Herausforderung Reformation: Reformationsgeschichte zwischen theologischer Deutung und historischer Forschung [1 ed.] 9783788731861, 9783788730970, 9783788730963

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Herausforderung Reformation: Reformationsgeschichte zwischen theologischer Deutung und historischer Forschung [1 ed.]
 9783788731861, 9783788730970, 9783788730963

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Evangelische Impulse Band 7 Herausgegeben im Auftrag der Union Evangelischer Kirchen in der EKD (UEK)

Herausforderung Reformation

Reformationsgeschichte zwischen theologischer Deutung und historischer Forschung

Herausgegeben von Michael Beyer, Martin Hauger und Volker Leppin

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National-bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-7887-3097-0 Weitere Angaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de  2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstr. 13, D-37073 Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Umschlaggestaltung: Andreas Sonnhüter, Niederkrüchten Satz: Dorothee Schönau, Wülfrath

Inhalt

Zum Geleit ....................................................................... 7 Vorwort der Herausgeber ................................................ 11 Maßstäbe zur Darstellung der Reformationsgeschichte – der Blick der Historiker Luise Schorn-Schütte ........................................................ 19 Leitbild reformatorische Theologie? Kulturtheoretische und historiographische Anmerkungen zur theologischen Rezeption der Reformation Dietrich Korsch ................................................................ 36 Die Rechtfertigungslehre Motor der Reformation? Wolf-Friedrich Schäufele .................................................. 58 Evangelische Pluralität und sichtbare Einheit Theodor Dieter................................................................. 85 Freiheit als reformatorischer Kernbegriff? Steffen Kjeldgaard-Pedersen ............................................ 107

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Inhalt

Zugänge zur Reformation Katholische Perspektiven in ökumenischer Verständigung Wolfgang Thönissen ........................................................ 131 Neue Dokumente zum Verständnis der Reformation – eine kritische Sichtung Svend Andersen .............................................................. 168 Justification and the Church in Scandinavian Theology Svein Aage Christoffersen ................................................ 183 Autoren und Herausgeber ............................................. 206 Der Theologische Arbeitskreis für reformationsgeschichtliche Forschung ........................... 207

Zum Geleit

Der Historiker Heinrich August Winkler meint, dass historische Darstellungen in der Regel einem »Fluchtpunkt« folgen, auf den hin sie geschrieben werden. Solche Fluchtpunkte ändern sich im Laufe der Zeit und je nach Betrachtungsperspektive. Die Reformationsdekade hat auf dem Weg zum Jubiläumsjahr 2017 mit ihren Themenjahren solche Fluchtpunkte aufgerufen: Politik, Toleranz, Musik, Bekenntnis, Bildung, Freiheit ... Es geht um Ursprünge, Eigenart, Wirkungen und gegenwärtige Bedeutung der Reformation. Jede dieser Perspektiven fokussiert auf je eigene Weise den Blick auf das Reformationsgeschehen des 16. Jahrhunderts. Jede vermag Anderes und auch Besonderes zu entdecken, wenn es z.B. um die Kulturwirkungen der Reformation geht, ihren Beitrag zur neuzeitlichen Freiheitsgeschichte, ihre internationalen Verzweigungen oder aber um kirchliche Reformkräfte und -dynamiken. Während sich Betrachtungsperspektiven der Themenjahre wechselseitig ergänzen, existieren allerdings auch konkurrierende, einander tendenziell ausschließende Deutungen. Betonte man früher z.B. auf evangelischer Seite die Überwindung eines finsteren mittelalterlichen Katholizismus durch die reformatorische Wiederentdeckung des Evangeliums, so machte man auf katholischer Seite die Reformatoren für die Spaltung der abendländischen Christenheit verantwortlich. Gegensätzliche Deutungen dienten über

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Zum Geleit

Jahrhunderte hinweg als Instrument einer auf Ab- und Ausgrenzung zielenden konfessionellen Identität. Ich bin dankbar, dass es auf dem Weg zum Reformationsjubiläum unter dem Leitgedanken des Teilens und Heilens der Erinnerungen (»healing of memories«) zu einem Gedenken kommt, das anstelle gegenseitiger Verurteilungen Versöhnung ermöglicht – gerade auch im Blick auf die Verletzungen, die die beiden großen Kirchen einander im Lauf von fast fünf Jahrhunderten zugefügt haben. Die ökumenischen Dialoge der vergangenen 50 Jahre haben einen wichtigen wechselseitigen Lernprozess angestoßen. Er beabsichtigt nicht die Auflösung konfessioneller Profile, wohl aber die Überwindung ihres trennenden Charakters. Ökumene ist ein Bereicherungsprozess. Wir haben uns als Christen nichts wegzunehmen, sondern einander etwas zu geben. Das gilt auch im Blick auf die Reformation. Sie stellt für alle Christen eine bleibende geistliche und theologische Herausforderung dar, in der an die Stelle gegenseitiger Verurteilungen in wachsendem Maß komplementäre Sichtweisen eines differenzierten Konsenses treten. Dabei taucht unweigerlich die Frage auf, was in der Vielfalt unterschiedlicher Deutungen und Perspektiven das Zentrale ist. Worin besteht das einheitsstiftende Moment der Reformation? Ich bin der Überzeugung, dass sie in ihrem Kern ein geistlicher und theologischer Aufbruch war. Im Zentrum standen die exklusive Berufung auf die Heilige Schrift und das an das Wort Gottes gebundene Gewissen, der befreiende Glaube an die Rechtfertigung des Sünders allein aus Gnade, das Verständnis christlicher Freiheit in dienender Hinwendung zum Nächsten sowie der Kirche als Gemeinschaft der Glaubenden, in der alle durch Wort und Sakrament unmittelbar sind zu Gott. Im Vorfeld des Reformationsjubiläums 2017 ist es aus kirchlicher Sicht daher unerlässlich, historische Fragestellungen multiperspektivisch und interdisziplinär auf das theologische Gespräch der Gegenwart zu beziehen. Die

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Einbindung reformationsgeschichtlicher Fragen in das theologische Gespräch ist neben der internationalen Ausrichtung eine Besonderheit des Theologischen Arbeitskreises für Reformationsgeschichtliche Forschung. Mit beidem leistet er einen wichtigen Beitrag für eine zeugnisfähige und ökumenische Selbstverständigung der Kirche im 21. Jahrhundert. Der vorliegende Band belegt dies auf eindrückliche Weise: sowohl in der Frage nach dem theologischen »Motor« der Reformation und in der ökumenischen Ausrichtung der Perspektive als auch in der internationalen Horizonterweiterung durch die Beiträge aus Skandinavien. Ich wünsche dieser Publikation daher eine intensive Aufnahme und breite Rezeption. Kirchenpräsident Christian Schad Vorsitzender der Vollkonferenz und des Präsidiums der UEK

Vorwort der Herausgeber

Nie hat ein Reformationsjubiläum mit einer solchen Pluralität von Weltanschauungen zu rechnen gehabt wie das anstehende des Jahres 2017. Darin den Verlust protestantischer Deutungshoheit zu beklagen und nach neuen einlinigen Mustern zu verlangen, ginge aber nicht nur an der gesellschaftlichen Realität vorbei, sondern auch schlicht an dem wissenschaftlich Möglichen: Geschichte erweist sich jenseits der Sicherung von Daten und Ereignissen immer mehr als ein Gegenstand vielfältiger Interpretation. Und zum ureigensten Erbe des evangelischen Glaubens gehört es auch, sich auf die Strittigkeit der Deutungen einzulassen, sie zuzulassen und ins Gespräch miteinander zu bringen. Dieser Aufgabe, die zugleich eine kirchliche und eine wissenschaftliche ist, hat sich in den vergangenen Jahren auf vielen Tagungen der Theologische Arbeitskreis für Reformationsgeschichtlichen Forschung gewidmet, zuletzt und besonders intensiv auf seinem Treffen in Bad Liebenzell im September 2015. Ausgangspunkt dieser Tagung war, dass aufgrund des Orientierungspapiers »Rechtfertigung und Freiheit« der EKD bis in die Öffentlichkeit hinein über die Legitimität eines theologischen Verstehens des Erbes der Reformation gestritten wurde.1 Wo die einen sich um eine sachangemessen Würdigung der Rechtfertigungslehre be1 S. den EKD-Grundlagentext »Rechtfertigung und Freiheit«, Gütersloh 2014 (4., aktual. Aufl. 2015), einerseits und die Kritik hieran von Thomas Kaufmann und Heinz Schilling in »Die Welt« vom 24.5.2014 andererseits.

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Vorwort der Herausgeber

mühten, fürchteten die anderen eine Wiederkehr heilsgeschichtlicher Deutungsmuster. Die historische Deutung des kirchlichen und gesamtgesellschaftlichen Vorgangs der Reformation wurde scharf dem Versuch entgegengehalten, die bleibende Bedeutung reformatorischer Theologie zu beanspruchen. Neben diese Debatte um die Zuordnung von Geschichte und Theologie trat noch eine zweite Auseinandersetzung, die längerfristig größere Brisanz besitzt: Kein Geringerer als Walter Kardinal Kasper beklagte, dass »Rechtfertigung und Freiheit« die nötige ökumenische Sensibilität fehlte,2 und Wolfgang Thönissen verstärkte diese Kritik.3 Der TARF hat diese Fragestellungen aufgegriffen und den Rahmen eines langjährig eingespielten Gesprächskreises dazu genutzt, sie in ruhiger Atmosphäre zu debattieren. Die Beiträge, die dies ermöglicht haben, legen wir hiermit der Öffentlichkeit vor. Die Problematik der Zuordnung von Theologie und Geschichte griff in ihrem Beitrag Luise Schorn-Schütte aus Sicht der Historikerin auf. Sie zeichnet den Wandel der Blickrichtung im historischen Urteil über die Reformation seit Leopold von Ranke nach, wobei sie zwei wiederkehrende Deutungsmuster identifiziert. Je nachdem, ob man von einem reformatorischen Umbruch (Leopold von Ranke, Bernd Moeller u.a.) oder eher von einem langfristigen kulturellen Wandel (Ernst Troeltsch, Thomas Brady) ausgeht, ändert sich im Blick auf die Wechselwirkungen zwischen Religion und Politik auch die Beurteilung der Neuzeitfähigkeit der reformatorischen Bewegung. Dabei zeige sich, wie kontextabhängige Werthaltungen einfließen, die es unmöglich machen eine direkte Entwicklungslinie vom 2

www.katholisch.de/de/katholisch/themen/kirche_2/140624_kardinal_ kasper_kritisiert_ekd_papier.php; Zugriff am 20.5.2016. 3 www.katholisch.de/de/katholisch/themen/kirche_2/140710_thoenis sen_ekd.php; Zugriff am 20.5.2016.

Vorwort der Herausgeber

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16. ins 21. Jahrhundert zu ziehen – es sei denn, es gibt so etwas wie einen reformatorisch-theologischen Wesenskern, der als »roter Faden« zwischen den Zeiten fungieren könnte. Eine grundlegend systematisch-theologische Perspektive entwickelt demgegenüber Dietrich Korsch. Er geht der Frage nach dem Leitbild reformatorischer Theologie nach und plädiert in kulturtheoretischer Perspektive für eine Form des zukunftseröffnenden Erinnerns. Es gehe um das innovative Potential der Reformation, das Korsch in der kommunikativen Analyse zweier Bekenntnissituationen am Beispiel der Confessio Augustana und der der Schmalkaldischen Artikel exemplarisch zu beschreiben sucht. Ein solcher erinnernde Rückgriff wird von einem lehrmäßigen Traditionalismus ebenso abgegrenzt wie von einem Gedenken, das sich auf die identitätsstiftende Rekonstruktion der Gegenwart beschränkt. In der Erinnerung an die religiöse Bewegungskraft des Evangeliums werde ein handlungsübergreifender Überschuss erkennbar, der immer wieder eine Initiative in der Geschichte ermögliche. Auch Wolf-Friedrich Schäufele verfolgt, nun aus Sicht des Kirchenhistorikers, die Frage nach einer zeitlos-gültigen theologischen Einsicht, die – wenngleich nicht monokausal doch immerhin im Sinne einer Hauptursache – ins Zentrum der Reformationsdeutung zu stellen wäre. Wichtigster Kandidat hierfür ist seit der Luther-Renaissance die »Rechtfertigungslehre«. Gleichwohl misslinge sowohl in historischgenetischer wie auch in theologisch-materialer Perspektive die konzeptionelle Begründung der Einheit der Reformation von der Rechtfertigungslehre her. Auf der Basis einer induktiven Betrachtung lassen sich für unterschiedliche Gruppierungen vielmehr unterschiedliche theologische Motive identifizieren, als deren gemeinsame Basis Schäufele die Gottunmittelbarkeit des religiösen Subjekts gewissermaßen als »Motor der Reformation« identifiziert.

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Vorwort der Herausgeber

Mit dem Stichwort »Freiheit« ist ein weiterer Kernbegriff gegeben, dem sich der dänische Kirchenhistoriker Steffen Kjeldgaard-Pedersen im Blick auf die Schnittstelle zwischen geistiger und politischer Freiheit zuwendet. Wirkungsgeschichtlich betrachtet geht es um die schwierige Frage nach der Bedeutung der Reformation für die europäische Freiheitsgeschichte in der Neuzeit, wie sie u.a. in dem EKD-Grundlagentext »Rechtfertigung und Freiheit« behauptet wird. Pedersen weist darauf hin, wie das Thema Freiheit bereits in der frühen Reformationszeit in religiösen, gesellschaftlichen und politischen Veränderungsprozessen als zentrales Thema auftaucht, dabei aber ein schillernder und strittiger Begriff bleibe. Er entfaltet Luthers theologisches Freiheitsverständnis anhand dessen berühmten Traktats »Von der Freiheit eines Christenmenschen« und macht deutlich, dass Luthers Auffassung von Anfang an auch gegen dessen Intention politisch interpretiert werden konnte und auch wurde. Im ökumenischen Gespräch stellt sich die Frage einer gemeinsamen Perspektive auf die Reformation, die konfessionell geprägten Deutungsmuster überwindet, die wesentlich an den Begriffen der Reform/Reformation und Spaltung orientiert sind. Theodor Dieter analysiert das wechselseitige Bedingungsverhältnis von Pluralität und Einheit im Blick auf das reformatorische Verständnis der Kirche. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist die Sichtbarkeit der Kirche, wie sie bei Luther und Melanchthon durch Verkündigung und Sakramente bestimmt ist (im Unterschied zu ihrer »Verborgenheit« als Gemeinschaft der Glaubenden). Die Suche nach »sichtbarer Einheit« ziele entsprechend auf die Frage nach wahrnehmbaren und erkennbaren Elementen, die sowohl innerevangelisch wie transkonfessionell eine Vielfalt als Einheit verstehen lassen. So nehme das lutherisch/römisch-katholische Dokument »Vom Konflikt zur Gemeinschaft« das Reformationsjubiläum zum Anlass, gemeinsam »die sichtbare Einheit zu su-

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chen«. Bezogen auf »evangelische Pluralität« betont Dieter am Beispiel von Schriftprinzip und Verkündigung die Notwendigkeit von Prozessen gemeinschaftlicher Klärung, ohne die sich der Bezug des Vielfältigen auf das Eine nicht darstellen lasse. 2017 werde daher zur Herausforderung an die evangelische Kirche, deutlich zu machen, was im Jahr 2017 evangelisch genannt zu werden verdient. Auf katholischer Seite fragt Wolfgang Thönissen nach neueren katholischen Zugängen zur Reformation in ökumenischer Verständigung. Er plädiert für einen multiperspektivischen Zugang und eine synthetische Betrachtungsweise, die Voraussetzungen, Bedingungen, Verlaufslinien und Wirkungsgeschichte in ihrem komplexen Zusammenspiel in den Blick nimmt. Dies verändere die Bewertung des gesamten Ereigniskomplexes Reformation und eröffne neue Möglichkeiten ökumenischer Verständigung. Luthers theologisches Reformprogramm lasse sich im Geflecht der Diskussionen des 16. Jahrhunderts um Rechtfertigung, Sakrament, Amt und Schriftverständnis sowie in der impliziten Rezeption durch Trient innerkatholisch verorten. Indem die unterschiedlichen theologischen Denkformen Luthers und seiner katholischen Gegner komplementär aufeinander bezogen werden, ohne sie gegenseitig zu reduzieren, lasse sich ein Konsens in Grundwahrheiten formulieren, der zugleich differenzierende Urteile trägt. Der TARF ist seit seiner Gründung auch ein Forum für den internationalen Austausch der Reformationsforschung, insbesondere mit der skandinavischen Theologie. Deren spezifische Sicht kommt neben der Studie von KjeldgaardPedersen in zwei weiteren Beiträgen dieses Bandes zum Tragen, die dazu beitragen können, die Debatte in Deutschland um weiterreichende Perspektiven zu erweitern. Der norwegische Theologe Svein Aage Christoffersen untersucht in seinem Beitrag unterschiedliche Verhältnisbestimmungen zwischen reformatorischer Rechtfertigungslehre und Schöpfungstheologie und unterscheidet zwei in

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Vorwort der Herausgeber

Skandinavien wirkmächtig gewordene Grundmodelle. Auf der einen Seite wird exemplarisch Anders Nygren mit seiner scharfen Gegenüberstellung von weltlichem Eros und göttlicher Agape vorgestellt. Eine solche »theology of separation« führe zu einem Verständnis von Kirche als Gegenkultur mit eigenem Wertsystem im Kontrast zur Gesellschaft. Im Unterschied dazu betonten Gustav Wingren und Knud Ejler Løgstrup die Korrespondenz von Rechtfertigungsgnade und Schöpfungshandeln Gottes, ein Aspekt der in der skandinavischen Ekklesiologie insbesondere im Blick auf das Selbstverständnis skandinavischer Kirchen als »folk church« rezipiert werden konnte und von der aus sich das Verständnis der Kirche in der Gesellschaft im Sinne von Offenheit und gemeinsamer Verantwortung anders bestimmt als in der dialektischen Theologie. Einen ganz eigenständigen Blick wirft der Däne und Ethiker Svend Andersen auf drei aktuelle Gremiendokumente zum Reformationsjubiläum – den Grundlagentext »Rechtfertigung und Freiheit« der EKD; den Bericht der lutherisch/römisch-katholischen Kommission für die Einheit »Vom Konflikt zur Gemeinschaft« und die ökumenischen Perspektiven »Reformation 1517–2017« des ökumenischen Arbeitskreises evangelischer und katholischer Theologen. Ergänzend werden auch einige ältere ökumenische Dokumente herangezogen. In Anlehnung an die von Jürgen Habermas vorgenommene Unterscheidung zwischen Faktizität und Geltung fragt Andersen nach der (ethischen) »Gegenwartsgeltung« des Christentums. Ausgangspunkt ist die These, dass im Unterschied zur zeitgenössischen Ethik Luther zwischen natürlichem Gesetz (bzw. einer allgemeinen Ethik) und christlicher Nächstenliebe unterschieden habe. Anderson konzentriert seine Analyse auf die Themenbereiche Rechtfertigung und gute Werke, Normativität der Schrift sowie Kirche und Amt und fragt mit der Stellungnahme der American Lutheran Church zur »Gemeinsamen

Vorwort der Herausgeber

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Erklärung«: »What happens when justification is made the criterion of the church’s authority in ethics?« Die Anordnung dieser unterschiedlichen und doch durchweg aufeinander bezogenen Beiträge im vorliegenden Band folgt der Reihenfolge, in der sie in Bad Liebenzell vorgetragen wurden. Indem wir sie nun der Öffentlichkeit vorlegen, hoffen wir, der wichtigen Diskussion um Verständnis und Selbstverständnis des Evangelischen im Vorfeld von 2017 eine wichtige, sachorientierte Grundlage geben zu können – und laden zu weiterer Debatte ein! Michael Beyer Martin Hauger Volker Leppin

Maßstäbe zur Darstellung der Reformationsgeschichte – der Blick der Historiker Luise Schorn-Schütte

1. Vorbemerkung Dass dieses Thema methodisch und Disziplinen bezogen vielschichtig ist, liegt auf der Hand. Seitdem es eine wissenschaftliche Geschichtsschreibung gibt, und das gilt sicher seit J. Burckhardt (1818–1897) und L. v. Ranke (1795– 1886), wird darüber unter Historikern kontrovers diskutiert. Denn mit der Festlegung von Kriterien für die Darstellung von Vergangenheit sind die Fragen nach der Legitimität von Wertungen und Bewertungen und damit auch die Frage nach der Legitimität der Annahme eines zielgerichteten Geschichtsverlaufs gestellt.1 Für die Generation der heutigen Historiker gilt fast einhellig: es gibt keine letztgültige Darstellung der Vergangenheit, zugespitzt formuliert: jede Generation schreibt ihre Geschichte neu. Dieses Ergebnis der Debatten um Erkenntniswert und -weg der Geschichtsschreibung aus den letzten rund vierzig Jahren gehört an den Anfang jeder Überlegung zu obigem Thema, denn damit gilt: Geschichtsschreibung 1

Für die Debatte um die »Legitimität der Neuzeit« sind noch immer bedenkenswert die Überlegungen von K. Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie, Stuttgart 2004 (Sämtliche Schriften Bd. 2 erstmals veröffentlicht 1949). Löwith betont dort die Einbindung der Geschichtsschreibung in die heilsgeschichtliche Teleologie des Christentums, ein Phänomen, das für die Auseinandersetzung mit den modernisierungstheoretischen Ansätzen der letzten Jahrzehnte auch in der Auseinandersetzung mit Blumenberg bedenkenswert ist.

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ist Konstruktion aus der Perspektive der zurückblickenden Zeitgenossen.2 Das heißt dann aber auch: unversöhnliche Kämpfe um die richtige Deutung der Vergangenheit kann es für Historiker eigentlich nicht mehr geben; vielmehr muss der Wandel der Blickrichtungen deutlich herausgestellt werden, um die Urteile vergangener Generationen nachvollziehen zu können. Damit wird es möglich, die einander überlagernden Schichten der generationenbezogenen Wertungen abzutragen – Johann G. v. Droysen (1808–1884) hat dies als »deutendes Verstehen historischer Entwicklungen« charakterisiert.3 Dieses Verfahren liegt auch den folgenden Ausführungen zur Legitimität der Maßstäbe bei der Darstellung der Reformation aus der Sicht der Historiker zugrunde. Die wissenschaftsgeschichtliche Analyse beginnt bei Rankes nationalem Blick, der auch in den nachfolgenden Generationen bis ins 20. Jahrhundert als Blick auf die »Epoche Reformation« bestehen blieb; dies trifft ebenso für die im Kulturkampf des Kaiserreichs einsetzende katholische Reformationsgeschichtsforschung zu.4 Es folgt der Blick auf 2 Diese zugespitzt knappe Aussage beruht auf intensiven Debatten der letzten Jahrzehnte, zu denen u.a. beigetragen haben L. Hölscher, Neue Annalistik. Umrisse einer Theorie der Geschichte, Göttingen 2003; K.G. Faber, Theorie der Geschichtswissenschaft, 5. erw. Auflage, München 1982; F. Jäger / J. Rüsen, Geschichte des Historismus, München 1992. In knapper Zusammenfassung L. Schorn-Schütte, Wozu noch Geschichtswissenschaft? Überlegungen zu einem Thema des ausgehenden 20. Jahrhunderts (in: dies., Perspectum. Ausgewählte Aufsätze zur Frühen Neuzeit und Historiographiegeschichte hg. v. A. Kürbis u.a., München 2014 [Erstdruck 2004], 369–382). 3 J.G. v. Droysen, Historik, hg. v. P. Leyh, Stuttgart / Bad Cannstatt 1977, 325 – Zu Droysen die wichtige Biographie von W. Nippel, Johann Gustav Droysen. Ein Leben zwischen Wissenschaft und Politik, München 2008, zur Historik: 219ff. 4 Eine informative Untersuchung zur katholischen Debatte im 19. Jahrhundert ist S. Leonhardt, Zwei schlechthin unausweichliche Auffas-

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die Reformationsdeutung des beginnenden 20. Jahrhunderts durch E. Troeltsch (1865–1923), der die Diskussion um die Neuzeitfähigkeit der Reformation auslöste. Dem schließt sich an der Blick auf die Sichtweise der marxistischen und nichtmarxistischen Forschung seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts, die sich unter anderem auch in der interessanten Gegenüberstellung von reichsstädtischem corpus christianum-Gedanken (B. Moeller) und der These des nordamerikanischen Historikers T. Brady vom städtischen Körper als »Konfliktgemeinschaft« artikulierte. Das öffnet schließlich den Blick auf die noch immer virulente Debatte um eine »Kultur der Reformation«, der es um die Existenz von (auch politischen) Werthaltungen in der Reformation geht. Und damit verbindet sich schließlich die Diskussion darüber, ob die Reformation ein Umbruch war oder aber eine Bewegung, die in einer Kontinuität stand, was nicht zuletzt die Modernisierungsthese auf den Prüfstand stellt (2.).5 Das Fazit wird in einem abschließenden Resümee gezogen (3.). 2. Phasen der Deutung der Geschichte der Reformation in der europäischen Geschichtsschreibung 2.1 »Reformation« als geschichtswissenschaftlicher Epochenbegriff seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts Es war L. v. Ranke, der Berliner Historiker, der als erster auf die Bedeutung der Wechselwirkung zwischen religiöser und politischer Entwicklung im 16. Jahrhundert verwiesen sungen. I. Döllingers Auseinandersetzung mit der Reformation, Göttingen 22008. 5 Die hier angedeuteten Überlegungen beruhen auf L. Schorn-Schütte, Die Reformation. Vorgeschichte, Verlauf, Wirkung, München 62016, bes. 91–111.

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hat und diese als Charakteristikum einer eigenständigen Epoche der nationalen deutschen Geschichte, der Reformationszeit (1517–1555), einsetzte.6 Die Spannung zwischen Reich und Territorien, in die die Reformation eingebunden war, wurde für Ranke zu einer zentralen Verständnisachse, die für ihn, den liberalen Zeitgenossen, erklärende Kraft gerade auch für das Verständnis der eigenen Zeit besaß. Das Wesen der von Luther ausgelösten reformatorischen Bewegung lag darin, dass sie deren nationalen Kern zum Bewusstsein brachte, der die Deutschen jenseits von äußerer Einflussnahme (Kaiser/Papst) und territorialer Kleinstaaterei zusammen zu führen vermochte. Rankes intensiver Blick auf die großen Mächte und Männer blieb stets Anlass zur Kritik; bereits eine Generation später aber erweiterte der Bonner Historiker Friedrich v. Bezold (1848–1828) Rankes Epochenthese um soziale, wirtschaftliche und geistige Aspekte. Seine 1890 erschienene Darstellung7 war die des Nationalliberalen, der im Sinne des Kulturprotestantismus den besonderen Wert der protestantisch geeinten und geprägten Gesellschaft des Kaiserreichs hervorhob, zugleich aber auch die Unverzichtbarkeit sozialer und wirtschaftlicher Integration, deren Fehlen für das Jahrhundert der Reformation nachteilig gewirkt habe.8 Vertreter der Rankerenaissance (Erich Marcks 1861–1938 und Max Lenz 1850–1932) betonten zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Rolle der Reformation für die Herausbildung des nunmehr nationalen Kulturstaats, der gegen die zeitgenössische Strömung des Ultramontanismus die nationale als zugleich soziale Einheit zu festigen in der Lage sei.9 6

L. v. Ranke, Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation, Berlin 1839/1847, Nachdruck Köln 1957. 7 F. v. Bezold, Geschichte der deutschen Reformation, Berlin 1890. 8 Zu v. F. v. Bezold knapp NDB 22, Berlin 1955, 211. 9 Beide Historiker setzten sich ausdrücklich von der nationalen Vereinnahmung M. Luthers und der Reformation u.a. durch H. v. Treitschke (1834–1896) ab und betonten – deshalb der Ausdruck »Rankerenais-

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Seitdem galt die Reformation als Epochenzäsur, als Beginn der Neuzeit/Moderne, was sich nach 1945 u.a. in den Arbeiten von E. Hassinger (1907–1992) und E.W. Zeeden (1916–2011) selbstverständlich fortsetzte. Die Debatte um die Sinnhaftigkeit der Begriffe »Gegenreformation«, »katholische Reform« oder »katholische Erneuerung« hat hier ihren historiographischen Ort. 2.2 E. Troeltsch und die Frage nach der Neuzeitfähigkeit der Reformation Gegen diese zu Beginn des 20. Jahrhunderts unter Profanwie Kirchenhistorikern gleichermaßen dominante Bewertung der Reformation als Aufbruch in die Moderne richtete sich – bekanntermaßen – der Berliner Religionshistoriker und -soziologe E. Troeltsch (1865–1923).10 Seine These lautete: aus den sozialen und frömmigkeitsgeschichtlichen, vorreformatorischen Bewegungen der Täufer, Spiritualisten u.a.m. entstand die Reformation, sie war also eingebunden in die spätmittelalterliche Autoritätskultur, die »auf dem Glauben an eine absolute und unmittelbare göttliche Offenbarung […] in der Erlösungs- und Erziehungsanstalt der sance« – die Notwendigkeit der Unparteilichkeit historischer Forschung. Beide betrachteten nicht mehr »die religiöse Verankerung der leitenden Tendenzen und Ideen eines Zeitalters« (R. vom Bruch, in: NDB 14, Berlin 1984, 232) als Deutungskategorie historischen Forschens, sondern die Entwicklung des nationalen Staates aus der Spannung zwischen Macht- und Kulturstaat. M. Lenz war Verfasser einer sehr populären Lutherbiographie, 1. Aufl. Berlin 1882. – Zur Rankerenaissance aus der Perspektive der Geschichtswissenschaft H.-H. Krill, Die Rankerenaissance: M. Lenz und E. Marcks, Berlin 1963. 10 Zur wissenschafts- und theologiegeschichtlichen Bedeutung und Rolle von E. Troeltsch siehe F.W. Graf, Fachmenschenfreundschaft. Studien zu Troeltsch und Weber, Berlin 2014. Eine Biographie legte vor H.-G. Drescher, Ernst Troeltsch. Leben und Werk, Göttingen 1991. – Die Gesamtausgabe der Werke F.W. Graf (Hg.), E. Troeltsch. Kritische Gesamtausgabe Bd.1–25, Berlin / New York 2004–2018.

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Kirche beruht.«11 Dieser autoritären Einheitskultur des Mittelalters seien Luthertum und tridentinischer Katholizismus verbunden geblieben, nur der Calvinismus habe die Entkoppelung von Politik und Religion bzw. Staat und Kirche konsequent erreicht, deshalb Glaubens- und Gewissensfreiheit auch für das Individuum durchsetzen können. Luthertum und Katholizismus widersetzen sich, so Troeltsch, der Entwicklung zur modernen Welt, die für ihn identisch war mit dem Weg, den die westeuropäisch-nordamerikanische Kultur nahm; zu diesem gehörte nur der Calvinismus. Die deutsche Moderne begann deshalb erst mit dem Einsetzen der aufklärerischen Forderungen nach Gewissensfreiheit und der damit verbundenen endgültigen Trennung von Religion und Politik. Troeltsch ging es mit dieser Deutung in erster Linie um den Nachweis der frömmigkeitsgeschichtlichen Traditionen des Protestantismus, die er, so sein zeitgebundenes Interesse, zu erneuern hoffte; keinesfalls lagen sie im Altprotestantismus.12 Dass diese Deutung unter den Zeitgenossen auf vehemente Kritik stieß, leuchtet in gewisser Weise ein, wurde doch damit die Interpretation der Reformation als Beginn der Moderne durch den Protestantismus in Frage gestellt oder wie Troeltsch formulierte, die Neuzeitfähigkeit des Altprotestantismus bestritten. Es ist bekannt, dass sowohl konservative Protestanten wie Reinhold Seeberg (1859–1935) als 11

E. Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen (= Gesammelte Schriften Bd. 1), Tübingen 1912, 9. 12 Zur Bewertung der Deutungen durch E. Troeltsch in der gegenwärtigen Geschichtsschreibung zur Frühen Neuzeit siehe L. Schorn-Schütte, E. Troeltschs »Soziallehren« und die gegenwärtige Frühneuzeitforschung. Zur Diskussion um die Bedeutung von Luthertum und Calvinismus für die Entstehung der modernen Welt (in: dies., Perspectum [s. Anm. 29], 213–231), Erstdruck 1993. – Zum Kontext des frühen 20. Jahrhunderts siehe T. Kaufmann, Luther zwischen den Wissenskulturen. E. Troeltschs Lutherdeutung in der englischsprachigen Welt und in Deutschland (in: P. Schmidt / H. Medick [Hg.], Luther zwischen den Kulturen, Göttingen 2004, 455–481).

Maßstäbe zur Darstellung der Reformationsgeschichte

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auch liberale Theologen wie Karl Holl (1866–1923) die Thesen von Troeltsch kritisierten.13 Es etablierte sich jene »Lutherrenaissance«, die sich vor allem mit der Kritik von Troeltsch an der vermeintlich doppelten Moral bei Luther auseinandersetzte.14 Insbesondere K. Holls Betonung der Einheit der reformatorischen Ethik, die die Welt zu durchdringen versuche, fand weite Resonanz. Sie sei ein Neuansatz gewesen, der das Mittelalter beendete; damit müsse anerkannt werden, dass Luther nur als Mensch seiner Zeit zu würdigen sei – ein methodisches Postulat, das für die kirchen- und profanhistorische Reformationsforschung noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts keineswegs selbstverständliche Gültigkeit besaß. Mit dieser Lutherrenaissance verband sich aber nicht die Rückkehr zur nationalen Einbindung der Reformation im Sinne der Rankerenaissance. Holl betonte vielmehr ausdrücklich die gemeindechristliche Kraft des Protestantismus und unterstrich die Fähigkeit des Luthertums, sich auch gegen obrigkeitliche Forderungen zu stellen.15 Der hier aufscheinende Ansatz, sich der Reformation als historischer Bewegung zu widmen, einen Reformationsbegriff zu etablieren, der sich von der Konzentration auf die Person Luthers lösen konnte, wurde in der Zwischenkriegszeit (1918–1945) nicht intensiver verfolgt. Erst die Debatte, die in den frühen 60er Jahren des 20. Jahrhunderts u.a. in 13 Dazu K. Tanner, Die fromme Verstaatlichung des Gewissens. Zur Auseinandersetzung um die Legitimität der Weimarer Reichsverfassung (in: Staatsrechtswissenschaft und Theologie der zwanziger Jahre, Göttingen 1989, S. 157–161); D. Korsch, Lutherisch-nationale Gewissenreligion: Karl Holl (1866–1926) (in: F.W. Graf [Hg.], Profile des neuzeitlichen Protestantismus Bd. 2/2, Gütersloh 1993, 336–353); F.W. Graf / K. Tanner, Lutherischer Sozialidealismus: Reinhold Seeberg (1859–1935) (in: ebd., 354– 397). 14 Dazu ausführlich H. Assel, Der andere Aufbruch. Die Lutherrenaissance – Ursprünge, Aporien, Wege: K. Holl, E. Hirsch, R. Hermann (1910–1935), Göttingen 1994. 15 Vgl. D. Korsch, Gewissenreligion (s. Anm. 13), 343/344.

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der alten Bundesrepublik begann, nahm diese Fäden wieder auf. 2.3 Die Kontroversen zwischen marxistischer und nichtmarxistischer Forschung seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts Forschungsprägend war hier zunächst im deutschsprachigen Raum die Studie des Göttinger Kirchenhistorikers B. Moeller »Reichsstadt und Reformation« aus dem Jahr 1962.16 Sie löste eine intensive Debatte unter allen Historikern aus, die sich mit der der Reformation befassten – seien sie nun kirchenhistorisch oder profanhistorisch ausgerichtet gewesen.17 Das Faszinosum der Moellerschen Untersuchung war der Versuch nachzuweisen, dass der theologische Kern der reformatorischen Bewegung in ein genuin politisches Umfeld passte, so dass sich stadtpolitische und reformtheologische Anliegen unauflösbar verbanden. Dies erschien als der überzeugende Nachweis jener seit L.v. Ranke behaupteten engen Verzahnung von Religion und Politik, die für das 16. Jahrhundert kennzeichnend gewesen sei. Moeller charakterisierte die Verzahnung im Bild der (Reichs-)Stadt als »corpus christianum im Kleinen«. Teilhabe an der politischen Gemeinde war identisch mit der Teilhabe an der christlichen Gemeinde.18 Die theologisch begründete Gleich16

B. Moeller, Reichsstadt und Reformation, Heidelberg 11962. Sehr zutreffend schreibt T. Kaufmann, »Reichsstadt und Reformation ist ein Büchlein von wissenschaftsgeschichtlichem Rang« in: ders., Vorwort des Herausgebers zur neuen Ausgabe von Reichsstadt und Reformation, Tübingen 2011, V. 17 Diese Debatte kann hier nicht nachvollzogen werden, eine sehr konzise Darstellung aber gibt mit allen Nachweisen T. Kaufmann, Einleitung (in: ders. Vorwort [s. Anm. 16], 1–38). 18 Diese Leistung wurde ausdrücklich als Weiterführung der 1918 gehaltenen Antrittsvorlesung des Tübinger Kirchenhistorikers A. Schultze

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heit der Christen vor Gott zeigte sich verfassungspolitisch in der Teilhabe an der Pfarrerwahl, an der Verwaltung des Kirchenkastens, an der Fürsorge für die Armen. Der Stadtrat, der seine Amtsaufgaben nicht angemessen erfüllte, wurde zur Rechenschaft gezogen – begründet aus biblischem und weltlichem Recht. Das »corpus christianum im Kleinen« funktionierte in der Realität denn auch als Machtteilung zwischen den Drei-Ämtern/Ständen, als politisches Konzept der Machtkontrolle.19 Diese Interpretation löste nicht nur große Anerkennung sondern engagierte Kritik auch deshalb aus, weil dem Göttinger Kirchenhistoriker ein idealisierendes, harmonisierendes Bild von der Realität der Reichsstädte im 16. Jahrhundert vorgeworfen wurde. Besonders deutlich formulierte dies der nordamerikanische Reformationshistoriker T. Brady, der stattdessen von der Realität eines »städtischen Sozialkörpers als Konfliktgemeinschaft« auszugehen vorschlug.20 Diese Gegensätze führten – das sei betont – zu zum ähnlichen Thema »Stadtgemeinde und Reformation« hervorgehoben. Siehe v.a. G.W. Locher, Rezension von B. Moeller, Reichsstadt (in: SZG 15 [1965], 531–534). Dort betonte Locher S. 532, dass es B. Moellers Verdienst sei, der Ekklesiologie eine besondere Rolle zuerkannt zu haben, dadurch sei er imstande, die »innere Verbindung manches reformatorischen Motivs mit politischen Bewegungen, besonders im Bereich der Reformierten« wahrzunehmen. Auch der Kirchenrechtslehrer H. Liermann betonte in seiner Rezension in: ZSavRG 81, Kan. Abt. 50 (1964), 430–433 B. Moellers »wertvolle Erkenntnisse zur städtischen Rechts- und Kirchengeschichte«. 19 B. Moeller, Reichsstadt (s. Anm. 16), Neuausgabe 2011, 81–115. 20 Sein Konzept entwickelte T. Brady zunächst am Beispiel der Stadt Straßburg: ders., Zwischen Gott und Mammon. Protestantische Politik und deutsche Reformation, Berlin 1996 (englische Originalausgabe 1978), 16–19. In der Originalausgabe lautete die Kritik an B. Moeller, die städtische Sakralgemeinschaft sei eine »idealized, romantic conception of urban society« (12). – In einer rezeptionsgeschichtlich angelegten kleinen Schrift entwickelte er diese Thesen allgemeiner: ders., The Protestant Reformation in German History, Washington 1998, 35–47. Mit Brady argumentierten in eigener Schwerpunktsetzung H. Schil-

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einer Fülle von fruchtbaren sozial- und wirtschaftshistorischen Untersuchungen, die sich auf die Situation der Reichsstädte im 16. Jahrhundert bezogen. Dies war Kontextualisierung im besten Sinne historischer Forschung! Seitdem sind wir über Trägergruppen der Reformation, über soziale und politische Gegensätze in den Städten, über Rezeptionen der verschiedenen theologischen Strömungen bis hin zur Situation in den katholischen Reichsstädten außerordentlich gut unterrichtet. Damit wurde die Kernthese Bernd Moellers durchaus bestätigt: es gab eine unauflösbare Verzahnung von theologischer und stadtpolitischer Argumentation, deren Zielsetzung aber konnte höchst unterschiedlich bewertet werden. Und damit stehen wir erneut vor der Frage nach der Neuzeitfähigkeit der reformatorischen Bewegung, wie sie L. v. Ranke und dann E. Troeltsch angestoßen hatten: Ist es die Zukunftshoffnung einer christlichen Gemeinde, die die Politik bewegt oder ist es die Reformunfähigkeit eben dieser sozial-politischen Ordnung, die nach Wandel verlangt, der auch, aber nicht nur durch theologische Reformanstöße beschleunigt werden kann? Ist es Funktionalisierung des Theologischen oder kann von einem Wesenskern der reformatorischen Theologie gesprochen werden, der die politischen Entwicklungen auch verschiedener Zeitphasen prägen kann? Die Argumente des nordamerikanischen Historikers standen in inhaltlicher, wenn auch nicht methodischer Nähe zu den Interpretationen, die die Reformationsgeschichtsschreibung der vergangenen DDR seit den 60er Jahren vorgelegt hatte.21 Diese wiederum knüpfte an die Grundlegungen ling, H.Chr. Rublack, P. Blickle, B. Scribner u.a. Siehe zur ganzen Debatte O. Mörke, Die Reformation. Voraussetzungen und Durchsetzung, München 22011, 95–98; ebenso L. Schorn-Schütte, Reformation (s. Anm. 5), 96/97. 21 Zutreffend ist, worauf T. Kaufmann, Vorwort (s. Anm. 16), auf S. 13/14 verweist, dass B. Moeller sich auf das Interpretament der »früh-

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durch Marx/Engels und die Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts ebenso an wie an die sowjetische Geschichtsschreibung der 50er Jahre des 20. Jahrhunderts.22 Die marxistische Geschichtsschreibung ebenso wie die strikt auf sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Strukturen ausgerichtete Erforschung der reformatorischen Bewegung ging von einer zielgerichteten Höherentwicklung in der Geschichte aus; die marxistische Forschung unterschied gesetzmäßig aufeinander folgende Stufen gesellschaftlichen Wandels. In diesem Konzept erhielt die Reformation als frühbürgerliche Revolution eine zentrale Funktion. Dadurch, dass die Reformation als frühbürgerlich-theologisch geprägte Revolution den Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus ermöglicht habe, sei sie in ihrer Frühphase positiv zu bewerten. In dieser Zeitspanne war die Reformation neuzeitfähig, sie hätte die Neuzeit einleiten können. Da sie aber spätestens nach der Niederschlagung des Bauernkrieges diese Wende verhinderte, sei sie reaktionär, die nächste Stufe der Entwicklung führte zu ihrer Überwindung. Die enge Verflechtung von Religion und Politik waren in der Frühphase modernitätsfördernd, in der Spätphase entwicklungshemmend, der nächste Schritt müsse zur Auflösung der engen Verzahnung führen.23 bürgerlichen Revolution« in der Erstauflage seines Buches 1962 nicht bezieht. Dennoch war die »Deutungskonkurrenz« unter den Profanhistorikern beider Seiten seit etwa 1960 entbrannt. Das wurde zuerst sichtbar in den Kontroversen um den Bauernkrieg, diese mündeten in die Debatten um den Charakter der Reformation. Die erste offizielle Publikation dazu war M. Steinmetz, Die frühbürgerliche Revolution. Deutschland 1476–1536. Thesen zur Vorbereitung der wissenschaftlichen Konferenz in Wernigerode vom 21.–24.1.1960 (in: ZfG 8 [1960], 113–124). 22 Dazu L. Schorn-Schütte, Reformation (s. Anm. 5), 100–101; ebenso O. Mörke, Reformation (s. Anm. 20), 89–91. 23 Wichtige Beiträge aus der DDR-Forschung zu diesem Konzept kamen neben M. Steinmetz von G. Vogler u.a.: ders., Marx, Engels und

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Dass auch diese Deutungen zeitgebunden waren, ist bekannt – ich verzichte auf die einzelnen Nachweise.24 Aber die seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts wachsende Ausrichtung der internationalen Forschung zur Reformation auf die sozialen und wirtschaftlichen Komponenten veränderte seit dem Jahrtausendwechsel noch einmal die Schwerpunkte der Forschungen. 2.4 Jüngere Debatten: Reformatorische Bewegung als Umbruch oder Kontinuität; Kultur der Reformation; wie relevant ist die Modernisierungsthese? In einer vollständig säkularisierten Gesellschaft wissen Reformationshistoriker vermutlich am ehesten, welche Sprengkraft religiöse Bewegungen haben können und sie wissen auch, dass deren Motive nicht immer und schlicht auf soziale und wirtschaftliche Interessenkonflikte zurückgeführt werden können. Auch und gerade die intensive Diskussion mit den marxistischen Historikern, die bis 1989 institutionalisiert war, zeigte die Grenzen des interessengesteuerten Interpretationsmodells auf. Es mehrten sich solche Arbeiten, die die mentalen Seiten entweder der handelnden Personen oder von Abläufen des reformatorischen Geschehens untersuchten, wobei deren Einbindung in die soziale Verfasstheit sich wandelnder Gesellschaften zu den schwierigsten Forschungsaufgaben gehört.25 Bereits in den die Konzeption einer »frühbürgerlichen Revolution« in Deutschland (in: ZfG 17 [1969]), 704–717. 24 Einen Überblick gibt J.-H. Brinks, Die DDR-Geschichtswissenschaft auf dem Weg zur deutschen Einheit: Luther, Friedrich II. und Bismarck als Paradigmen politischen Wandels, Frankfurt a.M. 1992. 25 Auf diese Aufgabe hat H.A. Oberman verwiesen: Die Reformation. Von Wittenberg nach Genf, Göttingen 1986, 21: »Plakativ zusammengefasst wird jeweils das Geschehen der Reformation mit einem anderen sola gekoppelt, einem jeweils wechselnden Postulat nachgeordnet: Ohne Reich und Fürsten keine Reformation. Ohne soziale

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20er Jahren des 20. Jahrhunderts wurde diese Richtung als Erforschung der »Kultur der Reformation« bezeichnet, seit den ausgehenden 80er Jahren wurde sie zu einer dominanten Richtung. Zu den damit angesprochenen Denkrichtungen und Werthaltungen gehört natürlich auch der große Bereich der Formen politischer Herrschaft. In den 80er und 90er Jahren wurde dies diskutiert im Kommunalismusmodell,26 in den 60er Jahren bei B. Moeller in der These von der Verbindung der reformatorischen Theologie mit dem genossenschaftlichen Selbstverständnis der Reichsstädte. Und in den Debatten der vergangenen Jahre war dies die erneut gestellte Frage nach der Affinität von Obrigkeitskritik und Luthertum. Sie wurde gegen die »wesenhafte« Verbindung von Calvinismus und Demokratie gesetzt, wie sie seit E. Troeltsch und M. Weber behauptet wurde.27 Dass diese Werthaltungen in der Reformation gewirkt haben, durch sie gestärkt wurden, ist offensichtlich. Die Vermittlung mit der reformatorischen Theologie ist bis in all deren Verästelungen häufig nur schwer zu belegen. Für die Historiker wurde es deshalb zentral zu klären, ob es so etwas wie einen theologischen Kern gibt, der die Reformation »in ihrem Innersten« zusammenhält, der als Kern einer »politischen Theologie« durch den Wandel der Epochen sichtbar bleibt. In einem Streitgespräch der Kirchenhistoriker B. Hamm, B. Moeller und D. Wendebourg wurde die Antwort darauf 1995 unterschiedlich gegeben.28 Für Hamm Krise keine Reformation. Ohne Stadt keine Reformation. Selbstverständlich muss dem entgegen wieder Grundverständnis werden: Ohne Reformatoren keine Reformation.« 26 Siehe P. Blickle, Gemeindereformation. Die Menschen des 16. Jahrhunderts auf dem Weg zum Heil, München 1985; ders., Kommunalismus. Skizzen einer gesellschaftlichen Organisation, 2 Bde, München 2000. 27 Siehe u.a. L. Schorn-Schütte, Troeltschs Soziallehren (s. Anm. 12); T. Kaufmann, Luther (s. Anm. 12). 28 B. Hamm / B. Moeller / D. Wendebourg (Hg.), Reformationstheorien. Ein kirchenhistorischer Disput über Einheit und Vielfalt der

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und Moeller war es die Theologie der Rechtfertigungslehre, die von Hamm als systemsprengend und insofern im Kern reformatorisch charakterisiert wurde; für Wendebourg entstand dieser Kern erst aus der Sicht der Nachgeborenen, insbesondere der altgläubigen Theologen. Die Profanhistoriker haben sich auf beides nicht festgelegt: weder auf die rein theologische Aussage noch auf die Konstruktion durch die Späteren. Stattdessen ist eine bis heute unentschiedene Debatte darüber geführt worden, ob es nicht besser sei, statt von einem reformatorischen Umbruch von einem langfristigen kulturellen Wandel zu sprechen. Dieser umfasst, so die Interpretation, die Zeitspanne zwischen 1400 und 1600.29 Ein im Sinne von Hamm und Moeller theologisch begründeter Systembruch, der auch aus der Sicht der Profanhistoriker als radikaler Wandel der Normen charakterisiert werden könnte, ist in dieser Perspektive ausgeschlossen. Mit der wachsenden Einsicht in die Parallelität der reformatorischen Bewegungen im Europa des 16. Jahrhunderts wird zudem die Umkehrung der theologiepolitischen Logik sichtbar. Nicht erst in der calvinistischen Widerstandsdebatte des ausgehenden 16. Jahrhunderts zeige sich die neuerliche Verzahnung von Politik und Religion, sondern bereits in der Debatte über die Legitimität der Notwehr gegenüber einem »unchristlichen Oberherrn«, die im Alten Reich bereits der dreißiger Jahre des 16. Jahrhundert auf Seiten der lutherischen Juristen und Theologen geführt wurde.30 Reformation, Göttingen 1995; dazu O. Mörke, Reformation (s. Anm. 20), 119–120. 29 Siehe dazu B. Jussen / C.M. Koslofsky (Hg.), Kulturelle Reformation. Sinnformationen im Umbruch (1400–1600), Göttingen 1999; H. Schilling, Die neue Zeit. Vom Christenheitseuropa zum Europa der Staaten 1250–1750, Berlin 1999. 30 So die Ergebnisse bei L. Schorn-Schütte, Gottes Wort und Menschenherrschaft. Politisch-theologische Sprachen im Europa der Frühen Neuzeit, München 2015; dort auch die weitere Forschungsliteratur.

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Wenn damit sowohl die Neuzeitfähigkeit der Reformation als auch die Wesenhaftigkeit der politischen Ausrichtung reformatorischer Bewegungen in Frage gestellt wird, so ist es nur konsequent, wenn die Forschung die derzeit noch gültige Interpretation von der modernisierenden Verfestigung der Konfessionen relativiert. Stattdessen wird der Bezug auf die Traditionen sichtbarer. So hat u.a. der nordamerikanische Reformationshistoriker S. Hendrix die Absicht der Reformatoren betont, das Anliegen der urchristlichen Gemeinden wieder zu beleben und das hieß »reformatio« als Wiederherstellung des als gut befunden Alten.31 Dieser »Blick auf das Neue im Alten« wird auch von anderen Reformationshistorikern aufgenommen, ohne dass damit das Neuartige der reformatorischen Bewegung infrage gestellt werden soll.32 Mit dem Hinweis auf die unterschiedliche Wahrnehmung des Umbruchcharakters bei den unmittelbaren Zeitgenossen und den Angehörigen späterer Generationen wird der darin liegende Gegensatz aufzufangen versucht. Diesem Ergebnis können sich, wenn auch in eigener Fachlogik argumentierend, durchaus etliche Profanhistoriker anschließen. Denn die Verzahnung von reformatorischer Erneuerung und Reformpolitik konzentrierte sich im frühneuzeitlichen Gemeindebegriff. Und dieser stand selbstverständlich in einer rechtlichen und theologischen Traditionslinie, die durch die reformatorische Theologie eine Erweiterung und Vertiefung erfuhr. Die Argumentation lautet dann: die reformatorische Erneuerung war mit Hilfe der durch sie vollzogenen Intensivierung des Gemeindebegriffs innovativ. Sie wirkte in die Politik und setzte, ob nun in den Reichsstädten des 16. Jahrhunderts, den Kommunen 31

S. Hendrix, Recultivating the Vineyard. The Reformation Agendas of Christianization, Louisville 2004. Daran anknüpfend ders., M. Luther. Visionary Reformer, Yale UP 2015. 32 So z.B. T. Kaufmann, Martin Luther, München 22010.

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des 16./17. Jahrhunderts, den politiktheoretischen Debatten um Notwehr des 16./17. Jahrhunderts, Dynamiken frei, die in der frühneuzeitlichen sozial-politischen Spannung zwischen Herrschaftszentrierung und Teilhabeforderung in Gestalt des Gemeindebegriffs ohnehin existierten.33 3. Fazit 1. Der wissenschaftshistorische Rückblick ermöglicht Systematisierungen, selbst wenn sie zunächst banal anmuten. Trotz unterschiedlicher zeitgenössischer Interessen, lassen sich zwei große Deutungsmuster seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts identifizieren: *Reformation ist der Beginn einer neuen Epoche, ist der Beginn der Moderne. *Reformation steht in einer mittelalterlichen Tradition, sie ist Teil einer längeren Bewegung, ein Umbruch, gar ein revolutionärer Charakter kann nicht konstatiert werden. 2. Beide Deutungen enthalten Kriterienbündel, die sich weiter differenzieren lassen. *Das Kriterium für die Neuzeitfähigkeit ist: Werthaltungen auch des Politischen, die dem theologischen Wesenskern entsprechen, werden gestärkt. Dazu zählen die Differenzierungen des Freiheitsbegriffes ebenso wie Individualisierungsprozesse, die sich u.a. auch aus der Theologie der Rechtfertigungslehre herleiten lassen. Die Skepsis der Historiker ist hier unüberhörbar: alle Werthaltungen sind kontextabhängig, die Neuzeitfähigkeit, 33

Zur Bedeutung der bündisch-genossenschaftlichen Traditionen für die Durchsetzung der Reformation auf der Ebene des Reichs im 16. Jahrhundert siehe G. Haug-Moritz, Der Schmalkaldische Bund 1530– 1541/2. Eine Studie zu den genossenschaftlichen Strukturelementen der politischen Ordnung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, Leinfelden-Echterdingen 2002.

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die der Reformation eignen könnte, hängt vom Neuzeitverständnis der jeweiligen Zeitgenossen ab und dieses muss wiederum mit Blick auf das Verhältnis von Religion und Politik jeweils neu beschrieben werden. Um es zuzuspitzen: Die Neuzeitfähigkeit des 16. Jahrhunderts hat kaum mehr etwas mit derjenigen des 21. Jahrhunderts zu tun – es sei denn es gibt den theologischen Wesenskern der reformatorischen Bewegung. Dessen Existenz wäre dann als »roter Faden« zwischen den Jahrhunderten charakterisierbar. *Entscheidendes Kriterium für die Deutung der Reformation als Teil einer langfristigen Bewegung ist die Relevanz reformatorischer als gemeindechristlicher Traditionen, aus denen sich ebenfalls Werthaltungen ableiten lassen, die politischen Normen zugeordnet werden können wie z.B. Gemeindebezug, Teilhabeanspruch, Machtteilung, Kontrolle geistlicher und weltlicher Autoritäten. Aber auch hier bleibt die Skepsis der Historiker deutlich: Auch Werthaltungen, die auf Traditionen bezogen sind, bleiben kontextabhängig. Zugespitzt formuliert: Die Innovation, die in der Rückbesinnung auf Traditionen liegen kann, ist nicht per se (wesensmäßig) vorhanden. Auch hier gilt: Die Relevanz von Traditionsbezügen sieht für das 16. Jahrhundert möglicherweise anders aus als für das 20./21. Jahrhundert. Und wenn das gilt, dann kann keine Entwicklungslinie vom 16. bis ins 21. Jahrhundert gezogen werden – es sei denn, es gibt den reformatorisch-theologischen Wesenskern. Aber dies ist eine offene Frage an die Theologen!34

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Darin liegt der Grund für die Nachfragen an die EKD Denkschrift »Rechtfertigung und Freiheit. 500 Jahre Reformation 2017«, Gütersloh 42015.

Leitbild reformatorische Theologie? Kulturtheoretische und historiographische Anmerkungen zur theologischen Rezeption der Reformation1 Dietrich Korsch 1. Die These von der Maßgeblichkeit der Reformation im Protestantismus Wenn es ein implizites Dogma des theologischen Normalbewusstseins im gegenwärtigen deutschen Protestantismus gibt, dann ist es die Maßgeblichkeit »reformatorischer Theologie«, insbesondere »der« Rechtfertigungslehre. Allerdings ist so gut wie jedes Wort dieses Satzes auslegungsbedürftig, also nichts eindeutig. Denn was wirklich unter »reformatorischer Theologie« verstanden werden soll und wie die Rechtfertigungslehre nicht nur historisch zu rekonstruieren ist, bleibt offen. Und woher diese verbreitete Überzeugung von der vorbildlichen Geltung der Reformation stammt, ergibt sich auch nicht aus den gängigen Dogmatiken; sie ist jedenfalls weder für K. Barth noch für E. Tillich, weder für W. Pannenberg noch für J. Moltmann und auch nur in eingeschränktem Sinn für W. Härle tragendes Konstruktionsprinzip. Dennoch hält sich dieses Bewusstsein mit erstaunlicher Hartnäckigkeit, scheint es doch das Einzige zu sein, worauf man sich ohne Diskussion beziehen kann; daher meine Rede vom »impliziten Dogma«. Fragt man nach der Herkunft dieser Art von Rückbeziehung auf die Reformation, dann wird man – neben einem durchlaufenden lutherischen Konfessionalismus des 19. Jahrhunderts – auf zwei unterschiedliche Bewegungen in 1

Die Vortragsform wurde beibehalten.

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der evangelischen Theologie des 20. Jahrhunderts verwiesen: die Luther-Renaissance seit K. Holl und die WortGottes-Theologie vor allem nach dem 2. Weltkrieg, wie sie sich paradigmatisch etwa bei E. Wolf fassen lässt. Dabei ging es in der Luther-Renaissance um die Umcodierung des modernen Bewusstseins auf seine religiöse Auslegung, um den Widerspruch zum Neuprotestantismus durch die Wort-Gottes-Theologie. Die hermeneutische Luther-Auslegung etwa G. Ebelings vermochte beide Elemente durch historische Akribie zu verknüpfen – und gerade darin kam die gemeinsame Front der zunächst getrennt marschierenden theologischen Heerscharen zu Bewusstsein, nämlich die Kritik an der nachreformatorischen, postkonfessionellen, auf religiöse Unabhängigkeit pochenden Moderne. Vielleicht muss man es als Segen der gegenwärtigen Reformations-Dekade, die im kirchlichen Volksmund ja umstandslos Luther-Dekade heißt, betrachten, dass derartige Selbstverständlichkeiten kritisch zur Diskussion gestellt werden – ironischerweise gerade auch durch die Versuche, ihre Geltung neu zu erweisen, wie man an dem EKD-Text »Rechtfertigung und Freiheit« sehen kann. Jedenfalls dürfte es dem Protestantismus gut tun, sich genauer auf die behauptete Maßgeblichkeit »reformatorischer Theologie« zu besinnen. Will man das tun, dann empfehlen sich statt eines unmittelbaren Zugriffs auf theologische Gedankenbildungen zwei Umwege kulturtheoretischer und historiographischer Art, um sich von ihnen her dem Phänomen »reformatorischer Theologie« neu zu nähern. 2. Erinnern und Gedenken Erörterungen der Erinnerungs- und Gedenkkultur sind vielfältig. In Deutschland sind sie kritisch gewachsen seit dem Nationalsozialismus. Diese Epoche deutscher Geschichte stellt für das historische Gedächtnis, sofern es zur

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Ausbildung einer kulturellen Identität beizutragen hat, eine einzigartige Herausforderung dar. Denn entweder gibt es eine kontinuierliche Linie, die zu den Gräueln des Nationalsozialismus führt – und dann ist auch die Nachgeschichte kontaminiert; oder der Nationalsozialismus stellt einen Bruch der christlich-westlichen Zivilisation dar – und dann ist diese Zeit als Ausnahme zu kennzeichnen, die es nötig macht, auf frühere Ressourcen zuzugreifen und sich sozusagen in eine diskontinuierliche Kontinuität zu stellen. Diese Option lässt die Frage aufkommen, welche das sein können. Vorsorglich sei angemerkt, dass diese modellhafte Alternative natürlich nicht die historische Forschung betrifft und sie etwa nivelliert; diese zeichnet sich vielmehr gerade dadurch aus, dass sie differenziert und die Verquickung unterschiedlicher Traditionen und Handlungslinien rekonstruiert. Für die Identitätspolitik aber muss die historische Vielstimmigkeit mindestens auf eine einheitliche Grundtonart eingestellt werden. In der Regel gehen in den Ausführungen zur Gedächtniskultur die Semantik des Erinnerns und die Semantik des Gedenkens ohne deutliche Unterscheidung zusammen. Ich möchte für unsere Zwecke Erinnern und Gedenken idealtypisch differenzieren – und ich hoffe, dass sich diese Unterscheidung am Ende als plausibel, weil im Falle der Reformation bewährt, herausstellt. Ich schlage vor, den Ausdruck »Gedenken« für eine aneignende und identitätsfördernde Betrachtung der Geschichte zu verwenden, die auf die Herkunft der Gegenwart aus der Vergangenheit eingestellt ist. Damit wird auf den Sachverhalt abgehoben, dass unsere Gegenwart immer schon durch Handlungen und Ereignisse bestimmt ist, unter denen wir unser aktuelles Leben zu führen haben. Dabei gehört es zur Konkretion des gelebten Lebens, sich dieser Herkünfte zu vergewissern und sie aufnehmend oder abstoßend in die Bestimmungen gegenwärtiger geschichtlicher Verantwortung aufzunehmen. Es liegt auf der Hand, dass diese dem eigenen Han-

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deln entzogene Vergangenheit je nach ihrer Verfassung als hilfreich und förderlich akzeptiert und fortgesetzt werden kann, oder aber als beschämend und schädlich wahrgenommen und durch eigenes Handeln verändert werden muss. »Gedenken« kann sich also auf bestimmende Hintergründe beziehen, die Handlungsoptionen eröffnen – und auf solche, die das eigene Tun belasten und beschränken. Fast könnte man sagen, dass die Anlässe zum mahnenden Gedenken häufiger vorkommen und stärker wirken als die anderen, an denen man sich auf eine humane Erfolgsgeschichte bezieht. Doch das mag auch mit der spezifisch deutschen Geschichte zusammenhängen. Es liegt aber, wenn man sich die unterschiedlichen Gestalten von Gedenken vor Augen stellt, sogleich auf der Hand, dass es sich um ein asymmetrisches Verhältnis handelt: Es wird ja auch der negativen Voraussetzungen der Gegenwart gedacht, um sich davon abzusetzen und die Geschichte ins Positive zu wenden. Genau diese Überlegung veranlasst mich nun, das Erinnern terminologisch vom Gedenken abzusetzen. Erinnern, so schlage ich vor, stellt den Versuch dar, derjenigen Potentiale inne zu werden, die in der Geschichte dafür gesorgt haben, dass sie nicht nur eine Geschichte der Vergeblichkeit, des Scheiterns, der Gewalt gewesen und geblieben ist. Erinnerung, heißt das, macht gegenwärtig präsent, was uns im eigenen Handeln Zukunft eröffnet. Erinnern bewegt sich damit in einer anderen Zeitordnung als Gedenken, sofern im Erinnern Vergangenes als Zukunft erschließend angeeignet wird. Denn in der Tat erlebt man es bei jedem Gedenken an Gräuel der Vergangenheit, dass das Missbilligen des Geschehenen die Gedenkenden eint, dass aber gerade im Rückblick die Frage auftaucht, woher denn nun die Kraft erwächst, sich der scheinbaren Übermacht vergangener Geschichte zu widersetzen. Es dürfte sich lohnen, angesichts dieses Eindrucks nach den Potentialen der Erinnerung zu fragen, aus denen sich ein Handeln speist, das sich der Zukunft mit Zuversicht zuwendet.

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Dabei steht es außer Frage, dass ein solcher bewegender Hintergrund des Handelns, eine solche Motivationskraft, auch gesondert thematisiert und verbreitet werden muss; aus dem Missfallen am Geschehenen allein ergibt sich diese Bewegung nach vorwärts noch nicht. Wo derartiges zu finden ist, das ist dann ein eigenes Thema, auf das wir später zurückkommen werden. Soviel zum kulturtheoretischen Umweg für eine mögliche Aneignung der Reformation durch gegenwärtige Gedenkkultur. Es wird sich im nächsten Umweg, dem historiographischen, nun zeigen, in wie hohem Maße eine die eigene Herkunft beschreibende Kultur des Gedenkens ambivalent ist. Dabei beziehe ich mich gleich auf die Reformation. 3. »Reformation«: Gedenken im Widerspruch Wie kaum ein Ereigniskomplex unserer Geschichte ist das Gedenken der Reformation kontrovers. Das hat sich abermals manifest an den Schwierigkeiten gezeigt, für die Begängnisse vor dem und im Jahr 2017 eine Verständigung über deren Sinn und Zweck zu finden, der sowohl die evangelische als auch die katholische Kirche zustimmen können; auch die gegenwärtig getroffenen Vereinbarungen atmen durch und durch, bis in die semantischen Feinheiten hinein, den Geist der Kirchenpolitik. Die großen kontroversen Leitgesichtspunkte sind bekannt: Aufbruch zur Freiheit, sagen die Evangelischen, Kirchenspaltung, rufen die Katholischen. Nun kann man selbstverständlich diese schlichte Alternative durch historische Differenzierung unterlaufen. Dann würde man die frühneuzeitliche Beschränkung des Freiheitsbegriffs und seine für uns unzureichende Begründung durch eine autoritativ verstandene Bibel ins Feld führen, und man würde umgekehrt auf die empirische Tatsache einer schon immer vorliegenden Existenz des Christentums in einer Pluralität von Kir-

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chen hinweisen – doch das ändert leider nichts an den geschichts- und religionspolitischen Alternativsetzungen. Warum ist das so? Es hat damit zu tun, dass die Gedenkkultur vom jeweils gegenwärtig Gegebenen abhängt, ja die Geschichte auf die Gegenwart hinlaufen lässt. Dann muss man, aus katholischer Perspektive, sagen, dass die ehemals einheitskirchliche Verfassung der westlichen Christenheit, unangesehen ihrer inneren Vielfalt, in der Tat seit der Reformation nicht mehr gegeben ist, sodass der Widerspruch zwischen dem dogmatischen Alleinvertretungsanspruch des Christentums im Katholizismus und der empirischen Partikularität, unter der er laut wird, eine andauernd manifeste Gestalt bekommt. Dann kann man, aus protestantischer Sicht, den Schub der Normativität der Freiheit, wie er sich in der Neuzeit erhob, als Rückenwind für eigene Abgrenzung und Selbsterhaltung nutzen – auch wenn ansonsten die Bereitschaft für ein neuzeitliches Selbstverständnis der Kirche nicht gerade verbreitet ist. Wenn es aber nun das immer noch kontroverse Verhältnis der Kirchen zueinander in der Gegenwart ist, das den Ausgang des Gedenkens bildet, dann versteht es sich von selbst, dass sich keine Einigkeit darüber erzielen lässt, was es mit der Reformation auf sich hat und warum und wie man sich auf sie als Geschehen der Vergangenheit zu beziehen hätte. Offensichtlich ist die Rekonstruktion der Vergangenheit gerade da, wo es um religiöse Identitäten geht, besonders uneindeutig. Das Problem wird freilich durch einen weiteren Umstand erheblich verschärft. Denn die konfessionelle Alternative in der Deutung der Reformation, wie sie bisher umrissen wurde, deckt ja keineswegs die Möglichkeiten ab, die Epoche der Reformation zu verstehen. Da es zu einer Pluralisierung des kirchlichen Christentums nach der Reformation kam, in der auf beiden Seiten der Anspruch auf Wahrheit vertreten wurde, ohne dass über ihn entscheiden werden

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konnte, eröffnet sich die Möglichkeit, nach Wahrheit auch jenseits der konfessionellen Kontroverse zu fragen. Ja, die offensichtliche Unmöglichkeit, die einander widersprechenden Wahrheitsansprüche in ein vernünftiges Verhältnis zueinander zu setzen, konnte der Vermutung Vorschub leisten, die Wahrheit sei überhaupt nicht mehr auf dem Boden konfessioneller Religion zu finden. Es entsteht daher durch die Vermittlung der ungeschlichteten innerchristlichen Debatte ein neues Narrativ der Moderne, nach dem sie sich selbst als Emanzipationsgestalt von kirchlichautoritärer Vormundschaft versteht. Dafür konnte auf man humanistische Bewegungen und stoische Motive zurückgreifen, die in den beiden einander widerstreitenden Konfessionen mit verarbeitet worden waren; diese gelte es aus ihrem kirchlichen Gefängnis zu befreien – eine geschichtliche Bewegung, die zur Zeit der Reformation begann, die sich aber keineswegs (allein) aus reformatorischen Quellen speist, sondern deren supranaturale Eierschalen ebenso abwirft wie die päpstliche Autoritätskultur. Wir kommen daher, je nachdem, welchen Ausgangspunkt wir wählen, auf drei verschiedene identitätsrelevante Großerzählungen über die Reformation. Wählen wir die evangelische Sicht, dann ist die Reformation der Gründungsmythos des gegenwärtigen Protestantismus. Sie hat sich einerseits gegen die altgläubige Kirche und ihr Papstamt behauptet wie sie, auf der anderen Seite, auch den erasmianischen Humanismus der Kritik unterworfen hat – und beides rechtfertigt die Selbständigkeit der evangelischen Kirche in der Moderne, ja positioniert sie in kritischer Distanz gegenüber der Moderne. Nehmen wir die katholische Perspektive ein, dann stellt die Reformation einen Akt der Illegitimität dar, ein unberechtigtes und willkürliches Hinaustreten aus der Gemeinschaft der Kirche mit Christus, beruhend auf einem subjektivistischen Heilsinteresse, das als solches dem aufklärerischen religionskritischen Relativismus vorgearbeitet hat, welcher diese Haltung zum Prin-

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zip erhebt. Wollten wir jedoch, drittens, die Position des aufgeklärten Betrachters einnehmen, dann müssten wir sagen, dass die Kontroversen der Reformationszeit unvollständig und fehlgeleitet waren, sofern sie versuchten, für die eigene – partikulare – Konfession einen umfassenden Wahrheitsanspruch durchzusetzen, statt die Religion überhaupt als Feld möglicher Wahrheit hinter sich zu lassen; lediglich das Aufbrechen des Gegensatzes, der einer freien Bearbeitung der Wahrheitsfrage Vorschub leistete, ist für eine Geschichte der Vernunft von Belang. Gedenken als Rekonstruktion der Gegenwart: Wir haben das Bemühen gesehen, aus identitätspolitischen Motiven eine Herkunft der je eigenen Gegenwartsposition zu zeichnen. Keine dieser Großerzählung ist völlig unplausibel und ohne Anhalt am historischen Geschehen. Es lässt sich aber auf dieser Basis auch keine Einigkeit erzielen, die irgendwie das unterschiedliche Selbstverständnis der verschiedenen Ausgangslagen modifizieren könnte. Man muss die Kraft solcher Konstruktionen als hoch einschätzen. So hoch, dass sie auch noch die theologischen oder weltanschaulichen Argumente betreffen, die man zur gedanklichen Absicherung und Begründung der eigenen Position ins Feld führen könnte. Es gibt, um dasselbe noch einmal anders zu sagen, so etwas wie eine Kontaminierung des Denkens durch die Identitätspolitik des Gedenkens. Diese ist immer da zu beobachten, wo man von dem gesetzten Ausgangspunkt her die Gegenwart gedanklich zu rechtfertigen versucht. Das bedeutet für das protestantische Gedankenspiel, dass man gegenwärtig (noch) verständliche Identitätsmarkierungen auf reformatorische Vorgaben zurückzuführen versucht. Das ist überall da der Fall, wo man sich um eine »Aktualisierung« der Rechtfertigungslehre bemüht, also z.B. das Herauslösen derselben aus der supranaturalen Gerichtssemantik und die Versetzung in einen eher psychologischen Verständnishorizont. Der kirchliche Gründungs-

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mythos »Reformation« wird so auch als Quelle aktuellen theologischen Denkens in Anspruch genommen. Für die katholische Theologie erwächst aus der Abgrenzung von der Reformation ein eigentlich gar nicht zwingender Traditionalismus, der das, was neuerdings durch den konfessionellen Gegensatz eingebrannt wurde, für uralt und spezifisch katholisch (also allumfassend) auszugeben versucht, um dadurch den Protestantismus als Erzhäresie zu erweisen. Und die aufgeklärte Rationalität sieht sich veranlasst, ihre eigene Position aus der Geschichte hinaus zu katapultieren und ihr geschichtliches Gewordensein zugunsten des Anspruchs auf allgemeine Vernünftigkeit im Sinne einer areligiösen Vernunft zu verleugnen. Die Strategien der historiographischen Konstruktion scheinen dergestalt darauf hinauszulaufen, dass sie die reflexiven Gestalten der konfessionellen Theologie oder der weltanschaulichen Philosophie neutralisieren. Würde dieser Eindruck zutreffen, dann müsste man einigermaßen hilflos die unbefriedete Pluralität der Konstruktionen eingestehen – was dann freilich zur Folge hätte, dass nur noch eine gewaltbegrenzende Politik und ein fortbestehende Ansprüche begrenzendes Recht das Miteinander der Konfessionen und Weltanschauungen zu regeln beanspruchen dürfte. Das wäre jedoch das – nun noch einmal gesteigerte, weil Philosophie und Weltanschauung mit einschließende – Eingeständnis in die Unfähigkeit einer religiösen Weltorientierung. Die Pluralität des Gedenkens träte als Indiz der untereinander friedlosen (christlichen) Religionskulturen in Erscheinung. Doch dieser Eindruck ergibt sich nur – wiewohl zwingend! – dann, wenn man sich auf die Gedankenrichtung des die Gegenwart rekonstruierenden Gedenkens festlegt; wenn man also unterstellt, dass der Vorlauf der Vergangenheit die Gegenwart so ausgehen lassen musste, wie es tatsächlich der Fall ist. Was ist die Alternative?

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Die Alternative besteht darin, das Potential der Reformation zu erinnern, also die Motivationskräfte anzueignen, die damals für einen geschichtlichen Aufbruch und Wandel gesorgt haben, und sich nicht auf die Begriffe und Vorstellungen zu fixieren, die, wie wir sahen, zu durchaus kontroversen Resultaten führten. Dazu müssen wir hinter die Formulierungen zurückgehen, die man heute gern als kategoriale Marksteine der Reformation und der reformatorischen Theologie in Anspruch nimmt – und uns (soweit das möglich ist) in die kommunikative Situation versetzen, in der solche theologischen Argumente und Strategien eingesetzt werden. In der nun folgenden Skizze geht es daher um den Versuch, an den Formulierungen der Reformation ihre bewegende und verändernde Kraft aufzuspüren. Darin, wenn überhaupt, steckt der produktive Kern der Reformation für die Zukunft des Christentums. 4. »Reformatorische Theologie«: Versuch einer Erinnerung Bevor wir uns näher auf die kommunikative Situation der Reformation einlassen, seien einige allgemeine methodische Überlegungen zu dem von mir vorgeschlagenen Konzept der Erinnerung eingeflochten. Ich gehe erstens davon aus, dass historische Ereignisse aus Impulsen erwachsen, die mehr beabsichtigen und enthalten, als sich im Handeln realisiert. Ich rechne also mit einem Überschuss an Motiven und Motivationen über die tatsächliche Wirklichkeit hinaus. Ich nehme zweitens an, dass sich diese Differenz von Absicht und Ergebnis aus den Quellen, die uns zur Verfügung stehen, ablesen lässt; ein nur unterstellter Reichweitenunterschied würde nicht genügen. Allerdings wird man die gesuchte Differenz nur bemerken, wenn man sich auf Formulierungen konzentriert, die sie aussprechen oder andeuten, zumal sie sich unterschiedlicher Semantiken bedienen können. Ich unterstelle drittens, dass es möglich

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ist, sich mit eigenen Motivationen in solche historischen Triebkräfte einzuklinken; dabei ist die Annahme, dass auch historische Projekte, wie alles in der Geschichte, nie völlig verloren gehen. Viertens werden wir fragen müssen, auf welcher Grundlage die nun besprochene Differenz kategorial erfasst werden kann: Von welcher Art ist die Symbolisierung dieses Überschusses, der ja zunächst durchaus auf Realisierung aus ist? Die Reformation, so scheint mir, ist, auch abgesehen von unserem heutigen Interesse, ein Musterfall für die Erprobung dieser methodischen Annahmen – gerade weil, wie wir gesehen haben, das Ergebnis so kontrovers ist, während doch die Intention dezidiert eine andere war: Erneuerung der Kirche statt eines konfessionellen Pluralismus. Damit kommen wir zur Situation der Reformation zurück; genauer gesagt: zu reformatorischen Situationen, von denen ich hier nur zwei auswähle, um sie idealtypisch zueinander in Beziehung zu setzen. Worauf wir also im Folgenden zu achten haben, ist das Gewebe von kommunikativer Situation und semantischem und pragmatischem Profil, mit dem man in einer gegebenen Lage auf eine historische Innovation aus ist. Darum beziehe ich mich auf Situationen, in denen reformatorische Einsichten und Anliegen gegenüber anderen (real oder virtuell) verantwortet werden müssen, also auf BekenntnisSituationen. Ich nehme dabei Überlegungen auf, die sich mir vor einiger Zeit anlässlich des Jubiläums der Schmalkaldischen Artikel aufgedrängt haben. Bekenntnis-Situationen zeichnen sich durch mindestens drei Merkmale aus. Einmal gilt es eine verbindliche Auskunft über das eigene Selbstverständnis im Verhältnis zu Gott zu geben, das aus welchen Gründen auch immer angefragt wird. Vorausgesetzt ist also eine Frage- und Verantwortungs-Situation. Diese Auskunft muss nun – zweitens – so grundsätzlich gegeben werden, dass dem Anspruch, der sich in der Frage äußert, Genüge getan wird.

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Daher kann es verschiedene Formulierungstiefen des Bekenntnisses geben. Drittens nimmt das Bekenntnis eine innovative Rolle wahr, sofern die in die Situation der Fraglichkeit eingebrachte Rechenschaft auf alle Fälle etwas Neues zum Vorschein bringt – sonst wäre das Bekenntnis ja auch gar nicht nötig gewesen. Die darin enthaltene Frage lautet jedoch, inwiefern und mit welchen Mitteln das Bekenntnis angesichts seiner Neuheit beanspruchen kann, ein in der Sache gegründetes, also nicht einfach frei erfundenes Bekenntnis zu sein. Es ergibt sich aus dem gemeinsamen Blick auf diese drei Bedingungen, dass wir es jedes Mal mit einem komplexen Geflecht von Situationswahrnehmung, Vermutungen über die Erwartung des Gegenübers und Versuchen neuartiger Formulierung zu tun haben. Der erste Fall, der uns beschäftigen soll, ist der Reichstag zu Augsburg 1530, auf dem die Confessio Augustana die Eigenart der Reformation so aussprechen wollte, dass sie vor Kaiser und Reich die reformatorische Bewegung als in der Sache gegründete und von der wahren Gestalt der Kirche gar nicht verschiedene Initiative auszuweisen im Stande war. Bevor wir uns auf die kommunikative Strategie der CA beziehen, muss aber noch ein Wort zur Dynamik der Reformation bis 1530 gesagt werden. Die Kennzeichnung der Reformation als Erneuerung der Frömmigkeit gilt es dabei in dem Sinn zu präzisieren, dass es dabei natürlich – anders wäre gar nicht denkbar gewesen – nicht um eine Bestehendes weiterentwickelnde Organisationsreform ging, wie man sich heute kirchliche Veränderungsprozesse vorstellt. Sondern es war um einen Rückgriff auf das Alte, darum schon immer Geltende zu tun, wie man es in den Grundlagendokumenten des Christentums, nämlich in der Bibel finden konnte. Nun ist dieser Rückgriff auf die Bibel aber keineswegs der – ohnehin illusorische – Versuch, die historische Situation des 16. Jahrhunderts in (Mittel-)Europa in die fiktive Lage der vorderorientalischen Antike zurückzuver-

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wandeln. Insofern handelt es sich bei dem historisch anmutenden Rückbezug um den Rückgriff auf religiöse Geltung – die nun natürlich, fünfzehn Jahrhunderte später, zu in der Tat neuen historischen Gestaltungen führen musste. Das implizite Problem dieser Art von historisch-normativem Rückgriff ist die Bestimmung des Verhältnisses zwischen dem quasi humanistischen Geltendmachen der Alten und dem spezifisch religiösen Bezug auf das ursprünglich Gemeinte. Wenn man sich das so klar macht, dann liegt es fast auf der Hand, dass die damaligen geschichtlichen Akteure vor Missverständnissen nicht gefeit waren. Das zeigt sich, um nun auf die CA zu kommen, auch an der mit dem Augsburger Text eingeschlagenen kommunikativen Strategie Melanchthons und der altgläubigen Kritik an Text und Verfahren. Dazu muss man sich noch einmal die Bedingungen vor Augen halten, unter denen die CA als Bekenntnis beabsichtigt war. Es ging ja zunächst um die reichsrechtliche Anerkennung der Reformation. Dafür war es nötig, die historische Gegründetheit der Reformation in der Tradition der Kirche nachzuweisen. Diesem Zweck dienen nicht nur die Bekenntnisformulierungen zu den dogmatischen Elementaria des Christentums wie Trinitätslehre und Christologie, sondern auch die zugeordneten Abgrenzungen von den – alten und neuen – Häresien; wer so klar die Häretiker kritisiert, kann nicht selbst einer sein. Auf der anderen Seite muss nun aber doch auch das innovative Potential der Reformation zur Sprache gebracht werden. Das geschieht so, dass eine quasi heilsgeschichtliche Abfolge aufgebaut wird, die sich auf die Pole von menschlicher Sünde und göttlicher Vergebung bezieht und der dann die Kirche lediglich als Medium des Heils eingeordnet wird, ohne dass sie ihrerseits das tragende Gerüst der Heilsgeschichte bilden würde. Aus dieser Anlage des Heilsgedankens ergeben sich dann, meint Melanchthon, die Kritikpunkte an der gegenwärtigen kirchlichen Wirklichkeit und die Ideen zu deren Veränderung. Dabei setzt

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die CA darauf, dass die Einsicht in die Fortdauer der dogmatisch korrekten Grundlagen auch die kirchliche Praxis der Gegenwart zur einer Bereitschaft müsste bewegen können, sich selbst zu re-formieren, sich also dem ursprünglich geltenden Sinn des Christentums anzupassen. Diese Strategie kann man als eine bezeichnen, die von Aussagen und der Zustimmung zu ihnen geleitet ist. Es liegt auf der Hand, dass der Nachweis der Authentizität des reformatorischen Christentums gegenüber Kaiser und Reich über die orthodoxe Benennung der christlichen Grundlehren laufen muss; anders lässt sich die historische Traditionstreue gar nicht unter Beweis stellen. Auf der anderen Seite gibt diese Strategie keine Möglichkeiten an die Hand, eine kirchliche Wirklichkeit, wie sie sich seit Jahrhunderten befestigt hat, kritisch neu zu fassen. Das gibt die Confutatio darin klar zu erkennen, dass sie entscheidenden Lehrformeln der CA zuzustimmen vermag, sich mit gleicher Entschiedenheit aber auch weigert, die kirchliche Urteilsbasis für geltende Theologie in Frage stellen zu lassen. So sehr man also Melanchthons Strategie in Augsburg verstehen und auch schätzen kann, so sehr muss man doch auch die kommunikationspraktische Grenze seines Verfahrens einsehen: Es reicht eben nicht aus, den neu aufgebrochenen Gegensatz auf der Ebene der Lehre zur Darstellung zu bringen, weil damit die Produktions- und Rezeptionsbedingungen für Lehre noch gar nicht erfasst werden können. Die gemeinte Wirklichkeit entzieht sich der Beschreibung durch Lehre, wie immer sie biblisch nachvollziehbar und begriffslogisch kohärent gefasst sein mag. Der Ausdruck des reformatorischen Aufbruchs lässt sich nicht allein in einer veränderten – und sei es auch: präzisierten – Lehre fassen. Oder anders gesagt: Der religiöse Aufbruch, als der die Reformation sich darstellt, muss sich einer anderen, nicht nur in Gestalt kirchlicher Lehre auszudrückenden Bewegung verdanken. Im Rückgriff auf die Bibel steckt noch ein anderes Potential der innovativen Veränderung der Ge-

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schichte. Man kann es auch so ausdrücken: Die Rezeption der CA durch die Confutatio (und darin durch die Normalgestalt römisch-katholischer Theologie und Kirche) nimmt die Logik des Gedenkens in Anspruch, der zufolge das, was geworden ist, die Konsequenz der Vergangenheit darstellt. Die Initiative der Reformation führt dagegen die Logik der Erinnerung ins Feld, mittels derer man sich der bewegenden Kraft inne wird, die das Christentum als Christentum entstehen ließ. Diese Initiative aber lässt sich allein über die Lehre nicht abbilden, die sich ja immer nur im Schema von Anknüpfung und Neuinterpretation bewegt. Es versteht sich nach diesen Überlegungen aber auch, warum es so schwer ist, dem Impuls der Reformation einen sprachlich adäquaten Ausdruck zu verleihen. Auf die Spur eines solchen veränderten Ausdrucks versetzen uns Luthers Schmalkaldische Artikel (SmA). Man muss es gleich zugeben: Sie sind in der evangelischen Theologie nicht sonderlich beliebt. Sie gelten nicht nur aufgrund ihrer begrenzten Wirkungsgeschichte, sondern auch wegen der scheinbaren Schroffheit mancher Formulierungen als wenig repräsentativ für eine reformatorische Theologie. Sie sind aber gerade hermeneutisch interessant, und das würde ich jetzt gern zeigen. Die entscheidende Herausforderung, die die SmA stellen, ist ihr Aufbau. Sie beginnen, darin der CA ganz ähnlich, mit der Trinitätslehre und einer sehr elementaren Christologie. Man darf diesen Eingang, der der erste Teil genannt wird, aber nur vier Sätze enthält, ebenfalls als Versicherung des gemeinsamen Christentums verstehen. Der zweite Teil nun bezieht sich auf Amt und Werk Christi oder unsere Erlösung; er besteht aus einem ersten und grundlegenden Artikel, der Christus und den gerecht machenden Glauben verbindet, und einem zweiten Artikel, der eine Kritik der Messe enthält; dabei werden aus der Messe etliche Konsequenzen gezogen, die vom Fegefeuer über Wallfahrten, Bruderschaften, Reliquien, Ablass, Heiligenverehrung, Mönch-

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tum bis zum Papsttum reichen: auf den ersten Blick eine ziemlich krude Zusammenstellung. Dann erst folgen, im dritten Teil, kontroverse, debattenbedürftige und verständigungsoffenere dogmatische Topoi: Sünde, Gesetz, Buße, Evangelium, Taufe, Abendmahl, Amt der Schlüssel, Beichte, Bann, Ordination, Priesterehe, Kirche, Rechtfertigung und Gute Werke, Mönchsgelübde, menschliche Traditionen – auch das eine Ordnung, die am Anfang noch wohlgestaltet aussieht, sich am Ende mehr und mehr ins Beliebige zu verlaufen scheint, jedenfalls dort kaum noch eine innere Sachlogik aufweist. Dieser äußerliche Befund klärt sich nur, wenn man die hermeneutische Situation des hier zu gebenden Bekenntnisses in Rechnung stellt. Anders als es in Augsburg der Fall war, sollten die SmA bekanntlich der Vorbereitung eines Konzils dienen, waren daher auf eine innerkirchliche Debatte abgestellt. Damit rückt aber der in Augsburg noch situationsbedingt unterbelichtete Aspekt des Diskursraumes, in dem überhaupt debattiert wird, ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Genau diese kommunikative Verschiebung gibt aber nun den entscheidenden Hinweis auf die eigentümliche Gliederung. Kann der erste Teil, darin der CA gleich, als Bestätigung und Versicherung des gemeinsamen Christseins gelten, kommt alles auf den zweiten Teil an. Denn da stehen zwei geistlich-kommunikative Welten gegeneinander: die Welt des Glaubens, der selbst schon die Rechtfertigung in sich trägt, und die Welt der kirchlichen Heilsvermittlung, die ihrerseits dem Zweck des Heilsgewinns dienen soll. Nimmt man diese Sichtweise ein, dann erklärt sich die ansonsten rhapsodisch wirkende Zusammenstellung der aus der Messe abgeleiteten Artikel. Und man versteht dann auch die Funktion des dritten Teils. Denn er beschreibt Diskussionspunkte, die jeweils auf der Basis der im zweiten Teil beschriebenen elementaren religiösen Lebensvollzüge zu erörtern sind, also »Lehre« im engeren Sinn, die sich stets relativ zu den sie tragenden Lebens-

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grundlagen verhält. Insofern kann man verstehen, warum Luther diese Lehrgesichtspunkte als prinzipiell verhandelbar ansieht, ohne dass er von der Auffassung abrücken müsste, die evangelische Lehre sei die angemessene und verteidigungsfähige Ausdrucksgestalt der religiösen Wirklichkeit, die der rechtfertigende Glaube darstellt. Alles kommt also darauf an, den zweiten Teil der SmA nicht als Aufstellung von Lehrgesichtspunkten zu verstehen, sondern als Beschreibung religiöser Lebenswirklichkeit. Die Reformation, so muss man das interpretieren, beruht daher auf einer religiösen Evidenz, die sich aus der Begegnung mit dem Evangelium speist, wie es sich durch die eigene Lektüre der Bibel, im Rückgriff hinter die kontinuitätsstiftende Tradition, erschlossen hat. Erst dann, wenn diese religiöse Evidenz geteilt wird, kann man auch zu einer Verständigung in der Lehre kommen. Wie gelangt man aber in diese Lage? Offenbar nur dadurch, dass man sich dem Vorschlag des reformatorischen Umgangs mit der Bibel öffnet – und es ausprobiert. Reformatorische Theologie ist dann eine »Anweisung zum seligen Leben«, die sich durch Verweis auf die sich selbst bezeugende Wirklichkeit Christi im lebendig machenden Wort Gottes vollzieht. Genau darin besteht die Erinnerung, die die Reformation verinnerlicht hat: Dass das Licht dieses Wortes Gottes aufgeht, wenn man sich dem Ursprung des Glaubens aussetzt. Die Verkündigung stellt dann die Aufforderung und Einladung dar, diese Bewegung zu vollziehen – und keinesfalls einen eigenen Typ von kirchlicher Vermittlung (nun etwa über das Wort statt über das Sakrament). Die Kritik der Reformation an der Kirche ihrer Zeit geht daher nicht vom historischen Anfang des Christentums aus und profiliert diesen gegen die Tradition; das wäre ja nur eine neue Variante von Tradition. Vielmehr ist die Kritik Konsequenz des Bezuges auf die religiös umgestaltend wirksame Kraft des Wortes Gottes, die in der Erfahrung vorliegt und sich in einer Veränderung des Lebens vollzieht. Der Überschuss in

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der reformatorischen Motivation besteht eben in dem Rückbezug auf diese religiös verändernde Kraft Gottes. Indem an diese Kraft Gottes (worunter ja auch, wie wir aus dem »großen Selbstzeugnis« wissen, die Gerechtigkeit Gottes verstanden werden kann) erinnert wird, geht die Reformation davon aus, dass es genau diese Kraft ist, die sich auch historisch auswirkt. Nun wird man sagen müssen, dass diese Zukunft eröffnende Erinnerung nicht überall in dem Sinn gewirkt hat, wie das zu erwarten war; wir wissen ja auch um Luthers eigene Enttäuschung angesichts der ausbleibenden Evidenz der reformatorischen Botschaft, die in genau diesem Hinweis auf die Wirksamkeit Gotte selbst bestand. Dafür ließen sich verschiedene Gründe anführen – auf Seiten der Altgläubigen ebenso wie auf Seiten der reformatorisch Gesinnten; vor allem liegen sie in dem Bewusstsein, durch die eigene historische Tat das religiös Entscheidende vermitteln zu wollen. Aber alle diese Gründe sind nicht ausreichend, denn sie stehen ja schon kategorial betrachtet nicht auf derselben Stufe wie die Selbstwirksamkeit des Wortes Gottes. Das bedeutet freilich umgekehrt, dass die historische Kraft des reformatorischen Impulses auch durch die begrenzte Durchsetzungskraft der Reformation nicht aufgehoben ist oder auch nur eingeschränkt werden kann. Vielmehr ist durch die Erinnerung an die religiöse Bewegungskraft des Evangeliums immer wieder eine Initiative in der Geschichte denkbar und erlaubt, die aus dieser Kraft zehrt, weil sie sich selbst von ihr überzeugen ließ. Ich habe mich jetzt in paradigmatischer Absicht auf zwei unterschiedlich konfigurierte Bekenntnis-Situationen bezogen. Der vor allem an den SmA entfaltete Sinn der reformatorischen Intuition müsste sich nun aber auch an anderen Texten der Reformatoren zeigen lassen. Ein erster Hinweis auf das Vorkommen dieser Dynamik könnte darin bestehen, dass man die in Luthers Texten oftmals zu beobachtende Redundanz als Inszenierung des praktischen

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Effekts der religiösen Wirklichkeit des Wortes Gottes entziffern würde. Die logische Struktur der Rechtfertigung ist ja ziemlich einfach zu erklären, darum kann es also nicht gehen, wenn dieselbe noch und noch wiederholt wird. Auch die sprachliche Vielfalt, mit der Luther die mit der Rechtfertigung gemeinte religiöse Wirklichkeit zur Darstellung bringt, spricht für eine solche eher kommunikationspragmatisch zu verstehende Inszenierung. Der Gedanke vom wirkenden Wort Gottes liefert ein zusätzliches Argument. Doch selbstverständlich müsste das alles genauer untersucht und noch präziser entfaltet werden. Worauf also sollte man sich einstellen, wenn man nach dem Überschuss der zukunftseröffnenden Erinnerung über das die Gegenwart rekonstruierende Gedenken fragt? Ich denke, auf dreierlei. Erstens ist es darum zu tun, dem eigenen Wollen und Vorhaben einen Überschuss über das im Handeln zu realisierende Resultat zuzugestehen. Das ist die sozusagen anthropologische Basis meiner Unterscheidung von Erinnern und Gedenken. Sodann ist die Frage zu stellen nach dem Ursprung dieses handlungsübergreifenden Überschusses. Dafür kommen unterschiedliche Kriterien in Betracht, die man grundsätzlich in utopisch ausgreifende, pflichtmäßig verbindliche und religiös begründete differenzieren könnte. Dass dabei, kategorial betrachtet, dem religiösen Grund eine besondere Rolle zukommt, wäre auszuweisen, ließe sich aber zeigen. Drittens schließlich könnte man mit einer solchen Differenzierung vor Augen auch die geschichtlichen Aufbrüche betrachten – unter der fragenden Perspektive, welche Motivationen und Überzeugungen sich denn von uns heute aneignen ließen. Dass auch da der religiösen Motivlage eine besondere Funktion zukommt, kann nicht nur für Christenmenschen plausibel gemacht werden, für diese aber ganz bestimmt. Man könnte sagen, dass die Reformation sich ganz besonders deutlich auf denjenigen Überschuss über die vorhandene Wirklichkeit eingestellt hat, die mit dem biblischen Begriff des Reiches

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Gottes gemeint ist. Insofern ist die Erinnerung des Reiches Gottes der am weitesten ausgreifende Impuls für geschichtliche Neuaufbrüche. 5. Reformatorische Theologie – ein Leitbild? Ich komme damit abschließend zu einer Antwort auf die Frage meines Vortragstitels. Unter reformatorischer Theologie ist demnach nicht einfach eine neue Konstellation theologischer Begriffe und Argumente zu verstehen, die in der Traditionsgeschichte des Christentums im 16. Jahrhundert in Gebrauch gekommen ist und von der die historisch nachfolgende Kirche und Theologie zehren, sodass sie die dort gegebenen Bestimmungen in ihrer Gegenwart zu aktualisieren hätten. Das wäre ein Verständnis reformatorischer Theologie, das nicht nur ganz in dem Gegensatz befangen bliebe, unter dem sie sich anfänglich artikuliert hat, sondern die auch nicht wirklich eine Alternative zu ihrer Herkunftstheologie darstellte, weil auch in ihr der Vorrang der rechten Lehre vor der Wirklichkeit des Wortes Gottes festschrieben wäre. Vielmehr kann die Leitbildfunktion reformatorischer Theologie nur darin bestehen, zu einer eigenen Wahrnehmung des Evangeliums anzuleiten – und dabei darauf zu vertrauen, dass sich dessen Selbstbezeugung auch gegen die – ich würde sagen: unvermeidlichen – Versuche durchsetzt, dessen Wirklichkeit in die eigene Hand zu nehmen. Eine reformatorische Theologie hätte dann immer mit der die eigene gedankliche und institutionelle Verfügung kritisierenden Wirklichkeit des Reiches Gottes, der Kraft Gottes, der Gerechtigkeit Gottes zu rechnen – und die, die mit ihr umgehen, auf die Erwartung dieses Wirkens einzustellen. Dieses Ergebnis wirft nun auch ein Licht auf den Umgang mit dem Reformations-Gedenken. Denn von unseren Überlegungen her müsste man sagen: Die Kontinuität des

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»reformatorischen Erbes« besteht eben in der Diskontinuität der Selbstdurchsetzung des Evangeliums. Die geistesgeschichtlichen Züge, die dieses Wirken des Evangeliums hinterlassen hat und die man keinesfalls geringschätzen darf, sind doch nichts anderes als Spuren einer Wirklichkeit, die gerade nicht in ihren kulturgeschichtlichen Umständen aufgeht. Die Bedeutung der Reformation also auf diese Wirkungen zu beschränken oder auf diese aufzubauen, stellt selbst einen Traditionalismus dar, der aus Gründen reformatorischer Theologie der Kritik zu unterwerfen ist. Das bedeutet weiter für das Verhältnis zum römischen Katholizismus, dass es nicht auf eine religiöse Konkurrenz ankommt, die kultur- und religionspolitisch auszutragen wäre. Denn in der Wirklichkeit des katholischen Glaubens geht es ja der Sache nach um nichts anderes als um die Christuswirklichkeit oder die Wirklichkeit des Wortes Gottes, von denen auch die Rechtfertigungslehre zeugt. Die katholische Kirche könnte und sollte die Reformation erinnern (und ihrer nicht nur abgrenzend gedenken), indem sie sich zu den Aufbrüchen bekennt, die in ihr selbst unter Rückgriff auf die kirchlich nicht zu domestizierende Kraft Gottes stattfinden. Sie sollte also durch die Reformation selbst authentischer, katholischer werden, indem sie gegenüber der sie selbst einengenden Tradition Freiheit gewinnt. Schließlich darf man auch die aufgeklärten Freunde daran erinnern, dass ihr Rückgriff auf die Vernunft, der ja insgesamt schätzenswert ist und dem unsereins gern beistimmt, die Naivität eines unmittelbaren Zugriff auf die Wahrheit nicht in Anspruch nehmen kann. Auch die Wahrheit der Vernunft ist vermittelt durch die Geschichte, und die notwendigerweise geschichtstranszendierenden Überschüsse in den Erneuerungen der Geschichte bedürfen einer Kontextualisierung mit anderen, auch den religiösen Umgangsformen mit der Welt. In diesem selbst vermittelten Sinne lässt sich in der Tat von der reformatorischen Theologie als einem Leitbild reden.

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Literatur Der Zusammenhang der Debatten über Gedenk- bzw. Erinnerungskultur mit dem Nationalsozialismus in Deutschland lässt sich gut studieren am Dossier: Geschichte und Erinnerung der Bundeszentrale für politische Bildung: www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/geschichte-und-erinnerung (letzter Zugriff: 27.1.2016). Eine kritische Fortführung der Konsequenzen dieser Debatte findet sich bei V. Knigge, Die Zukunft der Erinnerung (in: Aus Politik und Zeitgeschichte 25–26 [2010]). URL: www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/geschichte-und-erinnerung/39870/ zukunft-der-erinnerung?p=all (letzter Zugriff: 27.1.2016). Die reformatorischen Texte aus der Reformationszeit liegen vor in BSLK: Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-lutherischen Kirche. Vollständige Neuedition, hg. v. I. Dingel, Bd. 1, Göttingen 2015; darin die Confessio Augustana (CA), 84–225, die Schmalkaldischen Artikel (SmA), 718–785, die Augsburger Entgegnung der altgläubigen Theologen bietet: Die Confutatio der Confessio Augustana vom 3. August 1530, hg. v. von H. Immenkötter, Münster 21981.

Die Rechtfertigungslehre Motor der Reformation? Wolf-Friedrich Schäufele

1. Die EKD und die Historiker Rechtfertigung und Geschichtspolitik im Vorfeld des Reformationsjubiläums 2017 Seit 2014 hat auch die Lutherdekade ihren »Historikerstreit«. Auf diesen Begriff brachte jedenfalls Thies Gundlach, Vizepräsident des Kirchenamtes der EKD, die Debatte, die seit dem Mai jenes Jahres um den neuen Grundlagentext der EKD »Rechtfertigung und Freiheit«1 in überregionalen Tageszeitungen und der evangelischen Zeitschrift »Zeitzeichen« ausgetragen wurde.2 Auf der einen Seite standen als scharfe Kritiker des Papiers der Göttinger Kirchenhistoriker Thomas Kaufmann und der Berliner Historiker Heinz Schilling.3 Auf der anderen Seite meldeten sich die Kirchenhistoriker Christoph Markschies (Berlin), Volker Leppin (Tübingen) und Christoph Strohm (Heidelberg) zu Wort, von denen die ersten beiden als Vorsitzen1 Rechtfertigung und Freiheit. 500 Jahre Reformation 2017. Ein Grundlagentext des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Gütersloh 2014, 42015. www.ekd.de/download/2014_rechtfertigung_ und_freiheit.pdf (letzter Zugriff: 11.1.2016). 2 Interview Gundlachs mit dem Evangelischen Pressedienst (epd) vom 30.5.2014. 3 Vgl. T. Kaufmann / H. Schilling, Luther-Ideologie (in: Die Welt, 24.5.2014 [in der Online-Ausgabe wurde der Titel inzwischen geändert in: »Die EKD hat ein ideologisches Luther-Bild«]); ähnlich T. Kaufmann in der Süddeutschen Zeitung vom 1.7.2014. Vgl. T. Kaufmann, Geschichtslose Reformation (in: Zeitzeichen 8 [2014]).

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der bzw. als Mitglied der Ad-hoc-Kommission der EKD das umstrittene Papier mit verantwortet haben.4 Mittlerweile sind die Argumente ausgetauscht, und die Debatte, die einige verbale Schärfen enthielt, ist in ruhigere Bahnen eingeschwenkt. Tatsächlich sind die Beteiligten in ihren fachwissenschaftlichen Positionen gar nicht so weit auseinander. Umstritten ist vor allem die Einschätzung des Stellenwertes, der dem Text »Rechtfertigung und Freiheit« in der Selbstverständigung und Selbstdarstellung der EKD zugedacht ist. Handelt es sich, wie die Kritiker befürchten, um den Versuch, kirchenamtlich die Deutungshoheit über das Phänomen »Reformation« und dessen Gegenwartsrelevanz zu usurpieren und ein altes, auf die Rechtfertigungslehre kapriziertes rein theologisches Verständnis von Reformation zu zementieren, das durch die Forschung des letzten Halbjahrhunderts wissenschaftlich überholt und im Gespräch mit der säkularen Gesellschaft der Gegenwart unbrauchbar ist? Oder ist die EKD lediglich ihrer originären Aufgabe theologischer Selbstbesinnung nachgekommen, indem sie ein zentrales und für die konfessionelle Identität des Protestantismus bestimmendes Theologumenon der Reformation auf Möglichkeiten seiner Aktualisierung für unsere Gegenwart beleuchtet? Unabhängig von der Antwort darauf hat der jüngste »Historikerstreit« die Sachfrage nach der historischen Bedeutung der Rechtfertigungslehre für die Reformation wieder auf die Tagesordnung gebracht. Dabei haben beide Seiten in der Debatte auf eine bestimmte Formulierung rekurriert, deren Ursprung im Umfeld des Reformationsjubiläums von 1917 liegt. Damals hatte der Tübinger Historiker Jo4

Vgl. C. Markschies, Die EKD bleibt bei der Theologie und das ist gut so (in: Die Welt, 6.6.2014), ähnlich in: Zeitzeichen 7 (2014); V. Leppin, Zutiefst evangelisch, zutiefst ökumenisch (auf: katholisch.de, 30.6.2014); C. Strohm, Konkurrenz belebt das Geschäft (in: Zeitzeichen 9 [2014]).

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hannes Haller es gegen Heinrich Boehmer für unvorstellbar erklärt, dass es die Rechtfertigungslehre gewesen sei, die im 16. Jahrhundert »die Massen in Bewegung gebracht haben sollte«.5 Karl Holl hatte dagegen im Gegenzug die von Haller zugleich geprägte und abgewiesene Formulierung verteidigt.6 1995 hat dann Bernd Moeller in ausdrücklicher Anknüpfung an Hallers Diktion die These erneuert, »es sei Luthers ›Rechtfertigungslehre‹ gewesen, die ›die Massen in Bewegung gebracht‹ hat«.7 Im jüngsten »Historikerstreit« hat sich Christoph Markschies wiederum auf dieses Diktum Moellers berufen,8 Thomas Kaufmann hat sich davon abgegrenzt.9 Die reformationsgeschichtliche Sachfrage, die zu klären bleibt, könnte demnach folgendermaßen formuliert werden: Hat die Rechtfertigungslehre in der Reformation »die Massen in Bewegung gebracht«? Ist es historisch zutreffend, ihr die entscheidende motivierende und mobilisierende Wirkung für das Reformationsgeschehen zuzuschreiben? Oder, in metaphorischer Zuspitzung: War die Rechtfertigungslehre der »Motor der Reformation«?

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J. Haller, Die Ursachen der Reformation. Tübingen 1917, 42. Vgl. K. Holl, Die Rechtfertigungslehre im Licht der Geschichte des Protestantismus (Tübingen 21922), (in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte, Bd. 3: Der Westen, Tübingen 1928, 525–557), 534: »Wenn der heutige Geschichtsforscher nicht mehr begreift, dass eine ins einzelne ausgeführte Lehre […] die Massen hätte in Bewegung setzen sollen, so beweist er damit nur, wie fremd ihm innerlich diese ganze Zeit geworden ist«. 7 B. Moeller, Die Rezeption Luthers in der frühen Reformation (in: B. Hamm u.a. [Hg.], Reformationstheorien. Ein kirchenhistorischer Disput über Einheit und Vielfalt der Reformation. Göttingen 1995, 9– 29), 27. 8 Vgl. Markschies, Die EKD bleibt bei der Theologie (s. Anm. 4). 9 Vgl. Kaufmann, Geschichtslose Reformation (s. Anm. 3).

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2. Die Lutherrenaissance und die »kopernikanische Wende« der Reformationsdeutung im Umfeld des Reformationsjubiläums 1917 Unsere Frage geht, wie wir sahen, auf eine Debatte im Umkreis des Reformationsjubiläums von 1917 zurück. Damals entstand das ungemein wirkungsmächtige theologisch-historische Narrativ, das die motivierende und mobilisierende Wirkung der Rechtfertigungslehre ins Zentrum der Reformationsdeutung stellt. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts hatte das Augenmerk der Forschung vor allem den Missständen und der Reformbedürftigkeit der spätmittelalterlichen Kirche als Ursachen der Reformation gegolten. Die kirchliche Misere der Zeit habe, einem gewaltigen Pulverfass gleich, nur noch des zündenden Funkens bedurft, um zur Explosion zu kommen. Auf dieses einprägsame Bild hat Johannes Haller seine Sicht des Reformationsgeschehens gebracht.10 Luther und seiner Theologie kam in diesem Szenario nur eine prinzipiell austauschbare Nebenrolle zu. Das neue Narrativ bedeutete demgegenüber geradezu eine »kopernikanische Wende der Reformationsdeutung«.11 Historisch ist es mit der sogenannten Lutherrenaissance12 verbunden, deren bekanntester Vertreter der Berliner Kirchenhistoriker Karl Holl (1866–1926) war.13 Demnach war die Reformation nicht bloße Gegenreaktion gegen kirchliche 10 11

Haller, Ursachen (s. Anm. 5), 6f., 30. T. Kaufmann, Der Anfang der Reformation. Studien zur Kontextualität der Theologie, Publizistik und Inszenierung Luthers und der reformatorischen Bewegung (SMHR 67), Tübingen 2012, 7. 12 Vgl. H. Assel, Der andere Aufbruch. Die Lutherrenaissance – Ursprünge, Aporien und Wege: Karl Holl, Emanuel Hirsch, Rudolf Herrmann (1910–1935) (Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie 72), Göttingen 1994; C. Helmer / H. Assel (Hg.), Lutherrenaissance: Past and Present (FKDG 106), Göttingen 2015. 13 Vgl. H. Assel, Art. Holl (in: RGG4 3 [2000]), Sp. 1843.

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Missstände, sondern eine positive, schöpferische religiöse Leistung. In ihrem Zentrum stand die theologische Entdeckung Luthers, sein reformatorischer Durchbruch zur Einsicht in die Rechtfertigung des Sünders aus Gnade um Christi willen durch den Glauben. Damit wurde die Bedeutung Luthers für das Reformationsgeschehen deutlich aufgewertet. Seine theologische Erkenntnis habe befreiend, motivierend und mobilisierend gewirkt, sie habe »die Massen in Bewegung gebracht« und das kirchliche System des Mittelalters davongefegt. Dieselbe theologische Einsicht von der Rechtfertigung aus Glauben gelte es auch für die Gegenwart wiederzugewinnen und in ihrer aktuellen Bedeutung zu entdecken. Das neue historische Narrativ von der Rechtfertigungslehre als Motor der Reformation war insofern Ergebnis eines »Theologisierungsschubes«14 und kann gemeinsam mit der gleichzeitig aufgebrochenen Dialektischen Theologie als Teil einer »antihistoristischen Revolution« verstanden werden. Andererseits nahm dieses Narrativ verschiedene neuere fachwissenschaftliche Forschungsergebnisse und Forschungstendenzen auf. Vor allem entsprach es dem damals neu erwachten Interesse am sogenannten »jungen Luther«.15 Anhand der neu entdeckten frühen Vorlesungen Luthers fragte man nach Zeitpunkt und Inhalt seiner reformatorischen Entdeckung. Dabei orientierte man sich an dem großen Selbstzeugnis des Reformators aus dem Jahr 1545, welches das durchbruchsartig erlangte neue Verständnis der Gottesgerechtigkeit nach Röm 1,17 ins Zentrum stellte.16 Luther selbst war, so deutete man diese Quelle, durch die Entdeckung der Rechtfertigungslehre zum Reformator 14 15

Kaufmann, Anfang der Reformation (s. Anm. 11), 6. T. Kaufmann, Fragmentarische Existenz: Der »alte« und der »junge« Luther als theologisches Problem (in: ders., Anfang der Reformation [s. Anm. 11]), 589–607. 16 Vgl. WA 54, 185, 12–186, 20.

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geworden, und es war eben die Rechtfertigungslehre, die auch seine Zeitgenossen ergriffen und die Reformation ausgelöst hatte. In dieser Hochschätzung der Rechtfertigungslehre knüpfte das neue reformationsgeschichtliche Narrativ an Erträge der dogmatischen Arbeit des 19. Jahrhunderts an. Hier waren die Rechtfertigung des Sünders aus Glauben und die alleinige Normativität der Heiligen Schrift als die wesentlichen Grundsätze Luthers, ja des Protestantismus insgesamt identifiziert worden. Diese Auffassung fand sich bereits 1814 bei dem rationalistischen Theologen Karl Gottlieb Bretschneider, der auch schon von einem »materialen« und einem »formalen Princip« sprach.17 In der Schule Schleiermachers wurde die – theologisch problematische18 – Rede von der Rechtfertigungslehre als dem Materialprinzip des Protestantismus und der alleinigen Schriftautorität als seinem Formalprinzip dann zum Gemeingut. Albrecht Ritschl hatte die Rechtfertigungslehre, die er freilich anders behandelte als die Reformatoren, sogar zum Ausgangspunkt einer erneuerten evangelischen Dogmatik machen wollen.19 Es gehörte zu den Grundüberzeugungen der Lutherrenaissance, dass die reformatorische Rechtfertigungslehre nicht ein ferner Gegenstand der Theologiegeschichte, sondern eine zeitlos gültige theologische Einsicht von unmittelbarer Gegenwartsrelevanz sei. Karl Holl hat dies 1907 in seinem berühmten Aufsatz »Was hat die Rechtfertigungslehre dem modernen Menschen zu sagen?«20 nachzuweisen versucht. Auch der EKD-Grundlagentext »Rechtfertigung und Freiheit« behauptet eine derartige Relevanz. Demgegenüber hat 17 K.G. Bretschneider, Handbuch der Dogmatik der evangelisch-lutherischen Kirche, Bd. 1, Leipzig 1814, 4. Aufl. 1838, 54f. Vgl. A. Beutel, Kirchengeschichte im Zeitalter der Aufklärung, Göttingen 2009, 161. 18 Vgl. A. Peters, Rechtfertigung (HST 12), Gütersloh 21990, 31. 19 Vgl. A. Ritschl, Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung, 3 Bde., Bonn 1870–1874. 20 Wieder in: Holl, Gesammelte Aufsätze, Bd. 3 (s. Anm. 6), 558–567.

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etwa der Hallenser Systematiker Ulrich Barth in einem Zeitungsinterview zum Reformationstag 2014 eine solche bestritten.21 Wir können diese systematisch-theologische Frage hier nicht weiter erörtern. Stattdessen wollen wir uns allein der historischen Frage stellen, ob und inwiefern die Rechtfertigungslehre als Motor, das heißt als motivierende und mobilisierende Ursache der reformatorischen Umwälzungen des 16. Jahrhunderts bezeichnet werden kann. 3. Die These von der Rechtfertigungslehre als Motor der Reformation im Licht der neueren Forschung Die Formel von der Rechtfertigungslehre als Motor der Reformation erhebt einen hohen, heute geradezu vermessen scheinenden Anspruch. Einerseits beansprucht sie, eine einzige maßgebliche Ursache und Triebkraft des Reformationsgeschehens zu identifizieren, andererseits verspricht sie nichts weniger, als eine historische und theologische Begründung der Einheit der Reformation zu leisten. Beides erscheint angesichts der Befunde der reformationsgeschichtlichen Forschung der letzten Jahrzehnte problematisch. 3.1 Die eine Ursache der Reformation Es ist heute Konsens, dass eine monokausale Erklärung des komplexen historischen Geschehens, das wir »die Reformation« nennen, zu kurz greifen würde. In den Motiven der historischen Akteure waren stets verschiedene Faktoren miteinander verflochten: religiös-theologische, politische, wirtschaftliche, soziale, kulturelle. Erschwerend kommt hinzu, dass dabei nicht allein kurzfristige, aus der unmittel21 R. Bingener, »Gott bleibt bei Luther immer auch ein Rätsel«. Im Gespräch: Der evangelische Theologe Ulrich Barth zum Reformationstag (in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 31.10.2014).

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baren Zeitstellung erklärbare Motive wirkten, sondern dass die reformatorischen Veränderungen in langfristige Prozesse historischen Wandels eingebettet waren, die teilweise schon im hohen Mittelalter einsetzten und bis in die beginnende Moderne hinein fortdauerten. Diese beiden Befunde wurden in verschiedenen Forschungsdebatten seit der Mitte des 20. Jahrhunderts thematisiert. Die Frage nach dem Stellenwert langfristiger oder kurzfristiger Ursachen führte zur Debatte um den Epochencharakter der Reformation: Handelt es sich um eine scharfe Zäsur im Geschichtsverlauf oder nur um eine Etappe im Ablauf langfristiger Transformationsprozesse? Positionen, denen über der Betonung der longue durée historischen Wandels »die Reformation abhanden gekommen«22 ist, stehen hier solchen gegenüber, die den Zäsur- und Epochencharakter der Reformation verteidigen.23 Die Frage nach dem Stellenwert theologischer bzw. nichttheologischer Faktoren für die Auslösung der Reformation hat dazu geführt, dass die Forschung nicht nur die seit Ranke traditionell stark beachtete politische Dimension der Reformation berücksichtigt, sondern sich seit den 1960er Jahren auch sozialgeschichtlichen und seit den 1990er Jahren kulturgeschichtlichen Fragestellungen geöffnet hat. Während die theologische Reformationsgeschichtsforschung dazu neigt, die Bedeutung der theologischen Faktoren stärker zu gewichten, werden in der historischen, namentlich sozialgeschichtlich orientierten Forschung diese teilweise unterschätzt. 22 So die berühmte Formulierung von H. Schilling, Reformation – Umbruch oder Gipfelpunkt eines Temps des Réformes (in: B. Moeller [Hg.], Die frühe Reformation in Deutschland als Umbruch [SVRG 199], Gütersloh 1998, 13–34), 13. 23 Vgl. T. Kaufmann, Geschichte der Reformation, Frankfurt a.M. / Leipzig 2009, 20–30; A. Lexutt, Die Reformation. Ein Ereignis macht Epoche, Köln/Weimar/Wien 2009, 9–26.

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Die Frage nach dem »Motor« der Reformation kann nach dem Gesagten nicht mehr bedeuten, eine einzige historische Ursache des Geschehens zu identifizieren. Allenfalls kann es darum gehen, eine Hauptursache aus der Vielzahl der Mitursachen herauszuheben. Dass es möglich und sinnvoll sei, eine solche konkrete Hauptursache zu identifizieren und dass es sich bei dieser Hauptursache um eine theologische handele, wird bei den folgenden Überlegungen vorausgesetzt, ohne dass damit die Bedeutung langfristiger und nicht-theologischer Faktoren geleugnet werden soll. 3.2 Die Einheit der Reformation Indem die Luther-Renaissance die Rechtfertigungslehre als Motor »der Reformation« identifizierte, gab sie damit zugleich eine Begründung für die Einheit des so bezeichneten Phänomens. Heute sehen wir sehr viel deutlicher, welch ein gewagtes Unterfangen es ist, pauschale Urteile über »die Reformation« schlechthin zu fällen. Die differenzierte Erforschung der Reformationsgeschichte hat uns den Blick dafür geschärft, wie vielfältig das Phänomen »Reformation« sich im konkreten Fall darstellt. Unter dem Eindruck dieser Vielfalt sprechen inzwischen einige Forscher wie etwa Carter Lindberg nur noch von »den Reformationen« im Plural.24 Gleichwohl besteht noch immer ein breiter Konsens, dass die Rede von »der Reformation« im Singular und von der Einheit der Reformation berechtigt sei – selbstverständlich einer Einheit, die nicht als Uniformität missverstanden werden darf. Zunächst einmal stellt sich die Reformation in der Außenperspektive des gegenreformatorischen römischen

24

C. Lindberg, The European Reformations, Oxford u.a. 1996, XII.

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Katholizismus als Einheit dar.25 Doch auch in der Innenperspektive lässt sich eine solche Einheit aufweisen. Einen empirischen Anhalt dafür bieten zahlreiche zeitgenössische Quellenzeugnisse, die belegen, dass trotz Differenzen, ja trotz als kirchentrennend empfundener Gegensätze das Bewusstsein einer grundlegenden Gemeinsamkeit des reformatorischen Lagers bestand. Es sei in diesem Zusammenhang an die Marburger Artikel von 152926 und an den Briefwechsel Heinrich Bullingers und der eidgenössischen Gesandten mit Luther im Jahr 153827 erinnert. Die konzeptionelle Begründung dieser Einheit der Reformation kann historisch-genetisch betrieben werden. Man geht dann davon aus, dass es einen einzigen historischen Ursprung der Reformation gab, aus dem die spätere Vielfalt des Reformatorischen durch diachrone Entfaltung und Diversifizierung hervorging. Die Einheit der Reformation kann aber auch material begründet werden, durch gemeinsame Grundüberzeugungen und Grundanliegen, die bei aller sonstigen Diversität und Kontroversialität einen höheren Zusammenhang verbürgen. Die These von der Rechtfertigungslehre als Motor der Reformation verbindet beide Erklärungsmodelle, indem sie die Einheit der Reformation historisch auf die reformatorische Entdeckung Luthers und material auf die Rechtfertigungslehre als Inhalt dieser Entdeckung zurückführt.28 25 Vgl. D. Wendebourg Die Einheit der Reformation als historisches Problem (in: Hamm u.a. [Hg.], Reformationstheorien [s. Anm. 7], 30– 51). 26 A.a.O., 40. – Zu den Marburger Artikeln insgesamt vgl. W.-F. Schäufele (Hg.), Die Marburger Artikel als Zeugnis der Einheit, Leipzig 2012. 27 WA.B 8, 207f. (Nr. 3222); 223f. (Nr. 3229); 241f. (Nr. 3240); 281–285 (Nr. 3256). Vgl. B. Moeller, Replik (in: Hamm u.a. [Hg.], Reformationstheorien [s. Anm. 7], 52–56), 52. 28 Vgl. V. Leppin, Wie reformatorisch war die Reformation? (in: ZThK 99 [2002], 162–176), 164.

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Beide Begründungsfiguren müssen sich kritischen Anfragen stellen. Vor allem ist fraglich, ob das gesamte Reformationsgeschehen genetisch auf das Auftreten und den beispiellosen publizistischen Erfolg Luthers zurückgeführt werden kann oder ob es auch andere Wurzeln hatte. In der Forschung ist die Frage nach dem Einfluss Luthers und seiner Theologie in der ersten Hälfte der 1520er Jahre unter der Alternative »Wildwuchs der Reformation« oder »lutherische Engführung« verhandelt worden. Während Franz Lau mit dem Begriff des »Wildwuchses« die »ungenormte« divergierende Vielfalt reformatorischer Predigt und Praxis in den Jahren vor dem Bauernkrieg betonte,29 gelangte Bernd Moeller für dieselbe Zeit zu dem entgegengesetzten Befund einer erstaunlichen Homogenität der durchgängig von Luthers Theologie geprägten Predigtinhalte, eben jener »lutherischen Engführung«.30 Tatsächlich müssen beide Feststellungen einander nicht ausschließen. So spricht Berndt Hamm von einer »Dominanz der Luther-Rezeption in allen Regionen, in allen Bereichen und auf allen Ebenen der Reformation«, betont aber zugleich die davon unablösbare Multiformität der Reformation.31 Es wäre trotzdem noch denkbar, dass sich einzelne reformatorische Bewegungen in zeitlicher Parallelität, aber ohne wesentliche inhaltliche Beeinflussung durch Luther entwickelt hätten. Vor allem für die Zürcher Reformation Ulrich Zwinglis wurde diese Möglichkeit erwogen. Zwingli selbst hatte ja seine Unabhängigkeit von Luther betont und den Beginn seines eigenen reformatorischen Wirkens sogar auf 29

F. Lau / E. Bizer, Reformationsgeschichte Deutschlands bis 1555 (KiG 3, Lfg. K), Göttingen1964, 32f. 30 B. Moeller, Was wurde in der Frühzeit der Reformation in den deutschen Städten gepredigt? (in: ARG 75 [1984], 176–193). Vgl. Moeller, Die Rezeption Luthers (s. Anm. 7), bes. 18–22. 31 B. Hamm, Einheit und Vielfalt der Reformation – oder: was die Reformation zur Reformation machte (in: Hamm u.a. [Hg.], Reformationstheorien [s. Anm. 79], 57–127), 104, außerdem Seite 119.

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das Jahr 1516 zurückdatiert.32 In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts versuchte auch die schweizerische Reformationsforschung, Zwinglis theologische Originalität und Eigenständigkeit gegenüber Luther nachzuweisen.33 Angesichts dieser Tendenzen ist Martin Brechts Urteil zutreffend, dass mit der Beurteilung von Zwinglis Theologie die Entscheidung fällt, »ob und inwiefern es eine Einheit reformatorischer Theologie oder einen Pluralismus verschiedener Theologien gibt«.34 Nun hat sich mittlerweile gezeigt, dass Zwingli seit 1518/19, also noch vor seinem reformatorischen Auftreten in Zürich, intensiv Schriften Luthers studiert und daraus wichtige Impulse erhalten hat.35 Insofern ist auch seine Zürcher Reformation Teil der Wirkungsgeschichte Luthers. Aber Zwingli hat doch ganz andere Akzente gesetzt, und in der Ausgestaltung seiner Theologie hat er eigene Wege beschritten, sodass man bei ihm nicht mehr im engeren Sinne von Luther-Rezeption reden kann. Vergleichbares wäre für Thomas Müntzer oder Andreas Karlstadt, für Melchior Hoffmann oder Kaspar von Schwenckfeld zu sagen. Historisch-genetisch kann die Einheit der Reformation also vielleicht als Wirkungsgeschichte, aber nur mit Einschränkung als Rezeptionsgeschichte Luthers beschrieben werden. Eine kausal-historische Begründung der Einheit der Reformation in der reformatorischen Entdeckung Luthers wäre demnach nur mit Schwierigkeiten möglich.

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Huldreich Zwinglis Sämtliche Werke, Bd. 1 (CR 88), Berlin 1905, 145, Z. 1. 33 So erstmals dezidiert A. Rich, Die Anfänge der Theologie Huldrych Zwinglis, Zürich 1949. 34 M. Brecht, Theologie oder Theologien der Reformation (in: H.R. Guggisberg / G.G. Krodel [Hg.], Die Reformation in Deutschland und Europa: Interpretationen und Debatten, Gütersloh 1993, 99–117), 113. 35 Vgl. V. Leppin, Art. Zwingli (in: TRE 36 [2004], 793–809), 795.

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Im Zusammenhang unserer Fragestellung ist freilich ohnehin die materiale Begründung der Einheit der Reformation von größerem Interesse: Kann die Rechtfertigungslehre als eine solche materiale Einheitsbasis gelten? Oder lässt sich womöglich ein anderer Motor, eine andere Einheitsbasis namhaft machen? 4. Die Rechtfertigungslehre und die Einheit der Reformation »Die Rechtfertigungslehre« als Einheitsbasis der Reformation zu identifizieren, würde den Nachweis voraussetzen, dass es überhaupt so etwas wie eine gemein-reformatorische Rechtfertigungslehre gegeben hat. Berndt Hamm hat sich der diffizilen Frage nach der »reformatorischen Rechtfertigungslehre« 1985 in seiner Erlanger Antrittsvorlesung gewidmet.36 Er hat dabei an Luther, Melanchthon, Zwingli und Calvin nachzuweisen versucht, dass im Zentrum der durch diese vier Theologen verkörperten Hauptgestalten reformatorischer Lehrbildung ein gemeinsames, im Gegenüber zur mittelalterlichen Theologie systemsprengendes Verständnis der Rechtfertigung des Sünders aus Glauben stand. Für dieses gemeinreformatorische Rechtfertigungsverständnis arbeitete Hamm verschiedene Charakteristika heraus, deren wichtigstes die Bedingungslosigkeit der Vergebung war; dazu kamen die Radikalität der Sündenauffassung, die Gleichzeitigkeit von fortwährender Sünde und im Glauben bereits realisierter Gerechtigkeit, die Heilsgewissheit, die Bindung des Glaubens an das biblische Wort usw. In ähnlicher Weise hat Martin Brecht 1990 die Frage nach der Einheit der Theologie der Reformation mit dem Hinweis auf die »in der Lehre von der Rechtfertigung allein aus dem Glauben und in der damit zusammenhängenden 36

B. Hamm, Was ist reformatorische Rechtfertigungslehre? (in: ZThK 33 [1986], 1–38).

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Anthropologie des zu rechtfertigenden Sünders« gegebene Gemeinsamkeit der unterschiedlichen Positionen – unbeschadet einer gewissen Variationsbreite modifizierender Aneignung und Abwandlung – beantwortet.37 Tatsächlich ist diese These jedoch nur haltbar, wenn Außenseiterpositionen als nicht reformatorisch im eigentlichen Sinne ausgeklammert werden: »Wo diese Zentrallehre nicht geteilt wird […], wird man nicht von reformatorischer Theologie sprechen können.«38 Unter der Hand wird die Rechtfertigungslehre damit zu einem normativen Kriterium des Reformatorischen gemacht, und die Argumentation droht zirkulär zu werden. Im Unterschied dazu hat Hamm in der Rechtfertigungslehre zwar die gestaltende Mitte der Theologie der Reformation identifiziert, ihre kriteriologische Verwendung jedoch aus historischen Gründen abgelehnt.39 Bereits der nähere Blick auf Zwingli nötigt eigentlich zu dieser Folgerung. Es ist unbestreitbar, dass die klassischen Formeln der Rechtfertigungslehre Luthers, ja selbst der Begriff der iustificatio bei dem Zürcher nur eine untergeordnete Rolle spielen. Gewiss ist ihre sachliche Pointe, die Bedingungslosigkeit der Annahme zum Heil, auch bei Zwingli präsent, wiewohl er andere Akzente setzt und von seinem spiritualistischen Ansatz aus die geschenkte Gerechtigkeit unmittelbar mit der geistgewirkten Lebensheiligung verbindet.40 Gleichwohl muss man feststellen, dass die Rechtfertigung in der Gesamtarchitektur von Zwinglis Theologie keine vergleichbar zentrale Funktion erfüllt wie bei Luther. Zwinglis Grundfrage ist nicht die soteriologische Frage nach dem gnädigen Gott, sondern die ontologische Frage nach der unendlichen Differenz zwischen dem Schöpfer37

Brecht, Theologie oder Theologien (s. Anm. 34), 116. Ebd. 39 Vgl. Hamm, Was ist reformatorische Rechtfertigungslehre? (s. Anm. 36), 37f. 40 Vgl. a.a.O., 12, 18; B. Hamm, Zwinglis Reformation der Freiheit, Neukirchen-Vluyn 1988, 51–62. 38

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gott und dem Menschen.41 In diesem theologischen Setting bildet die Rechtfertigungslehre nicht mehr als einen »Nebenkrater«.42 Bei anderen Reformatoren wie Johannes Oekolampad verhält es sich ähnlich.43 Ja, es gibt sogar Protagonisten der Reformation, die in ihren soteriologischen Konzeptionen mehr oder minder deutlich von den Grundlinien des gemeinreformatorischen Rechtfertigungsdenkens abweichen. Bei Johann Agricola und den Antinomern ist der Grundkonsens trotz der andersartigen Verhältnisbestimmung von Gesetz und Evangelium vielleicht noch nicht verlassen,44 sicher aber bei Andreas Osiander, der mit seiner Konzeption einer effektiv rechtfertigenden Einwohnung Christi im Gläubigen an die Stelle der fremden Gerechtigkeit Christi wieder eine substantielle, inhärierende Gerechtigkeit setzt,45 oder bei Thomas Müntzer, der einen mystisch gefärbten, durch das Leiden führenden Heilsweg propagiert.46 Nicht zuletzt hat es auch »durchaus Reformatoren und reformatorische Schriftsteller gegeben […], die auf dem Boden des reformatorischen Schrift- und Wortprinzips gegen das römisch-katholische Kirchenwesen und seine Autoritäten tätig geworden sind, ohne eine wirklich reformatorische, wirklich aus dem katholischen Lehrsystem heraustretende Rechtfertigungslehre entwickelt zu haben.«47 Die Fiktion einer im Wesentlichen einheitlichen Rechtfertigungslehre als materialem Grund der Einheit »der« Re41 42 43

Vgl. Leppin, Wie reformatorisch (s. Anm. 28), 167. A.a.O., 169. Vgl. W.-F. Schäufele, Johannes Oekolampad (in: I. Dingel / V. Leppin [Hg.], Das Reformatorenlexikon, Darmstadt 2014), 189–193. 44 Vgl. Brecht, Theologie oder Theologien (s. Anm. 34), 106. 45 Vgl. Hamm, Was ist reformatorische Rechtfertigungslehre (s. Anm. 36), 37; einschränkend Brecht, Theologie oder Theologien (s. Anm. 34), 111. 46 Vgl. a.a.O., 105. 47 Hamm, Was ist reformatorische Rechtfertigungslehre (s. Anm. 36), 37f. Vgl. H. Scheible, Reform, Reformation, Revolution. Grundsätze zur Beurteilung von Flugschriften (in: ARG 65 [1974], 108–134).

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formation lässt sich nach dem Gesagten also nur aufrechterhalten, indem man die Rechtfertigungslehre zum Kriterium des Reformatorischen macht und wie Martin Brecht Gestalten wie Müntzer und Schwenckfeld kurzerhand aus dem Gegenstandsbereich der Reformation ausschließt.48 Aus historischer Perspektive verbietet sich ein solches Verfahren. Das materiale Einheitsband der Reformation und zugleich deren Motor wäre demnach anderswo zu suchen. 5. Die Rechtfertigungslehre als Inbegriff reformatorischer Theologie Bevor wir zu ermitteln versuchen, ob es einen anderen »Motor der Reformation« gab, ist an dieser Stelle doch festzuhalten, dass Luthers Rechtfertigungslehre, wenngleich sie nicht für die Reformation als ganze als historische Triebkraft und Einheitsband in Betracht kommt, doch jedenfalls im Hauptstrom reformatorischer Lehre und Aktion eindeutig im Zentrum stand. Auf Grund seiner Untersuchung frühreformatorischer Flugschriften schreibt etwa Thomas Hohenberger ihr eine »tragende Funktion bei der raschen Herstellung eines reformatorischen Grundkonsenses mit historischer Dimension« zu.49 Wie sehr für die meisten Zeitgenossen die Rechtfertigungslehre den Kern der neuen reformatorischen Einsichten ausmachte, lässt sich auch exemplarisch an der berühmten Flugschrift von Hans Sachs über die »Wittenbergisch Nachtigall« von 1523 zeigen. Das Mittelstück des überlangen Gedichtes referiert die theologischen Anschauungen Luthers. In nicht weniger als 98 Versen entfaltet der Dich48 49

Brecht, Theologie und Theologien (s. Anm. 34), 105, 112f. T. Hohenberger, Lutherische Rechtfertigungslehre in den reformatorischen Flugschriften der Jahre 1521–1522 (SuR NR 6), Tübingen 1996, 388.

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ter hier korrekt und differenziert Luthers Auffassung von der Erbsünde und der Unmöglichkeit der Gesetzeserfüllung, von der Offenbarung des Zornes Gottes durch das Gesetz, vom Evangelium, das auf Christus weist, der Sünde, Tod und Teufel besiegt hat und aller Welt Sünde trägt, von der Tröstung durch das Wort des Evangeliums, von der im Vertrauen auf Christus empfangenen Vergebung und vom Leben in der Liebe und in guten Werken, die aber nicht die Seligkeit verdienen: »die seligkeit hat man vorhin / durch den gelauben in Christum. / diß ist die ler kurz in der sum, / die Luther hat an tag gebracht«.50 Wirklich kann man in der Rechtfertigungslehre so etwas wie die Summe von Luthers theologischem Denken sehen. Von ihr aus lassen sich Brücken zu allen wesentlichen Themen seiner Theologie schlagen: zum Schriftprinzip, zur Anthropologie und Sündenlehre, zur Ethik, zum Kirchenund Sakramentsverständnis, zur Lehre vom allgemeinen Priestertum. Anscheinend ist Luther selbst diese zentrale Stellung der Rechtfertigungslehre erst nach und nach aufgegangen. Möglicherweise hat er das neue Verständnis der Gottesgerechtigkeit nach Röm 1,17 schon 1513/14 gewonnen, in der Vorlesung zum Römerbrief 1515/16 ist der Grundgedanke der Rechtfertigung durch den Glauben jedenfalls vorausgesetzt. Öffentlich artikuliert hat Luther seine Rechtfertigungslehre jedoch erst in den im März bzw. zu Jahresende 1518 gehaltenen und bald darauf gedruckten Predigten »De duplici iustititia« und »De triplici iustitia«.51 Breiter ausgearbeitet findet sie sich in den Sermonen der Jahre 1519 und 1520 und namentlich in den großen Reformationsschriften von 1520.52 Zum Gegenstand vertief50

H. Sachs, Dichtungen. Zweiter Theil: Spruchgedichte, Leipzig 1885, 10–29, hier: 22. 51 WA 2, (143) 145–152; (41) 43–47. – Vgl. Hohenberger, Lutherische Rechtfertigungslehre (s. Anm. 49), 44, 46–54. 52 A.a.O., 62–124.

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ter theologischer Analyse hat Luther die Rechtfertigungslehre aber erst in der Mitte der 1530er Jahre gemacht. In einem halben Dutzend akademischer Disputationen, darunter die »Disputatio de homine«, hat er damals notwendige weitere Klärungen geleistet.53 Den Abschluss dieser Entwicklung bildet die Behandlung der Rechtfertigungslehre in den Schmalkaldischen Artikeln, wo sie zusammen mit der Christologie als »Hauptartikel« des christlichen Glaubens zum Kriterium für alle weiteren Lehren erhoben wird.54 Die Rechtfertigungslehre und ihr christologisches Fundament bilden demnach, wie man seit dem späteren 17. Jahrhundert sagte, den articulus stantis et cadentis ecclesiae (den Artikel, mit dem die Kirche steht und fällt):55 »Von diesem Artikel kan man nichts weichen oder nachgeben, Es falle Himel und Erden oder was nicht bleiben will […] Und auff diesem Artikel stehet alles, das wir wider den Bapst, Teufel und Welt leren und leben«.56 Es ist daher nur folgerichtig, dass Luther in seinem Selbstzeugnis von 1545 das neue Rechtfertigungsverständnis – oder präziser: das neue Verständnis der Gottesgerechtigkeit – zum Schlüssel seines reformatorischen Wirkens stilisierte – ganz ähnlich, wie er dies 1518 in der Widmungsvorrede der Resolutiones zu den Ablassthesen mit dem neuen, von Johannes von Staupitz vermittelten Bußverständnis getan hatte.57

53 W. Führer, Die Schmalkaldischen Artikel (Kommentare zu Schriften Luthers 2), Tübingen 2009, 30–34, 95f. 54 A.a.O., 88–106. 55 Vgl. T. Mahlmann, Art. Articulus stantis et (vel) cadentis ecclesiae (in: RGG4 1 [1998]), Sp. 799f. 56 Schmalkaldische Artikel II,1 (I. Dingel [Hg.], Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche, Bd. 1, Göttingen 2014, 728, Z. 7f. 11f.). 57 WA 1, 525, 4–23. Vgl. V. Leppin, »omnem vitam fidelium penitentiam esse voluit«. Zur Aufnahme mystischer Traditionen in Luthers erster Ablaßthese (in: ARG 93 [2002], 7–25), 12.

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Luther selbst hat also in den Schmalkaldischen Artikeln und im Selbstzeugnis von 1545 der Rechtfertigungslehre eine zentrale Funktion für seine Theologie und kriteriologischen Rang zugeschrieben. Damit ist die theologische Bedeutung dieses Lehrstücks zutreffend beschrieben, und es ist nicht verwunderlich, dass sich protestantische Identität in der Zeit der Orthodoxie und wieder seit dem 19. Jahrhundert gerade an der Rechtfertigungslehre festgemacht hat, dass Karl Holl sie 1917 dem modernen Menschen nahebringen wollte und dass der EKD-Grundlagentext »Rechtfertigung und Freiheit« im Vorfeld des Jubiläumsjahres 2017 das Gleiche versucht. Die Frage nach der historischen Rolle der Rechtfertigungslehre ist damit freilich noch nicht beantwortet. 6. Versuch einer historisch-empirischen Rekonstruktion Nachdem wir bislang deduktiv die Plausibilität der These von der Rechtfertigungslehre als Motor der Reformation erörtert haben, wollen wir nun umgekehrt verfahren und induktiv fragen, was die verschiedenen Gruppen von Akteuren zu ihrem reformatorischen Engagement motiviert hat. Wir orientieren uns dabei an der klassischen DreiStände-Ordnung (ordo triplex hierarchicus) mit ihrer Unterscheidung von Lehrstand, Wehrstand und Nährstand. Die Aufzählung erhebt keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit, lässt aber hoffentlich ein einigermaßen repräsentatives Gesamtbild entstehen. Wir beschränken uns dabei absichtlich nicht auf den Hauptstrom der Reformation, sondern beziehen auch die radikalen und abständigen Erscheinungen mit ein. Zunächst zum Lehrstand, oder, in traditioneller Terminologie, zum geistlichen Stand. Was motivierte Ordensleute, das Kloster zu verlassen, zu heiraten und sich eine neue Existenz aufzubauen? Was motivierte Weltgeistliche, ent-

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gegen der Zölibatsverpflichtung in den Ehestand zu treten, im Gottesdienst der Predigt biblischer Texte einen besonderen Stellenwert zu geben, das Abendmahl unter beiderlei Gestalt zu reichen und die Privatmessen einzustellen? Was motivierte sie, Sakramente wie Firmung und Letzte Ölung und die vielen Sakramentalien nicht mehr zu spenden, keine Prozessionen mehr abzuhalten und die meisten Heiligenfeste nicht mehr zu feiern? Was brachte einige dazu, die Bilder aus den Kirchen zu entfernen oder die liturgische Kleidung abzulegen? Was motivierte den Theologieprofessor Karlstadt dazu, sich von seiner bäuerlichen Gemeinde »Bruder Andres« nennen zu lassen? Offensichtlich waren hier mehrere Triebkräfte am Werk. Die erste war sicher die theologische Einsicht in die Rechtfertigung des Sünders allein aus Glauben. Sie führte dazu, der Verkündigung des Glauben weckenden Gotteswortes den höchsten Rang einzuräumen. Sie führte dazu, die verdienstliche Wirkung der guten Werke und den höheren Rang des zölibatären und monastischen Lebens zu bestreiten und ließ den Heiligendienst als unzulässig erscheinen. Für die Begründung der neuen Sakramentspraxis und der Entfernung der Heiligenbilder scheint dagegen die Überzeugung von der alleinigen Normativität der Heiligen Schrift die Hauptrolle gespielt zu haben. Überhaupt muss man sich klarmachen, dass der gesamte Prozess der Neugestaltung von gottesdienstlicher Praxis und Kirchenwesen, dass ungeordnete Klosteraustritte und Priesterehen in vielfacher Weise gegen Normen des kanonischen Rechts verstießen. Allein die Überzeugung, einer anderen, höheren Norm – der Heiligen Schrift – verpflichtet zu sein, konnte Angehörige des sogenannten geistlichen Standes dazu bewegen, sich so massiv über gültige kirchliche Rechtsnormen hinwegzusetzen. Als dritte Triebkraft spielte anscheinend die Nivellierung des Unterschiedes zwischen Klerus und Laien eine Rolle. Sie lag bereits der Bestreitung des Auslegungsmonopols des

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kirchlichen Lehramtes zugrunde, das dem evangelischen Schriftprinzip sein kritisches Potential verlieh. Auch die Verheiratung von Priestern und Ordensleuten sowie der Verzicht auf liturgische Kleidung und auf Standesvorrechte waren durch die theologische Einsicht in die Hinfälligkeit der Unterscheidung zwischen einem mit besonderer Heiligkeit und besonderen religiösen Vorrechten ausgestatten geistlichen Stand und einem Laienstand motiviert. Luther hat diese Einsicht 1520 bekanntlich in die Lehre vom allgemeinen Priestertum der Getauften gefasst. Für das reformatorische Handeln von Weltgeistlichen und Ordensleuten lassen sich also drei theologische Motive namhaft machen: die Rechtfertigungslehre, das Schriftprinzip und das allgemeine Priestertum. Am gewichtigsten dürfte dabei das Schriftprinzip gewesen sein, dass das eigenmächtige Handeln entgegen den gültigen kirchlichen Rechtsnormen und den Weisungen der kirchlichen Hierarchie legitimierte. Auf dieselben Motive in anderer Mischung stoßen wir, wenn wir nach dem »Nährstand«, also den bürgerlichen und bäuerlichen Anhängern der Reformation fragen: Was motivierte sie zu ihrer Forderung nach evangelischer, biblisch begründeter Predigt und zu ihrer Solidarisierung mit evangelischen Predigern gegen kirchliche und weltliche Obrigkeiten? Was motivierte ihre Forderung nach freier Pfarrerwahl durch die Gemeinde? Was motivierte einige zur kostspieligen Anschaffung und Lektüre der deutschen Bibel? Was motivierte sie, die Schriften des kirchlich verurteilten Ketzers Luther zu lesen, die zudem noch durch kaiserliches Edikt verboten waren? Was motivierte immer mehr Menschen dazu, Bruderschaften und Wallfahrten fernzubleiben, auf Mess- und Seelgerätstiftungen zu verzichten? Was motivierte einige zu antiklerikalen Aktionen, zu Angriffen auf Geistliche und Ordensleute, zu Zehntverweigerungen, zu Bilderstürmen? Was motivierte die Bauern zu ihrer Forderung nach biblischer Rechtsbegründung und

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zu biblisch begründeten Freiheitsforderungen? Was motivierte einige dazu, die Kindertaufe abzulehnen? Was motivierte andere dazu, als geistbegabte Propheten mit dem Anspruch göttlicher Autorität aufzutreten? Auch hier waren, wie gesagt, alle drei genannten Motive wirksam. Das Verlangen nach evangelischer Predigt und die Unterlassung der guten Werke im bisherigen Verständnis dürften durch Einsichten der Rechtfertigungslehre bedingt gewesen sein. Noch stärker wird man indessen auch hier die motivierende und mobilisierende Wirkung des Schriftprinzips einschätzen müssen: Auf Grund der Bibel ließen sich die Missstände im herkömmlichen Kirchenwesen identifizieren, und mit ihrer Autorität konnte man den Protest gegen dieselben legitimieren; sie ermöglichte die Missachtung kirchlicher und weltlicher Anordnungen und Bannsprüche. Auch das Täufertum und die Bauern argumentierten im Sinne ihrer besonderen Anliegen weithin auf biblischer Grundlage. Die zweifellos größte Bedeutung hatte für die bürgerlichen und bäuerlichen Anhänger der Reformation aber zweifellos das dritte Motiv: das allgemeine Priestertum. Nur auf seiner Grundlage ist überhaupt zu verstehen, dass sich sogenannte Laien berechtigt und verpflichtet fühlten, selbst die Änderung der kirchlichen Verhältnisse in Angriff zu nehmen, sich auf Grund der Bibel und der Lektüre von Flugschriften eine eigene Meinung zu bilden und diese mit rechtlichen, agitatorischen oder gewaltsamen Mitteln durchzusetzen. Antiklerikale Aktionen und Zehntverweigerungen waren nur schwer biblisch zu begründen, erschienen aber unmittelbar plausibel, wenn der Unterschied zwischen »Geistlichen« und »Laien« nicht mehr anerkannt wurde. Auch das neue Gemeindeprinzip, das etwa in der Forderung der freien Wahl des Pfarrers zum Ausdruck kam, setzt die Nivellierung des religiösen Standesunterschiedes voraus. In besonderem Maße kam diese schließlich dort zur Wirkung, wo Laien als charismatische Geistträger und Propheten für sich höchste Autorität bean-

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spruchten und diese gegen die »geistlosen Schriftgelehrten« ausspielten. Ähnlich liegen die Dinge beim »Wehrstand«: den der Reformation anhängenden politischen Obrigkeiten, also den Fürsten und den Magistraten der Reichsstädte. Was motivierte sie, eigenmächtig Disputationen und Religionsgespräche zur Entscheidung kirchlicher Kontroversen anzusetzen? Was motivierte sie, Pfarrstellen zu besetzen und Predigtinhalte vorzuschreiben, Kirchengüter einzuziehen oder für Bildung und Armenfürsorge umzuwidmen? Was motivierte sie, mit voller Konsequenz die Aufsicht über das Kirchenwesen in ihrem Herrschaftsbereich an sich zu ziehen und damit die Jurisdiktionsrechte der Bischöfe zu usurpieren – eine Usurpation, die langwierige Rechtsstreitigkeiten nach sich ziehen musste? Was motivierte sie, kaiserlichen Mandaten und Reichsabschieden zuwiderzuhandeln und sich damit unmittelbarer Kriegsgefahr auszusetzen? Natürlich sind im Falle der politischen Obrigkeiten neben persönlichen, religiösen Motiven gewöhnlich auch übergeordnete politische Erwägungen mit im Spiel gewesen. Insoweit aber echte religiöse Überzeugungen in Betracht kommen, finden wir wieder die bekannten Motive. Dabei dürfte die Rechtfertigungslehre freilich allenfalls auf persönlicher Ebene eine Rolle gespielt haben. Für das obrigkeitliche Reformationshandeln insgesamt war das Schriftprinzip deutlich wichtiger, vor allem und in erster Linie jedoch die Lehre vom allgemeinen Priestertum. Auf dieser Basis hatte Luther 1520 den »christlichen Adel deutscher Nation« zu einem weitgreifenden Engagement aufgerufen. Damit besaßen die politischen Obrigkeiten einen religiös begründeten Rechtstitel für die Aneignung der bischöflichen Rechte und für die Durchsetzung und Vollendung ihrer bereits im Spätmittelalter einsetzenden landeskirchlichen Bestrebungen. Unsere induktive Betrachtung ergab, dass die Rechtfertigungslehre durchaus als Triebkraft im Reformationsge-

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schehen wirksam war. Sie war aber weder die einzige noch die bedeutendste Kraft dieser Art. Im Ganzen dürfte die praktisch motivierende und mobilisierende Wirkung des Schriftprinzips größer gewesen sein als die der Rechtfertigungslehre. Vor allem aber war es die Beseitigung der Unterscheidung von Geistlichkeit und Laien, die die bürgerlichen und bäuerlichen Anhänger der Reformation ebenso wie die der Reformation anhängenden politischen Obrigkeiten zu ihrem Einsatz berechtigte und verpflichtete. Für den besonderen Rang des allgemeinen Priestertums spricht, dass die meistverkaufte Reformationsschrift Luthers nicht etwa die Freiheitsschrift oder der Sermon von den guten Werken war, sondern seine Adelsschrift.58 »Die theologische Ermächtigung der Laien zu eigenständiger Urteilsbildung und zur Überwindung der krisenhaften Mißstände, die Luther in der Adelsschrift artikulierte […], stellt so etwas wie einen kirchenhistorischen Dammbruch dar.«59 Dazu passt auch, dass in dem oben erwähnten Gedicht des Hans Sachs von der »Wittenbergisch Nachtigall« der Mittelteil mit dem Referat der Rechtfertigungslehre Luthers von noch sehr viel ausführlicheren Invektiven gegen Papst und Klerus gerahmt war.60 Es erscheint demnach sachgerecht, wenn Volker Leppin das Wesen des »Reformatorischen« und den Ansatzpunkt für die Reformation in der Aufhebung der Unterscheidung von Priestern und Laien sehen will.61 Ganz ähnlich hatte schon vor hundert Jahren Johannes Haller das Fehlen des Priestertums als das gemeinsame Merkmal aller reformatorischen Richtungen und die Zerstörung der »Einheit und 58

Haller, Ursachen (s. Anm. 5), 4f. Vgl. T. Kaufmann, An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung (Kommentare zu Schriften Luthers 3), Tübingen 2014. 59 Kaufmann, Geschichte der Reformation (s. Anm. 23), 272. 60 Sachs, Dichtungen II (s. Anm. 50), 10–19, 22–29. 61 Leppin, Wie reformatorisch (s. Anm. 28), 175.

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Alleinherrschaft der Priesterkirche« als die epochale Leistung der Reformation identifiziert.62 7. Das Prinzip der Gottunmittelbarkeit als »Motor« der Reformation Mit unserem induktiven Verfahren haben wir nicht eine, sondern drei Triebkräfte der Reformation identifiziert, von denen die Rechtfertigungslehre nur eine und nicht einmal die wichtigste war. Zwar ist ihr theologischer Rang unbestritten, und die beiden anderen Triebkräfte – Schriftprinzip und allgemeines Priestertum – lassen sich theologisch unschwer auf sie zurückbeziehen. Aber die Tatsache, dass es Segmente der reformatorischen Bewegung gab, in denen sie nur eine untergeordnete oder gar keine Rolle spielte, lässt es nicht zu, die Rechtfertigungslehre zum »Motor der Reformation« zu erklären. Wenn sich trotzdem ein solcher einheitlicher Motor und damit eine (empirische, nicht kriteriologische) theologische Basis für die gesuchte und umstrittene »Einheit der Reformation« identifizieren lassen sollte, so müsste dieser als gemeinsame Ursache jenseits der drei genannten Triebkräfte zu finden sein. Wirklich lässt sich eine solche gemeinsame Ursache ausfindig machen: Allen drei oben konstatierten motivierenden und mobilisierenden Faktoren – Rechtfertigung, Schriftautorität und allgemeines Priestertum – liegt als gemeinsames Prinzip die Ausschaltung jeder Vermittlung zwischen Gott und Mensch zugrunde, kurz gesagt: die Gottunmittelbarkeit des Individuums, um nicht zu sagen: des religiösen Subjekts. Genau hierin ist, so meine These, die eigentliche, historisch wirksame Triebkraft der Reformation zu sehen. Die Ausschaltung der Vermittlung zwischen Gott und Mensch 62

Haller, Ursachen (s. Anm. 5), 2, 33.

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bzw. die Gottunmittelbarkeit des religiösen Subjekts war der Motor der Reformation. Diese These findet Anhalt an der Reformationsdeutung von Berndt Hamm. Hamm sieht das Wesen des »Reformatorischen« bekanntlich in seinem systemsprengenden Charakter. »Reformatorisch« ist demnach, was das System vielfach abgestufter Vermittlungen zwischen Gott und Mensch, das Hamm »Gradualismus« nennt, so grundsätzlich in Frage stellt, dass es nicht mehr darin integrierbar ist.63 Das von uns identifizierte Prinzip der Ausschaltung jeder Vermittlung bzw. der Gottunmittelbarkeit ist nun aber das genaue Gegenteil des Gradualismus und insofern der Inbegriff des Systemsprengend-Reformatorischen. Und es ist diese Sprengkraft, die, historisch gesehen, die Menschen in Bewegung setzte und das Gebäude des mittelalterlichen Kirchenwesens zum Einsturz brachte. Die besondere Pointe dieser Bestimmung ist, dass der so definierte historisch wirksame »Motor der Reformation« theologisch ganz unterschiedlich konstruiert sein konnte. In der großen Breite der reformatorischen Bewegung ist es infolge der Dominanz der Luther-Rezeption zweifellos Luthers Rechtfertigungslehre gewesen, die die Ausschaltung der Vermittlung begründete. Dagegen konnte Zwingli das Prinzip der Gottunmittelbarkeit aus dem Gedanken der Freiheit und Souveränität Gottes und aus seinem Spiritualismus herleiten. Eine dezidiert spiritualistische Begründung der Gottunmittelbarkeit finden wir etwa bei Hans Denck oder Kaspar von Schwenckfeld. Man kann das Prinzip der Gottunmittelbarkeit aber auch von der Mystik her begründen, wie dies in verschiedener Weise der junge Luther, Karlstadt und Müntzer getan haben. In der späteren Lehrentwicklung des Protestantismus hat sich gezeigt, dass die stark betonte rechtfertigungstheologi63

Hamm, Einheit und Vielfalt der Reformation (s. Anm. 31), bes. 64– 84.

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sche Profilierung das reformatorische Prinzip der Gottunmittelbarkeit auf Dauer nicht ausreichend abstützen konnte. Die Auslegung der Heiligen Schrift, die eben erst der Autorität des kirchlichen Lehramts entwunden worden war, wurde jetzt praktisch den Gelehrten vorbehalten. Der Gedanke des allgemeinen Priestertums wurde soteriologisch sublimiert, trat praktisch aber in der evangelischen Pastorenkirche in den Hintergrund. Mit der Auffassung des Gotteswortes als Heilsmittel trat je länger je mehr der Prediger als professioneller Verkünder des Wortes und Spender der Sakramente faktisch wieder in die Funktion eines Mittlers ein. Angesichts dessen gewannen seit dem ausgehenden 16. Jahrhundert, namentlich im Luthertum, alternative Modi der theologischen Konstruktion von Gottunmittelbarkeit neue Plausibilität. Es ist kein Zufall, dass damals gerade mystisch-spiritualistische Traditionen wiederentdeckt und reaktiviert wurden. Mit ihnen ließ sich das motivierende und mobilisierende Prinzip der Reformation gegen die evangelische Pastorenkirche auf anderem Wege rekonstruieren und für eine neue Zeit fruchtbar machen. Und auch für das Bestehen evangelischen Christentums in der Moderne wird es darauf ankommen, das genuin reformatorische Prinzip der Gottunmittelbarkeit der Glaubenden immer wieder neu zur Geltung bringen.

Evangelische Pluralität und sichtbare Einheit Theodor Dieter

Bei dem Thema »Evangelische Pluralität und sichtbare Einheit« fällt zuerst auf, dass die Genitive oder Bezugsgrößen, die man erwarten würde, fehlen. Evangelische Pluralität – mit Bezug worauf? Im Blick auf Glaubensüberzeugungen, ethische Normen, Lebensorientierungen, Kirchenstrukturen? Sichtbare Einheit – wovon? Hier würde man zwar leicht ergänzen können: Sichtbare Einheit der Kirche, aber wenn »sichtbare Einheit« ein Gegen- oder Korrelatbegriff zu »evangelischer Pluralität« sein soll, kann auch der Begriff der Einheit sich auf unterschiedliche Phänomene beziehen; er muss nicht allein auf die Kirche bezogen werden. Die Themaformulierung könnte nahelegen, dass »Pluralität« der evangelischen Seite und »sichtbare Einheit« der römisch-katholischen Seite zugeordnet wird. Aber so einfach ist das nicht. Es gibt ja auch eine katholische Pluralität. Wenn nun eine Pluralität als »evangelische Pluralität« verstanden werden soll, dann setzt das voraus, dass das Vielfältige einen Bezug auf Eines, eben das Evangelische, hat; nur dieser gemeinsame Bezug auf das Eine erlaubt es, von einer evangelischen Pluralität im Unterschied etwa zu einer katholischen oder sonstigen Pluralität zu sprechen. Dieser Bezug kann nun freilich unterschiedlich gedacht werden: Entweder so, dass das Evangelische der Ursprung für die Pluralisierung ist, oder so, dass das Evangelische eine Pluralisierung zulässt, während die pluralisierenden Faktoren andere sind als das Evangelische. Die erste Möglichkeit scheint Christoph Schwöbel zu vertreten: »Konstitutiv für den christlichen Glauben ist die Überzeugung,

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dass die den Glauben begründende Gewissheit selbst nicht das Produkt eigenen oder fremden Handelns ist, sondern das für den Menschen unverfügbare und darum stets kontingente Werk Gottes, das dem einzelnen Menschen die Wahrheit der Botschaft von der Gnade Gottes in Jesus Christus als konkrete Bestimmung seiner Lebenswirklichkeit gewiss werden lässt. In der Unverfügbarkeit der Konstitution des Glaubens und in seinem Charakter als Gewissheit der Wahrheit des Evangeliums für die eigene Lebenswirklichkeit liegt der Grund für die unaufhebbare Pluralität des Glaubens [...].«1 Martin Luther hat das im Kleinen Katechismus so ausgedrückt: »Ich gleube, das ich nicht aus eigener vernunfft noch krafft an Jhesum Christum, meinen Herrn, gleuben oder zu im kommen kan. Sondern der heilige Geist hat mich durchs Evangelium beruffen, mit seinen gaben erleuchtet, im rechten glauben geheiliget und erhalten, gleich wie er die gantze Christenheit auff Erden berufft, samlet, erleuchtet, heiliget und bey Jhesu Christo erhelt im rechten einigen Glauben.«2 Die Unverfügbarkeit des Glaubens hat zur Folge, dass jeder menschliche Zwang in Sachen des Glaubens diesem direkt widerspricht. Dass daraus jedoch auch eine »Pluralität des Glaubens« folgt, ist nicht – jedenfalls nicht ohne weitere Argumentationsschritte – einsichtig, besonders wenn man beachtet, dass Luther unmittelbar von meinem Glauben zu dem Glauben der ganzen Christenheit auf Erden übergeht und vom »rechten einigen Glauben« spricht. Ein anderes Beispiel, das man hier erwähnen kann, ist der Entwurf von Oscar Cullmann: »Einheit durch Vielfalt«.3 Unter Berufung auf das Neue 1 C. Schwöbel, Art. Pluralismus II. Systematisch-theologisch (in: TRE 26, Berlin / New York 1996, 724–739), 732. 2 Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche. Vollständige Neuedition, hg. v. I. Dingel, Göttingen 2014 [= BSLK.N], 872. 3 O. Cullmann, Einheit durch Vielfalt. Grundlegung und Beitrag zur Diskussion über die Möglichkeiten ihrer Verwirklichung, Tübingen 1986, 21990.

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Testament betont Cullmann: »Der Heilige Geist wirkt seiner Natur gemäß diversifizierend [...] Uniformität ist Sünde gegen den Heiligen Geist.«4 Diese Denkfiguren betreffen das Christliche in evangelischer Perspektive und lassen sich analog auf »das Evangelische« im besonderen Sinn beziehen. Die andere Möglichkeit, den Ausdruck »evangelische Pluralität« zu verstehen, ist die, dass der christliche Glaube als solcher Pluralität nicht hervorbringt, aber zulässt. Diese Rede hat aber nur dann einen Sinn, wenn das Prinzip, das etwas zulässt, nicht alles zulässt, sondern zugleich anderes ausschließt. So unterscheidet das Dokument »Die Kirche Jesu Christi« der Leuenberger Kirchengemeinschaft (jetzt: GEKE) die geglaubte und die sichtbare Kirche und betont, dass die geglaubte Kirche sich in verschiedenen sichtbaren Kirchen ausdrücken kann. Aber im Blick auf diese sichtbaren Gestalten von Kirche muss zwischen wahrer und falscher Kirche unterschieden werden. »Denn nicht jede Gestalt der Kirche ist tatsächlich wahrer Ausdruck der einen, heiligen, katholischen und apostolischen Kirche. Die Kirche kann in ihrer konkreten Gestalt durchaus, wenn das ihr aufgetragene Zeugnis durch Wort und Tat verfälscht wird, falsche Kirche werden.«5 Die eine Kirche Jesu Christi lässt unterschiedliche Gestalten zu, aber es gibt offenbar Grenzen von deren Pluralität; diese orientieren sich an den vier Wesenseigenschaften der Kirche. Was hier von der Kirche gesagt ist, lässt sich mutatis mutandis auch von »evangelischer Pluralität« sagen. Ein ganz anderes Verständnis des Ausdrucks »evangelische Pluralität« wäre es, wenn man darunter die unter evangelischen Christenmenschen faktisch bestehende Pluralität verstehen würde, ohne zu klä4 5

A.a.O. (1986), 22. W. Hüffmeier (Hg.), Die Kirche Jesu Christi. Der reformatorische Beitrag zum ökumenischen Dialog über die kirchliche Einheit (Leuenberger Texte 1), Frankfurt a.M. 1995, 28.

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ren, ob diese Pluralität in der einen oder anderen der beiden genannten Weisen auf das Evangelische bezogen wäre. Dann nämlich würde der Ausdruck »evangelische Pluralität« zur Inhaltslosigkeit tendieren. In jedem Fall impliziert der Ausdruck »evangelische Pluralität« ein Moment der Einheit, sodass Einheit und Pluralität sich nicht ausschließen, sondern vielmehr bedingen. Die Differenzen in den Modellen von Pluralität liegen also nicht in der Bejahung oder Verneinung dieses wechselseitigen Bedingungsverhältnisses von Pluralität und Einheit als solchem, sondern in der Art, wie es gedacht oder realisiert wird. Was den Ausdruck »sichtbare Einheit« betrifft, sei auf eine terminologische Schwierigkeit hingewiesen. Einheit gehört ja zu den Transzendentalien wie seiend, gut, wahr und schön, also zu den überkategorialen Begriffen, die im Mittelalter »Transzendentalien« genannt wurden. Ein Transzendentale aber ist als solches nicht sichtbar.6 Sichtbar kann sein, was eine Vielfalt zu einer Einheit macht, nicht aber die Einheit selbst. Der Ausdruck »sichtbare Einheit« leitet also, recht verstanden, dazu an, sichtbare, wahrnehmbare oder erkennbare Elemente zu suchen, die eine Vielfalt als Einheit verstehen lassen. Das müssen, um es gleich vorweg zu sagen, im Blick auf die Kirche keineswegs allein das Amt oder bestimmte kirchliche Strukturen sein. Anders, als man vermuten könnte, kommt der Ausdruck »sichtbare Einheit« ursprünglich nicht von römisch-katholischer Seite. In der Erklärung des Zweiten Vatikanischen Konzils zur Ökumene »Unitatis redintegratio« taucht der 6 Etwas anders R. Saarinen, Sichtbare Einheit und Extrinsezismus (in: J. Jolkkonen u.a. [Hg.], Unitas Visibilis, Helsinki 2004, 221–229), 221: »Wir können die Zahlen bzw. die Eigenschaften der Zahlen nicht sehen. Darum bleibt die ›sichtbare Einheit‹ wörtlich verstanden ein Oxymoron, eine rhetorische Figur, bei der zwei sich widersprechende Begriffe verbunden sind. Ein Oxymoron ist kein bloßer logischer Widerspruch, sondern als Figur weist es auf die Aussageintention hin und ist somit von dem jeweiligen Verwendungskontext abhängig.«

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Ausdruck »sichtbare Einheit« nicht auf, wohl aber das Wort »sichtbare Kirche« (art. 1), und der Bischof von Rom wird als »immerwährendes und sichtbares Prinzip und Fundament der Einheit« verstanden (Lumen gentium, art. 23). Auch in der Enzyklika »Ut unum sint« von Papst Johannes Paul II. »über den Einsatz für die Ökumene«7 taucht der Ausdruck in den ersten beiden der drei Kapitel nur einmal auf, und da interessanterweise im Zitat aus den Statuten des Ökumenischen Rates der Kirchen (Nr. 24). Sonst wird von der »vollen Einheit« (Nr. 23) oder der »vollen Gemeinschaft« (Nr. 50) gesprochen. Erst im dritten Kapitel mit der Überschrift »Quanta est nobis via?« ist die Rede von der »Wiederherstellung der sichtbaren vollen Einheit aller Getauften« (Nr. 77). Hier kann man einen Einfluss aus der angelsächsischen Ökumene annehmen,8 denn dort wird sehr oft von »full, visible unity« gesprochen. In der ökumenischen Theologie hat sich eine Diskussion um dieses Komma ergeben. Setzt man das Komma, dann unterscheidet man den Aspekt der vollen Einheit vom Aspekt ihrer Sichtbarkeit. Setzt man hingegen das Komma nicht, dann bestimmt »full« adverbial das Wort »visible« (der Ausdruck ist dann äquivalent zu »fully visible«). Dann weist die Redeweise darauf hin, dass es in der ökumenischen Bemühung darum geht, die als bereits bestehend angenommene Einheit sichtbar oder ganz sichtbar zu machen. Im einen Verständnis geht es darum, die volle Einheit zu erreichen, im anderen, die Einheit voll und ganz sichtbar zu machen. Man hat hier also sozusagen eine Kontroverse um das comma oecumenicum. Der Ausdruck »sichtbare Einheit« taucht regelmäßig in Dokumenten von Übereinkünften mit anglikanischen Kir7

Enzyklika UT UNUM SINT von Papst Johannes Paul II. über den Einsatz für die Ökumene (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 121), Bonn 1995. 8 Vgl. R. Saarinen, Sichtbare Einheit (s. Anm. 6), 223f.

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chen auf, etwa im so genannten Meißen-Abkommen von 1988 zwischen der EKD und dem Bund der Evangelischer Kirchen in der DDR und der Church of England mit dem Titel »Auf dem Weg zu sichtbarer Einheit«9 oder im »Porvoo Common Statement« zwischen den »British and Irish Anglican Churches and the Nordic and Baltic Lutheran Churches« (1992), das vom »Ziel der sichtbaren Einheit« spricht.10 Im »Reuilly Common Statement between the British and Irish Anglican Churches and the French Lutheran and Reformed Churches« ist gleich im ersten Paragraphen von »Schritte[n] zur sichtbaren Einheit hin« die Rede (1999).11 Diese kurzen Beobachtungen und Reflexionen zum Thema zeigen, dass mit ihm ein weites Feld an Problemen eröffnet ist, von dem im Folgenden nur einige erörtert werden können. 1. Von der Sichtbarkeit der Kirche Ob und in welchem Sinn man nach der sichtbaren Einheit der Kirche suchen kann oder soll, hängt davon ab, wie man die Sichtbarkeit der Kirche versteht. Darum soll im Folgenden diese Frage skizzenhaft erörtert werden. So heißt es etwa im EKD-Text »Ökumene im 21. Jahrhundert«: »Nach reformatorischem Verständnis gehört die Konfession zum Bereich der ›sichtbaren Kirche‹, die wiederum eingebettet gedacht wird in die Versammlung der durch den Heiligen Geist zum Glauben Gekommenen. Diese sogenannte ›unsichtbare‹, ›geglaubte‹ Kirche ist dem analysierenden ›weltlichen‹ Blick ›verborgen‹, jedoch mit der sicht9 Vgl. S. Oppegaard / D. Cameron (Hg.), Anglikanisch-lutherische Übereinkommen (LWB Dokumentation 49), Genf 2004, 131–146. 10 Vgl. a.a.O., 147–176 (Nr. 6). 11 Vgl. a.a.O., 205–234 (Nr. 1).

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baren ›erfahrenen‹ Kirche/Konfession verbunden, aber nicht einfach verrechenbar gedacht. Diese vorsichtige Unterscheidung will der Gefahr einer Bemächtigung Gottes durch die erfahrbare Kirche wehren. Zugleich wirkt sie sich in einer Zurückhaltung gegenüber dem Ideal einer ›sichtbaren‹ Einheit der Kirchen aus.«12 Dass der Ausdruck »nach reformatorischem Verständnis« nicht so einfach zu verwenden und dass die Rede von der »unsichtbaren Kirche« im angeführten Text fragwürdig ist, mag beispielhaft folgendes Zitat zur Konzeption von Leonhard Hutter zeigen. Er hat wie andere lutherisch-orthodoxe Theologen zwischen ecclesia universalis und ecclesiae particulares unterschieden: »The ecclesia universalis represents the body of all believers everywhere and at all times, the ecclesiae particulares are limited locally and temporally. In Hutter’s use of the term, ecclesia particularis also stands for what today would be called a ›confession‹ or ›denomination‹, e.g. the Lutheran church. Significantly, the distinction Hutter and his Lutheran contemporaries make between ecclesia universalis et particularis is not equivalent to a similar distinction, namely that between ecclesia invisibilis et visibilis. [...] For most early Lutheran theologians like Hutter, both universal and particluar churches are subsets of the ecclesia visibilis. That fact has enormous implications for the treatment of Church unity. If, as Hutter writes, the Church’s catholicity both comprises all the ecclesiae particulares and is visible, then a visibly unified universal Church remains not only thinkable – but a realizable goal.«13 12

Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) (Hg.), Ökumene im 21. Jahrhundert. Bedingungen – theologische Grundlegungen – Perspektiven (EKD Texte 124), Hannover 2015, 38. 13 K. Appold, Lutheran Orthodoxy and the Question of Confessional Absoluteness (in: K. Hintikka u.a. [Hg.], Vanha ja nuori, Helsinki 2003, 170–185), 182f.

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Luther wird immer wieder die Auffassung von der Unsichtbarkeit der Kirche zugeschrieben. Auch wenn Luther selbst durchaus davon gesprochen hat, die Kirche sei unsichtbar, so ist es doch grundfalsch, sein Verständnis der Kirche von deren Unsichtbarkeit her zu entwickeln.14 Wenn man so wie Luther die Relation promissio – fides theologisch ins Zentrum stellt,15 dann kann man die Kirche als Gemeinde der Glaubenden nicht von der Unsichtbarkeit des Glaubens her verstehen, vielmehr muss man sie von der Sichtbarkeit oder Hörbarkeit der promissio her denken. »Ideo nostra theologia est certa, quia ponit nos extra nos: non debeo niti in conscientia mea, sensuali persona, opere, sed in promissione divina, veritate, quae non potest fallere.«16 Die äußere Klarheit der Heiligen Schrift geht der inneren voraus; diese setzt jene voraus. Dass Inhalte der Heiligen Schrift Menschen als wahr einleuchten, ist Werk des Heiligen Geistes. Dieses setzt aber voraus, dass die Worte der Schrift gehört oder gelesen werden. Ob jemand, der diese Worte hört oder liest, von ihrer Wahrheit überzeugt wird, muss offenbleiben; aber damit sie ihm oder ihr einleuchten können, muss ein Mensch sie hören. Natürlich ist der Glaube unsichtbar; und nur Gott allein weiß, wer tatsächlich glaubt. Aber auf Grund der wesentlichen Externität des Glaubens ist die Gemeinde der Glaubenden nicht einfach unsichtbar. Das würde eine Abstraktion von dem, was für den Glauben wesentlich ist, bedeuten: vom Bezug auf das leibliche Wort. Die Spannung, die damit in die Bestimmung der Kirche hineinkommt, ist nicht ein Mangel ihrer theologischen Erfassung, sondern beruht auf der Sache. Einerseits: Damit es zum Glauben kommt, be14

Vgl. R. Seeberg, Studien zur Geschichte des Begriffs der Kirche mit besonderer Beziehung auf die Lehre von der sichtbaren und unsichtbaren Kirche, Erlangen 1885, 84–97. 15 Vgl. O. Bayer, Martin Luthers Theologie. Eine Vergegenwärtigung, Tübingen 2003, 41–61. 16 WA 40/1; 589, 8–10.

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darf es der Verkündigung des Wortes Gottes und der Sakramente; deshalb gehört die Sichtbarkeit zur Bestimmung der Kirche. Andererseits: Nicht überall, wo verkündigt wird, kommt es auch zum Glauben und der ihm entsprechenden Lebensveränderung eines Menschen. Daraus folgt der Aspekt der Verborgenheit der Kirche, denn Kirche ist die Gemeinde der Glaubenden, und Glaube ist nicht sichtbar. Weil beides zusammengehört, ist die Kirche nicht nur der Ort, an dem der Glaube zu den Menschen kommt, sondern immer auch das Instrument, durch das der Glaube zu Menschen kommt und in ihnen erhalten wird. Diese beiden Aspekte, die oft auseinandergerissen werden, gehören notwendig zusammen. Luther nennt im Großen Katechismus die Kirche »ein heiliges Heufflin und Gemeine auf Erden eiteler Heiligen«: »Derselbigen bin ich auch ein stück und glied, aller güter, so sie hat, teilhafftig und mitgenosse, durch den heiligen Geist dahin gebracht und eingeleibet dadurch, das ich Gottes wort gehört habe und noch höre, welches ist der anfang hineinzukommen [...] So bleibet der Heylige Geist bey der heiligen Gemeine oder Christenheit bis auff den Jüngsten tag, dadurch er uns holet und brauchet sie dazu, das wort zu füren und zu treiben, dadurch er die Heiligung machet und mehret.«17 Den theologischen Grundansatz Luthers nimmt Melanchthon im Augsburger Bekenntnis auf, wenn dessen fünfter Artikel die verdammt, die lehren, dass der Heilige Geist ohne das leibliche Wort des Evangeliums zu den Menschen kommt.18 Dem entspricht dann in Artikel VII die Bestimmung der Kirche als »die versamlung aller gleubigen« mit dem Zusatz »bey welchen das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sacrament laut des Evangelii gereicht wer-

17 18

BSLK.N, 1062,28; 1064,2–10. A.a.O., 100,7–9.

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den«.19 Über diesen Relativsatz (lateinisch: »in qua Evangelium recte docetur et recte administrantur Sacramenta«20) ist viel diskutiert worden. Die Kirche ist sowohl Wirkung der Evangeliumsverkündigung und der Sakramente, wie diese ebenso Lebensäußerung der Glaubenden sind. Die Kirche ist der Ort, an dem beides geschieht. Hier besteht keine Alternative, sondern ein notwendiger Zusammenhang, denn der Glaube, einmal durch das Wort geweckt, kann nicht in sich ruhen, sondern ist bleibend auf das Wort angewiesen. Dass der Glaube aus der Predigt kommt (Röm 10,17), gilt nicht nur für den Anfang des Glaubens, sondern immer. Und umgekehrt gilt auch: »Ich glaube, darum rede ich« (Psalm 116, 10; 2Kor 4,13). In der dritten aetas der Loci sagt Melanchthon: »Ecclesia visibilis est coetus amplectentium Evangelium Christi et recte utentium Sacramentis, in quo Deus per ministerium Evangelii est efficax et multos ad vitam aeternam regenerat, in quo coetu tamen multi sunt non renati, sed de vera doctrina consentientes.«21 Die sichtbare Kirche ist durch ihren Bezug auf die Evangeliumsverkündigung und die Sakramente definiert; zur Definition gehört die doppelte Glaubensaussage: Erstens, dass Gott in dieser sichtbaren Kirche am Wirken ist, um vielen die Wiedergeburt zum ewigen Leben zu geben, und zweitens, dass zur Wiedergeburt die Zustimmung zur wahren Lehre nicht ausreicht, sodass in der sichtbaren Kirche Menschen sind, die der rechten Lehr zustimmen und dennoch nicht wiedergeboren sind. Wenn deutlich geworden ist, wie Sichtbarkeit und Verborgenheit der Kirche bei den Reformatoren Luther und Melanchthon zu verstehen sind, dann wird man auch einen anderen Zugang zur Frage der sichtbaren Einheit getrenn19 20 21

A.a.O., 102,8–10. A.a.O., 103,6f. CR 21, 826.

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ter Kirchen finden, als wenn man von der Annahme ausgeht, die eigentlich reformatorische Auffassung von der Kirche behaupte deren wesentliche Unsichtbarkeit. Dabei wird aber bewusst bleiben müssen, dass es beim Thema »sichtbare Einheit« um jene Elemente geht, die christliche Gemeinschaften zur Einheit führen, und das sind diejenigen, die Mittel des Heiligen Geistes sind, um Glauben zu wecken und zu erhalten, eben Evangeliumsverkündigung und Spendung der Sakramente. Das Amt hat bezogen auf diese unmittelbar Glauben und Kirche gründenden Vollzüge dienenden Charakter. Diese dienende Stellung wird man auch katholischerseits annehmen müssen. Damit ist vorgezeichnet, wo man nach wahrnehmbaren Gemeinsamkeiten zu suchen hat, die die Einheit der Kirche erfahrbar machen. Dann kann man sagen: »Für die ökumenische Diskussion ist das Verhältnis von vorgestellter konfessioneller Identität und einer transkonfessionellen/universalen christlichen Verbundenheit ausschlaggebend. Daher ist es unverzichtbar, dies in den Praktiken zu leben, die die Einheit sichtbar machen, nämlich in gemeinsamem Gebet, gemeinsamer Schriftauslegung, gemeinsamem Gottesdienst und nicht zuletzt in der einen Taufe. Man kann sagen, dass der Sinn von Ökumene darin liegt, eine solche transkonfessionelle christliche Verbundenheit zu entwickeln und zu pflegen.« Erfreulicherweise finden sich diese Sätze in dem EKD-Text »Ökumene im 21. Jahrhundert«, auch wenn, wie oben zitiert, dieser Text an früherer Stelle mit einem recht unklaren Begriff von unsichtbarer Kirche arbeitet und daraus eine Skepsis gegenüber dem Konzept der sichtbaren Einheit herleitet.22 Ohne sich immer auf die Frage des gemeinsamen Abendmahls oder der wechselseitigen Anerkennung der Ämter zu fokussieren, sollte man kreativ nach Möglichkeiten suchen, die vorgegebene Einheit des Leibes 22

Ökumene im 21. Jahrhundert (s. Anm. 12), 60.

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Christi in concreto erfahrbar – sichtbar – werden zu lassen. Das lutherisch/römisch-katholische Dokument »Vom Konflikt zur Gemeinschaft« betont energisch diese Suche, wenn es mit fünf ökumenischen Imperativen schließt, deren dritter lautet: »Katholiken und Lutheraner sollen sich erneut dazu verpflichten, die sichtbare Einheit zu suchen, sie sollen gemeinsam erarbeiten, welche konkreten Schritte das bedeutet, und sie sollen immer neu nach diesem Ziel streben.«23 2. Evangelische Pluralität Für diese Frage – den zweiten Teil des Themas – ist der zweite Teil von CA VII besonders einschlägig. »Et ad veram unitatem Ecclesiae satis est consentire de doctrina evangelii et administratione sacramentorum.«24 Der deutsche Text hebt weniger auf das consentire de doctrina ab, als vielmehr auf die Tätigkeit des Predigens, das in Eintracht geschehen soll, und die Feier der Sakramente gemäß dem Wort Gottes. Wo Einheit auf dieser Ebene erkennbar gewahrt ist, wird Pluralität auf einer anderen Ebene, der der Zeremonien und Riten, die von Menschen eingesetzt worden sind, zugelassen. Einheit und Pluralität gehören zusammen, weil der Bereich, in dem Einheit zu herrschen hat, begrenzt ist und eben damit Pluralität in Fragen außerhalb dieses Bereichs zulässt. Man hat das »satis est« manchmal einen Minimalkonsens genannt, freilich zu Unrecht; denn wenn Evangelium und Sakramente notwendig und hinreichend sind, um im Heiligen Geist Glauben zu wecken und zu er 23

Vom Konflikt zur Gemeinschaft. Gemeinsames lutherisch-katholisches Reformationsgedenken im Jahr 2017. Bericht der Lutherisch/ Römisch-Katholischen Kommission für die Einheit, Leipzig/Paderborn 32014, Nr. 241. 24 BSLK.N, 103,8f.

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halten und in eins damit die congregatio sanctorum zu schaffen und zu erhalten, dann kann das nicht als Minimalkonsens verstanden werden. Aber wenn die Kirche keine civitas Platonica sein soll – gegen diesen Vorwurf setzt sich Melanchthon energisch zur Wehr25 –, dann bedarf es nicht nur der notae ecclesiae (pura doctrina evangelii et sacramenta), sondern es muss auch geklärt sein, wer feststellt, welches der Inhalt dieser notae ist und wer darüber urteilt, ob eine Gemeinschaft diese notae verwirklicht. Das Augsburger Bekenntnis erweckt den Eindruck, es sei selbstverständlich, was rechte Verkündigung des Evangeliums ist; aber dies war ja damals wie auch heute umstritten. Wenn nun aber der Begriff »evangelische Pluralität« den Bezug des Vielfältigen auf das eine Evangelische fordert, dann hat dieses Wort erst dann einen Inhalt, wenn der Konsens über das rechte Evangeliumsverständnis nicht nur behauptet, sondern auch festgestellt worden ist – und das ist, im weiten Sinn, wieder ein sichtbares – wahrnehmbares – Phänomen. Hier ist der Einwand Robert Bellarmins zu hören: »Welche Sekte gab es jemals, die nicht gesagt hätte, sie hätte die unverfälschte Verkündigung der Wahrheit?«26 Um die Frage zu beantworten, wird man natürlich den Rekurs auf die Heilige Schrift unternehmen. Aber bereits die konfessionellen Kontroversen in der Zeit der lutherischen Orthodoxie, etwa in der Regensburger Disputation von 1601 zwischen Lutheranern und Jesuiten, zeigen die Schwachstelle des Schriftprinzips deutlich. »Die Ernennung der Schrift zur alleinigen Glaubensnorm bewahrt lutherische Theologen nicht davor, diese auch verbindlich auslegen zu müssen. Es helfen auch nicht die wiederholten Be25 26

Vgl. BSLK.N, 407,10–20. Zit. nach A. Schubert, Bellarmin und die lutherische Ekklesiologie des konfessionellen Zeitalters (in: EvTh 75 [2015], 135–151), 142, Anm. 40.

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teuerungen der perspicuitas Scripturae, wie die Angriffe der unüberzeugten Jesuiten während des Gesprächs zeigen. Hunnius wird von seinem Gegner Adam Tanner so lange bedrängt, bis er schließlich einräumen muss, dass nicht nur die Schrift, sondern auch die Schriftauslegung durch das Predigtamt normative Autorität in Glaubensstreitigkeiten habe.«27 Hunnius gesteht zu, dass die Kirche eine richterliche Tätigkeit ausübt. Er erläutert, dass vier Instanzen des Urteils zu unterscheiden sind: Gott ist der oberste Richter, dessen Urteil durch die Schrift kommuniziert wird; diese wird durch das Predigtamt ausgelegt und gegebenenfalls in bestimmten praktischen Fragen auch durch die Obrigkeit. Prediger dürften, so Hunnius, allerdings nicht über die Gewissen herrschen; jeder Gläubige könne deren Auslegung an der Schrift überprüfen. Schrift und Prediger haben damit prinzipiell eine fragile Autorität, die jedoch in concreto stark sein kann, aber nicht stark sein muss. Die Jesuiten heben umgekehrt die Autorität des Papstes hervor, an dessen Urteile sich der Glaubende ohne jeden Zweifel halten könne und halten müsse. Die Lutheraner lehnen natürlich diesen Autoritätsanspruch ab, ohne doch in dieser Disputation eine überzeugende Alternative darlegen zu können. Ob evangelische Theologen den Jesuiten heute eine bessere Antwort geben könnten? Dazu gehe ich kurz auf die ekklesiologische Studie von Hans-Peter Großhans »Die Kirche – irdischer Raum der Wahrheit des Evangeliums«28 ein. In »dem Abschnitt über ›[d]ie Lehre der Kirche‹ geht er auch auf CA VII ein und folgt dabei der Interpretation Albrecht Ritschls«.29 Mit diesem betont er: »Das zu predigende oder 27

K. Appold, Orthodoxie als Konsensbildung. Das theologische Disputationswesen an der Universität Wittenberg zwischen 1570 und 1710 (BHTh 127), Tübingen 2004, 230. 28 H.-P. Großhans, Die Kirche – irdischer Raum der Wahrheit des Evangeliums, Leipzig 2003. 29 Vgl. A. Ritschl, Die Entstehung der lutherischen Kirche (in: ders., Gesammelte Aufsätze, Freiburg i.Br./Leipzig 1893, 170–217).

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zu lehrende Evangelium ist ›vorzustellen als die Erklärung des gnädigen Willens Gottes und nicht als die Reihe der Dogmen als menschlicher Erkenntnisse‹«.30 Die nota der Kirche ist »die Verkündigung des Wortes Gottes durch die Kirche« (»Gottes« ist kursiv gesetzt). »Das macht die Predigtsituation aus, dass Gottes Wort mitgeteilt wird. Diese Mitteilung, diese Belehrung kann nicht irren, da Gott nicht irren kann. Damit ist jedoch nicht ausgeschlossen, dass eine angebliche Predigt gar nicht Gottes Wort verkündigt. Ob eine Predigt eine rechte Predigt ist, lässt sich nicht an äußerlichen Vorgängen, an Raum und Zeit, auch nicht an einem rituellen, liturgischen Zusammenhang oder an der predigenden Person festmachen, sondern kann allein danach beurteilt werden, ob die Predigt tatsächlich Wort Gottes ist. Und dies liegt allein daran, ob Gott selbst in der Predigt zu Wort kommt.«31 Ob diese Tautologie einen Jesuiten 1601 überzeugt hätte? Großhans sieht selbst die Gefahr eines Zirkelschlusses. Er meint, dass dieser zu vermeiden ist, »wenn die Autorität des in der Predigt verkündigten Wortes Gottes ganz in dessen Inhalt und in seiner die Gewissen tröstenden und befreienden Wirkung begründet ist«.32 Hier sieht man schon sprachlich, dass die Tautologie nur bekräftigt ist, denn Großhans spricht von der »Autorität des in der Predigt verkündigten Gotteswortes« und dass sie ganz im Inhalt des Gotteswortes begründet ist. Ob in der Predigt Gotteswort verkündigt wird, steht aber gerade zur Diskussion. Großhans spricht von der Predigtsituation, konzentriert sich also auf das hic et nunc. Und doch will Großhans die Kirche verstehen »als eine Versammlung von Menschen, die im gemeinsamen Empfangen des Wortes Gottes in der Verkündigung und in den 30

Großhans, Die Kirche (s. Anm. 28), 119, (Zitat Ritschl: Entstehung [s. vorige Anm.], 177). 31 A.a.O., 125. 32 Ebd.

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Sakramenten vom Heiligen Geist zur Kirche zusammengeführt werden [...] und als Gemeinde zusammen ein neues, mit Gott versöhntes Leben in dessen Gegenwart führen.«33 Hier sind also sowohl die Sozialität der das Wort Gottes Hörenden wie auch die zeitliche Dauer der vom Wort Gottes bewirkten Gemeinde des neuen Lebens angesprochen. Die Predigt hat also tiefgreifende, weitreichende und langdauernde Wirkungen. Nun wird man allerdings fragen müssen: Das Gotteswort gewinnt seine Autorität allein aus seinem Inhalt. Aber dieser Inhalt oder das Überzeugtsein von diesem Inhalt verschwindet ja nicht mit der Predigt, sondern bleibt, und in weiteren Predigten werden weitere Inhalte dem Predigthörer als Gottes Wort evident werden. Diese Inhalte lassen sich sprachlich festhalten; so kann man fragen, ob die Inhalte der verschiedenen Worte Gottes sich ergänzen oder vielleicht widersprechen. Weil das Wahre dem Wahren nicht widersprechen kann, wird man fragen, ob in der einen oder anderen Predigt vielleicht nicht das Wort Gottes, sondern nur das Wort des Predigers laut geworden ist. Und weil Großhans betont, dass das Wort Gottes gemeinsam empfangen und das neue Leben in der Gemeinde zusammen geführt wird, muss man fragen, ob sich nicht die Inhalte, die sich den verschiedenen Gottesdienstteilnehmern als Wort Gottes erschlossen haben, sprachlich ausdrücken und miteinander vergleichen lassen. Auch hier ist die Kompatibilität dessen, was die Einzelnen als Inhalte des Wortes Gottes gehört haben, von Bedeutung, denn auch hier gilt, dass das Wahre (des Einen) dem Wahren (des Anderen) nicht widersprechen darf. Aus diesem Prozess kann dann eine gemeinsame Formulierung dessen, was die Gemeinde gemeinsam gehört hat, entstehen. Diese Formulierung wäre dann für weitere Predigten so etwas wie ein Kriterium, ob in der Predigt das Wort Gottes laut wird. 33

A.a.O., 123.

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Wenn Gott selbst durch das Wort des Predigers das Wort ergreift und die Wirkungen dieses Wortes tiefgreifend sind, warum sollen sich dann diese Inhalte nicht ausdrücken, festhalten und zu gemeinsamen Formulierungen verbinden lassen? Von ihnen finden sich ja viele bereits im Neuen Testament. Man kann nicht vom Wort Gottes sprechen und seine Wirkungen auf die Predigtsituation begrenzen wollen. Die Entgegensetzung von Wort Gottes, das in der Situation ergeht, und kirchlicher Lehre ist unangemessen. Es sei an Luthers Wort erinnert: »Menschen lere taddelln wyr nicht darumb, das menschen gesagt haben, ßondern das es lügen und gottis lesterung sind widder die schrifft, wie wol sie auch durch menschen geschrieben ist, doch nicht von oder auß menschen ßondern auß gott.«34 Wir glauben freilich nicht an die Lehre, sondern an Gott, aber die Lehre hilft uns, recht an Gott zu glauben, wobei sie die Erfahrungen, die Generationen von Christen im Hören auf das Wort Gottes gemacht haben, aufnimmt. Kirchliche Lehren sind keine ehernen Größen, sondern offen für Entwicklungen, die es in der Geschichte immer gegeben hat und geben wird, und sie sind offen für neues Hören auf das in der Schrift bezeugte Wort Gottes. Folgt man dem Duktus von Großhans, dann ist das Wort der Predigt, das Gott zum Autor hat, wahr und verbindlich, während die Lehre der Kirche als Menschenwerk im Sinn der Lutherschen Unterscheidung von Leben und Lehre zum Leben, das fehlbar und sündig ist, gehört. Man hört also je und dann, wenn man eine rechte Predigt hört, das Wort Gottes, während das Wort von Menschen, auch der Kirche, immer plural ist, plural sein darf und muss. Großhans zitiert die berühmten Sätze Luthers aus »Wider Hans Worst«: »Aber die Lere mus nicht sünde noch strefflich sein, und gehöret nicht ins Vater unser, da wir sagen: Vergib uns unser schuld, Denn sie nicht unsers thuns, son34

WA 10/II; 92,4–7.

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dern Gotts selbs eigen Wort ist, der nicht sündigen noch unrecht thun kann. Denn ein Prediger mus nicht das Vater unser beten, noch Vergebung der sünden süchen, wenn er gepredigt hat (wo er ein rechter Prediger ist), Sondern mus [...] sagen und rhümen [...] Ich bin ein Apostel und Prophet Jhesu Christi gewest in dieser predigt.«35 Was bedeutet diese Klammer: »wo er ein rechter Prediger ist«? Heißt das, dass er in dieser Predigt ein rechter Prediger gewesen ist und vielleicht in der nächsten kein rechter Prediger ist? Aber wie soll dann der Prediger wissen, ob er in einer bestimmten Predigt ein rechter Prediger war und das Vaterunser nicht beten muss? Dass er ein rechter Prediger ist, muss sich ausweisen lassen, und zwar nicht nur durch die Predigtsituation, denn dafür, dass sich in ihr Gottes Wort ereignet, ist Bedingung, dass der Prediger ein rechter Prediger ist. Luther scheint sich nicht nur auf einzelne Predigten zu beschränken, wenn er sagt: »die Lehre muss [darf] nicht Sünde sein«. Man kommt aus der Tautologie »Die Predigt ist recht, wenn in ihr Gottes Wort laut wird« – »Gottes Wort wird in der Predigt laut, wenn sie recht ist« nur heraus, wenn man die Alternative »Wort Gottes mit Gott als Autor« und »Wort des Menschen in der Pluralität der Menschenworte« nicht als vollständige Disjunktion versteht, denn wenn man mit Ernst von der auctoritas und efficacitas der Heiligen Schrift und der Predigt sprechen will, dann impliziert das, dass die hörenden Menschen so affiziert werden, dass das, was sie hören, nicht bloß menschliche Gedanken sind, sondern von Gott hervorgerufene Gewissheiten, die einen propositionalen Gehalt haben, der explizierbar und kommunizierbar ist. Dadurch kann sich eine communio bilden, die das, was die Einzelnen in Schrift und Predigt hören, gemeinsam zu artikulieren vermag. Diese gemeinsamen Artikulationen des aus der Schrift Gehörten mindern die Autorität der Schrift nicht, im Ge35

WA 51; 517,19–28.

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genteil, sie bezeugen gerade diese Autorität darin, dass die Schrift in der Lage ist, Menschen zu verbinden durch das gemeinsam Gehörte. Darum ist es durchaus sachgemäß, sich im weitergehenden Hören auf die Schrift auch an dem zu orientieren, was andere früher gehört haben, ohne dass dies ausschließt, dass Neues gehört werden kann. Aber wenn jemand oder eine Gruppe heute beansprucht, Gottes Wort zu hören, dann muss sie das auch anderen und sogar solchen, die früher gelebt haben, zugestehen. Dann wird man nach der Kompatibilität dessen, was frühere Generationen gehört haben, mit dem, was heute gehört ist, fragen müssen, denn der Anspruch früher wie heute soll ja sein, dass Gottes Wort gehört wird. Und wenn der Grundsatz gilt, dass Wahres Wahrem nicht widersprechen kann, dann sind solche Prozesse der Klärung der Kompatibilität unausweichlich. Wenn der Begriff »evangelische Pluralität« einen Sinn haben soll, dann muss sich der Bezug des Vielfältigen auf das Eine, das eine bestimmte Pluralität zu einer evangelischen macht, darstellen lassen. Das aber geht nicht ohne die eben beschriebenen Prozesse gemeinschaftlicher Klärung dessen, was die Heilige Schrift sagt und was darum als evangelisch zu verstehen ist. Verweigert man sich diesen Prozessen mit Berufung auf das je individuelle Verstehen der Botschaft des Evangeliums, dann kann man nicht mehr gemeinsam und verbindlich darlegen, was die rechte Verkündigung des Evangeliums und die einsetzungsgemäße Spendung der Sakramente ist. Dann lässt sich auch nicht mehr aufzeigen, was zur Einheit der Kirche notwendig ist; zugleich wird ohne jenes consentire das, was »evangelische Pluralität« bedeuten könnte, beliebig. Wenn die Kirche keine civitas Platonica ist, das consentire eine Mehrzahl von Subjekten voraussetzt und das consentire de doctrina evangelii Bedingung für die Einheit der Kirche ist, dann bedarf es einer »sichtbaren Einheit« – eines kommunizierbaren Konsenses –, damit eine bestimmte Kirche Kirche sein kann. Das, worin

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man übereinstimmt, kann in verschiedenen Redeweisen ausgedrückt werden; aber es muss erkennbar sein, dass man sich auch in verschiedenen Formulierungen auf dieselbe Sache bezieht. In der ökumenischen Theologie wurde das Modell des differenzierenden Konsenses entwickelt; es soll das Verhältnis der Lehren verschiedener Kirchen erfassen und mögliche Übereinstimmungen darstellen.36 Dieses Modell sucht in der Pluralität der Formulierungen der Lehren nach dem Bezug auf die gemeinsame Sache und erhebt den Anspruch, dass sich diese Gemeinsamkeit nicht bloß behaupten, sondern auch aufweisen und ihrerseits sprachlich darstellen lässt. Das ist die Aufgabe der so genannten Konsensformulierungen ökumenischer Dokumente. Sie sollen darstellen, dass man sich in unterschiedlichen Sprachen tatsächlich auf dieselbe Sache beziehen kann, nicht jedoch die jeweiligen konfessionellen Sprachen ersetzen. In analoger Weise kann dieses Modell auch auf die innerevangelischen Diskussionen, in denen sich evangelische Pluralität artikuliert, angewandt werden. Es ist also nicht so, dass »evangelische Pluralität« und »sichtbare Einheit« sich ausschließen; vielmehr bedingen sie einander. In der ökumenischen Theologie wird das Verhältnis von Pluralität und sichtbarer Einheit unter dem Stichwort der »Einheit in versöhnter Verschiedenheit« diskutiert.37 »Sichtbare Einheit« muss »Pluralität« nicht ausschließen, sondern kann sie durchaus explizit einschließen.38 36

H. Meyer, Die Struktur ökumenischer Konsense (in: ders., Versöhnte Verschiedenheit. Aufsätze zur ökumenischen Theologie I, Frankfurt a.M. / Paderborn 1998, 60–74). 37 H. Meyer, »Einheit in versöhnter Verschiedenheit«. Hintergrund, Entstehung und Bedeutung des Gedankens (in: ders., Verschiedenheit [s. vorige Anm.], 101–119). 38 So heißt es etwa in der Porvoo Common Declaration (Nr. 23): »Sichtbare Einheit sollte [...] nicht mit Einheitlichkeit verwechselt werden. ›Einheit in Christo existiert nicht trotz und im Gegensatz zur Vielfalt, sondern ist mit und in Vielfalt gegeben.‹ Da diese Vielfalt den

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Weil Individualität des Verstehens und Allgemeinheit der kirchlichen Lehre sehr oft gegeneinander ausgespielt werden, soll ein prominenter Text Martin Luthers zitiert werden, der beides auf eine für uns höchst ungewöhnliche Weise verbindet. Die erste Invokavit-Predigt Luthers 1522 beginnt mit diesen Worten: »WJr seindt allesampt zu dem tod gefodert, und wirt keyner für den andern sterben. Sonder ein yglicher in eygner person für sich mit dem todt kempffen. In die oren künden wir woll schreyen. Aber ein yeglicher muß für sich selber geschickt sein in d’zeyt des todts, ich würd denn nit bey dir sein, noch du bey mir. Hierjn so muß ein yederman selber die hauptstück so einen Christen belangen, wol wissen und gerüst sein, und seindt die, die euwer lieb vor vil tahen von mir gehört hat.«39 Im Sterben ist ein Mensch in höchstem Maß Individuum und ganz und gar unvertretbar; das aber, was der Mensch in dieser Situation braucht, ist das Katechismuswissen, das Luther im Fortgang der Predigt kurz erinnert. Was den Menschen in der höchsten Not seiner Individualität tröstet, ist das Allgemeine der Kirchenlehre! Die Vielfalt der Individuen und das Eine des Evangeliums brauchen einander. In der Außenwahrnehmung wie in der Innenwahrnehmung der evangelischen Kirchen ist heute oft schwer erkennbar, was evangelische Christinnen und Christen gevielen Gaben des Heiligen Geistes an die Kirche entspricht, ist sie ein Begriff von grundlegender ekklesiologischer Wichtigkeit mit Relevanz für alle Bereiche des Lebens der Kirche und ist nicht einfach ein Zugeständnis an theologischen Pluralismus. Sowohl die Einheit als auch die Vielfalt der Kirche sind letztlich in der Gemeinschaft des Gottes der Heiligen Dreieinigkeit gegründet.« (Anglikanisch-lutherische Übereinkommen [s. Anm. 9], 158; zitiert ist: Gemeinsame Römisch-katholische/ Evangelisch-lutherische Kommission, Wege zur Gemeinschaft, Nr. 34 [DWÜ I, 304]). 39 Luthers Werke in Auswahl, Bd. 7, hg. v. E. Hirsch, Berlin 1962, 363, 15–21.

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meinsam glauben und leben und was in ihren Kirchen mit Verbindlichkeit gelehrt und so auch gehört wird. Das Reformationsjubiläum ist die große Herausforderung für die evangelische Kirche und Theologie, deutlich zu machen, was im Jahr 2017 evangelisch genannt zu werden verdient. Es ist keineswegs ausgemacht, ob sie überzeugend auf diese Herausforderung antworten können.40

40

Der EKD-Text »Rechtfertigung und Freiheit. 500 Jahre Reformation 2017« (Gütersloh 2014) versucht, sich dieser Aufgabe zu stellen, unterschätzt aber den tiefen Graben, der die reformatorischen Theologien vom durchschnittlichen kirchlichen Bewusstsein heute und erst recht von den heutigen gesellschaftlichen Plausibilitäten trennt. Ein Beispiel: Ist die Gegenwartsbedeutung des solus Christus zureichend erfasst, wenn der betreffende Abschnitt so schließt: »So wie für den Christen das Gehören zu Christus der einzige Trost im Leben und im Sterben ist, so ja auch für den Anhänger der anderen Religionen sein spezifischer Glaube. Dies darf auf beiden Seiten des Gesprächs anerkannt werden.« (a.a.O., 58)? Das ist eine psychologische Feststellung; aber wenn das gesagt ist, beginnt ja erst die theologische Aufgabe, das solus Christus mit Blick auf die Religionen zu explizieren. Gerade das aber leistet der Text nicht. Im Übrigen überrascht diese Schrift durch einen beinahe völligen Mangel an evangelischer Selbstkritik, wozu 500 Jahre Reformation leider reichlich Anlass gegeben haben.

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Auch ohne Fragezeichen enthält der Titel Fragen, drei sogar. Denn: Von welcher Freiheit ist hier die Rede? Was heißt »reformatorisch«? Und was ist mit »Kernbegriff« gemeint? Die folgenden Zeilen bieten keine erschöpfende Antwort auf diese Fragen, nur einige vorläufige Überlegungen aus aktuellem Anlass, nämlich im Blick auf das Gedenkjahr 2017. 1. In seinem Buch »Die Theologie Martin Luthers. Eine kritische Würdigung« stellt Hans-Martin Barth fest, dass das Wort »Freiheit« den »verführerischen Klang« verloren hat, den es »zur Zeit Luthers oder der Französischen Revolution« hatte; die Begeisterung Lessings und Goethes für den Befreier – man könnte auch sagen: für den Freiheitshelden – Luther wird kurz erwähnt, und es heißt dann weiter: »Noch aus Anlass des Lutherjahrs 1983 fand Gottfried Maron, dass Luther in der Freiheitsgeschichte der Menschheit eine wichtige, ja entscheidende Rolle gespielt hat und spielen kann bzw. muss.« Zu der generellen Entwicklung und der Aussage Marons wird nun kurz und bündig bemerkt: »Inzwischen ist es um das Freiheitspathos der Reformation stiller geworden – was aber zweifellos auch mit

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der Erfolgsgeschichte von Luthers Freiheitsverständnis zusammenhängt.«1 Keine der beiden Hälften dieser Bemerkung leuchtet unmittelbar ein. Es lässt sich an Beispielen demonstrieren, dass Luther bei weitem nicht die Rolle des Freiheitshelden ausgespielt hat. Und bei seinem Freiheitsverständnis bleibt unklar, was unter dessen Erfolgsgeschichte zu verstehen wäre. 2. In dem dänischen »Demokratiekanon«, der 2008 auf Initiative der damaligen liberal-konservativen Regierung vorgelegt und promoviert wurde, erhält Luther – obwohl er, wie ausdrücklich vermerkt wird, nicht »liberal« und auch kein »Demokrat« war – einen ehrenhaften Platz in der langen, geistesgeschichtlichen und politischen Entwicklung hin zur Demokratie. Die protestantische Reformation, so heißt es in dem Kanon, führte zwar nicht auf kurze Sicht zur Religionsfreiheit, aber gleichwohl gilt, dass Luthers Behauptung der völligen Gleichstellung aller Menschen Gott gegenüber und seine dadurch erfolgte Anfechtung des Meinungs- und Glaubensmonopols der Papstkirche »den Weg gebahnt hat für die humanistische Grundanschauung, die später die westliche Demokratie kennzeichnen sollte, d.h. für den Respekt vor dem Recht des einzelnen Menschen auf eine Entwicklung in Freiheit und Verantwortung.«2 Der Leser des Kanons erfährt weiter, dass die kirchlichen Reformationen ihren Hintergrund in der Bibelkritik des Humanismus hatte, und kann insgesamt konstatieren, dass 1 H.-M. Barth, Die Theologie Martin Luthers. Eine kritische Würdigung, Gütersloh 2009, 299. 2 Demokratikanon 2008, http://pub.uvm.dk/2008/demokratikanon/ helepubl.pdf, 22.

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die zwei Druckseiten, die der Reformation gewidmet sind, konsequent daran festhalten, dass die kirchlichen Reformationen zwar entscheidenden Einfluss auf den die moderne europäische Kultur formenden Modernisierungsprozess ausübten, aber nur weil sie mit dem Grundgedanken des Humanismus – »Der Mensch im Zentrum« – verbunden waren.3 Man sieht: Luther ist im gewissen Sinne immer noch der Freiheitsheld, der er seit der Reformation in der kulturellen Erinnerung des protestantischen, oder jedenfalls evangelisch-lutherischen Europas gewesen ist. Heute muss er, wenn er Freiheitsheld bleiben soll, am Anfang einer Entwicklung stehen, die mit Demokratie und Menschenrechten einen Höhe-, wenn nicht Endpunkt, erreicht hat. Aber sein Ikonenstatus ist nicht unangefochten. Die Verfasser des Kanons wissen, dass etliches im Leben und in den Schriften des Reformators sich nicht gut mit modernen Vorstellungen von Demokratie und Menschenrechten reimt, und deshalb muss sich Luther mit der Ehre begnügen, Bahnbrecher für die siegreiche Grundanschauung des Humanismus gewesen zu sein. Auf die Spitze getrieben: Luther als Wegbereiter des Erasmus! Das mutet vielleicht merkwürdig an, ist aber vielleicht gar nicht so schief. Man könnte umgekehrt sagen: bemerkenswert ist der Text vor allem durch die Feststellung, dass Luther eine eigene theologische Sache hatte, die sich von dem Anliegen des Humanismus unterschied. Wie sich diese Sache zur »Freiheit« verhielt, kommt nicht so richtig in den Blick. Für den »Demokratiekanon« ist »Freiheit« ein moderner, demokratischer und menschenrechtlicher Wert.

3

Demokratikanon 2008, 22f.

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3. Ganz so einfach liegen die Dinge nicht in dem Grundlagentext des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, »Rechtfertigung und Freiheit. 500 Jahre Reformation 2017«. Das kleine Buch will »das zentrale Thema der Reformation, die Rechtfertigungslehre, heute verständlich zur Sprache bringen«,4 oder, knapp so schön, »die Erfahrung der Rechtfertigung innerhalb der Kirchen neu […] plausibilisieren«. Für diesen Zweck werden vier häufiger gebrauchte Begriffe als Deutungshilfe verwendet, nämlich »Liebe«, »Anerkennung und Würdigung«, »Vergebung« und »Freiheit«.5 Man könnte dies die »kirchlich-theologische« Spur des Buches nennen. Es gibt aber daneben auch eine »gesellschaftlich-historische« Spur. Hier geht es um die »Bedeutung der Reformation für die europäische Freiheitsgeschichte«,6 wobei der letztgenannte Hilfsbegriff, also »Freiheit«, eher als Hauptbegriff auftritt und auf anschauliche, erlebbare und dokumentierbare Sachverhalte hinweist.7 Was die »Dokumentierbarkeit« betrifft, ist das kleine Buch natürlich nicht ohne Blick für den Unterschied zwischen den beiden Spuren – wie auch aus diesem Zitat erhellt: »Vielmehr soll die theologische Erinnerung an die Rechtfertigungslehre in einer Weise fruchtbar gemacht werden, die sie in ein Verhältnis zu gegenwärtigen Erfahrungen und Erwartungen auch außerhalb binnenkirchlicher Kontexte setzt. Analoges gilt für die historisch möglichst korrekte Erinnerung an die reformatorischen Impulse zu einer Reform der Kirche und der Gesellschaft: Sie müssen in der 4

Rechtfertigung und Freiheit. 500 Jahre Reformation 2017. Ein Grundlagentext des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) (=Rechtfertigung und Freiheit), Gütersloh 42015, 24. 5 Rechtfertigung und Freiheit, 29. 6 Rechtfertigung und Freiheit, 22. 7 Vgl. Rechtfertigung und Freiheit, 32f.

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gegenwärtigen gesamtgesellschaftlichen Realität in ihren Wirkungen erlebbar sein und so Anregungen für zukünftige Gestaltungsaufgaben in Kirche und Welt geben können.«8 Aber die zwei Spuren werden nicht konsequent und klar auseinandergehalten, und dadurch entstehen Unklarheiten. Das Buch bemüht sich um Differenzierungen, aber das Koppeln der beiden Spuren lässt sozusagen die christliche Freiheit in der Schwebe hängen. Zwei weitere Zitate sollen das illustrieren. Zunächst: »Der Begriff christlicher Freiheit, wie Luther ihn in der berühmten Doppelformulierung vom Christenmenschen als einem freien Herrn und dienstbaren Knecht in der Freiheitsschrift von 1520 zur Beschreibung des Rechtfertigungsgeschehens verwendet, ist nicht einfach bruchlos mit einem neuzeitlichen Freiheitsverständnis zu identifizieren und steht doch in enger Beziehung zur europäischen Freiheitsgeschichte.«9 Und zweitens: »Luthers Auftritt in Worms gehört in die neuzeitliche Freiheitsgeschichte, die auf den Grundwert allgemeiner Gewissensfreiheit führte und Institutionen begründete, die diesen Grundwert garantieren können. Mit anderen Worten: Luthers grundsätzlicher theologischer Überzeugung entspricht die moderne Verfassungsgestalt des demokratischen Rechtsstaates; sie lebt fort in der Einsicht, dass das Gewissen des Menschen unabhängig von seinen Inhalten nicht durch andere Menschen reguliert werden kann und darf.«10 Auch wenn die »christliche Freiheit« des Traktates sich nicht bruchlos mit einem neuzeitlichen Freiheitsverständnis identifizieren lässt, so wird hier doch wohl vorausgesetzt, dass der Freiheitsbegriff des Traktates und das von Luther 8 9 10

Rechtfertigung und Freiheit, 96f. Rechtfertigung und Freiheit, 98. Rechtfertigung und Freiheit, 102.

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auf dem Reichstag zur Geltung gebrachte »Thema der Gewissensfreiheit eines Einzelnen gegenüber institutionellen Zwängen«11 sich decken, sodass die moderne Verfassungsgestalt des demokratischen Rechtstaates auch der »christlichen Freiheit« entspricht. Näher wird das nicht ausgeführt, geschweige denn demonstriert. Am Ende liegt alles Gewicht darauf, Luther als den modernen Freiheitshelden strahlen zu lassen, etwa wie im dänischen Demokratiekanon, aber – angeblich durch eine »historisch korrektere Erinnerung« befördert – noch stärker und noch direkter. Dass Luther seine Rede auf dem Reichstag mit diesen Worten endete: »derhalben ich nicht mag noch will widerrufen, weil wider das gewissen zu handeln, beschwerlich, unheilsam und [ge]ferlich ist«,12 ermöglicht nämlich, so heißt es, »öffentlichkeitswirksam Verbindungslinien zwischen einem starken Auftritt des sechszehnten Jahrhunderts und zentralen Werten im einundzwanzigsten Jahrhundert zu ziehen.«13 Das Buch zeichnet im konkludierenden Schlussteil dieses Bild einer langen Entwicklung: Die Freiheitsbotschaft der Reformatoren – mit Luther an der Spitze – löste »einen Mentalitätswechsel breiter Schichten aus, der die Verfassungsordnung und die Lebenswirklichkeit der deutschen Gesellschaft wie auch vieler anderer zutiefst prägt«.14 Deshalb ist das Reformationsjubiläum nicht allein »ein Fest der Kirchen«, sondern auch »ein Fest der ganzen Gesellschaft und des säkularen Staates«,15 und es kann von evangelischen Christenmenschen »im freundschaftlichen Dialog und herzlichen Einvernehmen mit dem modernen säkularen Rechtsstaat und seinen Bürgerinnen 11 12 13 14 15

Rechtfertigung und Freiheit, 101. Ebd. Rechtfertigung und Freiheit, 102. Rechtfertigung und Freiheit, 107. Rechtfertigung und Freiheit, 105.

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und Bürgern unterschiedlicher Religion und Weltanschauung« gefeiert werden, und zwar »in dem fröhlichen Bewusstsein, dass die reformatorische Freiheitsbotschaft zur Entstehung dieses Rechtstaats beigetragen hat«16 – diese feierlichen Worte sind buchstäblich die Finale des Buches. In der kirchlich-theologischen Spur ist damit noch nicht alles gesagt oder erledigt. Wir hörten ja, dass »christliche Freiheit« bei Luther sich nicht bruchlos mit einem neuzeitlichen Freiheitsverständnis identifizieren lässt.17 Zunächst scheint die Kirche eine besondere Verpflichtung zu haben, an die von der reformatorischen Freiheitsbotschaft jedenfalls mitgeformten »Grundüberzeugungen« zu erinnern, damit sie nicht verwittern oder in Vergessenheit geraten, und um »im pluralen, zunehmend auch multireligiösen Staat den Frieden, die Menschenwürde und die gegenseitige Achtung voreinander zu wahren.«18 Vor allem aber sind die Kirchen dazu verpflichtet, die Erinnerung daran wach zu halten und in die gegenwärtigen Debatten einzubringen, »dass Freiheit – die Grundlage des pluralen, demokratischen Rechtsstaates – nicht im Menschen selbst ihre letzte Begründung findet«,19 sondern ein göttliches Geschenk ist. Alles in allem: Luthers Status als Freiheitsheld am Anfang der neuzeitlichen Freiheitsgeschichte ist nicht ganz unangefochten, aber die Siegeslinie, wenn man so sagen darf, ist in dem kirchlichen Dokument »Rechtfertigung und Freiheit. 500 Jahre Reformation 2017« sehr dominierend. Liest man genau nach, wird man auch das meiste von dem finden, was traditionell das Bild eines freiheitlichen Luthers stört, aber die Kritik, wenn das das richtige Wort ist, ist doch eher indirekt und im ganzen gedämpft, wie in diesem Zitat: »Die Reformation hat, wie bereits an Beispielen deut16 17 18 19

Rechtfertigung und Freiheit, 109. Vgl. Anm. 9. Rechtfertigung und Freiheit, 108. Ebd.

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lich wurde, ihren spezifischen Anteil an der neuzeitlichen Freiheitsgeschichte. Sie hat diesen Anteil, selbst wenn sie an einzelnen Punkten gerade kein Teil dieser Freiheitsgeschichte war.« Das ist aber nur eine kleine Störung, denn das Zitat geht so weiter: »Diese Verbindung von Reformation und neuzeitlicher Freiheitsgeschichte ist der fundamentale Grund dafür, dass das Jubiläum nicht allein ein Fest der Kirchen ist, sondern ein Fest der ganzen Gesellschaft und des säkularen Staates werden sollte.«20 Wie es beim dänischen Demokratiekanon der Fall war, mag das Bild, das in dem kleinen Buch von der freiheitsgeschichtlichen Entwicklung gezeichnet wird, im Großen und Ganzen stimmen. Darüber muss die historische Forschung entscheiden. Ob diese Entwicklung mit dem, was zum Beispiel Luther unter christlicher Freiheit verstand, etwas zu tun hat, ist eine andere Frage. 4. In fast radikalisierter Form tritt uns die Siegeslinie der in der Reformation wurzelnden, neuzeitlichen Freiheitsgeschichte in der Darstellung des Historikers Georg Schmidt entgegen.21 Dieser Verfasser möchte »des ungeheuren Ballasts eines angeblichen Sonderweges« der »deutschen Freiheit« loswerden, damit die »Freiheitsintentionen Luthers als auch deren zeitgenössische Wahrnehmungen in gegenwärtiger Absicht neu justiert werden [können]«.22 Direkt setzt sich Schmidt 20 21

Rechtfertigung und Freiheit, 105. Die folgenden Bemerkungen beziehen sich allein auf G. Schmidt, Luthers Freiheitsvorstellungen in ihrem sozialen und rhetorischen Kontext (in: D. Korsch / V. Leppin [Hg.], Martin Luther – Biographie und Theologie [= Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 53], Tübingen 2010, 9–30). 22 Schmidt, Freiheitsvorstellungen (s. Anm. 21), 10.

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von Formulierungen Martin Brechts ab, in denen dieser 1995 die Ausführungen seines Aufsatzes »Die Rezeption von Luthers Freiheitsverständnis in der frühen Neuzeit«23 zusammenfasste. In seinem »Fazit« stellt Brecht hier als überraschend eindeutiges, doch nicht ausnahmsloses Resultat fest, dass »Luthers Verständnis der christlichen Freiheit […] von der reformatorischen Theologie bis hin zur frühen lutherischen Orthodoxie aufgenommen worden« ist, und dass »[d]abei […] christliche Freiheit eine Bezeichnung für die in der Rechtfertigung zentrierte Heilslehre« gewesen ist und demnach »die innere Freiheit des Glaubenden gegenüber den letzten Mächten [meinte]«.24 »Das erstaunlichste Resultat« seiner Untersuchung bestand nach dem Verfasser darin, dass die reformatorische Freiheitslehre – bei Luther, Melanchthon und Calvin – »und deren Übernahme in Orthodoxie und Pietismus unmittelbar so gut wie nichts hergeben für die politische und gesellschaftliche Emanzipation«.25 Nicht, sagt Brecht im Folgenden, dass die so definierte Reformation »an der Verbesserung der politischen und sozialen Verhältnisse uninteressiert war. Sie hat dies jedoch an anderer Stelle, im Bereich der Schöpfungs- und Erhaltungstheologie, des Vorletzten und der Vernunft Übertragenen und eben nicht als Heilslehre vorgebracht.« Und so kann der Aufsatz mit diesen mahnenden Worten enden: »Es könnte sich lohnen, diese Entscheidung respektvoll zu bedenken, anstatt die christliche Freiheit unter der Hand nach unseren Wunschvorstellungen zu verformen und zu verändern.«26

23

M. Brecht, Die Rezeption von Luthers Freiheitsverständnis in der frühen Neuzeit (in: Luther-Jahrbuch 62, Göttingen 1995, 121–151. 24 A.a.O., 150. 25 A.a.O., 151. 26 Ebd.

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Georg Schmidt möchte sich aber nicht damit zufrieden geben, dass Luther sich nicht nur wenig mit der diesseitigen Freiheit beschäftigte, sondern auch alle Versuche, seinen Freiheitstraktat für weltliche Zwecke zu instrumentalisieren, entschieden abgelehnt hat. Nimmt man nämlich den Luther des Jahres 1520 vor sich, ohne ihn »im Lichte seiner späteren Texte und eines verfremdenden Vorverständnisses« zu lesen, und fragt man noch dazu, »wie seine mobilisierenden Ausrufe zum Kampf gegen die kirchlichen Mißstände angesichts des gerade beginnenden Freiheitsdiskurses einerseits und der sozialen Verhältnisse andererseits gewirkt haben könnten«, dann sind nach Schmidt die Dinge allerdings nicht so »einfach und eindeutig«.27 Demgegenüber stellt er nun die zu prüfende These auf, »dass Luther für die Freiheit im Allgemeinen und für diejenige in Deutschland im Besonderen eine zentrale Rolle spielte.«28 Und diese These wird dann noch etwas präzisiert und konkretisiert: »Er war der Katalysator, der sowohl die Freiheitsrhetorik als auch den sozialen Kampf für die Freiheit anfachte und beschleunigte.«29 Man wird natürlich Einzelheiten dieser Überprüfung diskutieren können, aber im Ganzen ist das von Schmidt gezeichnete Bild überzeugend. Luther hat produktiv formend in einen rhetorischen, gesellschaftlichen und politischen Kontext hineingeredet, in dem seine geistliche, christliche »Freiheit« unmittelbar mit weltlicher und auch politischer Freiheit assoziiert oder als mit weltlicher oder politischer Freiheit identisch aufgefasst wurde. Die Unterscheidungen Luthers waren nicht ohne weiteres die seiner Zeitgenossen. Oder mit Schmidts eigenen Worten: »Luther machte ›Freiheit‹ […] zum mobilisierenden und emotionalisierenden Schlagwort, ohne Inhalt und Bedeutung festschreiben zu 27 28 29

Schmidt, Freiheitsvorstellungen (s. Anm. 21), 13. Ebd. Ebd.

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können. Freiheit wurde zum vielgestaltigen Bewegungsbegriff, der einen angestrebten oder ersehnten Zustand verkörperte, der zurückgewonnen oder herbeigeführt werden sollte. Auch in dieser Hinsicht ähnelten sich die Vorstellungen der Reichstände, der leibeigenen Bauern und Martin Luthers.«30 Nicht die theologischen Unterscheidungen bei Luther sind für den Historiker interessant, sondern eher die »eine entscheidende Schnittstelle zwischen geistiger und politischer Freiheit: die Freiheit von Rom und der kirchlichen Hierarchie«.31 Ob wir es nun hier tatsächlich mit einer Schnittstelle zwischen der Freiheit eines Christenmenschen und politischer Freiheit zu tun haben, ist wohl zweifelhaft, wie es auch diskutabel ist, ob Luther in der Adelsschrift »politisch« argumentierte,32 d.h. eine »politische« Freiheit propagierte. Dass aber diese Schrift von den Zeitgenossen auch als eine »politische« Botschaft aufgenommen wurde, indem sie im Lichte der weltlichen oder politischen Freiheitsforderungen gelesen wurde, ist höchst wahrscheinlich. »Was die Masse der Leser und Hörer begeisterte«, so Georg Schmidt, »war die Freiheit eines jeden Menschen, die Kritik an der alten Kirche sowie der Aufruf zum nationalen Befreiungskampf gegen Rom und die Kleriker […] Luthers Botschaft wurde als Aufforderung an jeden Deutschen verstanden, sich am Freiheitskampf gegen Rom aktiv zu beteiligen, um den zeitlichen Wohlstand und das individuelle Seelenheil sicherzustellen.«33 Noch vor diesen Bemerkungen zur wahrscheinlichen Aufnahme der Adelsschrift hat sich Schmidt auch der letzten der 1520er-Hauptschriften, »Von der Freiheit eines Christenmenschen«, zugewandt, um zu demonstrieren, dass auch 30 31 32 33

A.a.O., 23. A.a.O., 22. A.a.O., 28. A.a.O., 26.

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diese Schrift – oder jedenfalls einzelne ihrer Sätze – so gelesen werden konnte, »dass der auf Erden von seinen Herren bedrängte Mensch« glauben musste, »die herrschaftlichen Forderungen nur noch freiwillig erfüllen zu müssen« – weil dies für sein Seelenheil ohne Bedeutung war – »und die versprochene Freiheit [z.B. in der These: ›Eyn Christen mensch ist eyn freyer herr über alle ding und niemandt unterthan‹] auch hier in dieser Welt für sich in Anspruch nehmen zu dürfen.«34 Dass Luthers Auffassung von der christlichen Freiheit anders verstanden werden konnte und auch anders verstanden wurde, als es Luther intendierte, hat auch Mark U. Edwards zeigen wollen in seinem von Georg Schmidt zitierten Aufsatz »The Reception of Luther’s Understanding of Freedom in the Early Modern Period«.35 Aus dreizehn, zwischen 1520 und 1533 in Straßburg gedruckten Schriften, deren Verfasser eigentlich Luther gegen Anhänger des alten Glaubens verteidigen wollten, haben nur drei Luthers Standpunkt in einer Form präsentiert, die von ihm hätte gutgeheißen werden können, und mindestens drei enthalten offenbare »misrepresentations«.36 Interessanterweise halten diese »misrepresentations« an Luthers Verweis auf die Schrift als alleinige Autorität und an seiner Verwerfung von »menschlichen« Gesetzen, die der Schrift widersprechen, fest. Die Autorität wird aber falsch verstanden, weil die »misrepresentations«, so darf man wohl die Ausführungen von Edwards zusammenfassen, kein geistliches Verständnis der Schrift haben, d.h. nicht richtig zwischen Gesetz und Evangelium zu unterscheiden wissen.

34 35

A.a.O., 24. M.U. Edwards, The Reception of Luther’s Understanding of Freedom in the Early Modern Period (in: Luther-Jahrbuch 62, Göttingen 1995, 104–120). 36 Vgl. a.a.O., 105–111.

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Georg Schmidt schreibt in diesem Zusammenhang: »Dass er [Luther] als Seelsorger die Menschen ansprach und sie aus Gewissensnöten befreien konnte, ist wohl nur die eine Seite der Münze, deren andere die transformative Zeitströmung, die Luther mit seinem Verweis auf die Bibel perfekt bediente. Dem Göttlichen hatte sich jeder zu unterwerfen.«37 Damit sind wir ja nicht zuletzt bei den Bauern, bei denen Luther ja gerade ein geistliches Verstehen des Gesetzes oder eine geistliche Unterscheidung zwischen Gesetz und Evangelium vermissen sollte. Man könnte versucht sein, vieles des hier Mitgeteilten durch einige Zitate von Peter Blickle zusammenzufassen. In seinem Aufsatz, »Reformation und Freiheit«38 stellt dieser Verfasser eingangs die Frage: Was heißt Reformation? – und weist dann sofort darauf hin, »dass als theologisches, theoretisches und ideologisches Zentrum das reine Evangelium gelten muss«,39 um dann später zu dieser Konklusion zu gelangen: »Am Ende des 20. Jahrhunderts stellt sich die Reformation dar als gesellschaftlich schier unbegrenztes Streitgespräch um das angemessene Verständnis des reinen Evangeliums. Die Reformation ist selbst zu einer großen Disputation geworden. In seine Mitte gehört die Freiheit.«40 Dabei sind laut Blickle in den 1520er Jahren im deutschen Reich zwei Freiheitsbegriffe im Umlauf, nämlich ein theologischer, »der schließlich mit dem Attribut christlich ausgestattet und in der Figur der Freiheit eines Christen von Martin Luther ausgestaltet wird«, und ein laikaler, »der gegen Leibeigenschaft und Eigenschaft konzipiert wird, also personal gedacht ist, als solcher politische und rechtliche Folgen einschließt und von Bauern, Bürgern, 37 38

Schmidt, Freiheitsvorstellungen (s. Anm. 21), 25. P. Blickle, Reformation und Freiheit (in: B. Moeller [Hg.], Die frühe Reformation in Deutschland als Umbruch [= Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 199], Gütersloh 1998, 35–53. 39 A.a.O., 35. 40 A.a.O., 37.

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Juristen und Obrigkeiten entwickelt worden ist.«41 Der gemeinsame Bezugspunkt der beiden Freiheitsbegriffe ist eben, wie Blickle es formuliert, »das reine Evangelium, aus dem heraus sie entwickelt und folglich als unverzichtbar erklärt werden.«42 Aber, schon das Phänomen der »misrepresentations« lässt natürlich fragen, ob es nicht mehr als einen theologischen Freiheitsbegriff gab. Wie das in dem dänischen Demokratiekanon und in dem Grundlagentext «Rechtfertigung und Freiheit« der Fall war, wird auch in dem Aufsatz von Georg Schmidt sozusagen vom Ende der siegreichen, westeuropäischen Freiheitsgeschichte her gedacht. Der Reformation kommt am Anfang dieser Geschichte eine entscheidende Bedeutung zu. Luther hat – nolens volens ist man versucht zu sagen – in eminentem Grad dazu beigetragen, dass Freiheit »ein zentrales Problem dieser Zeit«,43 ja, wie es Schmidt formuliert, »das Thema des Jahrhunderts« wurde, weil seine »Vorstellungen zu den Stimmungen, Diskursen und Strukturen dieser Zeit passten bzw. als seine Antworten darauf gedeutet wurden«.44 In dieser letzten Formulierung ist impliziert, dass Luther der Ausgangspunkt der Reformation war, deren Durchbruch doch auf der Akzeptanz der Massen beruhte,45 und dass »der Erfolg der Reformation […] auf einer Konstellation basierte, in der die Masse nicht zwischen religiöser und weltlicher Freiheit trennte.«46 Gerade diese Trennung – oder Unterscheidung – bedingte ja aber bei Luther, wie es Schmidt formuliert, »ablehnende Haltungen zu den Freiheitswünschen der Menschen«, d.h. der Bauern. Und er fügt hinzu, dass solche »ablehnende Haltungen […] heute 41 42 43 44 45 46

A.a.O., 38. A.a.O., 43. Schmidt, Freiheitsvorstellungen (s. Anm. 21), 27. A.a.O., 28. Vgl. ebd. A.a.O., 27.

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schwer vermittelbar [sind]«.47 Dadurch verliert Luther aber nicht seinen Platz in der Freiheitsgeschichte, die dann ganz am Ende des Aufsatzes skizziert wird. »Die Freiheit verdankt insofern Luther viel«,48 so schlicht wird das Fazit gezogen. Das politische Streben in der Neuzeit nach Religions- und Gewissensfreiheit, Toleranz und Pluralität ist nicht ohne ihn und die Reformation zu denken. Mit einem gewissen Pathos heißt es: »Festzuhalten bleibt: ›Von der nach Luther gottgewirkten Befreiung des Gewissens führt ein Weg zur Gewissensfreiheit‹.« Das ist ein Zitat von Marc Lienhard; Schmidt stimmt zu und unterstreicht: »Diese Erkenntnis […] darf bei der Beschäftigung mit der Reformation nicht vergessen werden.«49 Auch bei Schmidt gibt es Störungen und Rückschläge der Freiheitsgeschichte, und es ist hier – wie in den vorigen Beispielen – eine interessante Frage, wie diese »Hemmungen« zur Sprache kommen und gewichtet werden, aber immerhin und wieder: Die Freiheitsgeschichte ist zum Ziel gelangt: »Es war zwar ein langer und dorniger Weg von der Gewissensfreiheit der Reichsstände […] zu den modernen Freiheitsrechten«, konstatiert Schmidt und fügt dann hinzu, dass auch die christlichen Kirchen, obwohl sie diesen Weg nicht gern mitgegangen sind, darauf stolz sein dürfen.50 Also: Wenn es um Freiheit geht, ist Luther zu danken, und die Kirchen können stolz sein. Die Fortsetzung könnte fast lauten: Es kann Jubiläum gefeiert werden! Noch einmal: Dieses Bild einer Freiheitsgeschichte soll hier eigentlich nicht angefochten werden. Es ist eine Deutung, für die vieles spricht. Und es ist offensichtlich auch eine Deutung, die mit Leidenschaften verbunden ist. Ein starker

47 48 49 50

Ebd. A.a.O., 29. Ebd. A.a.O., 29f.

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Wille zur siegreichen Freiheitsgeschichte ist jedenfalls kaum zu übersehen. Aus dem allen lässt sich wohl nun für unseren Fragenkreis feststellen: Freiheit war ein reformatorischer Kernbegriff in dem Sinne, dass eine so oder so verstandene Freiheit in den kirchlichen, religiösen, gesellschaftlichen und politischen Veränderungsprozessen der frühen Reformationszeit als zentrales Thema auftaucht. Freiheit ist aber auch in der Reformationszeit ein schillernder oder, vielleicht besser, strittiger Begriff, dessen Hauptbedeutungen sich zwar einkreisen lassen, aber dessen Provenienz und exakte Bedeutung eigentlich von Fall zu Fall ermittelt werden sollte. 5. Innerhalb dieses breiten, reformatorischen Rahmens soll nun eigens »Freiheit« bei Luther kurz thematisiert werden. Dabei kann es nicht um eventuelle Entwicklungen in der Verwendung und Bedeutung des Freiheitsbegriffes in den verschiedenen – besonders den frühen – Phasen des theologischen Schaffens Luthers gehen, und auch nicht um eine Auswertung der markanten, narrativ immer mitreißenden Freiheitserfahrungen (um nicht zu sagen: Freiheitserlebnisse, -gefühle, -stimmungen) Luthers. Nicht, das beides nicht wichtig wäre. Hier soll aber die Freiheit bei Luther in den Blick kommen, die in der frühen Reformationszeit in der Öffentlichkeit wirksam wurde. Hier führt kein Weg an der Freiheitsschrift vorbei, wie das ja auch schon in den Ausführungen von Georg Schmidt deutlich war. Ich muss mich auf einige wenige Bemerkungen beschränken und beziehe mich auf die lateinische Version, den Tractatus de libertate christiana. Luther beschreibt in dem Freiheitstraktat eine Wirklichkeit, die er mit verschiedenen Namen benennen kann. Am Ende des Sendbriefes an Papst Leo X. bezeichnet er den

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Traktat als »eine Summe des Christlichen Lebens« und gibt somit die vita christiana als Thema der kleinen Abhandlung an.51 Im exordium des Traktats erscheint als Thema zunächst »der christliche Glaube«, Christiana fides52 und dann in der berühmten Doppelthese »der Christ«, Christianus homo, der auf einmal dominus liberrimus (ganz und gar freier Herr) und servus officiosissimus (ganz und gar dienender Knecht) ist.53 Die Doppelthese wird mit diesen Worten von Luther introduziert: »Um nun den Ungelehrten (denn ihnen allein diene ich) einen leichteren Weg zu eröffnen, schicke ich die folgenden beiden Sätze über die Freiheit und die Knechtschaft des Geistes [lateinisch: de libertate et servitute spiritus]54 voraus.« 55 Das entspricht den abschließenden Sätzen des Haupttextes des Traktates (d.h. des Traktates ohne den Anhang, der sich ja nur in der lateinischen Version findet): »Und das soll genug sein über die Freiheit, die, wie du siehst, geistlich und wahr ist, die unsere Herzen befreit von allen Sünden, Gesetzen und Geboten, wie Paulus im 1. Timotheusbrief, Kapitel 1, sagt: ›Für einen Gerechten ist das Gesetz nicht da‹. Diese Freiheit überragt alle anderen äußeren Freiheiten um so viel, wie der Himmel die Erde überragt. Möge Christus uns befähigen, sie zu erkennen und zu bewahren, AMEN.«56 »Die Freiheit, die […] geistlich und wahr ist«, libertas […], quae spiritualis veraque est; auf eine geistliche Wirklichkeit kommt es also an, und wir dürfen annehmen, dass die übrigen, erwähnten Namen auf dieselbe geistliche Wirklichkeit, die der Mensch/der Christ nicht von sich aus erkennen und bewahren kann, hinweisen. 51 52 53 54 55 56

LDStA 2, 118,17. LDStA 2, 120,1. LDStA 2, 120,16–19. LDStA 2, 120,15. LDStA 2, 121,19–21. LDStA 2, 175,14–20.

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Durch die Unterscheidung des Traktates zwischen innerem und äußerem Menschen, die ja auch den Text in zwei Hälften aufteilt, aber auch durch die übrigen theologischen Unterscheidungen: Gesetz und Evangelium (nicht verbatim, sondern u.a. in den Begriffspaaren praecepta-promissa, vox legis-verbum gratiae, lex divina-divina promissio enthalten), Person und Werk, Glaube und Liebe, Glaube und Werke – und es ließe sich weitere nennen – soll gerade festgehalten werden, dass es in dieser kleinen, aber reichen und immer wieder überraschenden Schrift, um eine von außen kommende, durch das Wort Gottes vermittelte, den Menschen im Glauben überwindende und ihm Gerechtigkeit und Freiheit, Leben und Heil schenkende geistliche Wirklichkeit geht. Nicht von ungefähr ist der erste Teil des Freiheitstraktates in feinsinniger Weise trinitarisch aufgebaut. Die drei »Tugenden« (virtutes) oder »Gnaden« (gratiae) des Glaubens, die Luther hier beschreibt, entsprechen ja den drei Glaubensartikeln, und zwar zunächst in dieser Reihenfolge: dritter Artikel, erster Artikel, zweiter Artikel. Danach repetiert Luther sozusagen das Ganze, aber jetzt in der richtigen Reihenfolge der Artikel. Was dadurch beschrieben wird, ist das Handeln des trinitarischen Gottes dem Menschen zu Gute. Der Mensch wird ein innerer, geistlicher, gerechter, freier, Gott entsprechender, mit Christus vereinter Mensch durch den vom Heiligen Geist gewirkten Glauben an das Wort des Evangeliums, das Christus und alle seine Gaben bringt. Deshalb fängt Luther mit dem dritten Glaubensartikel an. Durch das Wirken des Heiligen Geistes in der Begegnung des Menschen mit dem Wort Gottes, wird der Mensch als ein »anderer Mensch« (alius homo) von sich selbst unterschieden: »Wenn du darum zu glauben beginnst, lernst du gleichzeitig, dass alles, was an dir ist, ganz und gar schuldhaft, Sünde und verdammenswert ist gemäß jenem Wort des Römerbriefs im 3. Kapitel: ›Alle haben gesündigt und erman-

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geln der Ehre vor Gott‹. Und ebendort: ›Es ist keiner gerecht, es ist keiner, der Gutes tut, alle sind abgewichen, sie sind alle zusammen unnütz geworden‹. Wenn du das bedenkst, so weißt du, dass Christus für dich nötig war, der für dich gelitten hat und für dich auferweckt wurde, damit du, wenn du an ihn glaubst, durch diesen Glauben ein anderer Mensch würdest, nachdem alle deine Sünden vergeben sind und du durch fremde Verdienste gerechtfertigt bist, nämlich allein durch die Verdienste Christi.«57 Dieses Geschehen benennt Luther ein paar Seiten weiter unten einen tactus […] tenerrimus in spiritu (»diese ganz zarte Berührung im Geist«),58 und zwar im Zusammenhang mit der ersten der beiden in der Freiheitsschrift vorkommenden, expliziten Hervorhebungen der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium;59 die zweite findet sich in der zweiten Hälfte der Schrift über den äußeren Menschen an einer Stelle, wo gefragt wird, wie das Wort verkündigt werden soll.60 Die radikale Unterscheidung von Gesetz und Evangelium, die ein geistliches Verständnis des Gesetzes impliziert, wonach nichts – keine innerlichen Qualitäten und keine guten Werke – im Menschen übrig bleibt, worauf sozusagen christlich gebaut werden könnte, war von Luther nicht nur gegen die scholastische Theologie, bzw. die scholastische theologische Anthropologie, geltend gemacht worden, sondern wurde schon recht früh auch gegen Erasmus ins Feld geführt, wenn auch nur in Briefen an die vertraulichen Freunde Georg Spalatin und Johannes Lang. Es ist nicht auszuschließen, ja, tatsächlich spricht einiges dafür, dass 57 58 59 60

LDStA 2, 127,6–16. LDStA 2, 130,15f; 131, 21f. LDStA 2, 128,10 –130,21. LDStA 2, 158,21–160, 10. Vgl. R. Schwarz, Luthers Freiheitsbewusstsein und die Freiheit eines Christenmenschen (in: D. Korsch / V. Leppin [Hg.], Martin Luther – Biographie und Theologie [Spätmittelalter, Humanismus, Reformation], Tübingen 2010, 43–48).

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der Freiheitstraktat, und vor allem die lateinische Version, die ja einem »humanistischen Publikum« zugedacht war, eine unterschwellige – nur für Kenner offenbare – Erasmus-Kritik entfaltet, veranlasst durch die Neuedition des Enchiridion militis christiani im Jahr 1518 und auch gezielt auf diese Erasmusschrift anspielend. Das Geschehen, durch das der Mensch von sich selbst, von Gesetz, Sünde, Tod und Hölle befreit und gerecht wird, ist der geistliche, unsichtbare Empfang des Wortes Gottes im Glauben, weshalb auch der Glaube mit der christlichen Freiheit identifiziert werden kann: »Somit ist klar, dass einem Christenmenschen für alles sein Glaube genügt und dass er keine Werke braucht, um gerechtfertigt zu werden. Wenn er nun aber keine Werke braucht, so braucht er auch kein Gesetz; wenn er kein Gesetz braucht, ist er ja in jedem Fall frei vom Gesetz, und es bewahrheitet sich das Wort: ›Für einen Gerechten ist das Gesetz nicht da‹. Und das ist die christliche Freiheit, unser Glaube, der bewirkt, dass wir nicht etwa müßig sind oder sündig leben, sondern dass keiner das Gesetz oder die Werke zur Gerechtigkeit und zum Heil braucht.«61 Der seelisch-leibliche Christenmensch, der in seinem Leben in dieser Welt ein Sünder bleibt, hat in Christus seine Gerechtigkeit und Freiheit und muss immer aufs Neue durch das Wort von Christus überwunden werden. Das ist der berühmte fröhliche Wechsel, oder das dulcissimum spectaculum des stupendum duellum,62 das durch das matrimonium […] perfectissimum63 zwischen Christus und der Seele erfolgt: »Christus ist voll der Gnade, voll des Lebens und Heils; die Seele ist voll der Sünden, voll des Todes und der Verdammnis. Wenn jetzt der Glaube vermittelnd dazwischen61 62 63

LDStA 2, 131,34–42. LDStA 2, 134,29f; 136,8f. LDStA 2, 134,17f.

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tritt, wird es geschehen, dass die Sünden, der Tod und die Hölle Christus gehören, der Seele aber die Gnade, das Leben und das Heil; er muss nämlich, wenn er der Bräutigam ist, zugleich die ganze Mitgift der Braut übernehmen und alles, was ihm selbst gehört, mit seiner Braut teilen.«64 »Hier beginnt nun«, sagt Luther, »ein überaus süßes Schauspiel, das Schauspiel nicht nur der Vereinigung, sondern auch des heilsamen Kampfes, Sieges und Heils und der Erlösung.«65 »Der heilsame Kampf«, lateinisch: salutare bellum, wird hier zwischen Christus und der Seele ausgefochten, bei Erasmus im Enchiridion aber zwischen den höheren, geistigen Qualitäten des inneren Menschen und den niedrigen Eigenschaften und Rührungen des äußeren Menschen.66 Im zweiten Teil des Freiheitstraktates wehrt sich Luther gegen Missverständnisse der allein durch den Glauben an Christus geschenkten Gerechtigkeit und Freiheit. Der Christ ist im Glauben von sich selbst und seiner falsa opinio von der durch gute Werke zu erreichenden Gerechtigkeit befreit. Er sucht nicht das Seine, sondern handelt – und in diesem irdischen Leben muss man notwendigerweise handeln – im freien Dienst zum Wohl des Nächsten und hat so nur das Wohlgefallen Gottes, das beneplacitum dei, im Sinn.67 Der Christ tut freiwillig und wie selbstverständlich, was Gottes Gesetz – das Liebesgebot – von einem jeden Menschen fordert. Seine christliche Freiheit sieht man nicht, sondern er lebt sie – wenn man so sagen kann – in ganz gewöhnlichen, alltäglichen Werken. In dem Sinne ist das Leben eines Christenmenschen durch eine doppelte Exter64 65 66

LDStA 2, 135,31–37. LDStA 2, 135,40–42. Vgl. E. v. Rotterdam, Enchiridion militis christiani / Handbüchlein eines christlichen Streiters (in: Erasmus von Rotterdam, Ausgewählte Schriften I, hg. v. W. Welzig, Darmstadt 1968), 124, 126. 67 LDStA 2, 154,13–21.

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nität bestimmt, wie es Luther in der Konklusion des Freiheitstraktates festgehalten hat: »Ein Christenmensch lebt nicht in sich selbst, sondern in Christus und in seinem Nächsten, oder er ist kein Christenmensch; in Christus aber lebt er durch den Glauben, im Nächsten durch die Liebe. Durch den Glauben wird er über sich hinaus nach oben zu Gott gezogen, umgekehrt fällt er durch die Liebe unter sich herab auf den Nächsten, doch bleibt er stets in Gott und seiner Liebe.«68 Die so beschriebene, christliche Freiheit wird, so muss man Luther verstehen, ständig pervertiert69 oder – nach seinem Sprachgebrauch – »fleischlich« verstanden. Die Freiheit ist immer dann falsch oder »fleischlich« verstanden, wenn sie als ein Freibrief benutzt wird, das Seine zu suchen. Das war nach Luthers Sicht zum Beispiel der Fall, wenn die Bauern für sich innerweltliche Rechte und Freiheiten im Namen des Evangeliums forderten. Luther konnte da zum Beispiel zunächst kurz – und für modernes Empfinden brutal – antworten: »Es soll keyn leybeygener seyn, Weyl vns Christus hatt alle befreyet, Was ist das? Das heysst Christliche freyheyt, gantz fleysschlich machen.«70 Und nach wenigen Zeilen folgt diese »Erklärung«: »Denn eyn leybeygener kann wol Christen seyn vnd Christliche freyheyt haben, gleich wie eyn gefangener odder krancker Christen ist, vnd doch nicht frey ist.«71 Der »Fehler« auf Seiten der Bauern bestand darin, dass nicht richtig zwischen »geistlich« und »weltlich« unterschieden wurde: »Es will dißer artickel [= der dritte der zwölf Bauernartikel, 1525] alle Menschen gleich machen, und aus dem geystli68 69 70 71

LDStA 2, 175,5–11. Vgl. LDStA 2, 174,17f. WA 18, 326, 14f. WA 18, 327, 2–04.

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chen reich Christs eyn welltlich eusserlich reich machen, wilchs vn muglich ist. Denn welltlich reich kan nicht stehen, wo nicht vngleicheyt ist, ynn personen, das ettliche frey, ettliche gefangen, ettliche herrn, ettliche vnterthan etc.«72 Das Geschehen, auf das der Begriff »christliche Freiheit« hinweist, kann auch – dafür gibt es schon Beispiele in dem Freiheitstraktat – ohne diesen Begriff beschrieben werden, ja, der Begriff kann sozusagen zurücktreten und tut es im weiteren Verlauf der Reformation und des Schrifttums Luthers – vielleicht gerade weil er zu solchen »fleischlichen« Missverständnissen Anlass gegeben hat. Man kann sich darüber streiten, ob »Freiheit« oder »christliche Freiheit« ein Kernbegriff der reformatorischen Theologie Luthers ist, aber die geistliche Wirklichkeit, die dadurch benannt wird, gehört doch wohl zum innersten Kern dessen, worum es in seinem theologischen Schaffen geht, wobei in Erinnerung bleiben muss, dass sich Luther als Prediger des Evangeliums verstanden hat. In dem Freiheitstraktat kommt Luther mehrmals darauf zu sprechen, was hier, wenn man so sagen darf, auf dem Spiel steht, z.B. in diesem Passus: »Es ist jedoch notwendig, zu dem Zweck zu predigen, dass der Glaube an Christus befördert wird, dass es nicht nur Christus ist, sondern Christus für dich und für mich, und dass er in uns das wirkt, was von ihm gesagt wird und was sein Name sagt.«73 Die evangeliumsgemäße Lehre oder Predigt von der christlichen Freiheit, die eine theologisch präzise Unterscheidung von Gesetz und Evangelium impliziert, dient eben diesem Geschehen – unter anderem auch dadurch, dass Missverständnisse oder »falsche Meinungen« aus dem Weg geräumt werden. Gewissermaßen ist ja der ganze Freiheitstraktat eine solche Predigt. 72 73

WA 18, 327, 4–8. LDStA 2, 147,2–7.

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Es geht aber nicht nur um falsche oder richtige – in Worte gefasste – Meinungen, sondern um die Feindschaft des alten Menschen gegen Gott. Der alte Mensch wird allein von Christus überwunden, und deshalb endet der Haupttext des Traktates mit der schon zitierten Bitte: »Möge Christus uns befähigen, sie [d.h. die christliche Freiheit] zu erkennen und zu bewahren, AMEN.«74 Der Anhang des lateinischen Traktates endet mit einer entsprechenden Bitte, nachdem Luther zuvor festgestellt hat, dass es für die natura humana unmöglich ist, sich aus eigenem Antrieb der Werkeknechtschaft zu entledigen, um die Freiheit des Glaubens zu erkennen: »[…] Darum muss man beten, dass der Herr uns zieht und uns zu ›Theodidakten‹, das heißt, für Gott belehrbar, macht und dass er selbst [wie er es versprochen hat] sein Gesetz in unsere Herzen schreibt: Sonst ist es mit uns ganz aus. Wenn er uns nämlich nicht selbst diese Weisheit, die im Geheimnis verborgen ist, im Innern lehrt: Die Natur kann sie nur verdammen und als häretisch einschätzen, weil sie an ihr Anstoß nimmt und sie ihr töricht erscheint.«75 Der alte Mensch muss bis zum Tode überwunden werden. Die Rede ist also von einem geistlichen Geschehen, das sich immer aufs Neue ereignen muss. Peter Blickle überlegt am Ende seines erwähnten Aufsatzes, »Reformation und Freiheit«, was hätte passieren können, wenn es zu einer Konvergenz der »christlichen Freiheit« und der – wie er jetzt sagt – »politischen Freiheit« gekommen wäre.76 Wie das zu verstehen ist, scheint rätselhaft zu sein, jedenfalls wenn die christliche Freiheit als geistliche Freiheit im Sinne Luthers verstanden wird. Aber nichts spricht dagegen, dass die beiden Freiheiten in einer und derselben Person Wirklichkeit sein könnten. 74 75 76

LDStA 2, 175,19f. LDStA 2, 185,14–22. Blickle, Reformation (s. Anm. 38), 52f.

Zugänge zur Reformation Katholische Perspektiven in ökumenischer Verständigung1 Wolfgang Thönissen

1. Reformation: Reform der Kirche oder Kirchenspaltung? Der 31. Oktober 1517 ist schon recht früh zum Symbol für Ereignisse geworden, die wir heute mit der Reformation des 16. Jahrhunderts verbinden.2 Die Reformation ereignete sich an der Schwelle vom Mittelalter zur Neuzeit. Sie war das Ergebnis eines langfristigen historischen Prozesses, der die gesamte spätmittelalterliche Welt erfasst hatte. Neben theologischen Faktoren traten auch politische und gesellschaftliche Umstände in den Blick. Daraus entstand im Laufe weniger Jahre ein Komplex historischer Ereignisse, der den Zeitraum der Jahre zwischen 1517 und 1555 umfasst. Das Zeitalter der Reformation erfasst ganz unterschiedliche Zeitumstände und Ereignisfolgen. So kann hier ein mehrschichtiger Reformationsbegriff wirksam werden. Er umfasst den Begriff der »reformatio« im historischen Kontext der mittelalterlichen monastischen Reformbewegungen ebenso wie das vom Konzil von Konstanz ausgehende Projekt der Reform der Kirche an Haupt und Gliedern, aber auch den politischen Prozess der Wiederherstellung der rechten Ordnung in allen menschlichen Lebensbereichen, die von Wittenberg angestoßenen und ausge1

Vgl. hierzu den Bericht der Lutherisch/Römisch-katholischen Kommission für die Einheit: Vom Konflikt zur Gemeinschaft. Gemeinsames Lutherisch-Katholisches Reformationsgedenken im Jahr 2017, Leipzig-Paderborn 2013 (abgekürzt: FCC= From Conflict to Communion). 2 FCC Nr. 5.

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henden Reformvorschläge für die Theologie und die kirchliche Praxis, die von anderen europäischen Zentren sich ausbreitenden reformatorischen Bewegungen, die die religiöse Landschaft in Europa seit dem Ausgang des 16. Jahrhunderts allmählich veränderten. Schließlich enthält der Begriff der Reformation auch die mit diesem Ereigniskomplex verbundene Spaltung der abendländischen Kirche, die traditionell mit dem Begriff der Gegenreformation verbunden wird. Die Beurteilung dieses Komplexes von historischen Ereignissen zwischen 1517 und 1555 muss die Voraussetzungen und Bedingungen, den Verlauf und auch die Wirkungsgeschichte der Ereignisse gleichermaßen bedenken, soll ein anschauliches Bild der Zeitabläufe entstehen. Die Bewertung des Ereigniskomplexes »Reformation« kann dann nicht allein von seiner Wirkung her vorgenommen werden, also allein aus der Sicht der erfolgten Spaltung der abendländischen Kirche, sondern muss auch die Voraussetzungen angemessen berücksichtigen und ausreichend mit bedenken, die den Reformbewegungen des ausgehenden Mittelalters genügend Raum geben. Lassen sich von daher betrachtet die Wirkungen der Reformation als der einzig möglichen Betrachtungsweise überwinden? Was ändert sich an dieser, wenn die Frage im Raum steht, was die Ereignisse und ihre Folgen ausgelöst haben? Ist die Wirkung der Kirchenspaltung nicht unmittelbar und monokausal das Ergebnis von bestimmten Voraussetzungen und Bedingungen, sondern multiperspektivisch das Ergebnis komplexer Verlaufslinien, dann öffnet sich der Blick auf alternative Möglichkeiten, die die Bewertung des gesamten Ereigniskomplexes verändern. Die Wirkungen resultieren aus Voraussetzungen, die mit dem Ergebnis nicht übereinstimmen. Erst in dieser Perspektive lässt sich dann die Frage erörtern, welches Potenzial an Erkenntnissen darin enthalten ist. In einer solch veränderten Wahrnehmung stecken

Zugänge zur Reformation

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die Möglichkeiten einer heutigen ökumenischen Verständigung. In dieser Perspektive kann die Rückfrage an das mit dem Jahr 1517 anhebende, schließlich zur Reformation sich ausweitende Ereignis und seiner bedeutendsten Person heute erstmals gemeinsam gestellt werden.3 So rücken die Faktoren der Kirchenspaltung, der Reform und der Reformation miteinander in den Blick. Das ist die Herausforderung für unsere Zeit. Diese gemeinsame synthetische Betrachtung hebt die unterschiedlichen Gesichtspunkte, die mit ihr verbunden sind, nicht auf, sondern führt sie unter gewisser Spannung zusammen. Die unterschiedlichen Perspektiven sind nicht deckungsgleich, sie können sich aber gegenseitig ergänzen. Überwunden ist damit eine einseitig kontroverstheologisch und konfessionalistisch fixierte Betrachtungsweise. Ergibt sich mit diesem spannungsreichen Motiv- und Ereigniskomplex ein Mehrwert an Erkenntnis? Welche Antworten können gewonnen werden, wenn die Rückfrage an den Ereigniskomplex der Reformation in lutherisch-katholischer Perspektive gestellt wird? Im Folgenden soll es darum gehen, diese gemeinsame Rückfrage in bestimmen Kontexten zu stellen. Vor allem wird zu prüfen sein, zu welchem Ergebnis diese Rückfrage im Kontext der theologischen Fragestellungen führt. 2. Der neue Umgang mit dem Erbe der Vergangenheit 2017 stehen evangelische wie katholische Christen vor der Aufgabe, an die Veröffentlichung der Ablassthesen vor 500 Jahren und die dadurch ausgelöste Reformation gemeinsam 3

Vgl. hierzu R. Decot, Luthers Bedeutung für das gegenwärtige ökumenische Gespräch aus katholischer Sicht (in: R. Vinke [Hg.], Lutherforschung im 20. Jahrhundert. Rückblick – Bilanz – Ausblick, Mainz 2004, 213–233), 232.

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zu erinnern. Sie tun das von unterschiedlichen Ausgangspunkten aus, wollen das aber, dem Geist ökumenischer Zusammenarbeit entsprechend, gemeinsam tun. Es wird im Jahr 2017 allerdings nicht das erste Mal sein, dass sie miteinander an Personen und Ereignisse der Reformation erinnern. Schon 1980 anlässlich des 450. Jahrestages der Confessio Augustana bot sich für Lutheraner und Katholiken die Gelegenheit, ein gemeinsames Verständnis in grundlegenden Glaubenswahrheiten zu erschließen, das auf Jesus Christus als lebendiger Mitte unseres christlichen Glaubens verweist.4 Anlässlich der 500. Wiederkehr des Geburtstages von Martin Luther 1983 konnten einige wesentliche Anliegen Luthers gemeinsam betont werden. »Weder die evangelische noch die katholische Christenheit kann an der Gestalt und der Botschaft dieses Menschen vorbeigehen.«5 Die im 20. Jahrhundert im Raum der reformatorischen Kirchen erfolgte Neuerschließung Martin Luthers bot auch der katholischen Theologie die Möglichkeit, Luther neu zu beurteilen. Die intensive Beschäftigung mit Person und Werk Martin Luthers erlaubte es, ihn als Zeugen des Evangeliums, Lehrer im Glauben und Rufer zur geistlichen Erneuerung zu würdigen.6 Jedes Gedenken an wichtige geschichtliche Ereignisse stellt die Frage: Wie gehen wir mit dem Erbe der Vergangenheit um? Dieses Erbe enthält meist hilfreiche wie auch belastende Seiten. Das ist umso mehr der Fall, wenn dieses Erbe wie im Fall der Reformation jahrhundertelang gegensätzlich wahrgenommen und gewertet wurde. Vergangene Erinnerungen waren auf beiden Seiten von Triumphalismus 4 Alle unter einem Christus. Stellungnahme der Gemeinsamen Römisch-katholischen/Evangelisch-lutherischen Kommission zum Augsburgischen Bekenntnis, 1980, Nr. 17 (DWÜ 1, 326). 5 Martin Luther – Zeuge Jesu Christi. Wort der gemeinsamen Römisch-katholischen / Evangelisch-lutherischen Kommission anläßlich des 500. Geburtstages Martin Luthers, 1983, Nr. 1 (DWÜ 2, 444). 6 A.a.O., Nr. 4 (DWÜ 2, 445).

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(»Wir sind die wahre Kirche«) und Polemik gekennzeichnet. Dementsprechend wird das Wort »Reformation« ganz unterschiedlich konnotiert: entweder mit der Spaltung der Kirche oder mit dem Wiedergewinnen des Evangeliums. Man wird zu beachten haben, dass das Wort »Reformation« nicht nur unterschiedliche Konnotationen bei Katholiken und Evangelischen hat, sondern auch völlig verschiedene Dinge bezeichnet: »Reformation« kann eine bestimmte theologische Gesamtkonzeption, verbunden mit einer Glaubensgemeinschaft, meinen; es kann aber auch eine Ereignisfolge der Jahre zwischen 1517 und 1555 bezeichnen, die ganz unterschiedliche Ereignisse wie die Bannung Luthers, den Bauernkrieg, das Augsburger Bekenntnis, den Schmalkaldischen Krieg, das Interim, den Augsburger Frieden usw. einschließt. Wenn man gedenkt und wenn man vom Feiern spricht, muss man sagen, worauf sich das Wort bezieht. Deshalb kommt es in einem gemeinsamen Gedenken darauf an, die Umrisse des historischen Konfliktes zu benennen, der kommemoriert werden soll. Im Blick auf das Jahr 2017 besteht heute die Gelegenheit zu einer gemeinsamen ökumenischen Besinnung auf die Voraussetzungen, den Verlauf und die Wirkungen der Reformation, in deren Mittelpunkt Martin Luther und die Wittenberger Reformbewegung standen.7 Das muss eigens dargelegt werden. Es ist dies eine neue Stufe in der lutherisch-katholischen Begegnung: Nicht mehr stehen Luther, seine Person und sein Werk allein im Vordergrund, sondern die Ereignisse, die zum ganzen historischen Komplex der Reformation hinzugehören. Ein klarer und ungeschminkter Blick auf die Ereignisfolge zeigt schließlich auf, 7

Diese Perspektive nimmt vor allen Dingen die Studie des Ökumenischen Arbeitskreises ein: Reformation 1517–2017. Ökumenische Perspektiven. Für den Ökumenischen Arbeitskreis evangelischer und katholischer Theologen, hg. v. D. Sattler / V. Leppin (DiKi Bd. 16), Freiburg i.Br. / Göttingen 2014.

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wie sich die Wahrnehmung der Reformation unter Katholiken und Lutheranern verändert hat. Die gemeinsame Betrachtung verzichtet auf solche Momente, welche die jeweilig andere Seite oder eine ihrer Anschauungen in einer möglichst schlechten Sicht dastehen lassen will. Eine umfassende und differenzierte Behandlung des historischen Zeitraumes der Reformation wird nicht mehr allein mit einer Hell-Dunkel-Färbung arbeiten, sondern mit einer differenzierten Farbpalette. Dieses farbigere Bild gibt Konturen preis, die bisher unentdeckt oder unterbelichtet geblieben sind. Als Ergebnis einer solchen Sichtweise zeigt sich im Vergleich: Luther hat nicht einseitig die kirchliche Lehre der Tradition verworfen, sondern trachtete danach, sie zu erneuern; er hat nicht vorrangig einen Bruch mit der Kirche provoziert, obwohl dieser als Wirkung eingetreten ist; er hat nicht vorschnell kirchliche Strukturen geschaffen, um eine neue Kirche zu bauen, obwohl diese das Ergebnis der Auseinandersetzungen war. Aber ebenso hat das Konzil von Trient Luther nicht verurteilt, wie zuvor Leo X., es hat seine Reformanliegen nicht einseitig verworfen, sondern teilweise und in einer sehr differenzierten Weise auf seine Reformanliegen geantwortet, ja implizit, wie sich zeigen wird, rezipiert, ohne sie eigens zu nennen. Das gilt umso mehr vom Zweiten Vatikanischen Konzil. Dieses Konzil stellt damit keine Korrektur des Tridentinums dar, sondern führt seine Leitperspektive, nämlich die der geistlichen und geistigen Erneuerung der Kirche, fort. Das Konzil von Trient ist nicht einseitig ein Konzil der Gegenreformation geworden, obwohl dies lange Zeit in der katholischen Kirche so verstanden worden war, sondern es stellt eine Antwort auf die durch die Reformation aufgeworfenen Fragen dar, die das künftige Gespräch zwischen Lutheranern und Katholiken nicht auf alle Zeiten verhindern, sondern neu ermöglichen wollte. In Verbindung mit der Reform der Kirche beginnt sich so die große Aufgabe des Konzils von Trient

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in der Gegenwart durchzusetzen, zur Heilung der konfessionellen Trennung beizutragen, statt sie zu vertiefen. Was ist das Ergebnis einer solchen gemeinsamen historischhermeneutischen Anstrengung? »Was in der Vergangenheit geschehen ist, kann nicht verändert werden. Was jedoch von der Vergangenheit erinnert wird und wie das geschieht, kann sich im Lauf der Zeit tatsächlich verändern. Erinnerung macht die Vergangenheit gegenwärtig. Während die Vergangenheit selbst unveränderlich ist, ist die Präsenz der Vergangenheit in der Gegenwart veränderlich.«8 Die Vergangenheit muss in der Gegenwart verantwortet und somit gestaltet werden. Lutheraner und Katholiken müssen sich nicht mehr gegenseitig verurteilen und verunglimpfen, weil sie meinen, sie seien durch die geschichtlichen Ereignisse dazu gezwungen. Sie können freier und losgelöster mit den Ereignissen und ihren Folgen umgehen, die ihnen keine vorgefertigten Antworten aufzwingen, sondern neue Orientierungen erlauben. So beginnt sich die Wahrnehmung der Vergangenheit allmählich zu verändern; was als unumstößliches Urteil betrachtet wurde, hält der kritischen Prüfung nicht mehr stand. Lutheraner und Katholiken sind nicht auf alle Zeiten voneinander geschieden und widereinander.9 3. Vom Ketzer zum kirchlichen Theologen: Luther neu erschließen Für Jahrhunderte war Luther in den Augen von Katholiken Häretiker und Kirchenspalter. Auf evangelischer Seite wurde Luther als Kirchenstifter glorifiziert und zum Nationalhelden stilisiert.10 Gegenseitig bezichtigten sich Lutheraner 8 9

FCC Nr. 16. Um ein Diktum Luthers aus den Schmalkaldischen Artikeln aufzunehmen (BSLK, 419). 10 Martin Luther – Zeuge Jesu Christi (s. Anm. 5), Nr. 2 (DWÜ 2, 444f).

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und Katholiken des Glaubensabfalls. In dieser kontroverstheologisch und konfessionalistisch aufgeheizten Lage war eine gemeinsame Perspektive auf Luther und die von ihm ausgehende Reformbewegung ausgeschlossen. Die beginnende ökumenische Bewegung im 20. Jahrhundert ermöglichte erstmals eine vorsichtige Annäherung an die Person Martin Luthers. Katholische Forscher haben gezeigt, »dass die katholische Literatur über Luther während der letzten vier Jahrhunderte bis hin zur Moderne maßgeblich durch die Kommentare von Johannes Cochlaeus, eines zeitgenössischen Gegners Luthers und Beraters des Herzogs Georg von Sachsen, geprägt wurde. Cochlaeus hatte Luther als vom Glauben abgefallenen Mönch, als Zerstörer des Christentums, Verderber der Moral und Ketzer bezeichnet.«11 Durch sorgfältiges historisches Arbeiten konnte sich die katholische Forschung von der einseitigen Herangehensweise an Person und Werk Luthers allmählich frei machen.12 Aus dem Interesse von Katholiken an der Reformationsgeschichte, das in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch vielfältige Anstrengungen der katholischen Bevölkerung im protestantisch dominierten Deutschen Reich erwacht war, konnten sich schon früh ökumenisch gesinnte katholische Theologen von einer einseitigen, antirömischen protestantischen Historiographie befreien und sich zu einer Grundthese durchringen, nach der Luther in sich einen Katholizismus überwand, der nicht katholisch war.13 Für diese Ansicht, die der katholische Historiker Joseph Lortz populär machte, dienten Leben und Lehre der Kirche im späten Mittelalter hauptsächlich als negativer Hintergrund der Reformation. Der Schlüssel zum 11 12

FCC Nr. 22. Das ist das Lebenswerk von A. Herte. Vgl. J. Ernesti, Art. Herte, Adolf (in: J. Ernesti / W. Thönissen [Hg.], Personenlexikon Ökumene, Freiburg i.Br. 2010), 90f. 13 So die These von J. Lortz, Die Reformation in Deutschland, Bd. 1, Freiburg i.Br. 1940, 176.

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Verstehen der Reformation als Abfall von der katholischen Kirche liegt danach in der Verfassung der spätmittelalterlichen Kirche und der theologischen Unklarheit innerhalb der katholischen Theologie.14 »Luther wurde auf neue Art und Weise als ernster religiöser Mensch und gewissenhafter Mann des Gebets beschrieben. Nüchterne historische Analysen anderer katholischer Theologen haben gezeigt, dass nicht die Kerngedanken der Reformation, wie zum Beispiel die Rechtfertigungslehre, zur Spaltung der Kirche führten, sondern vielmehr Luthers Kritik an der Verfassung der Kirche seiner Zeit, wie sie sich aus diesen Anliegen entwickelte.«15 Nachdem Jahrzehnte später Johannes Kardinal Willebrands Luther in gewisser Weise Gerechtigkeit widerfahren ließ, indem er die tiefe Religiösität Luthers würdigte,16 waren es vor allem Papst Johannes Paul II. und dann in jüngster Zeit Papst Benedikt XVI., die das Bild Luthers vervollständigten. Johannes Paul II. hob 1996 den Willen Luthers zur Erneuerung der Kirche hervor;17 Benedikt XVI. würdigte in Luther die tiefe Leidenschaft und Triebfeder seines ganzen Lebens auf der Suche nach Gott.18 Es war nicht die Absicht Luthers, die Kirche zu spalten. In einem weiteren Schritt ist es der katholischen Lutherforschung gelungen, durch einen systematischen Vergleich zweier exemplarischer Theologen der beiden Konfessionen, Thomas von Aquin und Martin Luther, analoge theologische Inhalte in unterschiedlichen theologischen Gedankenstrukturen und -systemen, Denkformen genannt, zu entde14 15 16

A.a.O., 137. FCC Nr. 22. J. Kardinal Willebrands, Martin Luther und die Reformation aus heutiger Sicht (in: Mandatum Unitatis. Beiträge zur Ökumene [KKSMI 16], Paderborn 1989), 265. 17 Predigten und Ansprachen von Papst Johannes Paul II. bei seinem dritten Pastoralbesuch in Deutschland (1996) (VApS 126, 32). 18 Apostolische Reise Seiner Heiligkeit Papst Benedikt XVI. nach Berlin, Erfurt und Freiburg 22.–25. September 2011 (VApS 189, 71).

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cken. Ein hermeneutischer Vergleich zwischen der Theologie des Thomas von Aquin und Martin Luthers kann aufzeigen, dass beide Theologen sehr unterschiedliche Wege im Denken gegangen sind, die sich nicht gegenseitig ausschließen müssen, die sich in manchen Fällen sogar komplementär zueinander verhalten. »Diese Arbeit erlaubte es den Theologen, Luthers Theologie in ihrem eigenen Horizont zu verstehen. Gleichzeitig untersuchte die katholische Forschung die Bedeutung der Rechtfertigungslehre innerhalb des Augsburger Bekenntnisses. Dabei wurden Luthers reformatorische Anliegen in den weiteren Kontext der lutherischen Bekenntnisbildung gestellt. So konnte man erkennen, dass es die Intention des Augsburger Bekenntnisses war, grundlegende reformatorische Anliegen zum Ausdruck zu bringen und die Einheit der Kirche zu bewahren.«19 Anlässlich des 450. Jahrestages der Übergabe des Augsburger Bekenntnisses konnte gemeinsam von lutherischen und katholischen Theologen gezeigt werden, dass die Confessio Augustana nicht das Dokument der Spaltung, nicht das Gründungsdokument einer neuen Kirche ist, sondern Zeichen und Ausdruck für die Wahrung der Einheit in der Kirche.20 In diesem Sinn ist die Confessio Augustana in Wahrheit ein katholisches Dokument. Das nach dem ersten Papstbesuch Johannes Pauls II. in Deutschland anfangs der Achtzigerjahre begonnene Projekt des Ökumenischen Arbeitskreises evangelischer und katholischer Theologen unter dem Titel »Lehrverurteilungen – kirchentrennend?«21 hat auf den Spuren der katholischen Lutherforschung dazu beigetragen, die einstmals ausgesprochenen Verurteilungen und Verdammungen, die sich in 19 20 21

FCC Nr. 23. Alle unter einem Christus (s. Anm. 4), Nr. 10 (DWÜ I, 325). K. Lehmann / W. Pannenberg (Hg.), Lehrverurteilungen – kirchentrennend? I: Rechtfertigung, Sakramente und Amt im Zeitalter der Reformation und heute (DiKi Bd. 4), Freiburg i.Br. / Göttingen 1986.

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den Aussagen Luthers und evangelisch-lutherischer Bekenntnisschriften ebenso finden wie in den Entscheidungen des Konzils von Trient, auf ihre historische Tragfähigkeit hin zu überprüfen. So konnte durch mühevolle historischkritische Detailarbeit festgestellt werden, dass die wechselseitigen Verurteilungen weithin auf Missverständnissen der Gegenposition, auf einseitigen Auslegungen oder falschen Akzentsetzungen beruhten, sodass diese heute nicht mehr mit kirchentrennender Wirkung einhergehen müssen. Diese hermeneutisch-historisch-kritische Methode konnte zuletzt vom Lutherischen Weltbund wie der Römisch-katholischen Kirche in ihrer gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre von 1999 angewandt werden mit dem Ergebnis, dass zwischen Lutheranern und Katholiken ein Konsens in den grundlegenden Wahrheiten der Rechtfertigungslehre festgestellt werden konnte.22 In der für die Reformatoren so zentralen Frage nach der Rechtfertigung ist der Grund zur gegenseitigen Verurteilung entfallen. Diese im Lauf der Jahrzehnte allmählich sich durchsetzenden Veränderungen in der gegenseitigen Wahrnehmung theologischer Grundgehalte prägen auch die Erinnerung an die Ereignisse der Vergangenheit. Die katholische Lutherforschung hat den Weg für eine sachgemäße Auseinandersetzung mit der Person und der Theologie Martin Luthers geebnet. Ebenso ist es der lutherischen Forschung gelungen, das Bild Martin Luthers von einseitigen Beschreibungen und überakzentuierten Markierungen zu befreien. Vor uns taucht der tief im Denken der mittelalterlichen Theologie und des Mönchtums eingebettete Theologe und Professor auf, der sich in seiner theologischen Arbeit auf die Auslegung der biblischen Schriften konzentrierte, dabei die Kirchenväter von Augustinus bis hin zu Bernhard von Clairvaux schätzte und berücksichtigte, gegenüber der scholasti22

Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre (= GE), Nr. 14–18 (DWÜ 3, 423f).

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schen Theologie und der vor allem durch scholastische Theologen rezipierten Philosophie des Aristoteles eine kritische Haltung einnahm und so eine neue Art der Frömmigkeitstheologie vorantrieb, die vorrangig für Laien gedacht war.23 In der Reflexion auf Luthers Lebensleistung hielt Philipp Melanchthon im Todesjahr Martin Luthers fest, dass dieser im »Ringen um Frömmigkeit« das Denken der Menschen zu Christus zurückrief, indem er zeigte, dass die Sünden um des Sohnes Gottes umsonst vergeben würden; diese Gnade Christi müsse man im Glauben annehmen. Eine klare Unterscheidung zwischen Gesetz und Evangelium verhilft zur Reinigung der theologischen Lehre. Ansonsten ließ Luther, der Diktion Melanchthons zufolge, das apostolische, nizänische und athanasianische Glaubensbekenntnis völlig unangetastet.24 4. Implizite Rezeption: Wege zur ökumenischen Verständigung mit Luthers Theologie Wer Luthers theologische Bedeutung für den ökumenischen Dialog verstehen will, muss sich intensiver mit seiner Theologie beschäftigen.25 Im Besonderen geht es darum, die Eigenart und die Argumentationsweise seiner Theologie zu erkennen. Der Blick fällt zunächst auf die Argumentation 23 24

FCC Nr. 101. Ph. Melanchthon, Historia Lutheri, 1546 (in: CR 6, 155–170, Nr. 3478 [Deutsche Übersetzung: Melanchthon deutsch, hg. v. M. Beyer u.a., Bd. 2, Leipzig 1997, 169–188]). 25 Das leistet der Bericht der Lutherisch/Römisch-Katholischen Kommission für die Einheit zum Reformationsgedenken im Jahr 2017 »Vom Konflikt zur Gemeinschaft«. Das Dokument greift vier Themen heraus: Rechtfertigung, Eucharistie, Amt und Schrift/Tradition, allesamt Hauptthemen der Theologie Martin Luthers, aber deswegen auch Haupthemen des lutherisch-katholischen Dialogs der vergangenen fünfzig Jahre.

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Luthers: Worauf richtet er seine Kritik? Woran übt er Kritik? Welche Argumente benutzt er dabei? Wie sieht sein theologisches Anliegen aus? Erst wenn wir erkennen, was Luther kritisiert, verstehen wir auch seine Argumente und die seiner Gegner, insbesondere die Argumentation des Konzils von Trient. Indem wir beides aufeinander beziehen, wird der Gegenstand der Kontroverse klarer. In der Beschreibung der Argumente werden dann in einem zweiten Schritt die jeweiligen Anliegen deutlicher. Indem die Anliegen mit den Argumenten der je anderen Seite verglichen werden, wird sich herausstellen, ob die Anliegen einer Sache treffend mit der Argumentationsweise des Gegners verbunden sind oder nicht. Der ökumenische Dialog hat in der Gegenüberstellung und Bezugnahme von Argumenten und Argumentationsweisen herausarbeiten können, dass die unterschiedlichen Denkweisen und Denkformen nicht übereinstimmen, was in der Vergangenheit oft zu Missverständnissen und nicht selten zu gegenseitigen Verurteilungen geführt hat. So lässt sich heute deutlicher erkennen, dass Kardinal Cajetan nach dem Studium der Schriften Luthers zu dem Schluss kam, dass Luthers Verständnis der Glaubensgewissheit die Gründung einer neuen Kirche impliziere.26 Dieses Urteil ist aber nur innerhalb seines eigenen theologischen Systems schlüssig. Verlässt man dieses und wendet sich der Denkweise Luthers zu, verändern sich Anliegen und Intentionen in einem signifikanten Maße. Lassen sich diese in der unterschiedlichen Zuordnung von Anliegen und Aussagen wurzelnden Missverständnisse ausräumen? Indem man Luther selbst in seinem historischen und denkformabhängigen Zusammenhang darstellt und dann, in einem zweiten Schritt, zeigt, wie man ökumenisch mit diesen Themen umgegangen ist, wird das Proprium der Theologie Martin Luthers klarer erkennbar. Zugleich kann erörtert werden, ob und wie es sich ökumenisch rezi26

FCC Nr. 137.

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pieren lässt. Dabei kann man sich der inzwischen gewonnenen Erkenntnisse in der Lutherforschung bedienen. So zeigt sich schließlich, wo und wie sich Konvergenzen oder sogar Konsense eröffnen, die den Weg zur Überwindung der Kontroversen ermöglichen. Das kann hier nur exemplarisch an den vier genannten Beispielen exerziert werden. Dabei kann nicht die ganze Tiefe der einzelnen Fragestellungen ausgelotet werden. Entsprechend der hier verfolgten Leitlinie werden die Ausgangspunkte der Kontroverse bestimmt, um von dorther die inzwischen erfolgten Verständigungen auszuloten und darzustellen. 4.1 Zur Frage der Rechtfertigung: Der Streit um die Theologie Martin Luthers konzentrierte sich sehr früh auf das Verständnis der Rechtfertigung. Er nahm seinen Ausgangspunkt bei einer neuen Besinnung Luthers über das Bußsakrament. Das ist bereits Thema der 95 Thesen über die Wirkung des Ablasses und zahlreichen zur selben Zeit verfassten Schriften. Luthers Widerspruch zielte nicht auf die Abschaffung des Bußsakraments. Luthers zentrale Frage war vielmehr: Wie erlange ich die Vergebung der Sünden? Der Theologie seiner Zeit hat Luther entnehmen können, dass Gott dem Menschen seine Sünde vergibt, wenn dieser nur in einem aufrichtigen Akt der Liebe seine Sünden bereut. Es ist die Aufgabe des Priesters, die durch die vollständige Reue bereits erfolgte Sündenvergebung durch die Absolution anzuzeigen und zu erklären. Die Vergebung der Sünden ist die Wirkung der Reue.27 Dahinter lässt sich die nominalistische Theorie ausmachen, dass Gott dem, der tut, was in seinen Möglichkeiten steckt, die Gnade nicht verweigert.28 Danach erscheint die Recht27

H. Vorgrimler, Buße und Krankensalbung (HDG IV/3), Freiburg i.Br. 21978, 149. 28 »Facienti quod in se est, Deus non denegat gratiam« (FCC Nr. 102).

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fertigung des Sünders als Folge der in der Sündenvergabe bereits vollzogenen, allerdings von Gott geschenkten Reue des Menschen. Luther begann in seiner intensiven Auseinandersetzung mit der spätmittelalterlichen Bußlehre zu begreifen, dass die Reue umgekehrt auf einer Zusage Gottes beruht, die der Mensch im Glauben annimmt und ergreift. Johannes von Staupitz hat mit dieser Lehre angefangen, versichert Luther; wesentliche Impulse erhält er durch Bernhard von Clairvaux von Augustinus.29 Der Glaube ist die allein angemessene Antwort auf die im Wort erfolgte Zusage Gottes. Rechtfertigung des Menschen geschieht allein aus Gnade im Glauben an die Heilstat Jesu Christi. Zwar gab es auch noch »im 16. Jahrhundert eine beachtliche Konvergenz zwischen den lutherischen und katholischen Auffassungen hinsichtlich der Notwendigkeit von Gottes Gnade und der Unfähigkeit, das Heil aus eigenen Kräften zu erlangen.«30 Allerdings fanden katholische Theologen Luthers Auffassungen beunruhigend. »Einiges an Luthers Sprache weckte in ihnen die Sorge, dass er die personale Verantwortung des Menschen für seine Handlungen leugnete. Das erklärt, warum das Konzil von Trient die Verantwortung der menschlichen Person und ihre Fähigkeit zum Mitwirken mit der göttlichen Gnade betonte. Katholiken unterstrichen, dass der Gerechtfertigte in die Entfaltung der Gnade in seinem Leben mit einbezogen werden sollte. Darum tragen menschliche Anstrengungen im Gerechtfertigten zu einem intensiveren Wachstum in der Gnade und in der Gemeinschaft mit Gott bei.«31 Das Konzil von Trient stellte einerseits klar heraus, dass der 29 Vgl. W. Thönissen, Luthers 95 Thesen gegen den Ablass (1517) – Ihre Bedeutung für die Durchsetzung und Wirkung der Reformation (in: I. Dingel / H.P. Jürgens [Hg.], Meilensteine der Reformation. Schlüsseldokumente der frühen Wirksamkeit Martin Luthers, Gütersloh 2014), 95. 30 FCC Nr. 119. 31 Ebd.

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Mensch nicht durch seine Werke oder Kräfte seiner Natur ohne die göttliche Gnade gerechtfertigt werden könne.32 Die einzige Ursache unserer Rechtfertigung ist die Gerechtigkeit Gottes, durch die er uns gerecht macht.33 Andererseits betonte das Konzil, obwohl weder Glaube noch Werke die Gnade der Rechtfertigung verdienen können, dass der Mensch durch freien Willen und Zustimmung mitwirke, um sich auf den Empfang der Rechtfertigungsgnade vorzubereiten und die Gnade durch gute Werken zu mehren.34 Zusammen mit der Vergebung der Sünden erhält der Mensch die durch die Gnade eingegossenen Tugenden: Glaube, Liebe und Hoffnung.35 Der Streit über diese Fragen eskalierte endgültig, als Luther und die anderen Reformatoren die Lehre von der Rechtfertigung des Sünders als den »ersten und Hauptartikel«36 und »Lenker und Richter über alle Teile der christlichen Lehre«37 zu lehren begannen. »Das ist der Grund, warum die Trennung in dieser Frage so einschneidend war und warum die Arbeit an ihrer Überwindung ein Gegenstand von höchster Priorität für die katholisch-lutherischen Beziehungen war.«38 Nachdem in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts diese Kontroverse Gegenstand umfangreicher Untersuchungen durch einzelne Theologen und zahlreiche nationale oder internationale lutherisch-katholische Dialoge wurde, konnten die Ergebnisse dieser Untersuchungen und Dialoge schließlich in der Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre von 1999 offiziell durch die Römisch-katholische Kirche und den Lutherischen Weltbund 32 33 34 35 36 37 38

DH 1551. DH 1529. DH 1554. DH 1530. Schmalkaldische Artikel II,1 (BSLK 415,6). WA 39/I, 205,2f. FCC Nr. 122.

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rezipiert werden.39 Der darin erzielte Konsens in Grundwahrheiten der Rechtfertigungslehre besagt: »Allein aus Gnade im Glauben an die Heilstat Christi, nicht auf Grund unseres Verdienstes werden wir von Gott angenommen und empfangen den Heiligen Geist, der unsere Herzen erneuert und uns befähigt und aufruft zu guten Werken.«40 Der Ausdruck »allein aus Gnade« wird so erklärt: »[D]ie Botschaft von der Rechtfertigung [...] sagt uns, dass wir Sünder unser neues Leben allein der vergebenden und neuschaffenden Barmherzigkeit Gottes verdanken, die wir uns nur schenken lassen und im Glauben empfangen, aber nie – in welcher Form auch immer – verdienen können.«41 Nur in diesem Rahmen können dann die Grenzen und die Würde der menschlichen Freiheit bestimmt werden. Der Ausdruck »allein aus Gnade« wird mit Bezug auf die Bewegung des Menschen zum Heil so ausgelegt, »dass der Mensch im Blick auf sein Heil völlig auf die rettende Gnade Gottes angewiesen ist. Die Freiheit, die er gegenüber den Menschen und Dingen der Welt besitzt, ist keine Freiheit auf sein Heil hin.«42 Im Blick auf das Heil des Menschen ist das Grund-Folge-Verhältnis von Gerechtigkeit und Gnade Gottes, Rechtfertigung und Heiligung des Menschen also klar festgelegt. Nur in dieser von Gott gesetzten Ordnung können dann die Freiheit und das Mitwirken des Menschen angemessen bestimmt werden. Der so festgehaltene Grundkonsens umfasst das Urteil, dass die einstmals ausgesprochenen Verurteilungen nicht mehr die Lehre der je anderen Konfession treffen. Es ist ein Konsens in Grundwahrheiten, der die unterschiedlichen Anliegen und Schwerpunktsetzungen trägt.

39 40 41 42

FCC Nr. 123. GE Nr. 15 (DWÜ 3, 423). GE Nr. 17 (DWÜ 3, 424). GE Nr. 19 (DWÜ 3, 424).

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4.2 Zur Frage der Eucharistie In der spätmittelalterlichen Theologie hatte sich allgemein die Überzeugung durchgesetzt, dass die Realpräsenz Christi unabdingbar an die vom Vierten Laterankonzil festgeschriebene Transsubstantiationslehre gebunden sei, freilich konzentrierten sich die Theologen in der Folgezeit auf die Erklärung dieser Lehre,43 in der man keine letzte Übereinstimmung fand. Auch Luther hielt an der Realpräsenz von Leib und Blut Jesu Christi im Sakrament fest.44 Sein Widerspruch bezog sich nicht auf die Leugnung der Realpräsenz. Er hielt vielmehr fest: Es ist Christus, der sich in seinem Leib und seinem Blut den Kommunikanten gibt. Luther hatte allerdings Fragen zur Art und Weise, wie die kirchliche Lehre das Geheimnis der Gegenwart Christi zum Ausdruck brachte.45 Dabei teilte er die Skepsis vieler Theologen, ob die philosophische Deutung nur mit Hilfe der aristotelischen Unterscheidung von Substanz und Akzidenz geleistet werden könne. Seine Zurückweisung der Idee der Transsubstantiation deuteten katholische Theologen so, als wolle Luther die Realpräsenz aufgeben. Aber auch das Konzil von Trient unterschied zwischen der Überzeugung von der Wandlung der Elemente und ihrer begrifflichen Erfassung und erklärte: »Diese Wandlung [conversio] wurde von der heiligen katholischen Kirche treffend und im eigentlichen Sinne Wesensverwandlung [transsubstantiatio] genannt.«46 Noch klarer fasst das Konzil dies im Can. 2 des Dekretes über das Sakrament der Eucharistie auf: Die katholische Kirche nennt »diese Wandlung sehr treffend We43 44

DH 802. B. Neunheuser, Eucharistie in Mittelalter und Neuzeit (HDG IV, 4), Freiburg i.Br. 1963, 44–53. 45 FCC Nr. 141. 46 DH 1642 (Dekret über das Sakrament der Eucharistie, 13. Sitzung, 11. Oktober 1551).

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sensverwandlung«.47 In katholischer Sicht schien die reale Gegenwart Jesu Christi in den Gestalten von Brot und Wein und die Gegenwart der ganzen Wirklichkeit Jesu Christi in jeder der Gestalten durch das begriffliche Konzept der Transsubstantiation gewährleistet zu sein. Freilich war man sich auf kirchlicher Seite nicht der Schwierigkeiten bewusst, die dieses Konzept mit sich führte. Gerade in der Opferfrage kam es zu einer klaren gegenseitigen Verurteilung. Luther stellte fest, dass angesichts der Opferfrage keine Annäherung mehr möglich sei. Nach Jahrhunderten kontroverstheologischer Auseinandersetzungen und inzwischen erfolgter Klärungen hat sich die Überzeugung durchgesetzt: »Im Sakrament des Abendmahls ist Jesus Christus, wahrer Gott und wahrer Mensch, voll und ganz mit seinem Leib und seinem Blut unter dem Zeichen von Brot und Wein gegenwärtig.«48 Diese gemeinsame Feststellung macht sich die Einsicht zu Eigen, dass man die Wesensverwandlung auch ohne die Übernahme der Begriffssprache der Transsubstantiation festhalten kann. »Gegenwärtig wird der erhöhte Herr im Abendmahl in seinem dahingegebenen Leib und Blut mit Gottheit und Menschheit durch das Verheißungswort in den Mahlgaben von Brot und Wein in der Kraft des Heiligen Geistes zum Empfang durch die Gemeinde.«49 Heute können Lutheraner und Katholiken das Geheimnis der Gegenwart Jesu Christi gemeinsam hervorheben, wenn sie dies auch auf unterschiedliche Weise tun. Ähnlich verhielt es sich mit der Frage nach dem Opfercharakter der Eucharistie. Luthers Widerspruch bezog sich nicht auf die Frage, ob die Eucharistie als Opfer verstanden 47 48

DH 1652. Das Herrenmahl. Bericht der Gemeinsamen Römisch-katholischen/ Evangelisch-lutherischen Kommission 1978, Nr. 16 (DWÜ I, 276). 49 Lehmann/Pannenberg (Hg.), Lehrverurteilungen (s. Anm. 21), 122.

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werden konnte, sondern wie die kirchliche Lehre dieses Geheimnis zu verstehen lehrte. Im späten Mittelalter war das eine und ein für alle Mal genügsame Opfer Christi nicht mehr voll verstanden worden; viele Theologen sahen in der Messe ein weiteres Opfer, das zu dem einen Opfer Christi hinzukam: »Entsprechend einer von Duns Scotus stammenden Theorie erwartete man von einer Vervielfältigung der Messen eine Vervielfältigung der Gnade, die dann einzelnen Personen zugewandt werden könnte. Das ist der Grund, warum zur Zeit Luthers zum Beispiel in der Schlosskirche von Wittenberg jährlich Tausende von Privatmessen gefeiert wurden.«50 Auch hier suchte Luther eine theologische Lösung. Um der Annahme zu entgehen, dass das Opfer ein gutes Werk der Menschen ist, band Luther den Opfergedanken an die Idee vom Gedächtnis. Es ist Christus selbst, der sich denen gibt, die ihn empfangen. Das Geschenk Christi selbst kann nur im Glauben empfangen werden, war seine Grundüberzeugung. Daher konnte Luther am Opfercharakter der Eucharistie festhalten, wenn er es als Dankopfer verstand. Auch das Konzil von Trient benutzte den Leitbegriff des Gedächtnisses und verstand das eine Opfer Jesu Christi, das in der Feier der Eucharistie als wahres und wirkliches Opfer den Gläubigen vergegenwärtigt, zugewandt und dargereicht wird. Dem lutherisch-katholischen Dialog ist es gelungen, diesen Widerspruch weithin zu lösen. »Gemeinsam bekennen katholische und lutherische Christen, dass Jesus Christus im Herrenmahl ›als der Gekreuzigte gegenwärtig ist, der für unsere Sünden gestorben und für unsere Rechtfertigung wieder auferstanden ist, als das Opfer, das ein für allemal für die Sünden der Welt dargebracht wurde‹. Dieses Opfer kann weder fortgesetzt noch wiederholt, noch ersetzt, noch ergänzt werden; wohl aber kann und soll es je neu in der Mitte der Gemeinde wirksam werden. Über Art und Maß 50

FCC Nr. 146.

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dieser Wirkung gibt es unter uns unterschiedliche Deutungen.«51 Der entscheidende Fortschritt liegt in der Überwindung der Trennung von Opfer und Sakrament: Das eine Geschehen des Selbstopfers Jesu Christi ist auf sakramentale Weise gegenwärtig, im Vollzug der Eucharistie wird das Kreuzesgeschehen gegenwärtig in Brot und Wein, der Gegenwartsweise seines Leibes und seines Blutes in der Mahlfeier selbst. Gedächtnis und Gegenwart sind nicht zwei voneinander getrennte Weisen seiner Realpräsenz, sondern zwei miteinander verbundene Seiten ein und desselben Geschehens. Wenn das klar geworden ist, dann liegt die Überwindung der Kontroverse darin, unterschiedliche Denkformen miteinander zu verbinden, indem man die Grundüberzeugung von der heilbringenden Gegenwart Christi teilt. 4.3 Über das Amt Luthers Widerspruch gegen das Verständnis des Amtes in der spätmittelalterlichen Kirche bezog sich nicht vorrangig auf die Leugnung des geweihten Priestertums, sondern auf eine im Mittelalter populäre Deutung, die einen wirklichen Unterschied, ja einen Dissens zwischen Amt und Christsein behauptete: »Luthers theologische Vorstellung vom Christen als Priester widersprach der Ordnung der Gesellschaft, die sich im Mittelalter weit verbreitet hatte. Nach Gratian gab es zwei Arten von Christen, Kleriker und Laien.52 Mit seiner Lehre vom allgemeinen Priestertum wollte Luther dieser Unterscheidung die Grundlage wegnehmen. Was ein Christ als Priester ist, ergibt sich aus der Teilhabe am Priestertum Christi: Er oder sie bringt die Anliegen der Menschen im Gebet vor Gott und die Anlie51 52

Das Herrenmahl (s. Anm. 48), Nr. 56 (DWÜ 1, 288). Decretum Gratiani 2.12.1.7 (E. Friedberg [Hg.], Corpus Iuris Canonici, Bd. I, Graz 1955, 678).

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gen Gottes zu den Menschen durch die Weitergabe des Evangeliums.«53 Die Kritik Luthers richtete sich auf den bei dieser Vorstellung vorherrschenden Unterschied im Gnadenstand von Priester und Christ. Alle Christen sind wahrhaft geistlichen Standes. Das ordinationsgebundene Amt verstand Luther als öffentlichen Dienst für die ganze Kirche. »Pfarrer sind ministri [Diener]. Dieses Amt steht nicht in Konkurrenz zum allgemeinen Priestertum aller Getauften; es dient ihm vielmehr, damit alle Christenmenschen einander Priester sein können.«54 Luther hat in seiner Schrift an die Böhmen die Frage erörtert, ob eine Einsetzung eines Pfarrers in das geistliche Amt auch ohne den Akt eines Bischofs möglich ist, also in einer Notsituation auch eine Gemeinde aus ihrer Versammlung heraus geeignete Personen zum Pfarramt empfehlen und bestätigen kann. Dabei hat Luther selbstverständlich vorausgesetzt, dass das ordinationsgebundene Amt für die Kirche notwendig sei.55 Melanchthon hat noch nach dem Tode Luthers an der Überzeugung festgehalten, dass die Ordination Sakrament genannt werden könne.56 Während das Konzil von Trient von einem heiligen (sacerdotii ministerium),57 einem sichtbaren und äußeren Priestertum58 sprach, ist es erst dem Zweiten Vatikanischen Konzil gelungen, diesen Widerspruch weithin aufzulösen: »Das gemeinsame Priestertum der Gläubigen aber und das Priestertum des Dienstes, das heißt das hierarchische Priestertum, unterscheiden sich zwar dem Wesen und nicht bloß dem Grade nach. Dennoch sind sie einander zuge53 54 55

FCC Nr. 164. FCC Nr. 165. Die Apostolizität der Kirche. Studiendokument der Lutherisch / Römisch-katholischen Kommission für die Einheit, Nr. 202 (DWÜ 4, 593f). 56 Confessio Saxonica 1551, 409 (MSA VI, 1219). 57 DH 1765. 58 DH 1771.

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ordnet: das eine wie das andere nämlich nimmt je auf besondere Weise am Priestertum Christi teil.«59 Der lutherisch-katholische Dialog hat diese Lösung des Konzils voll anerkannt und aufgenommen. Gemeinsam ist man der Überzeugung, dass das ordinationsgebundene Amt göttlichen Ursprungs ist.60 »Ordinierte Amtsträger haben eine besondere Aufgabe innerhalb der Sendung der ganzen Kirche.«61 Das Amt ist Dienst am Wort Gottes, der Verkündigung des Evangeliums. Es schließt die Verwaltung, die Spendung der Sakramente ein. Freilich sind in der Amtsthematik noch viele Fragen ungeklärt. Das betrifft das dreigestufte Amt, die Ordination als sakramentale Weihehandlung, das Bischofsamt insbesondere, das universale Dienstamt und auch die Frage nach dem Priestertum der Frau. 4.4 Zur Frage von Schrift und Tradition Luthers Auffassung über die Stellung der Heiligen Schrift in der Lehre der Kirche entwickelte sich aus seiner Auseinandersetzung mit der Lehre vom Ablass und der Buße. Seine frühen Gegner Johannes Eck und Silvester Prierias legten Luthers Verständnis von der Heiligen Schrift als Widerspruch zur Autorität von Lehramt und Kirche aus. Luther betonte jedoch die »alleinige« Autorität der Heiligen Schrift nicht gegen die Autorität der Kirche, sondern im Zusammenhang mit ihr. »Luther selbst hat den Ausdruck ›allein die Schrift‹ (sola scriptura) selten gebraucht. Sein Hauptanliegen war, dass nichts eine höhere Autorität beanspruchen kann als die Schrift. Er wandte sich mit größter Schärfe gegen jeden und jedes, das die Aussagen der Schrift veränderte oder verdrängte. Aber obgleich er die Autorität der Schrift allein betonte, las er die Schrift nicht 59 60 61

LG 10. FCC Nr. 178. Die Apostolizität der Kirche (s. Anm. 55), Nr. 274 (DWÜ IV, 618).

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allein, sondern mit Bezug auf bestimmte Kontexte und in Bezug auf das christologische und trinitarische Bekenntnis der frühen Kirche, das für ihn die Absicht und Meinung der Schrift zum Ausdruck brachte. Er hörte nicht auf, die Schrift durch den Kleinen und Großen Katechismus zu lernen, die er als kurze Summarien der Schrift verstand. Er vollzog seine Auslegung mit Bezug auf die Kirchenväter, vor allem Augustin; er machte intensiven Gebrauch von früheren Auslegungen, und er benutzte alle verfügbaren Hilfsmittel der humanistischen Philologie. Er vollzog seine Auslegung der Schrift in direkter Auseinandersetzung mit den theologischen Konzeptionen seiner Zeit und denen früherer Generationen. Seine Leseweise der Bibel war erfahrungsgestützt, und er praktizierte sie konsequent in der Gemeinschaft der Glaubenden.«62 Das Konzil von Trient entschied in dieser Debatte um Schrift und Tradition, dass die Verkündigung des Evangeliums die »Quelle aller heilsamen Wahrheit«63 ist. Diese Wahrheit ist in geschriebenen Büchern und in ungeschriebenen Überlieferungen enthalten. »In einer Zeit, in der neue Fragen der Unterscheidung von Traditionen und der Autorität, die die Schrift interpretieren kann, aufkamen, versuchten das Konzil von Trient wie auch Theologen in jener Zeit, eine ausgewogene Antwort zu geben. […] Trient hielt die Schrift und ungeschriebene apostolische Traditionen für zwei Mittel, um das Evangelium weiterzugeben. Das erfordert, dass man apostolische Traditionen von kirchlichen Traditionen, die wertvoll, aber zweitrangig und veränderbar sind, unterscheidet. Katholiken waren auch besorgt über die mögliche Gefahr, dass aus privaten Auslegungen der Schrift lehrmäßige Schlüsse gezogen würden. In diesem Licht betonte das Konzil von Trient, dass die Auslegung der Schrift von der Lehrautorität in der Kirche 62 63

FCC Nr. 199. DH 1501.

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geleitet werden sollte.«64 Das Zweite Vatikanische Konzil hat dann weiterhin geklärt, dass die Heilige Schrift Gottes Rede ist, während die Tradition das Wort Gottes an die Nachfolger der Apostel weitergibt, damit sie es in der Verkündigung bewahren, ausbreiten und erklären.65 Im Dialog konnte dann weiter geklärt werden, dass Schrift und Tradition nicht in gleicher Weise Quellen der Offenbarung sind, beide wohl aus dem Wort Gottes hervorgehen, aber das kirchliche Lehramt steht nicht über dem Wort Gottes, sondern dient ihm. »Die Schrift hat sich selbst in der Tradition gegenwärtig gemacht, die deshalb eine wesentliche hermeneutische Rolle zu spielen vermag. Das Zweite Vatikanische Konzil sagt nicht, dass die Tradition neue Wahrheiten über die Schrift hinaus hervorruft, aber dass sie Gewissheit über die von der Schrift beglaubigte Wahrheit vermittelt.«66 Gemeinsam können Lutheraner und Katholiken festhalten: »Deshalb befinden sich Lutheraner und Katholiken mit Blick auf Schrift und Tradition in einer so weitgehenden Übereinstimmung, dass ihre unterschiedlichen Akzentsetzungen nicht aus sich selbst heraus die gegenwärtige Trennung der Kirchen rechtfertigen. Auf diesem Gebiet gibt es eine Einheit in versöhnter Verschiedenheit.«67 4.5 Eine neue Kirche bauen? Wohin haben uns die vier Diskurse geführt? In den Fragen der Rechtfertigung, der Eucharistie, des Amtes, von Schrift und Tradition haben sich in der Zeit von 1517 bis 1521 sehr rasch Kontroversen entwickelt, die zu Spaltungen und letztlich der Spaltung der abendländischen Kirche geführt 64 65 66 67

FCC Nr. 201. DV 9. Die Apostolizität der Kirchen (s. Anm. 55), Nr. 410 (DWÜ 4, 662). A.a.O., Nr. 448 (DWÜ 4, 673).

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haben. »Vor seiner Begegnung mit Luther hatte Kardinal Cajetan zwei Schriften des Wittenberger Professors sehr sorgfältig studiert und sogar Traktate über sie geschrieben. Aber Cajetan verstand Luther innerhalb seines eigenen Begriffssystems und missverstand ihn darum in der Frage der Glaubensgewissheit, auch wenn er die Einzelheiten von Luthers Position korrekt wiedergab. Umgekehrt kannte Luther die Theologie des Kardinals nicht, und im Verhör, das nur eine begrenzte Diskussion erlaubte, drängte der Kardinal Luther zum Widerruf. Das Verhör gab Luther nicht die Gelegenheit, die Position des Kardinals zu verstehen. Es ist eine Tragödie, dass zwei der hervorragendsten Theologen des 16. Jahrhunderts einander in einem Häresieverfahren begegneten.«68 Kardinal Cajetan hat Luther im letzten nicht verstanden. Die unterschiedlichen Denkformen ließen eine Verständigung nicht mehr zu. So kam Cajetan zu dem Schluss, dass Luthers Verständnis von der Glaubensgewissheit die Gründung einer neuen Kirche impliziere.69 So ist es Luther auch mit seinen anderen Gegnern Eck und Prierias widerfahren. Je genauer man den Widerspruch Luthers im Geflecht der damaligen Diskussionen um Rechtfertigung, Sakramente, Amt und Schriftverständnis ausmachen kann, umso deutlicher kann erkannt werden, dass sich die jeweiligen Aussageabsichten nicht in jedem Fall konträr zueinander verhalten müssen. Der lutherisch-katholische Dialog konnte die unterschiedlichen Aussagen, Aussageabsichten, schließlich Denkformen genauer bestimmen. Die jeweiligen Erklärungen, die den einzelnen Argumenten beigefügt werden, lassen die Zielrichtung und die Aussageabsichten klarer erkennen. So gelingt es, Missverständnisse und offensichtliche Irrtümer auszuräumen, die zu den jeweiligen Verurteilungen geführt haben. Indem man die Denkformen, die 68 69

FCC Nr. 48. FCC Nr. 137.

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nicht identisch sind, komplementär aufeinander bezieht, ohne sie gegenseitig zu reduzieren, werden Verständigungen zwischen ihnen möglich, die einen Konsens in Grundwahrheiten zu formulieren erlauben. Der Konsens trägt differenzierende Urteile, die sich nicht kontradiktorisch ausschließen. Das führt zu dem Ergebnis: »Die Gründe dafür, den Glauben der Anderen gegenseitig zu verurteilen, sind hinfällig geworden.«70 Deshalb ist der Streit des 16. Jahrhunderts zu Ende. Was ist mit diesem theologischen Ergebnis erreicht worden? Dieses gemeinsame Urteil macht heute plausibel, dass die von den Reformatoren und insbesondere von Luther vorgebrachten Argumente für eine Erneuerung der Theologie und der kirchlichen Praxis nicht außerhalb der Katholizität liegen müssen. Zwar haben sich Cajetan und Luther widersprochen und missverstanden. Aber das Urteil Cajetans ging, so die historische Erkenntnis heute, in seiner Wirkung über den tatsächlichen theologischen Sachverhalt hinaus. Nicht zwangsläufig bedeutet kirchliche Erneuerung eine völlige Neuordnung des kirchlichen Wesens.71 Noch weniger muss es zu einer »gesellschaftlichen Umgestaltung durch die Reformation«72 kommen. Das Priestertum aller Gläubigen ist nicht der Konstruktionspunkt eines neuen, auch politisch 70 71

FCC Nr. 238. »Jeder Christ steht als Priester unmittelbar vor Gott. Kein weiterer Mittler zu Gott ist nötig. Jeder Christ kann selbständig über die rechte Lehre urteilen. Jeder Christ kann Sünden vergeben und das Evangelium verkündigen. Dies ist nicht die Aufgabe nur einer besonderen Gruppe von Menschen. Und jeder Christ kann im Prinzip die Sakramente verwalten, d.h. die Taufe spenden und das Abendmahl austeilen. Nur um der Ordnung willen gibt es Pfarrerinnen und Pfarrer, die die Aufgaben, die alle Christen haben, in besonderer Weise, nämlich dafür qualifiziert und öffentlich dazu berufen, ausüben.« Rechtfertigung und Freiheit. 500 Jahre Reformation 2017. Ein Grundlagentext des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Gütersloh 2014, 90f. 72 Ebd.

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zu verstehenden Freiheitsprogramms, sondern die Abkehr von einem hierarchisch verstandenen Heilskonzepts. In dieser Sicht hat die Reformation allerdings zu einer Veränderung des kirchlichen Wesens geführt. Wird durch die Tatsache, dass Luthers theologisches Reformprogramm innerkatholisch verortet wird, die Reformation letztlich um ihre Wirkung gebracht? 5. Wort Gottes im Leben der Kirche. Von Luther lernen Luthers Kritik an der Theologie und der kirchlichen Praxis seiner Zeit bleibt auch heute eine Herausforderung für die katholische Theologie. Die Anfragen sind nicht dadurch erledigt, dass man Luther zum Ketzer und Kirchenspalter erklärt. Sie haben sich auch nicht dadurch erledigt, dass evangelische Kirchen heute weit über Luther hinausgehende Überzeugungen und theologische Positionen vertreten. Sucht man Luthers theologischen Ort innerhalb einer konfessorischen Katholizität73 neu zu bestimmen, kann man diese Herausforderung Luthers für heute in folgenden fünf Punkten skizzieren: (1) Luther fordert dazu heraus, das menschliche Leben als Leben im Angesicht Gottes zu verstehen und zu leben. Darum ist die Frage nach dem rechten Gottesverhältnis die entscheidende Lebensfrage. Papst Benedikt XVI. hat bei seinem Besuch im Augustinerkloster in Erfurt 2011 Luthers Frage »Wie kriege ich einen gnädigen Gott?« ausdrücklich gewürdigt. »Diese Frage hat ihn ins Herz getroffen und stand hinter all seinem theologischen Suchen und Ringen. Theologie war für Luther keine akademische Angelegenheit, sondern das Ringen um sich selbst, und dies 73

Vgl. A. Sander, Erstrittene Ordination. Georg III. von Anhalt (1507–1553): ein Beispiel für die Ordinationstheologie im Luthertum des 16. Jahrhunderts (in: Cath[M] 60 [2006], 23–52), 25–27.

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wiederum war ein Ringen um Gott und mit Gott.«74 Benedikt XVI. brachte dieses Ringen Luthers mit der Frage nach Gott in unserem Leben in Verbindung. Wie kommt Gott in unserem Leben vor? Die Gottesfrage bedrängt uns nicht mehr. Stellen wir Gott wirklich in die Mitte unseres Lebens? Oder welche Vorstellungen haben wir von Gott? In der Begegnung mit Luther hören wir seinen Ruf nach Gott. (2) Luther fordert dazu heraus, aus der Heiligen Schrift die entscheidende Orientierung für das Gottes- und Menschenverständnis zu gewinnen. Der ökumenische Dialog hat von Anfang an die biblische Dimension des christlichen Glaubens herausgestellt. Die Berufung auf die Heilige Schrift wird hierbei als Norm des christlichen Glaubens verstanden.75 Gemeinsam bekennen sich die christlichen Kirchen zur Autorität der Heiligen Schrift, in der sie das Wort des dreieinigen Gottes erkennen und es von jedem bloßen Menschenwort unterscheiden. Das maßgebende Wort Gottes ist allein im Zeugnis der Heiligen Schrift gegeben. Es entspricht der ökumenischen Überzeugung, wenn die Heilige Schrift als Quelle aller heilsamen Wahrheit in der lebendigen apostolischen Überlieferung des Evangeliums in der Verkündigung und Lehre der Kirche anerkannt wird. Die Heilige Schrift ist nicht ohne die Tradition, welche die Schrift weitergibt, in der sie ausgelegt und gelebt wird. (3) Luther fordert dazu heraus, in Jesus Christus die Mitte der Schrift zu sehen wie auch das Zentrum des Glaubens, den einzigen Mittler zwischen Gott und Mensch. Die brennende Frage Luthers trifft uns auch heute. »Luthers Denken, seine ganze Spiritualität war durchaus christozen74 75

VApS 189, 71. Vgl. hierzu den Abschließenden Bericht des Ökumenischen Arbeitskreises evangelischer und katholischer Theologen, in: Verbindliches Zeugnis III. Schriftverständnis und Schriftgebrauch, hg. v. Th. Schneider / W. Pannenberg (DiKi Bd. 10), Freiburg i.Br. / Göttingen 1998, 290–296, 385–389.

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trisch.«76 Der entscheidende hermeneutische Maßstab für die Auslegung der Heiligen Schrift ist der Fleisch gewordene Jesus Christus. Er ist der einzige Mittler zwischen Gott und den Menschen. Diese Einzigartigkeit Christi findet ihren Ausdruck in der universalen Bedeutung, die Christus für die menschliche Geschichte hat. Er ist der Punkt, auf den hin alle Bestrebungen der menschlichen Geschichte und der Kultur konvergieren.77 Diese universale Heilsmittlerschaft Jesu Christi schließt die Teilhabe der Menschen an der Mittlerschaft als der einzigen Quelle in unterschiedlicher Weise ein.78 (4) Luther fordert dazu heraus, in einer leistungsorientierten Gesellschaft das »allein aus Gnade« ernst zu nehmen, eben weil Christus der einzige Mittler ist. Gottes Initiative geht jeder menschlichen Antwort voraus, sucht und weckt aber diese Antwort. Die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre von 1999 hat dieses Zeugnis von der bedingungslosen Annahme aller Menschen durch die Gnade Gottes besonders hervorgehoben. Die Rechtfertigungslehre bringt damit den Kern menschlicher Existenz vor Gott zum Ausdruck. Zu dieser menschlichen Existenz vor Gott gehört der Imperativ, das Gute zu tun und das Böse zu unterlassen. (5) Luther fordert dazu heraus, die inkarnatorische Dimension des Glaubens, die Leiblichkeit der Vermittlung des Heils und des Evangeliums ernst zu nehmen: Gott, der in Christus Mensch geworden ist, kommt zu uns im hörbaren Wort der Predigt und Seelsorge und im leiblichen Wort, den Sakramenten. Das Wort Gottes ist nicht ohne sakramentale Vermittlung. In Christus ist die Kirche gleichsam 76 77 78

VApS 189, 72. LG 62; GS 45. Das ist Thema der Erklärung DOMINUS IESUS über die Einzigkeit und die Heilsuniversalität Jesu Christi und der Kirche (VApS 148).

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Zeichen und Werkzeug für die Vereinigung des Menschen mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit.79 So bildet die Kirche den wirksamen Ort und die Gemeinschaft, in der das Wort Gottes gehört und gelebt werden kann. Luthers hierin aufscheinender theologischer Reformansatz bezieht sich auf eine Erneuerung der ganzen Theologie aus dem Geist der Heiligen Schrift. Das bedeutet nicht nur, dass die Bibel für Luthers Theologie eine spezifische Rolle spielt, sondern dass er die Bibel in einer besonderen Weise erfasst und für die Theologie zur Geltung bringt. Luther betreibt seine Theologie »als Augustinereremit und damit in der Tradition der monastischen Theologie«.80 Bernhard von Clairvaux weist ihn nachgewiesenermaßen auf entscheidende Stellen des biblischen Rechtfertigungsverständnisses hin.81 Mit den Humanisten teilt Luther zwar den Ansatz, ganz von der Bibel, genauer von den Texten, vom Wortlaut der Bibel her zu denken, doch bringt Luther seinen theologischen Neuansatz nicht so sehr in Übereinstimmung mit der mystischen Grundhaltung,82 sondern, darauf macht uns Melanchthon eigens aufmerksam, in den Bahnen einer aus der spätmittelalterlichen Frömmigkeit herkommenden »Frömmigkeitstheologie«, welche die Theologie auf die Praxis des christlichen Lebens hinlenkte. Luther entfaltet die Theologie konsequent vom Wort Got-

79 80 81

LG 1. FCC 99. Nach dem Zeugnis Melanchthons wurde Luther im Augustinerkloster in Erfurt auf die Auslegung Bernhards hingewiesen (s. Anm. 24). Vgl. hierzu F. Posset, The Real Luther. A Friar at Erfurt and Wittenberg. Exploring Luther‘s Life with Melanchthon as Guide, Saint Louis 2011. 82 Anders V. Leppin, Die fremde Reformation. Luthers mystische Wurzeln, München 2016.

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tes her.83 Die Zielrichtung dieser Theologie ist die Zuwendung des Wortes zum Menschen. Das bedeutet, Luther versteht seine Theologie ganz als applicatio verbi/Evangelii ad hominem.84 Das soll im Folgenden kurz erläutert werden. Das »Wort Gottes ist von allem das Erste.«85 Diesem Wort gibt Luther eine spezifische Deutung. Im Wort bietet Gott den Menschen das Wort seiner Verheißung an. Demnach haben Worte Gottes den Charakter der Zusage (promissio).86 Diese Verheißung geht aus seiner Sendung hervor. Gott wendet von sich aus sein Wort den Menschen zu und macht sie so, wie Luther sagt, gesund. Diese Verheißung ist auf zweifache Weise gegeben, im Alten und im Neuen Testament. Während die Verheißung im AT sich im Bund realisiert, wird sie im NT aus Gnade geschenkt. Dort heißt sie Vergebung aller Sünden und das ewige Leben. Diese kann der Mensch sich nur zusagen lassen. An dieser Verheißung hängt das Heil des Menschen, seine Seligkeit, wie Luther betont.87 Somit denkt Luther die ganze Dynamik im Verhältnis von Gott und Mensch dialogisch als Zusage und Vertrauen. Wenn ohne Verheißung nichts geglaubt werden kann, dann ist der Glaube die angemessene Antwort auf das göttliche Wort der Zusage.88 Verheißung und Glaube gehören nach Luther zusammen; beide sind nötig, keine ist ohne das andere kräftig. Auf den Glauben aber folgen die Werke, ja der Glaube selbst ist nach Luther in dieser Reihenfolge 83

Im Folgenden beziehe ich mich auf Kapitel IV in der Studie »Vom Konflikt zur Gemeinschaft«, erweitere aber die Argumente mit Belegen aus Luthers früher Hauptschrift »De Captivitate Babylonica Ecclesiae«. 84 So in einer Predigt von 1523: WA 11, 210. 85 De Captivitate Babylonica Ecclesiae (WA 6, 516; Martin Luther, Lateinisch-Deutsche Studienausgabe, Bd. 3, 217). 86 FCC Nr. 103. 87 WA 6, 528. 88 FCC Nr. 103.

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und Ordnung gar »das vorzüglichste und höchste aller Werke«,89 durch das Gott handelt. Der Mensch handelt an »Gottes Statt«.90 Ist der Glaube die Antwort auf das göttliche Wort der Heils-Zusage, so wird dieser Glaube in der Taufe vollzogen und vollendet. Die Taufe ist »das unausgesetzte Erinnerung an diese Verheißung«.91 In der Taufe wird diese Verheißung für den Sünder real und gegenwärtig. Glaube und Taufe sind daher auf das engste miteinander verbunden. Wo kein Glaube ist, da hilft die Taufe auch nicht, spitzt Luther das Verhältnis von Glaube und Taufe zu.92 Ist die Taufe das Fundament unter allen Sakramenten, so folgen auf die Taufe die anderen Sakramente. Sie sind Zeichen der göttlichen Zusage. Sie sind eingesetzt, den Glauben zu stärken. Das wird nach Luther vor allem an der Messe deutlich. Sie ist eine Summe und ein kurzer Abriss des Evangeliums,93 weil sie die Botschaft von der Vergebung der Sünden ist. Deshalb nennt Luther die Eucharistie das Testamentum Christi »als Verheißung eines Menschen, der dabei ist zu sterben«.94 So gibt sich Christus den Seinen, indem er sich in Leib und Blut gegenwärtig macht. So ist die Messe »ein Denkmal seiner Verheißung«.95 Entspringt die Kirche aus dem Wort der Verheißung durch den Glauben,96 so ist das Wort Gottes über der Kirche und so ist die Kirche im Wort gestiftet ist. Zwar kann die Kirche die Gnade nicht verheißen, aber ohne den Dienst am Wort Gottes ist das Wort nicht in der Kirche gegenwärtig. 89

WA 6, 530 (Martin Luther, Lateinisch-Deutsche Studienausgabe, Bd. 3, 263). 90 WA 6, 530. 91 WA 6, 528 (Martin Luther, Lateinisch-Deutsche Studienausgabe, Bd. 3, 257). 92 Grund und Ursach aller Artikel (WA 7, 320). 93 De Captivitate Babylonica Ecclesiae (WA 6, 525). 94 FCC Nr. 141. 95 WA 6, 518. 96 WA 6, 560.

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Den Dienst am Wort nennt auch Luther das Amt in der Kirche. Priester sind Diener, das Priestertum ist nichts anderes als ein Dienst, ein Brauch der Kirche. Dieses Amt kann aber niemand an sich ziehen, es sei denn, er wird dazu berufen.97 Was sagt uns diese kurze theologische, wohlgemerkt exemplarische Skizze der frühen Theologie Martin Luthers? Sie zeigt uns nicht nur auf, was Luther denkt, sondern vor allem, wie er denkt. Wenn alles an Gottes Zusage und Verheißung hängt, dann hängen Sakramente und Amt am Wort Gottes. Die Gegenwart und die Wirksamkeit des Wortes Gottes in der Kirche sind nicht ohne den Glauben und nicht ohne die Zeichen der im Wort enthaltenen Heils-Zusage zu haben. Der Verkündigung des Wortes und dem Vollzug des Wortes in den Sakramenten ist das Amt dienend zugeordnet. So gelesen und interpretiert hat Luther die Katholizität der Kirche in einer bestimmten Strukturform und Ordnung zur Geltung gebracht. Wort Gottes in der Heiligen Schrift, Glaube im sakramentalen und ekklesialen Vollzug sind die Eckpunkte einer solchen reformerischen katholischen Synthese. Luther hat sie also keineswegs geleugnet, er hat sie vielmehr soteriologisch zugespitzt. Das Wort Gottes ist immer Heils-Wort, den Menschen zugewendet. Das Wort ist dem Menschen nicht allgemein, sondern in spezifischer Weise jedem einzelnen zugesagt. In dieser Zuwendung des Wortes darf man durchaus den Sinn der Frömmigkeitstheologie sehen. Darauf hat ihn Bernhard von Clairvaux hingewiesen. Deshalb spielt der Glaube hier eine so herausgehobene Rolle. Er ist die einzig angemessene Weise der Antwort des Menschen 97

Wobei die lateinischen Begriffe klar machen, was Luther sagen will: es geht um das ministerium Ecclesiaticum, zu dem jemand berufen wird (rite vocatus), der durch das sacramentum ordinis zum minsterium verbi, zum Dienst am Evangelium, bestimmt ist. Dieses Sakrament versteht Luther als Ritus (WA 6, 566f.).

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auf das im Wort des Evangeliums hin zugesprochene Heil. Dieser Glaube schließt aber die Vermittlung des Heils in Sakrament und Dienst nicht aus, sondern gerade ein. So betreibt dieser Glaube keine Selektion der Heilsmittel, sondern deren sinnvolle Integration in das Ganze der von Christus ausgehenden Heilzuwendung. Das lutherischkatholische Gespräch hat deshalb erklärt, dass die Lehre von der Rechtfertigung und die Lehre von der Kirche zusammengehören.98 6. Katholischer Reformator? Luthers Katholizität ernstnehmen Luther hat durch die Reform des theologischen Denkens die kirchliche Praxis und das kirchliche Leben reformieren wollen. Die Reform der Kirche an Haupt und Gliedern war immer ein Anliegen der Kirche selbst. Ist das Anliegen der Reform der Kirche von jeher mit der katholischen Tradition verbunden, so muss die Frage erlaubt sein, ob die von Luther intendierten Reformbemühungen in Theologie und Kirche, wie sie hier kurz synthetisch zusammengefasst wurden, prinzipiell zur Spaltung der Kirche und damit zur Preisgabe seiner Katholizität führen mussten. Es kann hier nicht das Anliegen sein, Luthers Leben und Werk katholischerseits vollständig zu rehabilitieren, es kann nur die Frage erwogen werden, ob die einstmals ausgesprochenen und immer wiederholten Verurteilungen und Verdammungen von Person und Werk Martin Luthers auf Dauer aufrechterhalten werden müssen. Sowohl die klassische katholische Lutherforschung wie schon eine in den Achtzigerjahren des 98

Kirche und Rechtfertigung. Das Verständnis der Kirche im Licht der Rechtfertigungslehre. Bericht der Gemeinsamen Römisch-katholischen/Evangelisch-lutherischen Kommission, 1993, Nr. 4 (DWÜ, Bd. 3, 320f.).

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20. Jahrhunderts vorgenommene historisch-theologische Prüfung haben zu dem Urteil geführt, dass die damals ausgesprochenen Verurteilungen von Person und Werk Luthers wie der Lehre der Bekenntnisschriften nicht immer sachgerecht erfolgten und teilweise auf Missverständnissen, Irrtümern, falschen Akzentsetzungen beruhten. So erlaubt das heutige Urteil, dass der Streit des 16. Jahrhunderts beendet ist und die Gründe für die wechselseitigen Verurteilungen entfallen sind.99 Daraus erwächst die Erkenntnis, dass Martin Luther bleibend in der allerdings sehr vielfältige Traditionen wie theologische Schulmeinungen und unterschiedliche Lehrentwicklungen umfassenden katholischen Tradition verwurzelt war und ist, aus der er seine Reformanliegen bezog und in der er sie zur Geltung bringen wollte. Die eine Tradition der Kirche verwirklicht sich freilich immer zugleich in und aus den einzelnen theologischen und liturgischen Traditionen. Insoweit schließen sich Luthers Reformanliegen und seine Katholizität nicht gegenseitig aus, sondern ein. Das wiederum hat zur Folge, dass die so wiedergewonnene Einsicht in die Katholizität Luthers eine echte Herausforderung für die Katholizität der ganzen Kirche darstellt. Wenn die Katholizität Luthers nicht zu leugnen ist, so bleibt sie für die Katholizität der Kirche eine ständige und bleibende Herausforderung. Das will die These vom katholischen Reformator andeuten. Dass Luther mit seinen theologischen Reformforderungen eigene Wege gegangen ist und schließlich eine lutherische Konfessionskirche entstanden ist, ist wirkungsgeschichtlich nicht zu leugnen, stellt aber eine erstrangige ökumenische Herausforderung dar. Nur in dieser Hinsicht ist der Reformator Luther auch heute noch von Bedeutung. Andernfalls wäre er nur das Haupt einer von der katholischen Kirche getrennten Konfession, die ihre eigenen Wege geht und sich in konfessioneller Selbstgenügsamkeit erginge. Dieser 99

FCC Nr. 238.

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Gesichtspunkt träfe dann aber auch auf die katholische Kirche zu. Möglicherweise ließen sich diese Erkenntnisse zu der These erweitern, dass, wer heute katholisch sein will, unbedingt ökumenisch sein muss!

Neue Dokumente zum Verständnis der Reformation – eine kritische Sichtung Svend Andersen

Die neuen Dokumente zum Verständnis der Reformation, deren kritische Sichtung mir aufgetragen wurde, enthalten alle eine ökumenische Dimension. Schon aus dem Grunde sind einige vorbereitende Bemerkungen unverzichtbar. Ökumenische Theologie und ökumenische Gespräche sind Gebiete, die in keiner Weise zu meinen Forschungsfeldern gehören. Um meinen Zugang zu erklären, sind daher einige wenige Informationen sowohl zu meinem nationalen Hintergrund als auch zu meinem eigenen Theologendasein angebracht. In diesem Kreise ist wohl nicht unbekannt, dass Dänemark ein besonderes Profil innerhalb der evangelisch-lutherischen Kirchen besitzt. Ich würde das so ausdrücken, dass Dänemark dasjenige Land in der Welt ist, das am hartnäckigsten an dem landesherrlichen Kirchenregiment festgehalten hat. Zwar ist die Staatsverfassung seit 1849 nicht mehr landesherrlich, sondern nur konstitutionell monarchisch und de facto demokratisch, aber die Leitung der evangelisch-lutherischen Kirche, der dänischen Volkskirche, liegt noch bei dem politischen Souverän, heutzutage beim Parlament, dem Folketing – und dem Kirchenminister. 2014 hat die damalige Regierung zwar versucht, der Volkskirche eine gewisse Selbstbestimmung zu gewähren, konnte aber im Parlament keine breite Zustimmung dazu finden. Und so ist der Versuch, der dänischen Volkskirche ihre in der Verfassung in Aussicht gestellte Autonomie zu sichern, noch einmal im Sande verlaufen.

Neue Dokumente zum Verständnis der Reformation

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Die dänische Volkskirche hat somit kein leitendes Gremium oder Amt auf nationaler Ebene – wir haben weder wie die Schweden eine Erzbischöfin, noch wie die Deutschen eine Synode. Diese Lage hat das von vielen beliebte Dogma hervorgebracht, niemand könne im Namen der dänischen Volkskirche sprechen. Und es hat natürlich für die Beteiligung an ökumenischen Tätigkeiten Konsequenzen. Man tut sich in vielen Kreisen schwer, die Bedeutung der Ökumene anzuerkennen. Vielleicht könnte man sagen, es herrsche in breiten Kreisen der dänischen Volkskirche eine Mentalität, die dem politischen Euroskeptizismus entspricht. Das mag mit dem dänischen Nationalcharakter zusammenhängen, den eine Historikerin unlängst als »demütige Selbstbehauptung« charakterisiert hat. Soweit mein kirchlicher Kontext. Was meinen eigenen theologischen Zugang betrifft, bin ich wie gesagt kein ökumenischer Theologe, sondern Systematiker, aber auch das mit einem besonderen dänischen Profil. In Dänemark – wie weitgehend auch in den anderen nordischen Ländern – besteht die systematische Theologie aus zwei gleichrangigen Disziplinen, nämlich Dogmatik einerseits und Ethik und Religionsphilosophie andererseits. Und mein Fach ist eben das letztere, Ethik und Religionsphilosophie. Das bedeutet, dass ich mich sozusagen auf der Grenze zwischen Theologie und Philosophie bewege. Man kann theologische Ethik meiner Meinung nach nicht betreiben, ohne auch die philosophische Ethik bzw. die Moralphilosophie einzubeziehen. Das habe ich in meiner Einführung in die Ethik (De Gruyter 20052) zu praktizieren versucht. Und dass Religionsphilosophie nicht ohne Philosophie möglich ist, ist ein geradezu tautologischer Satz. Theoretisch kann Religionsphilosophie auch in philosophischen Seminaren betrieben werden, aber als Teil der systematischen Theologie sollte Religionsphilosophie meiner Meinung nach Philosophie der christlichen Religion sein. Wenn ich neue Dokumente zum Verständnis der Reformation lese, tue ich das

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also weder als Historiker, noch als ökumenischer Theologe, sondern als Ethiker und Religionsphilosoph. Die Texte, um die es im Folgenden gehen wird, sind diese: Rechtfertigung und Freiheit. 500 Jahre Reformation 2017. Ein Grundlagentext des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Gütersloh 2014. Vom Konflikt zur Gemeinschaft. Gemeinsames lutherisch-katholisches Reformationsgedenken im Jahr 2017. Bericht der lutherisch/römisch-katholischen Kommission für die Einheit, Leipzig 2013. Reformation 1517–2017. Ökumenische Perspektiven, Freiburg i.Br. / Göttingen 2014.

Im Hintergrund steht natürlich die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre des lutherischen Weltbundes und der Katholischen Kirche (1999). Und um die Perspektive etwas zu erweitern, habe ich einige amerikanische Texte einbezogen, die man allerdings nicht neu nennen kann: Justification by Faith, hg. v. H.G. Anderson, T.A. Murphy, J.A. Burges. Lutherans and Catholics in Dialogue 7. Minneapolis, Minnesota 1985. A Response to the U.S. Lutheran-Roman Catholic Dialogue Report VII »Justification by Faith«. Commission on Theology and Church Relations. The Lutheran Church-Missouri Synod, 1992.1

Das Phänomen Reformationsjubiläum Die neueren Texte enthalten Überlegungen zu dem Phänomen des Reformationsjubiläums und seiner Bedeutung, was unumgänglich eine Thematisierung der ökumenischen Dimension mit sich führt. Die Reformation hat ja eine Spaltung der westlichen Kirche bewirkt, und so stellt sich das Problem einer möglichen Wiedergewinnung der Ein1

www.lcms.org/page.aspx?pid=726&DocID=329; Zugriff am 20.5.2016.

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heit der Kirche. Die Texte sind im Lichte – oder geradezu als Teil – des ökumenischen Dialogs zwischen der evangelisch-lutherischen und der katholischen Kirche und den jeweiligen Theologien verfasst worden. Eine besondere Rolle kommt dabei der Gemeinsamen Erklärung zu. Schon diese spricht von einer »Überwindung der Kirchentrennung«. In Vom Konflikt zur Gemeinschaft wird die »Wiederherstellung der christlichen Einheit« als Ziel der Reformationsfeier genannt. Und der Text der Missouri-Synode spricht geradezu von einem »scriptural mandate« zur Erreichung einer Einheit des Bekenntnisses. So herrscht allgemeine Einigkeit darüber, dass die Reformation Gegenstand einer gemeinsamen Feier sein soll. Ich werde auf diese ökumenische Prämisse im Zusammenhang der Formulierungen zum Begriff der Kirche zurückkommen. Die Textgattungen Man kann nun die Dokumente verschiedenen Genres bzw. Stilarten zuordnen: Die Gemeinsame Erklärung ist ein offizielles Dokument, das einem politischen Kompromisstext ähnelt, einem Ergebnis diplomatischer Verhandlungen. Vom Konflikt zur Gemeinschaft ist theologisch differenzierter und lässt die konfessionellen Unterschiede deutlicher zum Ausdruck kommen. Dies zeigt sich strukturell darin, dass nach Darstellung der lutherischen Hauptthemen sowohl katholische Anliegen bezüglich der einzelnen Themen – wie etwa Rechtfertigung und gute Werke – als auch ihre Behandlung im interkonfessionellen Dialog benannt werden. Rechtfertigung und Freiheit ist ein popularisierender Versuch, das Anliegen der Reformation einem breiteren Publikum verständlich zu machen. Strukturell ist das Dokument als Darstellung der vier Exklusivpartikel – plus dem solo verbo – aufgebaut, jedes Mal mit einer Benennung sowohl

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innerkirchlicher als auch gesellschaftlicher Herausforderungen. Der Response der Missouri-Synode hat im Unterschied zu den anderen Dokumenten einen fast kontroverstheologischen Charakter. Er ist bemüht, die eigene theologische Position nicht im Zuge der Konsensbemühungen untergehen zu lassen. Die Dokumente reflektieren selbst auf ihre Eigenart als Texte, als sprachliche Gebilde, und überhaupt auf die Bedeutung der Sprache bei theologischen Formulierungen. So ist in Vom Konflikt zur Gemeinschaft von der Möglichkeit die Rede, dass die Dialogpartner verschiedene Sprachen benutzen, jedoch der Überzeugung seien, ein analoger Inhalt könne in verschiedenen theologischen Gedankenstrukturen enthalten sein, so dass die Unterscheidung zwischen Inhalt und Gedankenstruktur zweifelhaft erscheint. Ich gehe davon aus, dass Gedankenstrukturen sich in Sprachformen ausdrücken müssen. Interessant finde ich die Bemerkungen im amerikanischen Response, es sei für die Möglichkeit des ökumenischen Dialoges von Bedeutung, dass neue Formen theologischen Denkens erschienen seien. Ich habe aus eigener Erfahrung den Eindruck, dass diese angeblichen neuen Formen theologischen Denkens – Postmodernismus, Narrativität, Dekonstruktivismus usw. – in der amerikanischen Theologie eine größere Rolle gespielt haben als etwa in der deutschen und dass sie die konfessionellen Unterschiede etwas in den Hintergrund treten lassen. Zur Reflexion auf die sprachliche oder kommunikative Form gehört auch die Unterscheidung zwischen Konsensus und Konvergenz. Sowohl die deutschsprachigen Texte als auch der amerikanische Text Justification by Faith sprechen von einem, obwohl partiellen Konsensus zwischen den evangelischen und katholischen Dialogteilnehmern, und fragen bei noch bestehenden Uneinigkeiten nach der Möglichkeit von Konvergenz. Demgegenüber behauptet der Response, es

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sei überhaupt nur von Konvergenz und nicht von Konsensus die Rede. Wie angedeutet, frage ich mich, ob nicht auch der Begriff Kompromiss angemessen sein könnte. Er wird übrigens in einem der amerikanischen Responses benutzt. Was heißt es nun, ein Reformationsjubiläum zu feiern, theologisch und kirchlich? Gegenwartsfaktizität und Gegenwartsgeltung Ein Ereignisverlauf und ein Gedankengebäude der Vergangenheit soll hier in irgendeiner Weise vergegenwärtigt werden, und zwar im Zuge sowohl einer Traditionserhaltung als auch einer Erneuerung. Die als Ergebnis der Spaltung im Reformationszeitalter entstandenen Kirchen existieren ja noch als gegenwärtige Größen. In Rechtfertigung und Freiheit wird daran erinnert, dass sich bei früheren Luther-Jubiläen die Feiernden vor allem selbst gefeiert haben. Demgegenüber stellt man fest: »Jubiläen rekonstruieren nicht einfach Gewesenes, sondern schreiben es in allgemeine Erzählungen ein, die aktuelle Relevanz beanspruchen dürfen« (97). Die Reformation wird in diesem Dokument als »offene Lerngeschichte« dargestellt, wobei besonders ihr Beitrag zur europäischen Freiheitsgeschichte hervorgehoben wird. Vom Konflikt zur Gemeinschaft nennt drei Aspekte des Kontextes, in dem das Jubiläum stattfindet: Es ist (1) das erste Reformationsjubiläum im Zeitalter der Ökumene; (2) das erste im Zeitalter der Globalisierung; (3) im Lichte einer wachsenden Zahl neuer religiöser Bewegungen und einer gleichzeitig zunehmenden Säkularisierung mit der Notwendigkeit einer Evangelisierung verbunden. Um die grundsätzliche Frage der Bedeutung des Reformationsjubiläums näher zu diskutieren, möchte ich zwischen Gegenwartsfaktizität und Gegenwartsgeltung unterscheiden.

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Die Reformation ist gegenwärtig in dem Sinne, dass es evangelisch-lutherische Kirchen tatsächlich immer noch gibt. Reformatorisches Christentum hat Gegenwartsfaktizität. Einem systematischen Theologen geht es jedoch um die Gegenwartsgeltung des Christentums. Der kundige Hörer wird bemerken, dass ich hier die rechtsphilosophische Terminologie von Jürgen Habermas benutze. Das trifft auch für das nähere Verständnis dessen zu, was Geltung des christlichen Glaubens heißen kann. Ich gehe davon aus, dass das Christentum wie andere Religionen sowohl eine Lehre als auch eine Lebensform, bzw. Lebensmöglichkeit ist. Die Frage ist dann, ob man diesen Dimensionen des Christentums die drei Geltungsmodi Wahrheit, Richtigkeit und Wahrhaftigkeit zuordnen kann. Dies nur als Andeutung, um zu sagen, dass ich die Dokumente aus dem Verständnis heraus kritisch lese, dass die Hauptaufgabe der Theologie darin besteht, das Christentum so darzustellen, dass es Gegenwartsgeltung haben kann. Ich lese natürlich die Texte aus dem Blickwinkel meines eigenen Faches, primär der Ethik. Da bin ich mit dem Dogma erzogen worden, es gebe keine christliche Ethik. Das Gebot der Nächstenliebe – so mein Lehrer Knud E. Løgstrup in seinem Buch Die ethische Forderung (Tübingen 31989) – sei eine allgemeinmenschliche ethische Forderung. Traditionell formuliert: das christliche Gebot der Nächstenliebe wird mit dem natürlichen Gesetz identifiziert. Dieses Dogma ist meiner Meinung nach verfehlt und stimmt jedenfalls nicht mit lutherischer Ethik überein. Dass Luther das natürliche Gesetz anerkennt, steht außer Frage – aber er identifizieret es eben nicht mit der christlichen Nächstenliebe. Mich interessieren daher besonders die in den Dokumenten enthaltenen Auffassungen bzw. Interpretationen des Themas: Rechtfertigung und gute Werke: Wie kann man Luthers Gedanken vom rechtfertigenden Glauben als Motivation

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zum Handeln aus Nächstenliebe in seiner Gegenwartsgeltung darstellen? Daneben finde ich die Auffassung zu den Themen »Schrift« und »Kirche und Amt« wichtig. Rechtfertigung und gute Werke – lutherische Ethik Was die Rechtfertigung betrifft, ist als zentrales lutherisches Anliegen bekanntlich das sola fide – d.h. die Abweisung jeglicher Beteiligung von Seiten des sündigen Menschen an der Rettung – zu unterstreichen. Wie es in dem Response der American Lutheran Church in aller Knappheit heißt: »God’s justifying action in Christ is independent of anything sinners might do«.2 Eng mit dieser Problematik verbunden ist die Unterscheidung zwischen einem rein forensischen Verständnis der Rechtfertigung und einem transformatorischen. Und dieses hängt wiederum mit dem simul iustus et peccator zusammen. Für den Ethiker stellt sich die Frage, wie es genauer denkbar ist, dass einem Menschen einerseits etwas ganz ohne eigene Leistung geschieht, er/sie aber andererseits als Konsequenz dieses Geschehens in neuer Weise zu verantwortlichem Handeln aus Nächstenliebe im Stande ist. Wohlgemerkt: denkbar nicht im Sinne einer traditionellen dogmatischen Begrifflichkeit und Terminologie, sondern als in gegenwärtiger Sprache nachvollziehbar. Schauen wir uns vor dem Hintergrund dieser Frage die Formulierungen der Dokumente an. In der Gemeinsamen Erklärung wird das Verhältnis zwischen Rechtfertigung und Sozialethik als eine der Fragestellungen benannt, die einer näheren Klärung bedarf. Was eine adäquate Ausdrucksweise für den Sinn der Rechtferti2 Reports and actions of the thirteenth General Convention of The American Lutheran Church (1986). Minneapolis, Minnesota August 23–29, Part 1,828.

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gung betrifft, schlägt Rechtfertigung und Freiheit vier Begriffe vor: Liebe, Anerkennung bzw. Würdigung, Vergebung bzw. Versöhnung, und Freiheit. Von diesen finde ich Versöhnung am überzeugendsten, zumal es ein Begriff ist, der sowohl eine traditionell theologische als auch eine allgemeine gegenwärtige Bedeutung besitzt. Im Übrigen finde ich die zusammenfassende Formulierung überzeugend: »Rechtfertigung bedeutet eine Gabe umfassender Freiheit, die einen Menschen von der Bezogenheit auf sich selbst erlöst« (33). Weniger glücklich finde ich dieses Statement: »Gute Werke entstehen sozusagen ganz selbstverständlich, quasi automatisch aus dem Glauben« (S. 89). Ähnliches gilt für diese Darstellung der Tätigkeit des Glaubens: »Gerade wenn die Religionskritik in der Gesellschaft stärker wird, soll die Kirche die Lebensgestaltungskraft des Glaubens sichtbar und erlebbar machen« (93). Es scheint mir ein Widerspruch zu sein, auf diese Weise »diakonisches Handeln und gesellschaftliches Engagement« der Kirche als Beispiel des »von-selbst« Charakters der guten Werke darzustellen. Haben wir es wirklich mit guten Werken zu tun, wenn diese einem Drang zum Sichtbarmachen entspringen? Vom Konflikt zur Gemeinschaft beschreibt – wie gesagt – jeweils die evangelischen und katholischen Anliegen bezüglich eines gegebenen Begriffes getrennt. Und so wird bemerkt, dass auf katholischer Seite die Fähigkeit des Menschen zum Mitwirken an der Rechtfertigung betont wird. Andererseits wird als spezifisch lutherische Denkfigur das Bild des fröhlichen Wechsels bzw. der ehelichen Vereinigung hervorgehoben. Leider wird Letzteres nicht weiter in Richtung seiner Gegenwartsbedeutung oder -geltung ausgeführt. Meiner Meinung nach drückt nämlich genau dieses Bild sowohl den Kern der Rechtfertigung als auch den Zusammenhang von Rechtfertigung und Liebe treffend aus. Ein traditioneller

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theologischer Gedankengang lässt sich viel besser mit Hilfe einer metaphorischen Umschreibung rekonstruieren als in einer begrifflichen Fachterminologie. Ich deute den Gedankengang Luthers in der Schrift De duplici iustitia – der sich entsprechend beispielsweise auch in der Obrigkeitsschrift findet – kurz an. Der sündige Mensch erhält die erste, fremde Gerechtigkeit dadurch, dass sich Christus in die Lage des Sünders versetzt, seine Not auf sich nimmt und ihm/ihr seine eigene Gerechtigkeit schenkt. Die fremde Gerechtigkeit setzt nun den Menschen in Stand, seine iustitia propria zu zeigen, d.h. die Not des Nächsten so anzusehen, als sei es seine eigene, und die Not aus seinem eigenen Überschuss hinaus zu beheben. Die eigene Gerechtigkeit begründet nach Luther ein dreifaches Handeln, wobei die Nächstenliebe eines davon ausmacht. Ich betrachte diesen Gedankengang als den Kern von Luthers christlicher Ethik. Er beinhaltet eine Struktur, die ich »doppelten Rollentausch« nenne: Zum einen versetzt sich Christus in die Lage des Sünders und zum anderen versetzt sich der gerechtfertigte Sünder in die Lage seines Nächsten. Meiner Meinung nach ist es nicht adäquat, den fröhlichen Wechsel als Austausch von Gaben aufzufassen, wie das in den letzten Jahren modern geworden ist. Es findet nach Luther bei der Rechtfertigung nicht ein Austausch ›von etwas‹ statt, sondern der Tausch beinhaltet eine Identifikation. Es ist nun eine gemeinsame Aufgabe der Dogmatik und der Ethik, den doppelten Rollentausch des fröhlichen Wechsels in seiner gegenwärtigen Gestalt zu rekonstruieren. Es geht hier sozusagen um die Konstitution des christlichen Selbst als ethischen Subjektes. Eine gegenwärtige Version des fröhlichen Wechsels ließe sich etwa narrativ denken. Rechtfertigung hieße dann, dass ein Mensch durch Identifikation mit der Jesus-Erzählung – der Erzählung des Menschen, der trotz Leiden und Tod an der göttlichen Vaterliebe festhält – sein eigenes Leid und seine Todver-

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fallenheit annehmen kann und so befreit wird zur Wahrnehmung der Not des anderen Menschen. In der Terminologie der Zwei-Reiche-Lehre geschieht der fröhliche Wechsel – der erste Rollentausch – im geistlichen Regiment. Die Praxis der Nächstenliebe findet hingegen im weltlichen Bereich statt und muss rational und pragmatisch gestaltet werden. In diesem Zusammenhang muss Luthers Bejahung der Lehre vom natürlichen Gesetz – in der goldenen Regel zusammengefasst – hervorgehoben werden. Auch die goldene Regel beinhaltet einen Rollentausch, ein Sichversetzen in die Lage des Anderen. Luthers Übernahme der Lehre vom natürlichen Gesetz fügt seiner Ethik eine wichtige Dimension hinzu, nämlich die partielle Übereinstimmung einer spezifisch christlichen Ethik der Nächstenliebe und einer universalen Ethik der goldenen Regel. Die ökumenischen Bemühungen um die Rechtfertigungslehre sind meiner Meinung nach wenig hilfreich, wenn sie nicht die hier angedeutete Problematik der Konstituierung des christlichen Subjektes und dessen Verhältnis zum ›natürlichen‹ ethischen Subjekt thematisieren. Ohne eine solche ethische Grundlagenüberlegung ist eine Hervorhebung der kirchlichen Beiträge zum öffentlichen Ethikdiskurs wenig überzeugend. Was in einigen Dokumenten eher beiläufig erwähnt wird, scheint mir vielmehr ein Hauptproblem zu sein: »Dabei können dann durchaus auch Unterschiede und Variationen in den präferierten Theorien und Prinzipien ethischer Urteilsbildung zutage treten« (Reformation 1517–2017, 68). Schriftverständnis Was die Ethik betrifft, gibt es bekanntlich innerhalb der evangelischen Kirchen Differenzen, die genauso groß sind wie diejenigen zwischen evangelischer und katholischer Ethik – man denke nur an die gleichgeschlechtliche Ehe.

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Diese inner-evangelischen Uneinigkeiten gründen letztlich auf sehr unterschiedlichen Auffassungen von der Normativität der Bibel. Vom Konflikt zur Gemeinschaft führt im einschlägigen Abschnitt Luthers Gedanken über das, was »Christum treibet« an, jedoch rein deskriptiv. Demgegenüber nähert sich Rechtfertigung und Freiheit der Frage nach der Gegenwartsbedeutung der Schrift mit der Feststellung: »Bis heute werden Menschen in, mit und unter diesen Texten angesprochen und im Innersten berührt« (85). Aber damit ist doch wohl nicht der Sinn des lutherischen Schriftprinzips getroffen? In den amerikanischen Dokumenten gibt es eine interessante Diskussion über das Schriftverständnis. In Justification by Faith wird das lutherische Schriftverständnis so dargestellt, dass die Rechtfertigung allein durch den Glauben auch in Bezug auf die Schrift Kriterium sei. Dies wird in dem Response der Missouri-Synode mit der Begründung abgelehnt, die Rechtfertigungslehre könne damit Teile der Schrift hinsichtlich ihrer Bedeutung als inspiriertes, autoritatives Wort Gottes reduzieren. Es müsse die Normativität der ganzen Schrift anerkannt werden. Hier wirkt die Lehre von der Verbalinspiration noch nach. Im Anschluss an meine Überlegungen zum fröhlichen Wechsel würde ich Luthers ›Prinzip‹ des Christum-Treibens so verstehen, dass aus christlicher Sicht die Mitte der Schrift in der die befreiende Identifikation ermöglichenden Jesus-Erzählung besteht. In welchem Sinne diese Erzählung als Wort Gottes aufzufassen ist, ist eine Frage, deren Beantwortung sprachphilosophische Überlegungen verlangt, auf die ich jetzt nicht eingehen kann. Zur Behandlung des Schriftverständnisses in den verschiedenen Dokumenten möchte ich kritisch anmerken, dass die Diskussion dermaßen in traditionellen Problematiken – wie Schrift und Tradition – stecken bleibt, dass man die

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Frage nach der Gegenwartsgeltung der biblischen Texte vernachlässigt. Kirche Da die Reformation eine Spaltung der Kirche bewirkt hat, ist bei einem ökumenischen Zugang der Begriff der Kirche selbstverständlich von zentraler Bedeutung. In vielen Formulierungen wird die Einheit der Kirche emphatisch beschworen: »Die Kirche ist der Leib Christi. Da es nur einen Christus gibt, kann es auch nur einen Leib geben [...] Die Spaltung des Leibes Christi steht im Widerspruch zum Willen Gottes« (Vom Konflikt zur Gemeinschaft, 88. 91). Ich erlaube mir die Frage, ob es denn so einleuchtend ist, dass die Einheit der Kirche anzustreben ist. Die Antwort hängt natürlich davon ab, von welcher Einheit hier die Rede ist. In meiner Ekklesiologie muss zwischen der sichtbaren und der unsichtbaren Kirche unterschieden werden. Entsprechend – heißt es in Reformation 1517–2017 – sei zu unterscheiden: »[...] zwischen dem von Gott in Jesus Christus durch den Heiligen Geist gelegten Grund der Kirche und ihrer geschichtlichen Gestalt« (56). Es ist wohl selbstverständlich, dass menschliche ökumenische Bemühungen nichts zur unsichtbaren Einheit, bzw. zur Einheit des Leibes Christi beitragen können. Die durch ökumenische Arbeit zu erstrebende Einheit der Kirche kann also nur die sichtbare, empirische sein. Ist es nun aber so selbstverständlich, dass diese Einheit ein nicht zu bestreitendes Ziel ist? Wiederum in Reformation 1517–2017 findet sich hierzu den interessanten Hinweis, es gebe im ÖAK eine wachsende Anzahl von Theologen, welche »die Pluralität der Kirchen eher als Anlass zur Wertschätzung denn als Grund zur Besorgnis wahrnehmen« (S. 20). Und so heißt es im selben Dokument: »Die konfessionelle Polyphonie christlichen Zeugnisses und Dienstes in der Welt der Ge-

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genwart kann man heute – sofern sie nicht mit gegenseitiger Verurteilung oder Fundamentalkritik verbunden ist – auch als Ausdruck der Gabenvielfalt des einen Leibes Christi verstehen [...]« (58). Könnte man es nicht als komplementäre Aufgabe zum ökumenischen Gespräch ansehen, dass jede Kirche auf überzeugendste Weise versucht, die Wahrheit des christlichen Glaubens auszudrücken? Entsprechend lautet die Fortsetzung des Zitats: »[...] und darauf hoffen und sich dafür einsetzen, dass die jetzt schon erreichte Geschwisterlichkeit der einzelnen Kirchen und Gemeinden in der einen Kirche Jesu Christi auch immer deutlicher zur sichtbaren Einheit gelangt« (ebd.). Ich würde hier das Wort »hoffen« unterstreichen. Ein wichtiges Thema in Bezug auf den Begriff der Kirche ist das Verhältnis zwischen dem Gedanken vom Priestertum aller Gläubigen und dem kirchlichen Amt. Es gibt eine Tendenz – zumindest in Dänemark – das allgemeine Priestertum ohne weiteres mit einer demokratischen Kirchenorganisation gleichzusetzen. Das halte ich für theologisch völlig abwegig. Daher begrüße ich es, dass in Reformation 1517–2017 hervorgehoben wird, dass evangelische Kirchen, inspiriert von den Katholiken, neu über das Verhältnis zwischen dem allgemeinen Priestertum und dem ordinationsgebundenen Amt nachgedacht haben (65). Gerade im Zusammenhang mit den Themen Kirche und Amt hätte ich mir allerdings ein wenig polemische Schärfe gewünscht. Ich finde sie an einer Stelle, und zwar wo es in Reformation 1517–2017 heißt, es erscheine »mehr und mehr unerträglich, dass evangelische und katholische Christinnen und Christen nicht gemeinsam Eucharistie feiern können« (71). Ich hätte mir dazu auch wünschen können, dass die Probleme des katholischen Amtsverständnisses deutlich angesprochen würden. Dabei denke ich an den Zölibat und die damit verbundenen sexualethischen Fragen. Hier sollten

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wir an dem eindrucksvollen Realismus Martin Luthers festhalten. Ich schließe in diesem Sinne mit der Frage, die die American Lutheran Church in ihrer Reaktion auf das Rechtfertigungsdokument unter der Überschrift »Proof of the Pudding« stellt: »What happens when [...] justification is made the criterion of [...] the church’s authority in ethics, celibacy, ordaining women, the authority of bishops?«3

3

A.a.O. (s. Anm. 2), 831.

Justification and the Church in Scandinavian Theology Svein Aage Christoffersen

In the following, justification and the church in Scandinavian theology will be addressed from the perspective of systematic theology. While the historical perspective will not be ignored, it will be used as a context and basis for framing some systematic theological problems in the relationship between the doctrine of justification and the church in Scandinavian theology. It is of course impossible to talk about Scandinavian theology and Scandinavian churches as a homogenous group. There are a wide variety of Protestant theologies in Scandinavia and substantial differences between the Scandinavian churches. In a short article it is of course impossible to present Scandinavian ecclesiology in its entirety. Nonetheless, there is a tendency in Scandinavian theology towards a polarizing between a theology of separation, on one hand, and a theology of creation, on the other hand. This polarization is the main theme in the following. There is no lack of popular books in Scandinavian theology discussing the future of the church from different perspectives, but I will not comment on them in particular here. This article is not a survey of the literature, but an attempt to frame and discuss some theological problems in Scandinavian ecclesiology with regard to the doctrine of justification.

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1. To understand how the doctrine of justification has influenced Scandinavian theology and ecclesiology in the last century, we must return to the period between the First and the Second World Wars and to the theological shift that took place in Protestant theology after World War I. in Germany, this shift was driven by dialectical theology, represented by Karl Barth, Emil Brunner, Rudolf Bultmann and Friedrich Gogarten as the most prominent figures. To varying degrees, these theologians have also left their marks on Scandinavian theology. Their greatest influence was probably in Denmark, less so in Sweden and Norway. However, the theological shift in Protestant theology after World War I comprised far more than dialectical theology. The whole theological climate in Protestant theology changed. Dialectical theology is but one among several examples of a radical shift in perspective in Protestant theology as a whole. It is characteristic of Protestant theology that it has always been preoccupied with the question of what is genuine Christianity, and what is essentially Christian. But this question became more important and vital after World War I. The cultural turbulence that followed in the wake of the war led theology into new and more radical selfreflections. Now the perspective of a theology of separation became dominant. It became more important than ever before to distinguish between church and world, revelation and worldly wisdom, God and man, etc. Theology no longer sought the genuinely Christian in what connects the church and the world, but in what separates the church and the world. The differences became decisive. The perspective of a theology of separation is in many ways modeled after Friedrich Nietzsche’s dictum on Christianity

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as »Umwertung aller (antiken) Werte«.1 The theology of separation agrees with Nietzsche that Christianity is a reevaluation of all the values of antiquity and of all the values in this world as such. However, this is not taken as a critique of Christianity, as is the case with Nietzsche, but as a devaluation of the values of this world. The theology of separation is Nietzsche’s dictum inverted. The perspective of a theology of separation led to the development of new theological paradigms, not only in Germany, but in Scandinavia as well. However, the historical and cultural context for this development was not the same in all the Scandinavian countries. In Denmark Søren Kierkegaard became the most important supplier of terms, while in Sweden Friedrich Schleiermacher played a far more important role in the development of new theological paradigms. In Norway, neither Kierkegaard nor Schleiermacher gained importance, but theology moved in a more conservative, confessional direction that eventually led to a theology placing greater emphasis on objectivity and church doctrine, rather than on the individual experiences of the believer. The question now is what role the doctrine of justification played in this turning toward the perspective of a theology of separation and what consequences did this perspective have with regard to the view on the church and on the relationship between church and world. To answer this question, as a pars pro toto I will focus on the most radical and consistent theologian of separation in Protestant theology, the Swedish theologian Anders Nygren (1890–1978), longtime professor at Lund University and later bishop of Lund. In Nygren’s theology, we clearly see how Nietzsche’s dictum shapes the theological agenda precisely by placing the perspective of values in the center of his view on the 1

F. Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse. Sämtliche Werke Kritische Studienausgabe, Bd. 5, Berlin 1980, 67.

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relationship between church and world. What separates the church from the world is that it has a radically different set of values. Nygren’s theology of separation and his re-evaluation of all values are explained in his great work, The Christian Idea of Love Through the Ages: Eros and Agape (1930–36). Here Nygren explores in detail the conflict between agape as a Christian concept of love and eros as the HellenisticPlatonic concept of love. However, the subtitle of the book, which later became its main title, conceals the fact that Nygren sets up three, not two, concepts of love in this book. They are the Christian agape motif, the PlatonicHellenistic eros motif and the Old Testament Jewish nomos motif. Nygren calls the Old Testament concept of love a nomos motif because he regards love in The Old Testament as being framed in legal terms. In The Old Testament, God loves the pious and the just. In contrast, the Christian agape motif dissolves this legalistic or nomistic scheme in that God loves precisely the sinner and the unjust.2 The difference is the doctrine of justification. However, the decisive conflict in the book lies in the relationship between eros and agape, between Plato and Paul, and once again, the difference is the doctrine of justification. According to Nygren, agape is love that gives value to that which it loves, while eros is love for that which has value and which one therefore strives toward, desires and wants to possess.3 Eros wants to conquer, agape wants to give. It is not hard to see that the basis for this scheme is a radicalized form of the doctrine of justification. This doctrine distinguishes agape from nomos as well as from eros: »Agape is like a slap in the face of both Jewish legal piety 2 A. Nygren, Eros och Agape. Den kristna kärlekstanken genom tiderna, Stockholm 1966, 158, cf. 208. 3 Ibid., 167.

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and Hellenistic eros piety.«4 Genuine Christianity is found in the difference, and the difference is defined by the doctrine of justification. Thus, the doctrine of justification stands in opposition to everything that is considered valuable in this world. Nothing in this world, not even man, has value in itself. Nothing is worth loving for its own sake. It gains value only by virtue of God’s love. Human love, then, does not have value in itself either. It is egocentric. Divine love drives out human love.5 If ecclesiology is derived from a theology of justification that is radicalized in this way, it will lead to the church being primarily understood as a counter-culture based on its own value system. However, this view of the church as counter-culture can be developed in difference directions. One option is that the church can have as its goal to conquer the world with its alternative value system and in that way make the world into a Corpus Christianum. Another option is that the church establishes itself as an alternative society that first and foremost demands its right to take its place in this world according to its own set of values. Nygren is a representative of this approach. The church is Corpus Christi and thus cannot use the value system that governs the world as a basis of its activity, but must be governed by its own values. A good example of what this means is Nygren’s view on female pastors. The demand for female pastors, according to Nygren, took its point of departure in a modern idea of equality that was foreign to the church. Thus, there was no reason for the church to give in to this demand. On the 4 5

Ibid., 192. A likewise radical understanding of the doctrine of justification is found in the Danish »Tidehverv«-movement. Cf. K. Olsen Larsen, Nogle bemærkninger om forholdet mellem humanisme og kristendom, Tidehverv 1957, 77–84.

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contrary, the church ought to maintain the biblical view of humankind in which men’s and women’s different functions in society are differentiated. In this context, Nygren is not primarily concerned with debunking the idea of equality in society in general, but in the church as a society in its own right.6 The question of female pastors is not as acute today in the Scandinavian churches as it was in Nygren’s time, even though there are still small fractions that use the same arguments that Nygren did with regard to this issue. In more recent years, the discussion has shifted to same-sex marriage as a far more controversial issue in all of the Scandinavian churches. In all the Scandinavian countries the church has accepted same-sex marriage, but not without strong opposition, especially in Norway. The main motive for supporters of same-sex marriage is consideration for the rights and equality of homosexuals and lesbians in society. From this point of view, the church should defend the general rights of homosexuals by giving them the same rights in the church as they already have in society. The opponents, on the other hand, point out that same-sex marriage contradicts the biblical view on marriage, and that the church has in itself a right to reject same-sex marriage in the church, even if this kind of marriage is in fact possible in society. Both the example with female pastors and with same-sex marriage show that it is not entirely simple to insist on the church as being a counter-cultural society with its own value system. Even though Nygren more than any other contemporary theologian insists on the agape of the doctrine of justification as a proprium of Christianity, it is no obviuos connection between the doctrine of justification and the rejection of the idea of equality. In contrast, it is 6 Anders Jalert, Anders T S Nygren. Svenskt biografisk lexikon – https://sok.riksarkivet.se/sbl/Presentation.aspx?id=8466 - Zugriff: 19. Juli 2016.

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easy to see that his view of the different functions of men and women confirms patriarchal attitudes in society in general. In relation to these patriarchal attitudes, Nygren’s church is not a re-evaluation of all values, but an affirmation of already established patriarchal values. The church is not counter-cultural: It does not go against the grain, but with the grain. The opponents of same-sex marriage in the church are in a similar dilemma. They insist on the right of the church to refuse same-sex marriage, but they also oppose same-sex relationships in general. Thus they team up with strong forces outside the church that are also opponents of homosexual rights. Here, too, the church does not go against the grain, but with the grain. Thus, it is not easy to establish the church as an alternative society with its own value system. Someone who is a member of the church is also a member of a society and a world that is both local and global. The world is not just outside the church, but inside as well. Hence the church will in some way or another have to subscribe to values established in the outside world. For this reason it is also difficult to maintain the idea of the church as entirely countercultural. The church as a society with its own value system will always be both counter-cultural and culturally compliant, depending on which culture it relates to and which culture lives within it. A third option within this paradigm of the theology of separation is to dismiss the perspective of values entirely and, hence, the idea of the church as its own society with its own rules of the game and instead claim that the church is exclusively the preaching of the gospel and the administration of the sacraments in the church service. There, the gospel of God’s grace must be preached loud and clear to each and everyone as single individuals. What society in general does is no business of the church, and the church should not organize itself as a world unto itself. On the

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contrary, the less the church organizes itself, the better. This kind of ecclesiology we find in particular in Denmark, while the two other forms of separation ecclesiology characterize Sweden and Norway to a greater degree. 2. There is of course much one can object to in the theology of separation. However, in Nygren’s version it looks like it has the ace of trumps, and that is the doctrine of justification. When Nygren carves out the conflict between agape and eros, his aim is to pin down the doctrine of the justification by faith alone as the proprium of the Church. Our question, then, is whether the theology of separation and the doctrine of justification are really two of a kind. Does this doctrine imply that of necessity the church and the world have conflicting sets of values? Are the values of the church theocentric, while those of the world are egocentric? In Scandinavia, the sharpest criticism of the idea of a theology of separation comes from the theology of creation, represented first and foremost by the Swede, Gustaf Wingren (1910–2000)7 and the Dane, K.E. Løgstrup (1905–1981).8 The theology of creation has gradually gained significant influence in Scandinavian theology, to the extent that we can speak of a particular form of Scandinavian creation theology. Wingren was a professor of ethics at Lund University and wrote particularly about the theology of creation from a dogmatic point of view. Løgstrup was a professor of ethics and the philosophy of religion at Aarhus University and 7 Cf. B. Kristensson Uggla, Gustaf Wingren: Människan och teologin, Stockholm 2010. 8 Cf. O. Jensen, Knud Ejler Løgstrup. Philosoph und Theologe, München 2015.

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wrote about the theology of Creation from the point of view of phenomenology and the philosophy of religion. Wingren was inspired by Ireneus, Løgstrup was inspired by N.F.S. Grundtvig, and both were strongly inspired by Martin Luther. The theology of creation is not a torso theology that wants to amputate the second and third articles of faith in the Apostle’s Creed and just stay with the first. The theology of creation is Trinitarian. Its mission is not to separate the three articles of faith from each other, but to draw forth the meaning of the first article in the relationship between the articles. What creation theology claims is that the theology of separation has allowed the second article of faith to dominate in such a way as to devalue the meaning of the first article. Christology has replaced a theology of creation. From Wingren’s point of view, this is a modern form of Gnosticism.9 Wingren does not in any way want to erase the differences between the church and the world. Of course, there are differences. The question, however, is whether the differences mean that there is no correspondence between the church and the world with regard to values. Is the meaning of justification by faith only a devaluation of this world and that which belongs to this world? According to Wingren, the idea of creation opens up to seeing that the church and the world have something in common, because the God whom we meet in Jesus Christ is the same God who has created the world. And if there really is a correspondence between the church and the world, it may be that the difference can be found precisely in that which the church and the world share. Exactly because they share some basic values, they can also be different. Separation presupposes correspondence. 9

9f.

G. Wingren, Människa och kristen. En bok om Ireneus, Lund 1983,

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The idea of creation assumes a perspective on human life whose main point is that man is placed in a conflict between forces of death and forces of life, between destruction and renewal. Destruction can be found everywhere. We live with each other in such a way that we destroy our own lives and the lives of our neighbors. However, the reason we are not totally destroyed in our destruction is because life is also renewed. There are forces of life that oppose the destruction. This continually insistent renewal of life is creation, or re-creation. Thus, for Wingren, creation is not something that happened once upon a time, when the world came into being. Creation is now. And for this reason, Creation is not a set of unalterable schemes of creation, »Schöpfungsordnungen« either. Creation is a process in which new ways of life replace old ways of life, and new schemes and social norms replace old ones. Also, good ways of life become corrupt and are undermined by destructive forces. Therefore, it is important that our social norms and ways of life are renewed and recreated again and again. We need new ways of life all the time, as destruction gains power over the old ways of life. It is only when we see this conflict between creation and destruction that we also understand what the law demands of us, and it is in light of this conflict and the demands of the law that we must see the liberating force of the gospel. Everyone lives in this conflict between destruction and renewal. We are created to live in this conflict and to engage ourselves on the side of life forces, and pass the life we have been given on to our neighbor. This is the main point in Wingren’s idea of »the Calling« –» Vocation«, »Beruf«.10 Everyone is called to protect, help and promote the welfare of his fellow man. Everyone is in a position in which he or she in some way or other can do this. This calling, this 10

G. Wingren, Luther on Vocation, Philadelphia 1957.

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demand is not specifically Christian. It is universally human. Thus, there is an ethical demand in the created life. However, we do not obey the calling voluntarily or without resistance, as it has a price. We must relinquish something that is ours and perhaps even ourselves in order to pass on life to our fellow man. Man’s vocation is also a cross. The calling comes not from the gospel, but from the created life. Therefore, the vocation is the same for everyone: The tasks and the challenges are the same. There is not a special calling for those who are Christians or believers. However, the Christian responds to the calling with a belief that the calling is God’s calling and that this God has forgiven us our sins and promised a definitive renewal of life in the resurrection of Jesus Christ. Thus, the Christian can carry the cross in the vocation with another understanding than the non-Christian. Does this also influence the way Christians responds to the calling? Can or will the Christian actually realize the vocation in a different way from the non-Christian? Let us keep the question open just yet and take a closer look at Løgstrup. For Løgstrup, too, the idea of creation means that man is placed in the conflict between creation and destruction. However, Løgstrup describes and explains this conflict from a phenomenological point of view. His starting point is that for better or worse, we are always involved in other people’s lives. This interdependency means that we also always have something of another person’s life in our hands. We have power. Thus, it lies in this power that we also face an ethical demand that radically and singularly requires of us that we selflessly use the power we have for the good of our fellow man.11 So far Løgstrup’s idea of the ethical demand corresponds with Wingren’s idea of the vocation of man. However, Løgstrup takes another step as well and describes how the 11

Cf. K.E. Løgstrup, The Ethical Demand, Notre Dame 1997.

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re-creation may be accounted for from a phenomenological point of view. If life is but a conflict between life and death, between creation and annihilation, what are the phenomena then that create and renew life in a rebellion against the destructive forces? Here Løgstrup points to what he calls the sovereign expressions of life. These are phenomena like mercy, trust, the openness of speech, etc. These are phenomena that renew life. We are not able to live, that is, life would wither away without the sovereign expressions of life. We cannot eradicate them without eradicating ourselves. The sovereign expressions are not our work, but they put us to work on behalf of life. They are phenomena that are on the side of and support the ethical demand. The ethical demand corresponds to phenomena that make it possible to understand what is demanded of us to do.12 Løgstrup’s phenomenology not only embraces interpersonal phenomena, but also our relationship to the sensory world. Løgstrup shows how the shape of things, how a landscape, how light and colors, how the tones of sound, recharge our minds and equip us to resist destruction and annihilation. Even though the idea of creation must be defended on a purely philosophical basis according to Løgstrup, he distinguishes sharply between a philosophy of creation and the gospel. The philosophy of creation is not a gospel or a doctrine of justification based on faith alone. The gospel and the church cannot be derived from creation, but are given in Jesus Christ. However, the creation is the basis for understanding the gospel. The gospel is given for the sake of the created world, for the sake of human life. Thus, it is first in light of the creation and our life in the created world that we understand the gospel. Hence, it is not the doctrine of justification that keeps a theology of separation 12

Cf. K.E. Løgstrup, Beyond the Ethical Demand, Notre Dame 2007.

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and a theology of creation apart, but the relation between the doctrine of justification and the idea of creation. The theology of creation has left a notable imprint on ecclesiology in the Scandinavian countries, albeit in slightly different ways. In Denmark, the poet, theologian, and pastor, N.F.S. Grundtvig (1783–1872) played a decisive role as the source of inspiration and framer of its very premise. In Sweden, on the other hand, Grundtvig has not played a major role. Here, the theology of creation is more closely associated with Wingren. In Norway, both Grundtvig and Wingren have been significant for the development of the theology of creation. However, through his hymns, Grundtvig has played an important role in all the Scandinavian countries. With regard to the ecclesiological implications of this theology of creation, there are three things in particular that can be emphasized. The first one is the view of the church as a folk church. While the theology of separation tends to see the church as a congregationalist society of believers, a theology of creation clearly prefers the idea of a folk church. A folk church is, however, not the same as a state church. Wingren was opposed to a state church, but he was an energetic defender of a folk church.13 Both in Norway and Sweden, the state church has been done away with in recent years, but both churches consider themselves folk churches. The concept of the folk church does not however presume that every member of society is a member of the church. But the church has to be a church for the entire people and, hence, with a task to serve people in the entire country. The folk church has a regional and territorial concern. Its intention is to be present throughout the country, wherever people live. Therefore, the base of the folk church is in the parish as a geographical feature. This regional perspective plays an important role, particularly in Denmark, 13

Cf. B. Håkansson, Vardagens kyrka. Gustaf Wingrens kyrkosyn och folkkyrkans framtid, Lund 2001.

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where many people have reservations about the church becoming too much of a superstructure above the parish congregation. The Danish church does not have a synod, as is the case in the Swedish and Norwegian churches. Nor does the Danish church have a bishop council, of the same kind as that of the Norwegian church, or an archbishop as in Sweden. The idea of a folk church can of course also be developed on the basis of separation theology. But then the point is that the whole people is seen as a missionary field for the church. The people have to be won for the church. From the perspective of creation theology, greater emphasis is placed on the church being open to the people. Openness does not threaten the church’s distinctive quality. On the contrary, it is the openness that is its distinctive quality, according to Wingren.14 The folk churches in the Scandinavian countries are national churches. In Sweden, the church is Swedish, in Denmark, Danish and in Norway, Norwegian. This is to a certain degree connected with the nation-building role that the church has played in the history of these countries. However, the contribution of the church to nation-building does not necessarily mean a sanctification of the national. A national church is not a nationalistic church, but it is a church that finds expression in the national culture of the country. The national aspect is perhaps to be seen most clearly in Denmark, where a leading contemporary theologian has written a small work entitled »Dansk kristendom« (Danish Christianity).15 It is hard to imagine a corresponding title in Norway or Sweden. A folk church does not aim to create a new people, but it is a hermeneutic project in that it both deals with interpret14 G. Wingren, Öppenhet och egenart. Evangeliet i världen, Lund 1979. 15 O. Jensen, Dansk kristendom. En folkebog om kirken, Århus 1983.

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ing Christianity in light of the indigenous culture of the people and interpreting the indigenous culture in light of Christianity.16 The folk church does not try to create a new language, but it lets Christianity gain expression in the people’s own language and thus contributes to reforming this language.17 Culture as an indigenous life form is always an interpretation of the human condition in the field of tension between creation and destruction. However, it is not the case that the church must at any given time explain to the people how the human condition is to be understood. It is also possible, and it is often the case that people must inform the church as to which life conditions most people live under. Thus, from the perspective of the folk church, it is neither possible nor desirable to erect a sharp division between the culture of the people and that of the church. Culturally speaking, the people are also a part of the church and influence the culture of the church. If this were not the case, the church would be without a people and the people without a church. One often thinks of the church as a circle with a center and a periphery, in which the Revelation of Christ is the center and the common human condition of man is the periphery. The further one moves into the periphery or the common human condition, the further away one moves from the Revelation. From the point of view of the folk church, however, it is more accurate to think of the church as an ellipsis with two foci, the Revelation being one and the created life, the other. Hence, the church will always be a combination of revelation, on one hand, and creation as a given, on the other. Thus, the question is not whether the 16 S.A. Christoffersen, En hermeneutikk for folkekirken? (in: B. Sandvik [red], Folkekirken – status og strategier, Oslo 1988). 17 S.A. Christoffersen, Beretningen om den imøtekommende Gud; eller hva betyr Åpen folkekirke? (in: Kirke og Kultur 2006, 315–320).

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church can liberate itself from the general, but how it can interpret its own communality. 18 The view of the church as a folk church has always been central in Denmark, where the designation of folk church is found in the Danish constitution. The designation has not been as prevalent in Norwegian theology, as the Inner Mission organizations have had a stronger grip on The Norwegian Church, and these organizations oppose the idea of a folk church. However, in connection with the ongoing work of separating church and state, the designation has become more common, presumably as a way of assuring that the church will remain a church for all people even after the separation of church and state. At the same time, the influence of Inner Mission organizations has decreased. It is my impression that in recent years the development in Sweden has gone in the opposite direction, in the sense that the concept of the folk church has become less theologically significant. If that is correct, it may well be because secularization has advanced more in Sweden than in Denmark or Norway, and the church in Sweden is to a larger extent oriented towards a situation in which the church is a minority church, exemplified by book titles like »After the Folk Church« and »Beyond Protestantism«.19 Furthermore, the Lutheran perspective seems to play a lesser role in Swedish theology than in Danish and Norwegian. This point is particularly noteworthy seen in light of the

18

This model is developed in D. Myhre-Nielsen, En hellig og ganske allminnelig kirke. Teologiske aspekter ved kirkens identitet i samfunnet, Trondheim 1998. 19 Cf. P. Hagman, Efter Folkkyrkan. En teologi om kyrkan i det efterkristna samhället, Skjellefteå 2013; M. Hagberg (red), Bortom protestantismen, Skjellefteå 2015.

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central role that research on Luther and Lutheran theology played in Swedish theology in the 20th century.20 In the folk church, baptism and in particular the baptism of infants plays a decisive role, while the Eucharist plays a more important role from the perspective of separation theology. Infant baptism is the defining characteristic (proprium) of the folk church, while the Eucharist is the proprium of the Congregationalist church. This is the second thing that must be emphasized when it comes to the view of the church from the perspective of creation theology. In this context as well, there is a difference between the Scandinavian countries. Baptism of infants was entirely central to Grundtvig’s theology, and this has influenced Danish theology to a greater degree than the theology of Norway and Sweden, even though infant baptism also plays an important role in these countries. At the same time, it is in Denmark that we find the sharpest critique of infant baptism, that is, in the writings of Kierkegaard. However, in Danish theology, as in Scandinavian theology in general, it is not Kierkegaard’s critique of baptism, but Grundtvig’s defense of it that has the upper hand. The third point of emphasis is the view of the gospel as a renewal of the created world, as found in creation theology. The gospel is recapitulatio, the renewal and re-establishment of the created life. It is not by chance that the word recapitulatio brings up thoughts of Ireneus, as Wingren was strongly influence by Ireneus and wrote his doctoral dissertation on Ireneus.21 In his later years, Wingren was actually more preoccupied with Ireneus than with Luther. The view of the gospel as recapitulatio lays the foundation for a church that participates on the side of life in the fight 20 Cf. M.E. Anderson, Gustaf Wingren and the Swedish Luther Renaissance, New York 2006. 21 G. Wingren, Man and the Incarnation: A Study in the Biblical Theology of Irenaeus, Philadelphia 1959.

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against the forces of death in this world. For Wingren this involvement had political consequences. As a theologian, Wingren was engaged in a variety of social issues. For that reason, his theology has been an important inspiration for the ecclesiology of liberation theology in Scandinavia, particularly in Sweden and Norway. Many of those in recent years who have supported women’s rights and gay rights in the church and in society in general have been inspired by Wingren’s theology. Wingren’s significance in this context has given Scandinavian liberation theology a decidedly Protestant imprint. A particular characteristic of Danish theology is that the Holy Spirit plays an important role both in creation theology and ecclesiology.22 This combination of creation theology and ecclesiology in the doctrine of the Holy Spirit is not as prominent in Norwegian and Swedish theology. The reason for this can be attributed to Grundtvig. For Grundtvig, life and spirit were bound together inextricably. Where there is spirit, there is life, and where there is no spirit, there is no life either. Thus, there is spirit, not only in the church, but also in the conditions given by creation. The battle between life and death is for Grundtvig a battle of the spirit, and this battle of the spirit plays out not least as a battle about and within social modes of life. Life always has a mode, a particular way of living. A mode of life can fall apart, but it can also be emptied of spirit and thus of life. In the case of the latter, life seems to go on as usual, but the mode of life has degenerated to an empty shell. It lacks spirit and, thus, also life. Seen from this perspective, the Holy Spirit salvages our modes of living. It injects new life into old forms and creates new modes where the old ones have fallen apart. The

22

Cf. T. Jørgensen, Korset i Altet, København 1995, 231–241.

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Holy Spirit is a life-renewing spirit. It renews life given in creation.23 3. There is no doubt that the doctrine of justification also plays an important role in organizing the relationship between the church and the world in creation theology. The gospel is a life-renewing force that is given to the world. However, this is a perspective that can also be found in the theology of separation, in so far as it is precisely the church’s preaching of grace that separates it from the world. The question is, then, whether from the perspective of creation theology there is also a correspondence between preaching the grace of justification and the life given in creation, or whether it is just a contradiction. I will focus on two central points in the doctrine of justification. The doctrine of justification deals with grace, and it deals with the division between faith and works. Is there anything in the world that corresponds to this? I will give two examples. Wingren was a sharp critic of modern industrial society, which, according to him, made man valuable only as a product. Man is nothing but that which he makes of himself. Man is his own creator, and he stands or falls with his own work. Today we can also include the modern culture of self-promotion in this picture of the self-made man. According to Wingren, this means that human worth is determined by acts of law. Law is what rules in modern industrial society and in the modern culture of selfpromotion. Therefore, we must once again learn from Luther and distinguish between a person and his works and 23

Cf. H.R. Iversen, Ånd og livsform. Husliv, folkeliv og kirkeliv hos Grundtvig og sidenhen, Århus 1987.

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deeds. Man is not what he does. Man is what God makes of him. Human dignity is not to be acquired by good works: It is a gift. But can this division between person and works be instrumental in society, outside the church? Is it comprehensible or worthy of belief to separate the things that a person does from what he or she is, also for someone who is not Christian? Wingren’s answer is affirmative. Let me exemplify this with an example that Wingren did not have the opportunity to use. On July 22, 2011, the Norwegian terrorist Anders Behring Breivik demolished the government building in Oslo city center and killed 8 people with a huge bomb. Then he continued to a summer camp outside Oslo and killed 69 people, most of them youths. What he did was outrageous and inhuman. In prison, he met the prison chaplain, a minister whose task it had been to bring the news of deaths to some of the next of kin. The chaplain was asked how he could meet Behring Breivik. And the chaplain replied that Behring Breivik had committed devilish acts, but that he was not a devil. Amidst all devilry, there was a human being. The minister pointedly and precisely expressed a Christian view of humanity, founded in the doctrine that man is justified by faith alone and not by his own works. Do you have to be a minister or a Christian to accept this? Clearly no. The chaplain’s point of view was received and accepted across the lines of religious affiliation and observance. In the trial that followed, great importance was attached to treating Behring Breivik as a human being and not as a devil. He did not express regret, he did not feel sorry for the victims and he did not ask for forgiveness. He was proud of what he had done. Nevertheless, he was treated as a human being. Man cannot forfeit his humanity through what he does, as humanity is not his own work. To be a human being in this world is something we are given in

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grace. I will summarize this point with a quote from Gerhard Ebeling: »Darum enthält die Rechtfertigungsaussage eine fundamentale anthropologische These, die auch an den Phänomenen des Menschseins allgemein diskutierbar ist: Nicht aus den Werken des Menschen geht seine Person hervor, sondern aus der Person wachsen die Werke.«24 And now for the other example: When Løgstrup describes sovereign, life-renewing phenomena, like mercy and trust, an important aspect in the description of these phenomena is that they are not our doing. Trust is not something we decide on or choose. It is given, or it comes to us, often without our being aware of it or reflecting over it. Trust is mercy. It is the same as when we climb up to the very top of a mountain peak and look out on a mighty landscape. By our own forces, we have struggled to get to the peak, but nonetheless we are filled with gratitude for this view. Or we are struck by the sunrise and feel that life begins anew. Our mind is recharged and we receive new energy. The sun does not rise because we deserve it. The sun gives us its light – that is grace. Only as grace can we receive light with gratitude. Our lives are put together in such a way that if we cannot receive life-renewing forces in gratitude, our lives will not be renewed. Grace is not found just in the gospel, it is found in Creation as well. Again, an interesting parallel may be found in the theology of Ebeling: »Es ist darum ein zwiefaches Wortgeschehen zu unterscheiden: einerseits das Wortgeschehen, das sich in der geschichtlichen Existenz des Menschen immer schon vollzieht, wobei freilich nur partiell und fragmentarisch und höchstens im vorläufigen Sinne heilsam letztlich aber hoffnungslos und heillos Wort geschieht, Wort ohne Zukunft 24

G. Ebeling, Dogmatik des Christlichen Glaubens, Bd. 3, Tübingen 1979, 224.

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und darum im Grunde vernichtendes Wort; anderseits das Wortgeschehen, das ganz und wahr Wort geschehen lässt, und das heisst wahrmachendes, heilmachendes, hoffnungsvolles, zukunftmächtiges, lebenschaffendes, bleibendes Wort. Beiden Weisen des Wortgeschehens ist gemeinsam, dass es nur recht geschieht als empfangendes und verdanktes Wort.«25 »Wortgeschehen« is a term that entails a comprehensive philosophy, which we cannot explore here. Let us just say that it captures the idea that we are addressed existentially by life and things in life. We are addressed not just by words in a narrow sense, but also by significant events and impressions that determine who we are and what we are. In accordance with Wingren and Løgstrup, Ebeling distinguishes between two different word-events, one given in the created life and one given in the Gospel. And still in accordance with Wingren and Løgstrup, Ebeling takes both word-events to be healing and full of grace. Both have to be received in gratitude. There is a fundamental correspondence between these two word-events. However, the correspondence between the two word-events is just a partial correspondence, according to Ebeling. The healing in the first word-event is just a partial healing and in the end, it is annihilating. If we keep to Ebeling’s terminology, Løgstrup and Wingren would agree that the lifegiving word-event in the created life is only partial, but they would not have gone along with the idea that it is annihilating (»vernichtendes Wort«). Løgstrup predominantly, but also Wingren, would have distinguished between two word-events in the created life: a life-giving and an annihilating one. Thus, they would have said that the individual is caught in the field of tension between two word-events: a life-giving and an annihilating one. They would, then, have emphasized the irresoluble conflict be25

G. Ebeling, Wort und Glaube, Bd. II, Tübingen 1967, 37.

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tween life and death, creation and annihilation in another way than Ebeling does. But this does not preclude that both Ebeling, Løgstrup and Wingren would have agreed that there is a life-giving word-event in the created life, and that this life-giving word-event establishes a connection between creation and salvation. Both these examples may be taken as signs of grace in the created world. If this is right, then the doctrine of justification not only divides the church from the world, but it also connects the church with the world. This means that it can also be the task of the church to defend grace in this world: the grace we meet in our encounter with nature and the grace we meet in our lives with other people. A consequence of the correspondence between the doctrine of justification and the creation is that agape not only negates eros, it also confirms eros. This correspondence makes it possible for the Church to collaborate with people outside the Church and with the society at large in questions concerning, say, human dignity, human rights and ecology, without diminishing the importance of the doctrine of justification. The correspondence between creation and salvation has become an important aspect in Scandinavian ecclesiology, not just in theologies of creation, but in liberation theology and in contextual theology as well. One might even say that it has paved the way for contextual theology and reduced the impact from theologies of separation. But it has not eradicated this impact, so there is still a tension or even conflict in Scandinavian ecclesiology between theologies of separation and theologies of creation at different levels, not least in the understanding of what it means to be a folk church. However, the important point is that both these kinds of theology, at least in their own understanding, are firmly anchored in the doctrine of justification by faith alone.

Autoren und Herausgeber Dr. Svend Andersen, geb. 1948, Professor für Ethik und Religionsphilosophie, Abteilung für Theologie, School of Culture and Society, Universität Aarhus. Dr. Svein Aage Christoffersen, geb. 1947, Professor für Ethik, Religionsphilosophie und Fundamentaltheologie, Faculty of Theology, University of Oslo, Norway. Dr. Michael Beyer, geb. 1952, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Spätmittelalter und Reformation der Theologischen Fakultät, Universität Leipzig. Dr. Theodor Dieter, geb. 1951, Forschungsprofessor am Institut für Ökumenische Forschung in Strasbourg und Direktor des Instituts. Dr. Martin Hauger, geb. 1967, Oberkirchenrat im Kirchenamt der EKD, Referat Glaube und Dialog, Hannover. Dr. Steffen Kjeldgaard-Pedersen, geb. 1946, Professor für Kirchengeschichte an der Universität Kopenhagen. Dr. Dietrich Korsch, geb. 1949, Professor für Systematische Theologie an der Philipps-Universität Marburg bis 2014. Dr. Volker Leppin, geb. 1966, Professor für Kirchengeschichte / Leiter des Instituts Spätmittelalter und Reformation der Evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Tübingen. Dr. Wolf-Friedrich Schäufele, geb. 1967, Professor für Kirchengeschichte am Fachbereich Evangelische Theologie der Philipps-Universität Marburg. Dr. phil. et habil. Luise Schorn-Schütte, geb. 1949, Professorin em. für neuere allgemeine Geschichte unter besonderer Berücksichtigung der Frühen Neuzeit an der Goethe-Universität Frankfurt/M. Dr. Wolfgang Thönissen, geb. 1955, Professor für Ökumenische Theologie an der Theologischen Fakultät Paderborn, Leitender Direktor des Johann-Adam-Möhler-Instituts für Ökumenik in Paderborn.

Der Theologische Arbeitskreis für reformationsgeschichtliche Forschung

Der Theologische Arbeitskreis für reformationsgeschichtliche Forschung (TARF) ist eine wissenschaftliche Institution der Union Evangelischer Kirchen (UEK). Seine Gründung im Jahr 1970 in Ostberlin geschah unter den besonderen Gegebenheiten der deutschen Teilung durch den Magdeburger Bischof D. Dr. Werner Krusche. Unter der Trägerschaft der damaligen Evangelischen Kirche der Union (EKU) ermöglichte er einmal jährlich den Austausch zwischen Kirchenhistorikern, die im Bereich der DDR an Kirchlichen Hochschulen wie staatlichen Universitäten tätig waren, und Forschern aus der Bundesrepublik Deutschland sowie dem weiteren europäischen Ausland. Aus seiner Arbeit sind mehrere Publikationsprojekte hervorgegangen, insbesondere die Luther-Studienausgabe und, im Kontext des Lutherjubiläums 1983, die von Helmar Junghans herausgegebenen Bände über Leben und Werk Martin Luthers 1526–1546. Dass der TARF seine Arbeit nach der Wiedervereinigung fortsetzte, ist ein Zeichen für seine grundsätzliche Bedeutung auch unter veränderten Bedingungen. Die intensive Arbeitsatmosphäre und internationale Kontakte, die sich durch die Tagungsarbeit entwickelt haben, bilden die Grundlage für eine deutliche Profilierung des TARF in der gegenwärtigen Landschaft von Wissenschaft und Kirche. Leitend sind dabei der kirchlich-theologische Charakter und die europäische Dimension der Arbeit. Die dezidierte Einbindung reformationshistorischer Fragen in das theolo-

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gische Gespräch bedeutet eine Besonderheit des Arbeitskreises gegenüber anderen Arbeitskreisen und Verbänden. Die Arbeitsweise des TARF ist durch jährliche Tagungen bestimmt, deren Zielperspektive in den vergangenen Jahren auf das Reformationsjubiläum 2017 ausgerichtet war. Im Rahmen des Projekts zur Reformations-Dekade »Die Wittenberger Universität und ihre europäische Ausstrahlung: Wahrnehmung und Rezeption im 16. Jahrhundert« wurden in Einzelstudien aus ganz Europa Fragen der Ausstrahlung, Wahrnehmung und Rezeption Wittenbergs vorgestellt und diskutiert. Der vorliegende Band dokumentiert im Rahmen dieses Projekts die Beiträge der Tagung im Herbst 2016. Abschließend ist für das Jubiläumsjahr 2017 eine Publikation mit ausgewählten Beiträgen des Gesamtprojekts geplant. Seit 2007 fungiert Prof. Dr. Volker Leppin (Tübingen) als Vorsitzender des Vorstands. Dem Vorstand gehören ferner an: Dr. Michael Beyer (Leipzig); Prof. Dr. Armin Kohnle (Leipzig); Prof. Dr. Christian Peters (Münster) und Prof. Dr. Anna Vind (Kopenhagen). Die Geschäftsführung wird für die UEK stellvertretend durch das Kirchenamt der EKD wahrgenommen.