Liebe und Herrschaft: Studien zum altfranzösischen und mittelhochdeutschen Prosa-Lancelot [Reprint 2015 ed.] 3484150785, 9783484150782

Die Liebe zwischen dem besten Artusritter, Lancelot, und Ginover, der Frau des Königs Artus, ist eines der zentralen The

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German Pages 278 [276] Year 1996

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Liebe und Herrschaft: Studien zum altfranzösischen und mittelhochdeutschen Prosa-Lancelot [Reprint 2015 ed.]
 3484150785, 9783484150782

Table of contents :
Vorwort
Inhalt
Einleitung
I. Grundlegendes
II. Liebe und Aventüre I: Aventüre als Mittel der Kommunikation
III. Liebe und Herrschaft in der literarischen Tradition vor dem Prosa-Lancelot
IV. Liebe und Herrschaft im Prosa-Lancelot
V. Bedingte und unbedingte Liebe
VI. Liebe und Aventüre II: Lancelot-Biographie und Artuswelt-Geschichte
Schlußbetrachtung
Literatur
Abkürzungen

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HERMAEA GERMANISTISCHE FORSCHUNGEN NEUE FOLGE HERAUSGEGEBEN VON HANS FROMM, J O A C H I M HEINZLE, HANS-JOACHIM MÄHL UND KLAUS-DETLEF MÜLLER

BAND 78

CORNELIA REIL

Liebe und Herrschaft Studien zum altfranzösischen und mittelhochdeutschen Prosa-Lancelot

MAX NIEMEYER VERLAG TÜBINGEN 1996

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Reil, Cornelia: Liebe und Herrschaft : Studien zum altfranzösischen und mittelhochdeutschen Prosa-Lancelot / Cornelia Reil. - Tübingen : Niemeyer, 1996 (Hermaea ; N.F., Bd. 78) NE: GT ISBN 3-484-15078-5

ISSN 0440-7164

© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1996 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck: Allgäuer Zeitungsverlag, Kempten Buchbinder: Heinr. Koch, Tübingen

Vorwort

Die Entstehung des vorliegenden Buches haben viele Personen unterstützt, denen ich gerne danken möchte. A n erster Stelle stehen meine Eltern, deren Großzügigkeit in materieller wie ideeller Hinsicht mir das Arbeiten an diesem Buch in erster Linie ermöglicht hat. Walter Haug hat mich dazu ermutigt, mich mit dem Gegenstand zu beschäftigen, und mich die ganze Zeit über intensiv gefördert; darüber hinaus haben mich seine eigenen einschlägigen Arbeiten der letzten Jahre immer neu angeregt und herausgefordert. Für kritische Lektüre und zahlreiche förderliche Gespräche möchte ich mich bei Hans-Joachim Ziegeler und auch bei Paul Sappler bedanken, der mir außerdem sehr bei der Herstellung des Satzes geholfen hat. Korrektur gelesen haben freundlicherweise Gudrun Felder und Nicola Zotz. Schließlich danke ich den Herausgebern für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe >HermaeaMort Artu< ediert und untersucht hat, hält dies fur »insoutenable« (Frappier 1961, S. 124), da er zwar einen Architekten für das Ganze, jedoch einzelne Verfasser für die Teilromane am Werk sieht. Vgl. auch sein Resumé S. 146 (»unité de structure, non d'esprit ni d'art«). Die Diskussion bewegt sich bis heute zwischen diesen Polen; Alexandre Micha, der Herausgeber des altfranzösischen >Lancelot propreQueste< bestimmt ist, als nur relativ erweist. Dies zeigen vor allem die Doppelaventüren, von denen Lancelot nur jeweils eine Hälfte zu Ende bringen kann, während die andere dem künftigen Gralshelden Galaad vorbehalten bleibt. Vor allem in der germanistischen Forschung hat sich die Frage nach dem Verhältnis der beiden >Weltanschauungen< zueinander zeitweise auf die Alternative >Dualismus oder Gradualismus< zugespitzt, die sich auf die Opposition von >Lancelot propre< und >Queste< konzentriert. 2 Daß die Einbeziehung der >Mort Artu< diese Fragestellung relativieren kann, zeigen bei je ganz verschiedenen Ansätzen überzeugend Monika Unzeitig-Herzog an der Aventürenwelt, Christoph Huber am Ubergang von >Queste< zu >Mort Artu< und Walter Haug in einem Beitrag zum Erzählen vom Ende im Prosa-Lancelot.5 Hinsichtlich des Liebesthemas lassen sich in der Forschung im wesentlichen drei Fragerichtungen unterscheiden: einmal wird es im Rahmen des double ^nV-Problems behandelt, zum andern wird - teilweise in Verbindung mit ersterem - versucht, das Liebeskonzept als höfisch, als fin'amors, als Tristan-nah oder Tristan-feindlich usw. zu bestimmen, und zum dritten wurde es neuerdings unter dem Aspekt seiner ästhetischen Funktion in einer literarhistorischen Reihe von Texten analysiert. 4 Dort, wo die Liebe unter dem Aspekt ihrer Verdammung von der >Queste< her behandelt wird, gilt sie weitgehend als eine zwar von Problemen getrübte, aber dennoch zunächst glanzvolle Umsetzung eines höfischen Ideals und wird selbst nicht weiter untersucht. So resümiert Hans-Hugo SteinhofF seine These, daß zwar mit dem geistlich orientierten Ritterbild der >Queste< dem »autonomistischen Legitimationsentwurf Chrestiens« entgegengetreten, das höfische Rittertum aber als Vorstufe zur militia dei nicht verdammt werden solle, folgendermaßen: »Verworfen wird nicht das weltlich-höfische Rittertum, sondern die Blindheit derer, die seinen bedingten Status zu erkennen sich weigern, und die höfische Minnedoktrin, aus der weltliches Rittertum seine autonome Legitimation abzuleiten versucht hatte.«' Dagmar Hirschberg zeigt ausführlich — vor dem Hintergrund des klassischen Artusromans 2

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Stellvertretend seien genannt: Dualismus: Voss 1970; Gradualismus: Steinhoff 1977 und unter B e r u f u n g auf die neuplatonische E r o s - K o n z e p t i o n wieder K n a p p 1986. U n z e i t i g - H e r z o g 1990; H u b e r 1991; H a u g 199; [a],

Ich wähle im folgenden repräsentative Positionen aus. ' Steinhoff 1977, S. 288.

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den problematischen Aspekt der Liebe, die isoliert sei und gesellschaftlich nicht integrierend wirken könne; daran, daß sie Lancelot mehrfach in den Wahnsinn treibe, und vor allem an der Desintegration Lancelots im letzten Wahnzustand, der nur v o m Gral geheilt werden kann, zeige sich die Heillosigkeit der Minne. »Der Minnewahn enthüllt den Wahnsinn der Minne.« 6 Auch ihrer Meinung nach soll dadurch die »Begrenztheit der weltlichen Heilsmuster zur Anschauung« gebracht werden. 7 Elspeth Kennedy ordnet die verschiedenen Aspekte der Liebe den ihrer Meinung nach verschiedenen Fassungen des Romans zu: Im nichtzyklischen Prosa-Lancelot sei die Liebe ein positiver Wert, während sie in der zyklischen Version zur sündhaften Liebe und destruktiven K r a f t umgestaltet werde. 8 Die Auffassung, daß die Liebe zwischen Lancelot und Ginover von A n f a n g an ein negatives Erscheinungsbild aufweise, verdammenswert sei und daher v o m Erzähler verurteilt werde, vertritt Michèle Remakel in ihrer kürzlich erschienenen Dissertation. Die Rezeption des Prosa-Lancelot als Liebesroman erscheint ihr denn offenbar auch als ein großes Mißverständnis. 9 M a n hat versucht, diese >höfische< Liebe genauer zu fassen, was oft fast zwangsläufig dazu führte, sie von der Tristanliebe abzuheben. Myrrha Lot-Borodine hatte damit begonnen: Lancelots Idealität sei die »quintessence de la courtoisie«. 10 Während die Tristanliebe schicksalhaft und gesellschaftsfern sei sowie zur Vernachlässigung des Rittertums führe, sei Lancelot ein »anti-Tristan« (S. 59). Seine Liebe sei »force sociale au service de la vie, non en opposition avec elle. E t Lancelot, lui, est l'image vivante de cette idée« (S. 60). Lot-Borodine entwirft ein höchst idealistisches Bild von dieser Liebe (»sentiment heureusement fondu, harmonisé«, S. 61), die nicht der Welt ihre Gesetze aufzwinge, sondern sich den Regeln des Lebens unterwerfe; an die Stelle des K o n fliktes mit der Gesellschaft sei allerdings derjenige mit der »puissance spirituelle« getreten (S. 51). A n anderer Stelle hatte Lot-Borodine die Lancelotliebe des Prosa-Lancelot als Verbindung aus amour courtois und

' Hirschberg 1986, S. 259—26;; das Zitat S. 26;. 7 Ebd. 8 Kennedy 1986, S. 49-78, 262fr. und 2 7 4 f r . Vgl. auch unten S. 9. ' Remakel 1995; die Wirkung des Lancelotromans auf Paolo und Francesca in Dantes >Divina Commedia< sei »gewiß [...] nicht im Sinne des Erzählers« gewesen, S. 9; »der französische Dichter [habe denn auch] letztlich sein Ziel verfehlt«, S. 228. 10 Lot-Borodine 1979, S. 60; die weiteren Seitenangaben im Text. Diese Betrachtungsweise steht in der Tradition von Gaston Paris, der den Begriff des amour courtois gerade an Chrétiens Lancelotroman prägte; Paris 1883, S. 519.

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amour provençal beschrieben." Jean Frappier folgt Lot-Borodine, wenn er z. B. sagt, Lancelot sei »le représentant parfait du service d'amour et de la dévotion à la dame, un Tristan nouveau adapté à l'idéal de la fine amor.«'2 Im Gesamtplan des >Lancelot propre< gebe es ein »dessein principal, la subordination progressive de l'amour profane à l'amour sacré Für die »conjuration d'un mythe subversif«, des Tristan-Mythos, hält auch Jean-Charles Payen den Lancelotroman,' 4 mit dem Unterschied zu Lot-Borodine, daß er die Liebe nicht durchweg so positiv sieht: sie verändere sich vielmehr vonfin'amors zu einem amour fou.lì In der germanistischen Forschung hat Kurt Ruh diesen Standpunkt formuliert: Die Tristanliebe »bleibt ihrem Ursprung und ihrem Wesen nach außerhöfisch.« ,6 »Die Lancelotliebe ist hingegen das Paradigma der höfischen Minne, mehr: sie ist ihre erste, wesentlichste, gültigste Gestaltung im Bereiche des Epischen. [...] Sie ist Dienst. [...] Damit ist diese Minne ihrem Wesen nach ethisch [...].« Und, im Kontrast zu Erec und Yvain: »Minne und ritterliche Leistung sind in der höfischen Liebe zur verheirateten Frau von Anbeginn im Einklang.« Ausdrücklich als fin'amors sieht vor allem Fritz Peter Knapp die Lancelotliebe, trotz einiger romanhaft bedingter Veränderungen. Er erkennt in ihren Eigenschaften den Ansatzpunkt für die Ubersteigung durch die ekstatische Gottesminne Galaads; diese Verbindung sei nur auf dem Hintergrund der neuplatonischen Eros-Konzeption verständlich.' 7 Fanni Bogdanow erkennt dagegen beim Vergleich mit Chrétien im Prosa-Lancelot eine Art Korrektur einer überzogenen, parodistischen y?»'Tristanhöfische< Liebe verschieden verstanden werden, und zum anderen darin, daß fast alle Interpreten entweder ausgehend von den großen Linien des Textes sehr schnell auf eine übergreifende Charakterisierung zusteuern oder aber ihre Deutung nur von einem kleineren Textausschnitt aus entwickeln. 34 Die vorliegende Untersuchung setzt daher umfassender an: Der jeweilige Anteil an den Traditionen höfisch-literarischer Liebeskonzeptionen soll anhand von vielen Detailanalysen auf der Grundlage des gesamten Textes überprüft werden. Das bedeutet auch, den Aspekt der Verurteilung aus geistlicher Perspektive und die Relativierung Lancelots aufgrund der Unkeuschheit vorläufig auszuklammern, um erkennen zu können, wie die Liebe an sich gestaltet ist, und dann erst zu fragen, in welcher Weise die geistliche Kritik darauf bezogen ist. Den Begriff der >höfischen< Liebe vermeide ich im Zusammenhang mit der Lancelotliebe, da es mir nicht darauf ankommt, diese mit möglichst allgemeinen Kategorien zu beschreiben, die eventuell auch andere Texte erfassen könnten, sondern darauf, zu analysieren, in welcher ganz spezifischen Form Liebe im Prosa-Lancelot dargestellt wird. Den Hintergrund dafür bilden Liebesdarstellungen und -konzeptionen aus höfischer Literatur, die je für sich ebenso spezifisch sind, ob es sich nun um Ehebeziehungen oder um Ehebruchsliebe handelt oder um etwas davon Unabhängiges. Wenn ich mich also auf fin'amor, Tristanliebe oder Liebe und Aventüre beziehe, so rede ich von diesen Konzepten bezogen auf bestimmte Texte, nicht aber von ihnen als von >höfischer< Liebe in einem festgelegten Sinn; was die Ehebruchssituation oder Ulegitimitätsmetaphorik betrifft, so ist sie - wie Rüdiger Schnell betont keineswegs für alle höfische Liebe zu verallgemeinern;" geeigneter ist es, in den Fällen, die sich dieser abstrakt zu verstehenden Abgrenzung bedienen, um die Unbedingtheit, die völlige Freiheit der Liebe zu demonstrieren, mit Kuhn und Haug von >absoluter< Liebe zu sprechen.' 6 Es ist somit Ziel der Arbeit, die Funktion der Liebe im Gesamtgefüge des Prosa-Lancelot zu erkennen; ich möchte zunächst einmal nicht 34

Z u Kennedy 1986, die das Liebesthema durch den Roman hindurch verfolgt, siehe oben S. 3. " Schnei] 1985 und 1990, der den bisherigen Umgang mit dem Begriff zu Recht kritisiert und vorschlägt, stattdessen von einem »höfischen Diskurs über die Liebe« zu sprechen (so im Titel des Aufsatzes von 1990); vgl. auch Schnell 1991. Ich folge Schnell aber nicht in dem Versuch, für Minnesang und Roman doch wieder eine gemeinsame K o n zeption zu finden, die künftig als >höfische< Liebe bezeichnet werden dürfte. ' 6 K u h n z. B. 1980 [b], S. 63^; Haug z. B. 1993.

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annehmen, daß sie allein darin aufgeht, verurteilt, dem Untergang zugeführt zu werden oder diesen gar zu verursachen, oder auch das Scheitern und den Zerfall eines literarischen Modells zu demonstrieren. Hinsichtlich des Vergleichs mit der literarischen Tradition stellen sich dann u. a. folgende Fragen: Welche yfoWorf-Kennzeichen lassen sich im Roman festmachen und welche Funktion besitzen sie im Kontext des Prosa-Lancelot? Wie ist das Verhältnis von Liebe und Aventüre im einzelnen gestaltet? Worin genau besteht eigentlich der gesellschaftlich nützliche Dienst Lancelots und welche Funktion erfüllt er? Läßt sich der Aspekt der Harmonie von Gesellschaft und Liebe an einem konkreten Punkt festmachen, der dann mit den Tristanromanen verglichen werden kann? Was verbindet, was unterscheidet die Liebe Lancelots und Ginovers von derjenigen Tristans und Isoldes, und zwar einerseits im >Lancelot propre< (kein Konflikt mit der Gesellschaft), andererseits in der >Mort Artu< (Episodenzitate aus der Version commune des Tristanromans)? Welche Rolle spielt die Liebe in bezug auf den Roman als Lancelot-Biographie einerseits, als Artusreich-Geschichte andererseits?" Erst wenn die Ausprägung dieser Aspekte im einzelnen und im Verlauf der ganzen Trilogie untersucht ist, wird es gelingen, den eigenständigen Umgang des Prosa-Lancelot mit der literarischen Tradition angemessen zu würdigen, die Erscheinungsweise der Liebe mit dem Gesamtkonzept der Trilogie - wenn es denn eines gibt - in Zusammenhang zu bringen und die Funktion zu bestimmen, die der Liebe in diesem Roman zukommt. Textgrundlage Die ungelöste Diskussion um Konzeption und Verfasserschaft der Trilogie aus >Lancelot propreQueste del Saint Graal< und >Mort Artu< hängt u. a. auch mit der schwierigen Überlieferungslage zusammen. Die sogenannten zyklischen unter den altfranzösischen Manuskripten überliefern nicht nur die genannte Trilogie, sondern dazu zwei vorgeschaltete Teile, die >Estoire del Saint Graal< und einen >MerlinMort Artu< aus einer eventuellen heilsgeschichtlichen Hinbettung. Kinen extremen Versuch, den Prosa-Lancelot in viele Abschnitte zu teilen und diese an konkrete historisch-politische Situationen zurückzubinden, bietet Carman 1973. Die L i e b e jedenfalls ist zum >historischen< Charakter des Prosa-Lancelot noch nicht wirklich in Beziehung gesetzt w o r d e n .

8

deutlich spätere Zusätze sind;'8 auf der anderen Seite existieren französische Handschriften, die einen Kurz-Lancelot enthalten: dessen Anfang stimmt mit dem der Trilogie überein, aber er endet mit einer kurzen Version des Kapitels >Die falsche Ginevra und Galahots TodQueste< - überarbeiteten, nicht-zyklischen Fassung beruhe.40 Häufig sind auch nur der zweite Teil des >Lancelot propreAgravainQueste< und die >Mort Artu< zusammen überliefert (vgl. Frappier, Ed. >Mort ArtuLancelot propre< (>Die falsche Ginevra und Galahots Tod< bis zur Karrenepisode) Gegenstand von Bearbeitungen gewesen zu sein. Drei >LancelotVulgata< genannten, fünfteiligen Text bezieht sich die gesamte romanistische Forschung bis ca. 1983); die neue Ausgabe des >Lancelot propre< von Micha auf der Basis von drei Handschriften aus verschiedenen Jahrhunderten, dazu die >Mort Artu< von Frappier (Arsenal 3347) und die >Queste< von Pauphilet (Lyon 77); schließlich die mittelhochdeutsche Übertragung in der Edition von Kluge auf der Grundlage der Heidelberger Handschrift P (cpg 147) aus dem 15. Jahrhundert. Das Verhältnis der letztgenannten Handschrift zur französischen Uberlieferung ist nach wie vor ungeklärt, zumal sie ihrerseits schon die Abschrift einer älteren mittelhochdeutschen Vorlage darstellt; zwei Fragmente belegen außerdem, daß zumindest der erste Teil bereits im 13. Jahrhundert übersetzt worden ist. Pentti Tilvis hat versucht, für den in P I (dem ursprünglich ersten von drei nun zusammengebundenen Bänden der Handschrift) bewahrten Text den Nachweis einer mittelniederländischen Zwischenstufe zu führen und hat diese These dann auch auf P II ausgedehnt;41 Steinhoff hat dagegen die Hypothese formuliert, daß der Text von P II direkt auf ' 8 Frappier 1961, S. 55-62 und 146; Frappier 1978 [a], S. 536. " Ich verwende aus Gründen der Einfachheit die Kapitelbezeichnungen von Kluge, der die Heidelberger Hs. P des mhd. Prosa-Lancelot herausgegeben hat, im übrigen aber die eingebürgerten Namensformen Ginover, Gawan, Lancelot usw., auch wenn diese in den einzelnen Teilen von P unterschiedlich geschrieben werden. Im Kapitel über den >KarrenritterMort ArtuFalsche Ginevra und Galahots Tod< gegenüber den von Micha edierten (langen) Fassungen a und ß offenbar eine Mischredaktion darstellt. 45 Solange offen bleiben muß, wie die Ubersetzung der einzelnen Teile vor sich gegangen ist, ist der mittelhochdeutsche Text als gleichberechtigte Redaktion innerhalb des französisch-deutschen Textcorpus zu betrachten. Die Frage der Rezeption des deutschen Prosa-Lancelot wird in dieser Arbeit allerdings ausgeklammert bleiben; meine Interpretation hat den Kontext der altfranzösischen Literatur als Bezugsrahmen. 44 Ich habe im Laufe der Untersuchung keinen Hinweis darauf entdeckt, daß der/die Ubersetzer Entscheidendes im Hinblick auf ein besonderes Rezeptionsinteresse geändert hätten, jedenfalls nicht, was das Liebesthema betrifft. Das Verhältnis des altfranzösischen und des deutschen Textes zueinander schätze ich, was den Inhalt angeht, folgendermaßen ein: Auffallende Widersprüche im Sinne einer grundlegend neuen Bearbeitungstendenz gibt es nicht; die Interpretationen - auch frühere - werden weitgehend von jedem der beiden Texte gedeckt. 4 ' Es ist aber doch zu erkennen, daß der französische manchmal Passagen und Abschnitte aufweist, die offensichtlich einen ursprünglicheren Stand bewahren, während sie in der mittelhochdeutschen Fassung verzerrt oder unlogisch erscheinen, im Kontext keinen rechten Sinn ergeben oder auch fehlen 42 45 44

45

Steinhoff 1968. Vgl. Steinhoff 1995 II, S. 963. Vgl. zu diesem Problem die Einleitung von Joachim Heinzle zum Tagungsband des Schweinfurter Lancelot-Kolloquiums: Heinzle 1986, S. 8, und die Beiträge zu Aspekten der deutschen Lancelot-Rezeption im selben Band: Steer, Beckers, Buschinger, Keinästö. Z u den »Schwierigkeiten der Lancelot-Rezeption in Deutschland« siehe außerdem Blank 1993. - Daß auch der mhd. Text eher im Kontext der französischen Literaturgeschichte zu lesen sei, meint auch Steinhoff 1995 II, S. 774. S o auch Steinhoff 1995 II, S. 773f.: die mhd. Ubersetzung sei »ohne ausgeprägte eigene konzeptionelle Vorstellungen« (S. 773). IO

und so Zusammenhänge undurchsichtig werden lassen. Zum Beispiel läßt sich manches, was im mittelhochdeutschen Roman schwer verständlich ist, durch den Vergleich mit dem französischen klären; an einer Stelle sind auf dem Weg zum uns erhaltenen deutschen Text Partien der Vorlage verlorengegangen, deren Kenntnis erlaubt, einen im Roman angelegten Zusammenhang, eine thematische Konzeption zu sehen.46 Umgekehrt kommt es aber - wenn auch seltener - vor, daß sich in der Redaktion des deutschen Textes Formulierungen oder Motive finden, die eine strukturelle oder inhaltliche Gestaltung des Romans gegenüber der französischen Fassung noch pointieren.47 Solche Pointierungen kommen auch in einzelnen altfranzösischen Handschriften vor.48 Ich werde dies jeweils an den fraglichen Stellen kommentieren. Solange die Abhängigkeitsverhältnisse nicht geklärt sind, scheint es mir das Gegebene, den Text in beiden edierten Redaktionen zugrundezulegen, also zwei Fassungen konsequent parallel zu lesen, da man damit mehr erfassen kann, als wenn man, wie bisher noch überwiegend geschehen, nur entweder den französischen oder den deutschen Text liest.49 Ich werde folgendermaßen vorgehen: Zitiert wird, weil ich zunächst vom mittelhochdeutschen Text ausgehe, der mittelhochdeutsche Text, und zwar jeweils da, wo er mit dem altfranzösischen übereinstimmt, mit Verweis auf die entsprechende Stelle bei Micha.' 0 Der französische Text wird zitiert, wenn die entsprechende Stelle im mittelhochdeutschen fehlt, außerdem in Kapitel II.2 wegen des Vergleichs mit Chrétien. Auf kleinere Abweichungen wird im Zitat selbst oder im Verweis aufmerksam gemacht, bei größeren und bei besonders wichtigen oder auch schönen Stellen zitiere ich beide Fassungen; altfranzösische Zitate werden da übersetzt, wo der mittelhochdeutsche Text keine oder eine nur unzureichende Ubersetzung bietet. Auf diese Weise bleibt die Argumentation an allen Stellen nachprüfbar.

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50

Siehe z. B. unten S. 1 3 6 f r . Siehe z. B. unten S. 67 f. (mit Anm. 70). Siehe unten S. 125. Es ist zu begrüßen, daß in der Germanistik immer öfter der altfranzösische Text mit konsultiert wird, siehe z . B . Knapp 1986, Unzeitig-Herzog 1990 und die Auffassung von Steinhoff 199; II, S. 774. Zitiert wird mit Kürzeln. Kluge: K , Band in römischen Ziffern, Seite, Zeile in arabischen Ziffern; Micha: M, Band in römischen Ziffern, Seite und (von mir ergänzt) Zeile in arabischen Ziffern; zur Erleichterung gelegentlich auch der Abschnitt mit Paragraphzeichen; Pauphilet: P, Seite und Zeile arabisch; Frappier: F, Seite, Paragraph, Zeile (die hier auf den Paragraphen bezogen ist) arabisch.

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I.

i.

Grundlegendes

Identität und L i e b e

Die Textpartie, die von Lancelots Ritterschlag zum Liebesgespräch mit Ginover fuhrt, ist thematisch ganz auf die Errichtung von Lancelots Identität als bester Artusritter und als Liebhaber Ginovers konzentriert. Bereits Uwe Ruberg hat in seinem Beitrag zur >Suche< im Prosa-Lancelot hierzu Entscheidendes gesehen, und Elspeth Kennedy konnte dies im ersten Kapitel ihres Lancelot-Buches um einige Aspekte ergänzen.' Ihre Ergebnisse liefern wichtige Grundlagen für eine Untersuchung der Liebe im Prosa-Lancelot und sollen daher innerhalb einer strukturierenden Darstellung der betreffenden Romanpartie referiert werden. Ich fasse zunächst den Inhalt des Abschnitts zusammen ( K I 125-303; M VII260-VIII128). Nachdem der 18jährige Lancelot am Artushof zum Ritter geschlagen wurde, zieht er sofort auf Aventüre aus und wird binnen kurzem als >bester Ritter der Welt< bekannt werden. Die Motivation für sein Handeln wird gleich beim Auszug angedeutet: Unter dem Eindruck der ersten Begegnung mit der Königin Ginover/Guenievre, die ihn ganz zu Recht, wie der Text betont, völlig überwältigt hat, gelingt es ihm, sein Schwert nicht von Artus anzunehmen, sondern als Ritter der Königin aufzubrechen und sich sein Schwert wenig später von ihr übersenden zu lassen. Daß es ihm bei seinen Aventüren nicht um bloße Abenteuerlust, Krafttaten und Ruhm geht, sondern darum, die Liebe der Königin zu erringen, zeigt sich etwas später, als Lancelot glaubt, die vielleicht schon errungene Gunst durch ein Mißgeschick wieder verspielt zu haben: Diß buch spricht das der wiß ritter reit von der Dolorosen Garden mit großem zorn und mit großem ungemut, umb das er die konigin erzörnet hett, die im tusentstunt lieber was dann sinselbs lip. E r wonde ir fruntschafft ummer da mit verlorn han und gedacht in sim herczen wie er so viel mit den 1

Ruberg 1963; Kennedy 1986, S. 10—48. Manches davon findet sich auch, in essayistischer Gestalt, bei Roubaud 1978, S. 2i6ff.

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wapen wolt thun; und wer sie größlich sin fynt, das sie syn frunt must werden, sprach er, und gedacht das er dott wolt bliben, oder er gewünne myn herren Gawan wiedder und syn gesellen. ( K I 1 7 9 , 1 3 - 1 9 ) Li contes dist chi endroit que Ii blans Chevaliers chevauche mas et pensis por sa dame la roine qu'il a courechie, car il l'amoit de si grant amor des le premier jor qu'il fu tenus por Chevaliers qu'il n'amoit tant ne soi ne autrui. Et pour che que il doutoit le haine sa dame a tous jors mais, si pense en son euer tant a faire d'armes qu'il ravra mon signour Gauvain ou il moura et par che, s'il le puet faire, bee a recouvrer l'amor sa dame. (M V I I 355; § 1)

Nach der Eroberung der Dolorosen Garde und weiteren Taten — wobei er auch immer wieder durch Wechsel fälle in seinem Tatendrang gebremst wird (Verletzungen, Ohnmächten, Gefangenschaft), kann Lancelot schließlich Artus im Kampf gegen den mächtigen Galahot unschätzbare Dienste leisten: Zunächst als Kämpfer, später vor allem dadurch, daß Galahot um jeden Preis die Freundschaft des überragenden Ritters gewinnen will und daher bereit ist, trotz seiner militärischen Überlegenheit mit Artus Frieden zu schließen, mithin auf die Vorherrschaft zu verzichten. Lancelot, der in wechselnden Farben inkognito zum Kampf erschienen und dafür aus der Gefangenschaft der Frau von Maloaut 2 entlassen worden war, nimmt am Abend des zweiten Kampftages — dem ersten nach dem einjährigen Waffenstillstand - bei Galahot Herberge. Im Laufe der dem Friedensschluß folgenden, offensichtlich in allgemeiner lockerer Entspannung dahinfließenden Tage wandert Galahot täglich zwischen den Lagern, d. h. zwischen Lancelot und dem Artushof hin und her und arrangiert dabei die Begegnung der Königin mit Lancelot. Für den Hof bleibt Lancelot nach wie vor ein Unbekannter; erst im darauffolgenden Jahr nach dem Krieg in Schottland, in dessen Verlauf es zur ersten Liebesnacht, aber auch zu Lancelots erster Wahnsinnsphase kommt, läßt er sich etwas widerwillig in die Tafelrunde aufnehmen. Im Laufe dieser Ereignisse vollzieht sich die Etablierung von Lancelots Identität in drei Stufen. Als Lancelot nach dem Ritterschlag als weißer Ritter vom Hof aufbricht, kennt niemand seinen Namen, nicht einmal er selbst; seine Pflegemutter, die Frau vom Lack, hatte ihn ausschließlich mit Kosenamen angeredet. Von seiner Abkunft hatte er nach und nach schon einiges erfahren (durch seine Vettern und deren Vertraute), aber die Bestätigung dafür und seinen Namen findet er erst 2

Er hatte den Sohn ihres Seneschalls getötet, K 1 234^; M VII 4;6f. 14

durch die für ihn bestimmte Aventüre der Dolorosen Garde, wo er die Platte seines künftigen Grabes hebt und darauf seinen Namen und seine Abstammung liest. Damit hat zunächst er selbst seine Identität gefunden, jedenfalls die genealogische Identität von Vaterseite her.' Der Artushof bleibt noch uninformiert; er beobachtet Lancelot zunächst aus der Ferne und reist ihm nach, als die Nachricht von der Eroberung der Dolorosen Garde überbracht wird, hat aber größte Mühe, seinen weiteren Weg zu verfolgen. Vor allem Gawan heftet sich dem unbekannten Ritter an die Fersen; Ziel dieses Suchens ist die Identifizierung des Eroberers der Dolorosen Garde. Obwohl Artushof und Gawan Lancelot immerzu auf der Spur sind, gelingt es diesem, einerseits präsent zu sein und sich andererseits doch jedesmal im rechten Moment zu entziehen, so daß die Suchenden immer nur Teilidentifikationen vornehmen können. Dies hängt von mehreren Faktoren ab. Lancelot legt bis zum Ende des Galahot-Krieges 14 Stationen zurück, an denen er von jeweils verschiedenen und unterschiedlich zahlreichen Personen beobachtet wird. Von den ersten Stationen schickt er Botschaften und Zeichen an die Königin, die auf diese Weise direkt informiert bleibt; bei vielen anderen, vor allem den großen Turnieren und Kämpfen, ist Ginover selbst anwesend, auch wenn der Text offenläßt, ob sie den immer wieder anders gekleideten Ritter dann als den weißen Ritter des Anfangs erkennt. Allen übrigen Personen sucht Lancelot sich zu entziehen, indem er jeden Ort der Tat so schnell wie möglich wieder verläßt und dabei jeweils im rechten Moment seinen Schild zu wechseln weiß.4 Die Schilde erfüllen eine wichtige Funktion beim Spurenlegen und -verwischen und dienen immer wieder als Begründung für eine mögliche oder verhinderte Identifizierung. Dennoch könnte das Versteckspiel mit Hilfe der Schilde nicht gelingen, ließe der Erzähler nicht die Figuren in einer Beschränktheit der Sicht verharren, in der sie sich mit Teilinformationen begnügen, ohne diese zusammenzufügen. Dabei sind diese so dicht, daß sich gut eine zusammenhängende Linie bilden läßt. Gawan zum Beispiel erkennt, daß der Befreier der Dolorosen Garde der neue weiße Ritter sein muß (K I 167,26f.; M VII 33 5 ,i4f.); der Befreier der gefangenen Artusritter gibt sich a) Keu gegenüber als Helfer der Frau von Noaus (1. Station) zu erkennen5 und J

4 s

Ruberg 1963, S. 125: »Die Suche des eigenen Namens führt zum bewußten Eintritt in die genealogische Kette.« Vgl. Ruberg 1963, S. 126. M V I I 363,1 f.; nicht dt. (Lancelot bezieht sich hier auf den Vorwurf Keies, er habe die Königin an der Dolorosen Garde verspottet).

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wird b) aufgrund seines Schildes als der Befreier der Dolorosen Garde identifiziert.6 Dann trifft Gawan auf einen von Lancelot getöteten Gegner; dieser wird getragen von Rittern, die ihm den Grund des Kampfes sagen und den Schild des Siegers beschreiben. Nun kann er zwar nicht vom Schild - den hat Lancelot inzwischen gewechselt - auf den Befreier der Dolorosen Garde schließen, aber vom Grund des Kampfes auf den weißen Ritter, der die entsprechende Aventüre am Hof übernommen hatte (K I 1 9 5 , 5 - 1 3 ; M V I I 383, §4). Diesen hatte er jedoch schon vorher als den Eroberer der Dolorosen Garde ausgemacht - und trotzdem bleibt diese Folgerung wie auch die anderen möglichen aus. Vieles bleibt für die Figuren des Romans im dunkeln, und so geht es auch dem Leser, der zwar immer weiß, daß es sich um ein und dieselbe Person handelt, der aber kaum noch verfolgen kann, welche Figur eigentlich wieviel weiß. Der Erzähler verstärkt die Verwirrung noch, indem er durch den Verzicht auf den Eigennamen die Figurenperspektive übernimmt. Während er in der Kindheitsgeschichte bereits von >Lancelot< gesprochen hatte, verwendet er jetzt in raschem Wechsel nur Bezeichnungen wie >der weiße Ritter< und solche, die sich auf die jeweils zurückliegende Tat beziehen: >Der Ritter, der die Dolorose Garde eroberte< usw. 7 Unterstützung von außen, zum Teil durchaus gegen Lancelots Willen, erhalten die Suchenden durch Hinweise der diversen Jungfrauen vom Lack. Aber nur Gawan und mit ihm Ginover wissen sie dann zu deuten, wodurch sich diese beiden vom übrigen Hof absetzen. Auch Gawans Suche-Erfolg, das Herausfinden des Namens, ist einer dieser Jungfrauen zu verdanken. Gawan verkündet den Namen dann am Hof, womit die zweite Stufe der Konstitution von Lancelots Identität erreicht ist, nämlich seine Identität als Artusritter. Aber bezeichnenderweise fährt der Text fort, vom >Ritter, dessen Name an den Hof gebracht wurde< zu sprechen, nicht etwa von Lancelot - ein Hinweis darauf, daß damit noch nicht das Entscheidende geschehen sein kann.8 So hält auch der Artushof bei den nächsten Gelegenheiten, zum Beispiel im Galahot-Krieg, Lancelot wieder für einen Unbekannten. In diesem Verwirrspiel gibt es schließlich nur eine Person, die alles versteht, alles 6 7 8

K I 188, 2off. (vgl. 186,14-187,19); M V I I 3 7 1 , 1 5 - 2 0 (vgl. 5 6 8 £ , § 23). Ruberg 1963, S. 126; Roubaud 1978, S. 219. Ruberg 1963, S. 128, bringt das damit in Verbindung, daß Gawan den Namen nur durch Dritte erfahren, aber nicht selbst aus Lancelot herausbekommen habe; deshalb könne Gawan Lancelot danach auch nicht wiedererkennen, sondern erst nach seiner zweiten, erfolgreichen Lancelot-Suche. 16

zusammenfügt und den Weg des unbekannten Ritters in fast allen Schritten nachvollzieht: die Königin. Ihre >Suche< ist als einzige wirklich erfolgreich, da Lancelot ihr selbst seine Identität offenbart. 9 Für Ruberg sind die Suchen nach Lancelot solche nach dessen >Wesen und StrebenLancelot propre< trotz aller Verflechtungen unterschieden bleiben und aus verschiedenen Perspektiven mit je unterschiedlicher Bedeutung wahrgenommen werden. Durch die Abstufung und dadurch, daß der Erzähler erst mit der Stufe der bestätigten Minne-Identität den Namen >Lancelot< wieder verwendet, ist eine deutliche Hierarchie errichtet, die mit Lancelots subjektiver Perspektive übereinstimmt. Auf der anderen Seite hängen diese drei Identitäten im Gegensatz zur Gral-Identität, die sich im Namen Galaad ausdrückt, miteinander zusammen; Lancelots arthurische und Minne-Identität ist mit der väterlichen Abstammung verknüpft, während die Einbindung in die >religiös< fundierte genealogische Linie primär über Lancelots Mutter und ihre Abstammung von David läuft.' 5

2.

Fin'amors?

In den nächsten beiden Kapiteln geht es um Begriffe, die bei dem Versuch, Darstellungsformen mittelalterlicher literarischer Liebe zu klassifizieren, immer wieder verwendet werden: fin'amor, amour courtois oder >höfische Liebe< sowie >Minne und Aventürenicht-zyklische< Lancelot] in relation to both the love theme and the identity theme, namely Guinevere's first secret meeting with Lancelot.« Kennedy 1986, S. 35. Dieser Zusammenhang wird jedoch durch Lancelots Großvater gleichen Namens, der auch eine der Doppelaventüren liefert, durchbrochen, da er von Joseph von Arimathia abstammen soll und ein vorbildliches geistliches Leben geführt hat ( K II j27ff.; M V 123, § lofF.). Die Zurückfiihrung der Namensgebung auf Lancelots Vater wird damit widersprüchlich, genauso wie der anfänglich etablierte Gegensatz zwischen den Namen Lancelot und Galaad. Es heißt, Lancelots Vater habe sein Kind, dem Taufnamen Galaad zum Trotz, zu Ehren des Großvaters Lancelot genannt ( K I 6 1 7 , 7 - 9 ; M II 36,6-9); wenn nun aber der Großvater durch Abstammung und Lebenswandel so heilig war, ist der Namenskontrast nicht mehr recht schlüssig. Vgl. auch unten S. 61 f.

18

Prosa-Lancelot behandle ich in Kapitel II. Dagegen stellen fin'amors und amour courtois nach wie vor problematische Begriffe dar. Die Frage, was höfische Liebe eigentlich sei, ja ob es sie überhaupt gebe, ist auf verschiedene Weise beantwortet worden. Fin'amors (>wahrerichtige< Liebe im Gegensatz zu fals'amorsy6 ist immerhin ein genuin mittelalterlicher Begriff, den die Trobadors verwendet haben und dessen inhaltliche Füllung jeweils im Zusammenhang mit der Lyrik der einzelnen Trobadors bestimmt werden kann. Für eine ganze Reihe der Dichter ist dies sogar in einigermaßen übereinstimmender Weise möglich, auch wenn die vieldiskutierte Frage, ob es sich nun um ehebrecherische Liebe handle oder nicht, offenbar immer ein Streitpunkt bleiben wird. In der Forschung wird fin'amors deshalb oft als Bezeichnung für die den meisten Trobadors gemeinsame Liebeskonzeption verwendet, die andererseits auch mit dem von Gaston Paris geprägten Ausdruck als amour courtois, höfische Liebe, bezeichnet werden kann.' 7 Schwierig sind dann die Versuche, amour courtois und fin'amors auch in Texten Nordfrankreichs und gar in anderen Gattungen wiedererkennen zu wollen; hier müssen mögliche Anspielungen und Umsetzungen von Fall zu Fall geprüft werden.' 8 Der Begriff des amour courtois stiftet hier zusätzliche Verwirrung, weil er einerseits auch für den Zusammenhang von Liebe und Aventüre im klassischen Artusroman (>Erec< etc.) gebraucht wird, andererseits von Gaston Paris 1883 im Zusammenhang mit seiner Interpretation von Chrétiens >Chevalier de la charrete< geprägt wurde: die dort vorgeführte Liebe mit den nach Paris' Ansicht vollkommen ausgeprägten Typen der dame, der Herrin, und ihres Gegenstücks, des perfekten Liebenden, bezeichnet er als amour courtois.1'' Nun ist aber der >Chevalier de la charrete< lange Zeit und immer wieder als narrative Umsetzung einer fin'amors-Ideologie gesehen worden, und letztlich will

16 11

18 19

Vgl. Mölk 1982, S. 33 und 40f. Siehe Mölk 1982, S. 3 2 ^ der im Kapitel »Das höfische Liebes- und Tugendsystem« als allgemeinen Begriff amour courtois wählt, aber dem Wortfin'amoreine präzise Bedeutung zuweist, nämlich »Liebe auf der Basis des delirier«, d. h. ohne sexuellen Genuß (S- 3 3). Siehe z. B. den Versuch bei Frappier 1973 [c]. Paris 1883, S. 519. Siehe dazu auch Frappier 1973 [a], - In der deutschen und angelsächsischen Minnesang-Forschung ist die Diskussion um den Begriff der >Höfischen LiebeRealität< sehr viel breiter geführt worden. Teilweise führte das zur völligen Negierung einer besonderen höfischen Liebesauffassung im Mittelalter, teilweise zur Aufspaltung in einige Unterbegriffe für verschiedene Texte. Siehe dazu Schnell 1990, S. 231fr.; ausführliche Forschungsgeschichte: Schnell 1 9 8 ; , S. 7 7 - 1 3 7 . l

9

Paris so etwas mit seinem neuen Begriff auch ausdrücken. Ich will an dieser Stelle nicht ausführlicher auf Chrétiens Roman eingehen, 20 nur soviel sei gesagt: Durch die neuere Forschung ist inzwischen genügend deutlich geworden, daß es Chrétien wohl nicht um eine reine fin'amorsDarstellung gegangen sein kann, sei sie nun ernsthaft oder parodistisch verstanden, sondern daß die Elemente, die an Trobadorlyrik erinnern, eine gewisse, aber nicht allein zentrale Funktion in Chrétiens eigenem Gesamtkonzept erfüllen. Das Kriterium des Ehebruchs spielte auch für die Beurteilung der Liebe im Prosa-Lancelot eine entscheidende Rolle. Insofern als dieser nämlich Motive und Züge des Chrétienschen Lancelotromans übernimmt, ja womöglich verstärkt, konnte eine Beschreibung der Lancelot-Ginover-Liebe im Prosaroman als »Paradigma der höfischen Minne« 21 oder auch als fin'amors nicht ausbleiben. 22 Die Ehebruchsliebe eines besitzlosen Ritters zur weit über ihm stehenden Frau des Herrschers, die alle anderen an Schönheit übertrifft, der beharrliche Dienst Lancelots und sein unerschütterlicher Gehorsam sowie seine Neigung zum pensar und zur Erstarrung im Angesicht der Geliebten, dies sind die Momente, die diese Auffassung begründen. Eine Ähnlichkeit mit fin'amors - und das soll jetzt heißen: die Liebeskonzeption, die für eine ganze Reihe von Trobadors als repräsentativ gelten kann - ist gar nicht zu leugnen; doch möchte ich im folgenden untersuchen, wie weit diese Anklänge tatsächlich tragen, und wähle als Anknüpfungspunkt die Deutung Fritz Peter Knapps, der eine Interpretation der Lancelotliebe als fin'amors am entschiedensten vertreten hat. 2 ' Knapp geht von der ersten Begegnung zwischen dem unerfahrenen Knappen und der unerreichbar schönen Frau aus und bezeichnet dieses Verhältnis als »ein ziemlich getreues Abbild jener fin'amor, wie sie die provenzalischen Trobadors geschaffen haben«. 24 Aus dem sich anschließenden längeren Zitat Jean Frappiers geht hervor, daß Knapp folgende Punkte für wesentlich hält: Illegitimität/Ehebruch; freie Wahl einer geliebten Dame (statt schicksalhafter Liebe); Leiden, das gleichzeitig Freude bedeutet; Intensivierung des Strebens durch Distanz; sexuelle Erfüllung als immer mitgedachtes, aber selten verwirklichtes Ziel; >Psychologisches< wie die ständige ängstliche Unruhe des Liebhabers und Zittern vor der Dame; Unterwerfung unter ihren Willen; quasi-religiö20 21 22 25 24

Siehe dazu die Kapitel II. 2 und III. Ruh 1970, S. 246. Vgl. Einleitung, S. 2 ff. Knapp 1986, S. 22f. Ebd., S. 22.

20

ser Adorationskult; Geheimhaltung; lau^engiers (merkaere, huote)\ feudale Metaphorik. 2 ' Ich gehe diese Aspekte durch und versuche zunächst, sie im ProsaLancelot aufzufinden, sodann zu prüfen, ob sie auch über die erste Begegnung Lancelots mit Ginover hinaus im Roman von Bedeutung sind, und schließlich zu untersuchen, inwieweit durch die Umsetzung im narrativen Kontext, wenn es denn eine ist, das Wesen der fin'amors erhalten oder verwandelt wird. 26 Illegitimität, Geheimhaltung sowie huote und Intrigen von Neidern bilden einen Zusammenhang: 2 7 Lancelots und Ginovers Liebe ist unbestreitbar eine illegitime Ehebruchsliebe, die geheimgehalten werden muß. Ein entsprechendes Gebot formuliert Ginover im Verlauf des Gesprächs, bei dem der Liebesbund geschlossen wird: » N u hutent uch das diß also verholn sy als wirs beide wol bedorffen!« ( K I 296,34; M V I I I 1 1 6 , 5 - 7 )

Was mißgünstige Aufpasser betrifft, wird es schon schwieriger; es fehlt ein Pendant zum gilos der Lyrik (den man mit dem Ehemann zu identifizieren pflegt), 28 da Artus keinerlei Verdacht schöpft und ein Konflikt zwischen Liebespaar und Gesellschaft völlig ausbleibt. Erst in der >Mort Artu< entsteht eine vergleichbare Konstellation, die aber so deutlich an Berols Tristanroman orientiert ist, daß man schwerlich von fin'amors-Einfluß sprechen kann. Eine einzige Figur tritt im >Lancelot propre< als mißgünstige und eifersüchtige Intrigantin auf, Morgane nämlich, die jedoch bezeichnenderweise mit ihrem Frontalangriff, einer öffentlichen Denunziation am Artushof, weder Artus noch den Hof erschüttern kann; man glaubt ihr einfach nicht, sondern akzeptiert gerne Ginovers Erklärungen. Damit scheint das Geheimhaltungsgebot merkwürdig funktionslos zu bleiben; ihm fehlt jener Widerpart, der für das Erzählen von der Liebe als Ehebruchsliebe im Tristanroman konstitutiv ist. 29 25 26

27 28 29

Ebd., S. zif. Knapp führt selbst Beispiele für Veränderungen an, die sich aus der Erzählgattung ergeben, scheint aber die Bedeutung dieser Änderungen durch die Begründung mit der Gattungsfrage eher entkräftet zu sehen; jedenfalls sieht er in ihnen keine Einschränkung des fix'amorj-Konzepts; vgl. die Formulierung: »Was den Unterschied zur Lancelot-Liebe ausmacht, ist fürs erste gattungsbedingt« (S. 23). Vgl. Mölk 1982, S. 28. Ebd. Das Geheimhaltungsgebot erhält im Prosa-Lancelot eine neue Funktion, siehe unten S. 129^

21

Liebe als schicksalhafter Schlag oder als freie Wahl der schönsten und edelsten Frau: Diese beiden Möglichkeiten verbindet der Text in eigentümlicher Weise miteinander. Der entsprechende Passus schildert einen >coup de foudrekonkretisierter Metaphorik und Reflexion< sprechen. Anders gesagt: Das, was in der Lyrik der Reflexion über Liebe als Bild für die höchsten gesellschaftlichen Werte dient, das wird bei der Umwandlung im Roman zu einer Lebensform. Daß dieser Unterschied offenbar nicht ohne weiteres gesehen wurde, hängt gerade damit zusammen, daß fin' amors selbst als Lebensform mißverstanden wurde. Das zeigt sich vor allem an der Frage, ob es sich bei der Trobadorminne um Ehebruchsliebe handle oder nicht. Knapp möchte gern am Verständnis der fin'amors als Ehebruchsliebe festhalten, eine Auffassung, die er gegen die Versuche etwa von William Paden, diesen Aspekt für irrelevant zu erklären, verteidigt.' 6 Knapp macht Paden den Vorwurf, von den Texten Eindeutigkeit zu verlangen und außerdem die Rezeptionsgeschichte zu vernachlässigen, übersieht dabei aber, daß ja gerade in der Rezeption vereindeutigt wurde. Er sagt über die Vidas und Razos, die zu einem guten Teil von ehebrecherischen Beziehungen der Trobadors berichten: »Selbst wenn es in vielen Fällen ein Mißverständnis sein sollte, sagt es etwas über den Erwartungshorizont des Publikums, seine Moralvorstellungen und die poetische Strategie der Trobadors selbst aus, die solche >Mißverständnisse< leicht hätten vermeiden können.« 37 Nun muß ein Dichter sich ja nicht so ausdrücken, daß er Mißverständnisse vermeidet; Paden ging es ja gerade darum klarzumachen, daß die Trobadors sich hinsichtlich des Status der besungenen Dame nicht festlegen mußten, um dennoch von Liebe singen zu können.

36

William D. Paden Jr. hatte mit Hilfe von Statistiken vorgeführt, daß die Texte in der Regel nicht von Ehe oder Ehemännern sprechen, und kommt zu dem Schluß, daß es für das Verständnis der Lieder unnötig sei zu wissen, ob es sich um Ehebruch handle oder nicht, und er betont auch den Unterschied zwischen >Literatur und Lebenc »He [d.i. der Sänger] offered to his listeners not the object of his love, but an expression of it. We do not remember the troubadours because they loved, but because they sang.« Paden 1975, S. 4yf-, das Zitat S. 50; bei K n a p p 1986, S. 81 f. (=Anm. 60). - Kritik an der Ehebruchs-Hypothese übte zuvor auch schon Press 1970.

37

K n a p p 1986, S. 81.

26

Das Problem der Verfasser der Trobadorviten wie auch das späterer Interpreten lag wohl darin, die schillernde Unbestimmtheit nicht ertragen oder auch einfach nicht verstanden zu haben und die relativ abstrakte Illegitimität einer als heimlich dargestellten und doch öffentlich thematisierten Liebe mit einem - moralisch oder rechtlich problematisch erscheinenden - Ehebruch gleichzusetzen. Dies hat schon 1957 Joachim Storost formuliert, der gleichwohl davon ausgeht, daß es sich um verheiratete Damen drehe; er bezieht die Lyrik ganz auf die sie umgebende Kultur und sagt: Und so erklärt sich die nur scheinbar befremdliche Tatsache, daß die Trobadors ausschließlich verheiratete Damen besangen; ihre >Liebe< ging zwar über ein gesellschaftliches Spiel hinaus, aber in der Richtung auf das Ästhetische und Erzieherische hin mit dem Ziel sittlicher und kultureller Höhersteigerung der >Liebenden< (wenn wir sie so nennen dürfen). Von späteren Zeiten, denen solche Voraussetzungen nicht mehr geläufig waren, wurde diese stilisierte verehrende Liebe mißverstanden und für grundsätzlich außereheliche Liebe gehalten in der Art, wie wir das Wort heute verstehen [...]. 3 8

Und im Zusammenhang mit den Vidas und Razos, die ja erst Anfang des 13. Jahrhunderts entstanden sind, sagt Mölk: Der Abstand zwischen Gegenwart und höfischer Blütezeit [...] zeigt sich auch daran, daß die Fähigkeit, die überkommene Kunstpoesie richtig zu verstehen, allmählich verlorengeht. [ . . . ] so können wir den Liederkommentaren entnehmen, daß die symbolische Sprache der Lieder immer fremder wird: bildliche Rede wird wörtlich genommen, die literarische Fiktion als erlebte Wirklichkeit gedeutet.59

Wenn man die Diskussion zu diesem Punkt verfolgt, gewinnt man den Eindruck, daß es letztlich nicht darauf ankommt, ob man diese Liebe nun als heimliche, illegitime oder ehebrecherische bezeichnet, sofern man den Blick auf die Funktion richtet - vorausgesetzt, man versteht >ehebrecherisch< als reine Beschreibung und nicht als moralische Wertung. Es liegt beispielsweise auf der Hand, daß der Ehebruch in den Vidas ein Ergebnis der Umsetzung von etwas Abstraktem in die Erzählung ist, wobei zugleich auf bestimmte Erzählmuster zurückgegriffen wird, und daß diese Erzählung eine andere Funktion erfüllt, als das Lied es ursprünglich tut. Selbst wenn man aus anderen Gründen an der Bezeichnung Ehebruchsliebe für die Lyrik festhält, ist jedenfalls

38

Storost 1967, S. 1 » Mölk 1982, S. 114. 2

7

der Umkehrschluß, daß die Liebe im Prosa-Lancelot als Ehebruchsliebe fin'amors darstelle, keineswegs zwingend. 40 Uber die Funktion solcher scheinbar moralischen oder amoralischen Regeln wie beispielsweise der moralischen Rigorosität eines Reinmar oder des Gegensatzes von Liebe und Ehe, der noch Gegenstand der >Princesse de Clèves< ist, sagt Hugo Kuhn: Es ist ein Irrtum, wenn eine Forschungsrichtung diese hohe Minne, fin'amors, abheben will von der Ehe, als ehebrecherische Liebe, oder die Ehe von der Liebe abheben will, als Institution, in der nicht geliebt werden kann. Vielmehr ist diese Rigorosität [...] nichts anderes als die Absolutheit des Liebens als solchen. Das Lieben als solches: nur darum ist es ein freies Lieben, nicht rechtlich oder religiös sanktioniert, damit diese Absolutheit zugleich als das höchste gesellschaftliche Heil auftreten kann. 41

Kuhn sieht auch in der Ehebruchsliebe Tristans und Isoldes »nur die schicksalhafte Situation, die ihrer Absolutheit gesetzt ist«. 42 In der fin'amors der Trobadors sind es also die >illegitime< Situation, die prinzipielle Unerfüllbarkeit, die Distanz und der Dienst des Liebenden/des Sängers, die die Reflexion über das »Lieben als solches« ermöglichen. Die Merkmale, die Trobadorliebe und Lancelotliebe gemeinsam haben, jedoch dort abstrakt-metaphorisch, hier konkretisiert sind, dienen in der Lyrik dazu, eine freie, unbedingte Liebe vorzuführen. An Kuhns Beispiel vom Tristan, aber auch an Chrétiens >Chevalier de la charrete< sieht man, daß eine Ehebruchsliebe auch in einer narrativen Gattung zur Darstellung einer absoluten Liebe dienen kann. 43 Die angemessene Frage für den Prosa-Lancelot wäre demnach, ob die Ehebruchsliebe und die konkretisierten y&zW?ör.r-Merkmale eingesetzt werden, um eine absolute Liebe vorzuführen. 44 4

° Wie weit das Bild, das sich die Forscher v o n der Trobadorliebe machen, v o m E h e bruch als moralischer Kategorie bestimmt ist, ist nicht immer deutlich zu erkennen. Frappier beispielsweise sagt, daß diese Liebe »[qui] est ou paraît régulièrement adultère, en pensée et en imagination, sinon en fait, [ . . . ] hors de toute contrainte sociale« sei und auf eine »autonomie morale« Anspruch erhebe. Was meint er 7.um Beispiel mit »en fait«? Frappier 1973 [c], S. 7f.; bei K n a p p 1986, S. 22.

41 42 4i

44

K u h n 1980 fb], S. 63f. E b d . , S. 64. Ich übernehme für Chrétien damit weitgehend die Deutung Walter Haugs; vgl. auch unten S. 96 fr. Bei K n a p p 1986 zielt die Beschreibung der Lancelotliebe als fin'amors darauf, die neuplatonische E r o s - K o n z e p t i o n , die hinter dem >QuesteChevalier de la charrete< dazu, Lancelots völlige Konzentration auf seine Liebe und das eigentliche Ziel seines Weges, die Befreiung der Königin, zu illustrieren. Paul Imbs hat das einmal so formuliert: L'œuvre personnelle de Chrétien consiste à subordonner toute l'action de Lancelot au p e n s e r a m o u r e u x qui s'est emparé de lui. Ce penser est la référence permanente de Lancelot, en tant qu'il est une conscience jugeant, parfois en premier et toujours en dernier ressort, la légitimité de son action. Bref l'amour est à la fois principe d'action et éthique juridictionnelle suprême, qui s'impose comme la mesure de toute conduite du héros principal.45

Auf den ersten Prosa-Lancelot die Liebe zum darauf nicht in

Blick könnte man den Eindruck gewinnen, daß dies im im Prinzip nicht anders sei, da auch dort der Protagonist Maßstab seines Handelns macht. Doch ist das penser gleicher Weise bezogen; zwei Gegenüberstellungen sol-

konzeption an fin'amors für wesentlich hält, ist nun viel weniger konkret als in seiner anfänglichen Charakterisierung. Er spricht nun vom »Liebes- und Schönheitskult der Trobadors« (S. 44), von der »ekstatischen Frauenminne Lancelots« und der »ebenso ekstatischen Gottesminne Galaads« (S. 45); beiden Liebesformen des Prosa-Lancelot gemeinsam ist ihm die »veredelnde, wertsteigernde, über das eigene Ich hinausführende ekstatische Liebesmystik, die aus der Güte des Herzens entspringt [...]« (S. 44). Darin erkennt er - romanhaft umgeformt - den »zum einen Guten hinziehende|n] platonische[n] Eros« (ebd.). Worin sich das Streben nach dem Guten bei Lancelot und seiner fin'amors konkret ausdrückt, wird nicht ganz deutlich (Schönheit Ginovers? Liebe als erstes Kriterium? Vervollkommnung des Mannes?), doch fragt man sich am Ende, ob Knapps These nicht genausogut ohne die Festlegung auf fin'amors auskäme. 4S

Imbs 1969, S. 282. 2

9

len das verdeutlichen. D e r Lancelot des Prosaromans erstarrt und fällt in penser, wenn er die K ö n i g i n erblickt, und dies bringt ihn häufig so aus der Fassung, daß er in einer Weise rede- und handlungsunfähig wird, die über die entsprechende Gestaltung der Lancelot-Figur bei Chrétien noch erheblich hinausgeht. A l s Chrétiens L a n c e l o t beim K a m p f gegen Meleagant plötzlich die K ö n i g i n erblickt, ist er davon offenbar auch gefesselt, aber keineswegs gelähmt; er will die K ö n i g i n nicht mehr aus den A u g e n verlieren und k ä m p f t daher >rückwärtsOhnmachts-ZuständenWahnsinns der Minne< aus der geistlichen Sicht der >QuesteChevalier de la charrete Chevalier de la charrete< stimme ich zunächst mit einem Teil der Forschung darin überein, daß die Liebe bzw. Lancelots Weg auf das Minneziel hin das zentrale Thema dieses Romans sei.21 Die Karrenbesteigung als Zeichen einer Liebe, die keine Bedingungen kennt, ist an drei Stellen des Romans thematisiert: Erstens unmittelbar bevor Lancelot auf den Karren steigt, als Amors und Raison in Lancelot miteinander streiten und sein Zögern vom Erzähler bereits eindeutig kommentiert wird: mar le fist et mar en ot honte que maintenant sus ne sailli [ . . . ]

(Charrete, w . i6zf.)

(zu seinem Unglück tat er das, zu seinem Unglück empfand er es als Schande und stieg nicht sofort auf den Karren . . . )

Das Motiv des Zögerns ist hier als »Zeichen für eine grundsätzliche Unstimmigkeit« auf die Krise, d. h. auf Ginovers spätere Zurückweisung hin gesetzt. 22 Dieser Zusammenhang wird dann zweitens in Lancelots

20

21

22

M I 81 ff. (über Gorre: 82-86; über Meleagant: 86ff. und 91 f.); K I 511 ff. (ohne den Abschnitt über Gorre; über Meleagant: 511,29fr. und 513, i4ff.). Vgl. Lot-Borodine 1918 [a], S. 3 8 4 f r . , die hierin ein weiteres Beispiel für die Rationalisierung des >merveilleux< im Prosa-Lancelot sieht. Anders z. B. Rychner 1969, der den mythischen Aspekt, und Fowler 1970, der den messianischen Weg für wesentlicher hält. Rychner hat seine These in einem späteren (aber früher erschienenen) Aufsatz etwas modifiziert; Rychner 1968. Haug 1978, S. 43 und 49, A. 62; ich übernehme damit auch Haugs Deutung von Zurückweisung und Versöhnung als Krise und Bewältigung analog zum Erec-Modell.

44

langen Reflexionen zwischen dieser allen unverständlichen Zurückweisung durch die Königin und der Versöhnung ( w . 4318-4396) prinzipiell erörtert, als er sich aufgrund der falschen Nachricht vom Tod der Königin das Leben nehmen will. Lancelot bedenkt zunächst die Möglichkeit, seine Fahrt auf dem Schandkarren könne der Grund für das abweisende Verhalten der Königin gewesen sein, um dann aber rasch zur richtigen Bewertung dieser Karrenfahrt zu gelangen: daß sie ihn nämlich erst eigentlich als ami verai (v. 4368) qualifiziere. Vor dem Hintergrund dieser Reflexionen kann dann Guenievres Vorwurf, Lancelot habe gezögert, den Karren zu besteigen (dies ist die dritte Stelle: w . 4484—4489), nicht als überspannt, sondern nur als höchste Konsequenz erscheinen und muß zudem als Zeichen für die Ubereinstimmung der Liebenden gewertet werden. In der Version a des Prosa-Lancelot wird dieser Zusammenhang nicht aufgegriffen; das Besteigen des Karrens stellt für Lancelot kein Problem dar (M II 12); in der Version ß, in der das Motiv des Zögerns noch erscheint, ist die Verbindung mit dem Gedanken an die Liebe nur noch angedeutet; es heißt lediglich, daß Lancelot zu dem Zwerg sagt, er ziehe es, wenn möglich, vor, hinter dem Karren herzugehen, und, als der Zwerg ablehnt, sich vor dem Besteigen des Karrens nochmals genau erkundigt, ob er ihn auch gewiß zur Königin bringen werde (M III 268; K I 604,24-28 [andere Formulierung]). Da die Besteigung des Karrens auch bei der Zurückweisung durch die Königin und bei der Versöhnung keine Rolle spielt, sondern länger zurückliegende Mißverständnisse als Begründung eingesetzt werden (hier sind die Versionen identisch), entfallen konsequenterweise die Reflexionen Lancelots; überhaupt ist die Passage über den versuchten Selbstmord recht lakonisch erzählt. Das Karrenmotiv scheint demnach kaum mehr als ein weiteres Beispiel für Lancelots generelle Ergebenheit zu sein. So stellen sich zwei Fragen: 1. Wird der Karren damit ein nebensächliches Requisit? und 2. Wird dadurch die Liebe relativiert, abgewertet, jedenfalls erzählerisch als Problem weniger pointiert?

2.1.

Karrensymbolik

Eine Möglichkeit besteht darin, zu sagen, daß der Prosa-Lancelot den Sinn des Karrens nicht begriffen oder ihn als problematisch für das Idealbild des besten Ritters empfunden habe. Dann wäre die Szene in der >Karren-SuiteSir Gawain and the Green KnightDidaxeKarrenritterQuesteParzival< herstellt, glaube ich aber gerade nicht, daß Lancelot wirklich Einsicht gewinnt (ob das auf Parzival zutrifft, kann hier nicht thematisiert werden). Utz stellt zwar zu Recht fest, daß Schande und Ehre nun auf den Kontext der Doppelaventüre bezogen seien: das Bestehen des einen Teils bedeutet von Gott gewährte Ehre, das Scheitern im zweiten Teil bedeutet Schande.44 Lancelot aber wird dadurch gerade nicht beeinflußt, genausowenig wie die Artusgesellschaft, die das kommende Gralsgeschehen nur innerhalb des vertrauten Aventürenmusters sehen kann; für Lancelot bleiben Schande und Ehre hier ganz allgemein. E r beklagt den Verlust der Aufgabe, die ihn zum Besten machen würde, doch ob er die eigentliche Tragweite der Relativierung begreift, bleibt zumindest offen. Die Tatsache, daß das Ereignis keinen weiteren Einfluß auf ihn ausübt, spricht eher dagegen. Sogar als Ginover sehr viel später bedauert, daß Lancelot ihretwegen nicht Gralsheld sein könne, beharrt dieser auf seiner Rolle als Artusritter aus Liebe (K II 438,7-439,20; M V 2,1-3,30). Dies ist nicht einmal eine nur subjektive Perspektive; neben der Relativierung steht ja die Bestätigung, die in der Änderung der Karrennorm versinnbildlicht ist und sich im Bestehen der ersten Grabaventüre zeigt, die aber auch aus berufenem Munde zu vernehmen ist. Symeu in seinem Flammengrab sagt zu Lancelot: »Mes or vos en ales, bials cosins, st ne soies mie honleus, kar vos aves tote la proesce et la valor qui puet estre en home corrompu.« (M II 36,20-37,1; Hervorhebung von mir) (»Geht nun aber, lieber Vetter, und schämt Euch nicht, denn Ihr habt alle Tüchtigkeit und alle guten Eigenschaften, die ein sündiger Mensch nur haben kann.«)

In ß heißt es: »Et nonporquant jou ne te despris pas, car de proeche et de chevalerie es tu si durement garnis ke nus ne t'en porroit passer [...].« (M III 293,15-18; vgl. K I 616, 3 2f.) (»Trotzdem verachte ich dich nicht, denn mit Tüchtigkeit und ritterlichem Können bist du so hervorragend ausgestattet, daß dich keiner übertreffen könnte.«)

« Utz 1979, S. 375.

56

Im mittelhochdeutschen Text meint Symeu, Lancelot habe unrecht zu sagen, er sei besser nicht geboren worden, denn: »Das du lebest, das ist kein schad, wann du der best ritter bist der nu lebet, da ist kein zwivel an.« ( K I 6 1 6 , 3 2 f . )

Damit wird Lancelot sogar darin bestärkt, seine Perspektive auf seine weltlichen Tugenden zu beschränken. Im weiteren Verlauf des Romans wird dann eine deutliche Stagnation in Lancelots Erfolgen zu beobachten sein, der aber weiterhin die ungebrochene, ja manchmal fast ins Groteske gesteigerte Verehrung des Königs Artus und seines Hofes für Lancelot gegenübersteht. Insofern glaube ich auch nicht, daß durch die Karren->Didaxe< der Frau vom Lack der Karren »Symbol für den krisenhaften Zustand, in dem sich die Artusgesellschaft befindet«, 4 ' werde, weil diese in ihrer Erstarrung »in ein inadäquates Verhältnis zu ihrem >besten RitterQual, Angst< ist die zweite Bedeutung von ire\ Zorn kommt für Lancelot, was die Liebe zu Ginover betrifft, nicht in Frage.

64

Gauvain Lancelot unter anderem den Ärger der Königin - das muß sich auf den heimlichen Aufbruch vom Hof (M I 1 7 9 , 1 - 3 ; K I 546,17f. [verkürzt]) beziehen, da Gauvain von der Liebe ja nichts weiß - verschweige, um ihn nicht noch mehr zu belasten (M II 19,25—28; nicht dt.), erinnert ebenfalls an bestehende Unstimmigkeiten und bereitet eine von Guenievres Begründungen für ihre Abweisung vor (M II 73,25—74,3; K I 638,5-7). Die Unsicherheit der Königin bezüglich Lancelots Identität im Kampf gegen Meleagant weist ebenfalls auf die gestörte Situation. Bei einem Vergleich der Karrenepisode mit Chrétiens raffinierter Gestaltung besonders von Krise und Versöhnung, wie ihn Haug vornimmt, gerät die Bearbeitung des Prosa-Lancelot in ein ungünstiges Licht. Daß der mythische Aspekt - er wird durch ein Netz aus geschichtlichen Linien ersetzt - und damit auch die Dialektik zwischen Mythos und Ehebruchsgeschichte wegfällt, 6 ' ist unbestreitbar, doch fragt sich, ob deshalb wirklich nur »eine mehr oder weniger problematische Ehebruchsgeschichte zurück [bleibt]«, in der die Karrenepisode einen eher beliebigen Ausschnitt darstelle.66 Haug sieht auch die Krise in ein bloßes Mißverständnis umgewandelt, das sich problemlos aufklären lasse.67 Vor dem Hintergrund des Kommunikationsproblems jedoch ist die thematische Abwandlung der Krise und der Versöhnung im Prosa-Lancelot als eine sehr bewußte und im Romanzusammenhang höchst konsequente zu erkennen, die die strukturelle Bedeutung dieses Moments nicht übergeht, sondern im Sinne der spezifischen Liebesthematik als Höhepunkt nutzt: Lancelots Weg ist eine Suche nach der verlorenen Minneidentität; die Versöhnung ist gleichbedeutend mit (wieder) gelingender Kommunikation, und gerade die Möglichkeit zur Klärung der Mißverständnisse ist in dieser Perspektive ein Positivum und die Voraussetzung für die erneute Bestätigung der Liebe in der folgenden Liebesnacht. Bei Chrétien kann der Grund für die Krise nicht >beseitigtbewältigt< werden, als Verstoß gegen das Zeichen für die Unbedingtheit der Liebe ist er irreversibel; im ProsaLancelot liegt gerade in der Umkehrbarkeit der nur scheinbaren Versäumnisse der Erfolg begründet. Auch ist diese Begegnung als eine von mehreren keineswegs beliebig; da die Bewegung auf sie hin aus einem absoluten Tiefpunkt herausführt, ist sie gerade besonders aus der Reihe 6

' Haug 1978, S. 76. Ebd. 67 Ebd., S. 75. 66

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der - gemessen an der langen Zeitspanne gar nicht so häufigen - anderen Liebesvereinigungen, von denen der Roman berichtet, herausgehoben. 68 Dieses Ergebnis wird bestätigt durch die Veränderung, die der Prosa-Lancelot mit dem Motiv des Turniers von Pomeglai vornimmt. Während Guenievre im Roman Chrétiens sich durch ihre Anweisungen der Identität Lancelots zu versichern sucht,6' kann die K ö nigin hier dank der jedenfalls füir kurze Zeit wieder erreichten Verständigung, aber auch dank wieder einsetzender freundlicher Hilfe der Frau vom Lack, in ihrer Sicherheit, Lancelot erkannt zu haben, ihre Befehle dazu einsetzen, Gau vain und die übrigen an der Nase herumzuführen (M II 99,9 ff.; K U 17,25 fr. [verkürzt]). Zusammenfassend ist festzuhalten: Die neue Karrensymbolik ist von langer Hand und vor allem durch die thematische Neubesetzung der Provokation zu Beginn der Episode sorgfältig vorbereitet. Verschiedene Motive (Gauvain, Kampf gegen Meleagant, Klosterepisode) zeigen neben zahlreichen expliziten Diskussionen über das Problem von Schande und Ehre, daß der Blick zunächst auf Lancelots Rolle als bester Ritter der Artuswelt gelenkt werden soll. Dies gipfelt in der KarrenSzene bei Hofe, zu der jedoch die Relativierung Lancelots in der Klosteraventüre in scharfem Kontrast steht. Gleichzeitig häuften sich die Hinweise darauf, daß das >Minneziel< in diesem Abschnitt keineswegs verdrängt wurde. Zunächst aber zeigt die Bestätigung Lancelots durch den Karren einerseits, seine ohne persönliche Konsequenzen bleibende Relativierung andererseits, daß Figurenperspektive und geistliche Perspektive hier auseinandergehen - die dann ja in immer schärferen Gegensatz zueinander treten werden. Bezüglich des Motivs der Namensnennung im Vergleich mit den Kapiteln >Dolorose Garde< und >Galahot< sind zwei wichtige Aspekte festzuhalten: Zum einen trägt die Klosterepisode in der Karrengeschichte in Entsprechung und Kontrast zur Dolorosen Garde die Aberkennung 68

Zwar gesteht auch Haug der Prosa-Bearbeitung zu, daß sie »von erstaunlicher innerer Konsequenz« sei, dies allerdings bezogen auf die >Zerstörung< der Chretienschen Ästhetik; Haug 1978, S. 77. In seiner Deutung der neuen Literaturkonzeption, die der Prosa-Roman vertrete, kann ich ihm aber nicht folgen; er spricht hier von der Vermittlung der Totalität des Stoffes, der »Wahrheit als Logik des Stofflichen«, dem nachträglich ein Sinn abgewonnen werden müsse (S. 78). Es fragt sich, ob nicht die Veränderungen vom >Mythischen< zum >GeschichtlichenTristanMort Artu< auch ausfuhrt, hat Lancelot den Ausdruck seiner Liebe dieses Mal in die falsche Richtung gelenkt. 76

Ebd., S. 141. Sie weist auch auf die Parallelen zu Lancelots Gefangenschaft bei der Frau von Maloaut hin, die ebenfalls den Gefangenen nachts heimlich betrachtet, ohne jedoch sein Liebesgeheimnis erfahren, geschweige denn selbst seine Liebe erringen zu können.

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Dennoch ist das nicht von ganz so katastrophaler Wirkung, wie man zunächst meinen möchte. Bertolucci scheint - mit Lot - die finale Katastrophe auf die Enthüllung durch die Malereien zurückzuführen 77 und sieht dies im Zusammenhang mit der thematisch wichtigen Bedeutung der Augenzeugenschaft: Wie der Roman sich auf Augenzeugenquellen berufe, so werde Lancelot selbst zum Geschichtsschreiber, dessen Augenzeugenschaft die Wahrheit dessen, was Artus dann betrachten wird, verbürge. 78 Sie verweist dabei auch auf die wirkungslose Denunziation durch Agravain, die am Beginn der >Mort Artu< die Reihe der Tristan-Parallelen eröffnet und die von Artus verworfen wird, da sie nur auf Hörensagen gründe.79 Nun ist aber die Enthüllung der Wahrheit durch Lancelots Bilder letztlich genauso wirkungslos. Artus ist in dem Moment, in dem er die Bilder betrachtet und sich von Morgane bestätigen läßt, daß Lancelot sie gemalt hat (K III 469,3fr.; F 63, § 53,22fr.), keineswegs völlig von der Wahrheit überzeugt; er verspricht seiner Schwester lediglich, sich zu rächen, falls das alles tatsächlich wahr sein sollte, spricht aber immer noch im >Potentialisartistisch< freien Kompetenzen-Konkurrenz«. 6 Im einzelnen Text kann das dann im Ausgleich »mit dem Herrschaftsmodell der Gesellschaft wie bei Chrétien« oder auch, wie im >TristanCligés< als auch mit dem > Chevalier de la charrete< reagiert. Ich gehe zunächst aus von der sog. version commune, vertreten durch Eilharts Version als einzig vollständiger, und zwar aus folgendem Grund: Hier scheint die grundlegende Struktur des Tristanromans insofern am wenigsten überdeckt zu sein, als Eilhart so gut wie nicht kommentiert oder reflektiert, während die späteren Fassungen in ihren Reflexionen sich bereits auf einer anderen Ebene mit dieser Struktur auseinandersetzen. Das Wesentliche der Tristan-Konstellation liegt darin, daß durch die >schiefe< Brautwerbung — der Held und Beste ist nicht identisch mit dem Herrscher - die Liebe prinzipiell unabhängig wird vom Faktor der politischen Macht.8 Es handelt sich um das »Paradigma einer Liebesbindung, die von Herrschaftshandeln freigesetzt ist oder ihm widerspricht«.9 Auch hier ist also der Doppelaspekt von heroischer Stärke und politischer Macht von Wichtigkeit, nun aber insofern, als die Rollen des Besten und des Herrschers, die sonst in einer Figur vereinigt sind, auf zwei Figuren verteilt werden, während die weibliche Rolle gewissermaßen gespalten ist in Geliebte und Herrscherin.10 Spielt sich das Geschehen wie im Tristan in einem Handlungsraum ab, so kommt es zum Konflikt zwischen den verschiedenen Beziehungstypen. Strohschneider führt am Beispiel des >Tristrant< vor, wie die verschiedenen 5 6 7 8 s 10

Kuhn 1980 [a], S. 55. Ebd., S. 56. Ebd., S. 58. Vgl. Haug 1993, S. 45. Strohschneider 1993, S. 46. Vgl. Strohschneider 1993, S. ;o.

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Versuche, in dieser Überlagerung von Herrschafts- und Liebesbindung den herrschaftsfreien Raum der Liebe zu gewährleisten, für die Struktur des Textes konstitutiv sind; letztlich kann das nur gelingen, indem zwei getrennte Herrschaftsräume geschaffen und die Liebesbegegnungen in einen Raum >dazwischen< gelegt werden (Rückkehrabenteuer und Verkleidungen)." Der Tod des Liebespaares bezeichnet dann die äußerste Möglichkeit, den »radikalen Außenraum« an dem Punkt, an dem es durch die Fahrt der blonden Ysalde zu einer erneuten Überlagerung von Liebe und Herrschaft mit anderer Rollenverteilung zu kommen droht. Denn Isalde läßt in Cornwall alles zurück: dô sie daz vingerlîn gesach, dô lîz sie man unde lant, beide schaz unde gewant und alliz daz sie î gewan sie lîz dorch den willen sîn ir koninglîche ère und entrachtete ir nicht mère.

(Eilhart, w . 9526-9340)

Das bedeutet, daß sie nicht mehr zurückkehren könnte, sondern bei Tristan bleiben müßte, und damit hätte man die gleiche Situation wie am Markehof, diesmal mit doppelter Frauenrolle. 12 Diese in der Handlung selbst begründete Konfliktkonstellation liegt allen Tristan-Fassungen zugrunde; in den hochhöfischen Fassungen tritt sie allerdings in ein Spannungsverhältnis zu den von den Autoren reflektierten idealen Möglichkeiten des Verhältnisses von Liebe und Gesellschaft. Dies zeigt sich an Chrétiens beiden Tristan-Repliken in jeweils signifikanter Weise. Bevor man diese betrachtet, könnte man aber zuerst fragen, ob sich weitere wesentliche Unterschiede zwischen den Romantypen Artusroman und Tristanroman objektiv bestimmen lassen, 11

Hier schließt Strohschneiders Deutung an die schöne Interpretation von Jan-Dirk Müller an (Müller, J.-D. 1990), mit dem Unterschied, daß Strohschneider die heroische Rolle Tristrants nicht zerstört sieht. Seiner Ansicht nach verliert Tristrant seine dem Markehof zugeordnete Heldenrolle in der Waldszene, in der Marke ihm sein Schwert abnimmt; am Artushof werde er aber als Held unabhängig vom cornischen H o f restituiert, um diese Rolle dann in Karkes wieder schemagerecht auszufüllen (S. 54f. und 57f.). Das scheint mir einleuchtend zu sein. - Für verfehlt halte ich dagegen den Versuch, aus Markes Angebot an Tristrant (nach dem belauschten Rendezvous), Ysalde so oft wie er wolle aufzusuchen, eine »Interiorisierungsstrategie« (S. ; 1 f.) als »Lizenz zum Ehebruch« (S. 51) herauszulesen. Auch der Kontext der von Strohschneider herangezogenen Fassung der Hs. H besagt, daß Marke in diesem Moment wieder an die Unschuld des Paares glaubt; vgl. Tristrant, Fassung H, w . 37o6ff. und 5730-3758.

12

Strohschneider 1995, S. 46.

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die über die Aspekte Ehebruch und Herrschaftskonflikt noch hinausfuhren. Dabei gehe ich davon aus, daß die beiden Typen zunächst unabhängig voneinander hervorgetreten sind, daß also die frühen Tristanversionen noch nicht als Reaktionen auf den Artusroman zu verstehen sind - auch wenn sie ihn kennen - , während bei den hochhöfischen Fassungen unter Umständen mit einer Auseinandersetzung zu rechnen ist. 1 ' 4.

Artusroman - Tristanroman

Ich folge Haugs Anregung, über das Verhältnis von Gut und Böse, von Positivem und Negativem in den beiden Romantypen nachzudenken.'4 Er betrachtet das Problem im Bezug zum hochmittelalterlichen Analogiemodell und konzentriert sich auf Gottfrieds >Tristan< vor dem Hintergrund des Chretienschen Typus. Nach dem älteren Analogiemodell sind Gut und Böse getrennte Kategorien; was aus der an sich guten Ordnung herausfallt, ist verdammenswert, hat aber die Chance, restituiert zu werden. Das fuhrt z. B. Alanus ab Insulis im >Planctus Naturae< am Beispiel der Liebe vor. Der eigentliche Zustand ist der gute; wenn etwas in Unordnung gerät, kann es völlig wiederhergestellt werden. Im Chretienschen Artusroman dagegen realisiere sich, so Haug, »das Positive [...] nicht mehr als schlichte Abwendung vom Negativen«, 1 ' sondern die Idealität symbolisiere sich im arthurischen Fest. Damit sei sie kein Zustand, sondern ein Augenblick, der überhaupt nur aufgrund eines immer neuen Durchgangs durch das Negative erhalten werden könne. Dies geschehe, indem der Protagonist stellvertretend für den Hof sich in die durch Gewalt, Begierde und Tod charakterisierte Gegenwelt begebe und »ihre Negativität in ihren verschiedenen Aspekten durchsteht«.'6 Erec, Yvain und Lancelot gehen dabei auch symbolisch durch den Tod: Erec als Scheintoter auf >LimorsErec< bricht das Negative am Beginn des zweiten Kursus - nachdem es am Anfang des ersten von außen gekommen war - zwar sozusagen im Paar selbst auf, die Auseinandersetzung damit wird aber wieder in die Gegenwelt verlegt, in der das Böse doch wieder von außen an das Paar herantritt und so überwunden werden kann; um diese Begegnung auszutragen, entfernt sich das Paar aus der Gesellschaft und kehrt erst nach dem Sieg in sie zurück. Die Protagonisten gehen - wie bekannt - ihren Weg stellvertretend für die Artusgesellschaft. Im Tristanroman dagegen sind die Protagonisten zwar zunächst ebenfalls und sogar in hohem Maße gesellschaftlich repräsentativ, und Tristan leistet >Positives< gegen von außen kommendes >NegativesErec< greift das Negative die Protagonisten als Repräsentanten der Artusgesellschaft und damit diese selbst an; daran, daß das Paar es selbst merkt und auszieht, um es zu überwinden, zeigt sich, daß Paar und Gesellschaft dieselbe Perspektive auf das Böse haben. Im Tristanroman aber wird >Gut< und >Böse< gewissermaßen Ansichtssache: In der 17 18

Ebd. Ebd., S. 183.

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Perspektive des Paares ist die Liebe das Positive - eine Sicht, die die Gesellschaft des Markehofs nicht teilen kann, weshalb der Versuch, das Negative zu bewältigen, nur zwischen Paar und Gesellschaft, aber nicht in einem dritten Bereich ausgetragen werden kann: Es ist kein >objektiv< Negatives mehr, sondern es wechselt je nach Standpunkt, es sind verschiedene Formen des Negativen.' 9 Entfernt sich das Paar in dieser Situation aus der Gesellschaft, in der es lebt, so entfällt logischerweise die negative Kraft. Dem Rezipienten stellt sich die Situation als zwiespältig dar, da Eilhart das >böse< Handeln der Protagonisten zur Sprache bringt, um es gleichzeitig mit dem Minnetrank zu entschuldigen. Diese Position der frühen Tristanromane, die sich in den Texten auch durch die Gleichzeitigkeit der Behauptung des Liebesglücks und der Bewertung der Liebe als folie, als Krankheit, ausdrückt, muß man berücksichtigen, bevor man sich Gottfried zuwendet. Denn anhand der frühen Tristanromane läßt sich m. E. noch keine Alternative von dynamischem, über den Weg ausgefaltetem Verhältnis von Utopie und Negativität einerseits (Artusroman), paradoxer Gleichzeitigkeit von Utopie und Negativität andererseits (Tristanroman) behaupten, wie das Haug für den Bezug der hochhöfischen Fassungen zum Artusroman wahrscheinlich machen will. 20 Für den frühen Tristanroman ist ein Versuch, »das dynamische Konzept des Artusromans ohne strukturelle Vorgaben [d. h. ohne Wegstruktur] zu realisieren«, 21 nicht wahrscheinlich, eben weil bei Eilhart und Berol die Gesellschaft, und zwar auch die des Publikums, die Liebe nicht als etwas völlig Positives wahrnehmen kann; eine Paar und Gesellschaft umfassende Utopie fehlt. Das Neue der hochhöfischen Tristan-Fassungen liegt ja gerade in dem Versuch, auf einer abstrakten Reflexionsebene das Positivum der Liebe zu einem allgemeinverbindlichen Guten zu machen und so eine Perspektive zu suggerieren, in der Paar und Gesellschaft wieder übereinstimmen wobei diese Gesellschaft dann nur die des Publikums, nicht die des Romans sein kann. Diesem Widerspruch versucht Gottfried mit der Eingrenzung seines Publikums auf eine exklusive, nur den von ihm vorgeführten Werten der Liebe verpflichtete Gruppe (edeliu herben) zu begegnen. Er verlangt eine Zustimmung gerade zum zwiespältigen Wesen ' ' Erich Köhler spricht zum Beispiel von der »doppelten Wahrheit« (d. h. für ihn: der »absolute[n] Unvereinbarkeit der individuellen und der gesellschaftlichen Wahrheit« des Tristanromans; Köhler 1970, S. 156 bzw. 159), allerdings ohne zwischen der Gesellschaft des Publikums und der des Romans zu unterscheiden. 20 Vgl. Haug 1990, S. 66 f. 21 Ebd., S. 67. 88

der Liebe und auch zu ihren problematischen Seiten einschließlich des Scheitems und des Todes. Die Verschiedenheit des Verhältnisses von Gut und Böse im Artusroman und im Tristanroman der version commune kann damit aber auch nicht auf das Vorhandensein oder Fehlen der Wegstruktur zurückgeführt werden, 22 sondern hängt allein von den Grundkonstellationen ab: Bei Chrétien ermöglicht das unproblematische, d. h. bezüglich der Herrschaft nicht konfliktträchtige Verhältnis zwischen Paar und Gesellschaft eine Bewältigung des alle angehenden Negativen über einen Weg, der durch einen dritten Bereich führt. Im Tristanroman können Wege in dritte Bereiche nur an einen extremen Zielpunkt führen, d. h. es muß einer der beiden konträren Bereiche geopfert werden: entweder die Gesellschaft (Waldleben/Minnegrotte) oder das Paar mit seiner Liebe. Einen Weg zurück in eine Gemeinsamkeit kann es nicht geben. 2 ' Die Strukturen der Romane sind also eher Folgen der Grundkonstellation als deren Voraussetzung; Strohschneider hat beispielsweise gezeigt, inwiefern die Liebe-Herrschafts-Konstellation die Strukturen von Eilharts >Tristrant< prägt. 24 5.

Chrétien und der >Tristan
Tristan< war nicht zu widerlegen, weil er eine echte, menschliche und individuelle Wahrheit gegen eine bereits künstlich g e w o r d e n e gesellschaftliche vorbrachte.« - Frappier 1 9 5 7 , S. 122: »L'arbitraire est chez lui d'avoir méconnu la vérité humaine et tragique d u >TristanTristan< und dessen menschliche Wahrheit in seinem >Cligès< der höfischen D o k t r i n geopfert.« 31

Haidu 1968. ' 2 Siehe unten S. 95. " Bertau 1 9 7 2 , S. 498-509. 34 Baehr 1 9 7 1 , S. 45 ff. 35 E b d . , S. 55fr. 36 E b d . , S. 5; f., das Zitat S. 55. 37 H a u g 1992, S. 1 1 8 .

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Mein Versuch, dieses Bild des >Cligés< noch zu differenzieren, setzt bei zwei Fragen an: i. Läßt sich Chrétiens Replik an irgendeiner Stelle nicht nur auf der >moralischen< Ebene, sondern strukturell zu dem in Beziehung setzen, was oben als Differenz zwischen Tristanroman und Artusroman beschrieben wurde? 2. Wie sind in diesem Zusammenhang die >ErecCligés< zu verstehen? 1. Der >Cligés< ist gewiß eine Parodie. Für Parodien ist kennzeichnend, daß sie die Problematik des Gegenstandes, den sie aufgreifen sei es, daß sie mißfällt, sei es, daß sie für nicht überzeugend gehalten wird - durch Änderung des Inhalts bei Bewahrung der äußeren Form aufbrechen, um dadurch die Gestaltung des Problems mit verschiedenen Mitteln, etwa dem der Übertreibung, lächerlich machen zu können. Was Chrétien an äußeren Merkmalen beibehält, besteht in der Elternvorgeschichte, dem psychologischen Raisonnement, einzelnen Motiven sowie vor allem der Onkel-Neffe-Ehefrau-Konstellation. Weiterhin ist wohl Voraussetzung, daß der Verfasser deutlich Distanz zu den Figuren vermittelt, denn andernfalls würde aus der problemhaltigen Vorlage keine Parodie, sondern ein Trivialroman. Bisher hat man die >Lösung< der Tristan-Problematik im >Cligés< überwiegend dort gesehen, wo Fénice handelt und/oder sich äußert, z. B. darüber, daß sie nicht der Fatalität ausgeliefert sein wolle, daß sie den Ehebruch nicht durch eine Flucht öffendich machen wolle und daß sie ihren Körper nicht »deus rentiers« (zwei >TeilhabernNutznießernschiefe< Brautwerbung zum Grundkonflikt der Überlagerung von Liebes- und Herrschaftsbindung führt. Hätte er diesen tatsächlich beibehalten, wären allerdings viele Motive nur provokativ dagegengestellt und der Tod des Ehemannes literarisch gesehen nur ein Effekt in der Art eines deus ex machina. Also legt Chrétien die Handlung so an, daß der Herrscher kein wirklicher Herrscher ist; Alis, der Onkel des Cligés, sitzt zu Unrecht auf dem Thron. Zwar usurpiert er diesen nicht von vornherein mit Absicht, sondern aufgrund der Lüge vom Tod seines Bruders, aber er bricht

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das nach dessen Rückkehr gegebene Versprechen, zugunsten des legitimen Thronfolgers Cligés auf eine Heirat zu verzichten. Damit erhalten alle Tristan-Motive eine andere Bedeutung: Markes freiwillig geplanter Eheverzicht wird zur nicht eingehaltenen Verpflichtung, und die den Kaiser beratenden Barone werden zu Vertretern des eindeutig Negativen (während sie im Tristanroman in der Charakterisierung als félons nur auf das Paar bezogen Schufte sind). Der Wortbruch des Kaisers wird wie auch die nicht legitimierte Herrschaftssituation thematisiert und im Erzählerkommentar ausdrücklich verurteilt ( w . 2418, 2433, 2456, 2592fr., 2656fr.). Dazu kommt folgendes: Haidu hebt gerade am Beispiel der Figur des Alis hervor, wie Chrétien Realität und Illusion kontrastiert. Nach der Rückkehr seines Bruders trifft der Kaiser mit ihm ein Abkommen, in dem er ihm die reale politische Macht zugesteht, während er selbst weiterhin als Herrscher behandelt werden will: Mande Alixandre qu'a lui veigne E t tote la terre mainteigne, Mes que tant Ii face d'enor Qu'il lest le non d'empereor E t la corone avoec li lest. ( w . 2519-2523) (Er bittet Alixandre, zu ihm zu kommen und über das ganze Land zu herrschen, ihm, Alis, jedoch die Ehre des Kaisertitels und die Krone zu lassen.)

Damit macht er sich zum illusionären Kaiser, zum Schein-Herrscher.'8 In dieser Perspektive ist dann der >Liebesillusions-Trank< eine logische Ergänzung, und Fénice begründet im Gespräch mit der Amme ihre Bitte um eine solche Hilfe auch genau mit der Illegitimität der Heirat: sie wolle keine Kinder gebären, die Cligés um seinen Thronanspruch bringen würden ( w . 3141fr., bes. 3i5 2f.).' 9 Genauso gehört Alis' Tod in diese Reihe; er stirbt aus Wut, nachdem er von der Täuschung erfahren hat und das Paar nirgends zu finden ist. Gewissermaßen zieht er nur die Konsequenz aus seiner illusionären Existenz, indem er ganz abtritt. Haidu weist darauf hin, daß an dieser Stelle, als ein Diener des Alis von der Flucht des Paares berichtet, das zentrale Wort wieder aufgegriffen wird, das Chrétien zur Bezeichnung des nur vorgegaukelten Objekts von Alis' Begierde - in variierender Wiederholung - benutzt

58 39

Haidu 1968, S. 8 3 f. Dieses Argument aus Fenices Mund scheint man in der Forschung übersehen zu haben, weil man sich so sehr auf das moralische Sich-Absetzen von Yseut konzentriert hatte, das wenige Verse vorher formuliert wird.

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hatte: »Mes de néant estes jalos« (Ihr seid aber auf ein Nichts eifersüchtig; v. 6486 [Hervorhebung von Haidu], vgl. w . 3316fr.). 40 Damit können die von Anfang an angelegten und nur vorübergehend durch einen rein äußerlichen, scheinbaren Konflikt problematisierten Verhältnisse wiederhergestellt werden. Chrétien hat also keinesfalls nur plumpe Tricks gegen die Wahrheit des >Tristan< gestellt, sondern diese Wahrheit in Gestalt des Konflikts aufgelöst; parodistisch wird das Ganze tatsächlich vor allem durch die Übertreibungen und das Handeln der Figuren, wie es Haidu beschreibt. Auch Fénices Planen und Handeln stellt eine Illusion dar, und zwar insofern, als sie sich bewußt von einer Figur Yseut - abheben will, in deren Konflikt sie selbst gar nicht wirklich steckt. Haidu zieht hier merkwürdigerweise einen anderen Schluß; er meint, daß Fénice Yseuts Rolle letztlich nicht entgehe, weil ihre Lösung widersprüchlich sei, und daß Chrétien damit selbst zeigen wollte, daß dem >Tristan< nicht beizukommen war: »Fénice's love is socially and morally adulterous«.4' Ich meine dagegen, daß durch die Schein-Situation im Ganzen die gesellschaftlichen und moralischen Probleme ebenfalls scheinbare werden. Fénices hochmoralische Weigerung, mit zwei Männern zu schlafen, verliert doch viel, wenn nicht alles von ihrem Anspruch, wenn der Ehemann eigentlich weder strukturell noch moralisch gesehen ein Recht auf sie hat. Die Figuren werden also durch ihren falschen Anspruch, die Handlung selbst steuern zu wollen, ironisiert.42 Zwar wird durch die illegitime Herrschaftssituation die Wahrheit des Paares wieder zu der der realen (nicht-illusionären) Gesellschaft des Romans, und beide Perspektiven stimmen überein, aber angesichts der fehlenden echten Problematik kann es nicht anders als parodistisch gemeint sein. Bertau meint, Chrétiens Ironie schließe »auch noch das eigene künstlerische Handwerk« ein 4 ' - hier lohnt vielleicht noch ein Seitenblick auf das arthurische Modell, womit ich zu meiner zweiten Frage komme. z. Durch die Reisen der männlichen Protagonisten zu Artus und die Tatsache, daß das Paar nach der Entdeckung bei ihm Zuflucht findet, ist

40

Haidu 1968, S. 84f. Ebd., S. 106, vgl. S. 110. 42 Vgl. zur Figurenbehandlung auch Bertau 1972, S. 508: » [ . . . ] die Figuren sind allesamt nur Marionetten. [ . . . ] Sie sind alle mit einem Eifer an ihren Rollen, der an die übereilten Gesten medianischer Puppen mit abschnurrendem Uhrwerk im Bauch denken läßt. Wer hier lacht, ist der Dichter.« 4 ' Ebd.

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der Typ des Artusromans im Hintergrund präsent, und die Formeln von ferne et amie am Schluß rufen den >Erec< in Erinnerung. Man kann auch bemerken, daß Chrétien bei den Änderungen, die er Fénice und Cligés gegenüber dem >Tristan< vornehmen läßt, vor allem die Momente im Auge hat, die dort symbolisch für die Absolutheit der Liebe stehen und diese als einzigen Bezugspunkt haben, aber deshalb nicht kausal, sondern durch Zufall motiviert sind. Es handelt sich um den Minnetrank und um den Aufbruch ins Minneparadies. Im >Erec< sind >symbolischeTristan< nicht etwa durch etwas ersetzt, was dem >Erec< vergleichbar wäre; vielmehr wird der Roman gerade dadurch zur Parodie, daß Fénice und Cligés alles das, was sowohl Tristan und Isolde wie auch Erec und Enide als ihnen zufallig Begegnendes erleiden und bewältigen müssen, selbst planen - Fénice beginnt damit, schon lange bevor ein Liebesgeständnis in Sicht ist - , der Autor aber dazu auf Distanz bleibt (obwohl er das Geplante gelingen läßt). Wo kein echter Konflikt problematisiert wird, da ist leicht planen, und da haben ideelle Prinzipien wie qui a le euer, cil a le cors (»demjenigen, dem das Herz gehört, gehört auch der Körper«; v. 3123) und ferne et amie (»Ehefrau und Geliebte zugleich«), was am Schluß des >Cligés< breit ausgeführt wird ( w . 6631— 6638), keine ernstzunehmende Bedeutung. 44 So kann Chrétien auch noch ein zentrales Stück seines Modells parodieren: Der symbolische Durchgang durch den Tod 4i ist hier ebenfalls selbstgemacht - die Protagonistin wird nicht zufällig >FénicePhoenixLe Chevalier de la charrete
Cligés< aufgrund der konstruierten Schein-Situation gar nicht um eine wirklich absolute, herrschaftsfreie Liebe ging, versuchte Chrétien im >Chevalier de la charreteAuslagerung< spielt mehreres eine Rolle, was vielleicht einer erneuten Betrachtung wert ist. Wenn man an die Struktur der Tristan-Konstellation denkt, könnte man es auch so formulieren: Chrétien behält zwar den Grundkonflikt bei, d. h. die Herrschaftsbindung und die Liebesbindung mit der aufgeteilten männlichen Rolle in Herrscher und Held bestehen gleichzeitig, aber er teilt auch die Gesellschaft auf. In der ersten Hälfte des Romans bleibt die Artusgesellschaft mit dem Herrscher ausgeklammert (genau gesagt von dem Moment an, als Lancelot auftaucht). Die andere Gesellschaft (bestehend aus den Bewohnern von Gorre und den dort Gefangenen aus dem Artusreich), in der sich die Liebesbegegnung abspielt, ist so gefaßt, daß sie zwar als solche keine böse ist, daß aber der Gegenspieler des Paares, Meleagant, gerade nicht die gesellschaftlichen Interessen vertritt, sondern das inkarnierte Böse darstellt. Dies wird vermittelt über das Motiv des Konflikts zwischen Vater und Sohn, denn Meleagant ist der Sohn des untadeligen, guten und die Gesellschaft repräsentierenden Königs Baudemagu. Meleagant wird also Gegenspieler des Paares und gleichzeitig der Gesellschaft, und so gelingt es Chrétien, die Bedeutung von Gut und Böse nicht in Richtung des Tristanromans mit dessen doppelter Wahrheit verschieben zu müssen. Im zweiten Teil aber, der in die Artusgesellschaft zurückfuhrt, muß die Liebe als Realität aufgegeben und kann nur spielerisch - im Turnier von Pomeglai - in Erinnerung gerufen werden. 48 Diese Alternative aber zwischen Ausschaltung der Gesellschaft einerseits, Aufgabe der Liebe andererseits ist genau die, die sich bei der

46

Die Diskussion um den Prolog und die Frage, ob Chrétien diesen Roman widerwillig verfaßt habe, hat durch die Neuinterpretation von Rychner 1967 eine entscheidende Wendung erfahren. Rychner versteht den gesamten Prolog als Lob der Gönnerin Marie (S. 9ff. und 21) und übersetzt, gestützt auf sprachwissenschaftliche Untersuchungen, doner sens und doner mattere sinngemäß mit >auffordern< und >Gelegenheit geben< (zu sens S. 11—15; zu mattere S. 15-21)- Im Anschluß daran deutet Haug 1978, S. zoff. und 1992, S. 1 0 8 - 1 1 2 , san als Sinngebung, zu der die Auftraggeberin den Autor inspiriert habe. Dies sei als Huldigung, die vor allem durch die Parallele zum >ErecErecChevalier de la charrete< eignet. 50 Auch hier möchte ich der Frage nach dem Verhältnis von Gut und Böse sowie von Leben und Tod noch genauer nachgehen. Der Bezug zwischen Tod und Leben im >Chevalier de la charrete< ist ja wohl analog zum Modell des >Erec< zu fassen; daß Thomas, auf den Chrétien sich bezieht, schon die bei Gottfried durchgeführte Tod-Leben-Metaphorik, wo Tod und Leben letztlich zusammenfallen, entwickelt hatte, ist in Anbetracht des Fehlens einer solchen Begrifflichkeit im überlieferten Schluß nicht anzunehmen; auch das kürzlich entdeckte Thomas-Fragment mit der Minnetrankszene, die Gottfried ja gerade dafür nutzt, gibt keine solchen Hinweise. Was aber im >Erec< nur Durchgang ist, wird hier in symbolischer Form Grundzustand, so daß man kein Gegenüber von Liebespaar und Gewalt des Todes vor sich hat, sondern eine Uberlagerung: Die Liebe selbst führt den Helden in den Tod. 5 ' Trotzdem bleibt der Tod als solcher eine Gegenkraft, und dies fuhrt dann zu einer inneren Ambivalenz der Liebe. Diese verstehe ich aber nicht primär als Verschränkung von traditionellem und neuem Typus, heroischer Werbung und Durchgang durch den Tod,' 2 -sondern als spezifische Alternative zur Tristan-Ambivalenz, gewissermaßen als den Preis dafür, das Problem der doppelten Wahrheit des Guten und Bösen im Tristanroman hier ausgeklammert zu haben. Dies führt dazu, daß die Erfahrung des Todes zu einem der Liebe selbst inhärenten Negativum wird."

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Z u m letzteren siehe Haug 1971, S. 691 f. Vgl. Haug 1993, S. 40. Ebd. 52 Ebd. " Im Prosa-Lancelot, der diese Ambivalenz in gesteigerter Form, allerdings unter anderen Voraussetzungen übernimmt, zeigt sich dieser Wechsel beim Ubergang zur >Mort ArtuTristan< zu entschärfen und gleichzeitig das Konzept der fin'amor trotz der narrativen Umsetzung nicht zu zerstören. Er bietet so eine echte Alternative zur Tristanliebe, nimmt dabei allerdings die innere Ambivalenz der Liebe in Kauf. Im zweiten Teil des Romans muß dann die Verbindung aus arthurischem Modell und absolutem Eros zerbrechen, es sei denn, man versteht - wie oben schon angedeutet - die Verwandlung der jenseitig-konkreten Liebe in eine diesseitig-abstrakte ,4

Z u r Krise siehe Haug 1978, S. 40-46; 1992, S. 1 1 3 f.

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als die gerade noch gelungene Rettung des Absoluten und akzeptiert die Verbindung von Rückkehr in die Gesellschaft und Bewahrung der Liebe als Erinnerung für diesen Roman als >Balance aller KräfteKarrenritters< dazu an, die Handlung in den eigenen Text übergehen zu lassen, indem er die große Szene mit dem Karren am Artushof und dem ersten Auftritt Bohorts einfugt.

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IV.

Liebe und Herrschaft im Prosa-Lancelot

Die Forschung zum Prosa-Lancelot h a t d e n Z u s a m m e n h a n g zwischen Liebe und Herrschaft meist unter dem allgemeineren Begriffspaar >Liebe u n d Gesellschaft* gefaßt u n d das Verhältnis der Lancelotliebe zur arthurischen Gesellschaft und ihrem Herrscher unterschiedlich bewertet. Zunächst einmal wurde überall registriert, daß diese Liebe einerseits Lancelot zum idealen Repräsentanten und auch Beschützer der Artuswelt mache, andererseits aber ihn vor der höchsten Aufgabe, der Gralsuche, versagen lasse und schließlich sogar den U n t e r g a n g dieser ganzen Welt herbeiführe. Manche haben vor allem das erstere gesehen u n d als eine entschärfte, nicht-subversive Variante der Tristanliebe verstanden, da sie nicht gegen die Gesellschaft gerichtet sei, sondern ihr nütze; 1 das M o m e n t des Ehebruchs sei zurückgedrängt v o m Interesse an der »action héroique«, 2 die Liebe sei nie »une fin en elle-même« wie im >TristanErec< u n d des >Yvain< - vor allem den Aspekt der Unintegrierbarkeit, die »gesellschaftliche Isolation dieser nicht integrierten, letztlich außergesellschaftlichen Minnebeziehung«, 4 einer Minne, die kein salde-Ziel habe, 5 oder meinen, »die eigentliche Problematik dieser Liebe [sei] nicht vorrangig in ihrem privaten Aspekt [ . . . ] , sondern in ihrem öffentlichen« zu finden. 6 U n a b h ä n g i g v o m Gesichtspunkt gesellschaftlicher >Nützlichkeit< 1

Payen 1973. Lot-Borodine 1979, S. 62. 3 Ebd. - Ähnlich Kennedy 1986, 2. B. S. 71 f. - Vgl. auch Ruh 1970, S. 24; f. 4 Hirschberg 1986, S. 260. ' Ebd., S. 245. 6 Speckenbach 1993 [b], S. 347. - Das Problem solcher Wertungen mag auch mit einer mangelnden Differenzierung des Begriffs >Gesellschaft< zusammenhängen; ich komme nochmals auf H u g o Kuhn zurück, der den Zusammenhang von Liebe und Gesellschaft vorrangig auf ein »Interaktionsmodell der >artistisch< freien Kompetenzen-Konkurrenz« bezieht (Kuhn 1980 [a], S. ; ; ; vgl. 1980 [b], S. 66). Die absolute Liebe, die in diesem Rahmen zum höchsten gesellschaftlichen Wert-Prinzip erhoben wurde, könne durchaus, wie im >TristanTristan< ist subversiv-gesellschaftsfeindlich; >Erec< und >Yvain< führen die Integration von sozialer Identität und Minneidentität vor; im >Erec< bezieht der Eros Sinn aus der Symbolstruktur, im >Tristan< aus dem personalen Freiraum der Liebe. Dies ist nicht generell zu kritisieren, aber vom Prosa-Lancelot wird bei dem anschließenden Vergleich offenbar vorausgesetzt, daß er grundsätzlich in entsprechender Weise angelegt sei; die Kriterien dafür erweisen sich bei näherem Hinsehen aber als zu wenig spezifisch, etwa die Tatsache, daß Lancelot ein repräsentativer Artusritter ist, oder/und die Dreieckskonstellation. Abweichungen vom Vergleichstext werden dann auch als Abweichungen vom Sinn verstanden und erscheinen als Qualitäten im einen, als Defizite im häufigeren Fall.

i.

Rollen

Bei der folgenden Untersuchung soll ein ganzes Stück unterhalb der Frage nach dem Sinn oder Wert, den die Lancelotliebe zugewiesen bekommt oder dem Leser vermitteln soll, angesetzt werden. Es geht zuerst einmal darum festzustellen, welches Grundprinzip der Liebe in ihrem Verhältnis zu Herrschaft und Macht bzw. zur >Gesellschaft< tatsächlich innewohnt, um danach die möglichen Gründe für eine solche Struktur sowie ihre Konsequenzen für die Handlung und für die Qua-

7

chen mit dem Herrschaftsmodell der Gesellschaft« erfolgen (Kuhn 1980 [a], S. 58). Eine erste Folgerung, die daraus wohl zu ziehen wäre, besteht darin, zu unterscheiden zwischen dem Wert der Liebe für die Gesellschaft im Roman und demjenigen für die Rezipienten des Romans. Haug 1993, S. 54.

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lität der Liebe selbst aufzudecken. Auf den Vergleich mit der literarischen Tradition kann natürlich nicht verzichtet werden, aber ich setze grundsätzlicher an. Ich frage also, ob die grundlegenden strukturellen Gemeinsamkeiten so weit gehen, daß auch ein Wertungsvergleich erlaubt ist. Denn: den Prosa-Lancelot mit dem >Erec< zu vergleichen ist insofern schwierig, als es hier um eine Zweier-, dort aber um eine Dreieckskonstellation geht; eine Erec-Lösung ist mithin gar nicht denkbar. Im >Chevalier de la charrete< hat man zwar die Dreieckskonstellation, aber unter Ausnahmebedingungen, die der Prosa-Lancelot gar nicht übernehmen kann, und dazu einen zwiespältigen Schluß. Den Prosa-Lancelot am >Tristan< zu messen ist insofern schwierig, als diesem der für Lancelot so wesentliche Aspekt der >Leistung aus Liebe< fehlt. Dennoch hat der Prosa-Lancelot von allen drei Typen etwas. Also ist die Frage, welches Grundprinzip eigentlich aus der hier vorliegenden Kombination mehrerer Traditionen entstanden ist oder konstruiert wurde, bevor man die Lösung des Prosa-Lancelot mit der anderer Texte vergleichen kann. Bei der Suche nach einer Antwort darauf gehe ich erst einmal von den > sicherem Gemeinsamkeiten zwischen Tristan- und Lancelot-Konstellation aus. Zuletzt hat Peter Strohschneider am >Tristrant< Eilharts von Oberg die Kennzeichen der spezifischen Dreieckskonstellation noch einmal differenziert erläutert und, wie oben schon besprochen, dabei besonders die Aufspaltung der Protagonistenrolle auf zwei Figuren, die des Helden und die des Herrschers, hervorgehoben. Auch wenn im Prosa-Lancelot keine schiefe Brautwerbung, der berühmte >Kurzschluß< durch den Minnetrank, zur Liebesbindung fuhrt, so hat man hier doch die gleiche Konstellation. Lancelot ist Held ohne Herrschaft, Artus Herrscher (fast) ohne heldenhafte Züge; Ginover hat dementsprechend eine Doppelrolle, sie ist Geliebte des Helden, aber Herrscherin als Ehefrau des Königs. Daraus ergibt sich für die Erzählung ganz wie im Tristanroman eine Uberlagerung zweier verschiedener Handlungsräume und Beziehungstypen in einem Herrschaftszusammenhang. 8 Von dieser grundlegenden strukturellen Gemeinsamkeit kann man ausgehen. Zur weiteren Untersuchung setze ich nun bei den zwei wesentlichen Faktoren dieser Grundkonstellation an und verfolge ihre Gestaltung im Prosa-Lancelot. Beim einen handelt es sich also um die Herrschaftslosigkeit des Liebhabers, beim anderen um die Spaltung der weiblichen Rolle in Herrscherin einerseits, Geliebte andererseits. 8

Vgl. Strohschneider 1993, S. 51. 103

I.I.

Die Liebhaberrolle

Der Liebhaber in der Dreieckskonstellation mit einem Herrscherpaar kann selbst nicht als Herrscher auftreten, solange alle drei Personen auf einen Hof bezogen bleiben, und selbst dann, wenn Tristrant Herrscher in Karkes wird, bleibt dies, was die Liebe selbst angeht, bedeutungslos: sie zeigt sich, wie gesagt, als politisch nicht funktionalisierbare Macht. Wenn Tristrant/Tristan darauf verzichtet, in seinem Stammland die Herrschaft anzutreten, dann ist diese strukturelle Notwendigkeit so selbstverständlich, daß sie nicht diskutiert zu werden braucht. Im ProsaLancelot wird dieser Aspekt, der für Lancelot genauso gilt, in zweierlei Weise thematisiert, und zwar implizit wie explizit. Zum einen wird die Herrschaftslosigkeit Lancelots durch die breite Darstellung seiner Kindheit geradezu als Teil seiner Identität aufgebaut; die Enterbung durch Claudas liefert die faktische Voraussetzung dafür, Lancelot von vornherein als prädestiniert für die literarisch vorgeprägte Rolle erscheinen zu lassen. Ergänzt wird diese >objektive< Vorbereitung von Lancelots Rolle auf der anderen Seite durch ein subjektives Bewußtsein der Figur vom Herrschaftsverzicht als Bedingung seiner Minne-Identität. Hervorgehoben wird dies vor allem dadurch, daß es erst in dem Moment zur Sprache kommen kann, in dem überhaupt eine Alternative zur Diskussion gestellt wird. Das heißt also, daß der ProsaLancelot literarische Strukturen reflektiert, indem er sie zum Beispiel wie hier auf der Figurenebene thematisiert. Zu diesem Zweck wird eine Figur eingesetzt, die dem Schemazwang der Tradition nicht unterworfen ist: Galahot. Zweimal weist er Lancelot auf die Möglichkeit einer Veränderung der Situation hin. Bei der Nachricht vom Auftreten der Falschen Ginover denkt er sofort an die Chance eines gemeinsamen Lebens, die sich seiner Meinung nach den Liebenden bei einer Trennung Artus' von Ginover bietet, 9 und kommentiert dies so: »Itant v o s puis dire q u ' i v o s est avenu miels qu'il n'avint onques mes a . I I . amans [ . . . ] . « ( M I 34, } £ ; nicht dt.) (»Ich k a n n E u c h versichern, daß Ihr es besser getroffen habt, als je zwei L i e b e n d e es hatten.«)

Er ist sich also der unerhörten Neuheit seines Vorschlags im Rahmen einer (Ehebruchs-)Liebesgeschichte wohl bewußt. 9

M I 3 3 f.; vgl. K I ; 1 ; ff. (kürzer, andere Formulierung, an anderer Stelle innerhalb des Kapitels; die Fassungen gehen hier auch in der Abfolge der Episoden auseinander).

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Später greift Galahot das Thema erneut auf, indem er Lancelot die Hälfte seines Reiches anbietet sowie Hilfe bei der Rückeroberung seines Erbes. 10 Aber Lancelot will sich in allem Ginovers Willen unterwerfen und behauptet zudem, er wolle warten, bis sein Ruhm so groß sei, daß seine Feinde von selbst die Flucht ergriffen. Eine eigenartige Begründung, die Galahot zwar zu akzeptieren scheint, aber nur, um dann doch zum Eigentlichen vorzustoßen - wie der folgende Dialog bestätigt: [Galahot:] »Et neporquant je sai si grant partie de vostre euer et del suen [Ginovers] que je sai bien qu'ele ne voldroit mie que vos faissies sires de tot le monde [aus Furcht, Lancelot dadurch zu verlieren]. E t tant reconois je vostre euer que vos ameries molt poi la seignorie par coi vos perdries s'amor. - Certes, sire, fet Lancelos, de ce connissies vos bien mon euer, kar j'ameroie miels a estre tos jors ansi com je sui hui que estre rois et avoir honor et la richesce par coi je perdisse ma dame la roine ne ele moi [...].« (M I 7 6 , 1 1 - 2 2 ; nicht dt.) (»Dennoch kenne ich Euer und ihr Herz gut genug, um recht gut zu wissen, daß sie Euch nicht als Herrscher der ganzen Welt sehen wollte. Und in Eurem Herzen lese ich, daß Ihr auf eine Herrschaft, durch die Ihr ihre Liebe verlieren müßtet, sehr wenig Wert legtet. - Gewiß, Herr, in diesem Punkt kennt Ihr mich gut, denn ich bliebe lieber für immer so, wie ich jetzt bin, als daß ich König wäre und Ehre, Macht und Reichtum hätte, wenn ich dadurch meine Herrin, die Königin, verlieren müßte und sie mich.«)

In dieser Passage, die wie auch die vorige im mittelhochdeutschen Text fehlt, zeigt sich also das Bewußtsein der Figur Lancelots von den Bedingungen seiner Identität als Liebender, von der Unvereinbarkeit von Liebe und Herrschaft." Daß aber die Möglichkeit einer Veränderung auch für Lancelot anscheinend theoretisch besteht, praktisch jedoch von Ginover abhängig gemacht und nicht von vornherein ausgeschlossen wird, weist bereits auf einen signifikanten Unterschied zum Tristanroman: »Mir mocht in der weit kein lieber ding geschehen«, sprach Lancelot, »herre, wüst ich das es myner frauwen als lieb were als mir.« (K I 5 1 5 , 1 4 - 1 6 ) »Ha, sire, fet Lancelos, c'est Ii consels el monde qui miels me plairoit, se il venoit ensint a volente a ma dame com a la moie.« (M I 34,26-28)

" M I 74fr.; im mhd. Text an anderer Stelle und ohne den Bezug zu Ginover: K I 509,7-510,13. 11 Die Besitzlosigkeit des Helden kann demnach nicht nur aus einem Armutsideal erklärt werden, wie Knapp 1986, S. 1 4 - 1 7 , vorschlägt. 105

(»Ach Herr«, sagt Lancelot, »dieser Rat gefiele mir von allen Dingen auf der Welt am besten, wenn er genauso dem Willen meiner Herrin entspräche wie dem meinen.«)

Später im Roman wird sich zeigen, daß Lancelot die Rückeroberung seines Erbes tatsächlich erst dann in Angriff nimmt, nachdem sich ein Konflikt zwischen Claudas und Ginover entwickelt hat und Ginover Lancelot zur Rache fur die erfahrenen Beleidigungen auffordert. Die Herrschaft über sein Reich tritt er dann aber trotzdem nicht an. Erst einmal läßt sich also festhalten, daß die für den Liebhaber in der Dreieckskonstellation kennzeichnende Herrschaftslosigkeit, die im Tristanroman wie in Chrétiens >Karrenritter< einfach gesetzt wird und unbesprochen bleibt, im Prosa-Lancelot nicht nur übernommen, sondern in besonderer Weise thematisiert wird. Auffällig ist daran, daß einerseits die strukturelle Notwendigkeit dieses Moments durch Handlung zusätzlich begründet wird - was einer generellen Tendenz des Prosa-Lancelot zu kausalen oder sonstigen einsichtigen Motivierungen entspricht - , daß aber andererseits in Lancelots subjektiver Perspektive dieses handlungstechnische Prinzip bewußt und dann von Ginovers Willen abhängig gemacht wird und daß drittens eine neue, nicht an literarische Tradition gebundene Figur mit der Fähigkeit ausgestattet zu sein scheint, die Regularität solcher Prinzipien zu erkennen und verändern zu wollen. 1.2.

Die Doppelrolle Ginovers

Die Doppelrolle Ginovers wird in einer Weise reflektiert, die im Zusammenspiel von Ereignissen und Figurenreaktion Ähnlichkeiten mit dem eben geschilderten Umgang mit dem Prinzip der Herrschaftslosigkeit des Helden erkennen läßt. In der Episode der >Falschen Ginevra freundschaftlich oder auch >im lehnsrechtlichen Sinne liebem zu verstehen.

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»so mag ich Lancelot zu recht wol lieb haben das er allen mynen willen thut! [ . . . ] D a was ich im lieber dann ich uch were; darumb wil ich yn mynnen ob allen mannen und wil es yn in kurczen stunden laßen geware werden das ich yn minne [...].« ( K I 533,} 1 f. und 5 3 4 , 1 - 3 )

Zweitens gibt Ginover für ihre Entscheidung eine religiöse Begründung: Sie verstehe diese Prüfung als göttliche Strafe für ihre Liebe zu Lancelot: »wann ich umb unsern herren gott verwurckt han mit mym übe« (K I 534,19; nicht frz.; vgl. aber M I 1 5 2 , 8 - 1 0 ) »darumb wene ich wol das midi unser herre got plage und das er wil das ich die sünde laß, und das ich myn furter hüt.« ( K I 534, 3of.)

Im französischen Text ist dies noch deutlicher ausgedrückt: »Ii pechies m'a neü de ce que je me cochai o autre qu'a mon seignor.« (MI ij2,4£) (»mir hat die Sünde geschadet, die ich beging, als ich mit einem anderen als meinem Ehemann schlief.«)

Man könnte hier natürlich den Ansatz der geistlichen Linie erkennen, unter deren Vorzeichen die Liebe zunehmend nur noch als Sünde gedeutet werden wird, wie das auch schon vorgeschlagen wurde. 16 Dann hätte man hier als erstes sogar die reuige Einsicht der Sünder in ihre Schuld, aber drittens will Ginover auf die Liebe selbst gar nicht verzichten, sondern verteidigt die innerweltlich-höfische Legitimation dieser Neigung: »Mir verwißet auch keyn hübsch man nymer das ich mit uch gethan han [...].« ( K I 5 3 4 , 2 4 * )

Dem entspricht: » E t neporquant il n'a si preude dame el monde qui ne deust fere un grant meschief por metre a aise un si preude chevalier com vos estes [...].« (M I 1 5 2 , 5 - 8 ) (»Und doch: es gibt keine Frau auf der Welt, und wäre sie noch so vornehm und untadelig, die nicht einen großen Fehltritt zu begehen verpflichtet wäre, u m einen so vorbildlichen Ritter wie Euch zu beglücken.«)

16

Lot-Borodine 1954, S. 445f.; Kennedy 1986, S. 262f.; Speckenbach 1993, S. 532; vgl. Freytag, H. 1986, S. 209. 108

Überdies behält sie sich v o r , diese ausdrücklich v o r l ä u f i g e Entscheid u n g zu g e g e b e n e m Z e i t p u n k t wieder r ü c k g ä n g i g zu machen: »biß an die stunt das es mich selb gut duncket [...].«

( K I 534,35)

»et quant j'en avrai lieu et tens et vostre volentes sera, vos avrois volentiers le sorplus. Mais tels est ore ma volentes que il vos en covient a soffrir une piece [...].« (M I 152,18f.) (»und wenn ich Zeit und Gelegenheit dazu haben werde und Ihr den entsprechenden Wunsch habt, so werdet Ihr gern wieder mehr bekommen. Aber im Moment verlange ich, daß Ihr eine Weile darauf verzichten müßt.«) G i n o v e r rechnet damit, w i e d e r in ihre Herrschaftsrechte eingesetzt zu werden: »Also werlich muß mir got uß dem laster helffen des ich bezigen bin, als ich des koniges dochter was von Tamelirde und der koniginne und des konig Artus wip mit recht bin ane allerslacht falsch!« (K I 554,21-23) »je sui departie del roi mon seignor par mon meffet, je le conois bien: non pas por ce que je ne soie sa ferne esposee et roine coronee et sacree ausi com il fu, et sui fille al roi Leodagan de Tarmelide [...].« (M I 151,24-152,4) (»ich bin von meinem Herrn, dem König, getrennt aufgrund meines Vergehens, das ich durchaus gestehe: es besteht aber nicht darin, daß ich nicht seine ihm rechtmäßig angetraute Ehefrau wäre, nicht genau wie er gekrönt und gesalbt, sondern ich bin sehr wohl die Tochter des Königs Leodagan von Tarmelide.«) Ihre S ü n d e bereut sie nicht wirklich: »Wann als viel als ich mit uch gefelschet han, das geruwet mich auch nymer.« (K I 534,23f.; nicht frz., vgl. aber M I 152,5-8 [s.o.] und 2 1 - 2 3 ) G a n z offensichtlich dienen die religiösen S c h u l d g e f ü h l e n u r als Mittel z u m Z w e c k ; dieser aber w i r d am A n f a n g und am E n d e der kleinen R e d e , die ich gerade zerlegt habe, deutlich: »Vil lieber frunt«, sprach sie zu Lancelot, »ir seht wol das es mir uneben get und das ich ein wil der großen eren darben muß der ich gewon was [...].« (K I 534,17-19; nicht frz.)' 7 »Ich muß mich nu me hüten, das wißt ir wol, dann zu andern ziten.« ( K I 5 3 5,4f-) 17

Im frz. Text heißt es an der entsprechenden Stelle: »la chose est issi menee, com vos vee's, que je sui departie del roi mon seignor« (»wie Ihr seht, ist es nun so weit gekommen, daß ich von meinem Herrn, dem K ö n i g , getrennt bin«; M I 1 5 1 , 2 3 - 1 5 2 , 1 ) .

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»kar je sui o r e el p o i n t o u il me c o n v e n d r o i t miels g a r d e r que onques mes ne fis [ . . . ] . « (M I 152,11-13) (»denn ich b i n jetzt in einer L a g e , in der ich vorsichtiger sein m u ß als je zuvor.«)

Ihr eigenartiger Entschluß samt widersprüchlicher Begründung kann nur so interpretiert werden, daß sie ihr Ziel, ihren Status als Königin, der hier und später mit ere umschrieben wird, zurückzugewinnen, auf eine bemerkenswert konsequente Weise zu erreichen versucht: Dem Angriff auf ihre Doppelrolle, durch den sie zeitweilig aus ihrer Herrschaftsposition vertrieben wird, begegnet sie durch den Verzicht auf die Geliebtenrolle; sie ist also bereit, um der Herrschaft willen die Rolle der Geliebten preiszugeben.' 8 In ihrer im mittelhochdeutschen Text gegebenen B e g r ü n d u n g dafür, daß sie auf die Liebe zu Lancelot nicht verzichten könne, die die des französischen Textes' 9 expliziert, liefert sie gleichzeitig die Erklärung für den Verzicht wie auch für dessen zeitliche Begrenzung, denn hier wird das formuliert, worin das Grundprinzip dieser Liebe zu erkennen ist: »das mich d e r starcken mynne k r a f f t darzu bracht das ich uwern willen thun

must, die ir mir mit gewalt in myn herc^ sandtet mit großem dienst den ir mir und

myme herren dick datent. Und darnach macht es u w e r biederbekeit u n d u w e r hubscheit u n d u w e r wolstender lip das ich uch m i n n e n must on maß.« ( K I ; 34, 2 6 - 3 0 ; H e r v o r h e b u n g v o n mir).

Daß Lancelots Liebe ihn dazu befähigt, Großes zu leisten und das Artusreich zu stützen, zu sichern und ihm Glanz zu verleihen, ist ja schon ein Topos der Forschung. Was aber meines Wissens bisher nicht aufgefallen ist, ist die Tatsache, daß es sich dabei nicht um eine mehr oder weniger zufallig aus der Kombination von Chretienschem Artusroman und Tristanroman entstandene Begleiterscheinung der Liebe handelt, die m a n unter dem Stichwort gesellschaftlich positive W i r k u n g der Liebe< ablegen kann, sondern daß — wie Ginovers Formulierung deutlich macht - diese Funktionalisierung der Liebe im Dienst der 18

An einer früheren Stelle im französischen Text spricht Guenievre - in einer Unterredung mit Galahot - ebenfalls von Sünde; sie behauptet, wenn Artus sie am Leben lasse, sei eine Verstoßung nicht weiter schlimm: sie habe ja genug zum Leben. Falls sie aber sterben müsse, müsse sie auch um ihre Seele fürchten (M I 117f., §§ 16+17). Sie befindet sich zu diesem Zeitpunkt in berechtigter Todesangst, denn das drohende Urteil ist noch nicht gefällt; es ist also naheliegend, daß ihr die Verstoßung als das kleinere Übel erscheint. Später, nachdem klar ist, daß sie nicht hingerichtet werden wird, richtet sich ihr Interesse wieder auf ihre Stellung und ihr Ansehen. '9 »vos l'aves deservi« (»Ihr habt es verdient«; M I 152,22). 110

Herrschaft gleichzeitig ihre Voraussetzung ist, was weitreichende Konsequenzen für das Wesen dieser Liebe im ganzen hat. 20 Wenn also die Sicherung von Artus' und Ginovers Herrschaft schon wie Ginovers Worte belegen - am Beginn der Liebe stand, 21 so ist es nicht verwunderlich, wenn dieses Kriterium auch hier die Möglichkeit einer erfüllten Zeit zurückdrängt, und sowohl der Liebesverzicht wie seine Begrenzung erweisen sich als konsequent. Durch den Verzicht will Ginover jede weitere Gefährdung ihrer Position vermeiden und gleichzeitig Gott auf ihre Seite ziehen, da sie sich ja hinsichtlich der offiziellen Anklage im Recht weiß und hinsichtlich der inoffiziellen Vorwürfe mit Enthaltsamkeit reagiert. Andererseits hat Artus gerade in dieser Affäre wieder bewiesen, daß er ohne Beistand von außen nicht mehr in der Lage ist, seine Herrschaft zu sichern - ohne Lancelot hätte er die Königin einer grausamen Folter ausgeliefert und sie gegen eine Betrügerin eingetauscht. Ginovers Kalkulation geht auf: Gottes Eingreifen bringt alles ins Lot, und Lancelot hat bald wieder Gelegenheit, eine weitere existentielle Bedrohung vom Artusreich abzuwenden und seine Unentbehrlichkeit unter Beweis zu stellen. Paradoxerweise ist die Schwäche des Königs, die diese Konstellation begünstigt, auch die >historischbiographische< Ursache dafür, daß Lancelot als Besitzloser dafür prädestiniert ist, die entsprechende Rolle in dieser Konstellation zu übernehmen, denn Artus war nicht in der Lage gewesen, seinem Vasallen Ban, Lancelots Vater, gegen den Eroberer Claudas beizustehen. Artus' Schwäche ist anders als in Chrétiens Romanen oder anders als bei Marke im Tristanroman im Prosa-Lancelot allerdings nicht mehr rollentypisch oder strukturell zu verstehen; im Gegenteil, sein Auftreten als Heerführer und später auch als Kämpfer läßt sein Versagen nur um so gravierender erscheinen. Daß er beispielsweise im Krieg in Schottland eine so jämmerliche Figur macht, erscheint insofern bewußt gesetzt, als die chronikalischen Texte diese Kriege als seine größten Erfolge präsentieren; und da der Prosa-Lancelot an anderer Stelle (Krieg in Flandern) durchaus GeofFreys heroischer Artusdarstellung folgt, wird die planmäßige Art der Abwandlung deutlich. Bei dieser Konstellation geht es allerdings keinesfalls um ein moralisches Problem, etwa in dem Sinn, daß Lancelots und Ginovers Ehebruch durch Artus' zweimaligen eigenen Ehebruch gerechtfertigt wür20

21

Speckenbach 1993 erkennt zwar eine Hierarchisierung, aber nicht deren Tragweite, und gibt eine unzureichende Begründung (S. 347). Z u den Thesen v o n Elisabeth Schmid (Schmid 1990) siehe unten S. 1 4 3 f r . Dazu noch ausfuhrlicher S. n 8 f f . und K a p . IV.2.2.

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de.22 Eine >Rechtfertigung< ließe sich allenfalls auf das Versagen resp. den Triumph im Herrschaftskontext beziehen. Denn die Ehe wird auch hier - wie dies Strohschneider für den >Tristrant< gezeigt hat - mit Herrschaftsbindung gleichgesetzt. Ginge es um den Gegensatz zwischen Liebe und Ehe oder um Liebe an sich, so könnte ja Artus mit der falschen Ginover, Lancelot mit der echten jeweils seiner Wege gehen. Man könnte nun einwenden, dann sei die Geschichte ja zu Ende, aber es gibt noch ein schlagkräftigeres Argument. Artus' Handeln, das ja in dieser Episode viel massiver der geistlichen Kritik ausgesetzt ist als dasjenige Ginovers (ihr selbst wird ihr Vergehen überhaupt nicht von außen, geschweige denn öffentlich, vorgeworfen!), stellt nicht primär einen moralisch-sittlichen Verstoß dar, sondern eine Bedrohung seiner eigenen Herrschaft; vermittelt wird das über das Motiv der Tafelrunde als Ginovers Mitgift, deren Bedeutung die Botin der falschen Ginover hervorhebt: »uch [Artus] wart die riehst gäbe mit ir gegeben die man ie mit keiner frauwen gegab: das was die tavelrunde, der so manig ere gescheen ist.« (K I 496,1 f.; M I 25,20-22)

Sie verhängt sogar ein Verbot über die Tafelrunde: »Ir herren, die gesellen heißent von der tafeirunde, ich verbut uch die tavel und den namen von unsers herren gottes wegen und von myner frauwen wegen, biß an die stunt das mynr frauwen nach gerechtem urteil geriechtet würt und das myn frau und myn herre der konig sich mit recht bescheident welche under yn die tafelrund mit recht behalt, wann sie myner frauwen vatter mit siner dochter dem konig Artus gab zu rechtem hileiche. Mit recht sol auch nit me tavelrunden über all die werk syn dann eyne, dieselb was myner frauwen vatter angeborn!« (K I 496,24-31; M I 26,24-27,9)

Da die Botin mit diesen Hinweisen den Betrug ihrer Herrin zu sichern sucht, malt sie im Grunde das aus, was dem Artusreich droht, falls der Betrug tatsächlich gelingen sollte. Gerade mit dem letzten Hinweis auf die Einzigartigkeit und Unersetzbarkeit der Tafelrunde wird klar, daß durch diese Affäre der innerste Kern des Artusreiches und damit seine Aufgabe und Fähigkeit, das Recht der Vasallen zu garantieren sowie die Aventüren zu Ende zu bringen, bedroht ist. Zugespitzt könnte man also sagen: Der trickreiche Anspruch der Betrügerin, Liebe und Herrschaft in der Ehe vereinigen zu wollen, gefähr22

So z.B. Speckenbach 1993, S. 330: »Während Artus den Verführungen der Zauberin Gartissie erliegt und von ihr gefangengesetzt wird, hebt sich davon positiv und gewissermaßen gerechtfertigt die Vereinigung von Ginover und Lancelot ab.« 112

det diese Herrschaft, während die außereheliche Liebe sie rettet. Von hier aus betrachtet erweist sich das Zusammenspiel zwischen Ginover und der geistlichen Macht sowie Gott höchstselbst als völlig stimmig, und es wird deutlich, daß der geistliche Einfluß auf die Lösung dieser Affäre nichts mit der keuschheitsverherrlichenden, weitabgewandten >Questegespaltene< Rolle, den das Auftreten der Betrügerin darstellt, reagiert sie mit ihrem Verzicht auf die Geliebtenrolle; sie unterbindet damit - nachdem Lancelot sie bereits vor der körperlichen Strafe bewahrt hat - den wegen Artus' Schwäche eigentlich notwendigen Konnex zwischen Ehebruchsliebe und Artusherrschaft, tut dies aber in der berechtigten Annahme, daß Gott für den Rest schon sorgen werde.24 Gott und die Kirche bis hinauf zum Papst, der seinen Bann über das Artusreich verhängt, agieren also nicht gegen Unkeuschheit und Ehebruch, sondern gegen herrschaftsbedrohende Handlungen; damit fügt sich diese Episode vorzüglich in die Reihe der vorausgegangenen geistlichen Ermahnungen, die ebenfalls Artus' innenpolitisches Versagen im Auge hatten und ihn bereits zu Buße und Besserung gezwungen hatten.

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24

Micha versucht, alle geistlichen Aspekte auf die >Queste< hin zu ordnen und als Einheit bei stetiger Intensivierung zu verstehen: »On ne constate pas un changement, mais un crescendo dans une même tonalité.« Micha 1984; 1987 [a], S. 167-206, das Zitat 1987 [a], S. 170. Das scheint mir gerade angesichts dieser Episode nicht haltbar. Diese Art der Aufgaben-Verteilung ist - trotz einer gewissen Formelhaftigkeit - auch sehr schön ausgedrückt in Gauvains Kommentar im afz. Text: »ne il ne remaint mie en nos que ma dame ne fust destruite, mais il remest en Dieu avant et en Lancelot après.« (»es liegt nicht in unserer Hand, ob unsere Herrin getötet wird oder nicht, sondern zunächst in Gottes Hand, und dann bei Lancelot.«; M I 163,10—12) - wobei die Reihenfolge natürlich eine hierarchische, nicht eine chronologische meint.

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3

i.}.

Tristan-Vergleich

Da in den Tristanromanen bei der Rückkehr Tristans und Isoldes aus dem Wald bzw. der Minnegrotte der Gesichtspunkt der ere ebenfalls eine Rolle spielt und zudem die Vermittlung der Rückkehr durch einen Eremiten (bei Berol) offenbar die Gestaltung im Prosa-Lancelot beeinflußt hat, 2 ' sollten die essentiellen Unterschiede noch eigens herausgehoben werden, gerade auch im Hinblick auf die eingangs festgestellten Minimal-Gemeinsamkeiten. Isoldes Rolle ist ja ebenfalls gespalten in die der Ehefrau des Herrschers einerseits, die der Geliebten des repräsentativen Ritters andererseits. Wenn nun aber die Rückkehr an den Hof unter dem Aspekt der ere\onor motiviert wird, so ist das doch etwas ganz anderes als im Prosa-Lancelot. Erstens steht in allen drei Tristan-Versionen, die diese Episode haben, die Rückkehr an den Hof am Ende einer Zeit intensiven und so nicht wieder zu erreichenden Liebesglücks/ 6 In den Fassungen der sog. Version commune werden die Rückkehrwünsche schlagartig durch das Nachlassen der Minnetrankwirkung ausgelöst; im plötzlichen Leiden an den unhöfischen, beschwerlichen Lebensumständen 27 zeigt sich die Unmöglichkeit, die Liebe auf Dauer aus den Gesellschaftsbezügen zu lösen.28 Bei Ginover kann es sich - ganz abgesehen davon, daß die Motivation allein ihrer Figur zugeordnet wird 2 ' - schon deshalb nicht um ein solches Bewußtwerden handeln, da ihr Exil ja gerade keinen Versuch darstellt, absolute Liebe ohne Gesellschaftsbezug zu leben. Sie verzichtet auf Liebe, ist aber mit allen Annehmlichkeiten höfischen Lebens versorgt, ist der Mittelpunkt der ihr zahlreich ins Exil gefolgten Artusritter und könnte sogar - wenn sie Galahots Angebot annähme - in 25

26 27 28

29

Z u den Tristan-Motiven in der >Mort Artu< und ihrem Bezug zu dieser Stelle siehe Kap. IV. 2.3. Berol: w . 1364-1366; Eilhart: w . 4546-4553; Gottfried: Minnegrotte. Eilhart: w . 4729-4746; Berol w . 2161 ff. und 2 200 ff. Vgl. Strohschneider 1993, S. 54. Zu der entsprechenden Stelle bei Gottfried (Rückkehr aus der Minnegrotte unter dem Aspekt der ere) äußert sich sehr feinsinnig Friedrich Ohly in einer Besprechung: Ohly 1955, S. 128. Die Beratung, um die sie Lancelot und Galahot in den französischen Fassungen bittet (M I i66f.), legt die Entscheidung nur scheinbar in die Hände der Freunde, da sich diese gegen ihre eigene Neigung ganz im Sinne des von Ginover Nahegelegten äußern: Quant la dame entent ce que Ii dui bome en cui ele plus se fie Ii loent ce qu'ele i velt, si en est molt plus a aise (Als die edle Frau hört, daß die beiden Männer, denen sie am meisten vertraut, ihr zu dem raten, was sie in dieser Angelegenheit will, ist sie noch viel froher; M I 167,20-22; nicht dt.). Dazu ausführlicher unten S. 1 j6fF.

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Sorelois die Herrschaft übernehmen - was sie aber nicht will; und genau das zeigt, daß ere hier nur mit >Artusherrschaft< gleichzusetzen ist. In der Version ß, der der mittelhochdeutsche Text sonst häufig folgt, fehlt das oben analysierte Gespräch Ginovers mit Lancelot über die geplante Zurückhaltung; dem scheint ein Passus zu entsprechen, in dem Lancelot über die der Rückkehr folgende Trennung deprimiert ist: [Galahot] trove son compaignon qui malvaise chiere Ii fet, car il Ii est avis que sa dame soit perdue, car il set bien que il ne l'avra jamais si sovent ne si priveement comme il l'a eue en Sorelois. (M III 1 1 1 , 7 - 1 0 ; nicht dt.) (Galahot trifft seinen Freund in schlechter Stimmung an, da dieser glaubt, seine Herrin verloren zu haben; denn er weiß wohl, daß er nie wieder so oft und so vertraut mit ihr wird Zusammensein können wie in Sorelois.)

Das klingt so, als habe es keine Vereinbarung zur Zurückhaltung gegeben; trotzdem verrät auch hier eine knappe Andeutung Ginovers vorrangigen Wunsch: Als die Würdenträger sie zurückholen wollen, gibt sie sich zunächst unwillig: sie habe das nicht nötig und könne einen besseren Mann als Artus heiraten. Schließlich aber heißt es: Tant dient a la roine Ii un et Ii autre qu'ele lor creante a retorner au roi Artu a grant force de castiement, autresi comme s'il Ii en pesast molt [...]. (M III 1 0 8 , 1 8 - 2 1 ; Hervorhebung von mir) (So sehr reden sie alle auf die Königin ein, daß sie nach vielen Vorhaltungen gelobt, zu König Artus zurückzukehren, und dabei so tut, als fiele ihr das sehr schwer.)

Das findet sich auch im mittelhochdeutschen Text, wo es nun besonders gut zum Vorausgegangenen paßt: So viel seyt der bruder und alle die da waren, das sie zuletst gelobet wiedder zu keren und deth als es irs undanckes were. (K I 542,1-3)

Auch aus dieser Variante geht also hervor, daß Ginovers vorrangiger Wunsch in der Rückkehr zu Artus liegt. In Eilharts Roman wird mit Isaldes Rückkehr und Tristrants Verbannung der Versuch unternommen, den bisherigen Liebe-HerrschaftsKonnex aufzulösen. Die Rückkehrabenteuer mit ihren Rollen und Verkleidungen liegen nun in einem wirklich herrschaftsfreien Raum, denn Tristan tritt nicht mehr als Thronfolger, ja nicht einmal mehr als höfischer Mensch auf.JO 50

Strohschneider 1993, S. 57f., teilweise im Anschluß an den Aufsatz von Jan-Dirk Müller; Müller, J.-D. 1990. Vgl. auch im vorigen Kapitel S. 84f., mit Anm. 1 1 .

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Im Prosa-Lancelot markiert die Rückkehr Ginovers an den Artushof eine ganz andere Zäsur, denn hier folgt einer als freiwillig motivierten Aufhebung des Liebe-Herrschafts-Konnexes zugunsten der Herrschaft dessen Wiederaufnahme in der bisherigen Form, ere bedeutet hier nicht die menschliche Gemeinschaft in Gestalt der höfischen Gesellschaft schlechthin, sondern ist eingeengt auf das, was sich mit der Position als Artuskönigin verbindet, während im Tristanroman die Herrschaftsposition Isoldes der Liebe immer untergeordnet bleibt. Die TristanStruktur ist also im Prosa-Lancelot nicht wiederzufinden; hinter dem scheinbar gleichen Schema von Exil, geistlicher Vermittlung und Rückkehr verbergen sich zwei einander ausschließende Konzeptionen. Bei Gottfried ist der scharfe Gegensatz zwischen unhöfischem Waldleben und höfischer Existenz in einen »Bruch zwischen [zwei] Wirklichkeitsebenen«'1 umgewandelt, aber der entscheidende Unterschied zwischen den beiden ist auch hier - trotz des >Gesellschaftswunders< - auf die menschliche Gemeinschaft zu beziehen und wird mit dem Begriff der ere belegt:' 2 sin hacten umbe ein bezzer leben niht eine bone gegeben wan eine umbe ir ere. (Gottfried, w . 16875fr.)

Gleichzeitig wird betont, daß sie nie wieder so glücklich sein würden wie vor dieser Rückkehr ( w . 17702-17706). Wie Gottfried den zweiten Teil gestaltet hätte, ist schwer zu sagen; es ist aber nicht anzunehmen, daß er nach dem Niveau, auf das er Isolde in ihrer Abschiedsrede führt, hinter die Position Eilharts zurückgegangen wäre, der bereits Isalde um Tristrants willen alles Äußere einschließlich der Herrschaft aufgeben läßt, so daß sie nicht mehr an Markes Hof zurückkehren könnte." Von diesem knappen Vergleich aus ist nochmals ein Blick zu werfen auf den eingangs besprochenen Aspekt der Herrschaftslosigkeit der Protagonisten Tristan und Lancelot. In den Tristanromanen garantiert sie also der Liebe jenen herrschaftsfreien Raum, der durch den Kurzschluß bei der Brautwerbung entstanden ist, jedenfalls solange die Liebeshandlung räumlich in den Bereich der Herrschaft des Ehemannes eingebunden bleibt. Wird sie herausgelöst, dann kann Tristan auch

31 32

33

Huber 1986, S. 107 (zur Rückkehr aus der Grotte: S. 1 0 7 - 1 1 0 ) . Z u m ere-Begriff bei Gottfried und seinen jeweils ganz verschiedenen Bedeutungen siehe Ohly 1955, S. n6ft.; zu dieser Stelle: S. 128. Z u Isoldes Abschiedsrede: Wapnewski 1964 und Haug 1993, S. 47fr.

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woanders Herrscher werden - allerdings nur, solange die blonde Isolde diesem neuen Herrschaftsraum fern bleibt.54 Im Prosa-Lancelot ist Lancelots Herrschaftsverzicht strukturell genauso notwendig und, wie oben gezeigt, thematisch sogar ausgebaut. Die Funktion jedoch ist auch in diesem Fall eine entgegengesetzte, und markiert ist dieser Gegensatz durch Lancelots Bewußtsein von der Abhängigkeit seines Status von Ginovers Willen; seine Herrschaftslosigkeit wird letztlich zur Voraussetzung nicht etwa eines herrschaftsfreien Raums der Liebe, sondern der Stützung der Artusherrschaft durch die Liebe, die Liebe wird also der Herrschaft untergeordnet." Lancelot könnte auch nicht woanders Herrscher werden, weil er damit die enge Herrschaftsbindung an den Artushof mit seiner repräsentativen Funktion zerstören müßte. Damit ist aber schwerlich die Deutung aufrechtzuerhalten, daß diese Liebe durch ihren >positiven< Gesellschaftsbezug ausschließlich aufgewertet würde,' 6 denn das ist nur eine Perspektive, die man auf die Liebe haben kann; denkt man dagegen an die Liebe selbst, so erscheint sie doch äußerst problematisiert. Anders gesagt: wenn man auf den Nutzen der Liebe schaut, so darf man nicht übersehen, was dabei zugleich verlorengeht oder an Problemen entsteht.

2.

Stationen der L i e b e

Bisher wurde die These, Liebe und Herrschaft seien in der Dreieckskonstellation des Prosa-Lancelot so miteinander harmonisiert, daß die Liebe dabei - funktional gesehen - dem Herrschaftsaspekt untergeordnet wird, an einigen ausgewählten Passagen entwickelt. Am deutlichsten war der Zusammenhang daran zu erkennen, daß an der Stelle, wo im Tristanroman ein Versuch steht, die Liebe ganz aus dem Herrschaftsbezug zu lösen (Waldleben/Minnegrotte), die Liebenden im Prosa-Lancelot (Anklage der Königin) freiwillig auf die Liebe verzichten, um die Herrschaft nicht zu gefährden, während unter den normalen Umstän-

' 4 Z u m Romanschluß bei Eilhart siehe Strohschneider 1993, S. 44-47. 35 Dies bezieht sich auf die Liebe als Beziehung, wie sie von Ginover her gedacht ist; auf die Rollenverteilung und die Liebe Lancelots komme ich später zu sprechen. 36 So z. B. Kennedy 1986, die an diesem Punkt der Rückkehr des Paares die Liebe noch in der Balance sieht, bevor sie dann destruktiv werde: »the lovers still have a positive role to play in society« (S. 264).

"7

den die Liebe in diesem Roman gar die Herrschaft stützt. Im folgenden muß also dieser Befund durch Interpretation weiterer Textpassagen auf eine breitere Argumentationsbasis gestellt werden. 2.1.

Beginn und Erfüllung der Liebe

Wenn Ginover in dem Gespräch, das sie vor dem Aufbruch in ihr Exil Sorelois mit Lancelot fuhrt, ihre Liebe rechtfertigt (Zitat siehe oben S. n o ) , dann erinnert sie an deren Anfange. In den Kapiteln >Identität und Liebe< und >Liebe und Aventüre< wurden an diesen Anfängen wesentliche Aspekte der Liebe vorgeführt, an die hier knapp erinnert werden soll. Es hatte sich gezeigt, daß die Taten, die Lancelots Identität als Artusritter konstituieren, ihn auch zur Liebesbindung mit Ginover fuhren. Ginover schenkt Lancelot ihre Liebe, nachdem sie ihm Schritt für Schritt das Eingeständnis aller seiner Taten und das Bekenntnis entlockt hat, daß er dies alles nur um ihretwillen geleistet habe. Da dieses Geständnis sie befähigt, ihn - ohne fremde Hilfe - als Lancelot vom Lack zu identifizieren, zeigt sich, daß sich seine volle Identität, nämlich diejenige als Liebender, erst in diesem Moment enthüllt. Des weiteren war deutlich geworden, daß die Taten Lancelots ihre Funktion nicht allein in einem Dienst-Lohn-Bezug finden, sondern grundsätzlicher noch der Kommunikation zwischen den Liebenden dienen, von deren Gelingen dann auch die Erfülltheit, das >Gelingen< der Liebe abhängt. Daß dieses Charakteristikum der Liebe eine wesentliche Komponente ihrer problematischen Bedingtheit - welche sich auch an der Verwendung von fin'amor-Topoi beobachten ließ - bildet, war an verschiedenen Einflüssen, denen die Kommunikation unterliegt, zu sehen. Die Interpretation der Karrenritter-Episode konnte ein formal wie inhaltlich besonders exponiertes Beispiel des Wechsels von gestörter und gelungener Kommunikation, getrübtem und erfülltem Liebesglück vorführen. Vom sogenannten gesellschaftlich nützliche™ Aspekt der Taten Lancelots war indes noch nicht ausführlich die Rede gewesen, da es wesentlich um den Bezug der Taten, ihrer Motivation und ihres Zwecks zur Liebe selbst gegangen war. Nun soll das Entstehen der Liebesbindung in den zwei Phasen >Galahot-Krieg< und >Krieg in Schottland< unter dem Aspekt der Funktionalisierung der Liebe im Herrschaftszusammenhang, wie er in der Falsche-Ginover-Episode deutlich wurde, nochmals betrachtet werden. 118

Als Lancelot beim ersten Rendezvous infolge der nur gespielten Zweifel Ginovers am Ernst seines Geständnisses fast ohnmächtig wird, ruft die Königin Galahot zu Hilfe und berichtet ihm von Lancelots Geständnis. Galahot treibt dann die ins Stocken geratene Angelegenheit voran, indem er - nachdem Motiv und Ziel der Taten ja offenbart sind - nun auf die Qualität der Leistung hinweist: »er hat auch me durch uwern willen gethan dann ie keyn ritter getete, und wil uch bescheiden wie: er macht den fried zwuschen mir und mym herren dem konig, den in der werlt nymant möcht han gemacht dann er.« ( K I 295,30-33; M V I I I 1 1 4 , 1 - 4 )

Ginover bekräftigt und formuliert die Konsequenz aus dem Gesagten: »Das weiß ich wol«, sprach sie, »das er vil me durch mynen willen hat gethan dann ich ummer umb yn verdienen möge; und hett er nicht me durch mynen willen gethan dann das er zwuschen uch und mym herren den fried macht, so mocht er mich dheynes dinges gebitten das ich im zu recht versagen mocht [...].« (K 295,33-296,1; M V I I I 114,5-8).

Die Worte, die Ginover beim Aufbruch ins Exil über die Entstehung ihrer Liebe formuliert, sind demnach keine isolierte Äußerung der mittelhochdeutschen Version, sondern stehen offenbar in einem größeren Zusammenhang. Die zentrale Bedeutung dieses durch Lancelot bewirkten Friedensschlusses für Artus und Ginover ergibt sich aus Galahots Anspruch auf die Weltherrschaft; man sieht dies an der Darstellung des Augenblicks, in dem er durch den Sieg in der Schlacht dieses Ziel erreicht zu haben scheint und in dem das Königspaar bereits alles verloren gibt: Und die koniginn was auch off geseßen und wolte sin geflohen, und der konig was so unfro das im syn hercz bynach gebrochen was in sym übe, wann er sin lüt also entschumpffiert sah. Da Galahot zu dem konig kam, da fürten die vier ritter die koniginn hinweg, wann sie dheynen trost me hetten, sie mtisten ir lant und ir ere Verliesen. Sie bereiten ein roßbare und wolten myn herren Gawan hinweg daroff füren, wann das myn herre Gawan sprach das im lieber were das er alda dot bliebe dann er ere zu unere werden sehe und freud zu unfreuden [...]. ( K I 279,24-31)

Die entsprechende Passage im fran2ösischen Text: [Galahot] hurte des esperons droit a l'estandart ou Ii rois estoit qui par .1. poi ne crevoit de duel de ses gens que il veoit desconfis. Si estoit ja la roine montee, si Ten menoient Ii .IUI. chevalier au ferir des esperons, car il n'avoient mais nul recovrier, et mon signor Gauvain en voloient il porter en litiere; mais il dist que il voloit miex morir en cest point que veoir toute joie morte et toute honor hounie [...]. (M V I I I 8 4 , 1 1 - 1 9 ) 119

(Galahot gibt seinem Pferd die Sporen und reitet direkt auf die Standarte zu, w o sich der K ö n i g aufhielt, der vor Schmerz beinahe gestorben wäre, als er sein Heer so völlig besiegt sieht. Die K ö n i g i n war schon aufgesessen, und die vier Ritter führten sie sehr schnell hinweg, denn sie hatten keinerlei H o f f n u n g auf Rettung mehr. Herrn Gawan wollten sie auf einer Bahre wegtragen, aber er sagte, er wolle lieber auf der Stelle sterben als mitzuerleben, wie alle Freude vernichtet und alle Ehre zuschanden würde.)

Es bestätigt sich hier, daß die Herrschaftssicherung, die Lancelot betreibt, nicht nur eine Folge aus seiner Liebe, sondern auch die Voraussetzung für die Liebesbeziehung darstellt. Es kann also gerade nicht wie im Tristanroman - darum gehen, der Liebe einen herrschaftsfreien Raum zu schaffen. Eine Steigerung noch in der Ausdruckskraft stellt diesbezüglich das Kapitel >Krieg in Schottland< dar, in dem auch von der ersten Liebesnacht berichtet wird. Lancelot erringt auch hier wieder einen großen Sieg, der für Artus von nicht weniger existentieller Bedeutung ist als der Friede mit Galahot. Dies zeigt sich an Artus' Verhalten, als man ihm Lancelot als den Retter präsentiert: D a wart der konig ußermaßen fro und vil im allso gewapent zu fuß: »Edel ritter«, sprach er, »ich gebe myn ere und mynen lip in dine gnad und alles myn lant, das hastu mir alles behalten me dann zu einer stunt.« (K I 4 7 8 , 3 - ; ; M V I I I 4 7 9 , 2 - 6 ) "

Bis dahin aber ereignet sich noch viel: Artus, der mit seinem Heer gegen die eindringenden Friesen und Sachsen gezogen ist und vor der Burg Sachsenfels lagert, ist in derselben Nacht, in der Lancelot und Ginover zum ersten Mal miteinander schlafen, den Verführungskünsten der zauberkundigen Anführerin des gegnerischen Heeres erlegen und gefangengenommen worden. A m nächsten Tag werden auch noch die besten Artusritter dadurch, daß sie zu einem früher einmal einer Jungfrau geleisteten Versprechen stehen, in eine Falle gelockt und eingekerkert. Lancelot darf als einziger das Gefängnis wieder verlassen, weil er dort wahnsinnig wird und Tobsuchtsanfälle hat. Es ist dies das erste von drei Malen, daß er in einen solchen Zustand fällt, und die nächsten beiden sind - in gesteigerter Form - explizit durch Krisen in der Liebe verursacht. Hier fehlt noch eine entsprechende ausdrückliche Begründung, aber die Tatsache, daß die Trennung von Ginover unmittelbar nach der ersten Liebesnacht erfolgte, Lancelot dann durch den Anblick Ginovers wenigstens ruhiger wird und seine Heilung schließlich der Frau vom Lack verdankt, die ' 7 Im frz. Text eine kleine Abweichung am Schluß: »vous m'aves retidu et l'un et l'autre« (»Ihr habt mir das eine wie das andere wiedergegeben«). 120

in dieser Episode prononciert als Beschützerin der Liebe auftritt - dies alles läßt es begründet erscheinen, Lancelots Wahnsinn mit der Liebe in Verbindung zu bringen.' 8 Diese geistige Verwirrung nun verschafft ihm die Freiheit und damit - nach seiner Heilung - die Möglichkeit, die Schlacht doch noch zu Artus' Gunsten zu entscheiden. Gekrönt wird diese Episode von einem großen Hoffest und Lancelots Aufnahme in die Tafelrunde. Größte Bedeutung kommt in diesem Kontext dem Motiv des G e spaltenen Schildes< zu. Dieser Schild wird - schon einige Zeit zuvor Ginover von der Frau vom Lack zusammen mit folgender Botschaft übersandt: »ir solt auch wol wißen das all uwer selikeit an dißem schilt lytt und alle uwer ere, o b irn wol behaltent.« (K I 342, i g f . ) 3 9

Außer dieser so vagen wie bedeutungsschweren Ankündigung ist an diesem Schild allerdings noch mehr erklärungsbedürftig. A u f ihm sind ein Ritter und eine Dame abgebildet, die sich umarmen und küssen würden, wenn nicht der Schild gespalten wäre und die beiden Teile nur von einem Buckel zusammengehalten würden; nach unten zu wird der Spalt breiter (K I 342,27-33; M V I I I 2 0 6 , 1 1 - 2 4 ) . Die Erklärung der Botin läßt zunächst an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: Der Ritter, welcher der zur Zeit beste sei, und die Dame, deren Liebe er errungen habe, hätten sich bisher nur umarmt und geküßt; sobald aber ihre Liebe vollkommen sein werde, werde sich auch der Spalt so schließen, daß man nichts mehr von ihm werde sehen können. Das folgende aber bleibt zunächst rätselhaft: » Z u derselben stunt sag ich uch furware das ir erlößt solt werden von dem grösten jamer den ir ie gewunnent, und solt fröwer werden dann ir ie wurdent in allem uwerm leben.« ( K I 3 4 3 , 8 - 1 0 ; M V I I I 2 0 7 , 1 2 - 1 4 )

Im französischen Text wird noch ergänzt (M V I I I 2 0 7 , 1 4 - 1 7 ) , daß dies nicht eintreten werde, bevor nicht jener beste Ritter, welcher sich bisher noch hors de la court le roi Artu (außerhalb des Artushofes) befinde, Mitglied in dessen Hofgesellschaft, der maisnie geworden sei. 38

A n d e r s H i r s c h b e r g 1 9 8 6 , S . 260, die d i e T r e n n u n g v o n d e r G e l i e b t e n nicht als G r u n d , s o n d e r n n u r als a u s l ö s e n d e s M o m e n t v e r s t e h t ; sie m e i n t , w e n n d i e T r e n n u n g

der

G r u n d w ä r e , m ü ß t e G i n o v e r s N ä h e h e i l e n , a b e r das ist k e i n e s w e g s z w i n g e n d . A u ß e r d e m e r g e b e n sich d a d u r c h W i d e r s p r ü c h e , d a H i r s c h b e r g s T h e s e g e r a d e a u f e i n e K o r respondenz v o n Wahnsinn und M i n n e w a h n hinausläuft, vgl. o b e n S. "

zi.

D e r m h d . T e x t hat d i e s a n s t e l l e einer P a s s a g e d e s f r z . T e x t e s , d i e d o r t w e n i g s p ä t e r w i e d e r h o l t w i r d ( M V I I I 2 0 5 , 2 8 - 3 0 u n d 2 0 7 , 1 2 — 1 4 ) ; dt. s i e h e das n ä c h s t e Z i t a t .

121

Dem Schild ist also zunächst einmal die Funktion zugewiesen, gewissermaßen als äußeres Bild die auch körperlich vollzogene Liebe zu bestätigen, wie es auch geschieht. Er gewinnt aber zusätzlich an Signifikanz, wenn man seinen anderen Funktionen nachgeht. Carol Dover, die für die erste Funktion den Begriff des Emblems wählt,40 weist darauf hin, daß dieser gespaltene Schild Bezug nimmt auf eine realhistorische Praxis: Verheirateten Frauen kamen Wappenschilde zu, die graphisch geteilt waren und in der linken Hälfte das Wappen des Ehemannes, in der rechten das der Frau zeigten.4' In der Frage, ob die Plazierung Lancelots an Artus' Stelle positive oder negative Bedeutung habe - der Erzähler lasse dies offen - , neigt Dover einer Kombination zu. Lancelot schütze, wo Artus versage, aber er betrüge auch, wo Artus versage. 42 Ohne positiv oder negativ werten zu wollen, meine ich, daß die volle sinnbildliche Funktion sich erst in dem Moment ganz entfaltet, als Lancelot mit diesem Schild, auf dem er an der Stelle des Herrschers zu sehen ist, in die Schlacht reitet. Die Zauberkraft des Schildes hilft ihm, die gefangenen Gefährten zu befreien, und schützt Lancelot in besonderem Maß - die Frau vom Lack schärft Ginover ein, daß Lancelot unbedingt diesen Schild verwenden müsse, wenn sie das erleben wolle, was die Botin damals angekündigt habe (M V I I I 461,5-7; K I 470,13, ohne den bedingenden Zusatz). Lancelot rettet so wieder das Artusreich - und trägt dabei das Emblem seiner Liebe vor sich her. So ist der Zusammenhang von Liebe und Herrschaft hier bildlich verdichtet. Nun fehlt aber noch eine genaue Erklärung der zweiten Aufgabe des Schildes, auf die die Frau vom Lack anspielt, nämlich Ginover von tiefstem Schmerz in größte Freude zu versetzen. Der mittelhochdeutsche Text sagt ^u derselben stunt, aber auf die Erfüllung der Liebe kann sich das nicht beziehen, da der Liebesnacht keinerlei Schmerz noch Angst oder Ähnliches vorausgeht. Im altfranzösischen Text heißt es lors, was auch >danach< bedeuten kann und jedenfalls vager gefaßt ist; es heißt wohl soviel wie >in dieser Zeit, im selben Zeitraums Größten Schmerz erfährt Ginover, als Lancelot tagelang im Wahnsinn lebt; der Schild allein aber kann sie daraus nicht befreien, da er zunächst lediglich eine sedative Wirkung auf Lancelot ausübt.45 Größten Schmerz erlebt 40 41 42 45

Dover 1991, S. 50, 53, 56 (»emblem o f love«). Ebd., S. 52. Ebd. Genau an diesem Punkt sieht dagegen Dover (ebd., S. 53) den Umschlag von Schmerz in Freude; der Schild als Liebes-Emblem schütze Lancelots Herz, so wie die Zauberschilde an der Dolorosen Garde seinen Körper beschützten. 122

sie aber auch, als sie nacheinander von Artus' und der anderen Ritter Gefangennahme hört. Ihre Reaktion auf die Gefangennahme ihres Gatten ist folgende: Sie wart ußermaßen unfro und belanget sie fast sere wann sie Lancelot besprechen solt, das er radt darzu gebe. (K I 4 6 3 , 1 ; f . ; M V I I I 445,23f.)

Sie ahnt den Verrat, sieht die an der Burg aufgehängten Schilde und überläßt sich ihrem Kummer - lieber möchte sie tot sein als das Kommende erleben. Als sie dann von Ywan erfährt, daß auch Gawan sowie drei weitere Ywan unbekannte Ritter in die Falle gegangen seien (daraus kann sie schließen, daß sich Lancelot unter ihnen befindet), fällt sie Ywan zu Füßen. Worum wird sie nun wohl bitten? und bat yn das er an des koniges ere gedecht und an irselbes. et Ii prie qu'il ait pitié de l'onor le roi et de li.

(K I 465,11 f.)

(M V I I I 449,1)

(und bittet ihn darum, daß er sich der Ehre des Königs und ihrer eigenen erbarmen möge.)

Eine Bemerkung Ginovers oder auch des Erzählers über Trauer oder Angst wegen Lancelots Schicksal findet sich nicht, obwohl es kurz zuvor noch geheißen hatte: sie ducht das sie nit solt leben den tag so sie yn nit mit den äugen sehe. (K I 4 6 3 , 9 t ) ele est si sosprise de lui et de s'amor, que ele ne voit mie comment ele s'en puisse consievrer. (M VIII 4 4 5 , 1 2 - 1 4 ) (sie ist so gefangen von ihm und seiner Liebe, daß sie sich nicht vorstellen kann, wie sie darauf verzichten könnte.)

Man wird also nicht fehlgehen, wenn man für den Vorgang der Verwandlung von Schmerz in Freude zumindest eine Kombination aus persönlichem, d. h. auf Lancelot selbst bezogenem Schmerz (obwohl dies im Text nicht zum Ausdruck kommt) und - in erster Linie - der Verzweiflung über die Bedrohung der Herrschaft annimmt, die dann mit Hilfe des Gespaltenen Schilds stufenweise in Glück und Freude verwandelt wird: Lancelots allmähliche Gesundung und den anschließenden Sieg. Was aber sagt nun die Verknüpfung der beiden Funktionen des Schilds letztlich über die Liebe aus? Walter Haug weist darauf hin, daß im Prosa-Lancelot die Liebe als sexuelle Erfüllung anders als im Tristanroman den Liebenden offenbar keine selbstverständliche Sicherheit über die Vollkommenheit der Liebe 123

gibt, denn Ginover muß sich dessen erst noch versichern, indem sie prüft, ob der Schild auch tatsächlich zusammengewachsen ist.44 Z u mitternacht stunt die konigin off und ging zum Schilde den ir die frauw v o n dem L a c gesant hett; sie daste den schilt on liecht und vand yn zugeheilt mitten da er gespalten was gewesen. D a wart sie ußermaßen fro, wann sie wol wust das man sie getrülicher minnet dann kein frawen die off ertrich lebet. Des was sie an dem schilde geware worden. ( K I 4 6 2 , 2 1 - 2 5 ; M V I I I 4 4 4 , 1 0 - 1 5 , ohne den letzten Satz)

Die Frau von Maloaut bekräftigt dies am nächsten Morgen, wobei sie im mittelhochdeutschen Text die Bedeutung des Schildes ganz ungefragt auch für sich selbst in Anspruch nimmt (sie hat die Nacht mit Galahot verbracht): »Frau«, [ . . . ] »nu sieh ich wol das man uns steteclich minnet.«

( K I 462,2.7 f.)

Im französischen Text bleibt es allgemeiner: »Dame, or veons nos bien que l'amor est enterine.«

(M V I I I 444, 2of.)

(»Herrin, wir sehen nun ganz deutlich, daß die Liebe vollkommen ist.«)

Das ist also ein weiteres, prägnantes Beispiel dafür, wie sehr Lancelot und Ginover auf äußere Zeichen angewiesen sind, um ihre Liebe nach außen hin auszudrücken oder sie als solche zu erkennen; sonst sind diese Zeichen auf die Kommunikation zwischen den Liebenden bezogen, hier aber wird der Schild durch eine dritte Person eingeführt und in seiner vollen Bedeutung nur Ginover, Lancelot aber nur beiläufig, im Nachhinein, bekannt gemacht.45 Der Schild muß also, wenn er wirklich Vollkommenheit der Liebe und größtes Glück in einem zeigen und bewirken soll, in beiden Funktionszusammenhängen betrachtet werden. Diese Liebe erfüllt sich nicht primär in der Partnerbeziehung, sondern in der Funktionalisierung im Dienst der Herrschaft, und darüber können auch die Liebes- und Gefühlsbeteuerungen dieses Abschnitts nicht hinwegtäuschen. 46 Dies ver44 45

46

H a u g 1995 fa], S. 295. H i e r ist auf einen Fehler im mhd. Text hinzuweisen: K I 462, 32 muß es >Galahot< statt >Lancelot< heißen, w i e es die frz. Hss. haben und wie es auch besser in den K o n t e x t paßt. D i e F r a g e Galahots, der von dem Schild noch gar nichts weiß, muß sich auf die B e m e r k u n g der Frau v o n Maloaut beziehen, da G i n o v e r jedenfalls auf diese antwortet, und die Frage nicht auf ihre eigenen A u s s a g e n bezieht (welche im mhd. Text auch nicht ganz verständlich sind; siehe aber unten S. 1 2 ; ) . Selbst in ihrem Schmerz angesichts v o n Lancelots Wahnsinn richtet G i n o v e r ihren Blick v o r r a n g i g auf Lancelots Tüchtigkeit, auf das, w o r a u f sich ihre Liebe bezieht: »blum

124

aller

der

ritterschaft

von dißer

werlt

[...].

Wie schier

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dißen großen

strit

geen-

deutlicht die Passage, in der Ginover und die Frau von Maloaut den Schild betrachten, am Morgen nach der Liebesnacht. Die Frau von Maloaut, wie immer etwas spitz, tritt auf Lancelot zu und nimmt yn by dem kinne; des schampt sich Lancelot ußermaßen sere ( K I 462,29f.). Zwei französische Handschriften 47 ergänzen hier einen Kommentar, der sowohl zu dieser Geste wie zu Ginovers — auch im mittelhochdeutschen Text - folgenden Worten paßt: »Sire Chevalier, or n'i faut que la courone que vos soiez rois [...].« (M V I I I 444, App. zu Z. 22) (»Herr Ritter, nun fehlt Euch nur die Krone, um König zu sein.«)

Das trifft die Sache genau. Die (fehlende) Krone weist auf den Unterschied in der Hierarchie, der hier offenbar wesentlicher ist als die eigentlich vorauszusetzende Gleichheit der Liebenden. Das zeigen Ginovers Verteidigungsworte, in denen sie ihrer beider Gleichheit zu begründen sucht, wobei sie aber doch nur von äußerem Rang und Ansehen sprechen kann: »bin ich konigin, so ist er koniges kint.« Das sprach sie darumb yn zu beschütten. »Bin ich schon und gut, so ist er noch beßer dann ich.« (K I 462,3off.; M VIII 445,2-4)

Die nächste Bemerkung der Frau von Maloaut greift eine Aussage der Botin auf, die Ginover den Schild überbracht hatte; sie verknüpfte Vervollkommnung der Liebe und größte Freude mit Lancelots Aufnahme in die Tafelrunde. Zwar fehlte dieser Satz im mittelhochdeutschen Text, wird aber hier doch genauso wie im französischen wieder aufgenommen: die frau von Maloaut sprach das an dem schilt nicht gebrest dann ein ding. »Was ist das?« sprach die konigin. »Wer Lancelot myns herren des koniges geselle«, sprach sie, »so were der schilt volkumen als er zu recht solt.« (K I 463,2-5; M VIII 445, 8 - 1 1 )

Bei dem großen Hoffest nach der siegreichen Schlacht wird Lancelot dann auch in die Tafelrunde aufgenommen; auch hier fügt er sich ganz dem Wunsch Ginovers, die ihn inoffiziell und offiziell darum bittet. Insofern ist es ganz stimmig, daß der Gespaltene Schild ein Geschenk an Ginover ist: Während Lancelot ja subjektiv allein aus seiner Liebe heraus handelt, ist die bedingende Haltung, in der die Liebe der Herr-

47

det han!« ( K I 4 6 8 , 2 3 - 2 ; ; M V I I I 4 5 5 , 1 3 - 1 6 ) . Das ist fast immer der Fall, wenn Ginover sich ihrem Schmerz hingibt. Rouen, Bibl. Munic. O 6 (14. Jh.) und B N fr. 751 (2. Hälfte 13. Jh.).

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Schaft untergeordnet bleibt, der Figur Ginovers zugeordnet. Es ist also passend, daß der Schild in erster Linie für Ginover die Liebe und deren spezifische Funktionalisierung bestätigt.4® Es bleibt noch etwas zum Fest zu sagen. Es dürfte deutlich geworden sein, daß dieses Fest, bezogen auf das im Roman entfaltete besondere Verhältnis von Liebe und Herrschaft, einen echten und konsequenten Höhepunkt darstellt. Lancelots Aufnahme in die Tafelrunde, von ihm selbst nicht angestrebt, aber auf Ginovers Bitte hin realisiert, besiegelt auch im äußeren Geschehen die bis dahin vielfach deutlich gewordene Konzeption der Lancelot-Ginover-Liebe. Das Motiv des Gespaltenen Schildes aber erweist sich als bildliche Verdichtung genau dieser Konzeption in allen ihren Aspekten, wie sie sich schon in der Doppelformel in der Ankündigung der Botin ausgedrückt hatten (vgl. das Zitat oben, S. 121): »all uwer selikeit [...] und alle uwer ere.« Haugs Formulierung »das arthurische Fest über dem Abgrund einer ehebrecherischen Liebe« 49 zeigt dagegen, wie sehr er den Prosa-Lancelot von Chrétien und dessen Sinn des arthurischen Festes her liest und so übersieht, daß diese Art der Verbindung von ehebrecherischer Liebe, Herrschaft und Fest innerhalb des Prosa-Lancelot ihre eigene innere Stimmigkeit hat, und zwar zunächst einmal unabhängig davon, ob dieses eigene System am Ende scheitert oder nicht. Auf der anderen Seite zeigt sich mit der Aufdeckung der Liebe-Herrschafts-Struktur, daß Haugs Einschätzung der Lancelotliebe als einer apersonalen durchaus zutreffend ist. Im Zusammenhang mit Gottfrieds >Tristan< versteht er personale Liebe - in Abgrenzung von Niklas Luhmann'° - als etwas, das der Entdeckung positiv verstandener Individualität vorausgehe, indem sie sich einen »von Machtstrukturen freien Raum für die zwischenmenschliche Begegnung« schaffe und damit auch den Ansatz zu einer Erfahrung des »Du in seiner personalen Identität«. 51 Haug verfolgt aber diesen Aspekt am Prosa-Lancelot nicht, sondern gelangt auf andere Weise zu der Feststellung, daß die Welt dieses Romans eine apersonale sei. Er konstatiert hier eine Verabsolutierung 48

Dover 1991 (S. 53) sieht dagegen in dem Schmerz-Freude-Gegensatz vorrangig ein Lancelot-typisches Charakteristikum, und der Wandel von Wahnsinn zu Gesundung bewirkt durch den Schild, vgl. oben S. 122, Anm. 43 - sei ein weiteres Beispiel dafür. Dover bezieht den Schild daher auf Lancelots Identität als Liebhaber Guenievres. Dem ist entgegenzuhalten, daß in der Ankündigung der Botin Schmerz wie Freude allein auf die Königin bezogen sind.

49

Haug 1993, S. 53. ° Z u Luhmann siehe oben S. 39. 51 Haug 1993, S. j 1. 5

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einzelner Elemente der literarischen Tradition wie der Schönheit der Frau, der ritterlichen Leistung, der Erotik - eine Verabsolutierung, die den Weg zur Wahrnehmung des Anderen als unverwechselbarer Person verstelle. Die Verankerung dieser nicht-personalen Charakteristika im Zusammenhang des Romangeschehens, also ihre Verbindung mit der Hierarchie der Macht, die ja gerade eine mögliche Erklärung dafür anbietet, daß es keine personale Liebe geben kann, kommt bei ihm erstaunlicherweise nicht in den Blick. Anders als Haug möchte ich aber in diesem apersonalen Wesen der Lancelotliebe kein Zeichen für eine von vornherein gegebene oder damit notwendig verbundene Sinnlosigkeit sehen; ich ziehe es vor, zunächst einmal die Funktionalisierung im Herrschaftszusammenhang als gegebene Sinnkomponente aufzufassen und deren Veränderungen im Lauf des Erzählgeschehens zu verfolgen. Mit der oben vorgestellten Deutung des Gespaltenen Schildes ist zugleich eine Erklärung dafür gefunden, daß die Sexualität in der Liebe zwischen Lancelot und Ginover, was die Häufigkeit des Liebesaktes gemessen an der erzählten wie der Erzählzeit betrifft, eine eher geringe Rolle spielt (Lancelot und Ginover sehen sich etwa einmal im Jahr oder seltener) - trotzdem wird sie aus geistlicher Sicht heftig gebrandmarkt. 52 Wenn erst der Schild den Liebenden über die körperliche Begegnung hinaus Sicherheit geben kann über die Vollkommenheit der Liebe, so wird das damit zusammenhängen, daß Sexualität ja im Umfeld von Herrschaft und Ehe nicht mit Liebe, sondern mit Fortpflanzung und Thronfolge in Verbindung zu bringen ist. Im Tristanroman ist dies indirekt ausgedrückt in Markes Absicht, zugunsten von Tristan auf eine Heirat zu verzichten. Der Ehebruch der Frau bedeutet also die potentielle Gefahr einer durch Bastarde gestörten Erbfolge, und das (nicht etwa die Rivalität mit Marke als Liebhaber Isoldes) bildet ja auch ohne daß es deshalb eigens thematisiert werden müßte - den Hintergrund für den Konflikt im Tristanroman. Wenn also der Prosa-Lancelot die Ehebruchsliebe, ganz im Gegensatz zum Tristanroman, für die Herrschaftserhaltung funktionalisiert, so kann er die Sexualität nicht als den zentralen Aspekt, als einziges Ziel der Liebe vorführen, sondern muß sie quantitativ in den Hintergrund rücken; er würde sonst eine ' 2 Das heißt nicht, daß die sexuellen Begegnungen zwischen Ginover und Lancelot an und für sich abgewertet würden. Sie werden da, wo sie vorkommen, als selbstverständlich zur Liebe gehörig geschildert, und gerade die Zeit nach Lancelots Genesung bringt ein auch in dieser Hinsicht erfülltes Zusammensein, wie es sich später nicht mehr wiederholen wird ( K I 472,8 [sehr vage]; M V I I I 464,5-7). Vgl. auch unten, Kap. V . i .

1 2

7

permanente Gleichzeitigkeit von Machterhaltung und Machtbedrohung vorführen. Der Gespaltene Schild soll auf der einen Seite die Vollkommenheit der Liebe, auf der anderen aber deren Unterordnung unter die Herrschaft zeigen; insofern ist die Problematisierung und Relativierung der Sexualität, die sich darin ausdrückt, daß Ginover den Schild braucht, um zu glauben, daß durch den Beischlaf ihre Liebe vollkommen geworden sei, aus dem Liebe-Herrschafts-Zusammenhang plausibel zu machen. D e r Moment, in dem die Sexualität des Paares erstmals thematisiert wird, wird genutzt, um sie in die Bedingungen einzubinden, die für die Liebe allgemein gelten. Der Gespaltene Schild steht für die vollkommene Liebe; diese aber äußert sich primär als herrschaftskonsolidierende K r a f t und geht nicht etwa allein in der Sexualität auf. Die >freie< Sexualität wie bei Tristan und Isolde, die keine Rücksichten auf Herrschaftsfragen nimmt, stellt eine Bedrohung dar. D a die Liebe im Prosa-Lancelot anders konzipiert ist, muß der Beischlaf thematisch zurückgedrängt und als Teil der funktionalisierten Liebe sichtbar werden: Dies illustriert der Gespaltene Schild. Man sieht hier wieder, daß die Verurteilung der Unkeuschheit aus geistlicher Perspektive etwas Sekundäres sein muß und daß die Problematik der Lancelotliebe zunächst ganz unabhängig von der religiös-moralischen Bewertung bestimmt werden kann.

2.2.

Liebes-Bund

Bisher hat sich die Hierarchisierung v o n Liebe und Herrschaft zugunsten der letzteren an zwei zentralen Episoden des Textes beobachten lassen. U m diesen spezifischen Zusammenhang als Grundprinzip der Lancelot-Ginover-Liebe erweisen zu können, müßte er noch genauer am Beginn und auch am Ende der Liebe deutlich gemacht werden können. Ich frage also, w o dieser K o n n e x von Liebe und Herrschaft ansetzt und begründet wird; dazu muß man ein weiteres Mal zum Liebesgespräch zurückkehren. Daß Lancelots Dienst für Artus ein entscheidendes Motiv für G i n o ver ist, ihm nun auch den verdienten >Lohn< zu gewähren, oder sogar, daß es dieser Dienst war, der ihre Liebe entstehen ließ, habe ich oben ausgeführt. A u s dem weiteren Verlauf des Gesprächs, das dann im wesentlichen zwischen Ginover und Galahot stattfindet, läßt sich aber noch Grundsätzlicheres erschließen. Galahot übernimmt die A u f g a b e , zwischen den Liebenden einen förmlichen Bund zu schließen, der Ä h n lichkeiten mit einer Trauzeremonie aufweist: 128

»So bitt ich uch, frauw«, sprach er [Galahot], »das ir im uwer mynne gebent und haltent yn für uwern ritter als lang als ir beide lebent, und sint sin getruwe frauwe [ . . . ] . « »So wil ich auch«, sprach sie, »das er myn sy all die wil das wir leben, und ich sin [ . . . ] . « (K I 296,12-16; M VIII 114,27-115,5)

Besiegelt wird der Bund durch einen K u ß , dem allerdings umständliche und wenigstens den heutigen Leser auch erheiternde Überlegungen und Sicherheitsvorkehrungen vorausgehen, da man sich nämlich trotz des etwas abgelegenen Platzes in der Öffentlichkeit befindet. A u f diesen K u ß folgen weitere Erklärungen Ginovers, die nun direkt an Lancelot gerichtet sind; sie drückt zunächst ihre Freude aus, um dann fortzufahren: » N u hutent uch das diß also verholn sy als wirs beide wol bedorffen!« ( K I 296, 3 4 f . ; M VTII 1 1 6 , 5 - 7 )

Das ist nun an und für sich nicht besonders überraschend; Heimlichkeit ist in dieser Konstellation eine Selbstverständlichkeit, und in der Lyrik zählt sie zu den Topoi der fin'amor (siehe auch oben, Kapitel I.2). Uberraschend ist eher, daß es hier überhaupt so betont wird; Lancelot ist ja nicht gerade ein Vielredner (genau das wird Ginover in einer späteren Charakterisierung Lancelots auch betonen: in keinem Punkt werde er von jemandem übertroffen außer vielleicht darin de parier desmesurablement\ übermäßig viel zu reden, M I 353,10). Im Gegenteil tut er alles, um sich nicht offenbaren zu müssen. Außerdem spielt die Notwendigkeit des Sich-Verbergens vor der Gesellschaft im >Lancelot propre< praktisch keine Rolle, es entsteht keine erzählerische Spannung aus dem Hin und Her von Verstecken und Verdacht, während genau das für den ersten Teil des Tristanromans konstitutiv ist. Die Betonung von Selbstverständlichkeiten hat nun schon mehrmals auf eine Umdeutung gewiesen, die vielleicht auch an dieser Stelle zu erwarten ist. Im KarrenritterKapitel war ja auch bereits zu sehen, daß ein öffentlicher Verdacht und Intrigen (Morganes Anklage und ihre Irreführung Lancelots) bezeichnenderweise zu einer Krise zwischen den Liebenden führen. Läßt sich hier präzisieren, weshalb Ginover so großen Wert auf die Heimlichkeit legt? Sie fährt fort: »wann dhein frau in der werlt ist, v o n der man als groß ere gesaget hab als v o n mir und als groß byderbekeit; machet ir dann das myn ere minner wirt, so wirt unser minne böse und schedelich.« ( K I 296,35-297,2; M V I I I 1 1 6 , 7 - 9 )

Das heißt also: >Wenn unsere Liebe bekannt wird, so daß ich Schaden an meiner ere nehme, wird die Liebe zu etwas Negativemzuliebe< sich für Artus eingesetzt, seine bedrohte Herrschaft gerettet hat. Die Bedingung, die Ginover nun formuliert, garantiert, daß es auch weiterhin so sein wird, denn die Heimlichkeit gewährleistet nicht allein ihr Ansehen als Königin, sondern genauso, daß Lancelot sich im Dienst des Königs einsetzen kann. Damit ist aber auch schon das Ende der Liebe vorprogrammiert; es handelt sich um eine Liebesbindung, die ihr Ende schon von vornherein als Möglichkeit miteinbezieht. Von hier aus zeigt sich auch die Doppelfunktion des in Kapitel II vorgeführten Kommunikationsprinzips: Ginover muß Lancelots Taten verfolgen können, nicht nur, um seine Liebe bestätigt zu sehen, sondern wohl genauso, um deren Wirkung überprüfen zu können. Wenn Lancelot unauffindbar bleibt, bedroht dies ja auch die Existenz des Artushofes: Nicht nur Ginover, sondern genauso Artus und andere am Hof reagieren entsprechend, bekümmert bis verzweifelt. Lancelots Treue ist damit natürlich auch keine rein persönliche Angelegenheit mehr, so daß auch Ginovers Eifersuchtsanfälle immer >doppelt< zu lesen sind: sie resultieren aus persönlicher Verletzung, aber auch aus Angst um die Herrschaft. Die Krise am Beginn der Karrengeschichte, als Ginover glaubt, Lancelot habe ihr Geheimnis preisgegeben, gewinnt durch die jetzt deutlich gewordene Funktion des Heimlichkeitsgebots noch an Schwere, die Versöhnung aber (Rettung des Reiches durch Rettung Ginovers) entsprechend an positiver Bedeutung. Einen ersten Vorgriff auf das immer mitgedachte Ende stellt auch die bereits analysierte Falsche-Ginover-Episode mit Ginovers Exil dar, obwohl die Aufhebung des Liebesverhältnisses dort noch begrenzt bleibt. Von hier aus gesehen erscheint aber die Folgerichtigkeit dieser Episode in Ereignissen und Figurenverhalten in erstaunlicher Prägnanz. In der >Mort Artu< finden sich Parallelen zur Falsche-Ginover-Episode, die teilweise mit Tristan-Motiven verknüpft sind. Da gerade das Motiv >Rückkehr aus dem Exil< eine Tristan-Parallele darstellt, schlage ich nun bei der folgenden Untersuchung des Endes zunächst den Weg über diese Tristan-Motive ein. Der Vergleich zwischen Passagen der 130

>Mort Artu< mit solchen der Falsche-Ginover-Episode wird weitere Aufschlüsse über die Durchführung des Themas von Liebe und Herrschaft geben können. 2.3.

Das Ende der Liebe: Tristan, Falsche Ginover, Mort Artu

Die Tristan-Motive, die in der >Mort Artu< dem Abschnitt von der Entdeckung des Paares bis zu Ginovers Rückkehr zu Artus als Muster gedient haben, waren bereits Gegenstand der Forschung; allerdings hat man sich weitgehend darauf beschränkt, sie aufzuzählen." Frappier bemüht sich zwar, Unterschiede herauszuarbeiten, die letztlich auf eine sensiblere, >höfischere< Gestaltung im Vergleich zu Berol hinauslaufen, 14 aber sie sind oft - obwohl Frappier sonst ein feines Gespür für die Nuance hat - sehr mühsam begründet. Bei drei Motiven glaubt er, sie auf die Tristan-Version des Thomas von England zurückführen zu können: Agravants ersten Denunziationsversuch, die angebliche Jagd des Königs und die Entdeckungsszene. Alle drei sind aber, ohne daß ich das hier im einzelnen ausführen möchte, doch in der sog. Version commune nachzuweisen: die ersten beiden bei Eilhart, das dritte in der letzten Szene von Berols Version. Die Tristan-Motive, die also alle der Tradition der Version commune entstammen, sind folgende: 1. Die Figuren der verräterischen Neider: In Entsprechung zu den drei Baronen bei Berol handeln in der >Mort Artu< die drei >bösen< Gawan-Brüder. Diese vorher noch nicht ganz so deutliche Teilung der fünf Brüder in gute und böse wird durch folgende Szene erreicht (K III 531 [Z. 7] ff.; F 107 [§ 85,33] ff.): A 1 1 e fünf Brüder stehen zusammen und unterhalten sich über Lancelot und Ginover. Als Artus dazukommt und Auskunft verlangt, verweigern Gawan und Gaheries diese, während Agravant, Gwerrehes und Mordred das Paar denunzieren. 2. Artus erhält die Rolle des zweifelnden Marc/Marke, der zwischen dem Glauben an die Unschuld des Paares und der Uberzeugung vom Gegenteil hin- und hergerissen wird. 3. Es werden Fallen gestellt. 4. Entdeckung des Paares in flagranti; Flucht des Helden. 55

54

L o t 1954, S. i98f.; Frappier 1961, S. 188-195; de Briel/Herrmann 1972, S. 1 1 8 - 1 2 2 . Der mhd. Text folgt dem der frz. Edition der >Mort Artu< nahezu wörtlich; ich weise die entsprechenden Stellen bei Frappier jeweils nach. Frappier 1961, S. 194f.; Frappier 1978 [a], S. 568.

131

5- Verurteilung der Königin zum Scheiterhaufen. Von hier an verläuft die Erzählung ganz parallel zum Tristanroman: Klagen des Volkes, Verwünschung der Verräter (K III 552,15-553,6; F 122, § 93,49-60), Gawan übernimmt die Rolle des Truchsessen Dinas und droht Artus mit der Aufkündigung des Dienstes (K III 5 5 1 , 1 1 - 1 9 ; F 1 2 1 , § 93> I 7-3°)6. Rettung der Königin vom Scheiterhaufen. Bei Eilhart wird Isalde den Aussätzigen ausgeliefert, die dann von Tristrant und Kurvenal niedergemetzelt werden. In der >Mort Artu< führt die Befreiung zu einem heftigen Kampf, in dem viele Artusritter, darunter Gaheries, sterben. 7. Rückzug des Paares und der Getreuen, im Tristanroman in den Wald, in der >Mort Artu< auf die Joieuse Garde. 8. (In der >Mort Artu< Kämpfe, dann) Rückkehr der Königin zum Ehemann durch geistliche Vermittlung, Verbannung des Liebhabers. Die Frage ist, was die Verwendung dieser Motive zu bedeuten hat. Nachdem schon zu sehen war, daß sich die Problematik der Liebe im >Lancelot propre< nicht primär auf Moralfragen richtete, wird man nicht ohne weiteres annehmen, daß hier einfach nochmal ganz deutlich die destruktive Wirkung der Ehebruchsliebe auf die Gesellschaft gezeigt werden solle. Auf der anderen Seite ist aber auch nicht zu erwarten, daß der Triumph der Liebe über die Widerstände der >Gesellschaft< das Thema sein solle. Eine Erklärung ist nicht auf den ersten Blick zu finden, unter Umständen kann aber der Kontext, in dem diese Motivkette steht, eine Hilfe sein. Der Entdeckung des Paares geht eine Episode voraus, die man nicht auf den ersten Blick mit dem Tristanroman in Verbindung bringen wird; bei näherem Hinsehen aber zeigt sich in einem bestimmten Punkt doch eine Verwandtschaft. Es handelt sich um die Episode der vergifteten Frucht (>Ginevra in Gefahrlancelotisierten< Tristan-Motiv zu tun, nach dem Schema >Ritter befreit seine Geliebte von einer Anklage, die nur zum Teil berechtigt ist und die sich nicht auch zugleich gegen ihn richtete In den Tristanromanen kommt ein Gerichtskampf zwar nicht vor, aber er wird gelegentlich erwogen, z.B. bei Berol, w . 809fr., im Anschluß an die Mehlstreu-Episode; in der version courtoise schließt sich an diese Entdeckung das Gottesurteil mit Isoldes doppeldeutigem Eid an. Die entschärfte Abwandlung dieses Gottesurteils stammt von Chrétien, der im >Chevalier de la charretelancelotisiertes< Motiv - die Mehlstreu-Bettsprung-Szene so ändert, daß der Ver132

dacht auf einen Dritten, nämlich K e u , fallt, so daß Lancelot die K ö nigin vom Verdacht des Ehebruchs mit K e u reinigen kann, ohne zu doppeldeutigen Tricks greifen zu müssen." Die zunächst weitläufig erscheinende Analogie zu der fraglichen Episode der >Mort Artu< ist präziser zu fassen einmal durch den unten zu besprechenden Zusammenhang mit der Falsche-Ginover-Episode und zum andern dadurch, daß in der Affäre mit der vergifteten Frucht das Problem von Ginovers Schuld durchaus als ambivalent vorgeführt wird. In der Episode >Ginevra in Gefahr< handelt es sich um folgende Situation: Ginover bekommt v o n einem weiter nicht bekannten Ritter eine vergiftete Frucht zugespielt, die sie nichtsahnend ihrem Nachbarn weiterreicht (der Mörder hatte eigentlich Gawan anvisiert). Alle A n wesenden können dann beobachten, daß dieser Ritter, Garheiß, nach dem Verzehr der Frucht stirbt.' 6 Obwohl Ginover beteuert, nichts v o n dem G i f t gewußt zu haben, zählt hier der äußere Anschein ( K III 4 8 7 , 1 1 - 1 3 und 500,16-501,2; F 76, § 62,38-40 und 85, § 67,70-73); diesem zufolge hat Ginover Garheiß getötet, und so steht es dann auch auf dem Grabstein. Der mittelhochdeutsche Text bringt diese Inschrift zwar noch nicht bei dessen erster Erwähnung (K III 490,6-8), 5 7 aber der französische hat hier que la reine fist morirpar venim (den die K ö n i g i n mit G i f t tötete; F 78, § 6 3 , 1 3 ) , und an der zweiten Stelle heißt es dann auch im mittelhochdeutschen Text: den die koniginne Genievre det sterben mit vergiß (K III 499,4f.). Als der Bruder des Getöteten, Mador von der Porczen, - nach dem Lesen der Grabinschrift! — Anklage gegen die K ö n i g i n erhebt, wagt keiner, solch einen ehrlosen K a m p f auf sich zu nehmen, da ihre Schuld offenbar scheint, und auch Ginover selbst sieht die L a g e so ( K III 5 0 9 , 1 7 - 5 1 0 , 1 ) . A l s Lancelot, der sich während dieser Ereignisse nicht am H o f aufhält, davon erfährt und sofort beschließt, sich für die K ö n i gin einzusetzen, ist er selbst unsicher, ob er diesen K a m p f gewinnen kann: »und darumb wil ich mich abenturen sie zu beschütten, und doch nit als kunclich [frz. hardiement: kühn] als ich zu andern zyten hann gethan. Wann ich weiß sicherlich, nach dem als ich hann hören sagen, das ich unrecht han, u n d M a d o r sol recht hann.« ( K I I I 5 1 7 , 6 - 9 ; F 97, § 7 5 , 3 8 - 4 2 )

Lancelot ist sich also dessen bewußt, daß er diesen K a m p f - als Gottesurteil - nicht völlig guten Gewissens führen kann. E r macht sich dann " Haug 1978, S. 84flF. Zur Herkunft dieser Episode siehe Pontfarcy 1978. i7 Dies wurde offenbar später am Rand korrigiert, siehe Apparat zu Z. 7. 1

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jedoch den Umstand zunutze, daß das Urteil Madors wie das der Augenzeugen allein die Tat selbst, die Ausführung, nicht aber das Motiv, die Intention erfassen kann, daß Mador aber trotzdem seine Anklage gegenüber der Information, die er von dem Ereignis erhalten hat, um das Motiv der verretniß und der ungetrüwekeit erweitert. Lancelot wählt also seine Eidesformel, die dem Kampf vorausgeht, so, daß er den Kampf doch wieder guten Gewissens führen kann. E r sagt, er sei bereit zu beweisen, daß die Königin Garheiß nicht in böser Absicht getötet habe: »Ich bin bereyt«, sprach Lanczlot, »zu bewysen das sie nye ungetruwekeit noch falscheit daran gedacht.« ( K III 527,8-10; F 104, § 83,4f.)

Daß Lancelot diese Formel bewußt wählt, wird nicht explizit gesagt, aber es wird verdeutlicht durch den Erzählerkommentar: Und Mador hut sich nit von dißen reden.

(K III 527,10; F 104, § 83,; f.)

sowie durch Gawans Kommentar Artus gegenüber: »Sicherlich herre, nii mag ich wol gleuben, das Mador in eyner bösen ansprach ist. Wann wie doch das sin brüder starb, ich schwüre wol off die heiligen, nach mynem gedanck das sie nit boßheit nach verretniß daran gedechte. Darumb möcht es im licht bald übel gan [...].« (K III 5 2 7 , 1 2 - 1 6 ; F 104, § 83,9-13)

Dieses Motiv' 8 - eine geschickt gewählte Formel ermöglicht den siegreichen Ausgang des Gottesgerichts - rückt dadurch, daß die Liebenden die Protagonisten sind, die Episode näher an den Tristanroman heran; die Parallelepisode der >Falschen Ginevra< wird noch ein weiteres Argument dafür liefern, diesen Abschnitt in die Rezeption von TristanMotiven einzubeziehen.59 58

F r a p p i e r 1961 bespricht dieses Motiv in seinen >Additions et correctionsMort Artu< mit der Rückkehr der Königin infolge einer Intervention des Papstes ein Motiv aufgegriffen wird, das bereits im >Lancelot propre< erscheint, ist in der Forschung natürlich bemerkt worden,60 aber meines Wissens hat bisher niemand einen detaillierten Vergleich unternommen. Dabei zeigt ein genauerer Blick bereits, daß die Parallelen sich nicht auf die Auflösung (Rückkehr der Königin) beschränken, sondern viel früher, nämlich mit der Anklage der Königin einsetzen. Reduziert auf das schematische Gerüst stellen sich die Entsprechungen folgendermaßen dar: >Falsche Ginover
Mort Artu
Sources< einmal als Quelle aus dem >Lancelot propreTristanMort Artu< parallelen Aufbaus verlorengegangen ist, denn die Szene hat dort eine genaue Entsprechung/" Nachdem Ginover gehört hat, daß sie zurückkehren soll, heißt es zunächst in allen Versionen, daß sie sich sehr darüber freue:

F r a p p i e r 1 9 6 1 , S. 2 1 1 , nennt diese Passage im »Lancelot propre* als Quelle für diejenige in der >Mort ArtuMort Artu< führt dies schließlich zum Ende der Liebesbindung. A n dieser Stelle bestätigt sich nun der Sinn v o n Ginovers Bedingung der Heimlichkeit, da Lancelot v o n genau diesem Moment an Dienst für Ginover und Dienst für Artus bzw. für dessen Herrschaft nicht mehr vereinbaren kann. Bis dahin hatte sich das zweite von selbst aus dem ersten ergeben, aber nun bedeutet Ginover zu dienen, sie gegen Artus zu verteidigen, so daß Lancelot gleichzeitig auch zu Ginovers Herrscherinnenrolle in Gegensatz gerät. Was er auch tut — es wird gegen die Bedingungen dieser Liebesbindung verstoßen, entweder gegen den Vorrang der Herrschaft oder gegen seine Identität als Liebender. J e bedingungsloser er sich für Ginover einsetzt, desto mehr verstößt er gegen das Gebot, ihre ere zu wahren. Deshalb können die TristanSzenen gerade nicht zu einem Tristan-Schluß führen. Außerdem wird vor diesem Hintergrund plötzlich eine scheinbare Kleinigkeit verständlich, die auf den ersten Blick als hilflos-ungeschicktes Verhalten Lancelots und rätselhaftes Motiv anmutete. Nach der Rettung Ginovers tritt Lancelot zum Scheiterhaufen und stellt als erstes eine Frage: »Frauw, was thun wir nu mit uch?«

(K III 557,1 f.; F 125, § 95, 8f.)

Letztlich drückt sich in dieser Frage die Ausweglosigkeit aus, in die Lancelot mit seiner Liebe geraten ist; er weiß, daß jetzt der Zeitpunkt erreicht ist, zu dem Ginover zwischen Liebe und Herrschaft entscheiden wird, und darauf bezieht sich seine Frage. D a die Hierarchie der Alternativen v o n vornherein festgelegt war, scheitert die Liebe - auch wenn das Ende noch ein bißchen hinausgezögert wird — in diesem Moment an ihrer eigenen Bedingtheit. Während Lancelot schweres Leiden an der Situation zugesprochen wird, fehlt dies bei Ginover fast völlig; sie handelt in fast kalter Konsequenz ihrer bedingten Haltung: die Beratungsszene in der >Mort Artu< ist hier überdeutlich ( K III 608ff.; F 154f., § 118). Nachdem schon aus der Zeit des Aufenthalts in der Joieusen Garde außer einem höchst knappen und rein technischen Gespräch über die Belagerungssituation nichts über Lancelot und Ginover und ihre Liebe berichtet worden war, bittet Ginover erst dann die Freunde zusammen, als sie die Nachricht erhalten hat, daß sie zurückkehren könne. Auch jetzt überläßt sie - wie schon in Sorelois — scheinbar den Beratern J

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die Entscheidung, aber diesmal formuliert sie die angemessene A n t w o r t gleich explizit mit: sie sollen im Sinne ihrer ere entscheiden, und diese könne nur in ihrer Rückkehr liegen: Nu bitten [...]. Mir Wann der So dut er

ich uch das ir mir radt gebent zu mynem nucz und zu mynen eren, ist ein mere komen das mir billich wol behagen sol und auch uch. konig [...] hat mir enbotten, das ich wiedder zu im kumme [...]. mir groß ere [...].« (K III 608,10-16; F 154, § 1 1 8 , 4 - 1 2 )

Deshalb begrüßt sie Lancelot und seine Verwandten gleich damit, daß sie eine Nachricht erhalten habe, die auch ihnen »billich wol behagen« müsse ( K I I I 608,13): »qui moult me doitplere

et a vos ausi« (»die mir sehr

zu gefallen hat und E u c h auch«; F 154, § n 8 , 7 f . ) . Wie aber begründet sie dieses Mal einen solchen Schritt, der ja nun zur endgültigen A u f l ö s u n g der Liebesbindung führt? Äußerlich stellt es die U m k e h r u n g ihrer B e g r ü n d u n g f ü r die Rückkehr aus dem E x i l in Sorelois dar; hatte sie in der A f f ä r e mit der falschen G i n o v e r wegen A r t u s ' Fehltritt ein Recht auf Rückkehr, so wird ihre aktuelle Schuld nun angesichts v o n A r t u s ' Bereitschaft zu verzeihen geradezu zur Verpflichtung, das A n g e b o t anzunehmen. A r t u s ' Qualitäten stehen denn auch nicht mehr in F r a g e , im Gegenteil: »Wann der konig ist eyner der best von aller der weit, als irselber gesagt hant alle zyt, der hat mir enbotten das ich wiedder zu im kumme, er wol mich als richlich und als erlich halten als er ye gedete und auch me. So düt er mir groß ere [ . . . ] , und er ensiecht nit an das ich gar sere missetan han geyn im.« (K III 608,15-17; F 154, § 1 1 8 , 8 - 1 4 ) D e r moralische A s p e k t , der in dem Wort missetan und in der religiösen A n a l o g i e dieser letzten Formulierung (Sünder gegenüber G o t t ) zum Ausdruck kommt, stellt aber genau wie das Sündenbewußtsein, das den Liebesverzicht für die D a u e r des Exils in Sorelois motivieren mußte, eine sekundäre, wenn auch hinsichtlich des Z w e c k s passende Motivierung dar; die Begriffe v o n Schuld, Sünde, Recht erhalten ihre Funktion erst aus der Z u o r d n u n g zur übergeordneten ere der Herrschaft, denn so kann einmal G i n o v e r s Recht, das andere Mal ihr Unrecht die Rückkehr begründen. Hinsichtlich eines Konzepts absoluter Liebe erscheint das erschütternd; da es sich aber um eine v o n A n f a n g an als bedingt strukturierte K o n z e p t i o n der Liebesbindung handelt, ist es logische Konsequenz. >Tragisch< im Sinne eines unglücklichen Mißverständnisses wird es erst dadurch — und damit stößt man nun auf den entscheidenden Punkt der Rollenverteilung - , daß die beiden Liebenden nicht in gleicher Weise auf dieses K o n z e p t bezogen sind, denn die K o n z e p t i o n der Lancelot140

figur ist die eines absolut Liebenden. Der Liebesverzicht ist einerseits Konsequenz aus dem Bedingungen stellenden Liebesbund, der sich andererseits Lancelots bedingungslosen Liebes-Gehorsam zunutze macht, wobei aber der Liebes verzieht gleichzeitig in Widerspruch zu seiner tatsächlich unzerstörbaren Liebe gerät. So antwortet er auf Ginovers Bitte um Rat: » F r a u w e « , sprach L a n c z l o t , »det man das m y n hercz begert u n d das ich aller liebst sehe, so blibent ir; w a n n sicherlich, ich sol mich u w e r übel getrosten als ir h i n w e g sint v o n mir! D o c h so ist mir lieber das diß g a n g nach u w e r n eren dann nach m y n e m willen.« ( K I I I 6 0 9 , 5 - 9 ; F 154, § 1 1 8 , 2 3 - 2 7 [ohne »wann . . . v o n mir«]) 6 '

Diese Entscheidung wird von Bohort und den andern beiden heftig kritisiert: Lancelot werde sie schwer bereuen. 64 Ginover soll nicht in Verruf geraten und deshalb in prächtiger Weise zu Artus zurückgeführt werden, unter Zurückweisung aller Anschuldigungen. 6 ' Liebe und Ehre werden noch einmal auseinandergehalten, wenn er fortfährt: » U n d diß ensagen ich nit, frauwe, u m b des willen das ich uch als lieb habe als y e k e y n ritter in unserm leben ye k e y n frauwen g e w ä n n e , sunder d a r u m b uch zu eren und u m b u w e r schand zu bedecken.« D a b e g u n d e n im die trehen die äugen nyder fließen [ . . . ] . (K III 609,15-18; F 155, § 118,35-39)

Von hier aus sollten die Tristan-Motive nochmals betrachtet werden. Es dürfte deutlich geworden sein, daß ihre Verwendung zunächst einmal situationsbezogen ist, d. h. sie werden als Muster für bestimmte Handlungsabläufe herangezogen, die das erreichte Stadium des offenen Konflikts illustrieren: Gerichtskampf des Liebhabers für die Geliebte, die Entdeckung des Paares sowie das Exil mit Rückkehr. Da sie, wie gezeigt, gerade in jenen beiden parallelen Abschnitten eingesetzt werden, die den spezifischen Konnex von Liebe und Herrschaft problema' ' An der Parallelstelle im >Lancelot propre< findet sich eine schwächere, im Prinzip aber gleiche Antwort: »et si vos amerions nos miels en ceste terre [=Sorelois]« (»wir hätten Euch [aber] lieber hier in diesem Land«; M 1 167,4f.). 64 Speckenbach 1993 [b], S. 349, meint, Lancelots Entsagung, ohne daß er wahnsinnig werde, dokumentiere die Kraft der Liebe; das scheint mir ein wenig schief zu sein, denn es geht nicht um eine Bewährung der wahren Liebe im Verzicht, sondern dies ist nur die extreme Variante des Prinzips, daß Lancelot aus unbedingter Liebe so handelt, daß Ginovers Kalkül aufgeht. 65 Lancelots Lügen, das kategorische Abstreiten des Ehebruchs und seine Geringschätzung von Gaheriets Tod sowie die Tatsache, daß er Artus im Kampf schützt, lassen sich so ebenfalls aus dem Versprechen, Ginovers Ehre zu bewahren, verstehen, bevor man es religiös oder moralisch bewertet.

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tisieren - in der Falsche-Ginover-Episode durch die vorläufige Bedrohung, in der >Mort Artu< durch die Auflösung der Liebesbindung dürfte ihre Funktion genau darin liegen, hier ein weiteres Mal die Umdeutung literarischer Tradition hervortreten zu lassen und zu zeigen, inwiefern die Liebesbeziehung zwischen Lancelot und Ginover von vornherein als eine bedingte konzipiert ist, und wie sie dabei ihre spezifische Spannung aus der prekären Kombination mit der unbedingt liebenden Lancelot-Figur erhält. Da die Reihe der Tristan-Szenen aus der Version commune in der >Mort Artu< überdeutlich klarmacht, daß das Gebot der Heimlichkeit jetzt nicht mehr erfüllt ist, markieren sie genau den Punkt, an dem die Kombination bedingungslos Liebender in bedingter Liebesbindung< den Liebenden in die Ausweglosigkeit führt. Vorher ist seine Bedingungslosigkeit Voraussetzung für die Indienstnahme durch die Herrschaft, danach aber führt ihn die gleiche Bedingungslosigkeit in feindlichen Gegensatz zur Herrschaft und damit auch zum Verlust der Geliebten. Dies - und nicht Lancelots Versagen bei der Gralsuche - scheint mir das eigentliche Paradox der Lancelotliebe auszumachen; die geistliche Perspektive ist eine sekundäre, die sich bereits vorhandene Grundstrukturen zunutze macht. Übrigens läßt sich gerade an der Trennung der Liebenden nochmals der Unterschied zum Tristanroman hervorheben; bei Eilhart bleibt ja auch die Frau zurück, während der Liebhaber außer Landes verbannt wird. Aber damit endet die Geschichte nicht, sondern als Tristrant in Todesnot nach Isalde schickt, da bedeutet ihr Aufbruch einen irreversiblen Schritt. Eilhart macht ganz deutlich, daß sie alles, Land, Besitz, Herrschaft, also die Möglichkeit zur Rückkehr hinter sich läßt: 66 ein größerer Gegensatz ist kaum denkbar. Eine interessante Parallele bleibt übrigens doch, daß in beiden Texten der Liebhaber am Ende den Ereignissen ausgeliefert ist, während die Frauen die Möglichkeit zur Entscheidung haben. Daß das aber im einen Fall zum Liebestod führt, ist die Konsequenz aus der Entscheidung für die Unbedingtheit der Liebe, während die Entscheidung gegen die Unbedingtheit nur den doch zwiespältigen Liebesverzicht zur Folge haben kann. Jan-Dirk Müller hat gezeigt, wie sich am Schluß des >Tristrant< größte Nähe und größte Entäußerung (Entäußerung als Destruktion der Heldenrolle und gesellschaftliche Isolation) gegenseitig bedingen; 67 hier im Prosa-Lancelot scheint die geringe Nähe die Kehrseite mangelnder Entäußerung zu 66 67

Siehe das Zitat a u f S. 85 dieser Arbeit. Müller, J . - D . 1990, S. 3 0 - 3 5 .

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sein. Allerdings braucht man den Prosa-Lancelot deshalb nicht unbedingt als Anti-Tristan zu verstehen, da er außer dem >Tristan< noch andere Traditionen aufgreift und miteinander verbindet, wobei mir das Neue, das daraus entsteht, wichtiger und interessanter zu sein scheint als eine mögliche bewußte Abgrenzung von älteren Konzepten. Oben war schon zu sehen, in welcher Weise der Prosa-Lancelot mit der Tradition der fin'amor umgeht, und es scheint alles darauf zu deuten, daß die Umgestaltung des Absoluten zum Bedingten ein allgemeiner Z u g ist, für den der übergeordnete Gedanke noch zu finden ist. Denkt man an diesem Punkt zurück an Chrétiens >Chevalier de la charrete< mit der dort entworfenen Verbindung aus arthurischem Liebe-Aventüre-Muster, fin'amor und Tristan-Konstellation, so hebt sich als grundlegende Veränderung hervor, daß im Prosa-Lancelot anstelle einer absoluten, letztlich der Realität enthobenen Liebe eine bedingte, in die Realität des politischen Alltags geradezu verstrickte Liebe gestaltet wird. Man erkennt auch, daß die Frage nach dem gesellschaftlichen Wert zum Vergleich des Prosa-Lancelot mit dem Chrétienschen Romantyp ohne diese Erkenntnis insofern nichts beitragen kann, als sie sich für beide Romane zunächst einmal positiv beantworten ließe; es kommt aber darauf an, die je spezifische Konzeption des gesellschaftlichen Wertes< zu erfassen. Chrétien geht es nicht um Nutzen, sondern allenfalls um eine Erfahrung, die der Held stellvertretend für die Gesellschaft macht, während im Prosa-Lancelot an einen konkret-praktischen Dienst gedacht ist. Wie sich dann das Ende in bezug auf die Gesellschaft gestaltet, hängt eigentlich nicht von der Liebe selbst ab. Wenn in der >Mort Artu< die Zweckrelation des >Lancelot propre< doch ein Ende findet, so ist dies eine Konsequenz aus Umständen, die primär die Herrschaftssituation verändern, was wiederum das Verhältnis der Liebe zu ihr beeinflußt. Ihrem Prinzip nach kann diese Liebe also je nach Umständen der Gesellschaft nützen oder ihr schaden, wobei Nutzen und Schaden nicht als absolute Begriffe gebraucht werden dürfen, da das Verhältnis zwischen Gesellschaft und Protagonisten im Prosa-Lancelot komplex ist.68 An dieser Stelle muß ich einhalten, um mich mit einem Forschungsbeitrag näher auseinanderzusetzen. Als einzige hat Elisabeth Schmid gesehen, daß die Liebe im Prosa-Lancelot gerade durch ihre Funktion, die Macht zu garantieren, auf irgendeine Weise ihre Qualität verändert. Allerdings treffen ihre Begründungen und Bewertungen nicht wirklich genau: Im >Lancelot propre< würden die Beziehungen im Dreiecks68

Z u m Z u s a m m e n h a n g L i e b e — U n t e r g a n g siehe unten S. 150fr.

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Verhältnis als symbolische behandelt und blieben daher konfliktfrei, während sie in der >Mort Artu< real würden. Ginover und Lancelot fungierten als Symbole von Artus' Macht,69 die Liebe aber werde ebenfalls nur in symbolischen Codes (ästhetisch und religiös) zur Darstellung gebracht. Der Roman tue alles, »um sie dem sexuellen Register zu entziehen«; sie werde »entwirklicht« und fungiere so als Metapher dessen, was die Gesellschaft zusammenhalte. 70 Was den Zusammenhang zwischen Liebe und Gesellschaft bzw. Herrschaft angeht, hat Schmid etwas Richtiges gesehen: Lancelot sei Garant der Artusherrschaft, Artus empfange geradezu »seine königliche Souveränität aus Lancelots Händen« (nach dem Galahot-Krieg); 71 in der Dreieckskonstellation scheine ein »Spiel zusammenwirkender Kräfte am Werk zu sein«, wenn Lancelot die Herrschaft bedinge und sein Glanz wiederum auf die Königin zurückzuführen sei, die ihrerseits Artus' Herrschaft symbolisiere.72 Doch verkennt Schmid m. E. Ginovers aktive Rolle in diesem Beziehungsgeflecht und die Rückwirkung auf die Liebesbeziehung selbst.73 Denn was sie als ästhetischen und religiösen Code bezeichnet, sind Topoi — epische Strukturmuster (der Beste und die Schönste) und lyrischer Topos (die Dame als Quell der höchsten Werte), die erst noch - wie ich das versucht habe - auf ihre Gestaltung im Kontext dieses Romans untersucht werden müssen, weil man sonst auf der Stufe der Deutung der Liebe als traditionell >höfischer< stehen bleibt. Schließlich zeigt sich nämlich, daß lang vor dem Umschwung der >Mort Artu< ins >Reale< bezüglich der Liebe das Gegenteil von dem zu sehen ist, was Schmid zu erkennen glaubt. Die ästhetisch-symbolischen Muster, die in der literarischen Tradition verwendet werden konnten, um eine absolute Liebe darzustellen, sind hier eingesetzt als nicht funktionierende oder als Hülle für etwas anderes und werden deshalb konkretisiert, nicht abstrahiert. Die Liebe wird dadurch eine bedingte, aber nicht eine weniger wirkliche, sie wird der Macht untergeordnet, aber nicht entwirklicht.

70 71 72

7i

Schmid 1990, S. 130. Ebd. E b d . , S. 128. E b d . , S. 130. Sie verdeutlicht dies durch eine interessante Gegenüberstellung mit dem >PerlesvausArbeit< zugewiesen: Galaad der religiös überhöhte, Mordred der irdisch-niedrige.77 Im zweiten Teil des >Lancelot propre< tritt die Liebesthematik in den Hintergrund; das im ersten Teil so pointiert vorgeführte Liebe-Herrschafts-Prinzip bildet aber weiterhin die Basis, auf die sich die abwechselnden Phasen der langen Abwesenheiten Lancelots und der etwa jährlichen Begegnungen des Paares beziehen. Fragen des Ranges sowie der Funktion Lancelots für den Artushof spielen daher immer eine Rolle und sind ausgedrückt einerseits in der affektgeladenen Zuwendung des Hofes zu seinem besten Ritter und andererseits in dem, was Ginover mit Lancelot jeweils bespricht. Dies will ich anhand einer knappen Darstellung der fraglichen Episoden zeigen. Beim Turnier von Kamalot veranlaßt Ginover Lancelot, auf der Seite der Gegner zu kämpfen, weil eine ganze Anzahl von Artusrittern seinen Rang in Zweifel gezogen hatten. Als Reaktion auf Artus' Behauptung, ohne Lancelot hätten sie bei diesem Turnier keine Chance, wollten die Neider gegen den Hof kämpfen, falls Lancelot noch auftauchen sollte. Dem kommt Ginover mit ihrem Plan zuvor (K II 401 f.; M IV 349ff). Die Bedeutung Lancelots für die Erhaltung der Macht oder des Ansehens dadurch zu bekräftigen, daß man ihn als Gegner auftreten läßt, ist allerdings riskant und ausgesprochen heikel. Obwohl Artus ihn anschließend nur um so mehr preist und rühmt, kündigt sich hier schon die Konstellation der >Mort Artu< an, wie auch die Erzählervorausdeutung klarmacht: der Haß der neidischen Artusritter werde später, im Zusammenhang mit der Entdeckung des Ehebruchs, wieder aufflammen (K II 4 3 7 , 1 3 - 1 7 ; M IV 399).78 Ginover aber hat zwischendurch mit Sorge Lancelots Schwächeanfall (infolge ihres Anblicks) beobachtet und droht ihm mit Liebesentzug, falls seine Liebe zu ihr ihn versagen statt triumphieren lasse.79 Sie fordert ihn auf, am nächsten Turniertag wieder letzteres unter Beweis zu stellen (K II 423,21-424,17; M IV 379> i 7-38O,2 3 ). Auch im Gespräch über Lancelots Verlust des Gralrittertums (K II 438,7-439,20; M V 2,1-3,30) - von dem Ginover ja wie alle am Hof noch annimmt, daß es in irgendeiner Form den Glanzpunkt des Artus77

78 ll)

Vgl. A n d e r s e n 1986, S. 220. Bei einer solchen Sicht wird auch einmal deutlich, inwiefern Galaad g a n z im Gegensatz zu der E r w a r t u n g , die der H o f an ihn hat und zu dem Bild, das v o n den Einsiedlern aufgebaut wird, unter einem problematischen A s p e k t erscheinen könnte. Siehe auch K a p . V I . 3 . Vgl. auch Schmid 1990, S. 1 3 1 f., die allerdings nicht auf G i n o v e r s Handeln eingeht. Vgl. auch oben S. 69 f.

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reiches darstellen solle - bedauert sie in erster Linie den ungünstigen Einfluß der Liebe auf die Möglichkeit, die größte aller Taten zu vollbringen. Indem sie sich selbst verflucht und Lancelot bedauert, daß er seine guten Anlagen vergeudet habe, anschließend sich aber genauso wie zuvor verhält, zeigt sich die Trauer darüber, daß Lancelots Liebe ihn doch nicht zu allem befähigt, was für das Artusreich von Bedeutung ist. Da Lancelot immer nur dagegenhält, daß er ohne diese Liebe gar nicht so weit gekommen wäre, formulieren sie im Dialog lediglich das Paradox aus, ohne es zu bewältigen. Beim nächsten Fest besprechen Ginover und Lancelot vor allem den Rachefeldzug gegen Claudas, der eine Botin der Königin an die Frau vom Lack gefangenhält und Ginover beleidigt hat. Das an Lancelot und seiner Sippe begangene Unrecht spielt durchaus eine Rolle in der Begründung des Unternehmens; dennoch gibt letztlich nur Ginovers Wunsch, die selber erfahrene Beleidigung zu rächen, den Ausschlag ( K II 679, bes. 4 - 7 ; 680,7f.; M V I 3 0 , 2 7 - 3 2 , 1 1 ) . Lancelot wird ja die zurückgewonnene Herrschaft auch nicht ausüben. Eigenartig ist im Z u sammenhang dieser Einkehr Lancelots, daß das Warten des Hofes, vor allem des K ö n i g s , in fast schon grotesk anmutender Breite und Ubertreibung geschildert wird, Lancelots A n k u n f t dann aber höchst unrühmlich verläuft: er läßt sich nämlich v o n Gawan, der ihn im Spaß angreift, vom Pferd werfen. Die hochgepeitschte Erwartung ist umso merkwürdiger, als Lancelot in der Zwischenzeit so gut wie keine E r folge zu verzeichnen, sondern die meiste Zeit in Morganes Gefängnis verbracht hatte. War dieses Wechselspiel v o n Lähmung Lancelots und Erwartung und Anerkennung des Hofes 80 im Kapitel >Dolorose Garde< noch auf relativ kurze Zeitspannen bezogen, so wird es jetzt durch die Jahresfristen in seiner Paradoxie immer schärfer zugespitzt. Das nächste Pfingstfest bringt noch einmal einen negativen Höhepunkt. Die Tochter des Pelles reist an den Artushof und wird dort ehrenvoll aufgenommen; ihre A m m e fädelt aber einen zweiten Betrug ein, der zur Verstoßung Lancelots durch Ginover führt. Ginovers Tat ruft bei den Eingeweihten einschließlich ihrer selbst sowie der PellesTochter Untergangsstimmung hervor; 8 ' man fürchtet die Verwaisung des Hofes infolge einer zu erwartenden Lancelot-Suche, und in der Tat bleibt Lancelot fast sieben Jahre dem H o f fern. 80 81

Hirschberg 1986, S. 252ff.; vgl. auch Ruberg 1965, S. iooff. Bemerkenswert ist, daß sich beide Frauen gegenseitig Vorwürfe machen, beide aber auch ihre jeweilige Schuld eingestehen; sie haben die gleiche Perspektive auf das Unglück.

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Dies alles bedeutet, daß in den Augen Ginovers wie auch des übrigen Hofes Lancelots Bedeutung für die Artusherrschaft unvermindert erscheint, während in Wirklichkeit seine Taten außerhalb des Hofes an Zahl weniger, erfolgloser und damit sinnloser werden: Er erlebt Mißerfolge (nicht nur bei Gralaventüren), er ist jahrelang gefangen, lange Zeit wahnsinnig und verbringt die Jahre nach der Heilung mit der von ihm selbst eingerichteten, ganz auf ihn bezogenen costume auf der Ile de Joie. Parallel zur schwindenden Bedeutung der Artusmacht, die sich nur im Feldzug auf den Kontinent noch einmal behauptet, bleibt zwar das Liebe-Herrschafts-Prinzip bestehen, verliert aber gewissermaßen an Substanz. In der >Queste< spielen weder Artusherrschaft noch Liebe eine Rolle, da nur noch spirituelle Werte zählen. Lancelot schwört nach einiger Zeit der Liebe zu Ginover ab, ohne daß dies den Leser - vor allem im Blick auf die >Mort Artu< - wirklich zu überzeugen vermöchte. Die >Mort Artu< führt das, was im zweiten Teil des >Lancelot propre< festzustellen war, ins Extrem: Das Liebe-Herrschafts-Prinzip wird beibehalten, obwohl ihr der Grund entzogen ist, da das Ende der Aventüren letztlich auch das Ende der Artusherrschaft bedeutet und dieses einleitet.82 Ginover entscheidet sich erneut für die Herrschaft und beendet deshalb die Liebesbindung. Zuvor war die Geheimhaltung, die zentrale Bedingung, unmöglich geworden, was dazu geführt hatte, daß Lancelot nicht mehr gleichzeitig Ginover und Artus dienen konnte. Auch Ginovers Rückkehr und alle Unschuldsbeteuerungen können diesen Schritt nicht rückgängig machen; Lancelot wird noch aus anderem Grund verbannt, denn er hat bereits eine artusfeindliche Tat, die Tötung vieler Artusritter, darunter Gaheriets, begangen. Die entscheidende Veränderung gegenüber den früheren Stadien besteht aber darin, daß der Untergang der Artusmacht bereits begonnen hat, daß also die Herrschaft, der die Liebe erst diente, dann aber geopfert wird, keinen Bestand mehr hat. Die komplexe Situation läßt sich folgendermaßen beschreiben:

82

Wenn man unter >Aventüren< alle ritterlichen Taten, auch im K r i e g und Turnier, versteht, so sind diese natürlich nicht völlig verschwunden. D i e A v e n t ü r e n aber, die durch G a l a a d zu E n d e g e f u h r t werden, sind diejenigen, die magischen oder E r l ö s u n g s charakter haben (siehe dazu K a p . V I . 1.) und die das Artusreich besonders kennzeichnen. D a das Bestehen solcher Aventüren die zentrale A u f g a b e des A r t u s h o f e s und seiner Ritter im Prosa-Lancelot darstellt, verstehe ich den >Abenteuerzustandobjektiv< bedeutungslos geworden, und ihr Untergang hat mit dem Anfang der >Mort Artu< bereits begonnen; andererseits bleibt die Herrschaft selbst erst einmal weiterhin in Kraft. Dieses Nebeneinander läßt sich so verstehen: Mit dem Ende der Aventüren ist das Ende der Artusherrschaft gekommen; damit ist auch der Liebe-Herrschafts-Konnex objektiv gesehen überflüssig geworden, so daß die Liebesbeziehung, falls sie nicht unabhängig davon weiter existieren kann, in Ermangelung ihrer alten Funktion ebenfalls untergehen muß. So gesehen ist sie nicht der Grund für den Untergang, sondern selbst eine Folge des Endes der Aventüren, das den allgemeinen Untergang einleitet. Die narrative Ausfaltung vom >Anfang vom Ende< bis zum wirklichen Ende verlangt aber eine Motivierung der einzelnen Handlungsschritte; diese ist auf die Ebene der Figuren verlegt, die ja die eigentliche Bedeutung des Endes der Aventüren nicht kennen oder nicht sehen wollen. Da in der Figurenperspektive das 151

Artusreich nach wie vor Bedeutung hat, wird einerseits der Ehebruch zur scheinbar zentralen Bedrohung, und andererseits wird die Liebe der äußerlich noch bestehenden, aber durch den Entzug der Aventüren ausgehöhlten Herrschaft geopfert. So ergibt sich im narrativen Verlauf eine chronologische und kausale Abfolge — Liebe verursacht Untergang, das Ende der Liebe steht vor dem allgemeinen Ende - , die genau betrachtet nicht zutreffend ist: denn wenn die Herrschaft untergeht, dann muß auch eine Liebe, die in so spezifischer Weise an sie gebunden ist, untergehen. Vorläufig bleibt festzuhalten, daß entgegen dem ersten Eindruck die Liebe im Prosa-Lancelot in eine feste Struktur eingebunden ist, die allerdings nicht den Roman als Ganzes erfaßt, sondern ein Prinzip darstellt, welches in der Perspektive der Figuren von Anfang bis Ende — mit Ausnahme der >Queste< - gültig ist. Der objektive Erfolg dieses Prinzips aber verändert sich mit den grundsätzlicheren Bedingungen der erzählten Welt. Durch die Berücksichtigung des Aspekts vom Vorrang der ere Ginovers und der Herrschaft vor der Liebe sollen die schillernde Vielfalt und die reizvollen Widersprüche des Prosa-Lancelot selbstverständlich nicht auf einen Nenner gebracht werden, da es typisch für den Text zu sein scheint, einzelne Motive in verschiedene Bezüge einzubinden. 8 ' Trotzdem kann man mit dem Herrschaftsaspekt mancherlei Ungereimtheiten und Merkwürdigkeiten erklären, zu denen die widersprüchliche religiöse Argumentation, der Gespaltene Schild, der vergleichsweise geringe Stellenwert der Sexualität, Lancelots Verhalten in der >Mort Artu< (Lügen, Schutz Artus' usw.) gehören. Gerade was das Verhältnis von Liebe und geistlicher Perspektive angeht, ist die bislang vorherrschende Sichtweise erheblich zu differenzieren. Man neigte dazu, das zentrale Problem der Lancelotliebe in ihrer Verdammung von der Gral-Ideologie her zu sehen und damit auch ihr Scheitern in Verbindung zu bringen. Dagegen ist festzuhalten, daß es gar keinen echten Konflikt zwischen den Liebenden und der Geistlichkeit gibt und daß dabei sogar zwei verschiedene geistliche Einflüsse zu unterscheiden sind: In der FalscheGinover-Episode stützen Gott und die Kirche die Herrschaft und lassen Ginovers doppeldeutige Manöver gelingen; das spätere Verdammungs-

83

S o z u m Beispiel, w e n n das Motiv d e s durch einen Trick h e r b e i g e f ü h r t e n Beischlafs Lancelots m i t der Tochter des Pelles einmal für den heiligsten Zweck eingesetzt und das andere M a l ausschließlich mit d e r g a n z irdischen L i e b e der Frau zu L a n c e l o t begründet wird.

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urteil, das etwa zeitgleich zum ersten Mal erwähnt wird (in Helies Traumdeutung), wird zwar unablässig wiederholt und auch immer wieder zur Kenntnis genommen, führt aber zu keiner Form der Interaktion zwischen den beiden Seiten. Die erste Konfrontation Lancelots mit der Verurteilung seiner Liebe in der Klosterepisode des >Karrenritters< ist dafür ein gutes Beispiel: Die beiden Bewertungen bestehen nebeneinander, denn Lancelot hält genauso unerschütterlich an seiner Liebe fest wie die Einsiedler an ihrem Urteil, ohne daß das Grundprinzip der Liebe davon berührt würde. Lancelot schwört zwar in der >Queste< seiner Liebe ab, aber nur um sie danach mit noch weniger Zurückhaltung als zuvor wieder aufzunehmen, und das Ende der Liebe erklärt sich dann nicht aus einer Bekehrung, sondern aus ihrem Verhältnis zur Artusherrschaft. Auch ist deutlich, daß die geistliche Kritik mit der Verurteilung der Unkeuschheit ganz an der eigentlichen Problematik der Liebe vorbeigeht. Wenn die Geistlichkeit beklagt, daß Lancelots Leistung auf der Liebe gründe, so wird nicht die Art der Liebe, sondern Liebe überhaupt kritisiert. Die Gral-Ideologie ist gegenüber der eigentlichen Problematik der Liebe als sekundäre Bewertung zu sehen, auch wenn sie sich aufgrund ihrer Verdeutlichung im expliziten Kommentar in den Vordergrund zu schieben scheint.

E x k u r s zur Z y k l u s p r o b l e m a t i k Die Beobachtung, daß sich im >Lancelot propre< und in der >Mort Artu< Motivreihen offensichtlich aufeinander beziehen, führt natürlich auch zu der vieldiskutierten Frage nach Entstehung und innerem Zusammenhalt des Prosa-Lancelot-Zyklus. Dazu im folgenden einige Überlegungen. Evident ist zunächst, daß die beiden Passagen in den jeweiligen Romanteilen aufeinander bezogen sind; es stellt sich die Frage, wo der Ansatz zu dieser Parallelisierung zu suchen ist. Daß die >Mort Artu< sich - als letzter Teil des Zyklus - an die Falsche-Ginover-Episode angelehnt haben könnte, 84 ist aus folgenden Gründen nicht plausibel: Die 84

Frappier 1961 meint, der Verfasser der >Mort Artu< habe den >Lancelot propre< als Quelle benutzt, und führt als Beispiel die Rückkehr Ginovers zu Artus nach päpstlicher Intervention an (S. 2ioff.); daß auch der Kontext einerseits aus dem >Tristan< stammt, andererseits Parallelen im >Lancelot propre< hat, scheint er nicht zu bemerken.

M3

Tristan-Anspielungen sind ja in der >Mort Artu< ungleich deutlicher zu greifen als in der Falsche-Ginover-Episode und werden deshalb unmittelbar auf eine Tristan-Vorlage zurückgehen, während die entsprechenden Motive in der Falsche-Ginover-Episode unschärfer sind und erst durch den Vergleich mit der >Mort Artu< Kontur gewinnen. Ich halte es zwar für denkbar, aber sehr unwahrscheinlich, daß der Verfasser der >Mort Artu< im >Lancelot propre< Elemente und Motive entdeckt haben könnte, die er anschließend zu einer Tristan-Motiv-Kette ausgebaut hätte. Ein kleines Beispiel kann das verdeutlichen: Der altfranzösische Text hat an beiden Stellen die Drohung Gauvains, im Falle der Bestrafung bzw. Hinrichtung der Königin Artus zu verlassen; in der >Mort Artu< (K III 5 5 1 , 1 1 - 1 9 ; F 1 2 1 , § 93,17-30) entspricht diese Szene deutlich der Situation des Truchsessen Dinas bei Berol, da Gauvain sich direkt an den König wendet, während die Situation im >Lancelot propre< (M I 125, § 5; nicht dt.) abgewandelt ist; Gauvain befindet sich hier im Kreis der Barone, die sich seiner Erklärung anschließen. E s ist schwer vorstellbar, daß das Motiv zuerst in diesem letzteren Zusammenhang gestanden und dann in der >Mort Artu< größere Tristan-Nähe gewonnen haben sollte. Die Annahme, daß die Falsche-Ginover-Episode mindestens gleichzeitig mit der >Mort Artu< entworfen sein könnte, wird durch folgenden Uberlieferungsbefund begünstigt: Genau diese Episode ist auch in einer kurzen Fassung überliefert, deren Inhalt sich auf Anklage Ginovers und Verführung Artus', auf Gerichtskampf und Bestrafung der Betrüger beschränkt. Es handelt sich hier um die Abwandlung eines traditionellen Erzählschemas von der vertauschten Braut, demzufolge die Anklägerin tatsächlich im Recht, die Königin aber im Unrecht ist.8' Die beiden langen Fassungen a und ß86 haben demgegenüber eine erweiterte Handlung mit anderer Problematik: Gottes Eingreifen, Ehebruchsthematik, das Exil, die geistliche Ausdeutung von Galahots Träumen mit ersten Hinweisen auf Lancelots kommendes Versagen sowie auf Galaad, den neuen Helden. Uber das Verhältnis der beiden Fassungen zueinander herrscht Uneinigkeit: Alexandre Micha hält die kürzere Fassung für eine jüngere Überarbeitung, 87 Elspeth Kennedy plädiert dagegen für den umgekehrten Fall und sieht darin einen Beweis für die 8

> H a r f - L a n c n e r 1984, S. 64fr. Siehe o b e n S. 106 f. mit A n m . 12; der mhd. Text hat offenbar eine Mischredaktion a u f der G r u n d l a g e dieser beiden Versionen. 87 Micha 1 9 5 ; ; 1964, S. 504 ff. (bezogen auf den Abschnitt >Voyage en SoreloisMort Artu< würden sie dann illustrieren, daß die Liebe nun ihr ganzes zerstörerisches Potential entfaltet. 92 Nach meinen bisherigen Untersuchungen spricht aber gegen diese Möglichkeit, daß in der Falsche-Ginover-Episode die moralisch-religiöse Frage nicht die Rolle spielt, die die Forschung ihr im Gefolge der >QuesteQuesteMort Artu