reisen, das mein Vater zu Fuß, auf erschöpfenden, oft nächtelangen Märschen, durchquerte. In St. Petersburg besuchen wir den Piskarovskoye-Friedhof, auf dem anderthalb Millionen russische Zivilisten und Soldaten ihre letzte Ruhe fanden. Sie waren die Opfer von Krankheit, Hungersnot und Kampf während der Belagerung Leningrads. Es gelingt mir nicht, die unglaubliche Zahl der Toten zu fassen und das Leiden der Überlebenden. Es ist einfach zu viel. Danach geht die Reise nach Novgorod. Auf dem Hinweg besuchen wir mehrere Friedhöfe. Mich überfällt eine verlegene Scheu, keine eigentliche Trauer. Ich kann keine Beziehung herstellen zwischen mir und den tragischen Ereignissen dieses vom Krieg zerstörten Landes. Der Name Ilmensee ist mir durch die Erzählungen meiner Mutter bekannt. Wir sind nicht weit entfernt von dem Ort, an dem mein Vater gekämpft hatte und wo er fiel. Ich spüre seine Nähe und wünsche mir im Stillen, dass er auf einem deutschen Friedhof am Ufer dieses Sees seinen Frieden gefunden hätte. Dieser See hat mich durch mein Leben begleitet; er zieht mich an. Vielleicht könnte ich an seinen Ufern den Tod meines zu früh gestorbenen Vaters akzeptieren, den ich meine Kindheit hindurch und jetzt im Erwachsenenalter vermisst habe. Es bietet sich hier eine friedliche Szene, und es ist schwer, sich vorzustellen, dass sich vor sechzig Jahren russische und deutsche Soldaten auf den Krieg vorbereiteten. Was mag unseren Mitreisenden, den 37 Veteranen wohl durch den Kopf gehen? Ich bete, dass dieser idyllische Platz nie wieder einen Krieg erleben möge. Dreieinhalb Jahre lang verlief die Front durch diese Gegend. Eine Million russische und deutsche Soldaten fanden hier ihren Tod. Viele wurden nie begraben und Freiwillige aus allen Teilen der Welt suchen heute noch nach ihren Gebeinen. Während des sogenannten Unternehmens Barbarossa starben zwanzig Millionen russische und mehr als zwei Millionen deutsche Soldaten. Undenkbar! Wir erreichen Staraja Russa. Was weiß ich von dieser Stadt mit 40.000  Einwohnern? Sehr wenig. Und doch fangen hier unsere persönlichen Nachforschungen zum Tod unseres Vaters an. Ein russischer Fahrer, Alexander, bietet sich an, uns zu dem Dorf Borki zu fahren, dorthin, wo mein Vater starb. Durch undurchdringliche Birkenwälder mit Elchen, Bären und Wildschweinen geht die Fahrt. Es ist Sommer, man kann Blaubeeren, Moosbeeren und Pilze sammeln. Flach liegen Wald, Moor und Sumpf vor uns. Wir machen in Parfina halt, einem russischen Friedhof. Sehr bewegend, der Anblick alter, verrosteter Helme, die auf Hügeln aufgeworfener Erde liegen, Massengräber. Hier und da ein Kranz. Die schäbige Realität des Krieges: roh, kein Versuch, die Gräber zu verschönern. Das verNachwort. Eine Pilgerfahrt

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lassene Dorf Tuganova – trotz Sonnenschein eine verwüstete Landschaft: Traurigkeit, Melancholie. Alles tot. So viel Tod! Meine Gedanken gehen zu dem traditionellen Maori-Segen:

Kia hora te marino: Möge Ruhe sich verbreiten / Möge der See wie Bernstein glänzen / Und das Schimmern des Sommers / Über deinen Weg tanzen.« Oder John Donnes »Death, be not proud.« Auch Johannnes Chrysostomos (AD  390): »Er, den wir lieben / und ver­ lieren / ​Ist nicht mehr wo er war / Er ist jetzt / Wo immer wir sind.« Unsere Begleiterin, Raissa, überredet den Fahrer des großen Busses, auf den holprigen Straßen nach Borki zu fahren. Wir erreichen Borki am Spätnachmittag, parken den Bus auf einem offenem Platz, der von einigen Holzhäusern umgeben ist. Wo ist die Kirche, von deren Turm aus mein Vater vermutlich die Sicherheit des Dorfes prüfen sollte, ob es von Partisanen und russischen Truppen »gesäubert« war? Briefe bezeugen, dass er beim Verlassen der Kirche erschossen wurde. Etwas hilflos um uns schauend bemerken wir einen alten schwerhörigen Mann und seine Frau, und versuchen, ihnen zu erklären, woher wir kommen. Wir gebrauchen Vokabeln wie »njemets« (Deutsche) und »utaroja mrovaia voryna« (Zweiter Weltkrieg). Er versteht und sagt: »Ja es haben einmal zwei Kirchen hier gestanden.« Dann widmet er sich wieder seinem Kartoffelacker. Wir sind unsicher, was zu tun sei. Ich trenne mich von der Gruppe und finde eine große Birke, die mich schützt. Eine Flut von überwältigenden Gefühlen der Traurigkeit, Ent‌täuschung und Schmerz entlädt sich in mir. Ich habe den Ort von meines Vaters Tod erreicht. Dies ist heilige Erde. In diesem kurzen Augenblick des Alleinseins grüße ich meinen Vater, begegne ihm und sage ihm gleichzeitig »Lebewohl«, während mir die sandige Erde durch die Finger rinnt. Seltsam, dass ich das Gefühl habe, es sei nicht mehr so wichtig, das Grab meines Vaters zu finden. Der Schmerz, den ich empfinde, verbindet mich mit meinem Vater, und ich nehme seinen Tod an. Beim Einsteigen in den Bus spüre ich eine tröstende Hand auf meiner Schulter: Noch ein Pilger, der das Grab seines Bruders nicht gefunden hat. Am nächsten Morgen fährt mich Alexander in seinem 28 Jahre alten Lada zur nächstgelegenen russisch-orthodoxen Kirche. Ist das die Kirche, auf deren Turm Leutnant Kreft meinem Vater das Eiserne Kreuz überreichte? Am Eingang steht eine alte gebrechliche Frau. Sie segnet mich, als ich im Vorbeigehen ein paar Kopeken in ihre Hand schlüpfen lasse. In der Kirche trete ich zu den Andächtigen – es sind alles Kopf‌tuch tragende Frauen. Ich zünde für meinen Vater eine Kerze an und nehme teil an der Liturgie. Es hängt ein Geruch von Armut in der Kirche, mir so vertraut von meiner Zeit in dem sozialen Ghetto in Edinburgh, in dem ich unterrichtet hatte. Der Chor singt. Meine Gedanken sind bei meinem Vater. 186

Nachwort. Eine Pilgerfahrt

Wir fahren zurück nach Borki und spazieren durch das Dorf an dem Fluss Pola. Die Bewohner eines Hauses, das von drei alten Bäumen verdeckt wird, bemerken uns. Alexander zeigt auf die Eiche, die Weide und die Ulme: »Euer Vater hat die Bäume auch gesehen.« So ein Einfühlungsvermögen ist bemerkenswert, denke ich mir. Eine pensionierte Lehrerin, Galina, steht in der Nachmittagssonne auf dem ehemaligen Dorfplatz, der jetzt verlassen daliegt und erklärt, dass auf diesem Platz einmal eine Holzkirche und eine Steinkirche gestanden haben. Die Holzkirche wurde von den deutschen Soldaten verbrannt, die andere fiel den Bolschewiken zum Opfer. Und nach den schweren Kämpfen um Borki herum nahmen die Dorf‌bewohner sich der Toten an und begruben sie. Galina erzählt weiter, dass die Bauern vor den Kämpfen den Soldaten gezeigt hatten, wie man Blockhäuser ohne einen einzigen Nagel bauen kann. Die deutschen Soldaten hätten sich revanchiert, indem sie Spielzeug für die Kinder bastelten und ein Puppentheater aufführten; ein deutscher Arzt habe auch die Hände eines dreizehnjährigen Mädchens operiert, das eine Mine von der Straße aufgehoben hatte. Feinde hatten sich gegenseitig Menschlichkeit gezeigt. Wir nehmen mit freundlichem Lächeln Abschied von Galina. Ich mache die Bekanntschaft von Ludmilla, die lange nach dem Krieg in den sechziger Jahren nach Borki gezogen war. Sie pflückt Augustäpfel aus ihrem Garten und füllt uns alle Taschen voll. Borki wird zur Wirklichkeit; das ehemalige Feindesland wird ein Platz der Freundschaft, des Vergebens und der gegenseitigen Versöhnung. Insgeheim hege ich die Hoffnung, dass mein Besuch in Borki und meine Erinnerungen an dieses verschlafene, verarmte Dorf mit seiner immer schwindenden Einwohnerzahl meine Kinder und Enkelkinder mit ihrem Großvater und Urgroßvater verbindet. Ich möchte gern die Verbindungsperson sein, die die Entfernung zwischen Russland, Schottland und Neuseeland überbrückt. Die Worte des biblischen Jakob, als er die Leiter in den Himmel sah, kommen mir in den Sinn: »Gewiss ist der Herr an diesem Ort.« Zurück in St.  Petersburg fliegen wir nach Hamburg. Hier bei meinen Verwandten lege ich die Äpfel aus Borki und die sandige Borki-Erde auf den Tisch und versuche, das Borki-Erlebnis in Worte zu fassen, versuche, die Namen Ludmilla, Galina und Alexander mit wirklichen Menschen zu verbinden, versuche, die Stimmung dieses Sommertages in Borki heraufzubeschwören – die Wärme der sandigen Erde, die Stille dieses Tages und die Aufmerksamkeit und Rücksichtnahme dieser drei russischen Menschen, die mir erlaubten, traurig zu sein, für diesen deutschen Soldaten zu trauern, der im Winter 1942 mit gerade dreißig Jahren starb. Zusammen mit Hartmut, meinem Vetter Ernst Otto Bech und seiner Frau Elke lesen wir Briefe meines Vaters an seine Familie. Man fand diese Briefe in Lenis Schreibtisch nach ihrem Tod. (Leni war Ernsts Schwester, Nachwort. Eine Pilgerfahrt

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die Mutter von Ernst-Otto.) Elke bemerkt, dass ich jetzt ruhiger bin als vor der Reise nach Borki. Wer die Schönheit angeschaut mit Augen Ist dem Tode schon anheim gegeben. Und doch wird er vor dem Tode beben, Wer die Schönheit angeschaut mit Augen. Ewig nährt der Schmerz der Liebe. Ewig währt für ihn der Schmerz der Liebe, Denn ein Tor nur kann auf Erden hoffen, Zu genügen einem solchen Triebe: Wen der Pfeil des Schönen je getroffen, Ewig währt für ihn der Schmerz der Liebe!315 August Graf von Platen Mit den Äpfeln aus Borki im Koffer kehre ich zurück zum Bonner Seniorenheim am Rhein mit den Worten: »Ich hab was mitgebracht.« Mutti ruht. Der Duft der Äpfel füllt den Raum. Borki ist in Bonn. »Was willst Du denn dort, es ist nicht mehr da«, waren die Worte meiner Mutter vor meiner Abreise. Aber die Äpfel und die Birkendose, gefühlt mit Erde aus Borki, sprechen eine andere Sprache. Mutti sieht ein, dass die Reise eine »sinnvolle Sache war«, mit tiefer Bedeutung für die Tochter. Dies war eher der Anfang als das Ende meiner Beschäftigung mit Borki und mit meinem Vater. Nach meiner Rückkehr begann die intensive Lektüre über das Dritte Reich und die Erfahrungen von Menschen wie meinen Eltern. Ich versuchte u. a., mir ein Bild zu machen von der »vergessenen Generation«, den Kindern der gefallenen Väter und trauernden Mütter, den »Kriegskindern«. Ich verschlang viele Bücher dieser Art. Ich wusste ja jetzt von der Existenz der Briefe, die im Schrank neben Mutters Bett auf mich warteten. Erst nach dem Tod meiner Mutter hatte ich Gelegenheit, sie zu lesen. Ich war völlig überwältigt von ihrer Anzahl, geschrieben in der mir fremden Sütterlinschrift. Der braune Holzkasten ging mit nach Neuseeland. »Nimm sie mit«, meinte mein Bruder, der die Briefe nicht als Dokumente der Vergangenheit verstand. Er beschäftigte sich eher mit zahllosen Publikationen über den Nationalsozialismus und den Krieg. Leider fand er es schwierig, über die menschliche Tragödie zu sprechen. Sein Interesse galt der militärischen Strategie und der irreführenden Politik des Nationalsozialismus. Beim Transkribieren der Briefe war er aber hilfreich und beantwortete geduldig meine Fragen. Den größten Beitrag leisteten mein Vetter und seine Frau Elke. Aber das steht auf einem anderen Blatt …

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Nachwort. Eine Pilgerfahrt

Anmerkungen 1 Lilo / Ernst 30.3.1938. Die Rechtschreibung in den Briefen wurde an die Neue Deutsche Rechtschreibung angepasst. 2 Ernst / Lilo 2.6.1937. Der Begriff »Zigeuner« ist diskriminierend, wird hier jedoch als historisches Zitat verwendet. 3 Ernst / Lilo 4.11.1935. 4 Man denke an den ähnlichen kulturellen Synkretismus in Arthur Mees weit verbreiteten Children’s Encyclopaedia im Vereinigten Königreich. 5 Lilo / Ernst 5.6.1941. 6 Lilo / Ernst 11.9.1940. 7 Lilo / Ernst 31.12.1940. 8 Neil MacGregor, Deutschland: Erinnerungen einer Nation. Mit 335  farbigen Abbildungen und 8  Karten. München, 2017; Wolf Lepenies, The Seduction of Culture in German History. Princeton, 2006. 9 Ernst / Lilo 18.2.1936. 10 Das Buch sollte Geld für die Kriegskinderspende sammeln: Kriegskinderspende deutscher Frauen. Berlin, 1915; 1919 bestellte eine andere Gruppe patriotischer Frauen Michel Hannemanns Traum; Gedichte und Skizzen feiern Soldaten, die nach Frankreich marschieren; in einem Bild, das Michels Traum. Fliegerfahrt zu Hinden­ burg illustriert, sitzen kleine Kinder auf den Flügeln eines Flugzeugs und Michel ruft: »Wenn ich mal Flieger werde / So schieße täglich ich ganz munter / Einen feindlichen Flieger herunter.« Charlottenburg, 1916. 11 Andersens Schönste Märchen. Ed. H. W.  Georg, Berlin, 1898; Heinrich Hoffmann. Der Struwwelpeter. Frankfurt a. M., 1917; Vera Niethammer. Bei Gacks und andere Geschichten für kleine Leute. Stuttgart, 1916; M.  Köhler. Perlguckelchen und Weiß­ mäuschen. Berlin 1900. 12 Ernst / Lilo 1.11.1936. 13 Ernst / Lilo 18.2.1936. 14 Gerda Sommer / Lilo 10.3.1936. 15 Ernst / Lilo 4.1.1936. 16 Ernst / Lilo 18.9.1935. 17 Ernst / Lilo 20.4.1936. 18 Ernst / Lilo 36.1.1926. 19 Ernst 36.1.1936. Einmal ließ der Sturmbannführer seine Männer meilenweit ohne Mäntel im eisigen Wetter marschieren, während er im Auto blieb. 20 Ernst / Lilo 16.12.1941. 21 Ernst / Lilo 5.3.1936 22 Ernst / Lilo 20.4.1936; 21.5.1936. 23 Ernst / Lilo 17.9.1937. 24 Ernst / Lilo 5.3.1936. 25 Ernst 12.7.1936. 26 Tausend Sterne leuchten. Hirts Sammlung deutscher Gedichte. 2.–4. Schuljahr. 2. Ed. Breslau, 1935; Tausendstimmiges Leben. Hirts Sammlung deutscher Gedichte. Bres­ lau, 1932; ein Lieblingsbuch war Reineke Fuchs. Reutlingen, 1923. 27 Lilo 1.8.1936. 28 Lilo 7.3.1936.

Anmerkungen

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29 Lilo an ihre Eltern 25.5.1935; man fragt sich, ob sehr verschiedene religiöse und politische Faktoren hier im Spiel sind; im Rheinland und im Saargebiet waren katholische und sozialdemokratische Traditionen stärker als in Schleswig-Holstein. 30 Lilo / Ernst 26.8.1935; vgl. Annemarie Leppien, Jörn-Peter Leppien. Mädel-Landjahr in Schleswig-Holstein. Einblicke in ein Kapitel nationalsozialistischer Mädchenerzie­ hung 1936–1940. Neumünster, 1989. 31 Lilo / Ernst 19.9.1935. 32 Ernst / Lilo 23.9.1935. 33 Lilo / Ernst 27.11.1925. 34 Lilo / Ernst 25.9.1935. 35 Lilo / Ernst 11.11.1935. 36 Lilo / Ernst 23.2.1936. 37 Lilo / Ernst 3.10.1935. 38 Das Blatt, unter Lilos Briefen gefunden, ist ohne Datum, stammt aber wohl von 1935. 39 Ernst / Lilo 27.10.1935. 40 Lilo / Ernst 5.11.1935. 41 Ernst / Lilo 11.10.1937. 42 Paul Struck / Ernst 23.2.1936. 43 Lilo / Ernst 7.3.1936. 44 Lilo / Ermst 13.5.1936. 45 Lilo / Ernst 7.2.1941. 46 Ernst / Lilo 24.11.1939. 47 Lilo / Ernst 31.10.1937. 48 Lilo 1.2.1938. 49 Schätzungen wurden eingeholt für Klavier und Schreibmaschine im Esszimmer, Kleiderschrank im Flur und ein würdiges Herrenzimmer. Ernst / Lilo 11.11.1939. 50 Ernst / Lilo 25.11.1939. 51 Lilo / Ernst 5.6.1941; es gibt Hinweise auch in anderen Briefen; Ernst / Lilo 19.10.1939; 21.10.1939. 52 Lilo / Ernst 23.4.1941. 53 Lilo / Ernst 25.3.1941. 54 Blut und Ehre. Lieder der Hitler-Jugend. Berlin, 1933; zu den Gesangbüchern in seinem Besitz gehörten auch Der Musikant. Lieder für die Schule. Ed. Fritz Jöde, Berlin, 1930 und Edmund Neuendorff, Volker. Liederbuch. Leipzig, 1930, das nicht nur patriotische und soldatische Lieder bietet, sondern eine gute Auswahl von Volksliedern mit den bekannten Themen: Liebe, die Jahreszeiten, Volksfeste, Wandern. 55 Lilo / Ernst 28.1.1941. 56 Ernst / Lilo 18, 21.1.1940. 57 Ernst / Lilo 3, 6.5.1940. 58 Julian of Norwich. Revelations of Divine Love, Kap. 27, Nr.13. 59 Ernst / Lilo 18.2.1937. 60 Ernst / Lilo 2.8.1939. 61 Ernst / Lilo 23.8.1939. 62 Lilo / Ernst 1.9.1939. 63 Lilo / Ernst 8.10.1939. 64 Lilo / Ernst 25.9.1939. 65 Lilo / Ernst 1.9.1939. 66 Lilo / Ernst 4.9.1939. 67 Lilo / Ernst 11.9.1939. 68 Ernst / Lilo 3.9.1939. 69 Ernst / Lilo 30.9.1939; 7.11.1939.

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Anmerkungen

70 71 72 73 74 75 76 77 78 79 80 81 82 83 84 85 86 87 88 89 90 91 92 93 94 95 96 97 98 99 100 101 102 103 104 105

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Lilo / Ernst 5.11.1939. Ernst / Lilo 30.11.1939. Ernst / Lilo 9.1.1940. Ernst / Lilo 29.5.1940. Lilo / Ernst 1.12.1939. Lilo / Ernst 31.121939. Ernst / Lilo 6.3.1940. Ernst / Lilo 30.10.1939; 15.11.1939; 19.2.1940. Lilo / Eva Falkemeier 24.4.1946. Ernst / Lilo 14.3.1940. Ernst / Lilo 22.6.1940. Ernst / Lilo 21.5.1940. Ernst / Lilo 12.6.1940. Ernst / Lilo 18.6.1940; 22.6.1940. Ernst / Lilo 9.6.1940. Ernst / Lilo 12.6.1940. Ernst / Lilo 22.7.1940; 31.7.1940; 2.8.1940; 7.8.1940. Ernst 19.8.1940; 4.9.1940. Vgl. Richard Vinen. The Unfree French. Life under the Occupation. New Haven and London, 2006, 99–132. Ernst / Lilo 11.12.1940. Ernst / Lilo 12.1.1941. Ernst / Lilo 23.3.1941. Ernst / Lilo 14.12.1940; 15.12.1940. Ernst / Lilo 25.12.1940. Lilo / Ernst 25.12.1940. Ernst / Lilo 1.1.1941. Ernst / Lilo 10.1.1941. Lilo / Ernst 26.1.1941. Lilo / Ernst 11.1.1941. Lilo / Ernst 30.1.1941. Ernst / Lilo 19.1.1941. Ernst / Lilo 19.1.1941; 5.2.1941. Lilo / Ernst 28.4.1941. Lilo / Ernst 24.5.1941. Lilo / Ernst 14.4.1941. Lilo / Ernst 29.5.1941. Wie sie über Heinke berichtet: »Plattdeutsch kommt sie auch schon an. ›Mama, luren‹; und ›hört Heinke tau‹; und ›na Hus gon‹. Wenn ich aber mit ihr platt schnacke, ist es ihr doch recht komisch.« Lilo / Ernst 20.6.1941. Lilo / Ernst 19.9.1941. Guten Abend, gut’ Nacht! Die schönsten Wiegelieder. Mainz, o. J. Curt Junghändel. Soldatenspiel. Berlin  (?), 1940; Erwin Jäkel. Für dich und mich. Dresden, 1930; Ernst Füge. Das Hullebulletöpf‌lein. Reichenau, 1937; Der Zuckertüten­ baum. Ein Bilderbuch. Bilder: Richard Heinrich; Verse von Albert Sixtus. Leipzig, 1928; Lely Kempin. Die Heilige Insel. Eine Sommergeschichte. 20 Abbildungen nach Lichtbildern der Verfasserin. Bielefeld, 1925; Hans Probst. Die Weihnachtsengelein. Mainz, 1940. Hagdis Hollriede. Weiß dir und mir ein schönes Haus. Reichenau, 1941; Wilhelm Busch. Max und Moritz. Eine Bubengeschichte. München, 1935; Heinzel wandert durch das Jahr. München, 1943. Lilo / Ernst 17.5.1941. W. B. Yeats. Meditations in Time of Civil War. Nr.5 The Stare’s Nest.

Anmerkungen

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111 Die Beziehungen Lilos nicht nur zur Schwiegermutter, sondern zur ganzen Familie und den Verwandten, wie etwa den Knolls in Berlin, waren angespannt; in vielen Briefen ist ihr Kummer bemerkbar: »Ich habe geheult«. Ernst litt darunter, sie solle sich mäßigen, diese negativen Gedanken vermeiden, ihn nicht mit gehässigen Briefen belästigen. Ernst / Lilo 19.2.1940. 112 Ernst / Leni und Karl 20.9.1935. 113 Ernst / Lilo 8.3.1935. 114 Ernst / Lilo 7.3.1936; 12.3.1936. 115 Ernst / Lilo 4.9.1939. 116 Ernst / Lilo 27.9.1939. 117 Ernst / Lilo 23.10.1939. 118 Ernst / Lilo 4.10.1939. 119 Ernst / Lilo 11.1.1940. 120 Ernst / Lilo 5.2.1941. 121 Ernst / Lilo 5.6.1941; 11.11.1941. 122 Ernst / Lilo 28.5.1941; 17.6.1941. 123 Ernst / Lilo 3.12.1941. 124 Ernst / Lilo 28.9.1941. 125 Ernst / Lilo 10.1.1941. 126 Ernst / Lilo 3.7.1941. 127 Lilo sah den Film ebenfalls; Lilo / Ernst 24.10.1940. 128 Ernst / Lilo 1.5.1941. 129 Lilo / Ernst 28.4.1941. 130 Lilo / Ernst 11.12.1941. 131 Lilo / Ernst 16.2.1940. 132 Lilo / Ernst 14.3.1941. 133 Lilo / Ernst 19.11.1939. 134 Das Winterhilfswerk entwickelte kunstvolle Plakate und Abzeichen für seine Arbeit, und zahllose junge Menschen, wie Ernst selber, gingen von Haus zu Haus, um Geld zu sammeln. Es wurde als freiwillige Bewegung gegen die Kälte und den Hunger der Armen dargestellt. In Wirklichkeit stammte der Löwenanteil seines riesigen Einkommens aus automatischen Abzügen von Lohntüten; vgl. Bertolt Brechts ätzende Kritik in Furcht und Elend des Dritten Reiches. Frankfurt a. M., 1973, 113–115. 135 Lilo / Ernst 20.7.1940. 136 Lilo / Ernst 5.1.1941. 137 Lilo / Ernst 30.12.1940. 138 Lilo / Ernst 11.9.1940. 139 Lilo / Ernst 27.6.1940. 140 Lilo / Ernst 4.6.1941. 141 Lilo / Ernst 8.10.1939; 12.1.1940. 142 Ernst / Lilo 9.6.1940. 143 Lilo / Ernst 5.1.1940; 27.6.1940. 144 Unser Liederbuch. Lieder der Hitler-Jugend. Hrsg. von der Reichsjugendführung. München, 1939. Es enthält ca. 250 Lieder. 145 Ernst / Lilo 26.1.1936. 146 Ernst / Lilo 8.3.1936. 147 Ernst / Lilo 19.1.1941. 148 Lilo / Ernst 13.9.1941. 149 Lilo / Ernst 29.5.1941. 150 Vgl. Jeremy Noakes. The German Home Front. Exeter, 1998, 509–580, v. a. 537 f.; Heinz Boberach. Meldungen aus dem Reich. München, 1968.

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Anmerkungen

151 152 153 154 155 156 157 158 159 160 161

162 163 164 165 166 167 168 169 170 171 172 173 174 175

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Lilo / Ernst 17.8.1941. Lilo / Ernst 26.8.1941. Lilo / Ernst 3.9.1941. Lilo / Ernst 15.9.1941. Lilo / Ernst 24.8.1941. Lilo / Ernst 18.9.1941. Ernst / Lilo 3.4.1941; 8.9.1941. Ernst / Lilo 31.10.1935. Ernst / Leni 21.12 1936; 19.12.1937. Ernst / Lilo 15.3.1940. Vgl. Marion Rollin. »›Gott schuf keine Stände, keine Klassen, aber Rassen‹  – Einblicke in die Kirchengemeinde Blankenese während der Zeit des Nationalsozialismus«. Vorlesung der historischen Gesellschaft für Forschung über Juden in Blankenese. 12. Mai 2004. Ernst / Lilo 25.1.1936. Alfred Rosenberg. Der Mythus des 20. Jahrhunderts. München, 1934, 629. Ernst / Lilo 18.11.1936; Künneth ist eine ambivalente Gestalt, war selber antisemitisch. Ernst / Lilo 10.4.1941. Ernst / Lilo 24.3.1940. Ernst / Lilo 30.1.1941; 26.2.1936. Lilo / Ernst 7.3.1936. Lilo / Ernst 12.4.1936. Ernst / Lilo 28.4.1941. Lilo / Ernst 30.6.1941. Lilo / Ernst15.11.1941. Lilo / Ernst 7.12.1941. Lilo / Ernst 29.12.1941. Sebastian Haffner. Anmerkungen zu Hitler. München, 1999, 115; Jonathan Littell. Les Bienveillantes. Paris: Editions Gallimard, 2006. Dieser historische Roman bietet eine nüchterne Beschreibung des Russlandfeldzuges unter dem Motto: ›Widerstehe der Versuchung, menschlich zu sein‹. Lilo / Ernst 8.9.1940. Josef Bauer. 290. Infanterie Division. Weg und Schicksal. Delmenhorst, 1960; obwohl detailliert und präzise, verrät die Perspektive, dass das Buch kurz nach dem Krieg verfasst wurde. Die Russen werden darin als ›Iwan‹ apostrophiert. Ernst / Lilo 25.3.1941. Ernst / Lilo 10.4.1941. Wohlauf Kameraden. Kassel, 1934; Ernsts Exemplar kommt aus seiner Zeit in Schalkholz. Ernst / Lilo 15.4.1941. Ernst / Lilo 6.5.1941. Ernst / Lilo 21.4.1941. Herr Struck / Ernst 9.5.1941. Ernst / Lilo 13.5.1941. Ernst / Lilo 26.5.1941; 29.5.1941. Ernst / Lilo 31.5.1941; 3.6.1941. Lilo / Ernst 29.5.1941. Ernst / Lilo 18.5.1941. Dieter / Lilo 2.6.1941; 24.6.1941. In einem Brief an seine Mutter vom 1. Februar 1942 nennt er sich als Leutnant »der glücklichste Mann in der Welt«. Josef Bauer. 290. Infanterie Division. Weg und Schicksal. Delmenhorst, 1960, 42–3.

Anmerkungen

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192 Ernst / Lilo 20.6.1941. 193 Fragmente vom Tagebuch; Ernst 22.6.1941–8.7.1941. 194 Lilo / Ernst 3.9.1941. 195 Lilo / Ernst 28.6.1941 196 Lilo / Ernst 30.6.1941. 197 Ernst / Lilo 27.6.1941. 198 Ernst / Lilo 3.7.1941 199 Ernst / Lilo 4.7.1941. 200 Ernst / Lilo 6,/7.7.1941. 201 Ernst / Lilo 17.7.1941. 202 Ernst / Lilo 11.7.1941. 203 Ernst / Lilo 23.7.1941. 204 Ernst / Lilo ? August 1941. 205 Ernst / Lilo 11.9.1941. 206 Lilo / Ernst 21.7.1941. 207 Ernst / Lilo 31.7.1941. 208 Ernst / Lilo 10.8.1941. 209 Ernst / Lilo 28.8.1941. 210 Ernst / Lilo 22.8.1941. 211 Lieutenant Hans Telzerow (29), der auch das Eiserne Kreuz bekam, starb am 25. Januar 1943 an der Front. 212 Ernst / Lilo 25.8.1941. 213 Ernst / Lilo 2.9.1941. 214 Ernst / Lilo 7.9.1941. 215 Ernst / Lilo 28.8.1941; 5.9.1941. 216 Die folgenden Unterstreichungen sind im Original rot. Die Unterstreichung stammt vermutlich von Lilo. 217 Ernst / Lilo 8.9.1941. 218 Lilo / Ernst 7.9.1941. 219 Lilo / Ernst 24.10.1941 220 Lilo / Ernst 2.9.1941. 221 Lilo / Ernst 23.11.1941. 222 Ernst / Lilo 26.10.1941. Nicht leicht, diese Beschreibung zu lesen, wenn man weiß, welches Schicksal die Gefangenen erwartete. 223 Ernst / Lilo 8.10.1941. 224 Ernst / Lilo 22.9.1941; 24.9.1941; 28.9.1941. 225 Lilo / Ernst 12.10 1941. 226 Lilo / Ernst 17.10.1941. 227 Lilo / Ernst 10.12.1941. 228 Ernst / Lilo 22.10.1941. 229 Lilo / Ernst 1.11.1941. 230 Ernst / Lilo 13.9.1941. 231 Ernst / Lilo 29.11.1941. 232 Lilo / Ernst 15.11.1941. 233 Ernst / Lilo 8.9.1941. 234 Ernst / Lilo 2.11.1941. 235 Ernst / Lilo 30.11.1941. 236 Ernst / Lilo 10.11.1941. 237 Ernst / Lilo 8.11.1941. 238 Ernst / Lilo 23.11.1941. 239 Lilo / Ernst 2.12.1941. »Alte Kämpfer« waren schon vor 1930 Mitglied der NSDAP .

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Anmerkungen

240 241 242 243 244 245 246 247 248 249 250 251 252 253 254 255 256 257 258 259 260 261 262 263 264 265 266 267 268 269 270 271 272 273 274 275 276 277 278 279 280 281

282

Lilo / Ernst 12.12.1941. Ernst / Lilo 3.12.1941. Eigene Übersetzung. Ernst / Lilo 20.12.1941. Mirko Jelusich war ein Antisemit, unter Nationalsozialisten sehr beliebt. Lilo / Ernst 26.12.1941. Ernst / Lilo 24.12.1941 Lilo / Ernst 2.1.1941. Lilo / Ernst 6.2.1942. Lilo / Ernst 11.1.1942. Lilo / Ernst 25.1.1942. Ernst an Willi Falkemeier 5.1.1942. Lilo / Ernst 10.2.1941. Lilo / Ernst 12.2.1942. Johannes Hürter. Ein deutscher General an der Ostfront. Die Briefe und Tagebücher des Gotthard Heinrici 1941/42. Erfurt, 2001, 108. Ernst / Lilo 3,6.2.1942. Von Lilo rot unterstrichen. Lilo / Ernst 18.2.1942. Lilo / Ernst 16.2.1941; 18.2.1941; 22.2.1941. Lilo / Ernst 28.2.1942. Lilo / Ernst 3.3.1942. Dieter Struck starb am 28. Oktober 1943. Lilo / Ernst 11.3.1942. Heider Anzeiger, 16. März 1942: 1944 bekam sie den von Hitler beauf‌tragten Demjanskschild, zum Gedächtnis an die Truppen, die in Demjansk starben. Lilo / Gerda Sommer 21.3.1942. Dora Potenberg / Lilo 14.3.1942. Der Regimentsführer / Frau Sommer 16.2.1942. Lt. Magerhans ist im August gefallen. Lt. Magerhans / Frau Sommer 1.3.1942; Oberfeldwebel Amst / Frau Sommer 5.4.1942. Otto Schwarzkopf / Frau Sommer 21.3.1942. Lt. H. A. Beck / Frau Sommer 2.6.1942. Josef Bauer. 290. Infanterie Division. Weg und Schicksal. Delmenhorst, 1960, 202. 20.3.1941 Gerda Sommer / Lilo. Bürgermeister von Burg / Lilo 1.4.1941. Herr Lüchau / Frau Sommer 19.4.1942. Hans Schmidt / Frau Sommer 11.6.1942. Vaclav Havel Briefe an Olga. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1989, 61. Vgl. Esther Milne. Letters, Postcard, Email. Technologies of Presence. New York / London, 2010. Vgl. Nicholas Stargardt. Der deutsche Krieg: 1939–1945. Berlin, 2017. Abschiedsbriefe Gefängnis Tegel September 1944  – Januar 1945. Hg von Helmuth Caspar von Moltke und Ulrike von Moltke. München, 2011. Ernst / Lilo 22.2.1940. Lilo / Ernst 8.6.1941. Ernst / Lilo 26.7.1940. Die Meinung von Edward Timms, dass Frauen während des Krieges − aus Angst vor der Zensur – vorsichtiger waren als Männer, gilt nicht für Lilo Sommer. Edward Timms. Anna Haag and her Secret Diary of the Second World War. A Democratic German Feminist’s Response to the Catastrophe of National Socialism. Oxford, 2016, 133. Lilo / Ernst 6.6.1941.

Anmerkungen

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283 Lilo / Ernst 11.9.1941. 284 Lilo / Ernst 12.8.1941; 29.7.1941; 11.1.1941; 28.1.1942. 285 Gegen Ende 1941 wurde eine Gewichtsgrenze (2  Pfund)  eingeführt; Lilo / Ernst 24.10.1941. 286 Lilo / Ernst 6.1.1940. 287 Lilo / Ernst 10.12.1941. 288 Lilo / Ernst 4.7.1941. 289 Papa, Herta, Hartmut, steh, muhmuh; habba, habba; Duwelpeter (Struwelpeter); singt Ringel Rangel Rosen; Pferd was huhu; orangen balla balla; aufeesst (aufgegessen), ausezieht (ausgezogen), auseslafen (ausgeschlafen); abebißt (abgebissen); Heinke schaut sich Bilder an und sieht einen Zug, in den Leute einsteigen. Sie erzählt Ella Butenschön: »Das ist Mama, Opa, Heinke, Hartmut.« »Vati auch?« »Nein.« »Das ist aber schade.« »Och«, sagt Heinke, »schad’ gar nichts, kommt ja bald wieder.« Niedlich ist es, wenn Heinke mit Hartmut übt: »Sag mal Mama, sag mal Papa.« Lilo / Ernst 30.6.1940; 23.1.1941; 17.10.1941; 4.11.1941. 290 Lilo / Ernst 20.11.1941. 291 Lilo / Ernst 3.8.1941. 292 Ernst / Lilo 16.5.1941. 293 Ernst / Lilo 9.11.1939; 20.11.1939. 294 Lilo 20.9.1941. 295 Ernst / Lilo 3.2.1940. 296 Lilo / Ernst 25.12.1940. 297 Lilo / Ernst 18.9.1941. 298 Ernst / Lilo 3.9.1939. 299 Lilo / Ernst 25.12.1940. 300 Lilo / Ernst 24.10.1941; 27.10.1941. 301 Lilo / Ernst 13.4.1941. 302 Lilo / Ernst 17.12.1941. 303 Ernst / Lilo 6.12.1941. 304 Ernst / Lilo 16.12.1941. 305 Ernst / Lilo 16.12.1941. 306 Ernst / Lilo 10.2.1942. 307 Vgl. Saul Friedländer. Die Jahre der Vernichtung. Das Dritte Reich und die Juden. München, 2006; Walter Kempowski. Das Echolot. Barbarossa ’41. Ein kollektives Tagebuch. München, 2004; Nicholas Stargardt. Der deutsche Krieg: 1939–1945. Berlin, 2017. 308 Seamus Heaney: Crediting Poetry. T‌he Nobel Lecture. 1995. 309 Paul Struck / Lilo 39.11.1938. 310 Aufschlussreich ist der Vergleich mit den extensiven feministischen, sozialistischen und pazifistischen Kontakten von Anna Haag. Edward Timms. Anna Haag and her Secret Diary of the Second World War. A Democratic German Feminist’s Response to the Catastrophe of National Socialism. Bern, 2016, 49–54. 311 Ernst / Leni 20.2.1938. 312 Vgl. Richard Vinens Ansicht, dass Autobiographien von ›normalen Menschen‹ irreführend sein können. Ein Bauer, der ein Tagebuch oder Memoiren schreibt, sei kaum ein typischer Bauer. Richard Vinen. T‌he Unfree French. Life under the Occu­ pation. New Haven / London, 2007, 8. 313 Josef Bauer. 290. Infanterie Division. Weg und Schicksal. Delmenhorst, 1960, 124. 314 Lilo / Ernst 2.2.1941. 315 August Graf von Platen. Tristan. Karl Otto Conrady, Das Große Deutsche Gedicht­ buch. Kronberg: Athenaeum Verlag, 1977, 413.

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Anmerkungen

Quellen und Literatur Handschriftliche Quellen Hocken Library, Dunedin. New Zealand Briefe Ernst und Lilo Sommer 1935–1942. Briefe von Heinke Sommer-Matheson transkribiert.

Zeitgenössische Gesangbücher, Gedichtsammlungen, Kinderbücher Andersens Schönste Märchen. Ed. H. W. Georg. Berlin: Weichert, 1898. Bars, Richard. Michel Hannemanns Traum. Charlottenburg: Vaterländischer Frauen=​ Verein, 1916. Blut und Ehre. Lieder der Hitler-Jugend. Berlin: Deutscher Jugendverlag, 1933. Busch, Wilhelm. Max und Moritz. Eine Bubengeschichte. München: Braun und Schneider, 1935. Das Aufrecht Fähnlein. Liederbuch für Studenten und Volk. Ed. Walther Henssel. Kassel: Bärenreiter, 1934. Der Musikant. Lieder für die Schule. Ed. Fritz Jöde. Berlin: Georg Kallmeyer, 1930. Der Zuckertütenbaum ein Bilderbuch. Illustrationen von Richard Heinrich, Verse von Albert Sixtus. Leipzig: Hegel & Schade, 1928. Füge, Ernst. Das Hullebulletöpf‌lein. Reichenau: Rudolf Schneider, 1937. Guten Abend, gut’ Nacht! Die schönsten Wiegenlieder. Mainz: Jos. Scholz, o. J. Bohatta-Morpurga, Ida. Heinzel wandert durch das Jahr. München: Josef Müller, 1943. Hoffmann, Heinrich. Der Struwwelpeter. Frankfurt a. M., 1917. Hoffmann, Joseph. (ed.) Singendes Volk. Schleswig-Holstein. Frankfurt a. M: Moritz Diesterweg, 1929–30. Hollriede, Hagdis. Weiß dir und mir ein schönes Haus. Reichenau: Rudolf Schneider, 1941. Jäkel, Erwin. Für dich und mich. Dresden, o. V. 1930. Junghändel, Curt. Soldatenspiel. o. O., o. V. 1940. Kempin, Lely. Die Heilige Insel. Eine Sommergeschichte. 20 Abbildungen nach Lichtbildern der Verfasserin. Bielefeld: Velhagen & Klasing, 1925. Köhler, M. Perlguckelchen und Weißmäuschen. Berlin: Verlag der Schriftenvertriebs­ anstalt, 1900. Küken steigt ins Leben. Reichsverwaltung des NS -Lehrerbundes. Berlin, o. V. 1938. Niethammer, Vera. Bei Gacks und andere Geschichten für kleine Leute. Stuttgart: Evangelische Gesellschaft, 1916. Probst, Hans. Die Weihnachtsengelein. Mainz: Thienemann, 1940. Reineke Fuchs. Reutlingen: Enßlin & Laiblin, 1923. Tausend Sterne leuchten. Hirts Sammlung deutscher Gedichte. 2.–4. Schuljahr. Breslau: Ferdinand Hirt, 1935. Tausendstimmiges Leben. Hirts Sammlung deutscher Gedichte. Breslau: Ferdinand Hirt, 1932. Unser Liederbuch. Lieder der Hitler-Jugend. München: NSDAP Zentralverlag, 1939. Wohlauf Kameraden. Kassel: Bärenreiter, 1934.

Quellen und Literatur

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Quellen und Literatur

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Quellen und Literatur

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