Das Ende der Sünde: Anthropologie und Erbsünde zwischen Reformation und Aufklärung 9783666551925, 3525551924, 9783525551929

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Das Ende der Sünde: Anthropologie und Erbsünde zwischen Reformation und Aufklärung
 9783666551925, 3525551924, 9783525551929

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VÖR

Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte

Herausgegeben von Adolf Martin Ritter und Thomas Kaufmann

Band 84

Göttingen · Vandenhoeck & Ruprecht · 2002

Das Ende der Sünde Anthropologie und Erbsünde zwischen Reformation und Aufklärung

von Anselm Schubert

Göttingen · Vandenhoeck & Ruprecht · 2002

Die Deutsche Bibliothek — CIP-Einheitsaufiiahme Schubert, Anselm: Das Ende der Sünde: Anthropologie und Erbsünde zwischen Reformation und Aufklärung / von Anselm Schubert. — Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 2002 (Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte; Bd. 84) Zugl.: München, Univ., Diss., 2000 ISBN 3-525-55192-4

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft. D 19

© 2002 Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen http://www.vandenhoeck-ruprecht.de Printed in Germany. — Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Satz: Schwarz auf Weiß GmbH, Hannover Druck und Bindearbeiten: Hubert & Co., Göttingen

Vorwort Es bedurfte einer ganzen Reihe von Zufällen, daß dieses Buch geschrieben wurde. Denn man darf es wohl einen Zufall nennen, wenn man über die erotische Literatur seinen Weg in die Theologie des konfessionellen Zeitalters findet. Eine galante Laune des Schicksals, daß die Anmeldefrist zum Hauptseminar längst verstrichen und auch das letzte der Referatsthemen schon vergeben war - bis auf jenes eine eben: „Religion in der erotischen Lyrik des Barock". Als Theologe, so die Auskunft, sei ich mit der Materie ja zweifelsohne vertraut. Ich war aufgenommen. Nur so ist es wohl zu erklären, daß die Theologie der lutherischen Orthodoxie für mich im Laufe der Jahre tatsächlich einen ganz eigenen Charme entfaltet hat. Der zweite glückliche Zufall war, daß ich an Thomas Kaufmann als Doktorvater geriet. Einen besseren hätte ich mir nicht wünschen können. Mit erschütternder Gelehrsamkeit und ansteckender Entdeckerfreude begleitete und begleitet er bis heute meine Streifzüge durch den dunklen Kontinent der Orthodoxie. Ein großer Dank gebührt auch Jan Röhls, der auf unerfindliche Weise immer dann mit Rat und Tat in mein Leben tritt, wenn sich wieder einmal die akademische Sinnfrage stellt. Daß ich mich an der Münchener Universität über lange Jahre zuhause geftihlt und hier so gerne gearbeitet habe, verdanke ich aber nicht zuletzt auch Eckhart Hellmuth und meinem Vertrauensdozenten Ulrich Broich, die beide „ihre" Universität so sehr lieben. Diese Arbeit hätte nicht entstehen können ohne meine Freunde Christoph von Ehrenstein, Gerhard Lauer, Andreas Mahler und Martin Mulsow. Ihnen und ihrer Begeisterung für Diskussionen und Arbeitsessen, für Clandestina und Curiosa widme ich dieses Buch.

Anselm Schubert

Inhalt I.

II.

EINLEITUNG

11

D I E KATHOLISCHE KRITIK U N D DIE CALIXTINISCHE ANTHROPOLOGIE 1 5 8 0 - 1 6 8 0

32

1. Das lutherische Problem und die katholische Kritik

32

A) Das lutherische Problem

36

B) Die Kritik Bellarmins

41

a) Der Bajanistische Streit

42

b) Die Kontroverse mit dem Luthertum

46

c) Bellarmins Erbsündenlehre

48

C) Die lutherischen Antworten

52

a) Hutter und Gerhard

53

b) Goclenius

54

c) Meisner

56

2. Die Diskussion um die Calixtinische Anthropologie

59

A) Die Ursprünge der Differenzen

60

B) Die erste Kontroverse 1619/20

65

a) Calixts Erbsündenlehre

65

b) Pfaffrad, Meisner, Mentzer und der kursächsische Theologenkonvent C) Die zweite Kontroverse 1640/41

71 76

a) Calixts theologische Entwicklung bis 1640

77

b) Statius Büscher und die ramistische Kritik

81

c) Die Ausarbeitung der Calixtinischen Erbsündenlehre

86

D) Die Anthropologie im Synkretistischen Streit und ihre spätere Rezeption 1655/1668

91

a) Die Entwicklung des Synkretistischen Streites

91

b) Calov

97

8

Inhalt c) Der „Consensus Repetitus Fidei vere Lutheranae"

99

d) Die Kommentare von E U . Calixt (1667) und Ägidius Strauch (1668)

102

I I I . D I E U M F O R M U N G DER LUTHERISCHEN A N T H R O P O L O G I E 1 6 8 0 - 1 7 4 0 .... 1 0 7

1. Einleitung

107

2. Die Frage nach der Gottebenbildlichkeit des Menschen

108

A) Die lutherische Lehre von der Gottebenbildlichkeit

108

a) Die Imago Dei-Lehre bis zu Gerhards „Loci"

109

b) Die Anthropologie bei Meisner und ihre Rezeption

114

α) Meisner

114

ß) Gerhards „Confessio Catholica"

116

V) Calov

118

δ) Quenstedt

119

ε) Baier

121

ζ) Hollaz

123

B) Die reformierte Lehre von der Perfektibilität des Menschen

124

a) Einleitung

124

b) Die niederländische Föderaltheologie

128

a)Coccejus Exkurs: Augustine Lehre vom urständlichen „adiutorium" ß) Burmann C) Die Übernahme der föderaltheologischen Anthropologie

128 133 135 137

a) Elemente der Dynamisierung in der lutherischen Anthropologie

138

α) Adams urständliche Erkenntnis

140

ß) Die Fähigkeiten der Kinder Adams und Evas

141

γ) Die Frage der natürlichen Gotteserkenntis

143

b) Die Umformung der Lehre von der Gottebenbildlichkeit

148

α) Pufendorf

148

ß) Jäger

152

γ) Budde

156

δ) Baumgarten

161

Inhalt Exkurs: Wolffs Lehre von der Vervollkommnung

9 166

ε) Teller

169

3. Das Ende der Erbsünde

172

A) Einleitung

172

B) Die Imputationslehre im älteren Luthertum

174

a) Der Doppelcharakter der Erbsünde

174

b) Die lutherische Imputationslehre bis Meisner

177

C) Die Imputationslehre im Reformiertentum a) La Place und die Abschwächung der Imputationslehre

182 183

b) Die Debatte um die arminianischen Positionen von Courcelles D) Die Diskussion um die Imputationslehre im Luthertum

189 199

a) Major und Wölfflin

199

b) Pufendorf

201

c) Musäus, Calov und Hollaz

204

d) Die Rückkehr zu Hunnius: Oslander und Quenstedt

209

e) Die Föderaltheologien: Jäger, Budde und Baumgarten

212

Exkurs: Whitbys Lehre von der Erbsünde f) Die „neologische" Position Tellers

214 220

I V . ZUSAMMENFASSUNG

224

LITERATURVERZEICHNIS

232

Abkürzungen

232

Quellen

232

Sekundärliteratur

243

REGISTER

263

I. Einleitung 1. Uber den Leidener Philosophieprofessor Georg Horn (1620—1670) wird folgende Geschichte erzählt: „Er hat ein paar Jahre vor seinem Ende das Unglück gehabt / daß er unsinnig worden: wie er denn in diesem Zustande einmahl gantz nackend auf die Strasse gelauffen und geschrien: An tu unquam vidisti hominem paradisiacum? Ego sum Adam. Doch hat ihn diese Raserey nur zu gewissen Zeiten überfallen / und / wenn diese vorbey gewesen / so hat er sowohl seine privat- als auch publica Collegia ganz vernünftig und freudig abgewartet. Es gab aber zu dieser rasenden Melancholey ein Unglück Gelegenheit / indem ihn ein Alchymiste um fiinff tausend Gulden betrogen hatte: welchen Schaden er sich dermassen zu Gemüthe zog daß er / wie gedacht / manchmal gar unsinnig wurde."'

Wir wissen nicht viel über Georg Horn, und wir wissen schon gar nicht, warum ein Verlust von fünftausend Gulden den armen Philosophieprofessor in „rasende Melancholey" stürzte, die ihm den Gedanken eingab, sich die Kleider vom Leibe zu reißen und nackt, wie Gott ihn erschaffen, als „paradiesischer Mensch" aus dem Haus zu laufen. Auch den Zeitgenossen kam diese Geschichte merkwürdig vor.2 Erstaunlich ist allerdings, daß denen, die diese Geschichte überliefern, gar nicht der nackte Professor wichtig war, der den meisten von uns sicherlich als erstes auffallt. 3 Was die Menschen des 17. und 18. Jahrhunderts an dieser Geschichte faszinierte, war der Satz, den er ausgerufen hatte: „An tu unquam vidisti hominem paradisiacum? Ego sum Adam." Warum? Was war an diesem Satz so besonders? Die kleine Szene aus den Straßen der holländischen Universitätsstadt Leiden gewährt uns einen kurzen, schlaglichtartigen Blick ins kulturelle Gedächtnis des europäischen Menschen um die Mitte des 17. Jahrhunderts. Wußte denn nicht jeder, daß die Welt kurz nach ihrer Erschaffung durch Gott und die Welt, wie sie sich im Jahr 1660 darstellte, unüberbrückbar und unwiderruflich durch den Sündenfall getrennt waren? Den paradiesischen Adam und den Philosophieprofes1 Heumann, Acta, S. 1041 f. Er verweist für diese Geschichte auf Sagittarius, Bibliotheca, S. 197, der wiederum behauptet, die Geschichte „ex literis Dan. Braunii, Ludovico Salf. Antistite nati, ad I.I. scriptis anno 1668" zu haben (ebd., S. 198, Anni. a). 2 1716 erzahlt sie, wie gesehen, der Philosoph Heumann, und noch 1750 nahm Jocher sie in sein „Gelehrten-Lexikon" auf. Vgl. Anm. 3. 3 Bei Christian Gottlieb Jocher, Gelehrten-Lexikon II, S. 1708f., der die Anekdote noch 1750 in seinem berühmten Gelehrten-Lexikon erzählt, ist die eigentliche Geschichte auf den einen Satz reduziert: „Er soll einst ganz nackend auf die Gassen gelaufen seyn und gerufen haben: An tu unquam vidisti hominem paradisiacum? Ego sum Adam."

12

Einleitung

sor Georg Horn schied noch nicht so sehr der „garstige Graben der Geschichte", sondern, viel schlimmer, der Graben der Heilsgeschichte: die Erbsünde. Mußte nicht ein jeder Christenmensch alltäglich bedauern, daß man sich seit der Vertreibung aus dem Paradies im Zustand traurigster Erlösungsbedürftigkeit befand? Waren nicht alle mit der ererbten Sünde wie mit einer Krankheit zum Tode als zweiter Natur behaftet? Und war diese tiefe, innere Verderbnis nicht so schrecklich, daß sie sogar durch die Menschwerdung des Gottessohnes nicht wirklich aufgehoben worden war? Sie würde nur, so die Hoffnung, dereinst im Gericht dem gläubigen Christen um des Heilands willen nicht mehr zugerechnet werden. Die Ansicht, daß die Menschheit durch den Sündenfall in bleibendes Elend gestürzt worden und die menschliche Natur durch die Erbsünde gänzlich verderbt oder, wie es die lutherischen Bekenntnisschriften sagen, „ganz und gar zum Guten erstorben und verdorben"4 war, war die anthropologische Grundsignatur des 17. Jahrhunderts. Kein Zweifel, Georg Horn war ein Verrückter. Und zwar weniger, weil er nackt auf die Straße lief, als vielmehr deshalb, weil er gegen die selbstverständlichste Grundüberzeugung eines ganzen Zeitalters verstieß: er verwechselte die Gassen der irdischen Stadt Leiden mit den Gärten des Paradieses; er leugnete den unabänderlichen Lauf der ewig gegründeten Heilsgeschichte und hielt sich selbst fur Adam, unberührt von der Erbsünde — wieder ein erster Mensch. Ein Verrückter. Gut einhundert Jahre später, sagen wir um 1780, wäre Georg Horn vermutlich nicht mehr wegen seines berühmten Satzes für „unsinnig" gehalten worden, sondern nur noch, weil er nackt auf die Straße gerannt war. Wäre es zu einem Prozeß gekommen, er hätte die bedeutendsten Theologen und Schriftsteller seiner Zeit auf seiner Seite gewußt. Ganz sicher wäre Männern wie Teller, Semler, Jerusalem, Herder, Goethe, Schiller und Lessing das Verhalten von Horn peinlich gewesen - im Innersten aber hätten sie ihn (wären sie in einer imaginären Jury versammelt gewesen) vermutlich als einen Vorkämpfer für die Befreiung der Menschheit vom Joch der widernatürlichen Erbsündenlehre gefeiert. Im Fall „Horn" hätten sie geurteilt wie wir: verrückt ist, wer nackt auf die Straße läuft, aber nicht, wer sich selbst als Teil der allgemeinen Menschheit, als gottgeschaffenen Adam begreift. Die bürgerliche Moral hätte über die Heilsgeschichte gesiegt. Letztlich will meine Arbeit verstehen, warum Georg Horns Kampfansage an die Erbsündenlehre im 18. Jahrhundert nicht mehr fur verrückt gehalten worden wäre. Was geschah in jenen hundert Jahren der Aufklärung, daß sich das Bild vom Menschen so fundamental veränderte? 2. Wenn man sich solche Fragen stellt, kommt man an den Begriffen Aufklärung, Anthropologie und Diskurs kaum vorbei. Es wird besser sein, sich vorab über sie zu verständigen. 4

FC, S D II, 7, (BSLK, S. 8 7 8 , Z. 1 - 2 ) .

Einleitung

13

Um die Erforschung der deutschen Aufklärung steht es trotz der Bemühungen der „Deutschen Gesellschaft zur Erforschung des 18. Jahrhunderts" noch immer nicht zum Besten. Wortreich beklagen dies die Forschungsberichte, die Wolfgang Albrecht (1985) 5 und neuerdings auch Michael Maurer (1999) 6 vorgelegt haben. Auch die Darstellung von Schmidt-Biggemann und Häfner (1995) listet vor allem Desiderata auf. 7 Besonders die Geschichte der theologischen Aufklärung ist nach wie vor ein weites Feld, auf dem noch viel zu tun bleibt. Seit der magistralen Studie von Karl Aner aus dem Jahre 1927 und der Darstellung von Hirsch (letzter Band 1954) sind nur noch eine Reihe von Einzelstudien hinzugekommen und Maurer beklagt zu Recht, es zeige sich nirgendwo, daß diese Literatur „zu einer umfassenden neuen Synthese verarbeitet worden wäre, welche die Werke von Aner und Hirsch ersetzen könnte [...]." 8 Kantzenbach hat 1965 mit seinem „Protestantischen Christentum im Zeitalter der Aufklärung" zwar eine geraffte Darstellung vorgelegt, die sich vorzüglich als Einführung eignet und die bisherige Literatur zusammenfaßt. Grundsätzlich aber geht auch er nicht über die von Aner und Hirsch ausfuhrlicher vorgestellten Ergebnisse hinaus, und so sind wir nach wie vor von ihren Darstellungen abhängig. 9 Sie haben jedoch den Nachteil, einem ganz bestimmten, zeitgebundenen Paradigma von Geistesgeschichte verhaftet zu sein. Kultur-, ideen- und kommunikationsgeschichtliche Fragestellungen sind (bis auf eine neuere Studie von Gierl) bislang kaum je versucht worden. 10 Ein besonderes Problem besteht dabei in der genauen Abgrenzung der theologischen von der philosophischen Aufklärung. Nach wie vor wird mit Kollektivbegriffen wie „Orthodoxie", „Pietismus", „Wolffianismus", „Ubergangstheologie", „Neologie" und „Rationalismus" operiert, die schon die Historiographie des 19. Jahrhunderts nur mit Vorsicht angewendet wissen wollte und die sich, holzschnittartig wie sie sind, im konkreten Fall schnell als unpraktikabel oder sogar unhaltbar erweisen.11 Einigkeit besteht in der Regel allenfalls darüber, worin man die besondere Eigenleistung von Übergangstheologie und Neologie gegenüber der „altprotestantischen Orthodoxie" zu sehen habe. In der Forschung hat dabei insgesamt ein Wechsel von rein philosophiegeschichtlichen hin zu frömmigkeitsgeschichtlichen Paradigmen stattgefunden. In der älteren Historiographie bis Vgl. Albrecht, Spätaufklärung. Vgl. Maurer, Kirche. 7 Vgl. dazu Schmidt-Biggemann/Häfner, Richtungen. 8 Maurer, Kirche, S. 65. ' Sehr gut ist dies etwa an Spam, Christentum, zu sehen, der jüngsten, essayhaften Darstellung, die fast nirgends über das hinausgeht, was schon Aner an Fragestellungen, Personal und Ideen aufgeboten hat. 10 Gierl, Pietismus. 1 ' Zur Problematik dieser theologiegeschichtlichen Epochenbegriffe vgl. Wallmann, Konfessionalisierung; Hoffmann, Barock; zur Genese und Valenz des Orthodoxiebegriffes vgl. Matthias, Orthodoxie; Baur/Sparn, Orthodoxie; Kaufmann, Konfessionalisierung; als signifikante Beispiele fur die Schwierigkeit bei der konkreten Anwendung der verschiedenen Epochenbegriffe sei etwa auf die Untersuchungen von Schloemann, Baumgarten, und Olearius, Umbildung, hingewiesen. 5

6

14

Einleitung

einschließlich Aner hält man die Neologie für kaum mehr als die Anwendung Wolffscher Philosophie auf die Theologie, was zum Aufkommen einer rationalistisch gefärbten Dogmenkritik und der strengen Historisierung der Schrift geführt habe. 12 Hirschs umfangreiche Darstellung nahm diesen Gedanken auf. Für ihn kam aber noch der Pietismus als jenes wichtige Element hinzu, das die theologische Adaption und Transformation Wölfischer Ideen hin zu Ubergangstheologie und Neologie möglich gemacht habe. 13 Für Kantzenbach, der sich dafür auf die Studie von Wolfgang Philipp beruft, tritt an die Stelle des Pietismus als katalytisches Moment die Physikotheologie. 14 Aber auch für Kantzenbach ist „der eigentliche Aufklärungstheologe" 15 Wolff und die Neologie nicht viel mehr als eine Weiterentwicklung des „theologischen Wolffianismus". 16 Der von Hirsch so stark gemachte Aspekt des pietistischen Einflusses wurde in Scholders Studie ausgebaut, der schließlich die Konsequenz zog, die Aufklärungstheologie sei überhaupt weniger eine theoretisch-philosophische „Aufklärung" als vielmehr „eine praktische Reformbewegung" 17 aus dem Geist des Pietismus gewesen. Ja, es sei der Pietismus selbst gewesen, „der sich unter dem Einfluß westeuropäischer Strömungen zur Neologie wandelte." 18 Auch die Darstellung von Sparn steht in dieser Tradition. Als Movens der Entwicklung der Aufklärungstheologie sieht Sparn aber nicht Pietismus oder Physikotheologie an, sondern konstruiert eine Frömmigkeit, „die sich zugleich als christlich und als aufgeklärt verstand", 19 womit das Problem allerdings nur bedingt deutlicher umrissen ist. Jan Röhls schließt sich in seiner Darstellung der „Protestantischen Theologie der Neuzeit" den älteren Forschungsansätzen an. Er versteht die Neologie als ein theologiegeschichtliches Novum, das sich weniger (als bei Kantzenbach und Scholder) durch praktische Tätigkeit als durch die Übernahme des Wolffianismus auszeichne. 20 Die neueste, sehr knappe Darstellung von Albrecht Beutel wählt die Stichwörter „Anthropozentrismus" und „Perfektibilitätsglaube" als erkenntisleitende Begriffe, stellt aber letztlich doch nur alle bisher in der Forschung vertretenen Deutungen additiv nebeneinander: wie für Aner und Hirsch ist auch für Beutel die HerausforVgl. Aner, Theologie, passim; so auch noch Schloemann, Baumgarten, S. 6 6 - 7 9 . Vgl. Hirsch, Geschichte II, S. 9 1 . 3 l 6 - 3 1 9 f . 14 Kantzenbach, Christentum, S. 25ff. 15 Vgl. ebd., S. 67. 16 Vgl. ebd., S. 191. Anders als Aner beachtet Kantzenbach den dogmenkritischen Gestus der Neologie so gut wie gar nicht, sondern versteht die Neologie vor allem als den Versuch, auf der Grundlage einer Wolffianischen Identifizierung von Vernunft und Offenbarung im Einzelnen praktische Frömmigkeit zu wecken. 17 Scholder, Grundzüge, S. 462. 18 Ebd., S. 485. Erst das erklärte Ziel einer „praktischen Veränderung des Menschen und der Welt zum Besseren, Reicheren und Vollkommeneren" habe zu einer immer stärkeren Betonung der Vernunft geführt: „Denn praktisches Christentum, das hieß ja verständliches Christentum. Was nicht verständlich war, konnte auch nicht praktisch sein oder werden. Verständlich aber war für dieses Zeitalter bloß, was zugleich auch vernünftig war. U n d so hielt die Vernunft, wenn auch indirekt auf dem Umweg über die Praxis pietatis, nun eben doch ihren Einzug in Theologie und Kirche." 19 Sparn, Christentum, S. 34. 20 Röhls, Theologie I, S. 150f. u. S. 2 0 5 - 2 1 8 . 12 13

Einleitung

15

derung des Wolffianismus das eigentliche Movens der theologischen Entwicklung. 21 Wie fur Scholder manifestiert sich auch fur Beutel diese Entwicklung in einer zunehmenden Ethisierung und Anthropozentrik der Theologie, die sekundär dann auch zur kritischen Rekonstruktion der überlieferten Dogmen führe. 22 Und wie fur Kantzenbach ist auch fiir Beutel die Physikotheologie eine wichtige „theologisch-literarische Strömung der Frühaufklärung". 23 So unterschiedlich alle diese Beiträge im Detail die Akzente setzen, eines stellen sie alle gemeinsam fest: das eigentlich Innovative der Neologie, die genuinen Errungenschaften der Aufklärungstheologie, seien ihre Dogmenkritik und die wissenschaftliche Bibelkritik gewesen. 24 Daraus zog man andersherum allerdings auch den Schluß, Dogmen- und Bibelkritik seien echte Neuerungen des 18. Jahrhunderts und keineswegs aus dem Erbe der Theologie des 17. Jahrhunderts zu erklären. 25 Für die Bibelkritik ist dies aber schon früh durch Scholders Studie „Ursprünge und Probleme der Bibelkritik im 17. Jahrhundert" 26 angezweifelt worden. Die Idee einer rationalistisch-historischen Bibelkritik, so Scholder, habe sich sukzessive schon im 17. Jahrhundert entwickelt, bedingt durch die lutherisch-katholische Kontroverstheologie und die Auseinandersetzungen der Theologie mit dem Sozinianismus, der KeplerschGalileischen Entdeckung, dem aufkommenden Cartesianismus und Isaac de La Peyrère: „In der großen Auseinandersetzung um Verständnis und Bedeutung der Bibel, die mit dem Aufkommen des neuzeitlichen Denkens im Abendland begann, sind um 1680 die wichtigsten Positionen abgesteckt. Die Aufklärung verändert zwar die historischen Gewichte, aber sie bringt nichts wesentlich Neu"27

es. L' Je genauer man das Augenmerk also auf die Genese dessen richtet, was man gemeinhin Frühaufklärung nennt, desto klarer treten eher Kontinuitäten als Vgl. Beutel, Aufklärung, S. 944f. Vgl. ebd., S. 942. 23 Vgl. ebd., S. 944. 24 Für Aner, Theologie, S. 162-20, und das ganze Kapitel VI, besteht das Proprium der Aufklärungstheologie in der Dogmen- und Bibelkritik. Für Scholder, Grundzüge, S. 4 6 8 ^ 7 6 , sind die eigentlich materialen Neuerungen der Neologie ihre Dogmenkritik und die Historisierung der Schrift, doch sind sie für ihn anders als für Aner nicht das Proprium der Aufklärungstheologie, sondern nur folgerichtige Konsequenzen aus dem Ansatz, das Christentum praktisch, vernünftig und einsehbar zu machen. Wie Scholder hält auch Spam, Christentum, S. 40, Bibel- und Dogmenkritik eher fur Nebenprodukte „der Prüfung der überlieferten Inhalte auf ihre Eignung dafür, im Gemüt der Zuhörer deren eigene Vorstellungen und Betrachtungen lebendig werden zu lassen". Auch Röhls, Theologie I, S. 210-218, sieht in der Dogmenkritik die besondere Errungenschaft der Neologie. Und auch Beutel, Aufklärung, S. 944f. schließt sich dieser Meinung an. 25 Am radikalsten tut dies Spam, Christentum, S. 34, der dem Leser wieder und wieder einschärfen will, die Aufklärungstheologie sei tatsächlich „nicht bloß allmählich aus den vorangehenden theologischen Ansätzen entstanden, denn keiner von ihnen konnte als solcher in die theologische Aufklärung eingehen. Die Orthodoxie schleppte sich als Repetition der alten Lehrstücke fort; der Pietismus verkümmerte zum erbaulichen Biblizismus oder verwandelte sich in Herrnhutische Sinnlichkeit [...]." 26 Vgl. Scholder, Ursprünge. 27 Ebd., S. 171. 21

22

16

Einleitung

epochale Umbrüche zu Tage. Umso hartnäckiger versuchen deshalb neuere Darstellungen zumindest die Dogmenkritik als Errungenschaft fur die Neologie zu retten.28 Und hier gilt vor allem eines als Ruhmesblatt der Aufklärungstheologie: die Kritik an der Erbsündenlehre, die zugleich die Heraufkunft eines positiven und optimistischen, kurz aufklärerischen Menschenbildes bedeutet habe. Schon früh war es die Vorstellung eines Kampfes gegen die pessimistische Anthropologie der lutherischen Orthodoxie, die als geistige Großtat der Neologie angesehen wurde: „Die Theologie folgt dem Empfinden der Zeit. Das gesteigerte Bewußtsein der Menschenwürde erhebt den Ruf nach Toleranz und Freiheit und entfremdet mit der Beseitigung seiner Autorität auch die Materie des Dogmas. Die Erbsündenlehre schien als erste mit dem Glauben an die Menschenwürde unvereinbar. Mögen sie auch sonst so getrennte Wege gegangen sein - in der Verurteilung des Sündenpessimismus und dem optimistischen Glauben an die bildungsfähige Menschennatur waren alle Geister der Zeit von Goethe bis Nicolai, von Herder bis zum schlichten Dorfpfarrer einig." 29

Sogar Ernst Cassirer vertrat in seiner wenige Jahre später erschienenen, berühmten „Philosophie der Aufklärung" diese Meinung, ja er spitzte sie noch zu und erklärte den Kampf gegen die Erbsündenlehre nicht nur zum Zentrum der Neologie, sondern der gesamten Aufklärungsphilosophie überhaupt: „Der Gedanke der Erbsündenlehre ist der gemeinsame Gegner, in dessen Bekämpfung sich die verschiedenen Grundrichtungen der Aufklärungsphilosophie vereinen." 30 Auch keine von den neueren Darstellungen versäumt es, hier den Fortschritt, das Novum, den epochalen Umbruch zu verorten. 31 So gesehen stellt sich die Aufklärung dann als diejenige Bewegung in der Geschichte der Philosophie dar, die sich gegen die von der Reformation und der altprotestantischen Orthodoxie vermittelte Anthropologie zur Wehr setzt und das Bild des Menschen befreit vom Verdikt seiner moralischen, geistigen und religiösen Verderbtheit - eine Entwicklung, wenn man so will, vom religiösen Sündenbewußtsein zum aufgeklärten Selbstbewußtsein. 32 Nein, den Ruhmeskranz, hier Entscheidendes, Epochales geleistet zu haben, will man der Neologie nun doch nicht aus den Händen winden. Soll nun etwa, wie schon bei der Bibelkritik, auch noch die Kritik am Erbsündendogma schon eine Idee der Orthodoxie gewesen sein? Soll auch noch die letzte erkenntnisleiten-

28 29

Röhls, T h e o l o g i e I, S. 2 1 0 - 2 1 8 . Aner, T h e o l o g i e , S. 163f.

Cassirer, Philosophie, S. 188. In bislang größter Ausführlichkeit listet Röhls, T h e o l o g i e I, S. 2 0 5 - 2 0 8 . 2 1 3 - 2 1 6 die spätaufklärerischen Kritikpunkte an der Erbsündenlehre auf. 30 31

3 2 A u c h die im selben Jahr wie Aner, T h e o l o g i e , erschienene große kulturgeschichtliche Darstell u n g zur A u f k l ä r u n g Frankreichs von Bernhard G r o e t h u y s e n sieht im K a m p f gegen die Erbsündenlehre einen integralen Bestandteil der aufklärerischen B e m ü h u n g e n . I m Z e n t r u m der „katholischen W e l t a n s c h a u u n g " (so der Untertitel des ersten Bandes) a m V o r a b e n d der A u f k l ä r u n g s t a n d nach Groethuysen die (jansenistische) Erbsündenlehre, u n d ihre Zersetzung durch die jesuitische Kasuistik bedeutete den ersten Schritt hin zu einer Befreiung des M e n s c h e n v o m quälenden J o c h der Vorstellung eines absolutistischen Willkürgottes. Vgl. Groethuysen, E n s t e h u n g I, S. 1 9 4 - 2 3 9 .

Einleitung

17

de Idee der deutschen Aufklärungsforschung angezweifelt werden — der schon von Arnold, Walch, der Historiographie des 19. Jahrhunderts, von Troeltsch, Cassirer und allen, die nach ihnen kamen, wortreich beschworene Antagonismus von „altprotestantischer Orthodoxie" und strahlender „Aufklärung"? Fragen, die in Deutschland einen Bruch mit der gesamten Forschung bedeuten würden — in der angloamerikanischen Forschung werden sie schon seit langem mit großer Respektlosigkeit gestellt. Und es werden aufsehenerregende Ergebnisse vorgelegt. Neuere Forschungen zur Frühaufklärung haben darauf hingewiesen, daß das Verhältnis der Aufklärung zu ihrer eigenen Vergangenheit keineswegs als einfacher Kampf von Gut gegen Böse, von Vernunft gegen Vorurteil, von Philosophie gegen Theologie, kurz von Befreiung gegen Unterdrückung gesehen werden kann und somit keine bloße Fortschritts- oder Erfolgsgeschichte ist. Damit ist nicht eine wie auch immer geartete dialektische Abhängigkeit der Aufklärung von den durch sie ausgeschlossenen oder überwundenen Gegenpositionen gemeint, sondern die/w/tov Abhängigkeit der Aufklärung von ihren eigenen Ursprüngen — eben jenen Ursprüngen, die die Aufklärung später so schnell zu vergessen suchte. Im Vorwort zu ihrem 1987 gemeinsam herausgegebenen Buch „Anticipations of the Enlightenment in England, France and Germany" umreißen Allan Charles Kors und Paul J. Korshin dieses Problem wie folgt: „ B e c a u s e E n l i g h t e n m e n t authors themselves s o u g h t to contradistinguish their e p o c h categorically f r o m the .orthodox' past, a c k n o w l e d g i n g as a source o f their own ideas only, for the m o s t part, w h a t was m o s t new in the seventeenth century, scholars often have b e g u n with a similar a s s u m p t i o n a b o u t influence. W h a t was not a part o f the ,new p h i l o s o p h y ' o f the seventeenth century was s o m e h o w (however bizarre the a s s u m p t i o n appears w h e n stated baldly) without .positive' influence. T h e .sources' o f the Enlightenm e n t were to be s o u g h t in those thinkers o f prior generations w h o m o s t resembled philosophes, Aufklärers a n d the . m o d e r n ' m i n d s o f the m i d - to late eighteenth century. M o s t o f the scholars represented here question the value o f such an a p p r o a c h . T w o claims in particular, are virtual leitmotifs o f this collection: that too m a n y historians have a s s u m e d a priori that certain m o v e m e n t s o f t h o u g h t entail or preclude other aspects o f belief a n d that it is an error to read back into prior generations the sharp divisions effected by the E n l i g h t e n m e n t . " 3 3

Wenige Jahre später hat Kors in seinem Buch „Atheism in France" in mustergültiger Weise vorgeführt, wohin eine konsequente Verfolgung dieses Ansatzes fuhren kann. Kors hatte sich zum Ziel gesetzt, die Genese radikalatheistischen Gedankengutes in der französischen Frühaufklärung zu rekonstruieren. Zu seinem nicht geringen Erstaunen mußte er dabei feststellen: „ T h a t inquiry led not to a prior history o f free t h o u g h t , m o s t o f which c u l m i n a t e d in deeply theistic deisms or in antiphilosophical scepticisms, but to the o r t h o d o x culture o f the late seventeenth a n d early eighteenth centuries in France. It was, above all, within the deeply Christian learned culture o f those years that there occurred inquiries and debates

33

Kors / Korshin, Anticipations, S. 2.

18

Einleitung that generated the components of atheistic thought. It was, to say the least, not what I had expected; it indeed was what I found." 3 4

Kors vermochte zu zeigen, daß die Idee der radikalen Negierung eines göttlichen Wesens in nicht geringem Maße auf die theologischen Debatten zwischen Descartesanhängern und Descartesgegnern zurückging, weshalb er seinem Buch den provozierenden Untertitel „The orthodox sources of disbelief' gab. Daß der Unglaube der Aufklärung seine Wurzeln in der konfessionellen Orthodoxie habe, ist allerdings schon einmal behauptet worden — wenn auch von ganz anderer Seite und in ganz anderem Sinne. Denn auch für Albrecht Tholuck und Hans Emil Weber waren Orthodoxie und Aufklärung sozusagen .Schwestern im Geiste': allerdings nicht, weil die Aufklärung ihre progressiven Ideen aus der konfessionellen Orthodoxie übernommen hätte, sondern weil schon die Orthodoxie dem Ungeist des Rationalismus verfallen gewesen sei! Albrecht Tholuck verstand seine 1853/54 erschienene Darstellung des .Akademischen Lebens des 17. Jahrhunderts" als „Vorgeschichte des Rationalismus"35, und knapp hundert Jahre später vertrat Weber in seinem Hauptwerk „Reformation, Orthodoxie und Rationalismus" (1937—1951)36 eine ähnliche These: nur weil die (auf Melanchthon zurückgehende) konfessionelle Orthodoxie die ursprünglich klare reformatorische Erkenntnis immer mehr überwuchert, verdüstert und in ein rationalistisches System metaphysischer Dogmen verwandelt habe, sei es für die Aufklärung am Ende ein leichtes gewesen, dieses System gänzlich zu zersetzen.37 In diesem Sinne kann also auch Weber als Vertreter der These gelten, die Aufklärung habe ihre Wurzeln im Zeitalter der Orthodoxie. Dahinter steht natürlich ein ganz bestimmtes Bild vom Luthertum. Weber hat ein zutiefst theologisches Interesse an der Geschichte des Protestantismus. Für ihn gilt es, einen bleibenden Auftrag des Protestantismus zu erfüllen — den „reformatorischen Ansatz" zu wahren: „das neue Verständnis fiir das lebendige Gotteswort, durch das dem Menschen - sola fide — das neue Gottesverhältnis als Quell und Vermittlung allen Heils erschlossen wird".38 Und jede Zeit wird daran gemessen, ob und wie sie diesen bleibenden Auftrag erfüllt: Die Orthodoxie ist, so Weber,

34 35 36

Kors, Atheism, S. 4. T h o l u c k , Vorgeschichte. Weber, Reformation.

V g l . dazu vor allem ebd., 1.2, S. 2 9 0 - 3 6 0 ; Bizer, Rezension, S. 6 6 , hat den G e d a n k e n g a n g W e b e r s unübertrefflich konzentriert so dargestellt: „ D a s ,Wort' wird zur .objektiven Wahrheit' ( 2 9 8 ) . .Ueberall bemerken wir das H e r a u s h e b e n u n d Ablösen der objektiven Wirklichkeit aus der unmittelbaren B e z o g e n h e i t . . . , in der Christus als die O f f e n b a r u n g G o t t e s m i t seinem L e b e n Wirklichkeit wird für d e n G l a u b e n ' ( 2 9 7 ) . Dieser falsche O b j e k t i v i s m u s d r ä n g t a u f rationale B e g r ü n d u n g ( 2 7 6 f f . , 3 0 1 ) , m a c h t aber auch den .moralistischen A u f r u f ( 2 9 7 ) zur A n e i g n u n g , z u m G l a u b e n an C h r i s t u s u n d z u m L e b e n mit Christus, unvermeidlich, u n d bereitet so d e m späteren subjektivistischen G e g e n s c h l a g das Feld. D e r Aufweis dieses Z u s a m m e n h a n g e s , w o n a c h also bereits die werdende O r t h o d o x i e den R a t i o n a l i s m u s u n d d e n Pietismus in gleicher Weise vorbereitet hat, scheint mir einer der H ö h e p u n k t e des Buches zu sein." 37

38

Ebd., I . l . S . V I I .

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m i t i h r e m Versuch, das E r b e d e r R e f o r m a t i o n a n z u t r e t e n , gescheitert, w e i l i h r e „ R a t i o n a l i s i e r u n g des W o r t e s " 3 9 letztlich z u r „rationalistischen A u f l ö s u n g " 4 0 desselben g e f ü h r t habe. 4 1 D e n historischen N a c h w e i s d a f ü r b l e i b t W e b e r allerdings schuldig. G a n z geistesgeschichtlichen P a r a d i g m e n (wie „ R a t i o n a l i s m u s " vs. „ S u p r a r a t i o n a l i s m u s " ) v e r h a f t e t , h a t W e b e r k e i n p r i m ä r historisches Interesse, s o n d e r n a r g u m e n t i e r t v o r a l l e m systematisch. 4 2 F ü r u n s e r e n V e r s u c h einer h i s t o r i s c h e n R e k o n s t r u k t i o n d e r E n t w i c k l u n g d e r l u t h e r i s c h e n A n t h r o p o l o g i e z w i s c h e n O r t h o d o x i e u n d A u f k l ä r u n g trägt W e b e r s A n s a t z d e s h a l b an u n d fiir sich n i c h t s aus. 4 3 Interessant ist aber, d a ß so u n t e r schiedliche Forschungsansätze w i e d i e v o n T h o l u c k u n d W e b e r bzw. K o r s u n d K o r s h i n letztlich z u e i n e m ä h n l i c h e n Ergebnis k o m m e n . D i e a n g l o - a m e r i k a n i schen I d e e n h i s t o r i k e r messen die A u f k l ä r u n g an d e r M o d e r n e — u n d k o n s t a t i e r e n v e r w u n d e r t , w i e „ v o r m o d e r n " u n d o r t h o d o x die W u r z e l n a u f k l ä r e r i s c h e n D e n kens sind. D i e l u t h e r i s c h e n T h e o l o g e n dagegen messen d i e a l t p r o t e s t a n t i s c h e O r t h o d o x i e a n d e r R e f o r m a t i o n — u n d m ü s s e n e n t d e c k e n , d a ß sie s c h o n f r ü h e i n e n R a t i o n a l i s m u s k u l t i v i e r t , d e r sie zuletzt g a n z d e m r e f o r m a t o r i s c h e n A n s a t z e n t f r e m d e n w i r d . S o u n t e r s c h i e d l i c h die Perspektiven sind — b e i d e M a l e f i n d e n sich O r t h o d o x i e u n d A u f k l ä r u n g in u n e r w a r t e t e r W a h l v e r w a n d t s c h a f t . 4 4

Ebd., S. 354. Ebd. 41 Und so gilt es, nach Weber, aus ihren Fehlern ftir die eigene Gegenwart (1941) zu lernen (ebd., S. 356): „Die Gegenwart ist erfüllt von dem Gefühl einer Krise, in der Abrechnung gehalten wird; die Krise soll neuer Durchbruch werden. Der Durchbruch ist entweder endgültige Abkehr von den alten Grundlagen, d.i. gerade auch dem reformatorischen Ansatz [...] oder entschlossene Aufnahme ftir die Gegenwart, eben aus der Einsicht der Krise. Ist das letztere der theologische Sinn der Krise, dann kommt der Orthodoxie als der ersten Verarbeitung des Ansatzes neue Aufmerksamkeit zu. [...] Sie muß zu uns reden mit ihrem Versagen; so darf sie gerade auch zu uns reden mit ihrem Erbe. Darum ist ernsthafte theologische Auseinandersetzung mit ihr Arbeit an der uns gesetzten Aufgabe." 42 Der dogmatisch geschärfte Blick fuhrt Weber allerdings auch schon früh zu Erkenntnissen, die die historische Forschung der letzten Jahre erst noch wiedergewinnen muß. Etwa die Einsicht, daß die Ausbildung eines rationalistisch-metaphysischen Systems orthodoxer Theologie vor allem auf die kontroverstheologische Herausforderung durch die katholische Theologie zurückgeht (vgl. ebd., 1.1, S. 124ff.; vgl. auch Kapitel II.l der vorliegenden Arbeit), oder die bei Weber punktuell auftauchende Beobachtung, daß auch und gerade reformierter Einfluß immer wieder die lutherische Lehrbildung vorangetrieben habe (Weber, Reformation 1.2, S. 133.259.267.270; vgl. Kapitel III.3 der vorliegenden Arbeit). 43 Theologiegeschichtlich beschränkt sich Webers Darstellung der Anthropologie auf die flacianisch-synergistischen Streitigkeiten (Weber, Reformation 1.2, S. 6 - 2 0 ) . Ansonsten begegnet Anthropologie bei ihm vornehmlich als das geistesgeschichtliches Paradigma des neuzeitlichen „Anthropozentrismus [...], der ein Herd der Zersetzung wird" (ebd., S. 312). 44 Für die reformierte Orthodoxie hat Ernst Bizer, Frühorthodoxie, eine Studie mit derselben Blickrichtung vorgelegt. Auch er sieht, im Anschluß an Tholuck und Hazard (vgl. ebd., S. 5), „einen Zusammenhang mit der späteren Periode des Rationalismus" (ebd., S. 60): „Das Ganze ist jedoch .Orthodoxie' - nicht schon .Rationalismus'. [...] Der rationale Beweis ist eine Verstärkung der auf Grund der Bibel gegebenen dogmatischen Gewißheit. Allerdings, er ist eine Verstärkung. Die Folge ist, daß Glaubenserkenntnis und Wissen nicht mehr unterschieden werden können. Das gibt dem Den39 40

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Schauen wir zurück auf unser Thema, die Anthropologie. Was läge nun näher, als den von Tholuck, Weber, Kors und Korshin eingeschlagenen Weg konsequent weiter zu gehen und zu fragen, ob nicht ebenso wie die Bibelkritik auch die neologische Dogmenkritik schon ihre Wurzeln in der „altprotestantischen Orthodoxie" hat?45 Fragen wir also nach der Geschichte der Anthropologie zwischen Reformation und Aufklärung, fragen wir nach der Geschichte des Erbsündendogmas und seiner Kritik, der (nach Aner, Cassirer und den anderen) ureigensten Mitte der Aufklärungsphilosophie.

3. Anthropologie hat momentan Konjunktur, anthropologische Fragestellungen sind in den historischen Kulturwissenschaften der letzten Jahre regelrecht Mode geworden. Kaum eine kulturhistorische Veröffentlichung, die nicht mit diesem Begriff im Titel suggeriert, mit einer Rückkehr zur anthropologischen Struktur von Dasein und Gesellschaft werde sozusagen echte Grundlagenforschung an den Konstanten der Geschichte betrieben, jenseits wechselnder Diskurse und Ideologeme. Ich will nicht leugnen, daß auch meine Frage nach der Kritik am Erbsündendogma und dem Menschenbild von Orthodoxie und Aufklärung sich in gewisser Weise diesem Trend verdankt. Da es aber in der historischen Anthropologie nicht zuletzt wegen verschiedener methodischer Ansätze inzwischen eine gewisse Begriffsverwirrung gibt, scheint es mir sinnvoll, das weite Feld ein wenig abzustecken und klar zu machen, an welche der bestehenden Forschungstraditionen ich mit der Frage nach der „theologischen Anthropologie des 17. Jahrhunderts" anknüpfe.46 In den Kultur-, Geschichts- und Literaturwissenschaften ist in den letzten Jahren (in terminologischer Anlehnung an den sogenannten „linguistic turn") wiederholt eine „anthropologische Wende" beschworen, ja eingeklagt worden. Problematisch ist dabei, daß unter diesem Begriff zwei gänzlich verschiedene ken seine Geschlossenheit, aber das führt es auch in die Krise, sobald die durch die Dogmatik geforderte und geförderte Vernunfterkenntnis eigene Wege geht und das Sowohl-Als-auch zu einem Entweder-Oder wird" (S. 62f.). 45 Eine ähnliche Fragestellung hat Spellman, Latitudinarians, in seinem Buch zum Latitudinarismus für die englische Theologie- und Kirchengeschichte verfolgt und gezeigt, wie sinnvoll es sein kann, anhand der theologischen Anthropologie wie mit einem Lackmustest zu bestimmen, als wie „aufgeklärt" oder „orthodox" bestimmte Gruppen in der Frühneuzeit gelten können. Er analysiert die in der Forschung immer wieder behauptete abgeblich frühaufklärerische Theologie der Latitudinaristen anhand ihrer Äußerungen zur Erbsündenlehre und kommt von daher zu dem interessanten Ergebnis, daß die Latitudinaristen sich in ihren dogmatischen Grundüberzeugungen so gut wie gar nicht von der in dieser Frage orthodox calvinistischen Position der Church of England entfernten. Vgl. ebd., besonders S. 5 4 - 1 1 1 . 46 Z u m Folgenden beachte vor allem die Uberblickswerke von Riedel, Anthropologie; Kiening, Zugänge; Bachmann-Medick, Kultur.

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Forschungsrichtungen subsumiert werden. Die eine Richtung ist jene, die sich vor allem im Anschluß an die Schriften des amerikanischen Anthropologen Clifford Geertz mit seinem Konzept der „dichten Beschreibung"47 daran versucht, eine quasi anthropologische Darstellung einer zu untersuchenden Epoche, Problematik oder Kultur zu liefern. Eine ganz andere Richtung versucht sich dagegen in der Darstellung der Anthropologie ζiner gegebenen Epoche oder Kultur. Die vorliegende Studie sieht sich in der zweiten Tradition. Der Versuch, anthropologische Darstellungsweisen auch in Geschichts- und Literaturwissenschaften einzuführen, geht darauf zurück, daß man in der Ethnologie und Anthropologie sich z.T. schon seit den sechziger und siebziger Jahren von der primär synchronistisch verfahrenden, ahistorisch-strukturalistischen Beschreibungsweise abwandte, die etwa vom Ethnologen und Anthropologen Claude Lévi-Strauss Ende der 50er Jahre eingeführt worden war. Man berücksichtigte nicht nur verstärkt die historisch-diachronen Aspekte einer Kultur, sondern bemühte sich auch in einem hermeneutischen Sinne um das Verstehen der immanenten Logik der dieser Kultur innewohnenden Zeichen- und Symbolsysteme. Besonders der amerikanische Ethnologe und Anthropologe Clifford Geertz machte Ernst mit der Erkenntnis, daß Kulturen nicht nur die Hypostasierung überindividueller und überzeitlicher Strukturen sind, sondern auch als kontingente Produkte menschlichen Konstruierens gelten müssen. Dahinter steht bei Geertz die grundlegende anthropologische Annahme, daß Gesellschaften und Kulturen zum Zwecke der Selbstmodellierung und Selbstvergewisserung ganz allgemein ständig Bedeutungszuschreibungen und symbolische Verknüpfungen vornehmen. Das hatte fur die ethnologisch-anthropologische Beschreibungsform zur Folge, daß man sich um eine möglichst vollständige, detailgenaue Erfassung sämtlicher relevanter symbolischer, gesellschaftlicher, politischer, wirtschaftlicher usw. Kontexte bemühen mußte.48 Diese Technik hat der gesamten Methode den Namen „dichte Beschreibung" eingebracht, ein Terminus, dessen Valenz Clifford Geertz in detaillierten, engmaschigen Studien eindrücklich unter Beweis gestellt hat.49 Gerade diese Perspektive prägt nun auch die Vorgehensweise jener Literaturund Kulturwissenschaftler, die wie Stephen Greenblatt dem „New Historicism" zugerechnet werden.50 In seinem die gesamte Forschungsrichtung inaugurieren-

Vgl. Geertz, Beschreibung. Für den Anthropologen erschließen sich nach Bachmann-Medick, Kultur, S. 24, die Bedeutungen von Riten, Praktiken oder Texten „gerade nicht durch Rückführung auf seine [sc. des Textes, A.S.] beschränkten Entstehungsbedingungen und Autorintentionen, sondern durch die von ihm ausgelöste Eröffnung verschiedener Lesarten und neuer Bezüge". 49 Geertz, Beschreibung. 50 Im engeren Sinne steht dieser Begriff nur für eine Abkehr von dem bis in die 60er Jahre an amerikanischen Universitäten gepflogenen Stil der werkimmanenten Interpretation, des „New Criticism", im weiteren aber für den Versuch, nicht nur zu einer (für amerikanische Verhältnisse neuen und unerhörten) Geschichtlichkeit von Texten, sondern gerade im Anschluß an die anthropologische Analyse der symbolischen Strukturen einer Gesellschaft auch zu einer Berücksichtigung und Darstellung der Textualität von Geschichte zu gelangen; vgl. dazu Baßler (Hg.), Historicism, S. 9ff. 47

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den Buch „Verhandlungen mit Shakespeare" legte Greenblatt Deutungen von verschiedenen Stücken Shakespeares vor, in denen er eine solche „dichte Beschreibung" der sozialen, symbolischen, politischen usw. Interaktionen und Bezüge der Stücke Shakespeares und der sie damals umgebenden zeitgenössischen Diskurse versuchte.51 Bei diesem Versuch einer „poetics of culture" geht es gerade nicht darum, Autorintentionen, genetische Abhängigkeiten oder „Einflüsse" abzubilden, sondern zu untersuchen, wie im Wechselspiel von Literatur und Gesellschaft über die Diskursgrenzen hinaus Bedeutungen überhaupt erst konstituiert wurden — ein Prozeß, den Greenblatt etwas unklar als „Zirkulation sozialer Energie" umschreibt. Ganz im Sinne von Geertz wird hier auf die vermeintlich bekannte, weil eigene Kulturtradition der distanzierte Blick des Anthropologen geworfen. Das,Anthropologische" an der sogenannten „anthropologischen Wende" in der Kultur- und Literaturwissenschaft besteht hier also darin, eine quasi anthropologische Darstellung des Untersuchungsgegenstandes zu liefern. Die Fragerichtung der vorliegenden Studie verdankt sich dagegen jenem „Anthropologie"-Begriff, der im Laufe der letzten Jahre vor allem in der deutschen, literaturhistorischen Aufklärungsforschung entwickelt worden ist. Bei der vorliegenden Studie geht es um eine Darstellung der Anthropologie, des Menschenbildes zwischen Reformation und Frühaufklärung, denn der Versuch einer „dichten Beschreibung" verbietet sich bei der Darstellung eines längeren Zeitraums. Wollte ich bei meiner Fragestellung an die Darstellungsweise Geertz' und Greenblatts anknüpfen, müßte ich mich auf die Gesamtheit aller Diskurse zwischen 1580 und 1740 stützen.52 Seit Anfang der siebziger Jahre ist in Philosophie und Literaturwissenschaft eine sukzessive Abwendung von einem politisierten, emphatischen Geschichtsbegriff mit seinem „Utopismus und der darin eingeschlossenen Illusion von der Allmacht der Vernunft"53 zu konstatieren. Vor allem der Einfluß Odo Marquards führte zu dem, was auch „Rehabilitation der Anthropologie" genannt worden ist. Sie war sowohl der Rezeption Foucaults54 förderlich als auch der Beschäftigung mit Norbert Elias' älteren Studien zur historischen Anthropologie.55 Insofern beide, Foucault und Elias, vor allem die Frühe Neuzeit zum Gegenstand ihrer Untersuchungen gemacht hatten, war es nicht erstaunlich, daß die literaturwissenschaftliche Aufklärungsforschung bzw. die Forschung zur deutschen Klassik durch das Aufgreifen des anthropologischen Paradigmas besondere Impulse erfuhr. Die wichtigste Studie zur Anthropologie der Aufklärung war zunächst Hans-Jürgen Sellings' „Melancholie und Aufklärung" von 1977, in der er Ansätze aus der Warburg-Schule weiterführte und erstmals den Blick öffnete für die reichen

Vgl. etwa Greenblatt, Verhandlungen, Kapitel 4. Ansätze, allerdings nicht in Form einer „dichten Beschreibung", gibt es etwa zum Teil schon fur die sich in pietistischer Literatur aussprechende Anthropologie. Vgl. Witt, Bekehrung. 53 Riedel, Zugänge, S. 96. 54 Foucault, Archäologie; ders., Überwachen; ders., Sexualität; ders., Wahnsinn; ders., Ordnung. 55 Vgl. Elias, Prozess. 51

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Verbindungen von Literatur und Anthropologie im 18. Jahrhundert — und zugleich einen interdisziplinären Forschungsansatz zur Ideengeschichte der Aufklärung inaugurierte. Hinzu kamen schon früh einige Studien, die die Rezeption gemeinaufklärerischer Anthropologie im Werk Jean Pauls untersuchten. Die literaturhistorische Anthropologieforschung diente dabei natürlich vor allem dazu, genauer zu verstehen, wie und aufgrund welcher (zeitgenössischen) anthropologischen Konzepte das Handeln, Denken und Fühlen literarischer Figuren in den Werken des 18. Jahrhunderts verstanden werden mußte und konnte. Aus dieser Fragerichtung heraus entstanden spezielle Einzelstudien ζ. B. zur „Empfindsamkeit" als literarischem und historischem Phänomen, zur Entwicklung von Moral und Gewissensbegriff, zur Entwicklung der „empirischen Psychologie" und ihrer Rezeption in der Literatur, zur relativ plötzlichen aber sehr schnellen Erforschung des menschlichen Nervensystems, der Physiologie und Physiognomik, Studien zur Entwicklung von Pädagogik (hier vor allem auch zur Regulierung der Sexualität), zur im engeren Sinne anthropologischen Wahrnehmung außereuropäischer Völker, Religionen und Kulturen, Studien nicht zuletzt auch zur „Ordnung der Geschlechter" und zur Wahrnehmung des Körper.56 Die anthropologische Fragestellung erwies sich in der Aufklärungsforschung als überaus fruchtbar. Die Fülle der Einzeluntersuchungen legte es zunehmend nahe, von einer „anthropologischen Wende" um die Mitte des 18. Jahrhunderts auszugehen. Dieser Begriff bezeichnet hier also nicht den Wandel des historiographischen Forschungsparadigmas der Gegenwart sondern das seit den 1740er Jahren innerhalb fast aller Diskurse verstärkt zu verzeichnende „Interesse am Menschen in seiner soziokulturellen Lebenswelt"57 und die damit einhergehende Etablierung der Anthropologie als eines eigenen Diskurses. Die „anthropologische Wende" gilt mittlerweile als „die bemerkenswerteste geschichtliche Entdeckung"58 in der Aufklärungsforschung der letzten Jahrzehnte. Eine zusammenhängende, diskursübergreifende Darstellung dieser „anthropologischen Wende" steht allerdings noch aus, und auch sonst erstaunt, angesichts der Fülle der bisher vorliegenden Arbeiten, die Liste von noch immer nicht eingelösten Desiderata, die Wolfgang Riedel seinem Forschungsbericht anhängte.59 Mit am erstaunlichsten ist dabei aber, daß unter diesen Desiderata zwar das Fehlen einer Uberblicksdarstellung zur philosophischen Anthropologie wortreich beklagt wird, die Existenz und mögliche Relevanz einer theologischen Anthropologie im 17. und 18. Jahrhundert aber nicht mit einem Wort gewürdigt, geschweige denn, daß eine Darstellung von ihr vermißt würde.

56 Die Literatur findet sich z. T . aufgelistet in Riedel, Anthropologie; recht vollständig in Kosenina, Auswahlbibliographie. 57 Vgl. Schmidt-Biggemann/Häfner, Richtungen, S. 168. 58 Ebd. 59 Eine Fülle von Aspekten wird in Schings (Hg.), Mensch, beleuchtet.

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4. An dieser Stelle ist es daher sinnvoll, kurz innezuhalten und sich der bisherigen Forschung zur theologischen Anthropologie zu versichern. Doch um es gleich vorweg zu sagen: es ist nicht gut um sie bestellt. Allgemeine Darstellungen zur Anthropologie wie Charles Trinkaus' Werk zur Renaissance 60 oder der erwähnte, von Hans-Jürgen Schings herausgegebene Sammelband zur Anthropologie des 18. Jahrhunderts 61 fehlen für das 17. Jahrhundert. Untersuchungen speziell zur theologischen Anthropologie der Frühen Neuzeit sind mutatis mutandis an einer Hand abzuzählen. Die bis heute relativ besten Forschungen zur theologischen Anthropologie sind die um 1880 erschienenen, zum Teil umfangreichen Monographien von Zöckler 62 , Rüetschi 63 und Wendt 64 , die bis heute zwar in den Bibliographien weitergereicht, aber hartnäckig nicht zur Kenntnis genommen werden. 65 Allerdings sind diese Monographien für die heutige Forschung nur noch aufgrund des in ihnen aufgearbeiteten historischen Materials von Wert. Die Fragestellungen, die die Autoren in den Jahren um 1880 leiteten, sind recht zeitbedingt und lassen eine Neuerarbeitung des Themas dringend angeraten scheinen. Zöckler untersuchte „Die Lehre vom Urständ des Menschen, geschichtlich und dogmatisch=apologetisch", um dem Darwinismus die Wahrheit der christlichen Urstandslehre entgegen zu halten. 66 Rüetschi versuchte mit seiner von der „Haager Gesellschaft zur Vertheidigung der christlichen Religion" gekrönten Preisschrift, die Geschichte der Erbsündenlehre zu rekonstruieren, um hinter den zugegebenermaßen obsolet gewordenen, dogmatischen Formeln ihren „religiösen Gehalt" zu eruieren und zu erneuern. Die bleibende Bedeutung des Dogmas sieht er darin, daß es im Menschen das Bewußtsein für den Gegensatz zwischen der „ideale [n] Seite am Menschenwesen" und seiner „unvollkommene [n] Natur" wachhalte und „die Ueberwindung desselben zur sittlich-religiösen Aufgabe gestellt" 67 habe. 68

Trinkaus, Image. Schings (Hg.), Mensch. 62 Zöckler, Lehre. 63 Rüetschi, Geschichte. 64 Wendt, Lehre. 65 Auch die wichtige Studie von Olearius, Umbildung, erwähnt Wendt, Zöckler und Rüetschi, verarbeitet ihre Ergebnisse jedoch nicht. 66 Von daher ist die bei ihm vorherrschende Tendenz verständlich, die christlichen Urstandsvorstellungen auf ein vernünftig-rationales Maß zurückzustutzen, das dem bürgerlichen Bewußtsein um 1 8 8 0 erträglich war. Zöckler, Lehre, S. 7f: „Wir behaupten einen reineren und höheren Urständ an der Spitze der Menschheitsentwicklung nicht als bloßen Glaubenssatz, sondern als eine durch schwerwiegende Zeugnisse auch der Wissenschaft gedeckte Weisheit." Gerade aus diesem kritischen Impetus heraus scheint Zöckler jedoch der erste gewesen zu sein, der sich recht ausführlich (wenn auch voller Hohn und Spott) etwa mit Themen wie den Vorstellungen von einer „Theologia paradisiaca" im 17. Jahrhundert beschäftigte. Vgl. ebd., S. 27f. 60 61

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Rüetschi, Geschichte, S. 1. Für den uns interessierenden Zeitraum bietet die Untersuchung von Rüetschi kaum Weiterfuh-

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Hans Hinrich Wendt verfolgt mit seiner 1882 erschienenen Untersuchung zur „Christlichen Lehre von der menschlichen Vollkommenheit" das Ziel, nichts weniger als die Vollkommenheit der christlichen Religion zu beweisen, indem er die urständliche Vollkommenheit rekonstruierte und so die Absolutheit des Heiles plausibel zu machen versuchte, zu dem der Christenmensch durch die Erlösung gelangen kann. Wendts leitende Uberzeugung war dabei, daß die sich in der traditionellen Urstandslehre aussprechende Vollkommenheitsidee untrennbar zum Begriff des Menschen selbst gehöre und seine eigentliche Bestimmung ausmache. Das führte Wendt dazu, die Geschichte der Urstandslehre vor allem unter dem Gesichtspunkt zu betrachten, wer aus welchen Gründen die „Natürlichkeit" der Urstandsvollkommenheit behauptete. So zeitgebunden Wendts Interesse auch war, mit der Frage nach der „Natürlichkeit" der Urstandsvollkommenheit hat er unbestreitbar einen entscheidenden Ansatzpunkt zum Verständnis der frühneuzeitlichen Debatten über die religiöse Anthropologie gefunden. Bis heute ist Wendts Arbeit die vielleicht beste zum Thema. Sie zeugt von einer (angesichts des Mangels an Vorarbeiten) erstaunlichen Belesenheit in den abseitigsten Quellen. 69 Dennoch, fast möchte man sagen, ärgerlicherweise, wurden die Erkenntnisse Wendts in der Forschung nicht rezipiert, sondern fielen gänzlich dem Vergessen anheim. Überhaupt schien das Thema Anthropologie, Erbsündenlehre und Imago-DeiLehre bei den Theologen in der Folgezeit nicht auf übermäßiges Interesse zu stoßen. In den großen Gesamtdarstellungen zur lutherischen Orthodoxie von

rendes. Die Anthropologie von Katholizismus, Luthertum, Calvinismus, Sozinianismus, Arminianismus und „Aufklärung" wird auf knappen sechsunddreißig Seiten einer Art summarischen Systemvergleichs unterzogen, wobei den Konfessionen unveränderliche „Kirchenlehren" zugeschrieben werden, was etwaige Weiterentwicklungen, Abhängigkeiten oder Binnendifferenzierungen nicht in den Blick kommen läßt. Das eigentliche Anliegen der Studie ist allerdings auch weniger die historische Darstellung der theologiegeschichtlichen Entwicklung als vielmehr, das Erbsündendogma spekulativ zu rekonstruieren und „vor der Wissenschaft gleichermassen wie vor dem religiösen Bewusstsein zu rechtfertigen" (S. 2). 69 Unter seiner zwar recht schematisch gehandhabten, aber doch überaus fruchtbaren Fragestellung untersuchte er die verschiedenen Konfessionen auch im Zeitraum nach der Reformation. Die Mängel seiner Untersuchung sind jedoch kaum zu übersehen: erstens die notgedrungene Kürze der Darstellung. Luther, Zwingli, Calvin, der nachtridentinische Katholizismus, die Konkordienformel, die lutherischen Dogmatiker des 17. Jahrhunderts, die „älteren reformierten Dogmatiker", die Föderaltheologie, Sozinianismus und Arminianismus - all dies wird auf knapp fünfzig Seiten mehr umrissen als tatsächlich durchgeführt. Dem uns besonders interessierenden Thema der lutherischen Orthodoxie widmet Wendt nur knapp sechs Seiten, stützt sich dabei fast ausschließlich auf Johann Gerhard und bemerkt: „Von den großen lutherischen Systematikern der nachreformatorischen Periode gilt im Wesentlichen dasselbe Urtheil, welches wir in Betreff der Concordienformel fällen müssen" (ebd., S. 163). Differenzierungen oder Entwicklungen innerhalb der lutherischen Theologie werden nicht wahrgenommen und zu unserer Fragestellung nach dem Verhältnis von religiöser Anthropologie und der aufklärerischen Kritik am Erbsündendogma trägt Wendt nichts bei: auf das Kapitel über den Arminianismus folgt nahtlos - Schleiermacher! Dennoch, Wendts unbestreitbares Verdienst besteht darin, mit seiner Konzentrierung auf den „Natur'-Begriff den entscheidenden Strukturierungsbegriff entdeckt und erste Umrisse einer geschichtlichen Darstellung gegeben zu haben.

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Otto Ritsehl, Hans-Emil Weber und Werner Eiert spielt die Geschichte der anthropologischen Vorstellungen so gut wie keine Rolle. Spätere Versuche einer Gesamtdarstellung der Dogmatik der lutherischen Orthodoxie wie die Entwürfe von Ratschow 70 und R.D. Preus71 kamen bedauerlicherweise nicht über die Prolegomena und die Gotteslehre hinaus - wieder blieb die Anthropologie unbehandelt. Auch die theologie- oder philosophiegeschichtlichen Überblicksdarstellungen zur Aufklärung lassen uns im Stich. Emanuel Hirsch läßt in seiner „Geschichte der neuern evangelischen Theologie" die Neuzeit (und damit auch ihre Anthropologie) philosophisch beginnen — mit Grotius, Hobbes, Locke, Bayle, Galilei und Kopernikus. 72 Die lutherische Orthodoxie, geschweige denn ihre anthropologischen Grundannahmen, kommen so gut wie gar nicht vor. Einen näheren Blick vom 18. Jahrhundert her wagten, wie erwähnt, Ernst Cassirer und Karl Aner. Aber auch für Cassirers „Philosophie der Aufklärung" ist die Erbsündenlehre nur ein mehr oder minder monolithischer Block. Erste Kritik bescheinigt er Semler, nimmt dann aber keine genauere Analyse vor, sondern lenkt den Blick gleich auf Voltaire. Karl Aner zeigte in seiner „Theologie der Lessingzeit" zumindest, daß es im 18. Jahrhundert nicht nur Philosophen waren, die die Erbsündenlehre als Grundlage der Anthropologie kritisierten, sondern daß die Neologen ihnen an Radikalität in nichts nachstanden. Aber auch Aner operiert mit einem geschlossenen Begriff von Orthodoxie, als deren bestallter und nahezu einziger Vertreter Johann Andreas Quenstedt auftritt. Von daher kann auch Aner die differenziertere Vorgeschichte der Urstandslehre nicht in den Blick bekommen. Interessanterweise waren es nicht die Theologen, sondern die Philosophiehistoriker, die sich in der Folgezeit für die Geschichte der Erbsündenlehre interessierten. Schon 1934 hatte E. Lämmerzahl den Sündenfall in der Philosophie des deutschen Idealismus und H . Wimmershof ihn in der Philosophie von Schelling, Baader und Schlegel untersucht. 73 Die im Anschluß an Adornos und Horkheimers „Dialektik der Aufklärung" zunehmend kritische Beschäftigung mit der Geschichte der Aufklärung führte seit den 60er Jahren zu einer Reihe von Einzelstudien, die die Bedeutung der Erbsündenlehre fur die Philosophie des 18. Jahrhunderts untersuchten. So befinden wir uns heute in der paradoxen Situation, am besten über jene Phase in der Geschichte der Erbsündenlehre unterrichtet zu sein, in der sie am radikalsten in Frage gestellt wurde. 1974 erschien die sowohl philosophiegeschichtlich als auch theologiegeschichtlich leider recht dürftige Studie von Hans-Jürgen Günther zum „Problem des Bösen in der Aufklärung", die nur die „üblichen Verdächtigen" untersucht und sich um die theologische Vorgeschichte der Erbsündenlehre nicht bemüht. 74 Bescheiden ist es auch um die 1996

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Ratschow, Dogmatik Preus, Theology Hirsch, Geschichte. Lämmerzahl, Sündenfall; Wimmmershof, Lehre. Günther, Problem.

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erschienene Studie von Ahlberg „Die verlorene Einheit. Die Suche nach einer philosophischen Alternative zu der Erbsündenlehre von Rousseau bis Schelling" 75 bestellt, die aber zumindest die gesamte Literatur zur philosophischen Rezeption der Erbsündenlehre minutiös auflistet und somit einen brauchbaren Forschungsüberblick bietet. Weniger hilfreich vom historischen als inspirierend vom spekulativen Gesichtspunkt aus sind noch heute die beiden Aufsätze, die Odo Marqard und Wilhelm Schmidt-Biggemann 1978 veröffentlichten und in denen sie erneut auf die weiter zu untersuchende Verbindung von theologischer und philosophischer Entwicklung hinwiesen. 76 Leider hatten sie in den Theologie- und Kirchenhistorikern dabei wenig Hilfe. Auch die Theologen arbeiteten in den mittlerweile erschienenen Studien zur Geschichte der Urstandslehre nach wie vor mit jenem monolithischen Begriff von der düsteren lutherischen Orthodoxie, vor der sich der eigene Untersuchungsgegenstand so angenehm im besten Licht zeigen läßt. Martin Metzger ließ 1959 seine Studie zur Auslegungsgeschichte der Paradieseserzählung mit Jean Ledere anfangen, so daß, von einzelnen Rückblicken abgesehen, sich wieder kein rechtes Bild von der Anthropologie der lutherischen Orthodoxie gewinnen ließ. Im selben Jahr erschien die monographische Studie Bengt Hägglunds „De homine. Människoupfattningen i äldre luthersk tradition", ein Buch, das so gut wie keinerlei Einfluß auf die Forschung ausübte, weil es nicht übersetzt wurde. Auch Hägglund widmete sich jedoch vor allem dem 16. Jahrhundert und behandelte den uns interessierenden Zeitraum in nur einem knappen Kapitel. 1960 erschien der erste Band von Julius Gross' dreibändiger Darstellung der Geschichte der Erbsündenlehre, 77 in ihrer oft unnötigen Polemik eher eine dreibändige Geschichte gegen die Erbsündenlehre, deren dritter Band von 1972 „Entwicklungsgeschichte des Erbsündendogmas seit der Reformation" interessanterweise jedoch die evangelische Theologie ausspart. 78 Mittlerweile war 1970 die bisher wichtigste Studie zur Geschichte der Anthropologie in der lutherischen Theologie des 18. Jahrhundert erschienen, Christoph K. R. Olearius' Arbeit über „Die Umbildung der altprotestantischen Urstandslehre durch die Aufklärungstheologie", die zumindest in der Bibliographie auch alle älteren Arbeiten verzeichnete. Aber auch Olearius ließ „die geschichtlichen Wandlungen der Urstandslehre innerhalb des Altprotestantismus unberücksichtigt" 79 und wählte einen systematisierenden Ansatz, in dem er den Ubergangstheologen Siegmund Jakob Baumgarten als vermeintlich repräsentativen Vertreter der SpätAhlberg, Einheit. Marquard, Culpa; Schmidt-Biggemann, Mutmaßungen; mit leichten Änderungen wiederabgedruckt als „Geschichte der Erbsünde in der Aufklärung. Philosophische Mutmaßungen" in SchmidtBiggemann, Theodizee, S. 8 8 - 1 1 6 . 77 Gross, Geschichte. 78 Ahnlich ist es um die neueste monographische Darstellung zur Erbsündenlehre bestellt. Kleffmann, Erbsündenlehre, untersucht rein systematisch interessiert Augustin, Luther und Hamann. Die dazwischen liegenden Entwicklungen werden ausgespart. 79 Olearius, Umbildung, S. 5. 75 76

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orthodoxie recht schematisch der Aufklärungstheologie gegenüberstellte.80 So verdienstvoll es demnach war, in Aufnahme des Anerschen Ansatzes einen ersten Uberblick über die Urstandslehre der Aufklärungstheologen erstellt zu haben: das Bild, das Olearius von der Anthropologie der lutherischen Orthodoxie zeichnete, bedurfte der Revision. Diese Revision bot Heinrich Köster 1982 im Kapitel „Urständ, Fall und Erbsünde zwischen Reformation und Aufklärung" des zweiten seiner beiden Faszikelbände im „Handbuch der Dogmengeschichte".81 Doch auch dieser mit nur knapp dreiunddreißig Seiten relativ kurze Ausgangstext fiir jede künftige Forschung leidet an demselben Problem wie die Studie von Olearius: Kösters an sich lobenswerter Irenismus, seine Neigung, beide Konfessionen 82 gleichberechtigt und unpolemisch darstellen, fuhrt ihn dazu, einen systematisierenden Ansatz zu wählen: in einem ersten Teil stellt Köster zunächst die Gemeinsamkeiten von lutherischer und katholischer Tradition dar, in einem zweiten Teil arbeitet er die Unterschiede heraus. Dadurch jedoch droht wie auch bei Olearius die altprotestantische Urstandslehre als eine Art festes System aufgefaßt zu werden, in welchem es von Theologen zu Theologen zwar geringfügige Unterschiede gibt, das sich als Ganzes im Laufe des untersuchten Zeitraums jedoch nicht geändert hat. Tatsächlich ist Köster dieser Gefahr nicht entgangen — etwaige historische Entwicklungen innerhalb der protestantischen Urstandslehre läßt seine Darstellung unberücksichtigt. 83 Geradezu zwangsläufig mußte Köster deshalb sowohl all jene langfristigen Tendenzen als auch gewagtere, einzelne Ansätze innerhalb der lutherischen Orthodoxie übersehen, die die Umformung der Urstandslehre in der Neologie erst möglich machten. 84

80 Olearius nennt das zentrale Kapitel seines Buches über die Urstandslehre der Aufklärungstheologie „Die Reduktion der altprotestantischen Urstandslehre durch die frühere Aufklärungstheologie", denn sein systematisierender Ansatz erlaubt es ihm nicht, die Urstandslehre der Aufklärungstheologie anders denn als bloße Schwundstufe der Urstandslehre der Orthodoxie zu verstehen. Er kontrastiert S.J. Baumgarten als angeblich prototypischen Vertreter „altprotestantischer Orthodoxie" mit der .Aufklärungstheologie" (fur die vor allem Baumgartens Schüler Töllner steht!). W i e unsinnig ein solches Ausspielen theologiegeschichtlicher Kollektivbegriffe gegeneinander ist, sieht man an der Tatsache, daß Olearius im Folgenden mechanisch die Differenzen zwischen Baumgarten und den Theologen der Aufklärungszeit abgleicht und den Blick für die sich durchhaltenden Elemente, die Ähnlichkeiten, die Verwandtschaften und aufeinander aufbauenden Entwicklungen zwischen Baumgarten und seinen Nachfolgern gänzlich aus dem Blick verliert. An diesem Beispiel erkennt man gut, daß Begriffe wie „Orthodoxie" und „Neologie" eben keine epochalen Umbrüche trennt, sondern sich bei genauerem Blick Kontinuitäten zeigen, die die allzu einfache Zuordnung einzelner Phänomene erschweren bzw. unmöglich machen. Dabei mußte Olearius klar sein, daß Baumgarten keineswegs jener Inbegriff der altprotestantischen Theologie sein konnte, zu dem er ihn erklärte, sondern zurecht schon seit dem 19. Jahrhundert zur „Übergangstheologie" gezählt wird (vgl. Gaß, Geschichte III, S. 185-203, besonders S. 192ff.).

Köster, Reformation. Das Reformiertentum kommt leider nur in den Quellenangaben vor! 83 Anders die katholische Entwicklung im Bajanismus und Jansenismus, die ausführlich dokumentiert werden. 84 Für das Kapitel Aufklärung stützt er sich denn auch explizit auf Olearius, vgl. Köster, Reforma81

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Von ganz anderer, nämlich kulturgeschichtlicher Seite nähert sich die erst kürzlich erschiene Studie von Philipp Almond dem Thema der religiösen Anthropologie der Frühen Neuzeit. Er analysiert die umfassende Bedeutung der Paradiesesgeschichte um Adam und Eva fur das gesamte kulturelle Wissen im England des 17. Jahrhunderts: „This work will examine the way in which the gaps, hints and allusions within the biblical story of Adam and Eve in the Garden of Eden were filled out in seventeenth-century English thought." 85 Ein großer Nachteil von Almonds Studie besteht nun allerdings darin, daß er sich dem Thema weder chronologisch noch systematisch nähert, sondern die Fülle seiner Materialien in der Art eines fortlaufenden Kommentars parallel zur Paradiesesgeschichte vorstellt. Das mangelnde Interesse an der Darstellung ideengeschichtlicher Zusammenhänge und die Konzentration allein auf England fuhren leider dazu, daß wichtige Entwicklungslinien ganz aus dem Blick geraten. So ist es zumindest ungewöhnlich, daß in einem Buch zur religiösen Anthropologie Englands im 17. Jahrhundert noch nicht einmal die Namen Luther und Calvin vorkommen und zu dem uns besonders interessierenden Thema der Erbsündenlehre stellt Almond überraschenderweise fest: „ G r a n t i n g the centrality o f the doctrine o f original sin to A u g u s t i n i a n Christianity a n d the i m p o r t a n t role it is belived to have played in the Protestant Tradition, it is remarkable h o w little discussion it received a m o n g the seventeenth-century c o m m e n t a t o r s . " 8 6

Almonds Buch ist daher vielleicht mehr eine Sammlung interessanter Details einer komplexen Auslegungsgeschichte, für die Fragestellung unserer Studie, die sich gerade jener Diskussion um die Erbsündenlehre widmet, die Almond nicht meinte erkennen zu können, trägt seine Arbeit leider nichts aus. Schaut man also auf die bisherige Forschung zurück, erscheint als Hauptdesiderat eine Darstellung der lutherischen Anthropologie, die die diachronische Entwicklung von ca. 150 Jahren, die Verknüpfungen zwischen den verschiedenen Generationen von Theologen, ja auch den verschiedenen Konfessionen in den Blick nimmt. 87 Diese Lücke möchte die vorliegende Arbeit fur den Zeitraum von 1580 bis 1740 schließen helfen. tion, S. 130, Anm. 4; als Erweiterung seines Referates von Olearius veröffentlichte Köster im selben Jahr noch eine eigene, knappe Studie zu Urstandsvorstellungen in der Aufklärung; vgl. Köster, Paradies. 85 Almond, Adam, S. 2. 86 Ebd., S. 196f. 87 Der theologischen Beiträge, die sich tatsächlich mit der historischen Entwicklung der religiösen Anthropologie zwischen Reformation und Aufklärung beschäftigen, sind so wenige, daß man sie einzeln aufzählen kann. Schumann hat mit dem kurzen Artikel „Imago Dei" den Anfang gemacht, doch findet sich noch vieles Fehlerhafte, nur Angedeutete, das so dann leider auch Eingang in Fischer, Altprotestantische Lehre, fand. Fast ganz ohne Vorarbeiten von anderer Seite und dennoch von beeindruckender Hellsichtigkeit sind die wenigen Seiten, die P. Althaus, Dogmatik, dem Thema widmete. Die groß angelegte Studie von Delumeau, Pêche, widmet sich trotz ihres Titels nur der Erbsündenlehre Luthers und Calvins. Nicht über das bisher bekannte hinaus geht der bislang neueste Beitrag von Schreiner, Paradies.

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Wie mittlerweile deutlich geworden sein dürfte, versuche ich aber keine anthropologische Darstellung der Kultur dieses Zeitraumes im Sinne von Geertz und Greenblatt, sondern im Sinne von Schings und Riedel eine Darstellung der Anthropologie, genauer gesagt, eine Darstellung der theologischen Anthropologie und ihres Wandels von der Reformation zur Frühaufklärung. Auch bei der theologischen Anthropologie wären verschiedene Optionen gegeben. Mir aber, wie gesagt, geht es im Anschluß an Auer und Cassirer um das Herzstück der Aufklärungsanthropologie, um die Geschichte der orthodoxen (oder eben auch weniger ,orthodoxen') bzw. aufklärerischen (oder eben auch weniger aufgeklärten') Kritik an der Lehre von der Erbsünde. Dabei stand ich zunächst vor den Aufgabe, einen Ausgangspunkt zu finden, von dem aus meine spezifische Frage nach den theologischen Wurzeln der Aufklärungsanthropologie sinnvoll aufgerollt werden konnte. Das 1764 erschienene „Lehrbuch des christlichen Glaubens" von Wilhelm Abraham Teller schien ein besonders günstiger Ausgangspunkt zu sein, denn seit Aner gilt Teller in der Forschung als der Theologe, der die ersten „Vorpostengefechte" gegen die Erbsündenlehre gefuhrt habe, bevor in den 1770er Jahren dann zum allgemeinen „Sturmangriff' auf sie geblasen worden sei.88 Gerade weil die Forschung Teller zum theologischen Revolutionär stilisiert hat, mußte, um die Korssche These von den „orthodox sources of disbelief' zu verifizieren, gemäß meiner Fragestellung der Nachweis genügen, daß Teller seine Kritik an der Erbsündenlehre vielmehr aus der theologischen Tradition des Luthertums zog. 89 Ich mußte mich also nur noch von Teller aus in die theologische Vorgeschichte durchfragen. Praktisch bestand das größte Problem allerdings darin, sich durch extensives Lesen die Sprache des anthropologischen Diskurses im 17. Jahrhundert überhaupt erst einmal anzueignen, um festzustellen in welchen Diskursen, mit welchen Begriffen hier die Anthropologie verhandelt wurde. Denn es zeigte sich schon bald, daß anthropologische Fragen in der Theologie des 17. Jahrhunderts ganz anders behandelt wurden als im 18. Jahrhundert, und es liegt wohl vor allem an dieser völlig anderen Form des anthropologischen Diskurses im 17. Jahrhundert, daß der Forschung die theologische Vorgeschichte der Aufklärungsanthropologie bisher so völlig entgangen ist. Die Aufklärungstheologie verband die anthropologische Frage mit scheinbar selbstevidenten Schlagworten wie „Moralität", „Gottebenbildlichkeit" und „Perfektibilität". Schauen wir uns aber im 17. Jahrhundert um, so stoßen wir unter dem Stichwort „Anthropologie" auf Fragen wie: „In welchem Sinne und auf wieviel verschiedene zulässige Weisen ist der Begriff .naturale' zu verstehen?" oder „Waren die Eigenschaften des Menschen im Urständ ein .habitus' oder eine ,potentia', und bedurfte Adam eines ,adiutorium sine quo non'?" Das scheint mit Anthropologie zunächst nicht allzuviel zu tun haben. Erst nach und nach geht einem auf, daß sich hier, unter Aner, Theologie, S. 298. Ein zweiter Grund war, daß durch die Studie von Olearius die theologische Urstandslehre seit Teller gut aufgearbeitet ist und ich somit nicht über ihn hinaus gehen mußte. 88 89

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diesen abseitigen Problemen, in der fur uns ganz ungewohnten Gestalt spätaristotelischer Scholastik, die Fundamente der Aufklärungsanthropologie verbergen: Mit der Frage nach dem „Natürlichkeitsbegriff' wurde der aufklärerischen Vorstellung einer bleibenden Gottebenbildlichkeit des Menschen vorgearbeitet. Hinter der Frage nach „habitus" oder „potentia" verbirgt sich die Frage nach der Möglichkeit der moralischen Entwicklung des Menschen - der berühmte Perfektibilitätsglaube der Aufklärung! Und sogar die aufklärerische Kritik an der Erbsündenlehre findet sich schon im 17. Jahrhundert — allerdings wird sie unter der Frage verhandelt, ob die Aktualsünde Adams dem Menschen „immediate vel mediate imputatur"? Es braucht lange, bis man sich in diese Art des Denkens eingelesen hat - dann aber ist es faszinierend, überall die verborgenen, unscheinbaren Anfänge des aufklärerischen Denkens „sub contraria specie" zu entdecken und behutsam die Geschichte ihrer Entwicklung nachzuverfolgen.

II. Die katholische Kritik und die Calixtinische Anthropologie 1580-1680 1. Das lutherische Problem und die katholische Kritik In der Geschichte der Ideen einen Anfang zu finden heißt immer, einen Anfang zu setzen. Das Denken und die Theologie Martin Luthers ist fiir eine Untersuchung zur „Lutherischen Anthropologie zwischen Reformation und Frühaufklärung" zweifellos ein plausibler Anfang, auch wenn man eigentlich nicht behaupten kann, die Anthropologie hätte das Zentrum von Martin Luthers Denken ausgemacht. 1 Es ist bekannt, daß das Gravitationszentrum von Luthers Theologie vielmehr in seiner Lehre von der Rechtfertigung des Menschen vor Gott bestand und sich sein Denken in dieser allesentscheidenden Frage nicht unerheblich von den bis dahin vertretenen Ansichten unterschied. Ohne hier die (heute wieder höchst umstrittene) Lehre von der Rechtfertigung en detail nachzeichnen zu wollen, leuchtet aber doch unmittelbar ein, daß eine Lehre von der Rechtfertigung des Menschen eine bestimmte Ansicht über den Menschen impliziert und somit von der Frage nach der Anthropologie nicht getrennt werden kann: Wer ist und wie ist jener Mensch, der da vor Gott gerechtfertigt werden muß? Warum muß sich ein Mensch vor Gott überhaupt rechtfertigen? Luthers Antwort ist von eindrücklicher Schlichtheit: der Mensch muß sich vor Gott rechtfertigen, weil er ein Sünder ist. Für Luther ist der Mensch zunächst einmal Sünder, nur Sünder und ganz Sünder. Ein Sünder ist er, zum Sünder wird er, weil er durch seine natürliche Abstammung von Adam und Eva seit seiner Empfängnis mit der Erbsünde behaftet ist. Die Erbsünde ist eine tiefe und vollständige Zerrüttung der menschlichen Natur als solcher. Sie fuhrt nicht nur dazu, daß der Mensch die ihm ursprünglich verliehene Gottebenbildlichkeit verloren hat, Gott verhaßt und seitdem sterblich ist, sie bedeutet auch, daß der Mensch, bevor er nicht getauft ist, den Heiligen Geist empfangen hat und durch Gottes Gnade gerechtfertigt ist, gar nicht anders kann als zu sündigen. Jede seiner Handlungen ist Sünde. Erst nach seiner Rechtfertigung im Glauben kann der Mensch sich, unterstützt durch den Heiligen Geist, darum bemühen, der Sünde 1 Zur zusammenfassenden Darstellung von Luthers Urstandslehre und Anthropologie vgl. vor allem Gross, Geschichte, S. 3 3 - 3 7 ; Köster, Reformation, S. 2 - 7 ; Hägglund, D e homine, S. 5 5 9 1 , 1 0 3 - 1 2 8 ; ders., Anthropologie; ders., Sünde; Peters, Mensch, S. 2 7 - 5 9 ; Ebeling, D e homine; neuerdings Kleffmann, Erbsündenlehre; eine knappe Zusammenfassung bieten Breuning/Hägglund, Sünde.

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in seinem Handeln Herr zu werden — die Erbsünde in seiner Natur aber bleibt bis zum Tode unaufhebbar Teil des Menschen. So gesehen scheint sich Luthers Lehre vom Menschen zunächst kaum von der katholischen Lehre zu unterscheiden, denn auch die spätmittelalterliche (und dann katholische) Anthropologie ging von einer ererbten Zerrüttung der menschlichen Natur aus, dem Verlust der Gottebenbildlichkeit, der Unausweichlichkeit der Sünde und der Notwendigkeit einer durch Christus bewirkten Rechtfertigung und Erlösung. Die anthropologischen Aussagen im Einzelnen waren in der spätmittelalterlichen Theologie zwar nicht gänzlich unumstritten, 2 die Grundzüge aber standen fest und waren terminologisch mit klaren Begriffen benannt: man ging ganz allgemein davon aus, daß der Mensch, so wie er seinerzeit im Paradies geschaffen worden war, prinzipiell gut war, denn es heißt im Schöpfungsbericht: „Und Gott sah an alles, was er gemacht hatte; und siehe da, es war sehr gut" (Gen. 1,31). Daß der Mensch gut war, hatte nach allgemeiner Ansicht seinen Grund in der Tatsache, daß Gott ihn nach seinem eigenen Bild, als Ebenbild Gottes, geschaffen hatte. Da in der Vulgata hier zwei verschiedene Begriffe ftir die dem Menschen anzuerschaffende Gottebenbildlichkeit verwendet werden,3 ging man schon seit den Zeiten der Alten Kirche davon aus, es gebe tatsächlich zwei verschiedene Arten von Gottebenbildlichkeit: der Begriff „imago", dachte man, beziehe sich auf die Natur des Menschen, die dementsprechend schon als solche gottebenbildlich und somit gut sei; der Begriff „similitudo" dagegen bezeichne eine besondere Gnadengabe, die Gott dem Menschen im Paradies noch über die anerschaffene gute Natur hinaus besonders verliehen habe. Diese besondere übernatürliche Gnade, die Gerechtigkeit, Unsterblichkeit, Weisheit, Leidensfreiheit, Heiligkeit und anderes umfaßt haben sollte, trug mehrere Bezeichnungen: da sie nicht zur Natur des Menschen im engeren Sinn gehörte, wurde sie auch „donum superadditum" genannt.4 Da sie die Gerechtigkeit des Menschen im Urständ ausmachte, konnte sie auch als übernatürliche „Urstandsgerechtigkeit", als Justitia Originalis, bezeichnet werden. Was nun die Erbsünde anging, so behauptete die mittelalterliche Theologie in großer Geschlossenheit, daß sie im Verlust der übernatürlichen Gnade des Urstandes bestehe. Anselm von Canterbury hatte die Erbsünde in einer berühmt gewordenen Formaldefinition einst als „absentia iustitiae debitae"5 bezeichnet. Der Mensch verlor durch den Sündenfall nur die besondere Gottebenbildlichkeit, die „similitudo": war er vorher unsterblich, heilig, weise, gerecht und frei von Leiden gewesen, war er nun sterblich, dem irdischen Leiden unterworfen, seiner Gerechtigkeit vor Gott verlustig gegangen, und seine Weisheit beschränkte sich auf einen 2

Vgl. die minutiöse Darstellung von Köster, Scholastik. Gen. 1,26: „faciamus h o m i n e m ad imaginem et similitudinem nostram". 4 Köster, Reformation, S. 82, weist d a r a u f h i n , daß die mittelalterliche u n d katholische Theologie das Verhältnis von N a t u r u n d G n a d e allerdings nicht (wie die Protestanten meinten) extrinsezistischtemporal verstanden, sondern als Akt-Potenz-Schema konstruierten. 5 Zu vielfältigen Stellennachweisen u n d zur Geschichte dieser Formulierung bei Anselm vgl. Köster, Scholastik, S. 129, A n m . 47. 3

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(im Vergleich zur ursprünglichen Erkenntnis) kläglichen Rest des „lumen naturale". Dieser Mangel an urständlicher Vollkommenheit bedeutete nun aber auch, daß der Mensch nach dem Sündenfall nicht mehr so war, wie er von G o t t geschaffen worden war. Schon Augustinus hatte die Erbsünde deshalb als eine Zerstörung der menschlichen Natur bezeichnet, wobei diese sich nach Augustinus vor allem in der den Menschen zerrüttenden, fleischlichen „concupiscentia" manifestierte. 6 Spätestens bei T h o m a s von Aquin schließlich sind beide Definitionen bleibend zusammengefügt: er bestimmte die Erbsünde formal als „Mangel der Urstandsgerechtigkeit", material als „concupiscentia". 7 Diese Doppeldefinition wurde scholastisches und ebenso selbstverständlich später auch reformatorisches Gemeingut. A u f den ersten Blick gesehen ist ein Unterschied zwischen der spätmittelalterlichen Urstandslehre und der Position Luthers deshalb kaum zu erkennen. Die Unterschiede fallen erst bei näherem Hinsehen ins Auge: sie sind weniger inhaltlicher Natur, es ist zunächst die Radikalität, mit der Luther die Vorstellung einer Erbsünde als Zerrüttung des Menschen konsequent zuende denkt, die ihn von der spätmittelalterlichen Anthropologie unterscheidet. Auch Luther ging wie selbstverständlich von der eingeführten Doppeldefinition der Erbsünde als „carentia justitiae originalis" und „prava concupiscentia" aus. 8 Sein Haupteinwand gegen die übliche Urstandslehre lautete nun aber: wenn Erbsünde der Verlust der übernatürlichen Gnadengaben im Sündenfall ist, bedeutete dies dann nicht, daß die Natur des Menschen als solche durch die Erbsünde dann überhaupt nicht tangiert wird? U n d hätte nicht nach der bisherigen Lehre die Natur des Menschen überdies durch die anerschaffene Imago Dei gleichsam vor der erbsündlichen Zerrüttung geschützt sein müssen? Bestand dann nicht die Gefahr, den Menschen als solchen eigentlich fur gut zu erklären? U n d wozu hätte man dann noch die Heilstat Christi gebraucht: „Sieh, was aus dieser Lehre folgt, w e n n D u behauptest, d a ß die Justitia Originalis nicht natürlich war, sondern nur eine h i n z u g e f ü g t e G a b e , etwas Uberflüssiges. O d e r folgt etwa nicht, w e n n D u solcherart behauptest, die Gerechtigkeit sei nicht das Wesen des M e n s c h e n gewesen, d a ß a u c h die S ü n d e , die an ihre Stelle trat, nicht das Wesen des M e n s c h e n gewesen sei? W e n n die Urstandsgerechtigkeit von unserer N a t u r wie eine f r e m d e S a c h e w e g g e n o m m e n [werden kann] u n d unsere natürliche Verfassung unver-

6 Reichhaltige Stellennachweise bei Scheffzcyk, Urständ, S. 218-223, der, entgegen der üblichen Annahme, allerdings darauf besteht, daß Erbsünde und Konkupiszenz bei Augustin keineswegs identisch seien, sondern die Erbsünde von Augustin nur „metonymisch" (ebd., S. 219) „concupicentia" genannt werde. Er räumt allerdings ein, daß „der Kirchenvater [...] die Konkupiszenz so nahe an die Erbsünde heranbringt, daß in den Formulierungen manchmal die Abhebung beider Momente voneinander schwierig ist" (S. 221); seiner eigenen Analyse nach bezeichnet die Konkupiszenz bei Augustin weniger die Erbsünde selbst als das bleibende „Zeichen fur die noch nicht getilgte Adamssünde" (ebd.). 7 Vgl. Thomas, S. T h I/II q. 82 a.3; zur Geschichte der Verbindung beider Begriffe sehr differenziert Köster, Scholastik, S. 132f. 8 So definiert es dann auch die Apologie II, 26 (BSLK, S. 152, Z. 25-26).

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sehrt bleibt, bedeutet das dann nicht, Christus den Erlöser umsonst zu schicken? Was wäre eines Theologen unwürdiger, als dies zu behaupten?" 9

Mußte man nicht radikaler ansetzen und behaupten, daß der Mensch durch den Sündenfall jede Art von Gottebenbildlichkeit verloren hatte, sowohl „imago" als auch „Justitia Originalis"? 10 Die Lehre von einer übernatürlichen Urstandsgerechtigkeit, die sich von der menschlichen Natur als solcher unterschied, mußte abgelehnt werden: es konnte nur eine Gottebenbildlichkeit gegeben haben („imago dei" und „Justitia Originalis" mußten identisch gewesen sein) und diese Gottebenbildlichkeit mußte im Urständ mit der Natur des Menschen insgesamt identisch („connaturalis") 11 gewesen sein: nur so ließ sich sicherstellen, daß der Verlust der Gottebenbildlichkeit, die Erbsünde, den Menschen auch wirklich in seinem tiefsten Inneren traf und zerrüttete, nämlich in seiner Natur selbst. Gegen die mittelalterliche und katholische Tradition begann Luther, die Natürlichkeit der urständlichen Gottebenbildlichkeit zu behaupten. 12

9 Luther, Genesisvorlesung, S. 124: „Sed vide, quid sequatur ex illa sententia, si statuas iusticiam originalem non fuisse naturae, sed donum quoddam superfluum, superadditum. An non, sicut ponis iusticiam non fuisse de essentia hominis, Ita etiam sequetur peccatum, quod successit, non esse de essentia hominis? An non igitur frustra est mittere redemptorem Christum, cum iusticia originalis, tanquam aliena res a natura nostra, ablata est et integra naturalia manent? Quid potest indignius Theologo dici?" 10 Ebd., S. 123f.: „Scholastici disputant: Quod iusticia originalis non fuerit connaturalis, sed ceu ornatus quidam additus homini tanquam donum [...]. Quare disputant de homine et daemonibus, quod, etsi originalem iusticiam amiserint, tamen naturalia pura manserint, sicut initio condita sunt. Sed haec sententia quia peccatum originis extenuat, ceu venenum fugienda est." Zur Erbsündenlehre Luthers vgl. Peters, Mensch, S. 2 7 - 5 9 , ebd. S. 46f. und Funke, Gewohnheit, S. 187-202. 11 Luther, Genesisvorlesung, S. 123. 12 Luthers primär rechtfertigungstheologisches Interesse an einer Ablehnung der katholischen Lehre von der Ubernatürlichkeit der Imago Dei führte jedoch dazu, daß er sich offensichtlich nicht genötigt sah, das Verhältnis von Imago Dei und Justitia Originalis, menschlicher Natur und Erbsünde auf der anthropologischen Ebene genau zu klären (vgl. dazu Peters, Mensch, S. 46f., der den existenziellen Charakter der Anthropologie Luthers dafür verantwortlich macht): zum einen macht er Äußerungen, die nahelegen, er habe die Justitia Originalis wegen ihrer Natürlichkeit ganz mit der Natur des Menschen identifizieren wollen. So nennt Luther, Genesisvorlesung, S. 123, die Justitia Originalis an einer Stelle „connaturalis" und an anderer Stelle streicht er deutlich heraus, daß Adam die Imago Dei „in sua substantia" (ebd. S. 47) hatte. Zum andern unterscheidet er an manchen Stellen deutlich zwischen der Natur des Menschen und der dieser Natur auf „natürliche" Weise inhärierenden Urstandsgerechtigkeit. Vgl. ebd., S. 125: „Porro haec omnia probant, originalem iusticiam fuisse de natura hominis, ea autem per peccatum amissa manifestum est naturalia non mansisse integra sicut Scholastici délirant. Sicut enim naturae hominis fuit incedere nudum, plenum fiducia et securitate erga Deum et sic piacere Deo et hominibus, Ita nunc post peccatum sentit homo hanc nuditatem innocentis naturae displicere Deo, sibi et omnibus creaturis, ideo parat perizomata et tegit corpus. Haec an non naturae est immutatio? Manet quidem natura, sed multis modis corrupta, siquidem fiducia erga Deum amissa est, et cor plenum est diffidentia, metu, pudore. Sic manent in natura membra eadem: Sed quae antea nuda cum gloria conspiciebantur, nunc tanquam turpia et inhonesta velantur propter interiorem defectum, quod natura fiduciam in Deum per peccatum amisit." Überwiegend ist bei Luther die Tendenz zu erkennen, zwischen Imago Dei bzw. Erbsünde und der menschlichen Natur eher zu unterscheiden. Wie eng er dennoch die Verbindung sieht, zeigt die von ihm zur Illustrierung der Erbsünde gewählte Metapher der Lepra, die dem Körper des Menschen auf solche Art und Weise

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A) Das lutherische Problem Auf den ersten Blick scheint nicht unbedingt ersichtlich, warum diese Wendung, die Martin Luther der Anthropologie gab, sich in den folgenden Jahrhunderten zu einem ernsthaften theologischen Problem entwickeln konnte. Und doch muß man sagen, daß so gut wie alle Schwierigkeiten, die sich im Laufe der Zeit für die protestantische Anthropologie ergaben, folgerichtig aus dieser einen Grundentscheidung Martin Luthers hervorgingen. U m das zu verstehen, muß man sich die einfache Tatsache vor Augen halten, daß Luthers anthropologische Neuerung ihm zwar theologisch notwendig und unumstößlich erschien, das von ihm Gewollte im Rahmen der Terminologie der aristotelischen Schulmetaphysik aber nur herzlich schlecht ausgedrückt werden konnte. Es gab nur eine begrenzte Anzahl von Möglichkeiten, das Verhältnis der verschiedenen Begriff Natur, Wesen, Substanz, Imago Dei, Iustitia Originalis und Erbsünde zu denken, und wie wir im Laufe der Untersuchung feststellen werden, ist es gerade diese strukturelle philosophische Begrenztheit der theologischen Aussagemodi, die im Laufe des 16. und 17. Jahrhunderts immer mehr zum Problem der lutherischen Anthropologie werden sollte. Bekanntlich war es eine in der Schulmetaphysik des 16. und 17. Jahrhunderts allgemein akzeptierte Grundannahme, daß die Begriffe „substantia", „natura" und „essentia" praktisch deckungsgleich waren. 13 Auch Luther selbst hatte in seinem oben angeführten Zitat „natura" und „essentia" ja deckungsgleich verwendet. Die Natur des Menschen bestand in dem, was ihn wesenhaft ausmacht, seinem Wesen. Dieses Wesen wurde im Anschluß an Aristoteles substantiell verstanden, nämlich als die besondere, nur dem Menschen eigene Verbindung einer Seele mit einem Körper. Die Anwendung dieser schulmetaphysischen Termini in der Theologie mußte jedoch zu Problemen fuhren. Wenn man einerseits mit Luther behaupten wollte, die Imago Dei sei dem Menschen natürlich (weil er die Vorstellung einer übernatürlichen „similitudo" aufgegeben hatte), andererseits durch die Vorgaben der Schulmetaphysik gezwungen war, Natur als Substanz des menschlichen Wesens zu verstehen, lag der Schluß nahe, daß die Imago Dei die Substanz des Menschen

inhäriert, daß sie dessen Substanz selbst vernichtet, vgl. ebd., S. 126: „Sicut autem in innocenti natura totum opus generationis sanctissimum et purissimum fuisset; Ita post peccatum lepra libidinis hanc corporis partem invasit." 13 So auch Wendt, Lehre, S. 158f. Wie ein Blick in die Standarddialektiken und Lexika des 16. Jahrhunderts zeigt, wurde Natur als Äquivalent zu Essenz und Substanz verstanden. Vgl. etwa die paradigmatische Definition von Goclenius, Lexicon, S. 739: „Natura est cuiusque Entis Essentia, sive sit illud substantia, sive accidens, ut Definido explicar naturam Definid"; als Beispiele aus dem uns hier beschäftigenden Kontext vgl. Luther, Genesisvorlesung, S. 124; FC, S D (BSLK S. 844, Z. 5 - 6 ; S. 845, Z. 11 F.; S. 860, Z. 21 und öfter); Calixt, Exercitatio, S. 340f.; ders., Widerlegung, S. 121 (die paginierte „Gründliche Widerlegung" von 1640 wird der Einfacheit halber zitiert nach der Seitenzahlung in der allgemein verfügbaren, wortidentischen Ausgabe in Calixt, Excerpta, und wird deshalb im Folgenden zitiert als: Widerlegung [Excerpta]).

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darstellte und mit dem Sündenfall, dem Verlust der Imago Dei, also de facto die substantielle Vernichtung des Menschen einherging. Bekanntlich ist dies die Position, die mit dem N a m e n Matthias Flacius verbunden wird. 14 Die Behauptung der Substantialität der Erbsünde implizierte mehrere Probleme: erstens die oben schon angesprochene Schlußfolgerung, daß der Mensch nach dem Sündenfall substantiell gar nicht mehr existierte. Dies widersprach der Erfahrung, weshalb Flacius sich mit einer Analogiebildung zur traditionellen Imago-Dei-Lehre behalf und annahm, der Mensch sei nach dem Sündenfall zu einer Imago Satanae geworden. D a m i t ergaben sich zweitens auf der Ebene der Gotteslehre weiterreichende Probleme: denn zu behaupten, die Erbsünde sei zur Substanz der menschlichen Natur geworden, bedeutete in letzter Konsequenz, Gott zur Ursache der Sünde zu machen, denn nach übereinstimmend geteilter Vorstellung mußte alles, was Substanz war, mithin positives Sein besaß, von G o t t als dem alleinigen Schöpfer aller Dinge stammen. Schon Augustinus hatte gerade aus diesem G r u n d dem Bösen und der Sünde nur ein negatives Sein zugestanden, es als reinen Mangel an G u t e m verstanden. Flacius' Behauptung, der Mensch sei zu einer Imago Satanae geworden, mußte entweder Gott zum Schöpfer der Erbsünde machen oder aber er mußte dem Teufel eine Schöpferkraft zuschreiben, die allein G o t t zukam. Deshalb konnte man Flacius' System unter Umständen

14 Lutherische Theologen waren schon zu Anfang des 17. Jahrhunderts in der Lage, zwischen dem von Flacius Gesagten und dem von ihm Gemeinten ebenso zu unterscheiden, wie zwischen Flacius' verhältnismäßig differenzierter Position und den Vereinfachungen seiner Anhänger. So stellt Meisner, Anthropologia, S. 14, schon 1619 die Frage: „ N o n [...] hic disquiro: An Flacius tam absurde senserit, vt locutus est? cum alibi videatur discrimen admittere inter Substantiam hominis, & imaginem Dei. Sunt enim nonnulli, qui inter mentem & verba Flacij distinguunt. Ñeque negauerim, Flacianos reliquos ipso Flacio longe absurdiores, crassioresque fuisse in verbis & sensu." Auch die differenziertere Forschung des 19. und 20. Jahrhunderts hat es mittlerweile zu einer communis opinio gemacht, daß Flacius keineswegs von Anbeginn an jene Positionen verfochten hat, die ihm seine Gegner und dann auch (ohne Nennung des Namens) die Konkordienformel vorwarfen. Den allgemeinen Anlaß zu den Flacianischen Streitigkeiten stellte bekanntlich die Weimarer Disputation zwischen Victorinus Strigel und Flacius im Jahre 1560 dar; zu Strigel vgl. neuerdings Koch, Strigel; zu Flacius vgl. noch immer Preger, Flacius, S. 3 1 0 - 4 1 2 ; Frank, Theologie I, S. 5 0 - 1 1 2 ; Ritsehl, Dogmengeschichte II, S. 4 2 3 454; zur Weimarer Disputation einschlägig Kropatschek, Anthropologie; vgl. auch Lohse, Dogma, S. 1 2 1 - 1 2 5 . Die besondere Frage um die Substantialität der Imago Dei und der Erbsünde entzündete sich bekanntlich eher indirekt am Sprachgebrauch Strigels, der die Erbsünde in der Disputation fortgesetzt als Akzidenz bezeichnete. Wie schon Frank, Theologie I, S. 64—82, gezeigt hat, lagen dem sich hieraus entwickelnden Streit zwei unterschiedliche Definitionen von Akzidentialität zugrunde. Strigel nämlich setzte die Definition von Akzidenz voraus, wie sie Melanchthon, Erotemata, S. 522, formuliert hatte: „Accidens est, quod non per se subsistit, nec est pars substantiae, sed in alio est mutabiliter." Von daher hatte Strigel kein Problem, die Imago Dei ebenso wie die Erbsünde als Akzidenz zu bezeichnen. Flacius aber verwendete eine Definition, die zwar sehr weit verbreitet war (Bellarmin, D e Amissione, S. 189, benutzt sie noch 1593!), die Melanchthon jedoch (Frank, Theologie I, S. 68) als „puerilis descriptio" abgelehnt hatte: „Accidens est, quod adest vel abest praeter subiecti corruptionem." Somit mußte es Flacius scheinen, als ob Strigel mit der Bezeichnung der Erbsünde als Akzidenz das Fehlen der „subiecti corruptionem" implizierte, mithin de facto die Erbsünde als corruptio des Menschen leugnete. Dies führte ihn dazu, den Begriff der „Substanz" für die Erbsünde zu verwenden.

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D i e katholische Kritik u n d die Calixtinische A n t h r o p o l o g i e 1 5 8 0 - 1 6 8 0

auch als eine Art Neomanichäismus ansehen. 15 Tatsächlich waren Flacius' Gegner wie Heshusen und Wigand nicht willens oder nicht fähig, sich auf gewisse terminologische Distinktionen einzulassen, die Flacius in seine Theologie eingeführt hatte, um dem Verdacht neomanichäischer Häresie von vornherein vorzubeugen. 16 Sie verkürzten seine Position zu der Formel, Flacius habe behauptet, die Erbsünde sei nach dem Fall Natur, Wesen und Substanz des Menschen selbst. Man kann also durchaus behaupten, daß erst die Gegner von Flacius jenes theologische Problem schufen, das in der Formula Concordiae dann gelöst werden sollte.17 Die Formula Concordiae hatte also das Problem, einerseits die Theologie des Flacius abwehren zu müssen, die sie für manichäisch hielt. Sie mußte deshalb eine deutliche Differenz zwischen der Natur des Menschen als Substanz und der Erbsünde markieren. Zum anderen mußte sie, ausgehend von Luthers Vorentscheidung, dennoch die katholische Position vermeiden, die eben diese Differenz 15 In diesem Zusammenhang ist es deshalb wichtig, mit Preger, Flacius, S. 327.367, festzuhalten, daß Flacius selbst gar nicht darauf bestand, den inkriminierten Begriff der „substantia" unbedingt zu gebrauchen und mehrmals das Angebot machte, ihn fallen zu lassen, wenn man ihm der Sache nach recht gebe, denn er erkannte sehr wohl die theologischen Schwierigkeiten, die seine Überlegungen aufwarfen. 16 Er unterschied (vgl. Preger, Flacius, S. 310) seit 1567 zwischen „materia substantialis" und „forma substantialis" und beschränkte seine Theorie von der Erbsünde auf den Begriff der „forma substantialis" (vgl. ebd., S. 313-314): „Doch auch bei dieser Beschränkung auf die Form der Substanz zieht Flacius noch eine weitere Schranke, indem er einen Unterschied zwischen der äußeren unedleren und der höheren sittlichen Form macht und zu jener die äußere Gestalt, den Unterschied von Leib und Seele, die sinnliche Wahrnehmung, das Denkvermögen überhaupt, zu jener die sittliche Ebenbildlichkeit von Vernunft und Willen mit den entsprechenden göttlichen Eigenschaften rechnet." Somit war Flacius mitnichten gezwungen zu behaupten, die eigentliche Materie des Menschen sei durch den Sündenfall zur Erbsünde geworden und der Teufel habe nach dem Sündenfall den Menschen praktisch neu geschaffen: Flacius beschränkt die Wirkungen des Sündenfalls und der Erbsünde auf Vernunft und Willen. Dennoch besteht tatsächlich ein Problem in der Theologie des Flacius. Es stellt sich die Frage, wie man sich die Verderbung von Vernunft und Willen durch den Teufel zu einer „Imago Satanae" praktisch vorzustellen hat, ohne ihm eine Art Schöpferkraft konzedieren zu wollen. Die mögliche Antwort auf diese Frage wird umso brisanter, als Flacius mit der mittelalterlichen Tradition daran festgehalten hatte, Vernunft und Willen seien das, „was dem Menschen erst seinen wahren menschlichen Charakter vor Gott" gebe, und damit „der Gesichtspunkt, nach welchem die Theologie das Wesen des Menschen zu beurtheilen hat" (vgl. Preger, Flacius, S. 314). Dieses Problem tritt bei Flacius auf, weil er sich in seiner Anthropologie den konkreten Einzelmensch zum Gegenstand nimmt und in ihm den Widerstreit zwischen altem und neuem Adam theologisch zu beurteilen sucht. Auf einer abstrakteren Ebene der Anthropologie würde das notwendigerweise zu der häretischen Konsequenz führen, beide Kräfte, die Imago Dei restituta und das Erbe des Sündenfalls gleichermaßen zu hypostasieren und damit dem Teufel als Urheber der Erbsünde einen status zuzubilligen, der ihm theologisch nicht zukommen kann. Vgl. dazu Hägglund, De homine, S. 149-150: „När man i denna tradition skiljer melan människans substans eller natur â ena sidan och korruptionen â den andra, föreligger en abstrakt, formel betraktelse av människan, vilen man med störtsa självklarhet hâller fast vid untan att sammanblanda den med de erfarenhetsmässiga, konkreta aspekterna. Balthasar Meisner, som klargör denna distinktion, menar at feiet med Flacius var, att han aldrig künde eler ville tillägna sig den abtsrakta synpunkten utan blott räknade med den konkreta." (Vgl. dazu auch Anm. 22 u. Anm. 89). 17 Es kann nicht sinnvoll sein, hier alle Entscheidungsfindungsprozesse der F C in Fragen der Erbsündenlehre nochmals nachzuzeichnen, vgl. dazu Wenz, Theologie, S. 548ff.

Das lutherische Problem und die katholische Kritik

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annahm und deshalb zwischen einer gleichbleibenden Natur und der Erbsünde als Mangel an übernatürlicher Gerechtigkeit unterschied. Die Theologen der FC mußten die Erbsünde als „corruptio naturae" also soweit wie möglich an die Substanz der menschlichen Natur heranrücken, um nicht eine katholische Trennung von Erbsünde und Natur zu implizieren, sie durften sie aber auch auf keinen Fall mit ihr identifizieren, um nicht die Flacianische Konsequenz eines .neuen Manichäismus' ziehen zu müssen.18 Als willkommene Lösung im Rahmen der üblichen philosophischen Termini schien sich anzubieten, die Erbsünde zu einem Akzidenz an der Substanz der menschlichen Natur zu erklären. Tatsächlich blieb den Theologen der Konkordienformel gar keine andere Wahl, denn außer ,Akzidenz" gab es keinen anderen Differenzbegriff zu „Substanz".19 Zunächst schienen die theologischen und philosophischen Probleme damit auf einen Schlag beseitigt: die Erbsünde als corruptio war ein Akzidenz, also keine Substanz, die vom Teufel oder von Gott geschaffen war, und sie war etwas, das einer an sich guten Substanz nur als nicht selbst subsistierender Modus - nämlich in Form eines Akzidenz - inhärierte. Auf den zweiten Blick jedoch wird deutlich, daß dieser Versuch, das Problem terminologisch in den Griff zu bekommen, doch wieder gravierende philosophische20 und theologische Probleme aufwarf. Vgl. Wendt, Lehre, S. 1 5 8 - 1 6 3 . " Schon Preger, Flacius, S. 402—405; Ritsehl, Dogmengeschichte II, S. 4 5 3 ; Wenz, Theologie, S. 5 4 6 , Anm. 2 und 5 4 8 , A n m . 4, haben daraufhingewiesen, wie unzureichend die Begriffe Substanz und Akzidenz zur Lösung des im Flacianischen Streit aufgekommenen Problems waren und wie sehr der Substanzbegriff umgedeutet werden mußte, um noch den theologischen Anforderungen der Flaciusgegner genügen zu können. 18

20 Wendt, Lehre, S. 159f., hat Idar gezeigt, daß den Ausführungen der Konkordienformel ein ambivalenter SubstanzbegrifF zugrundeliegt: „In § 5 5 - 5 7 (Sol. deci.) tritt dies ganz evident hervor. In dem .unbezweifelten und allersichersten theologischen Axiome', welches hier zugrundegelegt wird, daß alle substantia, sofern sie substantia sei, entweder G o t t selbst oder ein W e r k und eine Schöpfung Gottes sei, hat offenbar das W o r t substantia einen völlig anderen Sinn, als gleich hinterher, wo die Unterscheidung zwischen substantia und accidens gemacht wird. Dort bezeichnet es dasjenige, was Bestand in der Wirklichkeit hat im Gegensatz zum Nichtseienden, Nichtwirklichen, hier aber, bei der Unterscheidung von substantia und accidens, bezeichnet es dasjenige, was Bestand im Begriffe eines Dinges hat im Gegensatz zu Allem, was nicht nothwendig zum Begriffe eines Dinges gehört. W a s aber im letzteren Sinne nicht zur substantia eines Dinges gehört, kann doch sehr wohl im ersteren Sinne substantia sein. Am Pferde ist die schwarze Farbe ein accidens, weil sie nicht durch den Begriff des Pferdes gefordert ist; aber wem fiele es ein, daraus zu folgern, daß diese schwatze Farbe nicht eine substantia in dem anderen Sinne sei und nicht auf Gottes Schöpfungswirken zurückgeführt zu werden brauchte? Eben dies ist die Schlußfolgerung, welche uns von den Verfassern der Concordienformel zugemuthet wird; weil die Erbsünde nur ein accidens am Menschen ist, soll es nicht manichäisch sein, wenn man sie als ein W e r k des Teufels beurtheilt, und nicht als ein W e r k Gottes, der die substantia schaffe (vgl. Epitome I § . 2 5 ) ! " Den Ursprung dieses Widerspruchs in der F C lokalisiert Wendt, ebd., S. 162, darin, „daß wir in unserem Sprachgebrauche die Vollkommenheit und Unvollkommenheit, die Ganzheit und Halbheit, das Existieren und Nichtexistieren in derselben adjectivischen Weise einem Subjecte beilegen, wie die wirklichen Eigenschaften dieses Subjectes [...]. Weil wir sagen, daß die Verderbnis an der menschlichen Natur sei, daß die Natur die Verderbnis habe, deshalb nehmen die Confessoren an, daß die Verderbnis auch in derselben Weise als Qualität der menschlichen Natur betrachtet werden könne, wie die Farbe am Pferde. Es ist dieselbe Verwechslung, die bekanntlich dem

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Die katholische Kritik und die Calixtinische Anthropologie 1580—1680

Die erste Frage, die bei der Bestimmung der Konkordienformel notwendigerweise völlig unklar blieb, war, welchen theologischen Status die jenseits von Imago Dei und Erbsünde postulierte Substanz der menschlichen Natur haben sollte, dies eine Frage, die schon Luther unbeantwortet gelassen hatte. Die Konkordienformel hatte davon gesprochen, der Mensch bleibe trotz Erbsünde und Fall „Geschöpf' 21 Gottes und meinte damit seine essentielle Struktur, aus Seele und Körper zusammengesetzt zu sein. Das war theologisch zwar richtig, philosophisch jedoch nicht recht einlösbar:22 wie sollte man dieses „Gutbleiben" der menschlichen Natur ausdrücken? Wenn die gottgeschaffene Natur des Menschen eine (bleibende) Substanz war, Gottebenbildlichkeit und Erbsünde aber wandelbare Akzidenzien — würde man dann als Theologe nicht auch behaupten müssen, es gebe eine unverletztliche Natur des Menschen jenseits der an- oder abwesenden Erbsünde? Und hieß das nicht, daß die Substanz sozusagen ein ungefallener weil guter Rest der menschlichen Natur war? Was war diese Substanz, die am Menschen durch alle Status der Heilsgeschichte hindurch gleichblieb, und wie sollte sie theologisch bewertet werden? Führte die Entscheidung der Formula Concordiae

ontologischen Beweise für das Dasein Gottes zu Grunde liegt." Gegen Wendts im Ganzen zutreffende Kritik ist jedoch festzuhalten, daß auch die Konkordienformel selbst sich der Tatsache bewußt gewesen zu sein scheint, mit dieser philosophischen Terminologie das theologische Problem nur unzureichend beschrieben zu haben: „Wann aber weiter gefragt wird, was dann die Erbsünde für ein accidens seie? Das ist ein andere Frag, darauf kein Philosophus, kein Papist, kein Sophist, ja kein menschliche Vernunft wie scharf auch dieselbige immermehr sein mag, die recht Erklärung geben kann, sunder aller Verstand und Erklärung muß allein aus heiliger Schrift genummen werden [...]." FC, SD 1,60 (BSLK, S. 864, Z. 28ff). 21 FC, SD 1,51 (BSLK, S. 860, Z. 21): „Deus creat hominum naturam, per vocabulum naturae intelligitur ipsa substantia, corpus et animae hominis." 22 Vgl. Wenz, Theologie, S. 548, Anm. 4; Wendt, Lehre, S. 160, hat das Problem scharfsinnig so zusammengefaßt: „Diese für die Bekämpfung manichäischer Anschauung werthlose Unterscheidung zwischen substantia und accidens am Menschen, hat nur [!] aber eine verhängnißvolle Folge gehabt. Sie hat den Confessoren Anlaß dazu gegeben, unter der ,Substanz', welche den Menschen zum Menschen macht und derentwillen sowohl Christus als auch wir, die Subjecte der Erlösung und Heiligung, als Menschen bezeichnet werden, nur den ,Körper und die Seele' zu verstehen, wie in appositionellem Zusätze überall bemerkt wird (Sol. deci. §. 2 bis 29.33.41.42.51), und zwar, was das Wichtigste ist, Körper und Seele abstrahiert von ihrer besonderen sittlich-religiösen Beschaffenheit. Daß der Mensch,etwas denken, reden, handeln, wirken kann', gehört zu seiner von Gott geschaffenen Natur (§ 42); die sittliche Qualität dieses .etwas' aber ist accidentiell [...]. Demgemäß ist also auch die ursprüngliche bezw. die im Christenstande erlangte Gerechtigkeit ein accidentelles, nicht zu seinem Begriffe gehörendes Gut des Menschen. Die Confessoren sagen dies zwar nicht mit ausdrücklichen Worten; daß es aber in der That ihre Meinung ist, zeigen sie deutlich genug dadurch an, daß sie die ursprüngliche Gerechtigkeit als concreata bezeichnen (§. 10.27.30). Diese Auffassung steht in schärffstem Gegensatze zu dem von Luther vertretenen Interesse der christlichen Lehre, die Zugehörigkeit der sittlich-religiösen Rechtbeschaffenheit zum Begriffe des Menschen zu behaupten." Vgl. zu der Problematik, ob man den Substanz-Begriff abstrakt oder konkret fassen sollte und welche Folgen dies für die Anthropologie der lutherischen Orthodoxie hatte auch Spam, Substanz, S. 121-128; ders., Wiederkehr, S.169-176; Hägglund, De homine, S. 147-153 sowie Anm. 16 und 89; Allerdings scheint der Gegensatz zwischen einer Betrachtung in abstracto und in concreto nur in der von Spam, Substanz, ebd., erwähnten philosophischen Diskussion eine prominente Rolle gespielt zu haben. In den Dogmatiken des 17. Jahrhunderts wird er in den Artikeln über Imago Dei und Erbsünde nicht mehr erwähnt.

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nicht in letzter Konsequenz zurück zur katholischen Position, die mit der Vorstellung einer bleibenden Natur als Imago Dei arbeitete und an diese Natur, je nach Bedarf, entweder eine übernatürliche Similitudo Dei oder aber eine akzidentielle Erbsünde anhängte? Im Laufe des 17. Jahrhunderts entwickelte man für dieses Problem eine Lösung, indem man zwischen einer bleibenden „Imago Dei generalis" und einer verlorenen „Imago Dei specialis" unterschied. Die Entwicklung dieser fur die spätere Zeit so wichtigen Vorstellung werden wir in Kapitel III.2 nachzeichnen. Wichtiger und für die Diskussion der Folgezeit bestimmend wurde aber zunächst ein anderes Problem, das durch die Bestimmungen der Konkordienformel aufgeworfen worden war. Ihm wollen wir uns im Folgenden ausfuhrlicher widmen.

B) Die Kritik

Bellarmins

Diese zweite Frage, die durch die Konkordienformel provoziert wurde, ergibt sich aus heutiger Sicht ganz logisch aus der in ihr verwendeten philosophischen Terminologie — den Vätern der Konkordienformel war dieses Problem bei der Abfassung jedoch offensichtlich nicht aufgefallen: gegen Flacius hielt man an der Akzidentialität der Imago Dei und der Erbsünde fest. Wenn nun jedoch mit Luther gegen die Katholiken dennoch auch die Natürlichkeit der Imago Dei behauptet werden sollte, „natura" andererseits aber nach den Sprachregelungen der Schulmetaphysik wiederum mit „substantia" identisch war, mußte man dann nicht doch wieder von einer gewissen Substantialität der Imago Dei und der Erbsünde sprechen? Wie wollte man die Natürlichkeit der Imago Dei behaupten, wenn man den mit ihr identischen Begriff der Substantialität im Rahmen des Flacianischen Streites abgelehnt hatte? Schon zu Anfang der 1570er Jahre war man auf dieses sich aus der Ablehnung des Flacianismus ergebende Folgeproblem gestoßen. Es scheint Nikolaus Selnekker gewesen zu sein, der in seiner „Institutio" von 1573 als erster entdeckte, daß die Frage nach der Natürlichkeit und die flacianische Behauptung der Substantialität von Imago Dei und Erbsünde zwei Seiten derselben Medaille waren.23

23 Seinecker, Institutio, S. 3 1 0 : „In scholis disputatili-, an ilia iustitia fuerit, ut ipse loquuntur, connaturales, id est, vel ipsa substantia & essentia hominis, vel saltern natura, & proprietas essentiae. An vero fuerit tantum ornatus quidam, & donum extra Naturam, & accidens separabile, quod praeter subiecti & naturae corruptionem & violationem adesse vel abesse potuerit. D e hac disputatione hodie etiam variae paßim audiuntur, & saepe insulsae & rudes vociferationes." Deutlich stehen hier im Hintergrund die katholische Theologie („tantum ornatus quidam, & donum extra Naturam") und der Flacianismus („ipsa substantia & essentia hominis"). Eine dritte Position, ein Mittelweg zwischen beiden Extremen, ist mit dem Ausdruck „natura, & proprietas essentiae" angedeutet. Tatsächlich sollte es dieser Mittelweg sein, den die Anthropologie des Luthertums im 17. Jahrhundert zu gehen versuchte. Vgl. dazu Kapitel III,2.A; zu Seinecker vgl. Jannasch, Seinecker; B B K L IX, 1 3 7 6 - 7 9 ; R E XVIII, 184-191.

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Seinecker selbst war jedoch nicht in der Lage, das sich ergebende Problem zu lösen, weil ihm offensichtlich nicht bewußt war, daß es sich nicht um ein genuin theologisches Problem, sondern um ein Problem der verwendeten philosophischen Terminologie handelte. 24 Zur Vermeidung des Widerspruchs, der sich aus dem gleichzeitigen Festhalten an der Akzidentialität und der Natürlichkeit von Imago Dei und Erbsünde ergab, hätte man eines flexiblen, ausdifferenzierten „natura"-Begriffes bedurft, mittels dessen man sozusagen zwischen einer essentiellen und einer nicht-essentiellen Natürlichkeit unterscheiden konnte. 25 Seinecker konnte nicht wissen, daß gerade im Jahr vor Erscheinen seiner „Institutio" sich an der Universität Löwen ein noch unbekannter, junger Jesuit daran gemacht hatte, einen solchen differenzierten „naturale"-Begriff zu entwikkeln. 26 Gegen den Usus der an sich recht scholastikfeindlich gesinnten Fakultät hatte Robert Bellarmin ( 1 5 4 2 - 1 6 2 1 ) begonnen, in einer Vorlesung im Sommersemester die theologische Summe des Thomas von Aquin zu kommentieren. 27

a) Der Bajanistische Streit Die Behandlung der Summa durch Bellarmin muß allerdings vor dem Hintergrund des Kampfes gegen die Theologie des Michael Bajus gesehen werden, der zur gleichen Zeit an der Löwener Fakultät lehrte. 28 In seiner Schrift „de prima hominis iustitia" vom 1564 2 9 hatte Bajus eine Urstandslehre entwickelt, die in 24 Den wenige Jahre später durch die Konkordienformel so prominent gemachten Begriff des .^Akzidenz" verwendet Seinecker in seiner „Institutio" noch nicht. Zur Rolle Selneckers in der Debatte um die Erbsündenlehre der Formula Concordiae vgl. Sparn, Substanz, S. 116 ff. und Ebel, Herkunft, S. 271. Das Problem von Selneckers eigener Bestimmung ist, daß sich „natura" und „proprietas" in seiner Definition de facto gegenseitig ausschließen: während nämlich eine Eigenschaft eindeutig ein „Akzidenz" ist, wie es die Konkordienformel wenige Jahre später voraussetzt, ist „natura" qua seiner philosophischen Bedeutung identisch mit „substantia". Statt eine genaue Klärung des Begriffes „natura" bzw. „naturale" und „connaturalis" vorzunehmen, versteht Seinecker, Institutio, S. 313, die Urstandsgerechtigkeit als „totius naturae & eßentiae humanae, speciei, & individuorum pulcerimus ornatus, non ab extra, sed vere internus et externus & donum Dei", eine Formulierung die der katholischen Theologie mit ihrer Auffassung der Justitia Originalis als „ornatus" und „donum" noch sehr nahe kommt. Die entscheidende Differenz für Seinecker ist dabei das eher verunklarende „vere internus et externus", das als dem katholischen „ab extra" entgegengesetzt verstanden wird. Der weiterhin klärungsbedürftige und nach Selneckers eigener Aussage ja auch umstrittene Begriff „connaturalis" wird von ihm selbst nicht noch einmal aufgegriffen. 25 Das zeigt sich auch sehr gut an der Debatte zwischen Seinecker und Christoph Irenäus von 1583, in der Seinecker noch ganz traditionell Essenz, Wesen und Substanz miteinander identifiziert. Vgl. dazu Sparn, Substanz, S. 121f. und 125. Eben diesen differenzierten Begriff brauchte man später, um mit ihm zwischen einer unverlierbaren, essentiellen, natürlichen „imago Dei generalis" und einer verlierbaren, nichtessentiellen aber trotzdem ebenfalls natürlichen „imago Dei specialis" unterscheiden zu können. Vgl. dazu Kapitel 111,2. 26 Zum Folgenden vgl. vor allem Biersack, Initia. 27 Vgl. ebd., S. 52-54 und 67; zu Bellarmin insgesamt vgl. Biersack, Initia; Galleotti, Bellarmini; Kantzenbach, Bellarmini; BBKL I, 473f.; RE II, 549-555. 28 Zu Bajus vgl. Linsemann, Baius; Jansens, Baius; Kaiser, Natur; Martin-Palma, Gnadenlehre, S. 7 6 - 8 0 ; Köster, Reformation, S. 102-104; Grossi, Bajus; die klassische Darstellung ist DuChesne, Histoire.

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weiten Teilen reformatorischen Ansichten entsprach. Wie die lutherischen Theologen hatte Bajus behauptet, der Mensch vor dem Sündenfall müsse die Mittel zur Erreichung des ihm inhärenten Zieles der Seligkeit als „natürliche" besessen haben. 30 Wie Wendt bemerkt, sind seine Ausführungen denen der lutherischen Theologen vom Systematischen her „insofern noch überlegen, weil Bajus einerseits das volle Bewußtsein hat, daß seine Anschauung nicht eine Neuerung sei, sondern gerade der Ueberlieferung der Väter, besonders Augustins entspreche [...], und als er andererseits die Schwierigkeit empfindet, welche in der Anwendung des Wortes,Natur' liegt und dieser Schwierigkeit durch genaue Definitionen abzuhelfen sucht." 31 Bajus entwickelte eine ausgefeilte Terminologie des Begriffes „natürlich", um die Folgeprobleme, die sich, wie wir bei Flacius sahen, aus seiner Verwendung in der Theologie ergeben konnten, zu vermeiden. Bajus geht davon aus, daß man einen Mittelweg gehen muß, um sich sowohl gegen den Substanzbegriff als auch gegen den Begriff des „Ubernatürlichen" abzugrenzen. Was die „Substanz" angeht, spottet Bajus, es werde doch niemand behaupten wollen, Adams urständliche Gerechtigkeit habe „in seiner Seele und seinem Körper ihre bewirkende Ursache gehabt", 32 substantiell könne die Justitia Originalis also keineswegs gewesen sein. Übernatürlich könne sie aber ebenfalls nicht gewesen sein, denn übernatürlich sei das, „was abweichend von diesem gewöhnlichen Naturverlaufe in wunderbarer Weise durch Gott bewirkt" 33 wird. Adams urständliche Gerechtigkeit habe aber von Anfang an zu seiner geschöpflichen Konstitution gehört und sei eben nicht „abweichend von diesem gewöhnlichen Naturverlaufe in wunderbarerWeise durch Gott bewirkt" worden. Sie könne also ebensowenig „übernatürlich" genannt werden, wie sie „substantiell" gewesen sei. Es komme nun deshalb darauf an, einen nicht-substantialistischen Begriff von „natürlich" zu entwickeln. In Bezug auf die urständliche Verfaßtheit Adams kommt Bajus daher zu dem Schluß: „.Natürlich' heißt etwas nicht mit R ü c k s i c h t a u f seinen G r u n d u n d U r s p r u n g , s o n d e r n sofern es bei d e m D i n g e , an welchem es ist, zur natürlichen Integrität gehört u n d seine Abwesenheit ein U e b e l ist, m ö g e es n u n aus den E l e m e n t e n dieses D i n g e s als bewirkenden U r s a c h e n hervorgegangen sein, oder m ö g e es anderwärts h e r g e k o m m e n sein. [...] Vgl. Köster, Reformation, S. 103. Zu dieser fur die gesamte Anthropologie der katholischen Theologie so wichtigen Frage nach dem „desiderium naturale" bzw. dem „supernaturale" vgl. die vorzügliche Studie von de Lubac, Freiheit, S. 152-310. De Lubac zeigt ausführlicher, als es an dieser Stelle fiir uns geboten ist, die komplexen Ursprünge des „supernaturale"-Begriffes und der Rezeption des aristotelischen „desiderium"-Begriffes. 31 Wendt, Lehre, S. 148; vgl. dazu auch Köster, Reformation, S. 103. 32 Übersetzung nach Wendt, ebd., S. 150; das Original wird zitiert bei Köster, Reformation, S. 103, Anm. 44: „obiicitur, naturalis qualitas dicitur quae ex naturae principiis oritur; sed nemo dixerit Adae iustitiam, quae tantae excellentiae fuit ut eum divinae naturae consortem faceret, ex anima eius et corpore naturaliter tanquam ex efficiente causa exortam: igitur non est illï dicenda fuisse naturalis, quasi ex naturae viribus orta, sed supernaturalis et divino muñere data." 33 Ubersetzung nach Wendt, Lehre, S. 150. 29 30

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Die katholische Kritik und die Calixtinische Anthropologie 1580-1680 Ob deshalb die Gerechtigkeit des ersten Menschen aus den Elementen seiner Natur als bewirkenden Ursachen entsprungen war, oder ob diese ihm unmittelbar von Gott verliehen war: sie war doch für ihn natürlich, weil sie so zu seiner Integrität gehörte, daß diese letztere ohne sie nicht unversehrt bleiben konnte." 34

Mit diesem ausdifferenzierten Begriff von „natürlich" war es Bajus möglich, einen mittleren Weg zwischen Flacianismus und der katholischen Lehre von der „Übernatürlichkeit" der Urstandsgnade zu gehen - und dies war dann auch der Grund, warum Bajus sich mit seinen Anschauungen in der katholischen Theologie nicht durchsetzen konnte: 1567 und erneut 1569/70 wurde er von Rom wegen allzu großer Nähe zum Luthertum verurteilt. Im Sommer 1572 nun setzte sich Bajus' Fakultätskollege Robert Bellarmin im Rahmen seiner Thomasvorlesung bei der Behandlung von S.Th. I q. 95 („De gratia primi hominis") mit der durch Bajus aufgeworfenen Frage auseinander, „Ob die Gerechtigkeit und die Gnade des ersten Menschen .natürlich' oder übernatürlich' zu nennen ist?"35 Während Bajus sich auf Augustin gestützt hatte, beruft sich Bellarmin auf thomistische 36 Traditionen: seine Antwort lautet deshalb, daß sie selbstverständlich „übernatürlich" zu nennen sei.37 Entscheidend ftir Bellarmins Argumentation ist die Art und Weise, wie er das zur Diskussion stehende Problem genau bestimmt. Es gibt nämlich, nach Bellarmin, durchaus verschiedene Möglichkeiten, den Begriff „natürlich" zu definieren: „natürlich" kann erstens das sein, was „von Geburt an ist", zweitens das, was „die Natur vollendet, d.h. was der Natur gemäß ist und ihr zukommt" und drittens das, was „notwendig ist, um irgendeine Natur zu vervollkommnen, dergestalt, daß ohne es die Natur unvollkommen bleiben würde, wie Hand und Augen dem Menschen natürlich sind".38 Viertens wird „natürlich" das genannt, was „entwe34

Übersetzung nach Wendt, Lehre, S. 150f.; das Original wird zitiert bei Köster, Reformation, S. 103, Anm. 46: „Responsio: Naturale non causae aut originis suae comparatione dicitur, sed rei cui sic inest, ut ad naturalem eius integritatem pertineat, sitque eius absentia malum. ... Quapropter sive est naturae principiis efficientibus causis orta fuerit primi hominis iustitia, sive a Deo immediate illi collata, (sicut plerique de anima rationali tradunt, quam tarnen nemo supernaturalem esse arbitratur) adhuc tarnen illi naturalis fuit, quia sic ad eius integritatem pertinebat, ut sine ea non possit salva consistere, miseriaque carere." 35 Biersack, Initia, S. 464: „Utrum iustitia et gratia primi hominis dicenda sit naturalis an supernaturalis." 36 Vgl. de Lubac, Freiheit, S. 234; Wendt, Lehre, S. 152, sieht bei Bellarmin eine „thomistischscotistische" Tradition. 37 Zur Begründung siehe Biersack, Initia, S. 363fF. 38 Ebd., S. 464: „Cum .naturale' pluribus modis dicitur, gratia data primo homini non est naturalis secundum eum modum, quo naturale opponitur supernaturali; ergo gratia Dei dicenda simpliciter supernaturalis, licet fortasse aliquo modo possit dici naturalis. Probatur antecedens: Primo modo aliquid dicitur naturale, quod est a nativitate; sie Eph. 2,3: Omnes naturafilii irae, etc. Hoc modo gratia primo homini fuit naturalis. Sed hic modus non est ad propositum, quia hoc naturale non opponitur supernaturali, sed ei, quod habetur post nativitatem. Secundo modo dicitur naturale id, quod perficit naturam, sc. quod est secundum naturam et convenit naturae; et hoc modo non solum primo homini, sed etiam nobis omnibus gratia est naturalis, nec hic modus est ad propositum, nam hoc naturale non opponitur supernaturali, sed ei quod est contra naturam. Tertio modo dicitur naturale id, quod

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der aus der Natur hervorgeht (wie die Leidenschaften) oder (nur mit allgemeinem Zutun Gottes) aus Kräften allein der Natur zustande kommen kann, wie die natürlichen Tätigkeiten als da sind Umhergehen, Schreiben usw." 39 Wenn Bajus nun die „Natürlichkeit" der Urstandsgerechtigkeit behaupten wolle, dürfe er nur die vierte Definition von „natürlich" verwenden, denn da er die „Natürlichkeit" der Urstandsgerechtigkeit im Gegensatz zur traditionellen Anschauung von ihrer „Ubernatürlichkeit" behaupten wolle, müsse er selbstverständlich jenen Natürlichkeitsbegriff wählen, der dem Begriff „übernatürlich" entgegengesetzt ist. Da „übernatürlich" nun das ist, „was nicht aus den K r ä f t e n des M e n s c h e n allein geschieht bzw. was d u r c h G o t t allein geschieht oder was nicht o h n e besonderes Z u t u n u n d H i l f e G o t t e s geschehen kann, so wie es schlichtweg übernatürlich ist, zu glauben u n d vertrauen," 4 0

muß bei Bajus mit „natürlich" gemeint sein, „[...] was entweder aus der N a t u r hervorgeht (wie die Leidenschaften) oder (nur mit allgemeinem Z u t u n G o t t e s ) aus K r ä f t e n allein der N a t u r zustande k o m m e n kann, wie die natürlichen T ä t i g k e i t e n als d a sind U m h e r g e h e n , Schreiben usw. U n d dieser B e g r i f f ist der direkte G e g e n b e g r i f f zu ,übernatürlich'. D e n n ,übernatürlich' wird genannt, was nicht aus d e n K r ä f t e n des M e n s c h e n allein geschieht bzw. was d u r c h G o t t allein geschieht oder was nicht o h n e besonderes Z u t u n u n d H i l f e G o t t e s geschehen kann, so wie es schlichtweg übernatürlich ist, zu glauben u n d vertrauen." 4 1

Für die zur Debatte stehende Frage kommt also nur die vierte Definition in Frage. Mit seinem Pochen auf dieser strengsten aller vier Definitionen hat Bellarmin den status controversiae zwischen Bajus und der rechten katholischen Lehre so bestimmt, daß es nur noch um die Alternative gehen kann, die Urstandsgerechtigkeit entweder als „übernatürlich" zu verstehen, oder aber zu behaupten, daß sie sich „aus der Natur von selbst ergibt, (wie die Leidenschaften) oder (nur mit allgemeinem Zutun Gottes) aus Kräften allein der Natur zustande kommen kann". Dabei hatte Bajus, wie wir gesehen hatten, noch selbst gespottet, es werde doch niemand behaupten wollen, Adams urständliche Gerechtigkeit habe „in necessarium est ad aliquam naturam perficiendam, ita ut sine eo natura dicitur imperfecta remanere sicut manus et oculi sunt naturales homini. Hoc modo gratia non est naturalis, ut postea dicemus. Sed ñeque iste modus est ad propositum, quia hoc naturale modo etiam non opponitur supernaturali, sed ei, quod extra naturam." 39 Ebd.: „Quarto modo dicitur naturale maxime proprie id, quod vel fluit a natura, quales sunt propriae passiones, vel fieri potest viribus naturae cum solo generali concursu Dei, ut sunt operationes naturales ut ambulare, scribere etc." 40 Ebd., S. 464f.: „Nam supernaturale dicitur, quod non fit solis viribus naturae vel fit a Deo solo vel non potest fieri a natura sine speciali concursu et Auxilio Dei, ut credere et confidere simpliciter est supernaturale." 41 Ebd., S. 464f.: „Quarto modo dicitur naturale maxime proprie id, quod vel fluit a natura, quales sunt propriae passiones, vel fieri potest viribus naturae cum solo generali concursu Dei, ut sunt operationes naturales ut ambulare, scribere etc. Et hoc directe opponitur supernaturali. Nam supernaturale dicitur, quod non fit solis viribus naturae vel fit a Deo solo vel non potest fieri a natura sine speciali concursu et Auxilio Dei, ut credere et confidere simpliciter est supernaturale."

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seiner Seele und seinem Körper ihre bewirkende Ursache gehabt". 42 Er hatte ein substantialistisches Verständnis der Urstandsgerechtigkeit ja ebenso abgelehnt wie die Theorie von ihrer Ubernatürlichkeit. Indem Bellarmin nun aber bestimmt, welcher Natürlichkeitsbegriff dem Ubernatürlichkeitsbegriff entgegengesetzt ist, kann er Bajus vorschreiben, welchen Begriff er zu benutzen hätte. Nach Bellarmin erkauft Bajus seinen theologischen Mittelweg zwischen substantialistischem und supranaturalistischem Urstandsverständnis also mit unsauberer Terminologie. Argumentiere er philosophisch korrekt, zeige sich jedoch bald die Unmöglichkeit und Unsinnigkeit von Bajus' Thesen. 43 b) Die Kontroverse mit dem Luthertum Diese Begriffsbestimmungen zu einer innerkatholischen Kontroverse wären ohne Wirkung auf die protestantische Theologie geblieben, hätte Bellarmin diese Passage der unveröffentlicht gebliebenen Löwener Vorlesungen nicht Jahre später fast wortwörtlich in den 1593 erschienenen dritten 44 Band seiner berühmten „Disputationes de controversiis christianae fidei adversus huius temporis haereticos" aufgenommen, ein Werk, von dem schon der erste Band 1588 auf der Frankfurter Buchmesse schlagartig ein Bestseller geworden war,45 ein Buch, das innerhalb weniger Jahrzehnte über zweihundert Gegenschriften auf protestantischer Seite provozierte 46 und bis ins 20. Jh. der Klassiker der katholischen Kontroverstheologie blieb. Im ersten Buch des dritten Bandes seiner Disputationes, das ebenso wie seine Löwener Vorlesung „De gratia primi hominis" heißt, setzt sich Bellarmin mit der lutherischen Urstandslehre auseinander. Zur Widerlegung der lutherischen These von der Natürlichkeit der Justitia Originalis bzw. der Imago Dei greift Bellarmin auf die Argumente zurück, die er seinerzeit gegen Bajus entwickelt hatte. Wieder 42

Vgl. Anm. 32. Der das Problem mit allem erdenklichen Scharfsinn traktierende Wendt, Lehre, S. 154ff., fragt sich, ob die Differenz zwischen Bajus und Bellarmin so gesehen nicht doch nur ein Mißverständnis gewesen sei: denn wenn Bajus die Natürlichkeit der Urstandsgerechtigkeit doch ausschließlich nichtessentialistisch verstanden habe und Bellarmin eine solche Verwendung des Begriffes sogar zugelassen habe (auch wenn er dann die Ubernatürlichkeit propagiert habe), hätten sie sich doch beide eigentlich auf eine solche Defintion einigen können müssen. Doch Wendt, ebd., gibt die Antwort selbst: „Einerseits nämlich ist zu beachten, daß dasjenige, was nach Baius deshalb als naturale zu bezeichnen ist, weil es zur integritas naturalis des Menschen gehört [...] von Bellarmin in die Kategorie dessen gerechnet sein würde, ,quod aut est pars naturae aut fluit a principiis naturae', sofern es eben zu den artes naturae gehörig sei, daß es von ihm aber nicht in die Kategorie dessen gerechnet sein würde, ,quod est naturae consentaneum quodque eam non destruit, sed ornat ac perficit'; denn hierunter versteht er [sc. Bellarmin, A.S.], wie seine angefügte Erläuterung beweist, trotz des Wortes ,perficit' nicht dasjenige, was ein Ding seinem Begriffe entsprechend macht und insofern zu seiner Natur paßt, sondern nur das, was, wenn es auch dem Begriffe dieses Dinges an sich noch so fremd ist, doch dasselbe nicht zerstört, sondern verziert und insofern zu seiner Vervollkommnung dient. [...] Der principielle Gegensatz also bleibt unvermindert bestehen [...]." 43

44 45 46

Vgl. Biersack, Initia, S. 72. Vgl. Galleoti, Bellarmini, S. 526. Ebd.

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listet er die vier verschiedenen Definitionen von „natürlich" auf. D i e entscheidende vierte Definition faßt er diesmal noch schärfer und klarer als seinerzeit im Bajanistischen Streit: „Viertens: Natürlich wird g e n a n n t , was entweder Teil der N a t u r ist, oder aus den Prinzipien der N a t u r hervorgeht. A u f g r u n d dieser D e f i n i t i o n werden K ö r p e r u n d Seele, auch die Fähigkeiten, bald zu fühlen, bald zu erkennen u n d die Tätigkeiten, die a u f g r u n d derselben Fähigkeiten a u s g e ü b t werden, .naturalia' g e n a n n t . " 4 7

U n d behauptet sogleich: „ N u n b e h a u p t e n auch die G e g n e r [sc. die Lutheraner, A . S . ] , daß jene Rechtschaffenheit, in welcher A d a m geschaffen wurde, i h m a u f jene letzte Art u n d Weise .natürlich' gewesen sei [...]." 4 8

Das aber hieße, mit Flacius die Substantialität von Imago Dei und Erbsünde zu behaupten! Bellarmin stellt die entscheidende Frage: wie können die Lutheraner konsequent die Natürlichkeit der Imago Dei behaupten, ohne gleichzeitig mit Flacius auch ihre Substantialität zu behaupten? Er stellt seinen Gegner damit vor die Alternative: häretischer Flacianismus (der fur Bellarmin nichts anderes ist als eine „absurdissima haeresis" 49 ) oder Rückkehr zur katholischen Lehre von der Ubernatürlichkeit der Imago Dei! Alles hängt für Bellarmin nun davon ab, nachzuweisen, daß Luther selbst die „Natürlichkeit" der Imago Dei tatsächlich „hoc ultimo m o d o " verstanden habe und Flacius demnach der eigentliche theologische Sachwalter des Reformators war: 50 „ D i e s e seine Lehre b e m ü h t e sich der Illyrer mit vielen A r g u m e n t e n zu stützen, von denen die einen aus der Schrift, die anderen aus der Vernunft abgeleitet werden. W i r werden sie weiter u n t e n widerlegen. A n d e r e stützen sich a u f verschiedene Z e u g n i s s e M a r t i n L u thers, die zu erklären wir C h e m n i t z u n d W i g a n d , H e s h u s e n u n d M ö r l i n überlassen. D i e s e vier lutherischen T h e o l o g e n n ä m l i c h haben gegen d e n Illyrer geschrieben, o b w o h l i m übrigen J o h a n n W i g a n d ein Kollege desselben Illyrers bei der A b f a s s u n g der ,Zentu-

47 Bellarmin, De Gratia, S. 24f.: „Quarto: Naturale vocatur, quod aut est pars naturae, aut fluit a principiis naturae. Q u a significatione corpus et animus, facultates quoque tum sentiendi, tum intelligendi, et operationes, quae ab eisdem facultatibus exercentur, naturalia esse dicuntur. Atque haec est significano de qua hoc loco proprie disputamus, et naturali, hoc modo considerato, valde proprie opponitur supernaturale." 48 Ebd.: „Jam igitur adversarii censent, rectitudinem illam in qua creatus est Adam fuisse ìliï naturalem hoc ultimo modo, nimirum quod fuerit velut quaedam sanitas debita naturae pene constituía, idest, non corrupta." Das gewählte Bild erinnert tatsächlich an Luthers Wortwahl, der die Erbsünde ja ebenfalls als Krankheit bezeichnet hatte; vgl. Anm. 12. 49 Bellarmin, De Amissione, S. 182. Die Argumente, warum auch Flacius' Lehre bei aller Konsequenz keine sinnvolle Lösung der Probleme der lutherischen Urstandslehre sein könne, sind bei Bellarmin übrigens im großen und ganzen dieselben, wie sie auch die F C formuliert hatte. Vgl. ebd., S. 186-196. 50 Bellarmin, De Gratia, S. 23f.: „Propositionem primam, secundam et tertiam, quae erat adversus Pelagianos [...] probavimus. Nunc postrema contra Lutheranos asserenda et confirmanda est. Quarta igitur propositio haec esse potest: Rectitudo illa, cum qua Adam creatus fuit, et sine qua post ejus lapsum homines omnes nascuntur, donum supernaturale fuit."

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Die katholische Kritik und die Calixtinische Anthropologie 1580-1680 rien' war. Und es ist wohl so, daß, wenn wir die Schriften und Lehren Luthers durchforschen und uns, wie der Illyrer fordert, aus ihnen ein Urteil zur vorliegenden Kontroverse bilden wollten, nicht jene vier Magister, sondern allein der Illyrer den Sieg davontragen würde. Uberaus deutlich nämlich zeigt Martin Luther ja in seinem Genesiskommentar zu Kap. 3 (wenn er die Worte ,Da wurden beider Augen aufgetan' auslegt), daß die Erbsünde sich auf die Substanz des Menschen bezieht: ,Siehe', sagt er, ,was aus dieser Lehre folgt, wenn wir behaupten, daß die Justitia Originalis nicht natürlich war, sondern nur eine hinzugefügte Gabe, etwas Uberflüssiges. Oder folgt etwa nicht, wenn Du so behauptest, die Gerechtigkeit sei nicht das Wesen des Menschen gewesen, daß auch die Sünde, die an ihre Stelle trat, nicht das Wesen des Menschen gewesen sei?' Diese Worte Luthers geben ausreichend deutlich dem Illyrer recht und rechtfertigen nicht die Bemerkungen jener, die sie in anderem Sinne zu verdrehen suchen."51

Bellarmins Argumentation läuft also darauf hinaus: wie man es auch zu drehen und zu wenden versucht, die Urstandslehre der protestantischen Theologie ist unhaltbar. Entweder verdammte man Flacius (wie es die Väter der Konkordienformel getan hatten!) — und verriet damit den durch Luther vorgezeichneten Weg. Oder man wich nicht von Luthers Weg ab — und gelangte dann konsequenterweise zu den absurden Schlußfolgerungen, die Flacius gezogen hatte. Der einzige Ausweg konnte nach Bellarmin nur die Rückkehr zur katholischen Anthropologie sein - mit all ihren Konsequenzen für die Rechtfertigungslehre! c) Bellarmins Erbsündenlehre

Es ist zum besseren Verständnis der nachfolgenden, durch Bellarmins Anfragen ausgelösten innerprotestantischen Diskussionen notwendig, auch einen kurzen Blick auf seine positiven Aussagen zu Imago Dei und Erbsünde zu werfen. Bellarmin schließt sich, wie gesehen, der katholischen Tradition an, die zwischen einer natürlichen „Imago Dei" und einer übernatürlichen „similitudo Dei" als der Vervollkommung der natürlichen Imago Dei unterscheidet. 52 Diese über-

51 Bellarmin, De Amissione, S. 182f.: „ H a n c suam sententiam plurirais argumentis Illyricus confirmare nititur q u o r u m alia d u c u n t u r a scriptura et ratione, quae nos paulo post suo loco refellemus; alia p e t u n t u r ex variis Martini Lutheri testimoniis, quae nos Kemnitio et W i g h a n d o , necnon Heshusio et Merlino enodanda relinquimus. Scripserunt enim adversus Illyricum quatuor isti theologi Lutherani, quamvis alioqui Joannes W i g h a n d u s ejusdem Illyrici collega fuerit in centuriis conscribendis. Et fortasse, si Lutheri scripta et sententias scrutari vellemus, et ex iis, ut Illyricus postulat, de praesenti controversia judicium faceremus, non quatuor illi magistri, sed unus Illyricus victoriam reportaret. Certe enim Martinus Lutherus in c o m m e n t , cap. 3. lib. Genes, explicans illa verba: Tune aperti sunt oculi amborum, non obscure signifìcat, peccacum originis ad substantiam hominis pertinere: Vide, inquit, quid sequatur ex illa sententia, si statuamus justítiam originalem non fuisse naturae, sed donum quoddam superfluum, superadditum. An non sicut ponis justitiam non fuisse de essentia hominis: ita enim sequetur, peccatum quod successit, non esse de essentia hominis? Haec Lutheri verba satis aperto Illyrico favent, nec satisfaciunt glossae q u o r u m d a m , qui aliorsum ea detorquere conantur." Z u m Originalwortlaut Luthers nach der W A vgl. A n m . 9. 52 Bellarmin, D e Amissione, S. 189: „Neque idem sunt imago Dei, et justitia originalis, sed justitia originalis o r n a m e n t u m q u o d d a m et perfectio imaginis Dei [...]."

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natürliche Gnadengabe der Justitia Originalis wurde der menschlichen Natur dergestalt verliehen, daß bei ihrem Verlust der Mensch sich im Zustand der „pura natura" 53 befand, so als ob er die übernatürliche Gnade nie besessen habe: „Deshalb unterscheidet sich der Zustand des Menschen nach dem Sündenfall Adams nicht großartig von dem reinen Naturzustand, sondern nur so, wie ein Entkleideter sich von einem Nackten unterscheidet; auch ist die menschliche Natur nicht schlechter (wenn man einmal von der Erbschuld absieht) und leidet nicht mehr unter Unwissenheit und Gebrechlichkeit als im reinen Naturzustand." 54

Der Sündenfall zerstört also nicht die natürliche Imago, sondern stellt nur den Verlust der übernatürlichen Gnade dar.55 Dann aber stellt sich die Frage, woher „Unwissenheit" und „Gebrechlichkeit" im reinen Naturzustand bzw. postlapsarischen Zustand überhaupt kommen. Bellarmins Antwort markiert, neben der Frage der Natürlichkeit der Urstandsgerechtigkeit, den zweiten großen Streitpunkt in der Erbsündenlehre zwischen Protestanten und Katholiken.56 Die in der Natur befindlichen Gebrechen, sagt 53 Zur komplexen Entstehungs- und Wirkungsgeschichte des Begriffes der „pura natura" im Katholizismus vgl. de Lubac, Freiheit, S. 157-163; zusammenfassend und im Blick auf die Anthropologie der Frühen Neuzeit insgesamt vgl. Spaemann, Natur, S. 959-965; ders., Naturbegriff, S. 63-66. 54 Bellarmin, De Gratia, S. 24: „Quare non magis differì status hominis post lapsum Adae a statu ejusdem in puris naturalibus, quam différât spoliatus a nudo, ñeque deterior est humana natura, si culpam originalem detrahas, neque magis ignorantia et infirmitate laborat, quam esset et laboraret in puris naturalibus condita." 55 Vgl. Bellarmin, De Amissione, S. 188f.: „Haec autem renovatio mentis humanae, quae est imago Dei, significat imaginem illam obscuratam fuisse, non deletam. Quod ut facilius intelligatur, sciendum est, imaginem Dei Tribus modis consideran posse, secundum naturarti, secundum habitum, secundum actum, ex quibus modis secundus et tertius nihil sunt aliud, nisi perfectiones imaginis primo modo consideratae. Nam quemadmodum imago pietà, si solum sit lineis adumbrata, vere erit imago, sed rudis; si addantur colores, reddetur perfectior; si exprimantur venae, musculi et minutissimae quaeque partes, perfectissima judicabitur. Sic etiam ipsa substantia animae rationalis imago Dei est, sed addito habitu gratiae et sapientiae perficitur et ornatur: cum vero actu Deum cognoscit et diligit, perfectissima et ornatissima est. Ac peccatum quidem substantiam imaginis de medio tollere non potuit, sustulit tamen perfectionem illam, et eximiam similitudinem, quae in habitu et actu cognitionis et amoris posita erat: Itaque imago non periit, sed obcscurata ac deformata est, quasi coloribus extinctis." 56 Die in Bellarmins Disputationes vertretenen Ansichten zur Konkupiszenz wurden von den Protestanten sofort heftig bekämpft. Nachdem das für die Formierung des innerlutherischen Diskurses zur Anthropologie wichtigere Problem der Natürlichkeit der Imago Dei einmal gelöst war, bildete die Frage nach der Bewertung der Konkupiszenz den bleibenden Hauptstreitpunkt zwischen Lutheranern und Katholiken in Fragen der Erbsündenlehre, bei dem es keinerlei Annäherung gab und die Fronten im ganzen 17. Jahrhundert hart blieben. Darin stimmen sogar die unversöhnlichen Gegner Bellarmin und Gerhard überein. So schreibt Bellarmin, De Amissione, S. 193: „Sed tota controversia est, utrum corruptio naturae, ac praesertim concupiscentia per se, et ex natura sua, qualis invenitur etiam in baptizatis et justificatis, sit proprie peccatum originis. Id enim adversarii contendunt: Catholici autem negant"; Gerhard, Confessio, S. 1400, stimmt zu, die einzige strittige Frage sei, „sive concupiscentia carnali, quae adversus Spiritum & legem Dei concupiscit, ac scilicet illa concupiscentia prava, quae post Baptismum in renatis adhuc reliqua est, hoc est, tum concupiscentia habitualiter inhaerens, tum primi ejus motus sint ex se&sua Natura remoto gratiae umbráculo peccatum, hoc est quoddam malum culpae pugnans cum lege divina, etiamsi ex accidenti, videlicet propter Christum renati non imputetur, hoc est, non constituât eos actu reos coram Deo & morti aeternae obnoxios? Affirmamus nos, Pontifìcii

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Die katholische Kritik und die Calixtinische Anthropologie 1580-1680

Bellarmin, gehen auf die Materialität und damit die Beschränkung der menschlichen Natur zurück. 57 Die lutherische Kritik an der Bellarminschen Erbsündenlehre warf ihm deshalb vor, er mache wie die Calvinisten Gott, den Schöpfer der Materie, somit indirekt zum Urheber der Sünde in der menschlichen Natur. 58 Doch diese Kritik ging geradewegs am Hauptargument der katholischen Seite vorbei. Die Confessio Augustana nämlich verstand im Anschluß an Augustinus die Erbsünde als widernatürliche „Konkupiszenz". Für die katholische Theologie jedoch konnte die Konkupiszenz aus verschiedenen Gründen nicht mit der Erbsünde identisch sein: zunächst leuchtete es der katholischen Theologie nicht ein, wie die nach der Taufe im Menschen noch verbliebene Konkupiszenz Erbsünde sein könne, wenn diese durch die Taufe doch gerade weggenommen würde, jene aber bekanntlich bleibe.59 Aus der These, daß die Mängel der menschlichen Natur nach dem Sündenfall also identisch waren mit denen vor dem Sündenfall, zog die katholische Seite den Schluß, daß diese Mängel nicht als Sünde anzusehen, sondern in der Materialität derselben begründet seien. Der Vorwurf der Protestanten, mit der Verankerung der Konkupiszenz in der Natur Gott selbst zum Urheber der Sünde zu machen, war also eine Übertragung des lutherischen Erbsündenbegriffes ins katholische Denksystem. Ausgehend von einem bestimmten Verständnis der Imago Dei und der Erbsünde erklärten die Katholiken die verbleibende Konkupiszenz fur natürlich und deshalb für nicht an sich sündig; die Protestanten sahen gerade in dieser sogar nach der Taufe noch bleibenden „bösen Lust" die Erbsünde in ihrer manifesten Form und ein Zeichen dafür, wie tief die menschliche Natur durch den Sündenfall verderbt war. Bellarmins Versuch einer Definition des Wesens der Erbsünde ging deshalb in eine ganz andere Richtung. 60 Er stellt sich nicht die Frage, mit welchem Wesenszug im Menschen die Erbsünde identifiziert werden muß, sondern bestimmt zunächst das Verhältnis von Erbsünde und Aktualsünden. So beginnt Bellarmin mit der These, Sünde könne nicht nur als Tat,61 sondern auch als Zustand verstanden werden. Bellarmin versteht Sünde als Zustand, als das, „weshalb die, negant." In seinem äußerst weitverbreiteten katholischen Katechismus kann Martin Becanus, C o m p e n d i u m , S. 201, das Problem 1624 auf den einfacheren N e n n e r bringen: „Duplex est controversia. U n a , quid sit peccatum originale? Adversarii docent esse concupiscentiam, quod nos negamus. Altera, an peccatum mortale & veniale ex natura sua inter se distinguantur? Adversarii negant, asserentes omnia peccata ex natura sua esse mortalia, nullum veniale. N o s contra, quaedam ex natura sua esse mortalia, quaedam venialia." Z u Becanus vgl. Liebing, Becanus; B B K L I , 442; A D B II, 199f.; N D B I, 686. 57 Vgl. Bellarmin, De Gratia, S. 24: „Et quia d o n u m illud supernaturale erat, ut statim probaturi sumus, eo remoto, natura h u m a n a sibi relicta, p u g n a m illam experiri coepit partis inferioris c u m superiore, quae naturalis futura esset, id est, ex conditione materiae secutura, nisi Deus justitiae d o n u m homini addidisset." 58 Vgl. Gerhard, Loci, Lib. I. Loc. V i l i . Cap. I, 49ff, S. 115. 55 Z u r gesamten Frage vgl. Köster, Reformation, S. 8 3 ff. 60 Sein Entwurf wirkte in der nachtridentinischen Theologie schulbildend, vgl. Gross, Geschichte, S. 134. 61 Bellarmin, De Amissione, S. 226f.; die Sünde als T a t ist eine „libera transgressio praecepti", welche Definition niemand leugnet, weil sie „perspicue est ex definitone peccati"(ebd. S. 227).

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die eine Sünde begangen haben, nach dem Begehen der Sünde von allen im eigentlichen und formalen Sinne ,Sünder genannt werden; desgleichen wird gesagt, sie ,seien in der Sünde', ,hätten eine Sünde', müßten sich ,νοη der Sünde reinigen'."62 Bellarmin will Sünde in diesem Sinne aber nicht bloß „per figuram metonymicam" verstanden wissen, sondern als „eflfectus" der vorangegangenen Tatsünde.63 Vor diesem Hintergrund ist es Bellarmin möglich, auch zu einer materialen Bestimmung der Erbsünde zu kommen.64 Die Erbsünde ist im Menschen nicht Tatsünde, denn die „libera transgressio" beging Adam allein. Die Folge der Sünde aber ist im Menschen noch erhalten im Sinne der zweiten Definition.65 Erbsünde ist bei Bellarmin daher die vererbte Sünde Adams, wobei natürlich nicht an die Vererbung der Aktualsünde Adams gedacht ist (denn diese kann als solche nicht vererbt werden66), sondern an die Vererbung des „effectus" aus dieser Aktualsünde, des sündigen Zustandes Adams in seiner „aversio" von Gott: „Insofern in Adam neben dem eigentlichen Akt der Sünde auch eine Verderbnis und Verkehrtheit des Willens aus dieser Tat zurückblieb, durch welche er eigentlich und formaliter Sünder genannt wird und ist, bis sie ihm durch Buße vergeben wird, ist auch in uns allen, sobald wir anfangen Menschen zu sein, außer der Zurechnung von Adams Ungehorsam, eine ähnliche Verderbnis und Verkehrtheit, die einem jeden anhaftet, derentwegen wir im wahren und eigentlichen Sinne ,Sünder' genannt werden, bis eine solche Ungerechtigkeit durch die Taufe vergeben wird." 67

62 Vgl. ebd.: „[...] quod qui peccatum commiserunt, dicuntur ab omnibus post actionem peccati, proprie et formaliter peccatores; item dicuntur esse in peccato, habere peccatum, mundari a peccato etc." 63 Er versteht das Bleibende der Sünde mittels des Bildes vom Mann, der sich von der Sonne abwendet (Aktualsünde) und deshalb solange im Schatten bleibt (Sünde als Zustand), bis er sich ihr wieder zuwendet. Zur weiteren Veranschaulichung bedient er sich dabei allerdings der etwas unglücklichen Metapher der Wärme, die eine Wärmequelle ausstrahlt, und der Wärme, die ein weiterer Gegenstand von dieser Wärmequelle empfängt, die auch identisch seien. 64 Bellarmin, De Amissione, S. 227: „Has varias peccato significationes in peccato actuali et personali ab omnibus agnosci, non item in originali. Sed cum originale peccatum non minus proprie, et vere sit peccatum, quam personale: nihil est cur timeamus etiam ad originale illas extendere." 65 Vgl. ebd.: „Nec est aliud haud dubio, quam inobedientia illa voluntarle ab eo commissa, per quam se, et suos posteros justitia originali spoliavit, reos mortis efficit, turpes et invisos Deo reddidit." 66 Bellarmin postuliert, daß die Zustandssünde Adams von Gott dem Menschen nicht angerechnet, sondern dieser Zustand tatsächlich real vererbt wird. Die Weitergabe der Schuld der ersten Sünde dagegen geschieht bei Bellarmin durch die imputatio, wobei diese Zurechnung allen Menschen widerfährt, weil sie selbst auch in Adam gesündigt haben, als er selbst sündigte, insofern „alle in den Lenden Adams schon existierten". Gross, Geschichte, S. 311, weist zurecht daraufhin, daß sich damit bei Bellarmin ein Widerspruch einstellt. Zum einen geht er von einer bloßen Zurechnung der Aktualsünde Adams aus, zum anderen behauptet er, die Menschen hätten in den Lenden Adams selbst auch gesündigt. Auf jeden Fall aber grenzt sich Bellarmin, De Amissione, S. 227, von der Erbsündenlehre bei Ambrosius Catharinus und Albertus Pighius ab, die behaupteten, die Erbsünde sei nicht einmal die Zurechnung der Zustandssünde Adams (geschweige denn ein aktives Sündigen in Adam), sondern nur die reine Schuldverhaftung (der Reatus) Adams, die auf seine Nachkommen vererbt wird, ohne in ihnen selbst auch reale Sünde zu sein. Zur grundsätzlichen Problematik der Imputationslehre vgl. Kapitel III.3,A der vorliegenden Arbeit. 67 Vgl. ebd.: „[QJuemadmodum in Adamo praeter actum illius peccati fuit etiam perversio

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D i e katholische Kritik u n d die Calixtinische A n t h r o p o l o g i e 1 5 8 0 - 1 6 8 0

So ergibt sich als abschließende Definition (für die er Thomas als Gewährsmann anruft): die Erbsünde als Tatsünde ist die Aktualsünde Adams, als Zustandssünde ist sie „der Mangel der Gabe der Justitia Originalis, bzw. die habituelle Abkehr und Verkehrtheit des Willens, die auch ein Makel genannt werden kann, der den Geist bei Gott verhaßt macht." 68 Entscheidend für die kontroverstheologische Debatte wurde, daß die protestantische Materialbestimmung der Erbsünde als Konkupiszenz von Bellarmin verworfen wurde. Konkupiszenz ist nicht Sünde, sondern etwas an sich Natürliches, weil sie sich auch im status purae naturae findet. Formal betrachtet ist sie nur der „effectus" der Sünde, weil nur der Mangel an übernatürlicher Urstandsgerechtigkeit diesen status purae naturae hat zum Vorschein kommen lassen.

C) Die lutherischen Antworten Bellarmin legte offen, daß mit der Verdammung der Flacianischen Lehre das ihr zugrundeliegende philosophische Problem des Verhältnisses von Natur und Substanz noch nicht gelöst war.69 Bellarmins Kritik machte der lutherischen Theologie auf einen Schlag klar, wo die Schwächen und Versäumnisse in ihrer Anthropologie lagen, und daß sie zu ihrer Lösung nicht mehr unproblematisch an die Traditionen der Reformatoren anknüpfen konnte. Wieder zeigte sich, daß es dringend notwendig war, einen nicht-essentialistischen „naturale"-Begriff in die lutherische Urstandslehre einzuführen. Dennoch unterschied sich die Lage nun deutlich von der Situation, vor die sich noch 1573 Seinecker gestellt gesehen hatte: denn mittlerweile war der von Seinecker noch erfolglos gesuchte nichtessentialistische „naturale"-Begriff ja gefunden. Bajus hatte ihn angedeutet, und Bellarmin hatte ihn klar und deutlich entwickelt — auch wenn er seinen Gebrauch nicht fur zulässig gehalten hatte. Den verschiedenen Versuchen, mit dem von Bellarmin aufgeworfenen Problem umzugehen, werden wir uns im Folgenden genauer zuwenden. Noch um 1610 finden wir bei den etablierten Theologen zwar eine geschlossene, sehr einheitliche lutherische Front gegen Bellarmin, jedoch keinen Fortschritt in der Sache. In den darauffolgenden Jahren sollte sich das rapide ändern — sobald die lutherische Theologie erkannt hatte, daß die Angriffe Bellarmins mit ihrem differenzierten

voluntatis et obliquitas ex actione relieta, per quam peccator proprie et formaliter dicebatur et erat, donec ei per poenitentiam remitteretur: ita quoque in omnibus nobis, cum primum homines esse incipimus praeter imputationem inobedientiae Adami, esse etiam similem perversionem et obliquitatem unicuique inhaerentem, per quam peccatores proprie et formaliter dicimur, donec per Baptismum talis iniquitas remittatur;" 68 Bellarmin, De Amissione, S. 228: „peccatum originale est carentia doni justitiae originalis, sive habitualis aversio, et obliquitas voluntatis, quae est macula mentem Deo invisum reddens appellari potest." 65 Das zeigt auch Sparn, Substanz, passim, ohne allerdings die Invektiven Bellarmins zu berücksichtigen.

Das lutherische Problem und die katholische Kritik

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„naturale"-Begriff selbst den Ansatzpunkt für eine Neubegründung der reformatorischen Urstandslehre boten.

a) Hutter und Gerhard Die beiden einflußreichsten lutherischen Dogmatiker um 1 6 0 0 , also in der Zeit nach Erscheinen des dritten Bandes von Bellarmins „Kontroversen", Leonhard Hutter und Johann Gerhard, erkannten, daß dessen Theologie eine genuine Bedrohung darstellte. 70 Hutter etwa schreibt: „Was uns bewegt, ist die offensichtliche Tatsache, daß jene Kontroversen über die Imago Dei und die Justitia Originalis nicht nur schon vor Zeiten von den Scholastikern angestiftet wurden, sondern sie auch heute mit großem Aufwand vom Jesuitenvolk betrieben werden."71 Und so sind die Kapitel „De Imagine Dei" und „De peccato originali" sowohl im ersten Band von Gerhards „Loci Theologici" von 1 6 1 0 als auch in Hutters „Loci communes" 72 von 1 6 1 9 explizite Auseinandersetzungen mit und Streitschriften gegen Bellarmins Kontroversen. Die Auseinandersetzung mit den „errores Jeswitorum" beherrscht die Diskussion. Allerdings waren Hutter und Gerhard interessanterweise nicht in der Lage zu erkennen, daß das eigentliche Zentrum der Auseinandersetzung mit der Urstandslehre Bellarmins im philosophisch problematischen Verständnis des Begriffes „naturale" begründet lag. Beide halten selbstverständlich mit Luther gegen Bellarmin fest, daß die Justitia Originalis nicht ein „donum superadditum" war, das dem Menschen „salvis manentibus naturalibus" genommen werden konnte, sondern dem Menschen „connaturalis" war und ihr Verlust deshalb eine unaussprechliche Verderbnis über dem Menschen brachte. 73 Gerade an dieser nicht problematisier70 Der nicht minder bedeutende Ägidius Hunnius reagiert in seiner 1596 erschienenen Disputation VI „De Imagine Dei" (unverändert abgedruckt als Disputation XVIII in ders., Opera Bd. V, S. 160-169) noch nicht auf Bellarmins Thesen, sondern arbeitet sich primär an der Flacianischen Herausforderung ab. Der katholischen Theologie antwortet er (noch) mit Luther, ebd., S. 85f.: „23. Errant vicißim quoq. Scholastici Theologii qui iustitiam originalem connaturalem fuisse negant, sed ornatum duntaxtat quidam extrinsecam & donum, quod absq. naturae depravatione colli potuerit [...]. 24. Contra quam damnatam opinionem D. Lutherus in explicatione Geneseos scribens, imaginem Dei connaturalem, adeoque de essentia hominis fuisse, pro & orthodoxo sensu confirmât. 25. Non quod ad Constitutionem essentiae hominis, vt pars, sed ad intrinsecam totius essentiae & naturae humanae perfectionem, rectitudinem, & cum Deo archetypo conformitatem fuerit requisita." Zu Luthers Aussage vgl. Anm. 12. 71 Hutter, Loci, S. 292b: „[M]ovet tarnen nos earum controversiarum evidentia, quae de Imagine DEI & Iustitia Originalis primi Hominis, non modo jam olim a Scholasticis motae fuerunt, sed etiamnum hodie a gente Jesuwitica magno conatu agitantur." Zu Hutter vgl. Lau, Hutter; BBKL II, 1227f.; RE VIII, 497-500; ADB XIII, 476-479; NDB X, 104f. 72 Hutters „Compendium" aus dem Jahre 1610 ist mehr ein Schulkatechismus, in dem die dogmatischen Detailfragen nicht verhandelt werden. Die Definitionen von Imago Dei und Erbsünde halten sich eng an die Bekenntnisschriften und Bibelverse. Vgl. zur Imago Dei Compendium, S. 84— 87, zur Erbsünde ebd., S. 98-118. 73 Hutter, Loci, S. 295-302, ebd. S. 296a: „Sed de eo proprie hoc loco controvertitur: An imago DEI sive Justitia Originalis, qualis jam supra definita est, fuerit donum aliquod Supernaturale, ita Homini collatum, ut illud, salvis manentibus naturalibus, amitti potuerit? Ad quam quaestionem nos

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Die katholische Kritik und die Calixtinische Anthropologie 1580-1680

ten Wiederholung der Position Luthers sieht man, daß Hutter und Gerhard die Bellarminsche Frage in ihrer eigentlichen Bedeutung gar nicht verstanden hatten. 74 Ein Grund dafür mag gewesen sein, daß man sich lutherischerseits der Tatsache bewußt war, daß Luthers Aussagen zur Anthropologie bei weitem nicht so eindeutig substantialistisch waren, wie Bellarmin sie dargestellt hatte, man also keineswegs in der Gefahr stand, das Erbe Luthers zu verraten, wenn man den Flacianismus verdammte und eine irgendwie bleibende Natur auch nach dem Sündenfall als Kontinuum in der Heilsgeschichte annahm, 75 auch wenn man dabei das Verhältnis dieser bleibenden, essentialistischen Natur zur Imago Dei philosophisch nicht klar ausdrücken konnte. 76 Zur Lösung des von Bellarmin aufgeworfenen Problems konnte der traditionalistische Ansatz dennoch nichts beitragen. Den wichtigsten Schritt auf dem Weg zu dieser Erkenntnis machte schon drei Jahre nach Gerhard bezeichnenderweise nicht nur kein Fachtheologe und auch kein Lutheraner sondern der reformierte Marburger Philosophieprofessor Rudolph Goclenius. 77 b) Goclenius In seinem 1613 erschienenen, schon bald zum Standardwerk avancierenden „Lexicon Philosophicum" findet sich unter dem Eintrag „Naturale" erstmals eine Aufarbeitung der protestantischen Urstandslehre unter explizit positiver Verwendung der Bellarminschen Terminologie. 78 Goclenius unterscheidet im Begriff des Natürlichen zwischen den „communia", die an sich „essentialia" („facultates, affectiones, ενέργειας") sind und nicht verlorengehen können, und den bloßen „dotes", die zwar ebenfalls natürlich sind, im Sündenfall aber verloren gehen können („perfectiones animae, Sapientia mentis, iustitia Voluntatis, puritas cordis, Sanctitas appetitus, rectitudo motus,

simpliciter negate respondemus, & cum B. Luthero statuimus, rectitudinem illam & integritatem omnium virium fuisse Homini primo connaturalem [...]." Vgl. Gerhard, Loci, Lib. I. Loc. VIH. Cap. II, S. 116. 74 Gerade so wie Bellarmin es der konkordistischen Theologie insgesamt vorgeworfen hatte, scheinen sich Hutter und Gerhard mit der Aufnahme der Position Luthers tatsächlich in die Flacianische Tradition zu stellen: während Flacius gegen die (Strigel unterstellte) Meinung kämpfte, die Justitia Originalis könne dem Menschen „praeter subiecti corruptionem" genommen werden, bekämpfen Hutter und Gerhard mit Luthers Genesiskommentar die Meinung Bellarmins, die Justitia Originalis könne dem Menschen „salvis manentibus naturalibus" genommen werden. 75 Denn erstens war Luther (vgl. Anm. 12) ja selbst von einer bleibenden Natur ausgegangen, ohne diese zu spezifizieren, und zweitens hatte Flacius seine These von der Substantialität selbst ja wie gesehen nur auf die „Forma substantialis" beschränkt (vgl. Anm. 16). 76 Vgl. dazu Kapitel 111,2. 77 Goclenius, Lexicon, S. 745, selbst verweist beiläufig auf den reformierten David Pareus, ohne jedoch eine genaue Stelle anzugeben. In den als Widerlegung Bellarmins verfaßten Schriften von Pareus, etwa denen, die bei Sommervogel, Bibliothèque I, S. 1174-1180, aufgelistet sind, findet sich die Übernahme der Bellarminschen Definitionen zumindest nicht. 78 Goclenius, Lexicon, S. 744-747.

D a s lutherische Problem u n d die katholische Kritik

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immortalitas corporis, felicitas totius hominis").79 Wie eine solche terminologische Differenzierung möglich ist, begründet Goclenius explizit mit Bellarmin:80 „ E s m u ß geantwortet werden: i n d e m m a n einen U n t e r s c h i e d m a c h t zwischen .naturalis' u n d .essentialis': 1. der N a t u r des M e n s c h e n fehlt nichts Natürliches, wenn m a n .natürlich' a u f die E s s e n t i a l i a ' bezieht. D e n n der menschlichen N a t u r fehlt kein Teil, keine K r a f t oder Energie, die ihr e i g e n t ü m l i c h ist. D e s h a l b fehlt ihr a u c h nicht der freie Wille, d.h. die Fähigkeit oder die eigentümliche H a n d l u n g s w e i s e der Natur, zu erkennen u n d zu wollen. D e n n auch jetzt hat der M e n s c h die Fähigkeit, frei ein von der Vernunft vorgestelltes O b j e k t zu wollen, nicht zu wollen, auszuwählen oder zurückzuweisen. 2. D e r N a t u r des M e n s c h e n fehlt etwas Natürliches, w e n n m a n unter .natürlich' etwas versteht, was der geschaffenen N a t u r seit ihrer E r s c h a f f u n g anhängt, wie die angeborenen G a b e n , die V e r v o l l k o m m n u n g e n der Seele, des K ö r p e r s , der Kräfte, der B e w e g u n gen, die Rechtschaffenheit der H a n d l u n g e n . " 8 1

Hier endlich findet sich auch im protestantischen Bereich die so nötige Unterscheidung zwischen „natura" und „essentia" bzw. „substantia". Das Novum in Goclenius' Überlegungen besteht darin, daß er Bellarmins differenzierte Definitionen, die ursprünglich zum Nachweis dessen dienen sollten, welches Verständnis von „naturale" der lutherischen Urstandslehre nicht angemessen sei, positiv rezipiert und Bellarmins Kritik so den Wind aus den Segeln nimmt. Indem (der reformierte) Goclenius sich eben nicht von Bellarmin zur Adaption der angeblich lutherischen, substantialistischen Interpretation von Imago Dei und Justitia Originalis zwingen läßt, sondern deutlich zwischen Natur und Urstandsgerechtigkeit unterscheidet, kann er Bellarmins terminologische Bestimmungen zur Profilierung der protestantischen Positionen verwenden. Er gibt Bellarmin praktisch Recht: die Imago Dei und Justitia Originalis sind dem Menschen nicht in einem essentiellen Sinne, sondern nur in dem Sinne natürlich, daß sie „der geschaffenen Natur seit ihrer Erschaffung" anhängen. Bellarmins Argument, daß dieser „naturale"-Begrifif nicht in Anschlag kommen könne, weil er nicht (wie es die Sache erforderte) dem Begriff des Übernatürlichen entgegengesetzt sei, ignoriert Goclenius. Ebd., S. 744. Allerdings wandelt Goclenius, ebd., S. 744f., sie leicht ab: Bellarmins zweite und dritte Definition werden zusammengezogen, die vierte dagegen in zwei aufgespalten: „Robertus Bellarminus hos fere modos tradit: I. Naturale est quod a ortu, id est nativitate vel creatione, quae vicem tenet natiuitatis habetur seu trahitur. Ita primo Homini Rectitudo fuit naturalis: Creatio enim ei fuit Natiuitas; & Rectitudo originalis fuit Bonum Naturae. II. Q u o d Naturae est consentaneum, quodque eam non destruit, sed iuuat, ornat, perficit; vt Gentibus naturale est facere, quae sunt Legis. Rom. 1 III. Q u o d est Pars naturae, quod naturam rei constituit, vt anima corpus. IV. Q u o d fluit a principiis naturae constitutae, vt sunt facultates & operationes vtriusque propriae." 81 Ebd., S. 745: „Respondetur distinctione Naturalis vel Essentialis. 1. Nihil Naturale naturae hominis nunc deest, si intelligas Naturale de Naturae essentialibus. Nulla enim vel Pars, vel δύναμις, vel ενέργεια naturae humanae propria nunc deest. Itaque non etiam Liberum arbitrium, qua id est naturae intelligentis & volentis facultas vel actus proprius. Homo enim etiam nunc habet facultatem libere volendi, nolendi, eligendi, repudiandi obiectum à ratione monstratum. 2. Aliquid naturale deest nunc hominis Naturae, si intelligas Naturale, quod Naturae adiacebat, vt dotes nativae, perfectiones animae, corporis, potentiarum, motuum, actuum rectitudo." 79 80

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c) Meisner

Den entscheidenden Schritt zur Integration dieser philosophischen Distinktion in die lutherische Theologie machte dann wenige Jahre später, 1619, Balthasar Meisner in seinem voluminösen Werk „Anthropologia Sacra",82 ein Buch, das im 17. Jahrhundert zum Standardwerk in anthropologischen Fragen werden sollte.83 In einer zu diesem Zeitpunkt in der Debatte nicht bekannten Stringenz, Prägnanz und Eleganz sichtete Meisner kritisch die anthropologischen Traditionen. Bedeutung erlangte Meisners Buch jedoch nicht nur dadurch, daß in ihm endlich eine schlüssige Antwort auf Bellarmins spezielle Anfrage gegeben wurde; es wurde in der lutherischen Theologie auch bekannt und vorbildlich durch seine im Gegensatz etwa zu den „Loci" von Hutter oder Gerhard überaus systematisch (bis hin zu Schaubildern) strukturierte und problemorientierte Darstellungsweise des gesamten Locus.84 Meisner ist sich der Bedeutung der durch Bellarmin gestellten Frage deutlich bewußt: als erster Theologe vor dem Synkretistischen Streit erkennt er, daß sich an der Frage nach der Natürlichkeit bzw. Ubernatürlichkeit der Justitia Originalis die Rechtgläubigkeit der Theologie insgesamt entscheidet.85 Zur Aufgabe steht daher, Bellarmins Hauptargument zu widerlegen, die Lutheraner müßten mit Luther einer substantialistischen Auslegung der Urstandsgerechtigkeit das Wort reden.86 Dazu zieht Meisner, ebenso wie Goclenius, die Bellarminsche Terminologie heran, ja er kategorisiert diese sogar noch, indem er sie nach Oberbegriffen einteilt:

82 Daß es Meisner war, der diese Terminologie als erster in die Theologie einführte, bestätigt 1658 Sebastian Schmidt, Disputatio, S. 418. Schmidt greift den Essentialismusvorwurf Bellarmins auf und fährt dann fort: „Ubi si Bellarminus hanc nobis adscribere vult mentem: quod vel fuerit aliqua pars naturae constitutive, vel â forma essentialiter, ut facultates animae, fluxerit imago Dei: non immeritò calumniae â D. Meisnero Anth. disp. 2.q.l. accusatur. Longe enim aliter Dn. D. Gerharddisp. Isag. XXII cap. 9. § 4 post Meisner loc. cit. exponit: Naturale aliquod dici variis modis." 83 Zu Meisner vgl. BBKLV, 1172-1174; ADB XXI, 243f.; RE XII, 51 lf. 84 Meisners Entwurf blieb für die großen Dogmatiker der Folgezeit, den späten Johann Gerhard (vgl. Anm. 91) und Abraham Calov (vgl. Kapitel III, 2A) vorbildlich. Noch Quenstedt, Theologia II, S. 851.857.866.894.898, nennt Meisners Buch immer wieder als Hauptquelle für den Locus „De imagine dei". Sie alle lehnen sich an seinen Entwurf an, übernahmen meist in toto seine Terminologie und den Aufbau seiner Systematik. 85 Vgl. Meisner, Anthropologia, S. 42: „IX. Quoniam ergo nunc constat, quid originalis justitia fuerit & vnde nomen acceperit: adfectio eius, modusque inhaerendi indagandus superest, quoniam de hoc magna & olim fuit, & etiam nunc existit in Ecclesia Christi controversia: Quae vna nisi recte decidatur, primari) religionis nostrae articuli, quales sunt de peccato originis, libero arbitrio, Dei gratia, fide & justificatione nostra, ob cohaerentiam & mutuam dependentiam, certissimè corrumpuntur. X. Est igitur haec quaestio, quasi bivium quoddam Theologicum, vbi veri falsique porta panditur, & ex vnâ parte ad Lutheranam ό ρ θ ο δ ο ξ ί α ν ducimur, ex aiterà ad Papisticam έ θ ε ρ ο δ ο ξ ί α ν abducimur; quam ipsam ob causam Bellarminus earn praemittere voluit, vt, jacto hoc fundamento, reliqua Papismi dogmata faciliùs superstruere possit." 86 Vgl. ebd., S. 54: „Deinde affingit nobis cap. 5 Col. 16. C. quod iustitiam primaeuam hoc sensu naturalem dicamus, quia fiterit pars naturae, aut certe fluxerit à principiis naturae. Aliter enim nos sentire, secundo iam loco dicetur, & ex Nostrarum scriptis manifestum euadet."

Das lutherische Problem und die katholische Kritik

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„Was nun II. den Begriff .natürlich' angeht, so wird er gebraucht 1) constitutive, fur das, was dem Sein der Natur selbst zugestanden wird, 2) consecutive, fìiir das, was aus der Form wesenhaft fließt, wie die Fähigkeiten der Seele, 3) subjective, für das, was der Natur aufs engste eingeprägt anhängt, 4) perfective, für das, was die Natur schmückt, ihr hilft, sie vervollkommnet, 5) transitive, das, was auf natürliche Weise und durch die Natur weitergegeben wird." 87 M e i s n e r w e i ß genau, d a ß er sich z w i s c h e n d e r S k y l l a Flacius u n d einer B e l l a r m i n schen C h a r y b d i s e n t s c h e i d e n m u ß : „Die erste und die zweite Weise meinen wir nicht, wenn wir die Gerechtigkeit .natürlich' nennen, da sie ja weder ein Teil der Natur noch auch ein konstitutives Prinzip des Menschen im engeren Sinne oder irgendeine Anlage der Seele war. Die übrigen Arten aber beachten wir wahrhaft und verneinen von daher, daß die Urstandsgerechtigkeit ein übernatürliches Geschenk gewesen sei, weil sie [dem Menschen] nicht [bloß] extrinsezistisch anhing oder über die angeborenen Gaben und Kräfte hinausging. W i r nennen sie vielmehr ,connaturalis': zum einen, weil sie der Natur seit ihrer Erschaffung per se und aufs engste wie eine natürliche Eigenschaft anhing, zum anderen weil sie sie vervollkommnete und als ihre natürliche Ergänzung hinzutrat, zum dritten weil sie durch die fleischliche Zeugung an die Nachkommen weitergegeben und vererbt worden wäre." 88 M i t großer Gelassenheit entwickelt Meisner mit Hilfe der Bellarminschen Begrifflichkeit e i n e L ö s u n g f ü r das v o n B e l l a r m i n a u f g e w o r f e n e P r o b l e m . 8 9 Er w e n d e t die B e l l a r m i n s c h e T e r m i n o l o g i e gegen i h n selbst. D a s b e d e u t e t z u m e i n e n e i n e n e n t s c h e i d e n d e n F o r t s c h r i t t in d e r Sache. Z u m a n d e r e n aber zeigt es a u c h die auffällige S c h w ä c h e d e r l u t h e r i s c h e n A p o l o g e t i k g e g e n ü b e r d e r ü b e r r a g e n d e n

87 Ebd., S. 54f.: „Quod igitur II. spectat vocem Naturalis, sum ¡tur illa 1. constitutive pro eo, quod ipsi naturae largitur esse. 2. Consecutive, pro eo, quod à forma essentialiter fluit, vt facultates animae. 3. Subjective, pro eo quod naturae penitissime infixum haeret. 4. Perfective, pro eo quod naturam exornat, iuuat, perficit. 5. Transitive, quod naturaliter & per naturam propagatur." 88 Ebd.: „Primum secundumque modum non intelligimus, cum iustitiam naturalem dicimus, quia nec pars aut principium hominis constitutiuum proprie dictum, nec aliqua facultas animae fuit: postremos vero modos omnes attendimus adeoque iustitiam primaeuam donum supernaturale fuisse negamus, quia non extrinsecè adhaesit, aut supra nativas dotes aut vires fuit; sed potius connaturale dicimus, tùm, quia naturae ex creatione per se, & arctissime vt proprietas naturalis inhaesit, tùm quia eandem perfecit, adeoque ad eius complementum naturale concurrit, tùm quia per generationem carnalem in posteros fuisset propagata & naturaliter derivata." 89 Vgl. dazu auch Spam, Wiederkehr, S. 174f., wo Meisners Metaphysik in ihren Aussagen zur Erbsündenlehre und ihrer Gegnerschaft zu Bellarmin beschrieben wird. Spam legt das Hauptaugenmerk allerdings auf die Frage, wie bei Meisner die ontologisch bedingte Gutheit der menschlichen Substanz mit der theologisch behaupteten, erbsündigen Verderbtheit derselben vereinbart werden kann. Nach Sparn entwickelt Meisner die Lösung des Problems (das, vgl. Spam, Substanz, 121 f, auch dem Streit zwischen Christoph Irenaus und Seinecker zugrundelag), indem unterschieden wird zwischen einer abstrakten und einer konkreten Sicht auf die menschliche Substanz. .Abstractive" und „essentiale" betrachtet ist die menschliche Natur ein ens und deshalb bonum; „concretive" und „existentiale" ist dieselbe Natur theologisch eindeutig negativ qualifiziert. Der Fehler des Flacius sei, nach Hägglund, De homine, S. I49f. gewesen, den Menschen bloß immer concretive betrachtet zu haben und damit die metaphysische Qualität seiner Substanz, die ihn qua ens zum bleibenden Geschöpf Gottes qualifiziere, aus dem Blick verloren zu haben. Vgl. auch Anm. 16 u. Anm. 22.

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Autorität Bellarmins: nicht nur die Fragen, auch die möglichen Lösungsansätze werden der lutherischen Theologie von ihrem wichtigsten Gegner vorgegeben.90 Meisners Lösungsansatz wurde schon bald von praktisch allen lutherischen Dogmatikern des 17. Jahrhunderts übernommen. 91 Dabei war die Einführung eines solcherart uminterpretierten „naturale"-Begriffes bei Goclenius und Meisner an sich nicht unproblematisch. Zum einen war der Unterschied zwischen der katholischen und der lutherischen Position am Ende so gesehen nur noch hauchdünn: was Bellarmin gerade heraus „übernatürlich" nannte, mußten die Lutheraner mit einem eigens dafür umgeformten naturale-BegrifF als „nicht-essentiell natürlich" bezeichnen.92 Zum anderen aber erschütterte diese Neufassung der Terminologie eine der selbstverständlichen Grundannahmen der gesamten aristotelischen Logik und Metaphysik des 16. und 17. Jahrhunderts: daß nämlich die Begriffe Substanz, Natur und Wesen identisch seien.93

90 Wie groß die Herausforderung der lutherischen Anthropologie durch die Bellarminschen Anfragen war, zeigt sich unter anderem an der Tatsache, daß im selben Jahr 1619, in dem Meisners „Anthropologia" erschien, eine eigene, umfangreiche Monographie zur Imago-Dei-Lehre herauskam, Georg Zeaemanns „Controversia Difficilima de Imagine Dei", die sich fast ausschließlich damit beschäftigt, Bellarmins Kritik an der lutherischen Anthropologie zu widerlegen. Dabei ist es erstaunlich und fur die Bedeutung und schnelle Verbreitung von Meisners Buch bezeichnend, daß Zeaemann Meisners im selben Jahr entwickelte Lösungsansätze (etwa beim ,,naturale"-Begriff) schon in seinem eigenen Werk verarbeitet. Allerdings gibt Zeaemann nur an einer einzigen Stelle (S. 213) zu erkennen, daß ihm Meisners Buch bei der Abfassung tatsächlich vorgelegen hat. Zeaemanns Werk wurde ebenso wie Meisners Anthropologia und Schmidts Dissertatio zu einem grundlegenden Werk für die Anthropologie des 17. Jahrhunderts: noch Quenstedt legte es seiner Dogmatik zugrunde. Zu Zeaemann vgl. den Eintrag im DBA 1404, S. 444-453; Brandmüller, Leben, S. 614-616; sowie den (leider etwas unbefriedigenden) Aufsatz von Bauer, Obrigkeitskritik, S. 663—667.

" Besonders auffällig ist dies bei Johann Gerhard, der in seiner 1633 erschienenen Confessio Catholica, ebd., S. 1371, die Urstandslehre, wie er sie in seinen eigenen Loci entwickelt hatte, gänzlich streicht und in toto (allerdings ohne seine Quelle zu nennen) das Meisnersche System und vor allem den neuen naturale-Begriff übernimmt: „Naturale dicitur quinqué potissimum modis. Primo constitutive, pro eo, quod ipsi Naturae dat esse. Sic naturalia homini dicuntur principia essentialia, corpus & anima. Secundo, consecutive, pro eo, quod Naturam specificam necessario consequitur, ita ut ex rei essentia seu forma essentialiter fluat. Sic homini naturalis est risibilitas. Tertio, subjective, pro eo, quod Naturae arctissimè est infixum. Sic naturale quibusdam abhorrere à cáseo. Quarto, perfective, pro eo, quod cum Natura promovet & perfectiorem reddit. Sic quibusdam naturalis ευφυία. Quinto, transitive, pro eo, quod cum Natura simul in alios propagatur. Sic generositas in liberos propagatur. Quando justitiam primo homini naturalem fuisse dicimus, non primo, vel secundo, sed tertio, quarto & quinto sensu naturalem fuisse intelligimus, ob inhaesionem scilicet, perfectionem & propagationem." Zu Meisners Wortlaut vgl. Anm. 87; schon den Zeitgenossen fiel dieser Wandel in Gerhards anthropologischen Ansichten auf, vgl. Anm. 82. 52

Das stellt natürlich nicht in Abrede, daß die Konsequenzen aus diesem feinen Unterschied für die gesamte Anthropologie immens waren, wie man etwa an der Bewertung der Konkupiszenz sieht (vgl. Anm. 56). Selbst Meisner, Anthropologia, S. 54, scheint zu insinuieren, daß der von ihm für die Justitia Originalis gewählte nichtessentialistische „naturale"-Begriff nur uneigentlich ist, da er die beiden ersten (essentialistischen) Definitionen Bellarmins „principium hominis constitutivum proprie dictum" nennt. 93 Vgl. Anm. 13.

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2. Die Diskussion um die Calixtinische Anthropologie Nach der Darstellung des lutherischen Problems in der Anthropologie, der katholischen Kritik an ihr und nach der Skizzierung des Lösungsansatzes, den Balthasar Meisner vorgelegt hatte, kommen wir nun zur Darstellung der eigentlichen Diskussion, die in der lutherischen Theologie vor diesem Hintergrund in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts um die Anthropologie entbrannte. Es war nämlich keineswegs so, daß Meisners Vorschlag, die katholische Kritik mittels des von ihr selbst entwickelten „naturale"-Begriffs zu widerlegen, auf ungeteilte Zustimmung im lutherischen Lager stieß. Der bedeutendste lutherische Theologe, der sich (wie Bellarmin!) an der Verwendung eines solchen nur uneigentlichen „naturale"-Begriffes fur die Justitia Originalis störte, war der Helmstedter Theologe Georg Calixt. Die Streitigkeiten um sein Verständnis der Erbsündenlehre dominierten die innerlutherische Debatte um die Anthropologie in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Mit Calixt kommen wir zur ersten der zwei großen theologischen Debatten, die uns im Folgenden beschäftigen werden. Wie sich schon bei der Nennung des Namens Calixt unschwer vermuten läßt, sind die darzustellenden Kontroversen um die Erbsündenlehre Calixts nicht abzukoppeln von der Geschichte der besonderen Entwicklung der Helmstedter Theologie im 17. Jahrhundert, mithin von der Geschichte des Synkretistischen Streites.94 Die Geschichte der Synkretistischen Streitigkeiten ist äußerst verwickelt und die Rolle, welche die Diskussion um die Calixtinische Anthropologie innerhalb dieser Streitigkeiten spielt, noch komplizierter. Während es bei der nicht gerade glänzenden Forschungslage zum Synkretistischen Streit heute den Anschein hat, als hätten sich die Kontroversen um Calixts Theologie ursprünglich geradezu an seiner Anthropologie entzündet, 95 verliert dieses Thema im Laufe der Jahre immer mehr an Präsenz; andere, fundamentalere Themen wie der Streit um den „consensus quinquesecularis" drängen vorübergehend in den Vordergrund, und erst im „Consensus Repetitus Fidei vere Lutheranae", der zuletzt gegen Calixt angestrengten kursächsischen Bekenntnisschrift, nimmt der Locus über die Erbsünde zumindest quantitativ wieder den gewichtigsten Platz ein. Zur Aufgabe steht im Folgenden also, die Geschichte der Diskussion um Calixts Erbsündenlehre aus der Geschichte der Synkretistischen Streitigkeiten

94 Zu Calixt im Allgemeinen vgl. Henke, Calixt I und II; Schüssler, Calixt; Engel, Wahrheit; Wallmann, Calixt; Mager, Calixt; Böttigheimer, Polemik; Lau, Calixt; B B K L I, 861-863; R E III, 6 4 3 - 6 4 7 ; A D B III, 696ff.; N D B III, 96; zur Geschichte des Synkretistischen Streites im besonderen vgl. Calov, Historia; Schmid, Geschichte; Gaß, Calixt; Henke, Calixt II; Ritsehl, Dogmengeschichte IV; Göransson, Schweden; Schüssler, Calixt, S. 133-149; Staemmler, Kampf; Böttigheimer, Polemik, S. 53-68. 95 Dies sahen auch die Zeitgenossen so; vgl. in Calov, Historia, S. 562—608 (ebd. S. 571—574), die Darstellung, die die Wittenberger Theologische Fakultät in ihrem „Historischen / Theologischen Bericht" von 1669 von der Entwicklungsgeschichte des Calixtinismus gibt.

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herauszuarbeiten, ohne sich auf jede Windung und Drehung des verwickelten Gangs der theologischen Debatte einzulassen, ohne jedoch auch den Blick auf das Ganze des Synkretistischen Streites zu verlieren. Es erscheint sinnvoll, hierzu entsprechend der Bedeutung der anthropologischen Debatte zu verfahren. Zu Beginn werden wir also etwas ausfuhrlicher die Anfänge der Differenzen zwischen der Calixtinischen und der allgemeinlutherischen Theologie beleuchten, weil ohne sie die Entwicklung der Calixtinischen Anthropologie unverständlich bleiben muß; später werden wir einen summarischen Uberblick über die weitere Entwicklung des Synkretistischen Streites geben, damit der historische Hintergrund der anthropologischen Debatte nicht aus dem Blick gerät.

A) Die Ursprünge der Differenzen Es ist bekannt, daß die Entwicklung der spezifisch Calixtinischen Theologie eng verbunden ist mit der Geschichte der Universität Helmstedt und ihrem besonderen Verhältnis zum konkordistischen Luthertum. 96 Die Universität Helmstedt war 1576 von Herzog Julius von Braunschweig-Wolfenbüttel im Bewußtsein gegründet worden, eine rein lutherische Hochschule zu schaffen. Zwei Faktoren jedoch verhinderten, daß Helmstedt zu einer Vertreterin lutherischer Orthodoxie wurde. Für die 1577 abgeschlossene Konkordienformel wurde der Anspruch erhoben, daß wirklich lutherisch nur sein konnte, wer dieses Bekenntnis vorbehaltlos unterschrieb. Und tatsächlich hatte Herzog Julius 1577 seine Unterschrift unter das handschriftliche Exemplar der F C geleistet. Einige politische Verwicklungen führten jedoch dazu, daß nachträglich Spannungen zwischen einem Teil der konkordistischen Theologen und dem herzoglichen Hause entstanden und sich der Herzog dem Konkordienwerk, zu dessen Zustandekommen er ja nicht unerheblich selbst beigetragen hatte, nicht mehr verbunden fühlte. 97 Er bekundete diese Distanz dadurch, daß er die Unterschrift unter die 1580 herausgekommene gedruckte Fassung des Konkordienbuches mit der Begründung verweigerte, es seien in der Zwischenzeit Änderungen am Text vorgenommen worden, die seine Zustimmung nicht mehr finden könnten. De facto wurde deshalb die F C in Braunschweig-Wolfenbüttel nicht Bekenntnis. An ihrer statt wurde das 1576 verfaßte Corpus Julium eingeführt, 98 das sich von der F C vor allem durch die

Vgl. dazu insgesamt Mager, Konkordienformel. Zum einen war dies die Tatsache, daß Herzog Julius wegen der Anwartschaft auf geistliche Fürstentümer seinen ältesten Sohn nach katholischem Ritus zum Bischof von Halberstadt weihen und zwei weitere Söhne tonsurieren ließ. Wichtiger aber war nach Wallmann, Reformation, S. 347, daß „der lange Zeit abseits stehende Kurfürst von Sachsen die Zügel des Einigungswerkes in die Hand nahm, die Führungsrolle im deutschen Luthertum vom Wolfenbütteler H o f an den H o f von Dresden abgegeben werden mußte." Gerade auch diese Tatsache mag eine Rolle bei der später äußerst belasteten Beziehung der Helmstedter Theologen zu den Kursächsischen Fakultäten gespielt haben, wie sie im Synkretistischen Streit manifest werden sollte. 98 In der Anfangszeit unterschrieben die Professoren der theologischen Fakultät alle auch die F C 96

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Ablehnung der Lehre von der ,Ubiquität' Christi unterschied, mit den nicht unerheblichen Folgen für die Auffassung von der Person Christi und damit auch für das Amt Christi, die daraus folgen. Die Universität Helmstedt war somit von Anfang an eine lutherische Universität in Deutschland, an der das entscheidende Corpus Doctrinae des Luthertums nicht wirklich lehrbindend war, und durch den gesamten später entbrennenden Streit zwischen Wittenberg und Helmstedt zieht sich die eine Frage, ob die Helmstedter Theologie an der Konkordienformel gemessen werden dürfe oder nicht. Der zweite Grund, warum die Universität Helmstedt theologisch einen anderen Weg ging als andere Universitäten, war die Tatsache, daß es von Anfang an auch einen inneren Konflikt auszuhalten galt, der dann schließlich im bekannten Hoffmannschen Streit kulminierte. Die maßgeblich von David Chyträus ausgearbeiteten Statuten der Universität" sahen, wie Horst Dreitzel gezeigt hat, an und für sich eine insgesamt deutlich melanchthonisch-humanistische Prägung des Studiums vor, und es gelang Herzog Heinrich Julius auch, 1589 mit Johannes Caselius und 1592 mit Cornelius Martini, berühmte Vertreter des Späthumanismus an die philosophische Fakultät seiner Universität zu ziehen.100 Ganz anders aber sah die Situation an der theologischen Fakultät aus. Hier gelang es dem Herzog nicht, seine Wunschkandidaten zu gewinnen: mit Männern wie Thimotheus Kirchner, Tilemann Heshusen, Basilius Sattler und Johannes Olearius wurden die vier Lehrstühle der theologischen Fakultät mit Vertretern gerade der gnesiolutherischen Richtung besetzt.101 Die Konflikte entzündeten sich jedoch nicht primär an eigentlich theologischen Problemen, sondern an der Frage nach der Bedeutung der Metaphysik. Während die philosophische Fakultät mit Caselius einen der bedeutendsten Altphilologen und Liebhaber des Aristoteles und mit Martini den Begründer der protestantischen Metaphysik102 in ihren Reihen hatte, standen die gnesiolutherischen Theologen dem in Helmstedt so prominenten Aristotelismus äußerst kritisch gegenüber, weil sie in ihm den Versuch argwöhnten, die Geheimnisse des Glaubens eher auf der Grundlage der menschlichen Vernunft als auf der Basis der Offenbarung zu erforschen. Obwohl sich die Philosophen Helmstedts anfangs bewußt nicht in

(vgl. Dreitzel, Aristotelismus, S. 30f.). Zu Calixts Zeiten war das allerdings nicht mehr üblich. Auf deutliche Distanz zur F C ging schon das Kolloquium von Quedlinburg 1583, offiziell abgeschafft wurde die F C in Braunschweig-Wolfenbüttel 1620 (vgl. dazu Dreitzel, ebd., S. 40); Calixt selbst rühmte sich später, die F C wegen der ,Ubiquitätslehre' niemals geteilt zu haben, vgl. Mager, Konkordienformel, S. 499f: „Denn das gestehe ich, willig, daß dieselbe [sc. die .Ubiquitätslehre', A.S.] mir von Jugend auffgantz wiedrig fürkommen, und solche anzunehmen oder zu billigen, ich mich wol von keinem Menschen hätte bereden lassen." " Vgl. Dreitzel, Aristotelismus, S. 33. 100 Vgl. Mager, Reformatorische Theologie, S. 12-13; zu Caselius und Martini vgl. ebd., S. 4 4 - 4 6 . 101 Zur gesamten Problematik vgl. Mager, Lutherische Theologie; Baumgart, Chytraeus; ders., Gründung. 102 Zur Frage des Verhältnisses von lutherischer und spanisch-katholischer Metaphysik vgl. Lewalter, Metaphysik, passim

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theologische Fragen einmischten, 103 war dennoch auch ihre Einstellung zur theologischen Fakultät deutlich von Ressentiments geprägt. Von Cornelius Martini kolportiert man das berühmte Diktum, wer Logik und Metaphysik beherrsche, könne in einem Augenblick die Bibel verstehen,104 und der Logiker Owen Günther vertrat die Meinung, „die Philosophie sei der wahre Weg des Weisen und Gebildeten zu Gott, Glaube und Theologie dagegen sei den Ungebildeten angemessen."105 Dabei verstanden sich die Helmstedter Philosophen als eine Art Siegelbewahrer der reinen, philippistischen Metaphysik.106 Jede Abweichung vom rein philosophischen Gebrauch philosophischer Termini (auch und gerade in der Theologie) wurde von den Helmstedter Philosophen streng kritisiert.107 Dabei war das Verhältnis zwischen Philosophen und Theologen in Helmstedt nicht nur deswegen besonders gespannt, weil sich die Philosophen zu Richtern über die metaphysische Terminologie aufgeworfen hatten und schon ihr Anspruch, zur Klärung der formalen Begrifflichkeiten und Denkvoraussetzungen auch in der Theologie notwendig zu sein, von den Theologen als ungebührliche Einmischung in ihre Profession verstanden wurde;108 auch die Theologen hatten mittlerweile eine Extremposition bezogen. Da sie aus theologischen Gründen heraus die aristotelische Metaphysik ablehnten, favorisierten die Helmstedter Theologen ihrerseits eine Philosophie, die ihnen im Kampf gegen den Aristotelismus von Nutzen sein konnte, den Ramismus. Der Einfluß des Ramismus auf die Theologie in Deutschland im allgemeinen und in Helmstedt im besonderen ist noch so gut wie unerforscht. 109 Der Ramismus ist insbesondere bekannt für seine

103 Vgl. Henke, Calixt I, S. 67. So ist es bezeichnend, daß Martini, der eigentlich auf die Disputation auf der Hämelschenburg eingeladen gewesen war, statt seiner Calixt schickte. 104 Wallmann, Reformation, S. 350. 105 Zitiert nach ebd., S. 350f. 106 Zur Rezeption der melanchthonisch-aristotelischen Metaphysik durch die Helmstedter Philosophen vgl. vor allem Schüssler, Calixt, S. 7-16. 107 An Calixt, Widerlegung [Excerpta], S. 125, kann man sehr schön sehen, wie „wahre" und „falsche" Philosophie gegeneinander ausgespielt werden: „Biischer hat niemals ein solche Dialéctica, davon das Corpus Doctrinae sagt / sondern eine andere newe vnd thörichte Dialectic, worinnen weder was substantia oder accidens, positivum oder privativum sey / mit einem eintzigen tiittel berührt wird / gelernet disputirt dennoch davon was er nicht verstehet oder gelernet / meisterlich / vnd wil dadurch noch andere / welche die alte vnd rechte Dialectic davon das Corpus Doctrinae redet / gelernet / grosser abschewlicher Irrthumb überführen." Ebd., S. 216: „Were derowegen wol zu wündschen / daß Büscher die wahre Dialectic und Philosophi besser gelernet / oder ja von solchen wichtigen Sachen zu disputiren, vnd dazu die términos Philosophicos, substantiae, accidentis, positivi, privativi, welche er nicht verstehet / zu gebrauchen sich nicht vnternommen / möchte solches viel besser seyn." 108 So konnte sich etwa Meisner, Quaestiones, S. 126, 1620 über die Helmstedter Philosophen erregen: „Superbia haec magna, imo tyrannis quaedam est, qua nos cogéré volunt, ut termini Theologici non aliter accipiuntur, quam prout alias in Philosophia consueti sunt usurpari. Miramur autem, qui fiat quod JCtis & Medicis multo mitior est Philosophia, quam Theologicis. Sane Uli etiam plurimis utuntur terminis sensu longe alio, quam Philosophico: nec tarnen propterea culpantur." 109 Zum Folgenden vgl. vor allem Lobstein, Ramus; Petersen, Geschichte, S. 127-143; an neueren Forschungen einschlägig bisher nur Moltmann, Bedeutung, sowie die kurzen Andeutungen von Neuser, Dogma, S. 328-330.

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gegen den Aristotelismus gewendete neue Art der Betrachtung von Logik und Dialektik, in der er nachzuweisen versuchte, daß die aristotelische Philosophie überwiegend aus leeren Tautologien und Begriffsklaubereien bestand."0 Leitende Idee des Ramus war, die Philosophie von allen metaphysischen Aussagen zu befreien und das freizulegen, was er als ihren eigentlichen Kern ansah: die Lehre vom logischen und richtigen Sprachgebrauch. Ramus verstand dies als praktisch zu erreichendes Ziel und verknüpfte seine Neubearbeitung der Logik deshalb mit einer pragmatisch angelegten Rhetorik. Der überaus große Erfolg einer solchen Philosophie erklärt sich daher vielleicht weniger aus ihren tatsächlichen materialen Aussagen als vielmehr daraus, daß sie sich in ihrer leicht faßbaren Verbindung von Logik und Rhetorik außerordentlich gut dazu eignete, im Rahmen der schulischen Erziehung zum analytischen Verständnis klassischer Literatur hinzuführen." 1 So war es kein Wunder, daß der Ramismus als Methode schon bald Einzug an deutschen Schulen und Universitäten hielt, obwohl er gerade an den Hochschulen von den Vertretern des melanchthonischen Aristotelismus erbittert bekämpft wurde. 112 Für unsere Untersuchung ist es von besonderem Interesse, daß Ramus mit seiner Ablehnung des scholastischen Aristotelismus nicht nur von Philologen, sondern auch von Theologen rezipiert werden konnte, die insgesamt gegen jede Verwendung von Philosophie in der Theologie waren und Ramus' an sich humanistische, antischolastische Argumente fur ihre Zwecke funktionalisierten. 113 Nur auf den ersten Blick kann diese Allianz von ramistischer Philosophie

110 Der Ramismus zeichnete sich dabei weniger durch ein selbständiges philosophisches System aus, als durch eine Neufassung und übersichtliche Zusammenfassung der überkommenen Dialektiken und Rhetoriken. Von daher auch das berühmte Motto der Magisterdisputation des Ramus: „Alles was Aristoteles gelehrt hat, ist nicht wahr" (zitiert nach Petersen, Geschichte, S.127f.). 111 Vgl. Petersen, Geschichte, S. 131f. 112 Vgl. ebd., S. 127-143. 113 Lewalter, Metaphysik, S. 50, Anm. 1, bemerkt dazu zurecht: „Diese .Leute' [die bestreiten, daß es Metaphysik gibt oder sie mit der Logik verwechseln, A.S.] sind Ramus und die Ramisten, insbesondere der Helmstedter Ramist Pfaffrad, Hoffmanns Verbündeter im Streit gegen Caselius und Martini. [...] Dazu darf noch bemerkt werden: nimmt man Ramus nur als .Humanisten', so wird die Gegnerschaft der Helmstedter Ramisten gegen die Humanisten Caselius und Martini wenig verständlich und noch weniger die Hinneigung des Hoffmann-Kreises zur Jakob-Boehme-Bewegung. Tatsächlich liegt aber dem Wirken des Ramus vornehmlich eine Empörung über die .impietas' des Aristoteles und der Aristoteliker und insbesondere derer zugrunde, die Metaphysik lehren (Scholae metaphysicae 1566, Praef.)." Auch in Ramus' einzigem eigenen, explizit theologischen Werk, den „Commentariorum de Religione Christiana libri quatuor" (posth. 1576), zeigt sich diese Verbindung. Sinn und Zweck der Theologie ist es nach Ramus, eine praktische „doctrina bene vivendi" für ein christliches Leben zu bieten. Ein solches wahrhaft christliches Leben ist nach Ramus nur im Hören auf die Schrift und durch ausgedehntes persönliches Bibelstudium möglich (vgl. Lobstein, Ramus, S. 14—16). Auch aus der Theologie bleibt die Philosophie deshalb ausgeschlossen. Ihr Grundsatz lautet: „de divinis rebus non aliter quam divinas scripturas agendum est"(vgl. ebd., S. I4f.). Gegen die scholastischen Aristoteliker erhob Ramus deshalb den Vorwurf: „Die doctrina Evangelii ist ihnen verhaßt, denn sie verachten das Studium des göttlichen Wortes und verdrehen die Theologie durch die zahllosen Sophismen des Aristoteles" (zitiert nach Moltmann, Bedeutung, S. 299). Ramus' Theologie erhält durch ihre antiphilosophische Stoßrichtung und den erbaulichen Zweck das Gepräge einer „halb wissenschaftlichen, halb volksthümlichen Erklärung des Katechismus" (Lobstein, Ramus, S. 33),

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und philosophiefeindlicher Theologie, 1 1 4 die ihre Ansprüche im Hoffmannschen Streit später so unüberhörbar anmeldete, erstaunen. Hält man sich den theologischen Wahlspruch des Ramus „de divinis rebus non aliter quam divinas scripturas agendum est" 1 1 5 und seine philosophische Gegnerschaft zum Aristotelismus vor Augen, versteht man sogleich, worin die Attraktivität des Ramismus fur Theologen wie Hoflfmann und seine Anhänger bestanden haben muß. Problematisch bei dieser Liaison war jedoch, daß eine Theologie, die gänzlich auf die Anwendung metaphysischer Kategorien verzichtete, zuletzt auch das Reflexionsniveau der Bekenntnisschriften unterschritt und zur Flacianischen Häresie zurückzukehren drohte, da sie etwa die für die Erbsündenlehre so entscheidenden terminologischen Distinktionen zwischen Akzidenz und Substanz, essentiellem und nichtessentiellem Naturbegriff verwerfen mußte. 1 1 6 In der Auseinandersetzung des Ramismus mit dem Helmstedter Aristotelismus und Humanismus muß man zwei Phasen unterscheiden. D i e erste ist die Zeit des Hoffmannschen Streites, in der sich ramistisch beeinflußte Theologen u m Daniel H o f f m a n n und seinen Doktoranden Caspar Pfaffrad mit der philosophischen Fakultät stritten. 117 Der Hoffmannsche Streit als Auseinandersetzung einer vom Ramismus beeinflußten konkordienlutherischen Theologie mit der Helmstedter Philosophie interessiert hier jedoch nur am Rande, denn mit der Frage nach dem Verhältnis von Vernunft und Schrift wurde in ihm ein T h e m a verhandelt, das nicht eigentlich in der Perspektive unserer Arbeit steht. 118

wobei jedoch auch zu beachten ist, daß Ramus bewußt als theologischer Laie für theologische Laien schrieb. So bemerkt Lobstein, Ramus, S. 85, zur Methode des Ramus: „Sie steht im geraden Gegensatz zu den scholastischen Speculationen und Subtilitäten. Der Verfasser vermeidet die Terminologie der Schule; er bedient sich am Liebsten der undogmatischen Ausdrucksweise der heiligen Schrift; er verfährt absichtlich historisch referierend oder rhetorisch ausmalend." Nur an wenigen Stellen zeigt sich deshalb ein erkennbares dogmatisches Profil des Ramus (etwa in der expliziten Ablehnung der lutherischen ,Ubiquitätslehre' und des ihr zugrundeliegenden Verständnisses der „communicatio idiomatum"; vgl. dazu Lobstein, Ramus, S. 4 5 ^ 7 ) . 1,4 Es scheint dabei, daß es der Einfluß von Ramus' philosophischen Schriften war, der ihn für lutherische Theologen des 17. Jahrhunderts anziehend machte und nicht sein einziges, schmales theologisches Werk, das den Charakter einer Katechismuserklärung hat und eine dogmatische Neigung zum Calvinismus (vgl. Anm. 113) zeigt, die dessen Rezeption im konservativen Luthertum eher erschwert haben dürfte. Auch Moltmann, Bedeutung, S. 301 f., konstatiert für die Theologie vor allem eine Rezeption von Ramus' Philosophie: „Der Ramismus gewann zwar kaum den Rang einer neuen wissenschaftlichen Schulphilosophie; dennoch gewann er großen Einfluß auf den weiten Bereich humanistischer Bildung in Gymnasien, Fürstenschulen und Akademien, die in der Reformationszeit neu gegründet und also nicht von einer scholastischen Tradition bestimmt waren. Es wird deshalb verständlich, warum er im protestantischen Bereich überall dort aufgegriffen wurde, wo man das Verhängnis der Theologie aus reformhumanistischen oder reformatorisch-biblischen Gründen in ihrer scholastischen Verklammerung, sei es durch mittelalterliche Denkformen, sei es durch den melanchthonischen Aristotelismus, zu erkennen glaubte." " 5 Zitiert nach Lobstein, Ramus, S. I4f. [wie Anm. 113]. 1 . 6 Vgl. Schüssler, Calixt, S. 10. 1.7 Vgl. Henke, Calixt I, S. 7 3 - 7 8 . 118 Die große Monographie zum Hoffmannschen Streit steht noch aus. Zur ersten Information vgl.

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Für unsere Belange entscheidend ist vielmehr die zweite Phase in der Geschichte des Ramismus in Braunschweig-Wolfenbüttel. Die Auseinandersetzungen fanden nun innerhalb der theologischen Fakultät statt und konzentrierten sich jetzt auf die Theologie Georg Calixts. Dieser war, trotz der Tatsache, Theologe zu sein, bekanntlich keineswegs Anhänger der theologischen Mehrheitsfraktion an der Helmstedter Fakultät, sondern ein Schüler aus dem um Martini und Caselius gescharten späthumanistischen Kreis. Als solcher verkörperte er eben jene Traditionen, die die Ramisten aus der Theologie entfernt sehen wollten; das bedeutete vor allem auch, daß er ein entschiedener Verfechter der reinen, aristotelischen Metaphysik in der theologischen Wissenschaft war.119 Eine zukünftige Frontstellung sowohl gegen die ramistisch gesinnten Kollegen an der eigenen Fakultät, als auch gegen den flexiblen, ja laxen Umgang mit der philosophischen Tradition, wie er Rudolph Goclenius' und Balthasar Meisners Lösung des anthropologischen Problems zugrundelag, mußte sich abzeichnen. Wichtigster Gegenspieler Calixts wurde zunächst der Helmstedter Professor und Hoffmannschüler Pfaffrad, der, obwohl der Ramismus schon 1597 in Helmstedt verboten worden war, 1598 zum Theologieprofessor berufen und damit später Kollege von Calixt wurde. Pfaffrad war von Anfang an gegen die Berufung Calixts gewesen120 und hatte auch nach dessen Eintritt in die Fakultät nicht aufgehört, gegen ihn und den hinter ihm stehenden Martini zu intrigieren.121

B) Die erste Kontroverse 1619/20 a) Calixts Erbsündenlehre Im selben Jahr, in dem Balthasar Meisners „Anthropologia Sacra" die lutherische Anthropologie auf neue Grundlagen stellte, erschien mit Calixts Hauptwerk,122 der „Epitome Theologiae", auch ihr Gegenstück in Fragen der Erbsündenlehre. Wie die Werke von Hutter, Gerhard und Meisner, steht auch Calixts Dogmatik in Fragen der Anthropologie ganz im Banne der Bellarminschen Kontroversen.123 Entscheidend fur den weiteren Gang der Geschichte der lutherischen Anthropo-

Arnold, Ketzergeschichte 1,2, S. 9 4 7 - 9 5 2 ; Thomasius, Controversia; Schlee, Streit; Henke, Calixt I, S. 7 3 - 7 8 ; Petersen, Geschichte, S. 2 6 3 - 2 7 0 ; Mager, Lutherische Theologie, S. 9 5 . 119 Zur Aristoteles-Rezeption Calixts vgl. Schüssler, Calixt, S. 7 - 1 6 . 120 Henke, Calixt I, S. 171 ff. 121 Vgl. ebd., S. 238ÍF. 122 Nach Wallmann, Calixt, S. 5 5 3 , und Mager, Calixt, S. 139, gaben Schüler Calixts ohne seine ausdrückliche Zustimmung ihre Mitschriften seiner Vorlesungen unter dem Titel „Epitome T h e o l o giae" heraus. Die Streitigkeiten in der Forschung, ob dies mit Wissen Calixts, ja mit stillschweigender Billigung geschah, müssen uns hier nicht interessieren. Wichtig für unsere Belange ist allein die Tatsache, daß Calixt dieses Buch später als W e r k aus seiner Feder anerkannt hat, ebenso wie seine Gegner im späteren Synkretistischen Streit ihn auf Aussagen in diesem Buch behaftet haben. 123

Vgl. A n m . 136.

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logie sollte nun aber werden, daß Calixt aus der Kritik Bellarmins eine ganz andere Konsequenz als seine lutherischen Kollegen zog: er vertrat eine Position, die in weiten Zügen faktisch mit der Bellarmins identisch war.124 Wie man sich denken kann, entzündete sich an dieser Tatsache sofort eine Kontroverse um die Rechtgläubigkeit der Theologie Calixts.125 Vor dem oben skizzierten Hintergrund der Helmstedter Auseinandersetzungen um den richtigen Gebrauch der Philosophie in theologischen Fragen ist für den heutigen Betrachter unmittelbar erkennbar, daß es terminologisch-philosophische Gründe, sein Festhalten an der unveränderten Form der klassischen Schulmetaphysik waren, die Calixt dazu bewogen, sich in der Frage der Urstandslehre auf Bellarmins Kritik einzulassen.126 Eine Lösung, wie sie Balthasar Meisner in seiner „Anthropologia Sacra" vorgelegt hatte, brach, wie wir gesehen hatten, ja mit einer ganz fundamentalen Prämisse der Schulphilosophie, der Identität der Begriffe „natura", „essentia" und „substantia". Das Hauptproblem der lange Jahre währenden Streitigkeiten um Calixts Anthropologie ist nun allerdings, daß Calixt diese seine abweichenden philosophisch-terminologischen Prämissen, auf denen seine Anthropologie beruhte, in seinen schriftlichen Äußerungen nie wirklich explizit gemacht hat. Verstreut finden sich in seinen diversen Ausführungen zur Erbsündenlehre und zur Anthropologie nur Andeutungen, kurze Sätze und knappe Einlassungen zu seinen philosophischen Voraussetzungen und zum „naturale"-Begriff, die sich deshalb nur von einer übergeordneten Warte und in einer rückblickenden Gesamtschau zu einem logischen Ganzen verknüpfen lassen. Gerade in seinem dogmatischen Hauptwerk, der Epitome Theologiae von 1619, an deren Anthropologie sich die gesamte Debatte um die Helmstedter Theologie überhaupt erst entzündete, fehlt jede klärende Stellungnahme zur Problematik. Der erste Theologe, der in aller Deutlichkeit zeigte, daß es sich bei dem ganzen Streit letztlich um ein philosophisch-terminologisches Problem handelte, war Calixts Sohn Friedrich Ulrich in seinem Kommentar zum „Consensus Repetitus"

124 Vgl. Calixt, Epitome Theologiae, 154: „Porro imago Dei quam homo in lapsu amisisse dicitur, non fuit naturalis fluens aut dependens ex naturalibus principiis (alioquin naturalem dicere potes, si nihil aliud intelligas quam coepisse cum ipsa natura sive ab ipso ortu et origine naturae fuisse), sed supernaturalis peculiari Dei dono concessa iustitia, innocentia et integritas." 125 Es war allerdings nicht die erste. Schon im Zusammenhang mit seiner Dissertation waren Zweifel an der Rechtgläubigkeit Calixts aufgekommen, vgl. Henke, Calixt I, S. 278; Mager, Calixt, S. 139; Wallmann, Calixt, S. 553. 126 Daß die Aufnahme der aristotelischen Metaphysik in der lutherischen Theologie insgesamt zu einer Angleichung an die zeitgenössische katholische Theologie geführt hat, bemerkt schon für die 1540er und 50er Jahre Weber, Reformation 1.1, S. 126f.; für Calixt und die Helmstedter Theologie analysiert dies Schüssler, Calixt, S. 8; Fischer, Lehre, S. 268, will dieses Phänomen sogar für die spätere Wittenberger Theologie belegen. Er spricht von ,,schwerwiegende[n] Anleihen", die sie bei der katholischen Lehre gemacht habe und verweist auf die strukturelle Gleichheit der lutherischen Unterscheidung zwischen unverlierbarer Imago Dei generalis und verlierbarer specialis mit der katholischen Unterscheidung zwischen Similitudo Dei und Imago Dei.

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von 1668. 127 Erst er machte klar, daß beide Parteien, die Wittenberger und die Helmstedter, in Fragen der Anthropologie einfach lange aneinander vorbei geredet hatten und eröffnete so einen strukturierenden Rückblick auf den anthropologischen Diskurs der letzten Jahrzehnte. Daß Georg Calixt selbst wahrgenommen hätte, daß er sich in seinen philosophischen Prämissen zur Anthropologie, in seinem Umgang mit der Philosophie, von seinen Gegnern vielleicht unterschied, wird an wenigen Stellen bestenfalls andeutungsweise klar.128 Die lakonische Art Calixts, mit den Prämissen seiner Anthropologie umzugehen, mußte bei seinen Zeitgenossen zu Schwierigkeiten fuhren, die sich von ihm, anders als etwa bei den anthropologischen Entwürfen Bellarmins oder Meisners, vor vollendete Tatsachen gestellt sahen, ohne ihre theologische Genese nachvollziehen zu können; vor dieselben Verständnisprobleme wird aber auch jeder gestellt, der ex post die anthropologische Debatte des 17. Jahrhunderts rekonstruieren will. Wir werden uns daher im Folgenden besonders all jene knappen, verstreuten Andeutungen Calixts zur Terminologie anschauen müssen, um die Struktur und die Genese seiner Anthropologie zu verstehen. Dafür ist es notwendig, ein wenig hinter das Jahr 1619 zurückzugehen, denn schon vor dem Ausbruch der eigentlichen Kontroverse hatte Calixt zwei Texte geschrieben, die sich explizit mit der Thematik der Erbsündenlehre beschäftigten: die „De Praecipuis Christianae Religionis Capitibus Disputationes XV"' 2 9 von 1611 und die „De Peccato Dissertano" 1 3 0 von 1617. An diesen Schriften kann man sehen, wie sich im Verlauf weniger Jahre die Position Calixts in Fragen der Erbsündenlehre immer deutlicher und expliziter der katholischen Position annäherte. 131 In den Disputationen von 1611 bezieht Calixt auf den ersten Blick noch den traditionell lutherischen Standpunkt: durchgängig bezeichnet er die Imago Dei als „natürlich". Von einer Annäherung an die Bellarminsche Position scheint er noch weit entfernt. Ja, es scheint sogar so, als nehme er hier vielmehr schon die Position vorweg, die Balthasar Meisner erst 1619 entwickeln sollte, wenn er gleich zu Beginn der Disputation sagt: „ E i n für alle mal erinnern wir daran, d a ß wir das W o r t , n a t u r a l e ' , w e n n wir es in dieser D i s p u t a t i o n verwenden, nicht verstehen als etwas, was aus sich heraus u n d d u r c h sich selbst ist oder die menschliche N a t u r konstituiert, wie etwa die f o r m a substantialis; oder

127 Vgl. dazu auch Mager, Reformatorische Theologie, S. 30 sowie Kapitel II.2.D.d der vorliegenden Arbeit. 128 Vgl. die in Anm. 107 angeführten Zitate aus Calixt, Widerlegung [Excerpta]. 129 Calixt, Disputationes. 130 Calixt, De Peccato Dissertatio. 131 Die zwischen den „Disputationes" und der „Epitome Theologiae" entstandene „Dissertatio", offensichtlich eine kleine Gelegenheitsschrift, bleibt in Fragen der Erbsünde merkwürdig profillos: sie ist in weiten Teilen eine vereinfachende und verkürzende Wiederholung der „Disputationes", ohne jedoch die in ihnen so erbittert durchgefochtenen Kontroversen aufzunehmen oder gar weiterzuentwickeln. Die „Dissertatio" trägt deshalb fiiir unsere Fragestellung nichts bei und wird deshalb auch nicht explizit behandelt. Wir beschränken uns darauf, die Entwicklung der Urstandslehre Calixts anhand der „Disputationes" und der „Epitome Theologiae" nachzuzeichnen.

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D i e katholische Kritik u n d die Calixtinische A n t h r o p o l o g i e 1 5 8 0 - 1 6 8 0 als etwas, das sich aus d e n G r u n d l a g e n der N a t u r von selbst ergibt, wie die natürlichen Fähigkeiten u n d ihre N e i g u n g e n , s o n d e r n vielmehr als das, was zwar von außen zu ihr hinzutritt, ihr aber a n g e b o r e n ist, als o b es sich aus den G r u n d l a g e n der N a t u r ergäbe. U n d in diesem S i n n e b e h a u p t e n wir, sei die Justitia Originalis d e m M e n s c h e n , n a t ü r l i c h ' gewesen u n d d e m M e n s c h e n a u f natürliche Weise gefolgt, n ä m l i c h von seinem A n b e ginn und Ursprung an."132

Dies entspricht tatsächlich auf den ersten Blick der Meisnerschen Position: die Justitia Originalis ist dem Menschen in einem nicht-substantialistischen Sinne natürlich, einen substantialistischen „naturale"-Begriff lehnt Calixt ab. Bei näherem Hinsehen zeigt sich jedoch, daß Calixt in Wirklichkeit keineswegs mit Meisnerscher Laxheit die traditionellen Termini der Schulmetaphysik umdeutet, sondern auch schon hier die Bellarminsche Position vertritt. Wir erinnern uns: Auch Bellarmin hatte ja konzediert, rein theoretisch könne man die Justitia Originalis im nicht-substantialistischen Sinne fur „natürlich" halten: er hatte im selben Atemzug aber auch ganz klar gemacht, daß bei strenger Beachtung der schulmetaphysischen Traditionen diese Interpretation des Begriffes in Fragen der Urstandslehre theologisch unzulässig sei und den von Luther intendierten substantialistischen Sinn nicht träfe. 133 Und dies ist die Meinung, der sich Calixt bei näherem Hinsehen in Wirklichkeit auch anschließt. An einer einzigen, gut versteckten Stelle gibt er seine wahre Gesinnung zu erkennen, wenn er sagt, die Imago Dei „non debita sit homini ratione suae naturae, sed sit donum merè gratuitum & supernaturale." 134 Damit erscheint alles oben Gesagte plötzlich in einem völlig anderen Licht: Calixt hält es eben nicht mit der Meisnerschen Lösung, sondern schließt sich Bellarmin an - die Justitia Originalis ist an sich streng genommen übernatürlich und nur deshalb kann der ständig von ihm benutzte uneigentliche „naturale"-Begriff gelten. In seiner Epitome Theologiae von 1619 hat sich Calixts Position schon deutlich weiterentwickelt: jetzt verteidigt er offen die Übernatürlichkeit der Imago Dei und räumt an einer einzigen knappen Stelle ein: „im übrigen kann man auch ,natürlich' sagen, wenn man darunter nichts anderes versteht als das, was zusammen mit der Natur beginnt oder von ihrem Ursprung und Anbeginn mit da ist." 135 Auch in der weiteren Ausführung adaptiert Calixt den anthropologischen Ansatz Bellarmins weitgehend. Verständlicherweise tut er dies, ohne es offen zuzugeben. Eine Distanzierung von der ständig aufgerufenen Anthropologie

132 Calixt, Disputationes, S. 94, These XI: „Semel monemus nos quando in hac disputatione naturale dicimus non intelligere id quod ab intrinseco & per se sit naturale sive constituens naturam humanam, ut forma substantialis; sive fluens ex principiis naturae, ut naturales potentiae & earum propensiones: verum quod licet extrinseciis accesserit, connascatur tarnen tamquam si proveniret è principiis naturalibus. Atque hoc sensu dicimus justitiam universalem fuisse naturalem homini, hominemque naturaliter consequutam, id est, ab ipso ortu & origine ejus." 133 Vgl. Bellarmin, De gratia, S. 24. 134 Calixt, Disputationes, These IX, S. 94. 135 Calixt, Epitome Theologiae, S. 154: „[...] alioquin naturalem dicere potes, si nihil aliud intelligas quam coepisse cum ipsa natura sive ab ipso ortu et origine naturae fuisse" (vgl. Anm. 124).

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Bellarmins ist aber ebenfalls nicht mehr zu erkennen.' 36 D e facto sind Calixts Position und die Bellarmins, wie sie sich aus seinen „Kontroversen" ergibt, identisch. Bellarmin ist anders als bei Hutter, Gerhard oder Meisner nicht mehr kontroverstheologischer Gegner, sondern ständiger theologischer Gesprächspartner. Da die Flacianische Häresie unbedingt zu vermeiden ist, vertritt Calixt ausgehend von seiner philosophischen „naturale"-Lehre wie Bellarmin die Idee der „natura pura", der „natura sibi relicta" oder des „status merorum naturalium". Und wie Bellarmin sieht auch Calixt die Funktion der übernatürlichen Imago Dei darin, diese von Gott geschaffene „natura pura" zu vervollkommnen und die Mängel, die ihr von Anfang an inhärieren, aufzuheben bzw. zu korrigieren.137 Ebenso wie bei Bellarmin führt der Sündenfall nur zum Verlust der übernatürlichen Imago Dei, die „natura pura" bleibt auch nach dem Sündenfall erhalten. 138 Das Fehlen der übernatürlichen Imago Dei nach dem Sündenfall hat dann zur Folge, daß der Mensch wieder in den status purae naturae zurückfällt und die natürlichen Gebrechen und Mängel sozusagen passiv zutagetreten. 139 Die Erbsünde besteht dann im Umkehrschluß auch nicht in einer manifesten Eigenschaft der

136 Vgl. etwa Calixt, Epitome Theologiae, S. 169—171. Schon in den Disputationes von 1611 war Bellarmin nach Augustinus der meistzitierte Theologe, ihm wird die Ehre zuteil, als erster namentlich genannt zu werden (These XXXII) u n d die Auseinandersetzung mit ihm beherrscht den systematischen Hauptteil der A b h a n d l u n g (Thesen XL bis LXV). 137 Vgl. Calixt, Epitome Theologiae, S. 155: „Haec autem ipsa partim perficiunt naturalia et iis aliquid a d d u n t , partim corrigunt eorumque cursum suspendunt et impediunt, scilicet ubi cum beatitudine perfecta pugnant." Calixt entfernt sich hier auf den ersten Blick von der eigentlich katholischen Position u n d scheint sich der irrigen M e i n u n g anzuschließen, die die lutherischen Theologen über die katholische Theologie hatten. W ä h r e n d die katholische Theologie das Verhältnis von „status m e r o r u m naturalium" u n d „dona supernaturalia" als Akt-Potenz-Verhältnis konstruierte, verstanden u n d bemängelten die Lutheraner es als eine zeitliches Voher-Nachher (vgl. Köster, Reformation, S. 82). Calixts Position ist eigentümlich schwankend: zum einen behauptet er, daß es den „status merorum naturalium" n u r theoretisch gibt, denn in Wirklichkeit „ne m o m e n t o quidem fuit sine supernaturalibus" (Epitome Theologiae, S. 155), zum anderen aber versteht er ihr Verhältnis so, daß die „supernaturalia" ex post ,,[a]ccesserunt autem ex superabundante benevolentia Creatoris, quo haec creatura earum, quae sensibus percipiuntur, nobilissima, perfectior foret et dignior suoque conditori magis placeret et ad ipsum a m a n d u m ac l a u d a n d u m aptior esset et promptior" (ebd., S. 156). 138 Vgl. ebd., S. 162: „Breviter itaque totam rem expedire possumus dicendo h o m i n e m in statu post lapsum habere ea, quae proprio et stricto sensu naturalia appellavimus et supra enumeravimus, Supernaturalia vero omnia amisisse." 139

Vgl. ebd., S. 166: ,„sumus fìlli irae', Eph.2, v.3, quippe qui careamus eo, per quod Deo piacere possemus et q u o d ex vi primae institutionis divinae habere debebamus. Atque haec carentia, c u m qua nascimur, est peccatum illud, quod originale solemus vocare, privative oppositum iustitiae originali, nempe: in intellectu ignorantia rerum, quae sine iactura salutis ignorari nequeunt, et voluntatis divinae de m o d o et mediis consequendi salutem tenebrae sive caligo; in volúntate aversio a Deo et bono; in appetitu rebellio." W ä h r e n d der formale Verlust die Schuld ausmacht (vgl. ebd., S. 159: „Ipse igitur omnesque eius posteri ex primaeva dei institutione ad eam habendam obligantur, n i m i r u m ut tales sint, quales in principio Creator esse voluit"), bedeutet das faktische Fehlen die eigentliche Strafe (vgl. ebd., S. 162: „Et quidem absentiam supernaturalium quae superioribus potentiis conveniebant peccatum esse, ut paulo post ostendemus. Absentiam vero supernaturalium, quae inferiores potentias attinebant, poenam esse peccati, nempe carere inhabitatione Paradisi, obnoxium esse omnis generis a natura et casu exortis calamitibus, morbis et morti.").

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menschlichen Natur, 1 4 0 sondern stellt nur einen rein negativen, ererbten Mangel an Urstandsgerechtigkeit dar. 141 Calixt hat damit jedoch wie auch Bellarmin das Problem, erklären zu müssen, warum die von G o t t geschaffene „natura pura" Mängel besitzt, die zutagetreten, sobald die übernatürliche Imago Dei verschwunden ist. D i e Theologie Bellarmins hatte, wie wir gesehen haben, als Antwort gegeben, die Sündigkeit der menschlichen „natura pura" erkläre sich aus ihrer Materialität, die a priori gewisse Beschränkungen und Unvollkommenheiten impliziere. Diese Antwort war in der lutherischen Theologie spätestens seit Gerhards Bestreitung dieses Argumentes unmöglich geworden, denn sie implizierte, daß G o t t als Schöpfer der Materie indirekt Ursache der Sünde sein müsse. 1 4 2 Für Calixt ist deshalb die Frage entscheidend, welchen ontologischen Status die zutagetretenden Mängel „ignorantia", „aversio" und „rebellio" haben. U m diese Frage zu beantworten, greift Calixt in melanchthonischer 1 4 3 Tradition auf die biblische Definition der Sünde als „anomia" (l.Joh. 3,4) zurück. Die Sünde ist kein eigenes ens positivum, sondern nur „ataxia", die sich bestimmter entia positiva bemächtigt und sie verkehrt. Calixt gewinnt somit ein Mittel, zwischen der Natur, die an und fur sich gut ist, und dem Bösen in ihr, das eine reine res privativa ist, zu unterscheiden. „Rebellio", „aversio" und „ignorantia" sind nicht an sich böse Eigenschaften der Natur, sondern an sich gute Eigenschaften, die durch die ontologisch als reines Negativum zu verstehende „anomia" verderbt worden sind. Dieser Gedanke wird bei Calixt in seiner Epitome nur ansatzweise entwickelt, 144 in seinen späteren Schriften dann aber breit ausgeführt. Das heißt, 140 Er versichert vielmehr, ebd., S. 168: „Naturam nostram, quam ipse condidit [sc. Gott, A.S.], ut talem certe non odit. Sin ob peccatum Adami nos odisset, non ob propriam, sed alienam culpam culpabiles essemus." 141 Vgl. ebd., S. 167, Anm. υ: „Peccatum originis est a primo peccato et [in]obedientia [!] Adami in omnes eius posteros communi et carnali modo progenitos derivata iustitiae originalis privatio eos reddens impotentes sive inhabiles ad consequendum, amandum et colendum Deum, quemadmodum ad salutem oportet et proinde excludens a gratia et amicitia et a regno coelorum." Damit stellt sich jedoch die Frage, wie eine fremde Schuld den Menschen zur Sünde angerechnet werden könne. Calixt teilt hier nicht die (wie wir gesehen hatten, recht widersprüchlichen) Bellarminschen Überlegungen zur Sünde als „in lumbis Adae" vererbtem Zustand, sondern er gibt zu, daß sich diese Frage im Rahmen der aristotelischen Philosophie nicht sinnvoll beantworten läßt, ebd.: „Peccati rationem, quam attendit Philosophus, non nisi peccatum morale attinere, ñeque enim pro peccato habet quod naturam consequitur aut nullo modo voluntarium est, sed si hanc regulam hue usque extenderis, plane nobis perierit peccatum originis, nam ne fingi potest, quomodo a volúntate nostra id dependeat." Zur Problematik der Imputationslehre insgesamt siehe Kapitel III, 3. 142 Vgl. Gerhard, Loci, Lib. I. Loc. V i l i . Cap. I, 4 5 - 5 6 , S. 114f. und Cap. II, 6 3 - 7 3 , S. 116-119. 143 Vgl. Petersen, Geschichte, S. 98. 144 Calixt, Epitome Theologiae, S. 166: „Manifestum est itaque άνομίαν sive peccatum esse quicquid in homine perfectissimae Dei proximique dilectione aliquo modo répugnât et adversatur, quodeumque, inquam aliquam virium sive potentiarum humanarum ab obedientia et subiectione quae Deo debetur, subtrahit, suspendit, impedit aut avertit [...]." Vgl. auch ebd., S. 171: „Si igitur peccatum formaliter fuerit Ens positivum, alterutrum necessario sequitur, scilicet aut peccatum a Deo esse aut aliud quoddam praeter Deum rerum dari principium, ex quibus duobus utrum absurdius sit et magis impium, nemo facile dixerit."

Die Diskussion um die Calixtinische Anthropologie

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Calixt entwickelt eine rein negative Sündenlehre und umgeht damit das Problem, die Sünde als irgendeine Art von ens positivum auf Gott zurückfuhren zu müssen. Damit entgeht er auch der Schwierigkeit, in die Bellarmin durch Gerhards Kritik geraten war. 145

b) P f a f f r a d , Meisner, Mentzer und der kursächsische

Theologenkonvent

Die Reaktionen auf Calixts „Epitome Theologiae" ließen nicht lange auf sich warten. Nach allem eben Gesagten ist es nicht erstaunlich, daß vor allem seine Erbsündenlehre und Anthropologie Zielscheibe der Kritik wurden. Noch im Erscheinungsjahr wurde sie Gegenstand eines Konfliktes zwischen der philosophischen und der theologischen Fakultät.146 Der 1 6 1 5 neu berufene Theologieprofessor Strube, Enkel Basilius Sattlers, eben jenes Generalissimus' des Wolfenbüttelers Konsistoriums, mit dem Calixt bei seiner Anstellung wegen seiner ungedruckten Dissertation so viele Probleme gehabt hatte, 147 hatte eine Schrift über die Erbsünde veröffentlicht, die von Cornelius Martini in einer öffentlichen Disputation scharf als ramistisch und manichäistisch kritisiert worden war. 148 Dies wurde als ' 45 Man wird jedoch zugeben müssen, daß die von Calixt im Rahmen der Epitome Theologiae vorgelegte umfassende Definition der Erbsünde zumindest den in ihr enthaltenen Widerspruch zwischen der Sünde als rein formalem Fehlen der Übernatur und der Sünde als irgendwie der Natur inhärierendem Mangel nicht verhehlen kann. Der Weg vom Fehlen der Übernatur hin zu den in einer an sich reinen, gut geschaffenen Natur zutagetretenden Mängeln wird nicht erklärt. Signifikant ist in diesem Zusammenhang ein den Sinn geradezu umkehrender Schreibfehler Calixts, S. 167, vgl. das Zitat Anm. 141). 146 Für das Folgende vgl. besonders Henke, Calixt 1, S. 253ff. 147 Vgl. Henke, Calixt I, S. 237; Wallmann, Calixt, S. 553. 148 Vgl. Henke, Calixt I, S. 254; Streitpunkt war das schon erwähnte Problem, ob die Erbsünde etwas formaliter Positives sei oder aber nicht. Während sich Strube auf die lutherische Tradition berief, die in der Konkupiszenz als dem Materiale der Erbsünde ein reales Seiendes sah, hatte Martini, im Rekurs auf die aristotelische Metaphysik, die Position vertreten, die Sünde könne formaliter nur ein Negativum sein. Im Rahmen dieses Streites hatte sich Martini bezeichnenderweise dazu hinreißen lassen, Strube als Manichäer zu bezeichnen; er titulierte ihn also mit derselben Kategorie, die gewöhnlich auf die Flacianer angewendet wurde. Wir haben bereits gesehen, daß Martini damit einen wunden Punkt bei den Ramisten treffen mußte: „Stolidissimos vocavit eos omnes, Manichaeos eos pronunciavit qui Deum causam peccati faciant, asinitates eis imputavit, et quis omnia eius blateramenta enumeret!" (zitiert nach Henke, Calixt I, S. 254). Ramistisch beeinflußte Theologen wie Strube, so Martini, „wüßten nicht, was Metaphysica sei, es walte eine inscitia Ramistica" (ebd.). Nach Henke, ebd., S. 256, meinte Martini, Strube zeige mit seinen Äußerungen zum ontologischen Charakter der Erbsünde eine „vollkommene Unwissenheit in den ersten metaphysischen Begriffen und rieth deshalb ihm zu seinem eigenen Besten das Stillschweigen aufzuerlegen [...]." Die Affäre wurde dadurch beigelegt, daß Strube, Martini und Calixt am 26. Januar 1620 zum Statthalter nach Wolfenbüttel zitiert wurden, um die „zwischen ihnen entstandenen Missverständnisse gütlich hin- und beizulegen" (Henke, ebd., S. 257f.). Es ist für die Polarisierung innerhalb des nach- bzw. (in Helmstedt) außerkonkordistischen Luthertums und die Radikalisierung der Parteien nach dem Hofifmannschen Streit bezeichnend, daß eine ramistisch beeinflußte Position wie die Strubes von Seiten des humanistischen Aristotelismus schon 1619 nur noch als Neuauflage des flacianischen Manichäismus aufgefaßt wurde. Darin zeigt sich jedoch jene theologische Tendenz, die wir auch an Calixts Theologie prinzipiell feststellen konnten, denn seine Übernahme der katholischen Lehre von der Übernatürlichkeit der Gottebenbildlichkeit hatte ihre Wurzeln ja nicht in der Absicht, eine Werkgerechtigkeit des Menschen

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Angriff auf die theologische Fakultät gewertet. Ebenso wie Martini die Erbsündenlehre von Strube kritisiert hatte, machte sich nun Pfaffrad daran, die Anthropologie in Calixts Epitome als katholisierend zu denunzieren. 149 Kritisiert wurden vor allem Calixts Adaption der katholischen Theorie des „status purorum naturalium". 150 Nach dem ,,Historische[n]/Theologische[n] Bericht" der Wittenberger Theologen von 1669 war damit schon 1619 eindeutig erwiesen, daß durch Calixts Lehre von den pura naturalia „die gantze Theologia verderbt werde". 151 Tatsächlich war mit der Adaption der These vom „status purae naturae" ja die entscheidende Differenz zwischen katholischer und lutherischer Anthropologie hinfällig geworden. Für einen ramistischen Theologen wie Pfaffrad, der die Anwendung jeglicher metaphysischer Distinktionen in der Theologie ablehnte, war allerdings auch nicht zu erkennen, daß der eigentliche Grund für Calixts Rezeption der katholischen Urstandslehre in dessen Favorisierung eines essentialistischen ,naturale'-Begriffes lag. Man argwöhnte vielmehr, hier solle der Sündenfall und die Erbsünde geleugnet und eine Rückkehr zur katholischen Werkgerechtigkeit vorbereitet werden. Schon im nächsten Jahr (1620) begann der Streit um die Erbsünde weitere Kreise zu ziehen. Zwischen Cornelius Martini und dem seit dem Vorjahr mit seiner „Anthropologia Sacra" in Fragen der Urstandslehre einschlägig ausgewiesenen Balthasar Meisner in Wittenberg wiederholte sich im großen Maßstab die Kontroverse, die Martini im kleinen schon mit Strube gehabt hatte. Mit Meisner und seiner flexiblen Adaption der Bellarminschen Kritik tritt nun auch jene dritte Position im Streit um die Erbsündenlehre (jenseits von Ramisten und den Bellarmin zugeneigten Aristotelikern wie Calixt) auf den Plan. Zunächst allerdings wurde in der Debatte mit Martini noch nicht ausdrücklich die Frage von Natürlichkeit oder Ubernatürlichkeit verhandelt, sondern nur die damit zusammenhängende Frage nach dem ontologischen Status der Erbsünde gestellt, so daß Meisners neu entwickelter differenzierter Naturbegriff noch nicht zum Tragen kam. Es mag dies der Grund dafür gewesen sein, warum sich Meisner hier noch auf die Seite Pfaffrads schlug, aus dessen Umkreis später, durch Büscher etwa, Ansichten zur Erbsündenlehre laut wurden, die auch Meisners Zustimmung nicht mehr hätten finden können. 152 Das Problem, um das es im Streit mit Martini ging, ist für Meisner zweifach: zum einen versteht er die Debatte als terminologischen Konflikt zwischen den konkurrierenden Diskursen Theologie und Philosophie,

möglich zu machen, sondern wollte die philosophischen und theologischen Ungereimtheiten der flacianischen Häresie vermeiden. Auch die ramistische Theologie neigte jedoch zu einer radikalen Auffassung ihres Gegners: für sie stellte sich der Helmstedter humanistische Aristotelismus als nur wenig mehr denn ein kaschierter Katholizismus dar, und wie wir gesehen hatten, lag sie mit dieser Einschätzung ja auch nicht ganz falsch. Vgl. Henke, Calixt I, S. 306, Anm. 2. Das Buch selbst lag mir leider nicht vor. 150 Vgl. Staemmler, Kampf, S. 22. 151 Abgedruckt in Calov, Historia, S. 562-608, ebd. S. 572. 152 Gerade in der Frage nach der Natürlichkeit der Imago Dei hatte Meisner, wie wir gesehen hatten, ja eine äußerst differenzierte Position vertreten.

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und er erblickt im Vorgehen der Helmstedter eine prinzipiell ungebührliche Einmischung der Metaphysik in die Theologie. 1 5 3 Meisner wittert hinter den rein formal-philosophischen Streitigkeiten jedoch auch einen theologischen Grund. In dem Bestreben, die Sünde philosophisch als reines Negativum zu fassen, sieht er den Versuch, die lutherische Erbsündenlehre als solche überhaupt abzuschaffen, indem die katholische Lehre von der Erbsünde als reiner Privation eingeführt und die menschliche Natur aufgewertet wird: „Einst behaupteten die Scholastiker, in deren F u ß s t a p f e n jetzt die Jesuiten treten, die I m a g o D e i , die d e n Protoplasten anerschaffen war, sei eine gewisse äußerliche u n d hinzutretende G a b e u n d nicht eine innerliche u n d .connaturale' V o l l k o m m e n h e i t . [...]. Von hier schreiten sie weiter fort zu der B e h a u p t u n g , nach d e m S ü n d e n f a l l seien die natürlichen Eigenschaften unverletzt geblieben, weil ja die E r b s ü n d e nichts weiter ist als die W e g n a h m e oder die Privation des göttlichen Ebenbildes, jener hinzugefugten G a b e . D a s alles lehrten sie zu d e m Zweck, u m s o leichter d e n freien Willen des M e n s c h e n verteidigen zu k ö n n e n u n d d a v o n a b h ä n g e n d die E r f ü l l u n g des Gesetzes u n d folgerichtig die gesetzliche R e c h t f e r t i g u n g aus den Werken. E i n e n solchen D i s k u r s nämlich stellten sie auf: die E r b s ü n d e besteht formaliter nur als reine Privation, bzw. als M a n g e l des göttlichen Ebenbildes. D i e N a t u r ist deshalb nicht verändert oder verderbt, sondern die natürlichen K r ä f t e sind unversehrt."' 5 4

Ebenso wie PfafFrad sieht auch Meisner durch die Helmstedter Art der Verwendung der Metaphysik die Theologie Bellarmins in die lutherische Anthropologie Einzug halten und trifft damit zumindest für die Calixtinische Theologie tatsächlich den Nagel auf den Kopf. 1 5 5 Was Meisner jedoch ebenso wenig wie die 153 Vgl. Meisner, Quaestiones, S. 122f.: „Theologi termino positivo in hac quaestione paulo aliter utuntur ac Metaphysici. His enim nihil positivum est, nisi quod a Deo productum. Nobis ut & Theologicis supra citatis, sensu latiori id omne positivum est, quod habet aliquam entitatem, productum sive a Deo, ut bonum; sive a Diabolo & homme, ut peccatum habitúale & actúale. [...] Brevissimis ergo mentem nostram ita explicamus: Peccatum originis formaliter non est ens positivum, sensu stricto & Metaphysico, quia non habet entitatem à Deo productam & dependentem. Idem tamen peccatum formaliter est ens positivum sensu latiori, quia entitatem habet à privatione nuda distinctam, & licet non à Deo, ab homine tamen productam & introductam". 154 Ebd., S. 6lf.: „Disputarunt olim Scholastici, quorum vestigia premunt, Jesuwitae, Imaginem Dei, πρωτοπλάστις concreatam, fuisse externum quoddam & superadditum donum, non internam & connaturalem quandam perfectionem [...]. Hinc latius progressi statuerunt post lapsum integra quoque mansisse naturalia, quia peccatum originis nihil sit aliud, quam oblatio vel privatio divinae imaginis doni istius superadditi. Q u a e omnia istam in finem docuerunt, ut eo melius defendi posset liberum hominis arbitrium, & huic dependens legis impletio, ac consequenter, legalis per opera justificado. Talem enim discursum instituerunt: Peccatum origin informal i ter consistit in sola privatione seu imaginis divinae sublatione. Natura igitur non fuit mutata vel corrupta, sed vires naturales mansere integra." 155 Vgl. ebd., S. 117: „Peccatum extenuant & pro Romanensium heterodoxia sive inscii, sive deliberate militant, quicumque peccatum originis formaliter meram privationem esse contendunt. Nam Scholastica & Papistica est haec hypothesis, quod peccatum formaliter tantum sit carentia imaginis divinae, vel sublatio rectitudinis debitae, sine ullius malae qualitas accessu, ut patet ex Bellarm. 1. de gratia primi hominis c.5 [...]. Quicumq: docent, peccatum formaliter esse meram privationem, ii cum Bellarmino & Pontificiis in hac articulo consentiunt. Sed quidam Philosophantes docent, peccatum formaliter esse meram privationem. Ergo cum Bellarmino & Pontificiis in hoc

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Ramisten wahrnehmen konnte, war, daß die Helmstedter sich um der philosophischen Korrektheit willen gezwungen sahen, eine katholische Position einzunehmen. Die Kritik sollte nicht abreißen. Wie schon im Falle seiner ungedruckten Dissertation übersandte das Calixt nicht wohl gesonnene Konsistorium in Wolfenbüttel 1620 auch seine „Epitome" zu einer Uberprüfung ihrer Rechtgläubigkeit an Balthasar Mentzer nach Gießen, und dieser kam zu dem (kaum überraschenden) Schluß, Calixts Urstandslehre neige in einigen Punkten bedenklich dem Katholizismus zu. 156 Zum selben Urteil kam auch die im September 1621 vom sächsischen Hofprediger und Oberkonsistorialrat Hoe von Hoenegg einberufene Theologenkonferenz. 157 Anwesend waren neben dem sächsischen Hofprediger unter anderem auch Johann Gerhard und Balthasar Meisner, und so kann es nicht verwundern, daß neben der Frage der ,Ubiquitätslehre', die, wie wir gesehen hatten, fur Helmstedt ein prinzipielles Problem darstellte, es gerade die Erbsündenlehre war, die man bei Calixt tadelte. Auch die Kontroverse zwischen Martini und Meisner wurde kritisiert und Johann Major meinte, „es sei nöthig zu dämpfen das Feuer, so zwischen den Theologen zu Wittenberg und Helmstädt, auch was Cornelius Martini wider Hrn. Dr. Meisner geschrieben". 158 Auch persönliche Animositäten spielten auf dem Theologenkonvent eine Rolle. So behauptete der anwesende Theologe Balduin, sein Schwiegervater Meisner sei von Calixt des Manichäismus beschuldigt worden, 159 wie es Martini gegenüber Strube ja tatsächlich getan hatte. Zuletzt sah man es für gut an, „dass man einen gelehrten Studiosum aus den fürstlichen Stipendiaten nehme, der dieser Leut argutias examiniere und widerlege." 160 Wenn man nicht schärfer vorging, lag es nicht daran, daß man das Problem nicht ernst genommen hätte. Die Stimmung ging aber dahin, es sei nicht nötig, daß ehrbare Theologen wie Fricke, Meisner und

articulo consentiunt; ac per consequens amplius objicere nequeunt Jesuitis, quod peccatum originis extenuent, & falso definiant." 156 Vgl. dazu die allerdings verkürzende Darstellung in Ritsehl, Dogmengeschichte IV, S. 376f. sowie Staemmler, Kampf, S. 23f. Staemmler nimmt an, daß es sich dabei nicht um einen offiziellen Schritt gehandelt habe. Es fragt sich dann allerdings, warum Wolfenbüttel den Schritt dann überhaupt unternahm. Nach Henke, Calixt I, S. 307f., äußerte sich Mentzer in einem Brief an seinen Schwiegersohn, den Wolfenbütteler Hofprediger Heinrich Wideburg, reserviert, auch wenn er die Kritikpunkte nur kurz und bei weitem nicht so scharf wie die Helmstedter oder die Wittenberger anspricht. Bezeichnenderweise ist dieser Brief ebenfalls nur durch die spätere anticalixtinische Schrift aus Wittenberg, Hülsemann, Dialysis, S. 100, auf uns gekommen, so daß auch hier eventuell nur mit Einschränkung Mentzers eigene Meinung sichtbar wird: „Gratiam habeo transmissa Epitome D . Calixti, in qua animadverto ingenii dotes haud vulgares, sed & vestigia apparent errorum haut quaquam levium. [...] N o n faciam mentionem erratorum in vestíbulo & Prolegomenis occurentium, in quibus excusandis scio, quid praetexi soleat. De Imagine Dei & de peccato video multa ad palatam Papistarum, quae probari cordatis Theologicis non possunt." 157 158 159 160

Vgl. Henke, Calixt I, S. 317. Zitiert nach ebd., S. 3 1 8 - 3 1 9 . Vgl. ebd., S. 319; Staemmler, Kampf, S. 26. Zitiert nach Henke, Calixt I, S. 321.

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Höpfner eine Schrift: verfaßten „und durch consensus communis die quaestiones resolviert würden"; 161 vielmehr seien „Helmstadiani [...] nicht werth dass ein ehrlich vornehmer Mann sich an sie mache; man möge junge Personen an sie schicken, die mit ihnen spielten wie die Katze mit der Maus." 1 6 2 Die geplante Abmahnung Calixts und Martinis durch die kursächsischen Theologen blieb jedoch aus, wobei die Gründe unklar sind. 163 Erst im Rahmen der 1624 erfolgten Visitation der Universität durch ein neu zusammengetretenes Braunschweigisches Generalkonsistorium wurde auch Calixt ermahnt, „daß er seine Epitomen revidire und ändere" 164 und „andere reine und unseren Confessionibus zugethane Theologen sollen weder privatim noch publice perstringiret oder angegriffen werden". 165 Damit endete die erste Rezeptionsphase der Calixtinischen Erbsünden- und Imago-Dei-Lehre. Für die Ausdifferenzierung der lutherischen Anthropologie ist dabei das Jahr 1619 das entscheidende Datum: In diesem Jahr erschienen als Antwort auf Bellarmins Angriffe nicht nur Meisners „Anthropologia Sacra" und Calixts „Epitome Theologiae". In ihrer Reaktion auf die Erbsündenlehre Calixts gibt sich ebenfalls in diesem Jahr zum ersten mal seit dem Hoffmannschen Streit auch wieder jene Partei von ramistisch gesinnten Theologen um Caspar Pfaffrad offen zu erkennen. Die faktische Ausdifferenzierung der protestantischen Anthropologie in einen lutherischen, einen katholisierenden und einen ramistischen Teil wurde zwar wahrgenommen; die eigentliche Wurzel des Problems wurde jedoch nicht als solche erkannt: die Frage nach der prinzipiellen Kompatibilität von aristotelischer Philosophie und lutherischer Theologie, auf die alle drei Strömungen je unterschiedliche Antworten fanden, die dann zu je verschiedenen Konzeptionen vom Verhältnis von Natur und Erbsünde führten. Man war offensichtlich der Überzeugung, es handele sich um nicht miteinander zusammenhängende einzelne Abweichungen von den Bekenntnisschriften, die zurückgedrängt werden könnten, indem man auf der faktischen Normativität des Corpus Doctrinae beharrte. Gerade mit einem solchen Versuch, die Helmstedter Lehre als unlutherisch zu entlarven, indem man sie mehr oder minder mechanisch an den Bekenntnisschriften durchdeklinierte, begann Jahre später die zweite Phase der AuseinandersetzunZitiert nach ebd., S. 319. Zitiert nach ebd., S. 320. 163 Henke, ebd., S. 321, vermutet ein Einschreiten des Kurfürsten. 164 Zitiert nach Staemmler, Kampf, S. 28. 165 Ebd. Als explizite Fehler in der Theologie Calixts wurden fast ausschließlich Punkte aufgeführt, die entweder direkt oder indirekt mit dem Problem der .Ubiquitätslehre' zu tun hatten, das in Helmstedt wegen des etwas unklaren Bekenntnisstandes (vgl. Anm. 98) sowieso akut war, oder die ganz speziell mit seiner Konzeption des Verhältnisses von menschlicher Natur und Erbsünde zusammenhängen: „de cognitione Dei naturali, de privato et positivo, de formali et materiali peccati, de justicia originali, naturalis homini an supernaturalis fuerit? de communicatione Idiomatum, de omnipraesentia Christi etiam secundum carnem, de Efficacia Verbi et Sacramentorum, de fide Infantium et plurimis aliis" (zitiert nach Staemmler, Kampf, S. 28, Anm. 29). Als Proprium der Calixtinischen Theologie wird also auch hier schon ihre besondere Anthropologie gesehen. 161

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gen, die schließlich offen in den Synkretistischen Streit mündete. 166 Daß viele Differenzen zwischen den kontrahierenden Parteien tatsächlich nur aus einer unterschiedlich verwendeten Terminologie stammten, explizierten gegen Ende dieses Streites erst Theologen wie Friedrich Ulrich Calixt. Mittlerweile hatte sich der Streit, wie Johannes Wallmann gezeigt hat, jedoch längst zu einer Grundsatzdebatte über die Normativität der Bekenntnisschriften ausgeweitet.167

C) Die zweite Kontroverse 1640/41 1640/41 provozierte eine Streitschrift des Hannoveraner Pfarrers Statius Büscher die zweite Kontroverse um Calixts Theologie. Zu diesem Zeitpunkt war die Anthropologie zwar nach wie vor ein wichtiger Kritikpunkt von Calixts Gegnern, eigentlich aber ging es mittlerweile um mehr: die gesamte Theologie des Helmstedter Professors war inzwischen unter Beschüß geraten. 1619/20 hatte man gemeint, nur einige vermeintlich katholisierende Lehrabweichungen in anthropologischen Einzelfragen kritisieren zu müssen. In den darauffolgenden Jahren aber schien sich der Verdacht der lutherischen Theologen zu bestätigen, Calixt neige insgesamt und überhaupt der „papistischen" Theologie zu: seit Ende der zwanziger Jahre schien es Georg Calixt immer offener um eine Annäherung, ja Wiedervereinigung der Konfessionen zu tun zu sein. Das warf im Rückblick aus orthodoxer Sicht nicht nur ein schlechtes Licht auf seine theologischen Anfänge, sondern setzte seine damaligen Kritiker im Nachhinein auch ins Recht. Büschers Pamphlet gegen Calixt und die Helmstedter Theologie wurde so zum Beginn der großen Kontroverse, die als Synkretistischer Streit in die Theologiegeschichte Eingang fand. Der viele Jahrzehnte währende Synkretistische Streit begann demnach als Kontroverse um die Rechtgläubigkeit und Zulässigkeit der Helmstedter Theologie im allgemeinen und der Georg Calixts im besonderen, er 16