Handbuch Milieusensible Kommunikation des Evangeliums: Reflexionen, Dimensionen, praktische Umsetzungen [1 ed.] 9783666702778, 9783525702772

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Handbuch Milieusensible Kommunikation des Evangeliums: Reflexionen, Dimensionen, praktische Umsetzungen [1 ed.]
 9783666702778, 9783525702772

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Heinzpeter Hempelmann / Benjamin Schließer/ Corinna Schubert / Patrick Todjeras / Markus Weimer (Hg.)

Handbuch Milieusensible Kommunikation Reflexionen, Dimensionen, des Evangeliums praktische Umsetzungen

KIRCHE UND MILIEU Leben.Lieben.Arbeiten

SYSTEMISCH BERATEN

Kirche und Milieu Band 4

Herausgegeben von Heinzpeter Hempelmann und Markus Weimer in Verbindung mit Ulrich Heckel, Matthias Kreplin, Benjamin Schließer und Corinna Schubert

Heinzpeter Hempelmann/­Benjamin Schliesser/­ Corinna Schubert/Patrick Todjeras/ Markus Weimer (Hg.)

Handbuch Milieusensible Kommunikation des Evangeliums Reflexionen, Dimensionen, praktische Umsetzungen Mit 26 Abbildungen und 16 Tabellen

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar. © 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: © Clker-Free-Vector-Images – Pixabay Satz: Dorothee Schönau, Wülfrath Umschlag: SchwabScantechnik, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-666-70277-8

Inhalt

Einleitung Geleitwort ..................................................................................................................... 11 Vorwort ........................................................................................................................ 13 Teil I: Grundlegungen Kommunikation des Evangeliums und die Frage der Milieusensibilität ............. 17 Christian Grethlein »Da kann ja jeder kommen!« Zum Spannungsfeld Mission und Inklusion ........................................................... 25 Ralph Kunz Kontextualisierung des Evangeliums Grundzüge eines an der Inkarnation Christi orientierten Verständnisses.......... 41 Jürgen Schuster Der menschliche Faktor Milieusensible Kommunikation des Evangeliums als Arbeit und Mühe ............ 58 Heinzpeter Hempelmann Teil II: Dimensionen der Kommunikation des Evangeliums 1 Die verbale Dimension ............................................................................................ 77 Das Evangelium mit Worten kommunizieren ........................................................ 77 Matthias Clausen Angebote milieuspezifisch texten Milieus richtig ansprechen, zur Teilnahme einladen und zum Engagement ermutigen ..................................................................................................................... 88 Günther Frosch Zur Inspiration: Das dritte AnGebot der EKD in milieuspezifischer Sprache – ein Versuch ................................................................................................ 99 Sebastian Steinbach 2 Die mediale Dimension .........................................................................................103 Mensch und Medium Eine Hinführung zu McLuhan ................................................................................103 Norbert Schmidt Die mediale Kommunikation des Evangeliums ....................................................112 Karsten Kopjar

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Inhalt

Die mediale Kommunikation des Evangeliums – Interview mit Kirchenrat Dan Peter .......................................................................118 Gesprächspartner: Dan Peter (=DP), Heinzpeter Hempelmann (=HpH) 3 Die temporale Dimension .....................................................................................133 Meine Zeit steht in deinen (und meinen) Händen: Verständigungsmöglichkeiten von christlichen Zeitkonzepten und moderner Beschleunigungskultur ...................................................................133 Henning Freund Zwischen Tages- und Lebenszyklus. Impulse aus der kirchlichen Praxis .........145 Dirk Kellner »Zeit« in unterschiedlichen Milieus ........................................................................152 Zacharias Shoukry 4 Die lokale Dimension ............................................................................................162 Der Raum des Evangeliums: Zu den Voraussetzungen einer raumtheoretischen Erfassung der Kommunikation des Evangeliums ...............162 Matthias D. Wüthrich Der Raum der Kommunikation des Evangeliums – Praktische Impulse: Wie die Ästhetik des Raumes Einfluss nimmt ......................................................174 Tobias Fritsche 5 Die performative Dimension ................................................................................183 Performative Religions- und Gemeindepädagogik...............................................183 Florian Karcher »Sprich nur ein Wort ...« Die performative Dimension der Kommunikation ..............................................197 Fabian Vogt 6 Die personale Dimension ......................................................................................205 Kultursensible Kompetenz in der personalen Kommunikation des Evangeliums ........................................................................................................205 Nahamm Kim Lebensweltsensible Kommunikation des Evangeliums........................................218 Matthias Kreplin Milieusensible personale Kommunikation: Grundlagen für ein Modell individueller und gruppenbezogener Kommunikation auf der Basis der SINUS-Milieus ..............................................226 Peter Martin Thomas

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Inhalt

7 Die diakonische Dimension..................................................................................240 Kommunikation des Evangeliums im Kontext der Diakonie .............................240 Joachim Rückle Die diakonische Kommunikation des Evangeliums .............................................251 Heinzpeter Hempelmann 8 Die sinnliche Dimension .......................................................................................258 Die sinnliche Kommunikation des Evangeliums ..................................................258 Martin Reppenhagen Milieus und Musik ....................................................................................................263 Marc Calmbach / Heinzpeter Hempelmann Kommunikation des Evangeliums Eine Schneise durch den Wald ................................................................................270 Zacharias Shoukry Teil III: Praxis Tabellen zu den acht Dimensionen entlang der zehn SINUS-Milieus (Heinzpeter Hempelmann, Benjamin Schließer, Corinna Schubert, Patrick Todjeras, Markus Weimar, Zacharias Shoukry)......................................283 Dimension KET verbal 283; 308 medial 285

LIB 283; 312 285; 312 temporal 152f.; 153; 288; 288; 309 313 lokal 176; 177f.; 290; 290; 309 313 performativ 294; 294; 310 314 personal 297; 297; 310 314 diakonisch 251f.; 252f.; 300; 300; 311 315 sinnlich 263f.; 264; 303; 303; 311 315

PER 283; 316 285; 316 154; 288; 317 178f.; 290; 317 294; 318 297; 318 253; 300; 319 264f.; 303; 319

EPE 283; 320 285; 320 154; 288; 321 179f.; 291; 321 295; 322 297; 322 253f.; 301; 323 265; 304; 323

BÜM 284; 324 286; 324 155; 288; 325 180f.; 291; 325 295; 326 297; 326 254; 301; 327 266; 304; 327

SÖK 284; 328 286; 328 156; 288; 329 177f.; 291; 329 295; 330 298; 330 252f.; 301; 331 266f.; 304; 331

ADA 284; 332 286; 332 156f.; 289; 333 292;

TRA 284; 336 286; 336 157; 289; 337 180f.; 292; 333 337 295; 296; 334 338 298; 298; 334 338 254f.; 255; 302; 302; 334 339 267; 267f.; 305; 305; 334 339

PRE 284; 340 286; 340 157ff.; 289; 341 181f.; 292; 341 296; 342 299; 342 255f.; 302; 343 268; 305; 343

HED 284; 344 287; 344 159ff.; 289; 345 293; 345 296; 346 299; 346 256f.; 302; 347 268f.; 306; 347

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Inhalt

Illustrationen und Kurzübersichten entlang der zehn SINUS-Milieus – alle Dimensionen auf einen Blick ............................................................................307 (Illustrationen: Corinna Schubert) Fazit: Rückblick und Ausblick .................................................................................348 Heinzpeter Hempelmann Abkürzungsverzeichnis ............................................................................................372 Beteiligte .....................................................................................................................373 Link zum Download-Material .................................................................................376

Einleitung

Geleitwort

Kommunikation des Evangeliums ist die vornehmste Aufgabe der Kirche. Es ist ihr ureigener Daseinszweck und ihre Bestimmung, »die Botschaft von der freien Gnade Gottes auszurichten an alles Volk« (Barmen VI). Diese Aufgabe ist ihr aufgetragen inmitten einer Gesellschaft, die in sich tief segmentiert und in unterschiedliche Lebenswelten fragmentiert ist. Die Menschen leben auf sehr unterschiedlichen, mental weit auseinanderliegenden soziokulturellen Inseln. Sie finden bisweilen ihre Identität darin, dass sie sich voneinander abgrenzen, eben nicht so reden, denken, handeln, »ticken« wie die anderen. Diese zentrale sozialwissenschaftliche Einsicht hat Konsequenzen für das kommunikative Handeln der Kirche: innerhalb der Kirche, aber auch über ihre Grenzen hinweg in die Gesellschaft hinein. Die Autorinnen und Autoren des vorliegenden Bandes machen sich gemeinsam auf die Suche nach eben diesen verschiedenen, milieusensiblen Kommunikationswegen und verpflichten sich dazu, den Leitbegriff »Kommunikation des Evangeliums« praktisch-theologisch für die unterschiedlichen Lebenswelten durchzudeklinieren. Dabei schlägt dieser Band wie auch seine Vorgänger in der Reihe »Kirche und Milieu«1 eine Brücke zwischen interdisziplinärer akademischer Reflexion und kirchlicher Praxis. Der vierte Band der Reihe »Kirche und Milieu« sucht Antworten auf diese Fragen. Er bietet eine wissenschaftliche, die Partnerdisziplinen der Praktischen Theologie einbeziehende Reflexion von Grundsatzfragen und besitzt gleichzeitig den Mut, als Handbuch ganz praktische Hinweise und Handlungsimpulse anzubieten. Wichtige Erkenntnisse werden in Tabellen und Grafiken zusammengefasst. Die tabellarischen Konkretionen stellen anspruchsvolle – und gelungene – »Übersetzungen« in die Praxis dar. Den Herausgebern gelingt es mit diesem Band, einen relevanten Beitrag sowohl zum akademischen Diskurs wie auch für die kirchliche Praxis vor Ort zu leisten. Die Beiträge zeichnen sich aus durch einen Fokus sowohl auf die verschiedenen Dimensionen der Kommunikation des Evangeliums als auch auf die 1

Band 1: Heinzpeter Hempelmann / Benjamin Schließer / Corinna Schubert / Markus Weimer (Hg.), Handbuch Taufe. Impulse für eine milieusensible Taufpraxis (Kirche & Milieu 1), Neukirchen-Vluyn 2013. Band 2: Heinzpeter Hempelmann / Karen Hinrichs / Ulrich Heckel / Dan Peter (Hg.), Auf dem Weg zu einer milieusensiblen Kirche. Die SINUS-Studie »Evangelisch in Baden und Württemberg« und ihre Konsequenzen für kirchliche Handlungsfelder (Kirche und Milieu 2), Göttingen 22019. Band 3: Heinzpeter Hempelmann / Benjamin Schließer / Corinna Schubert / Markus Weimer (Hg.), Handbuch Bestattung. Impulse für eine milieusensible kirchliche Praxis (Kirche & Milieu 3), Göttingen 22019.

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Geleitwort

Milieus. Sie lassen sich leiten von den Fragen: Was sind die von den jeweiligen Milieus bevorzugten Medien? Wie informieren sie sich? Was interessiert sie? Lesen sie Bücher, Zeitschriften, den Gemeindebrief, oder twittern sie lieber? Was favorisieren sie: feste Sendezeiten beim ZDF (und beim Gottesdienst), oder streamen sie lieber? Erwarten sie von ihrer Kirche digital abrufbereite Angebote? Haben sie Interesse am Zeitgeschehen, oder beschränkt sich ihre Teilhabe am digitalen Leben auf ihre Facebook- bzw. WhatsApp-Gruppe? Wo bewegen sie sich jeweils? Was sind ihre »Orte« und was ihre »Unorte«, wo sie auf keinen Fall hingehen? Gehören auch kirchliche Orte dazu? Wie denken, erleben, planen sie ihre Zeit? Oder sind feste Strukturen selbst etwas, das es auf jeden Fall zu vermeiden gilt? Welche Performanz spricht sie an? Ist es das Hochkulturelle oder das Event? Der Mainstream oder das Trashige, die Veranstaltung mit Platzkarte oder der Flashmob? Ich wünsche den Leserinnen und Lesern dieses Bandes, dass sie sich anregen lassen von der Fülle an Reflexionen und Impulsen für eine milieusensible Kommunikation des Evangeliums. Diese können wir gewiss nicht »machen«. Aber wir können ihre Rahmenbedingungen förderlich gestalten. Allen, denen es ein Anliegen ist, die »Milieugefangenschaft von Kirche« (Wolfgang Huber) zu überwinden, sei dieser Band für die persönliche Erweiterung des Horizontes und für die eigene Arbeit in der Gemeinde empfohlen. Prof. Dr. Heinrich Bedford-Strohm Landesbischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, Vorsitzender des Rates der EKD

Vorwort

Die Rede von der »Kommunikation des Evangeliums« ist aus der Praktischen Theologie und der kirchlichen Arbeit nicht mehr wegzudenken. Vor über 50 Jahren brachte Ernst Lange sein Anliegen mit diesem Ausdruck auf den Punkt: »Wir sprechen von Kommunikation des Evangeliums und nicht von ›Verkündigung‹ oder gar ›Predigt‹, weil der Begriff das prinzipiell Dialogische des gemeinten Vorgangs akzentuiert und außerdem alle Funktionen der Gemeinde, in denen es um die Interpretation des biblischen Zeugnisses geht – von der Predigt bis zur Seelsorge und zum Konfirmandenunterricht – als Phasen und Aspekte ein- und desselben Prozesses sichtbar macht.«1

Die Formel machte Furore, wurde weiterentwickelt und zu einem Leitbegriff von groß angelegten praktisch-theologischen Entwürfen. Ebenso hat sich die Milieutheorie in den vergangenen Jahren einen festen Platz im praktisch-theologischen Diskurs erobert. Auch die Kirchen setzen sich intensiv mit den Haltungen der verschiedenen Milieus zu religiösen Fragen und Praktiken auseinander. Der zweite Band der Reihe »Kirche und Milieu« mit dem Titel »Auf dem Weg zu einer milieusensiblen Kirche« dokumentiert dieses Anliegen eindrücklich. In den beiden anderen Bänden der Reihe haben wir uns mit den kirchlichen Kernhandlungen Taufe und Bestattung auseinandergesetzt. Ziel der Reihe ist es, Impulse und Inspiration für milieusensibles kirchliches Handeln vor Ort zu bieten und zu einer wachen Wahrnehmung der Lebenswelten der Menschen einzuladen. Der vorliegende Band »Milieusensible Kommunikation des Evangeliums« knüpft an diese Vision an. Er bringt Ernst Langes Schlagwort mit der Lebensweltforschung ins Gespräch: Wenn wir das biblische Zeugnis dialogisch vergegenwärtigen, tun wir dies nicht eindimensional bloß mit Worten, so zentral das Wort in Kirchen reformatorischer Prägung auch ist (solo verbo). »Kommunikation des Evangeliums« ereignet sich auch mittels unterschiedlicher Medien. Ihr Gelingen hängt von etlichen Faktoren wie dem Zeitpunkt/-raum, dem Ort, der Performanz, der Dimension des Persönlichen, des Sinnlichen, aber auch der ethischen und sozialdiakonischen Konkretion ab. All diese Dimensionen, die freilich nur eine Auswahl darstellen, werden in dem Band praxisrelevant für die SINUS-Milieus durchkonjugiert unter der Leitfrage, wie wir in unserem kirchlichen Handeln eine milieusensible Kommunikation des Evangeliums fördern können. Die Reihe »Kirche und Milieu« will Theorie und Praxis verbinden. Das Ansinnen spiegelt sich auch in der Struktur des Bandes wider: In einem ersten Hauptteil finden sich orientierende Beiträge zu den beiden Themenfeldern 1

Ernst Lange, Aus der »Bilanz 65«, in: ders., Kirche für die Welt. Aufsätze zur Theorie kirchlichen Handelns, hg. u. eingel. v. Rüdiger Schloz, München 1981, 63–160, 101.

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Vorwort

»Kommunikation des Evangeliums« und »Milieutheorie«, der zweite Hauptteil beleuchtet die verschiedenen Dimensionen (verbal, medial, temporal, lokal, performativ, persönlich, diakonisch, sinnlich) zunächst in einem grundsätzlichen Beitrag, und ein bzw. zwei weitere Beiträge sind stärker an der Praxis ausgerichtet. Beschlossen wird dieser Teil von einem Literaturbericht, der eine Schneise schlägt in den Wald der zahlreichen Publikationen zum Thema. Der dritte Hauptteil bietet eine übersichtliche Darstellung der Ergebnisse in tabellarischer Form, darüber hinaus finden sich dort Illustrationen und Kurzübersichten für die konkrete Arbeit in der Gemeinde, die auch als digitales Zusatzmaterial zum Download bereitstehen (siehe S. 377). Das Fazit nimmt in Rückblick und Ausblick einige der zentralen Fragestellungen des Bandes auf und versucht, Impulse für ein weiteres Gespräch zu geben. Wir sind dankbar für die nachhaltige Unterstützung, die unsere Reihe durch die Evangelische Landeskirche in Baden und die Evangelische Landeskirche in Württemberg erfährt. Sie haben auch das Symposium »Milieusensible Kommunikation des Evangeliums« ermöglicht, das am 30. November 2016 in Stuttgart stattfand. Vom Symposium zur Publikation war es ein weiter Weg, der aus den verschiedensten Gründen mehr Zeit in Anspruch nahm als gedacht und erhofft. Wir danken allen Autorinnen und Autoren sehr herzlich für ihre Geduld und mehr noch für ihre erhellenden Beiträge!2 Bei Herrn Bodo Flaig und dem SINUS-Institut bedanken wir uns für die Genehmigung, die SINUS-Grafiken abzudrucken. Für Inspiration und Ermutigung danken wir den vielen Mitgliedern, Mitstreiterinnen und Mitarbeitern des Netzwerkes churchconvention und des TANGENS-Instituts für Kulturhermeneutik und Lebensweltforschung, vor allem Herrn Zacharias Shoukry für seine unermüdliche Arbeit an den zahlreichen Einzeltexten. Dank gebührt auch Frau Jana Harle für die erfreuliche Zusammenarbeit und dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht für sein Interesse an der Reihe »Kirche und Milieu«. Wir freuen uns aufrichtig über das durchweg positive Echo der Reihe in der Fachwelt wie auch in der kirchlichen Praxis, weit über die protestantischen Konfessionsgrenzen hinaus. Wir danken für alle Anregungen, die uns in Rezensionen und in Gesprächen erreicht haben und hoffen, dass auch der hier vorliegende Band dazu einlädt, kreative Wege einer milieusensiblen Kommunikation des Evangeliums zu gehen. Heinzpeter Hempelmann, Benjamin Schliesser, Corinna Schubert, Patrick Todjeras, Markus Weimer

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Den Modus der sprachlichen Genderdifferenzierung haben wir nicht vereinheitlicht, sondern den Beitragenden überlassen. Der Sprachgebrauch ist durchweg als inklusiv zu verstehen, auch da, wo nur die männliche oder nur die weibliche Form verwendet wird.

Teil I: Grundlegungen

Kommunikation des Evangeliums und die Frage der Milieusensibilität Christian Grethlein Das Verhältnis der Menschen zur Kirche und zu christlichen Glaubenssätzen hat sich in den letzten Jahrzehnten auch in Deutschland grundsätzlich verändert. Aus einer – jahrhundertelang durch die Obrigkeit exekutierten – Selbstverständlichkeit der Kirchenzugehörigkeit wurde im Kontext weitreichender Umstellungen in Gesellschaft, Kultur und Staat eine Option.1 Die Praktische Theologie kann als eine Antwort der Theologie auf diese seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts zu beobachtenden Entwicklungen verstanden werden, zu denen das Auseinandertreten zwischen Kirchenlehre und persönlicher Überzeugung der Menschen gehörte. Das neue Fach erarbeitete auch – nach einer längeren Stagnation im Schatten der Wort-Gottes-Theologie – neue Begrifflichkeiten, um den Wandel zu erfassen und adäquat zu reagieren. Typisch ist dafür die folgende, viel zitierte Äußerung des wesentliche ökumenische Impulse in die deutsche Diskussion vermittelnden Ernst Lange: »Wir sprechen von Kommunikation des Evangeliums und nicht von ›Verkündigung‹ oder gar ›Predigt‹, weil der Begriff das prinzipiell Dialogische des gemeinten Vorgangs akzentuiert und außerdem alle Funktionen der Gemeinde, in denen es um die Interpretation des biblischen Zeugnisses geht – von der Predigt bis zur Seelsorge und zum Konfirmandenunterricht – als Phasen und Aspekte ein- und desselben Prozesses sichtbar macht.«2

1 Kommunikation des Evangeliums als theologischer Leitbegriff Seit etwa zwanzig Jahren wird auch sonst »Kommunikation« zu einem Begriff, der die Aufmerksamkeit von Wissenschaftler/innen unterschiedlicher Fächer auf sich zieht. Einsichten der Nachrichtentechnologie über Konzepte in der Psychologie, Ritualtheorie und praktischen Philosophie bis zu elaborierten systemtheoretischen und semiotischen Modellen ergeben ein differenziertes Kommunikationsverständnis.3 Dabei geht es stets darum, die in der Interaktion zwischen Personen begründete Dynamik zu beschreiben. Sie ist bei Fragen der 1

Vgl. zu möglichen, jenseits des herkömmlichen Säkularisierungsparadigmas, aber auch der vorschnellen Rede von der Wiederkehr der Religion liegenden Konsequenzen Hans Joas, Glaube als Option. Zukunftsmöglichkeiten des Christentums, Freiburg 2012. 2 Ernst Lange, Aus der »Bilanz 65«, in: ders., Kirche für die Welt. Aufsätze zur Theorie kirchlichen Handelns (hg. von Rüdiger Schloz), München 1981, 63–160, 101. 3 Eine knappe Darstellung einiger ausgewählter, für die Praktische Theologie direkt anschlussfähiger Theorien und Einsichten findet sich in Christian Grethlein, Praktische Theologie, Berlin 22016, 146–159.

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Daseins- und Wertorientierung in einer demokratischen und pluralistischen Gesellschaft ergebnisoffen.4 Theologisch verdient diese Theorieentwicklung deshalb Beachtung, da der für das Christentum grundlegende Begriff des »Evangeliums« selbst ein – unverfügbares und damit ergebnisoffenes – Kommunikationsgeschehen beschreibt.5 Das geht schon philologisch aus der allerdings bisher noch kaum beachteten grammatikalischen Tatsache hervor, dass das zu »Evangelium« gehörende Verb im Medium steht: εὐαγγελίζεσθαι (euangelizesthai). Andere ebenfalls im Neuen Testament zentrale Begriffe wie κηρύσσειν (kēryssein – verkündigen), die im Aktiv stehen, haben dies lange verdeckt.6 Sie schlossen an in der antiken, hierarchisch strukturierten Gesellschaft wichtige Institutionen wie die des Herolds an. Doch ist für Herolde als Verkünder feststehender Botschaften mit dem Wandel der Gesellschaft zu einem demokratischen und pluralistischen Gemeinwesen kein Platz mehr – sie treten nur noch, wenn überhaupt, im Theater auf. Der im Medium von εὐαγγελίζεσθαι (euangelizesthai) angelegte kommunikative Grundcharakter im Sinne einer ergebnisoffenen Interaktion zwischen grundsätzlich gleich Berechtigten entspricht dagegen heutiger Kommunikation im Bereich der Daseins- und Wertorientierung. In Deutschland fand er rechtlich in Artikel 4 des Grundgesetzes seinen Niederschlag. Dass dies keine nachträgliche Verzerrung des Auftretens, Wirkens und Geschicks Jesu von Nazareth ist, bestätigt die Lektüre der diesbezüglichen Berichte im Neuen Testament. Schon die Tatsache von vier Evangelien, die im Einzelnen deutlich voneinander abweichen, zeigt, dass es kein uniformes Evangelium gibt, sondern zu diesem die Rezeptionsprozesse und damit der jeweilige Kontext der Kommunikation dazugehören. Zudem erschließt sich die Dynamik des jesuanischen Wirkens erst, wenn dieses kommunikationstheoretisch rekonstruiert wird. In dichter Weise kommunizierte er mit Menschen, die in der damaligen Gesellschaft häufig eher am Rande standen bzw. exkludiert waren. Offenbar ließ Jesus sich – wie z. B. Mk 7,24–30 bzw. Mt 15,21–28 von seiner Begegnung mit einer nichtjüdischen Frau erzählen – durch den Austausch mit ihnen sogar den Horizont erweitern.

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S. zur dahinterstehenden Unterscheidung von »instrumentellem«, »strategischem« und »kommunikativem« Handeln Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Band 1: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung, Frankfurt am Main 1981, 385. 5 S. auch zum Folgenden genauer Habermas, Theorie, 159–172. 6 Zur nicht nur in den Übersetzungen, sondern häufig auch in den exegetischen Kommentaren nivellierten Fülle der unterschiedlichen Verben, die »die Kommunikation des Evangeliums in verschiedenen Kontexten« charakterisieren (Wilfried Engemann, Einführung in die Homiletik, Tübingen 22011, 434f.), s. die tabellarische Zusammenstellung bei Engemann, Einführung, 435f.

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2 Milieus als wissenssoziologischer Versuch, Gemeinsamkeiten zu entdecken Wohl nicht von ungefähr verliefen die Genese von Praktischer Theologie und Soziologie weitgehend parallel.7 Sie bezogen sich auf ähnliche bzw. miteinander zusammenhängende Herausforderungen gesellschaftlichen und kulturellen Wandels. Galt es theologisch – wie genannt – die zunehmende Differenz zwischen Kirchenlehre und den persönlichen Einstellungen der Einzelnen zu bearbeiten, musste sich die Soziologie der Herausforderung stellen, Gemeinsamkeiten im Kontext zunehmender Individualisierung und Pluralisierung zu identifizieren. Dazu wurden verschiedene Modelle entworfen. Besondere soziologische Erschließungskraft für die Gegenwart erwies das Konzept der sozialen Milieus. Es trägt zum einen grundlegenden Veränderungen Rechnung, wie dem Zurücktreten des Zwangs zur Existenzsicherung oder ortsund statuszentrierter Distinktionen; zum anderen nimmt es die zunehmende Bedeutung ästhetischen Erlebens für den Lebensstil und die damit verbundenen Geselligkeitsformen auf. Gerhard Schulze präsentierte viel beachtet mit dem Stichwort »Erlebnisgesellschaft« ein empirisch erprobtes Milieu-Modell.8 Zugleich arbeitete die SINUS Markt- und Sozialforschung ein ständig den sich verändernden Verhältnissen angepasstes Milieu-Modell heraus, das auf strategische Produktberatung zielte, aber auch zunehmend von Institutionen und Organisationen wie Parteien, Gewerkschaften und eben Kirchen9 in Anspruch genommen wird. Unterschiedliche Einstellungen, etwa zu Arbeit, Familie, Freizeit, Geld und Konsum, aber auch alltagsästhetische Schemata lassen bestimmte Personengruppen erkennen, deren Zusammenhang mit dem Milieubegriff beschreibbar erscheint. Während allerdings noch Schulze ausdrücklich von einer Quantifizierung der »Zeichen des persönlichen Stils, Lebensalter (mit den beiden Aspekten von biologischem Alter und Generationszugehörigkeit) und Bildung«10 abriet,11 7

S. Volker Drehsen, Neuzeitliche Konstitutionsbedingungen der Praktischen Theologie. Aspekte der theologischen Wende zur sozialkulturellen Lebenswelt christlicher Religion, Gütersloh 1988, 166–178. 8 S. die tabellarischen Übersichten zu den einzelnen Milieus bei Gerhard Schulze, Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt am Main 1993 (1992), 291, 300, 311, 321, 330. 9 S. am Beispiel zweier Landeskirchen Heinzpeter Hempelmann, Gott im Milieu. Wie Sinusstudien der Kirche helfen können, Menschen zu erreichen, Gießen 2013, sowie praxisbezogen ders., Welche Anwendungsmöglichkeiten gibt es für die Milieuforschung? Ein Werkzeugkoffer und einiges Nachdenkliche, in: Valentin Dessoy / Gundo Lames / Martin Lätzel / Christian Hennecke (Hg.), Kirchenentwicklung. Ansätze – Konzepte – Praxis – Perspektiven (Gesellschaft und Kirche – Wandel gestalten 4), Trier 2015, 407–426; s. aus katholischer Perspektive Tobias Kläden, Kirche im Milieu, in: Dessoy/Lames/Lätzel/Hennecke (Hg.), Kirchenentwicklung, 333–344 (mit umfangreicher Literaturliste). 10 Schulze, Erlebnisgesellschaft, 185. 11 Schulze, Erlebnisgesellschaft, 216.

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liegt hier in den SINUS-Studien durchaus ein Schwerpunkt. Die bei diesbezüglichen Zahlenangaben ausgeblendete Unschärfe des Milieu-Modells steht in Spannung zu der von Organisationen angestrebten konkreten Planung.12 Auch von daher ergibt es Sinn, den Bezug auf die entsprechenden Ergebnisse durch den Begriff »Milieusensibilisierung« zu relativieren.13 Wie die beiden vorliegenden, milieutheoretisch ausgerichteten Handbücher zu Taufe und Bestattung14 zu Recht betonen, geht es beim Rekurs auf das SINUS-Milieus-Modell um ein hermeneutisches, kein bloß deskriptives Instrument. Es erweist sich mit dieser Einschränkung als sowohl kirchentheoretisch als auch pastoraltheologisch gut anschlussfähig.

3 Bedeutung milieusensibler Reflexion für Kirchentheorie und Pastoraltheologie Kirchentheoretisch nimmt der Rekurs auf die SINUS-Milieus das Problem auf, das Klaus v. Bismarck bereits 1957 hellsichtig als »Milieuverengung« vieler Kirchengemeinden diagnostizierte.15 Dass es sich dabei um ein Defizit kirchlicher Praxis handelt, liegt auf der Hand. Die theologische Brisanz dieses Befunds wird aber erst deutlich, wenn man ihn in Beziehung zur grundsätzlich inklusiven16 Ausrichtung der Kommunikation des Evangeliums im Auftreten, Wirken und Geschick Jesu von Nazareth setzt. Dieser aß und trank mit »Sündern und Zöllnern« und sprach mit aus unterschiedlichen Gründen aus der Gemeinschaft Exkludierten. Sein Wirken war also in hohem Maß inkludierend, ohne allerdings die Möglichkeit der Selbstexklusion auszuschließen. Demgegenüber definiert Schulze Milieus als »Personengruppen, die voneinander durch erhöhte Binnenkommunikation abgegrenzt sind und typische Existenzformen aufweisen«.17 Zum Milieu-Konzept gehört also konstitutiv die Einsicht in den exkludierenden Charakter bestimmter Stile, Einstellungen und sozialer Zugehörigkeiten. 12

Zu den Spannungen in der konkreten Gemeindeentwicklung s. die anschauliche Diskussion von zwei Praxisbeispielen bei Claudia Schulz, Sozialstrukturelle Vielfalt, Lebensstile und Milieus. Wahrnehmung von Diversität als Leitkategorie der Kirchen- und Gemeindeentwicklung, in: Ralph Kunz / Thomas Schlag (Hg.), Handbuch für Kirchen- und Gemeindeentwicklung, Neukirchen-Vluyn 2014, 117–124, 119–122. 13 S. z. B. Heinzpeter Hempelmann / Benjamin Schließer / Corinna Schubert / Markus Weimer (Hg.), Handbuch Bestattung. Impulse für eine milieusensible kirchliche Praxis (Kirche & Milieu 3), Neukirchen-Vluyn 2015, 141. 14 Neben dem in voriger Anmerkung genannten Werk dies., Handbuch Taufe. Impulse für eine milieusensible Taufpraxis (Kirche & Milieu 1), Neukirchen-Vluyn 2013. 15 Klaus v. Bismarck, Kirche und Gemeinde in soziologischer Sicht, Zeitschrift für evangelische Ethik 1 (1957), 17–30. 16 Vgl. Ulf Liedke, Inklusion in theologischer Perspektive, in: Ralph Kunz / Ulf Liedke (Hg.), Handbuch Inklusion in der Kirchengemeinde, Göttingen 2013, 31–52. 17 Schulze, Erlebnisgesellschaft, 169f.

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Theologisch gesehen geht es deshalb bei einer milieusensiblen Reflexion von Praxis primär um die Aufdeckung von Abgrenzungen. Denn sie stehen der bereits im Schöpfungsglauben angelegten, dann aber in der Christologie ausgearbeiteten grundsätzlichen Zuwendung Gottes zu allen Menschen und deren daraus folgenden grundsätzlichen Gleichheit entgegen. Vielleicht am dringlichsten ist – bei der gegenwärtigen Struktur von Kirche und Kirchengemeinden – die kritische Reflexion des pastoralen Handelns. Denn Pfarrer/innen gehören ebenfalls bestimmten Milieus an – Ältere wohl häufig dem konservativ-etablierten Milieu, Jüngere eher dem adaptiv-pragmatischen bzw. sozial-ökologischen Milieu. Damit haben sie zum einen – und dies zeigt sich etwa in entsprechenden Befunden der EKD-Kirchenmitgliedschaftsumfragen18 – einen guten Zugang zu anderen diesen oder ähnlichen Milieus Zugehörenden; zum anderen aber bestehen die Kommunikation in der Regel belastende bzw. sogar ausschließende Differenzen zu Menschen mit anderen Lebensstilen und ästhetischen Präferenzen. Auseinandersetzungen um die Musik bei Kasualien, aber auch – von außen gesehen arrogante – Herabsetzungen anderer Menschen lassen sich so erklären. Wie gefährdet ohne milieusensible Reflexion pastorale Praxis sein kann, demonstriert etwa folgende Äußerung des in der Tradition der VerkündigungsParadigmas stehenden Praktischen Theologen Günther Dehn im Zusammenhang der Taufpraxis: »Man mache auch ernst mit Taufgesprächen, die man, besonders in zweifelhaften Fällen vor der begehrten Taufe mit Eltern und Paten abhalten sollte. Es müssen Zäune aufgerichtet werden, die verhindern, daß Krethi und Plethi ihre Kinder zur Taufe bringen.«19

Dagegen zeigen die Beispiele in den beiden genannten Handbüchern zu Taufe und Bestattung, dass ein milieusensibler Zugang zu pastoralen Praxisfeldern nicht nur für den persönlichen Umgang mit Gemeindegliedern wichtig ist, sondern auch homiletisches und liturgisches Potenzial enthält. So kommen manche nur selten verwendeten biblischen Traditionen bzw. Texte und liturgische Formen in den Blick, wenn nach einem Anschluss an die Erlebniswelt und deren Plausibilitäten in bestimmten Milieus gefragt wird. Von daher bereichert der milieusensible Blick nicht nur die Selbstreflexion der Pfarrer/innen, sondern auch ganz konkret pastorale Praxis. Damit diese aber nicht zu bloßer Affirmation gerät, gilt es grundsätzliche Unterscheidungen zum Verhältnis von Evangelium und Kultur in Erinnerung zu rufen.

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S. die Zusammenfassung entsprechender Befunde bei Andrea Eimterbäumer, Pfarrer/innen. Außen- und Innensicht, in: Jan Hermelink / Thorsten Latzel (Hg.), Kirche empirisch. Ein Werkbuch, Gütersloh 2008, 375–394, 379. 19 Günther Dehn, Die Amtshandlungen der Kirche, Stuttgart 1950, 38.

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Christian Grethlein

4 Evangelium und Kultur – Verhältnisbestimmungen von Nairobi Systematisch gesehen geht es bei der milieusensiblen Analyse um ein Instrument zur Kontextualisierung20 der Kommunikation des Evangeliums. Dabei eröffnet ein aus der ökumenischen Liturgik stammendes hermeneutisches Instrument wichtige Unterscheidungen. Im Zuge der dritten internationalen Konsultation der Studiengruppe »Gottesdienst und Kultur« des Lutherischen Weltbundes, die im Januar 1996 in Nairobi stattfand, wurde das Verhältnis zwischen Gottesdienst und Kultur genauer bestimmt.21 Die dabei erarbeiteten Unterscheidungen bieten eine vorzügliche Grundlage für eine praktisch-theologische Hermeneutik der Kontextualisierung: − »Demnach ist christlicher Gottesdienst »kulturübergreifend« (Erklärung, 30f.; »transcultural«). So finden sich bestimmte Vollzüge wie Taufe und Abendmahl sowie der Sonntagsgottesdienst, aber auch liturgische Elemente wie Schriftlesung, Glaubensbekenntnis und Vaterunser überall in christlichen Kirchen. − Zugleich ist jeder Gottesdienst »kontextuell« (Erklärung, 31–33; »contextual«). Die jeweilige Kultur prägt die Feier […]. − Weiter ist eine »kontrakulturelle« bzw. kulturkritische (»countercultural«) Dimension zu beachten (Erklärung, 33). Hier steht die christliche Feier im Gegensatz zur Kultur, insofern diese dem Evangelium widerspricht. […] − Schließlich finden sich »kulturelle Wechselwirkungen« (Erklärung, 33f.; »cross-cultural«). Hier geht es um die gegenseitige Beeinflussung von Kulturen. Besonders in multikulturell zusammengesetzten Gemeinden und Kirchen ist das ein wichtiger Vorgang.«22 Milieusensible Analyse ist unschwer als eine Form der Kontextualisierung zu verstehen. Bestimmte Stile, Verhaltensweisen und Einstellungen von Menschen werden in ihrer Besonderheit und ihrem Zusammenhang rekonstruiert. Damit Evangelium kommuniziert werden kann, ist hieran anzuschließen. In den genannten Handbüchern zu einer milieusensiblen kirchlichen Praxis wird dies bei 20

S. zu der vor allem in der US-Praktischen Theologie fortgeschrittenen Theoriebildung Stephen Bevans, Contextual Theology as Practical Theology, in: Kathleen A. Cahalan / Gordon S. Mikoski (Hg.), Opening the Field of Practical Theology. An Introduction, Lanham 2014, 45–59; s. zum ökumenischen Hintergrund Christian Grethlein, An Introduction to Practical Theology. History, Theory, and the Communication of the Gospel in the Present, Waco 2016, 96–98. 21 Erklärung von Nairobi über Gottesdienst und Kultur: Herausforderungen und Möglichkeiten unserer Zeit, abgedruckt in: Anita Stauffer (Hg.), Christlicher Gottesdienst: Einheit in kultureller Vielfalt. Beiträge zur Gestaltung des Gottesdienstes heute (LWB Studien), Genf 1996 / Hannover 1997, 29–35; die im folgenden Zitat verwendeten Seitenangaben beziehen sich auf diesen Text. 22 Grethlein, Praktische Theologie, 193.

Kommunikation des Evangeliums

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der Präsentation der einzelnen Milieus unter der Überschrift »Theologische Anknüpfung« aufgenommen. Zugleich macht das Nairobi-Dokument darauf aufmerksam, dass Evangelium sich stets auch in Differenz zu einer Kultur bzw. in unserem Zusammenhang: zu einem Milieu befindet, also eine »kontrakulturelle« Dimension umfasst. Die Handbücher sehen deshalb zu Recht jeweils die Rubrik »›Evangelische Provokationen‹« vor. Darüber hinaus sieht das Nairobi-Dokument noch zwei weitere hermeneutische Reflexionsstufen vor, die sich stärker am Anliegen der Einheit orientieren, die kulturübergreifende und die kulturell wechselwirksame Dimension. Tatsächlich dürfte ihnen angesichts der weiter zunehmenden Pluralisierung und Individualisierung zukünftig wohl noch verstärkt Bedeutung zukommen. Allerdings dürfen sie nicht – wie bisweilen in der Tradition, aber auch an Zielgruppen orientierten Reformversuchen – den kultur- bzw. milieuspezifischen Differenzierungen entgegengesetzt werden. Sie ergänzen diese vielmehr komplementär.

5 Einheitsstiftende Kommunikationsformen Ein Blick in die Christentumsgeschichte lässt vermuten, dass der Impuls des Auftretens, Wirkens und Geschicks Jesu von Nazareth zu bestimmten fundamentalen Kommunikationsformen führte, die »kulturübergreifend« sind. Sie nehmen die drei Modi der Kommunikation des Evangeliums bei Jesus, das Lehren und Lernen, das gemeinschaftliche Feiern und das Helfen zum Leben,23 auf. Zugleich spiegeln sich in ihnen – wenigstens tendenziell – drei verschiedene Formen des Kontaktes zu Gott: Kommunizieren über Gott, Kommunizieren mit Gott und Kommunizieren von Gott her,24 wobei die konkreten Kommunikationen ineinander übergehen und hier nur Schwerpunkte benannt werden. Konkret handelt es sich um die Kommunikationsformen Erzählen, Beten und Gesegnet-Werden. Sie stellen wohl grundsätzliche, milieuüberschreitende Möglichkeiten zur Kommunikation des Evangeliums dar. Dabei kann ihre jeweilige Ausgestaltung durchaus – je nach Milieu – differieren. Gänzlich auf sie verzichten kann man aber wohl nicht. Allerdings sind diese Kommunikationsformen elementar und – wie die Christentumsgeschichte zeigt – offen für vielfältige Ergänzungen und Erweiterung. Schnell bildeten und bilden sich zahlreiche weitere Formen aus. Diese – etwa Miteinander-Sprechen als Konsequenz aus dem Erzählen, Singen oder Heilen als Fortführung des Betens bzw. Gesegnet-Werdens – wurden sehr differenziert, teilweise sogar in eigenen Wissensformationen wie Pädagogik, Musik oder Medizin und dabei auch milieuspezifisch ausgearbeitet. Ebenfalls entwickelten sich spezifisch kirchliche Kommuni-

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S. ausgeführt Grethlein, Praktische Theologie, 256–327. S. zusammengefasst in tabellarischer Form Christian Grethlein, Taufpraxis in Geschichte, Gegenwart und Zukunft, Leipzig 2014, 176. 24

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Christian Grethlein

kationsformen, wie das Predigen, das Mahl-Feiern oder das Getauft-Werden.25 Auch hier sind in der konkreten Ausgestaltung milieuspezifische und damit Andere exkludierende Prägungen unübersehbar. Die Rückbesinnung auf die elementaren Formen der Kommunikation des Evangeliums kann dabei helfen, deren inklusiven Charakter wiederzugewinnen. Einen wichtigen weiteren Schritt eröffnet der Hinweis auf »kulturelle Wechselwirksamkeiten«. Denn hier wird die sonst Milieus eigene Tendenz zu Exklusionen überwunden. Es findet ein Austausch statt. Dass dabei viel Fingerspitzengefühl notwendig ist, zeigt ein Vergleich der »Dos« und »Don’ts« in den genannten Handbüchern zur Taufe und Bestattung. Zugleich sind aber auch sonst in der Kultur gewisse Überschritte über Milieugrenzen zu beobachten, die zu Bereicherungen des bisher Vertrauten beitragen. Die jedenfalls partielle Auflösung der Grenzen zwischen sog. E- und U-Musik kann dafür ein Beispiel sein. Besondere Bedeutung bekommt diese Dimension des kulturell Wechselwirksamen im Kontext der Migrationsbewegungen, die auch Deutschland erfassen. Vielleicht führt das missionarisch unerlässliche Sich-Einstellen auf deren Erlebniswelt und Einstellungen dazu, dass bisher trennende Milieu-Grenzen relativiert oder gar überwunden werden.

6 Hinweis auf eine Grenze des milieusensiblen Zugangs Demnach ist die Bedeutung der milieusensiblen Perspektive für die Arbeit mit Erwachsenen (und Jugendlichen) in der pastoralen und sonstigen kirchlichen Praxis offensichtlich. Auf diese richtet sich auch die SINUS-Milieu-Konstruktion, die ökonomische bzw. organisatorische und damit an Erwachsene gerichtete Interessen verfolgt. Hinsichtlich der Kommunikation des Evangeliums, bei dem es letztlich darum geht, die Wirklichkeit auf die noch verborgene Gottesherrschaft hin durchsichtig zu machen, ist damit aber ein Problem gegeben. Im Neuen Testament attestiert nämlich Jesus nur einer Gruppe von Menschen eine besondere Nähe zur Gottesherrschaft, und diese wird in den SINUS-Milieus nicht erfasst. Es sind die Kinder, die noch getragen werden müssen (Mk 10,13–16). Sie zeichnen sich durch besonderes Vertrauen aus und kennen noch keine milieuspezifischen Distinktionen. Noch in der Kita kommunizieren sie, wenn ihnen nicht Erwachsene anderes zeigen, ungezwungen miteinander. Für christliche Gemeinden bieten also Kindereinrichtungen besonders Chancen für eine milieuübergreifende Kommunikation. Auf jeden Fall erinnern die Kinder in ihrer Unbefangenheit an die Vorläufigkeit jeder milieuspezifischen Perspektive. Wenn die Gottesherrschaft offenbar wird, wird es keine Milieus mehr geben.

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Im Einzelnen werden diese Kommunikationsformen in ihrer Systematik, ihrem Zusammenhang und ihren Besonderheiten in Grethlein, Praktische Theologie, 528–586 skizziert.

»Da kann ja jeder kommen!« Zum Spannungsfeld Mission und Inklusion Ralph Kunz

1 Kritische Bremsen Natürlich sind heute alle für kontextuelle Kirchenarbeit zu haben! Auf dem Weg zur milieusensiblen Kirche sind wir längstens über Gehversuche hinausgekommen.1 Es gibt auch Hilfen zur Planung.2 Auch in meiner Kirche sind zahlreiche Initiativen im Gang: Fresh X ist in aller Munde, die Ergebnisse einer groß angelegten SINUS-Milieu-Studie wurden publiziert und diskutiert, strukturelle Maßnahmen sind lanciert. Wir haben definitiv Fahrt aufgenommen.3 Dabei kommt es immer häufiger vor, dass Anlässe, die es schon seit Jahren oder Jahrzehnten gibt, dank dem theoretischen Erkenntnisgewinn der Lebensweltforschung neu wahrgenommen und ihr Erfolg oder Misserfolg besser verstanden werden kann. Mir ist das letzthin klar geworden, als ich eine Bachelorarbeit mit dem Titel »Der Motor des Gottesdienstes« in den Händen hielt.4 Es geht darin um das Beispiel eines milieuorientierten Gottesdienstes, der im Rahmen des »Oberhallauer Bergrennens«5 schon seit geraumer Zeit gefeiert wird. Es handelt sich um eine Feier anlässlich einer Autorally in einer ländlichen Gegend der Nordostschweiz! Möglicherweise sehen grüne Mitchristen jetzt rot. Wie kann man als ökologisch sensibler Mensch so ein Heidenspektakel mit einem Gottesdienst unterstützen? Die Studentin diskutiert das Für und Wider und kommt zu dem Schluss, dass auch in einem übermotorisierten Umfeld eine Christenpflicht bestehe, den Glauben zu bezeugen. Sie sieht das Autorennen als eine Gelegenheit, Evangelium zu kommunizieren, und versteht Lebensweltforschung, Milieusensibilisierung etc. als Bestandteil eines heuristischen Instrumentariums, das dazu verhilft, den Menschen besser aufs Maul zu schauen – und auch den Mund zu halten! Wer an einem solchem Anlass meint, er oder sie müsse für die Bewahrung der Schöpfung eintreten, fliegt sozusagen aus dem Rennen. 1

In Anspielung auf: Michael N. Ebertz, Hinaus ins Weite. Gehversuche einer milieusensiblen Kirche, Würzburg 2008. 2 Claudia Schulz / Eberhard Hauschildt / Eike Kohler, Milieus praktisch. Analyse- und Planungshilfen für Kirche und Gemeinde, Göttingen 32010. 3 Vgl. Roland Diethelm / Matthias Krieg / Thomas Schlag, Lebenswelten. Modelle kirchlicher Zukunft. Orientierungshilfe, Zürich 2012. Zum SINUS-Institut: Die SINUS-Milieus in der Schweiz sind online verfügbar: www.sinus-institut.de/sinus-loesungen/sinus-milieusschweiz (zuletzt geprüft am 18.02.2019). 4 Anna Näf, Der Motor des Gottesdienstes. Milieuorientierte Gottesdienste am Beispiel des Oberhallauer Bergrennens, Bachelorarbeit. 5 www.bergrennen-oberhallau.ch (zuletzt geprüft 18.02.2019).

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Ralph Kunz

Natürlich kann man den Wertekonflikt in diesem Fallbeispiel nicht verallgemeinern. Es braucht schon etwas mehr Abgas, um das Prinzip der adressatengerechten Kommunikation infrage zu stellen. Und man kann geschickter und ungeschickter auf problematische Aspekte eines solchen Anlasses zu sprechen kommen. Letztlich ist auch in gröberen Kreisen Feingefühl gefragt! Neu ist das nicht. Berg- und Festgottesdienste, Nationalfeiertag oder historische Gedenkgottesdienste erfordern ein Sensorium für die kommunikative Situation. Vielleicht zeigt sich aber gerade an Konfliktstellen eine exemplarische und grundsätzliche Problematik der milieusensiblen Kommunikation des Evangeliums, wenn sie als Prinzip vertreten wird. Wer nur Gas gibt, läuft Gefahr, über das Ziel hinauszuschießen. Darum plädiere ich in diesem Beitrag für eine Verlangsamung. Ich erlaube mir, allzu rasante Kontextualisierungsraser und Missionsbeschleuniger theologisch abzubremsen. Von Bremsen soll die Rede sein und nicht von Stoppschildern! Denn sonst wäre die Gelegenheit vertan, sich differenziert und informiert mit den Chancen und Risiken der christlichen Verkündigung im Horizont der Mission auseinanderzusetzen. Darum geht es letztlich. Man wäre sonst schnurstracks bei falschen Alternativen. Im Bereich des Gottesdienstes wurde das in den letzten Jahren durchdiskutiert. Das waren die Positionen: Entweder wir bewahren die kirchliche Kultur oder wir landen in einem liturgischen Wildwuchs.6 Und vice versa: Entweder wir diversifizieren die Programme oder die Kirche wird zum frommen Sondermilieu für Ewiggestrige. Das war einmal. Heute wird sehr viel differenzierter diskutiert und das ist gut so. Ich möchte gleichwohl nachhaken und mit Heinzpeter Hempelmann u. a. für ein »ergänzendes Miteinander unterschiedlicher Einsichten und Theorien« plädieren und damit auch das »spannungsvolle Gegenüber« zulassen, das m. E. sachgemäß ist.7 Mir scheint insbesondere, dass die Diskussion an Tiefenschärfe gewinnen würde, wenn die trans- und konter-kulturelle Dimensionen des Evangeliums stärker akzentuiert und dialektisch miteinander verschränkt würden. Ich befürchte nämlich, dass die Forderung nach einer milieusensiblen

6

Vgl. dazu Ralph Kunz, Der neue Gottesdienst. Ein Plädoyer für den liturgischen Wildwuchs (Mit Beiträgen von Andreas Fischer, Markus Giger, Matthias Girgis, Mathias Rissi und Thomas Schaufelberger), Zürich 2006. Eine Pionierarbeit: Jörg Knoblauch et al., Gottesdienst à la carte. Warum wir zielgruppenorientierte Gottesdienste brauchen, Asslar 1999. Vgl. auch Christian Schwark, Gottesdienst für Kirchendistanzierte. Konzepte und Perspektiven (Systematische Monographien 17), Wuppertal, 2006. Eberhard Hauschildt, »Gottesdienst für alle unter einem Dach?«. Gottesdienstplanung zwischen Zielgruppenorientierung und Integration, in: Jochen Arnold et al. (Hg.), Brannte nicht unser Herz? Auf dem Weg zu lebendigen Gottesdiensten, Gemeinsam Gottesdienst gestalten 13, Hannover 2010, 37–59. 7 Hilfreich ist: Heinzpeter Hempelmann, Gott im Milieu. Wie Sinusstudien der Kirche helfen können, Menschen zu erreichen, Gießen 22013, 222–244, 244. Aufschlussreich auch: Eberhard Hauschildt / Eike Kohler / Claudia Schulz, Wider den Unsinn im Umgang mit der Milieuperspektive, Wege zum Menschen 64 (2012), 65–82, online verfügbar: www.dieunab haengigen.ch/wp-content/uploads/2012/11/Hauschildt-et-al.-Milieuperspektive-WzM-20121-12.pdf (zuletzt geprüft 18.02.2019).

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»Da kann ja jeder kommen!«

Kommunikation des Evangeliums Gefahr läuft, über das Ziel hinauszuschießen, wenn sie das Anliegen der Inklusion vergisst. Wieso? Natürlich sind alle für Inklusion! Alles andere wäre doch (kirchen-) politisch nicht korrekt. Wer zur Gemeinde gehören will, soll nicht behindert werden. »Da kann ja jede(r) kommen«, heißt eine schöne Broschüre zum Thema.8 Aber möglicherweise gefiele es nicht allen, wenn jeder kommen würde … Wenn man die Forderung der Inklusion absolut setzen würde und durchsetzen wollte, wäre man schnell in ideologischen Grabenkämpfen. Inklusion stünde gegen Milieuorientierung und -sortierung. Über dieses Spannungsfeld will ich nachdenken anhand von Fallbeispielen. Es ist ein Gehversuch. Richtig in Fahrt gekommen ist diese Diskussion noch nicht.

2 Drei Fallbeispiele 2.1 Das Banker-Evangelium

Heiter wie der Frühlingsmorgen möge stets Ihr Leben sein. Fern von Kummer ohne Sorgen wie der goldene Sonnenschein. Diese Verse bekam ich zu meinem Geburtstag in einem persönlichen Brief von meiner Bank zugesandt. Unterschrieben waren die Zeilen von einem Herr Walter, den ich persönlich nicht kenne, der sich dessen ungeachtet als mein »persönlicher Berater« zu erkennen gab. Der gute Mann wünscht mir etwas, was kein Mensch auf dieser Erde je erlebt hat und erleben wird: einen Dauerfrühling, einen Dauermorgen und eine Dauersonne. Und wenn sich sein Wunsch erfüllen würde? Könnte es heiter werden! Wenn auf den Morgen kein Mittag, kein Abend und keine Nacht folgt, reden wir doch vom Weltende, oder? Mein persönlicher Betreuer ist offensichtlich sehr an meinem Wohlergehen interessiert, aber eschatologisch unterentwickelt. Er kommuniziert das »Evangelium« der Schweizer Banken und vertritt eine Macht, die gnadenlos kundenfreundlich ist. Ich nehme das nicht persönlich. Schließlich arbeitet er in einem »Tempel« und hält sich an bestimmte Riten. Ich weiß allerdings, dass einige von seinen Chefs über Kredit-Leichen gehen. Darum ist mir nicht ganz wohl bei dem Gedanken, dass der Banker mir keinen Sommer gönnen will, keinen Spätherbst und keinen Winter. Ich bin mir auch nicht sicher, ob ich das möchte: ein Leben »fern von Kummer ohne Sorgen«. Wäre es noch Leben? Und ich frage mich, ob er mich verstehen würde, wenn ich ihm von meinem Evangelium erzählen würde und ob er einen Sinn 8

Die Broschüre ist zwar vergriffen, aber abrufbar unter: www.ekir.de/pti/Downloads/Dakann-ja-jeder-kommen.pdf (zuletzt geprüft 18.02.2019).

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Ralph Kunz

darin sähe, dass mein Evangelium Werte vertritt, die nicht verhandelbar sind. Ob er das Gleichnis vom Schatz im Himmel verstünde? Ich reagiere als ein Kunde, mit dem man Kontakt aufgenommen hat, mit dem man kommunizieren will und dem »Nähe« vermittelt wird – und ich stelle fest, dass die kundenfreundliche Glückwunschbotschaft, die mich erreicht, ein Glück verspricht, dem ich nicht traue. Ich traue den Mammon-Aposteln nicht über den Weg. Die Seligpreisungen Jesu passen nicht zu ihrer PlastikSpiritualität. Mein Evangelium ist zu widerborstig. Mit mir kann man so nicht reden. Aber trifft mein Widerstand und Einwand das Anliegen der Kontextualisierung? Ja und nein! Es wird deutlich, dass jede Lebenswelt ihre Gründe hat, sich von anderen Lebenswelten abzugrenzen und jede Abgrenzung auch eine Ausgrenzung werden kann, was wiederum abgründig ist. Nur von »Ekelgrenzen« oder »Geschmacksvorlieben« zu sprechen, würde die Problematik verharmlosen. Grenzen sind nicht neutral. Ein Freund von mir erzählt mir nach den Sommerferien von einem echten Schocker. Er war mit seiner Familie in einer evangelischen Heimstätte zu Gast. Was ihn empörte, waren die Behinderten, die im selben Speiseraum gegessen haben. Es ekelte ihn. Mein Freund ist kein Banker. Er ist ein sozial engagierter protestantischer Christ. »Aber im Urlaub will ich mir das nicht antun.« Im Urlaub ist Leben angesagt »fern von Kummer und von Sorgen« … 2.2 Jazzkirche

Mein zweites Beispiel ist ein Label. In der sogenannten »Jazzkirche« treffen sich kirchenaffine Jazz-Fans und jazzaffine Christen. Es gibt ein Vorbild für eine Jazzgemeinde in New York und erste Experimente in diese Richtung in Deutschland und in der Schweiz.9 Als Jazzfreund habe ich große Sympathie für die Initiative. Ich nehme mich also gewissermaßen selbst aufs Korn, wenn ich auf die Risiken des stilorientierten Gemeindeaufbaus verweise und kritisch nachfrage: Entsteht Gemeinde, wenn wir Events für Jazzaffine anbieten? Kommt etwas Christliches zustande, wenn wir im SINUS-Kartoffel-Sack nach ein paar Knollen suchen, die man in einen Jazz-Topf werfen kann? Ist Kirche ein Insider-Club? Dazu ein hartes Bonhoeffer-Wort: »Wer seinen Traum von einer christlichen Gemeinschaft mehr liebt als die christliche Gemeinschaft selbst, der wird zum Zerstörer jeder christlichen Gemeinschaft, und ob er es persönlich noch so ehrlich, noch so ernsthaft und hingebend meinte […]. Wo die Frühnebel der Traumbilder fallen, dort bricht der helle Tag christlicher Gemeinschaft an.«10

9

www.neanderkirche.de/index.php/gottesdienst-und-kirchenmusik/gottesdienste/jazzkircheneanderkirche (zuletzt geprüft am 18.02.2019). 10 Dietrich Bonhoeffer, Gemeinsames Leben (Dietrich Bonhoeffer Werke 5), München 32008, 25.

»Da kann ja jeder kommen!«

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Bonhoeffers Mahnung zur Nüchternheit will ich wiederum als Bremsmanöver – als Warnung und nicht als Verbot! – verstehen. Es richtet sich nicht gegen die Idee, Kirchenorte zu konzipieren, die auf den Geschmack der Beteiligten achten. Warum soll es falsch sein, wenn Kirchen-Leute in der Kirche jazzen? Sie haben vielleicht keine Lust auf Orgel. Entscheidend ist doch, weshalb Menschen sich zur Gemeinde versammeln. Sie kommen nicht wegen eines Musikstils zur Kirche. Darum ist die Rede von einer Jazzkirche problematisch. Genauso problematisch wäre es freilich, eine Bach-Kirche zu lancieren. Provokativ zugespitzt: Wenn die Milieusensibilisierung dazu führt, dass sich die Gemeinde in Stil- und Zielgruppen aufspaltet, verrät sie die Vision Jesu. Denn seine Gemeinde ist radikal inklusiv. Sie schließt niemanden aus. Sie entsteht immer wieder neu und bleibt offen, gastfreundlich und bunt, weil jeder kommen kann. Das macht ihre Einheit und Vielfalt aus: dass Jesus Christus ihr Anfänger und Vollender ist. Natürlich ist milieusensible Kommunikation notwendig. Und es ist auch nicht verkehrt, unterschiedliche Stile zu pflegen. Aber die kreative Umsetzung und Übersetzung in Stilsprachen zielt nicht darauf, eine neue ästhetische Konfession zu gründen. Darum soll die Freude am Ausdruck die Kraft des Eindrucks, den das Evangelium macht, nicht schwächen. Ob Jazz oder Klassik – es geht darum, auch die gefährliche, irritierende und provokative Erinnerung an die Story Jesu wachzuhalten. Bei aller Faszination für das Expressive darf das Formative in der Kommunikation nicht unterschlagen werden. Mein Einwand richtet sich nicht gegen Jazz in der Kirche im Speziellen oder den Ansatz der kontextuellen Kirchen- und Gemeindeentwicklung im Generellen.11 Mein Widerstand richtet sich gegen die exkludierende Dynamik einer Club-Gemeinschaft. Ich will einen kleinen Beleg dafür liefern, dass mein Bedenken nicht aus der Luft gegriffen ist. In meiner Kirche läuft zurzeit ein größeres Umbauprojekt.12 Aus rund 180 Gemeinden sollen 60 Gemeinden werden. Man begründet die geplante Massnahme einerseits mit einer erhofften Effizienzsteigerung. Andererseits soll es in grösseren Gemeinden »besser möglich sein, ortsübergreifende, lebensweltlich ausgerichtete Formen von Kirchesein« zu entwickeln. Warum nicht? Aber das Lebensstilkriterium wird wie folgt definiert: »Nahe fühle ich mich bei (sic!) Menschen, die ähnliche Vorlieben und Lebenseinstellungen haben wie ich.«13

11

Die Vielfalt ist ein wichtiger Faktor für gelingende Entwicklung. Siehe dazu: Thomas Lienau-Becker, Nur die Vielfalt ist normal. Verschiedene Gottesdienstformen in festem Rhythmus – Erfahrungen aus der Kieler Michaeliskirche, Arbeitsstelle Gottesdienst 21 (2007), 75–80. Hans-Hermann Pompe, Keiner für alle, aber alles für viele. Vernetzung und Synergie von Neuen Gottesdiensten, in: Christian Schwarz / Michael Herbst (Hg.), Praxisbuch Neue Gottesdienste, Gütersloh 2010, 44–64. 12 www.kirchgemeindeplus.ch (zuletzt geprüft am 18.02.2019). 13 Aus den Unterlagen der Synode der evangelisch-reformierten Landeskirche des Kantons Zürich (unveröffentlicht).

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Ist das nicht ein (gefährlicher) Traum? Dass Gemeinden aufgrund gemeinsamer Vorlieben entstehen? Solange dieser Traum nicht platzt, bleibt die Vision einer blue church oder andere Ideen einer Profilierung blauäugig. Im Fokus ist die Gefahr der exkludierenden Dynamik einer Insider-Gemeinschaft. Es soll gerade nicht bestritten werden, dass es wichtig ist, lebensweltlich ausgerichtete Formen von Kirchensein zu entwickeln! Aber es ist nicht zu übersehen, dass das Lebensstilkriterium auch einen exklusiven Drall entwickeln kann, wenn das Prinzip der Inklusion vergessen geht. 2.3 Streetchurch

Dass es nicht immer einfach ist, die Sensibilisierung für den Kontext von der Orientierung am Kontext zu unterscheiden, unterstreicht mein drittes Beispiel. Die streetchurch ist eine diakonische Gemeinde in einem Problemviertel der Zürcher City. Mit diesem Projekt wurde eine Initiative ergriffen, die in der Tradition der Stadt-Mission steht. Es überrascht nicht, dass dort, wo Diakonie das geistliche mit dem sozialen Anliegen verbindet, Interesse an einer kulturell stimmigen Gestaltung des Glaubens besteht. Und es ergibt auch Sinn, dass neue soziale und strukturelle Formen gefragt sind. Das diakonische Engagement setzt auf eine Gemeinschaft, die weder im üblichen Gefüge der Institution eingebunden noch an eine bestehende Parochie angebunden ist.14 Die streetchurch stellt insofern einen Spezialfall mit Zukunftspotenzial dar. Es ist bezeichnend, dass das Projekt einen englischen Namen hat. Der Name ist Programm: »Die Zürcher Jugendkirche taucht in die Szene der Zürcher Strassen ein, darum ist streetchurch Programm. Als Kirche übernehmen wir Verantwortung in der Gesellschaft. streetchurch ist Gottesdienst. Blackmusic ist unser Musikstil und der reicht vom Hinterhof gefärbten Rap über R&B bis hin zu den Wurzeln der Blackmusic, dem Gospel. In der streetchurch können Jugendliche mit eigenen Songs Schmerz und Hoffnung ihres Lebens ausdrücken. Die Predigten nehmen diese Themen auf und ermutigen die Jugendlichen zu einem selbstständigen Glauben. streetchurch ist Gemeinschaft. ›Love can do it‹: Wir glauben, dass die Liebe Gottes Versöhnung schafft und Menschen aus jeder Herkunft verbindet. Die Gemeinschaft untereinander, welche geprägt ist von Respekt und gegenseitiger Anteilnahme, bildet die Grundlage der streetchurch.«15

Unter den Gemeindegliedern hat es auch einige »schwere Jungs«. Es sind junge Menschen mit Migrationshintergrund. Sie sind zwischen Stuhl und Bank der zwei Kulturen gelandet: in beiden nicht zu Hause, in prekären Milieus aufgewachsen, die viele Abstiegs-, wenige Ausstiegs- und noch weniger Aufstiegsmöglichkeiten – wie zum Beispiel Fußball – bieten. Der Pfarrer ist auch Seelsorger. Er geht ins Jugendgefängnis, kennt seine Klientel und spricht Klartext.

14 15

www.streetchurch.ch (zuletzt geprüft am 18.02.2019). www.streetchurch.ch/ueber (zuletzt geprüft am 18.02.2019).

»Da kann ja jeder kommen!«

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Einige hören zu und haben verstanden. Sie wollen die Chance packen und etwas aus ihrem Leben machen. Deshalb engagieren sie sich in der Gemeinde, die aus der diakonischen Initiative entstanden ist. Die wenigsten wissen, wer Martin Luther ist, haben noch nie »Großer Gott« gesungen oder einen Pfarrer im Talar gesehen. Aber sie nennen sich Christen. Sie gehören tatsächlich zu einer SINUS-Kartoffel – aber sie wollen nicht in einen Sack gesteckt werden! Sie fragen nicht nach Stimmung oder Gesinnung oder Unterhaltung oder Freizeit. Sie brauchen eine Familie – Wärme, Verbundenheit, einen Schutzraum in einer knallharten Umwelt. Sie brauchen eine Gemeinde und keinen Club. Die streetchurch ist darum keine »Hiphop-Kirche«. Wer da hingeht, will mit Ernst Christ sein. Die Motivation ist entscheidend. Kontextualisierung ist kein Selbstzweck. Wiederum thetisch formuliert: Die Öffnung für den Kontext ist eine Konsequenz der Mission und das Zeugnis einer Dienstgemeinschaft. Die streetchurch ist nicht am Schreibtisch eines Kirchenträumers geboren. 2.4 Zwischenfazit

Ich fasse kurz zusammen: Wer sich vor anderen Menschen ekelt, kann mit der Gemeinde Jesu wenig anfangen. Andererseits brauchen Menschen mit speziellen Bedürfnissen einen Schutz- und Schonraum. Es soll jeder kommen dürfen, aber nicht jeder Anlass eignet sich für alle. Beides ist wahr. Kontextualisierung ist nötig, aber riskant. Als Prinzip stößt sie an Grenzen, als Programm für die Kommunikation des Evangeliums taugt sie nur bedingt und im Prozess verlangt die Rücksicht auf lebensweltliche Verstehens- und Verhaltensregeln ein hohes Maß an Erfahrung, Feingefühl und Weisheit. Das theologische Bremsmanöver blendet die kulturelle Dimension der Gemeinde nicht aus. Es will sie relativieren. Und das Ziel der Relativierung ist es, den konter- und transkulturellen Eigensinn der Konspiration des Evangeliums aufzudecken.

3 Miteinander- und Untereinander-Gemeinden 3.1 Die Mitenand-Gemeinde

Ich möchte in einem zweiten Anlauf auf die Inklusion zu sprechen kommen. Der Begriff ist – in dieser Hinsicht durchaus vergleichbar mit »Mission« – missverständlich, weil vage verwendet und ideologisch verbraucht. Ich will dennoch nicht auf ihn verzichten, aber bevor ich näher auf Begriff und Sache eingehe, zwei Gemeinde-Typen unterscheiden, mit denen das Ineinander von Inklusion und Mission anschaulich wird: die »Miteinander-Gemeinden« und die »Untereinander-Gemeinden«. Dass beide Modelle ihre Vor- und Nachteile haben, ist schon angeklungen. Meine Fallbeispiele haben vor allem Untereinander-Gemeinden in den Blick genommen. Ich bringe ein Beispiel für eine MiteinanderGemeinde, damit etwas Konkretes vor Augen steht.

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Ralph Kunz

Die »Mitenand«-Gemeinde in Kleinbasel ist nicht nur eine MiteinanderGemeinde, sie heißt auch so.16 Entstanden ist sie vor circa dreißig Jahren. Ihre Entstehung verdankt sie einer konkreten Notsituation. In den 1980er-Jahren wurde die Schweiz von einer ersten Flüchtlingswelle erfasst. Wirtschaftsflüchtlinge aus dem Süden der Türkei, Westafrika, Äthiopien und aus Sri Lanka suchten Asyl in der Schweiz. In Kleinbasel richtete der Bund eines der nationalen Zentren ein. Ein Charakteristikum dieser Gemeinde ist ihre Diversität. Auf den ersten Blick ist es eine unmögliche Mischung von Kulturen, hochgradig konfliktanfällig und ein ideales Umfeld, um in interkulturelle Fallen zu tappen. Aber die unmögliche Möglichkeit einer multikulturellen Gemeinde bietet Chancen, die in monokulturellen Gemeinden undenkbar wären. Das Sonntagszimmer ist zweifellos eine innovative Weiterentwicklung des Mitenand-Gottesdienstes, in der sich Möglichkeiten erleben lassen. Auf der Homepage ist eine kurze Beschreibung des Kernangebots: − Wer am Sonntag in die Matthäuskirche kommt, findet jeden Sonntag von 8.00 Uhr bis zum Abend offene Türen. − Unser Ziel ist es, den Menschen Gemeinschaft während dem ganzen Sonntag zu ermöglichen. − Der Tag beginnt mit einem Morgengebet und einem gemeinsamen Frühstück. − Ein engagiertes Kochteam bietet den Besuchern zwei reichhaltige, warme Mahlzeiten, am Mittag und Abend. − Das Angebot besteht neben dem traditionellen Vormittags- und dem gut eingeführten »Mitenand«-Gottesdienst aus Zeiten der Stille und des Gebets, Musik, Gesprächen, verschiedenen Aktivitäten wie Spiele, Spaziergänge und Ausflüge. − Das aktuelle Tagesprogramm finden sie hier auf der Webseite. − Das Sonntagszimmer soll ein Ort der Begegnung und der Freundschaft sein. Jeder und Jede ist herzlich eingeladen!17 Was auf den ersten Blick »ungewöhnlich« scheint, ist auf den zweiten Blick »unspektakulär«. Die Miteinander-Gemeinde funktioniert wie eine normale christliche Quartiergemeinde. Sie versammelt die Menschen, die in einem bestimmten Territorium wohnen. Sie ist in gewisser Hinsicht eine nachbarschaftliche Allmende, ein Ort für alle. Jeder und Jede ist herzlich eingeladen. Aber es kommen nicht alle. 3.2 Inklusion versus Mission? Mission mit Inklusion!

Kommen wir zum heißen Eisen. Es ist unbestritten, dass Menschen mit einer Behinderung, die sich zu einer Gruppe finden, eine Art »Lebenswelt« bilden. Die Begrifflichkeit ist umstritten. Man kann auch von einer Subkultur sprechen. 16 17

www.rehovot.ch/mitenand/sonntagszimmer (zuletzt geprüft am 18.02.2019). www.rehovot.ch/mitenand/sonntagszimmer (zuletzt geprüft am 18.02.2019).

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Jeder Begriff hat seine Unschuld verloren. Wie immer man es benennt: Menschen, die körperlich, psychisch oder kognitiv in einer Weise beeinträchtigt sind, dass sie Unterstützung im Alltag benötigen, müssen Barrieren überwinden, um in einer Kirchgemeinde zu partizipieren, aber auch Schutzräume bilden, um zu ihrem Recht zu kommen. Sie haben oft ihre Bezugspersonen, Hilfsund Assistenzsysteme, d. h. Menschen, auf die sie angewiesen sind. Also liegt es auf der Hand, dass die Kirche einen Auftrag hat, diese speziellen Lebenswelten mit besonders geschultem Personal, Ressourcen und entsprechender Infrastruktur zu unterstützen. Vergleicht man die Vergemeinschaftung von Menschen mit Bedürfnissen mit der Vergemeinschaftung von Menschen mit Vorlieben sind die Differenzen nicht zu übersehen. Im Unterschied zu einer Stilgruppe ist beispielsweise eine Gehörlosen-Gemeinde eher eine Zielgruppe und eher Schicksalsgemeinschaft als Wahlheimat. Die Konzentration auf den Kontext ist hier keine Frage des Geschmacks. Es soll gar nicht in Abrede gestellt sein, dass mit Blick auf beide Gruppen von Untereinander-Gemeinden die Rede sein kann. Gruppierung heißt per Definition, dass Exklusionsmechanismen spielen. Daran ist nichts Anrüchiges. Damit können bestimmte Interessenskonflikte vermieden oder gemildert werden. Es liegt auf der Hand, dass die Zuspitzung auf die Frage nach der Zugehörigkeit eine weitere Klärung verlangt. Wer nach der Inklusionskraft der Gemeinde Ausschau hält, fragt als Erstes: Wer gehört eigentlich dazu und wer nicht? Und erst danach: Was geschieht mit der Gemeinde, wenn sie sich für Menschen öffnet, die am Rand der Gesellschaft leben, stigmatisiert oder behindert sind?18 In welchem Verhältnis steht ein explizites Inklusionsprogramm zur impliziten Inklusion, die eine volkskirchliche Gemeinde, z. B. durch die religiöse Unterweisung, (eigentlich) leisten sollte? Steht die erste zur zweiten Inklusion in Konkurrenz? Gibt es Berührungspunkte? Ist nicht die Gemeinde der Heiligen – wie oben behauptet – definitionsgemäß inklusive Praxis? Schließlich lädt Jesus alle ein! Wie passt das »Programm« der Normalgemeinde zu einem solchen Ideal? Läuft das Programm der real existierenden Gemeinde nebenher oder einem visionären Inklusionsprogramm hinterher? Und wie muss man sich die Implementierung eines Inklusionsprogramms vorstellen? Gemeinde entsteht, weil sie sich auf ihre inspirierende und provozierende Formgebung der Praxis Jesu einlässt. Lässt sie sich von Jesus inspirieren, kann Inklusion als ein Prozess begriffen werden, »der darauf zielt, den in Gott ange-

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Das Kapitel ist eine überarbeitete und gekürzte Version eines Beitrags in: Ilona Nord (Hg.), Inklusion im Studium Evangelische Theologie. Grundlagen und Perspektiven mit einem Schwerpunkt im Bereich von Sinnesbehinderungen, Leipzig 2015. Ich knüpfe auch an Überlegungen zur inklusiven Gemeindepraxis an, wie ich sie im »Handbuch Inklusion in der Kirchengemeinde« entfaltet habe. Vgl. Ralph Kunz, Inklusive Gemeinde. Die christliche Gemeinde im Horizont ihrer gesellschaftlichen Verortung, in: ders. / Ulf Liedke (Hg.), Handbuch Inklusion in der Kirchengemeinde, Göttingen 2013, 53–84.

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legten Beziehungsreichtum in der Sozialgestalt des Glaubens zu entfalten«.19 Wenn Kirche nämlich eine Gemeinschaft ist, die für alle Menschen offen ist und zu der alle ohne Diskriminierung eingeladen sind, ist Kirche ihrem Wesen nach inklusiv oder sie ist nicht Kirche. Dieser Anspruch kann dem Geist nach dem Buchstaben des entsprechenden Grundsatzpapiers des ÖRK zum Thema Inklusion entnommen werden.20 Übersetzt man den Anspruch in ein Programm, lassen sich – in Anlehnung an den heilpädagogischen Inklusionsdiskurs – folgende strukturelle Momente ausmachen. Es geht darum: − eine inklusive Kultur zu schaffen, − inklusive Strukturen zu etablieren, − inklusive Praktiken zu etablieren.21 »Ist das abstrakt?« Nein! Es wird sehr schnell konkret und weckt entsprechende Widerstände. Man muss sich entscheiden, was wichtiger ist: dass beispielsweise Menschen mit Demenz oder anderen kognitiven Behinderungen im Gemeindeleben ihren Platz finden oder dass die Gemeinde ungestörte Gottesdiensterlebnisse genießen kann. Haben wir denn nicht Heime für alle, die stören? Der Konflikt lässt sich (scheinbar) entschärfen, wenn man sich entscheidet, beides anzubieten: Gottesdienste für alle Fälle und Gottesdienste für jeden Fall in Sondersettings. Zwei Fragen stellen sich: Wer geht und feiert mit den Ausgeschlossenen? Wann feiern wir wirklich alle zusammen? Würde Jesus heute eine Zöllnerkirche, eine Selbsthilfegruppe für frustrierte Zeloten und eine galiläische Fischergemeinde gründen? 3.3 Inklusion als programmatische Differenz

Die Rückfragen sollen etwas deutlich machen: Wir machen uns etwas vor, wenn wir unser Gemeinde- und Gruppenleben als inklusiv bezeichnen. Inklusion ist eine Vision. Dass zwischen der Vision und Wirklichkeit der real existierenden Kirche eine Kluft ist, überrascht nicht sonderlich. Die Differenz gehört in gewisser Weise zur Begleitmusik des Inklusionsdiskurses.22 Die Kluft zwischen dem Wunsch nach »unmittelbarer, gesellschaftlicher Zugehörigkeit«23 der Betroffe19

Kunz, Inklusive Gemeinde, 59. Ökumenischer Rat der Kirchen, Kirche aller. Eine vorläufige Erklärung (2003). Online greifbar unter: www.tinyurl.com/m7c49r9 (zuletzt geprüft am 19.02.2019). 21 Ines Boban / Andreas Hinz, Inklusive Pädagogik, in: Kunz/Liedke, Handbuch Inklusion, 113–146, bes. 133–144. 22 Sie zeigt sich u.a. in der Theoriebildung. Die Auseinandersetzung zwischen den Theorien der sozialen Ungleichheit und der systemtheoretischen Verwendung der Inklusions-Exklusions-Unterscheidung ist Spiegelbild einer Wunsch-Wirklichkeit-Spannung. Zur unscharfen Begriffsverwendung in der systemtheoretischen Debatte vgl. Sina Farzin, Inklusion/Exklusion. Entwicklung und Probleme einer Unterscheidung, Bielefeld 2006, 109–113. 23 Georg Theunissen, Von der ›Asylierung‹ zur ›Inklusion‹. Zeitgenössische Paradigmen der Behindertenhilfe, in: Johannes Eurich / Andreas Lüdepohl (Hg.), Inklusive Kirche (Behinde20

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nen und der Realität gilt insbesondere bei der Behindertenhilfe für alle Bereiche. Insofern kann die Überwindung dieser Differenz ein utopisches Entwicklungsziel genannt werden. U-topos ist der Ort, den es (noch) nicht gibt. Sie sind noch nicht real, aber haben ein Potenzial.24 Wenn man Inklusion nur im Licht der Maximalforderung sähe, müsste man das Potenzial als sehr gering einstufen. Das Programm »Inklusivismus« hat keine Chance. Das erhöhte Interesse am Thema in Theologie und Kirche wäre dann im harmlosesten Fall eine sozialromantische Mode und schlimmstenfalls Anzeichen einer ideologischen Unterwanderung.25 Um nicht in diese Falle zu tappen, ist es hilfreich, den Blick zu weiten. Es scheitert ja nicht nur das Programm der Inklusion an der Wirklichkeit. Wie steht es um die Gleichberechtigung der Geschlechter? Welche Gemeinde realisiert konsequent symmetrische Strukturen? Wo gelingt die konsequente Beteiligung der Generationen? Und welche Gemeinde schafft es, das gegenseitige Priestertum zu realisieren? Wer mit idealen Vorstellungen hantiert, sieht sich mit einem grundsätzlichen Problem der Gemeindepraxis konfrontiert: Sowohl die »Kirche für alle« als auch die »Kirche für andere« sind Utopien. Das eine Programm macht Differenzen stark, die das andere Programm aufheben will. Entsprechend hoch ist das Frustrationspotenzial derjenigen, die die vorfindliche Praxis in eine der beiden Richtungen verändern möchten. Soll man also das Utopische aus dem Programm streichen? Soll man auf das Parochie-Modell eindreschen? Ist es an der Zeit, die Lebensweltforschung zum Teufelszeug zu erklären? Das sei ferne! Mit derselben Logik, mit der man die Inklusion aus dem Programm »Gemeinde« streichen müsste, wäre dann auch das Ideal der Partizipation oder die Mission als Entwicklungsziel der Gemeindepraxis zu eliminieren. Die Erweiterung der Horizonte des Scheiterns dient dazu, Inklusion als ein Entwicklungsziel neben andere zu stellen. Es geht also darum, nach Wegen zu suchen, wie eine pragmatische Annäherung gelingen kann und wie verschiedene – spannungsvolle – Ziele miteinander verbunden werden können. Es gilt für Inklusion, was für jedes Entwicklungsziel im »Kraftfeld der Liebe«26 gelten muss: Inklusion muss Freude machen. Nur so kommt ein Prozess in Gang.

rung – Theologie – Kirche. Beiträge zu diakonisch-caritativen Disability Studies 1), Stuttgart 2011, 50–63, 56. 24 Vgl. dazu Jan Hendriks, Gemeinde als Herberge. Kirche im 21. Jahrhundert. Eine konkrete Utopie, Gütersloh 2001. 25 Vgl. dazu Christian Liesen, Inklusion in einer demokratischen Leistungsgesellschaft, in: ders. / Ursula Hoyningen-Süess / Karin Bernath (Hg.), Inclusive Education. Modell für die Schweiz? Internationale und nationale Perspektiven im Gespräch, Bern/Stuttgart/Wien 2007, 141–153, 146f. 26 Nach Christian Möller, Lehre des Gemeindeaufbaus, Band 1, Göttingen 1987, 249–263.

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3.4 Die Mission der Inklusion

Darum muss zuerst die Ideologie bekämpft werden. Dazu verhilft mit Blick auf Inklusion wie mit Blick auf Mission eine sorgfältige Aufarbeitung der Theorie(n).27 Daraus lässt sich m. E. auch die Tendenz zur gesetzlichen Lesart erklären. Die Vision einer Gesellschaft, die Diskriminierung, Marginalisierung und Ausgrenzung abbaut, setzt einen sozialethischen Wertebegriff oder ein Ideal voraus. Das Ziel soll durch rechtliche, strukturelle und politische Veränderung erreicht werden.28 Inklusion wird als Recht auf »Nicht-Aussonderung« und »unmittelbare Zugehörigkeit«29 verstanden. Das idealistische Moment wird dadurch gesteigert, dass es nicht nur um das Zusammenleben von Menschen mit und ohne Behinderung, sondern darüber hinaus um das »Miteinander unterschiedlichster Mehr- und Minderheiten«30 geht. Die Überwindung ungerechter Exklusion wird mit dem Anliegen der Diversität gekoppelt.31 An dieser Mission und diesem Weltverbesserungsprogramm muss, wie gesagt, jede Kommune scheitern. Das »Recht auf Einschluss« kann ja nicht erzwungen werden! Es geht um Freundschaft.32 Hier kommt nun aber die Gemeinde ins Spiel – weniger als Utopie und mehr als Heterotopie, also ein Ort, an dem es anders zugeht. Die Gemeinde kann eine evangelische Interpretation von Inklusion wagen, weil der menschliche Anspruch durch ein göttliches Versprechen getragen und gehalten wird. Letztlich ist die Verheißung von Gottes Freundschaft zu den Menschen die Basis der inklusiven Gemeindepraxis.33 Das hebt die Verantwortung der Gemeinde nicht auf. Es beflügelt sie. Denn dafür, dass die göttliche Verheißung kein leeres Versprechen bleibt, sorgt die Menschlichkeit der Gemeinde. Gibt es eine schönere Aufgabe als diese: menschlicher zu werden? Weil das nur Schritt für Schritt geht und uns nur da und dort gelingt, heißt die Devise nicht Perfektion, sondern Wachstum der Gemeinde: auf das Ziel hin, dass das Versprechen Gottes, für alle da zu sein, konkret er27

Vgl. Armin Nassehi, Gesellschaft der Gegenwarten, Frankfurt am Main 2011, 161–190. Vgl. dazu Markus Dederich, Inklusion in Europa. Im Spannungsfeld von Wunsch und Wirklichkeit. Vortrag im Rahmen der 13. Internationalen ökumenischen Fachtagung zur Pastoral von Menschen mit Behinderung in Aachen 2009. Online greifbar unter: www.tinyurl.com/lrf2w8h (zuletzt geprüft am 18.02.2019). 29 Theunissen, Von der ›Asylierung‹ zur ›Inklusion‹, 56. 30 Andreas Hinz, Von der Integration zur Inklusion. Terminologisches Spiel oder konzeptionelle Weiterentwicklung?, Zeitschrift für Heilpädagogik 10 (2002), 354–361, 355. 31 Inklusion als Überwindung ungerechter Exklusionen zu sehen, ist nicht per se ideologisch. Eine Ideologisierung droht aber bei einseitiger Applikation. Vgl. Martin Kronauer, Inklusion – Exklusion. Eine historische Annäherung an die soziale Frage der Gegenwart, in: ders. (Hg.), Inklusion und Weiterbildung. Reflexionen zur gesellschaftlichen Teilhabe in der Gegenwart, Bielefeld 2010, 24–58, 56. 32 Grundlegend ist John Swinton, Resurrecting the Person. Friendship and the Care of People with Severe Mental Health Problems, Nashville 2000. 33 Auf die unterschiedlichen Dimensionen des Entwicklungsbegriffs verweist Albrecht Grözinger, Praktisch-theologische Perspektiven, in: Kunz/Schlag (Hg.), Handbuch für Kirchen- und Gemeindeentwicklung, 57–64. 28

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fahrbar wird. Im Lichte einer theologisch definierten Verschränkung von Inklusion und Entwicklung wird deutlich, wie eng Programm und Prozess zusammenhängen. Schöpfungstheologisch, christologisch und pneumatologisch betrachtet ist Inklusion eine göttliche Wirkung und eine menschliche Praxis und darum immer auch der Anfang und nie nur das Ziel der göttlich-menschlichen Kooperation. 3.5 Inklusion als Testfall der Milieuorientierung

Inklusion ist ein Testfall für eine milieusensible Gemeindearbeit. Sie ist kein Gesetz und kein Gericht. Sie ist ein Kompass. Die Gemeinde ist inklusiv unterwegs, solange sie sich auf den ausrichtet, der die Exklusionsmuster der Welt überwunden hat. Sie wird sich dann (von) selbst die Frage stellen: Ist die Nächstenliebe bei uns eine Vorliebe geworden? Wie sieht die Umsetzung des Evangeliums bei uns aus? Wird das Evangelium, das die Armen, Trauernden und Verfolgten seligpreist, verkündigt und gelebt? Wird Evangelium in den Modi des Helfens, des Feierns und des Lernens kommuniziert?34 Die vom Original Jesu inspirierte entstehende stellt die bestehende Gemeinde infrage und beraubt sie ihrer Selbstverständlichkeit und Selbstgefälligkeit. Die Identifizierung der eigenen defizitären Praxis ist nur die eine Seite des Tests. Eine Feststellung der Mängel bliebe im Negativen stecken, wenn man die Kritik nicht zum Anlass nähme, nach Gott zu fragen. Denn die Zeichen seiner Praxis, die Menschen involviert, sind schon jetzt erkennbar. Die eigene inklusive Praxis mag auf den ersten Blick unscheinbar sein, aber den vorhandenen Spuren gilt es nachzugehen und sie mittels bestimmter Indikatoren zu identifizieren. Ich denke beispielsweise an den Chor einer Stadtgemeinde, der Kinder und Jugendliche aus ganz unterschiedlichen lebensweltlichen Milieus über das Singen zu einer Gemeinschaft verbindet. Inklusionssensible Gemeinde beginnt mit der Wahrnehmung der gelebten Inklusion. Erst dann fährt sie fort, das inklusive Entwicklungspotenzial für andere Handlungsfelder der Gemeindepraxis zu reflektieren. So gesehen kann Inklusion als Variation des Missio-Dei-Themas begriffen werden.35 Gottes Sendung in die Welt geht der Sendung der Kirche voraus. Der ominöse Begriff »Mission« signalisiert das Gegenteil ideologisch verbrämter Weltveränderungsallüren. Mission ist ein unverzichtbarer Aspekt und damit zugleich eine durchgehende Perspektive des Gemeindeaufbaus. Wenn einmal erkannt und benannt wird, wo und wie Inklusion Gemeinde baut, lassen sich Ansätze für Förderung, Stärkung und allenfalls auch Neuausrichtung der Kommunikation des Evangeliums diskutieren. Ein Knackpunkt in dieser Diskussion sind die Verbindungen mit den Praxisfeldern der Ortsgemeinde: Was meint inklusive Konfirmandenarbeit? Wo und wann kann die Rücksicht auf die 34

Zum Ansatz siehe Christian Grethlein, Praktische Theologie, Berlin 22016. Ralph Kunz, »Missio Dei« als Leitbegriff einer kritischen Missiologie, in: Christina Aus der Au / Ralph Kunz / Thomas Schlag / Hans Strub (Hg.), Urbanität und Öffentlichkeit. Kirche im Spannungsfeld gesellschaftlicher Dynamiken, Zürich 2013, 189–198.

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besonderen Bedürfnisse von geistig oder körperlich beeinträchtigten Menschen zum Erfahrungsplus für alle Beteiligten werden? Wie verändert sich die Erwachsenenbildung? Könnte die Gottesdienstpraxis gastfreundlicher und offenherziger werden? Entscheidend für den Erfolg einer Implementierung inklusionssensibler Parameter in der Gemeindeentwicklung ist die sorgfältige Evaluation der vorfindlichen Praxis. Der Prozess kommt erst dann in Gang, wenn die konkrete Gemeindepraxis in den Blick kommt. Evaluation heißt auch Wertschätzung. Eine Prüfung des Gemeindelebens muss, wenn sie nicht zur Lähmung führen soll, zuerst das Vorfindliche wertschätzen und das Potenzial des vielfältigen Miteinanders abschätzen. Dazu gehört auch das ehrliche Prüfen der Risiken, die eine allzu forsche – rücksichtslose – Einschlussstrategie mit sich bringt. Als Methode bietet sich der Index an. Ein Index fragt in erster Linie konstruktiv nach Anzeichen gelingender Praxis und in zweiter Linie kritisch nach möglichen blinden Flecken, die andere sehen, um aus dieser Analyse auf das Entwicklungspotenzial der Gemeinde zu schließen. Das pädagogische Institut der Evangelischen Kirche im Rheinland hat mit der oben erwähnten Orientierungshilfe »Da kann ja jede(r) kommen«36 ein sehr hilfreiches Instrument für ein solches Verfahren geschaffen. Dass die Broschüre vergriffen ist, kann als gutes Omen gewertet werden. Offensichtlich wird sie gebraucht und Gemeinden machen sich auf den Weg, die Herausforderung anzunehmen. Die Indexmethode ist paradigmatisch. Sie leitet dazu an, Inklusion als Verheißung zu sehen, die da und dort – wie die Wunder Jesu – zeichenhaft Gestalt annimmt. Das Visionäre hat sich schon längst verkörpert und inkarniert sich immer wieder neu. Man kann diese Verkörperungen entdecken und sich von ihnen inspirieren lassen, das Potenzial der christlichen Gemeinde neu in den Blick zu nehmen. Zum Beispiel macht es Mut, wenn eine Gemeinde in Berlin regelmäßig Gottesdienste für Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen feiert und es dadurch gelingt, ganz unterschiedliche Gruppen und Gemeindeglieder zu einer bunten Gemeinschaft zu vereinen.37 Inklusion bleibt eine Vision. Sie ist aber keine Illusion. Denn der Glaube ist keine Einbildung, sondern traut der Kraft der Bildung, die beim Original Jesus ansetzt und aus seiner Gegenwart schöpft. Es mögen Fantasten und Utopisten sein, die in der Gemeinde der Heiligen Dinge realisieren, die scheinbar unrealistisch sind. Die Hoffnung ist eine Zuversicht auf Dinge, die man nicht sieht und die Liebe Gottes macht möglich, was Menschen völlig unmöglich finden. Wenn Verfeindete versöhnt und versehrte Menschen nicht nur versorgt oder gar entsorgt werden, wenn ihre Normalität bewahrt und nicht nur verwahrt wird, ge-

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Siehe Anm. 8. Das Beispiel ist gut dokumentiert und lädt ein, es nachzuahmen. Auskunft gibt eine Studienarbeit, die am Lehrstuhl in Zürich entstand, abrufbar unter: www.theologie.uzh.ch/dam/ jcr:00000000-3a70-ba15-0000-00001e10d693/Studienarbeit_Demenz_Zoebeli_2013-1.pdf (zuletzt geprüft am 18.02.2019). 37

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winnt die Gemeinde jene Menschlichkeit und Lebendigkeit, die ihr in der Nachfolge Christi verheißen ist.

4 Konvivenz 4.1 Zusammenleben, um miteinander zu glauben

Die Quintessenz lässt sich gut mit einem Begriff aus der Missionstheologie zusammenfassen, den Theo Sundermeier geprägt hat. Konvivenz verbindet das Anliegen der kontextsensiblen Kommunikation mit dem Anliegen eines universalen Anspruchs des Glaubens, die nach einer neuen Gemeinschaft fragt. Wir haben zwar unterschiedliche Kulturen, aber ein Evangelium. Wir glauben an den einen Gott und leben in derselben Welt. Darum müssen wir beides versuchen, Menschen mit Behinderungen in Kirchgemeinden zu beheimaten, wenn sie das wünschen, und die ganze Gemeinde für die Chance neuer Freundschaften zu begeistern, wenn sie dazu bereit sind. Und spätestens an dieser Stelle sollte deutlich geworden sein, dass sich das Anliegen der Inklusion nicht gegen die Lebensweltforschung oder kontextuell orientierte Gemeindearbeit richten kann. Wenn wirklich jeder kommen kann, müssen sich alle darum kümmern, wie die unterschiedlichen Bedürfnisse wahrgenommen werden. Anlässe sollen so gestaltet sein, dass die Teilnahme auch von behinderten Menschen möglich ist. Weil es nicht der Wille Gottes ist, dass wir die Gemeinde in UntereinanderGruppen aufspalten. Das Ziel der Gemeinde ist es, dass Menschen Leben und Glauben miteinander teilen. Das ist nicht immer der Fall, wird es aber immer öfters, wenn die Gemeinden dem Miteinanderprinzip nachleben. Übersetzt man den missionstheologischen Grundsatz in die Lebenswelt-Debatte, kann es nicht darum gehen, Welten mit einem abstrakten »Evangelium« zu bedienen oder umgekehrt Kulturen mit christlicher Religion zu versorgen. Den christlichen Glauben gibt es nie pur – er ist immer Ausdruck einer Kultur und Reflex einer Geistigkeit. Es steckt ein Widerstand in ihm, der sich gegen das Gängige und Geläufige richtet, damit die Ankunft des Reiches Gottes Fahrt aufnimmt. Glaubensüberzeugungen werden erfahrbar, weil in ihnen [auch] die Kraft der Dekonstruktion spürbar ist. Darum sind sie in unterschiedlichen Kontexten lebensfähig. Weil ein nicht-reduzierbarer Widerspruch zu den Sprüchen, die die Erfolgreichen klopfen, in ihnen hörbar wird, ein heiliges Radikal, das in der Tiefe verborgen bleibt. Konvivenz heißt also der Anstoß, die eigene Lebenswelt zu verlassen, um das Evangelium beim anderen zu entdecken. Sich fremden Lebenswelten öffnen, heißt darum, dass es einen Kontaktraum geben muss, in dem so etwas wie ein Zusammenleben der Verschiedenen überhaupt möglich und erwünscht ist. Darum sind Untereinander-Gemeinden nicht des Teufels. Matthias Krieg stellt in der Lebensweltstudie der Zürcher Landeskirche zu Recht fest, dass zwei Lebenswelten, die von der Kirche nahezu unerreicht sind, in der Stadt Zürich aber 57% der Gesamtbevölkerung ausmachen. Es braucht Aufbauarbeit, um sie zu

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erreichen. Und hier berühren sich die Ansätze der Inklusion und Mission wieder. Wenn ich Matthias Kriegs zehn Leitwörter für lebensweltliche Aufbauarbeit lese, sehe ich ähnliche Prinzipien, die auch für Inklusion gelten. 4.2 Fürbitte und Abbitte

Auch Miteinandergemeinden müssen immer wieder aufgebaut werden. Und wenn ich am Anfang etwas arg kritisch mit den Jazzern umgegangen bin, die sich untereinander finden, muss ich bei aller Leidenschaft für die Inklusion bekennen, dass ein verordnetes Miteinander früher oder später todsicher ein Nebeneinander werden wird. Vielleicht habe ich auch dem Banker, den ich Herr Walter nannte, Unrecht getan. Ob er sich je in eine Gemeinde verirrt hat? Ob er überhaupt davon weiß? Ob er Christ ist? Ich nehme an, er ist ein netter Mensch, verheiratet, zwei Kinder samt Einfamilienhaus in der Agglomeration. Vielleicht gehört er auch einer Kirche an – will heißen, er zahlt noch Steuern, weil er ein anständiger Mensch ist. Noch gehören Leute wie er zur Kirche. Sie zahlen aus Anstand, damit andere etwas tun gegen die Zustände. Aber natürlich ist er nicht zuständig für die Probleme der Menschen am Rand. Darum wird er nicht mit ihnen weinen und nicht mit ihnen lachen. Vielleicht sucht und findet er eine Untereinander-Kirche? Es gibt Gebetsgruppen im Bankenviertel. Und die meisten beten für andere Menschen, denen es nicht so gut geht. Vielleicht täte ihm eine Miteinander-Kirche besser? Ich hätte es ihm gegönnt. Ich sage es als advocatus Jesu und nicht als advocatus diaboli der kontextsensiblen Mission. Die Gemeinde, der Ort, wo Jede und Jeder herzlich willkommen ist, bleibt allen, die sich nach der allheiteren Lebenswelt der Gleichgesinnten und Gleichgestimmten sehnen, verborgen. Und das tut mir leid. Vielleicht gehen Banker, Jazzer und Akademiker, die unter ihresgleichen bleiben, nicht verloren. Aber es geht ihnen etwas verloren.

Kontextualisierung des Evangeliums Grundzüge eines an der Inkarnation Christi orientierten Verständnisses Jürgen Schuster Der englische Missionswissenschaftler Andrew Walls beginnt einen seiner Aufsätze mit einem fiktiven Forschungsbericht. Ein mittlerweile betagter Forscher für Vergleichende Interplanetarische Religionswissenschaft von einem anderen Planeten führt eine phänomenologische Studie über das Christentum auf dem Planeten Erde durch. Dazu besucht er in größeren zeitlichen Abständen immer wieder einmal die Erde, um einen repräsentativen Querschnitt der christlichen Kirche zu untersuchen. Durch seine lange Lebenszeit ist er in seiner Forschung nicht an eine bestimmte Epoche gebunden, sondern kann über Jahrhunderte hinweg seine Forschungsergebnisse aktualisieren und abgleichen. Im Folgenden einige Streiflichter aus seinen Notizen: Der erste Besuch des fiktiven Forschers fällt ins Jahr 37 n. Chr. Er besucht eine Gruppe von Judenchristen in Jerusalem. Sie versammeln sich im jüdischen Tempel, wo sie Tieropfer darbringen. Den siebten Tag der Woche halten sie frei von jeglicher Arbeit. Sie lassen ihre männlichen Nachkommen beschneiden. Sie lesen in alten Gesetzesbüchern und befolgen eine Reihe von alten Ritualen, die dort beschrieben werden. Sie unterscheiden sich von anderen Juden im Wesentlichen dadurch, dass sie die drei Figuren des Messias, des Menschensohns und des leidenden Gottesknechtes, die alle in den alten Gesetzesbüchern vorkommen, mit der Person des unlängst verstorbenen Jesus von Nazareth identifizieren, von dem sie behaupten, er sei wieder auferstanden. Im Übrigen leben sie ein normales Familienleben, haben eher große Familien mit vielen Kindern, leben in einem engen Netzwerk von sozialen Beziehungen und treffen sich regelmäßig zu gemeinsamen Mahlzeiten in ihren Häusern. Unser interplanetarischer Forscher notiert in seinem Notizbuch als zentrales Charakteristikum des Christentums dieser Epoche die Stichworte: »Freudiges Beachten alter Gesetze«. Der nächste Besuch des fiktiven Forschers findet im Jahr 325 in Nicäa statt. Unter den dort versammelten Honoratioren sind Juden praktisch nicht vertreten. Ja, die Versammlung ist Juden gegenüber sogar sehr kritisch, fast feindlich eingestellt. Der Gedanke an Tieropfer erfüllt die hier Versammelten mit Entsetzen. Wenn sie von Opfer sprechen, dann meinen sie Brot und Wein, was den Forscher an die gemeinsamen Mahlzeiten in den Häusern in Jerusalem erinnert. Die Vertreter der Christenheit, die er hier trifft, sind nicht verheiratet und haben auch keine Kinder. Die meisten von ihnen betrachten den Ehestand als minderwertig. Auf jeden Fall würden sie Eltern, die ihre männlichen Nachkommen beschneiden lassen, als Häretiker erachten. Für die in Nicäa versammelten Christen ist der siebte Tag der Woche ein ganz normaler Arbeitstag. Sie

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treffen sich stattdessen am ersten Tag der Woche zur Durchführung ihrer religiösen Riten. Aber im Übrigen ist dieser Tag nicht notwendigerweise ein Ruhetag. Die Vertreter der Christenheit in Nicäa achten neben den alten Gesetzesbüchern, die bereits bei den Gläubigen in Jerusalem eine Rolle spielten, auf eine weitere Sammlung von Schriften, die es in Jerusalem noch gar nicht gab. Sie kennen auch die alten Titel Messias, Menschensohn und leidender Gottesknecht. Aber abgesehen von dem Titel »Messias«, der in seiner griechischen Form »Christus« geradezu zu einem Nachnamen des Mannes Jesus geworden ist, finden die beiden anderen Titel fast keine Beachtung. Der Grund für ihr Zusammenkommen in Nicäa ist jedoch die Diskussion über zwei Begriffe, die weder in dem alten Gesetzestext noch in der neuen Schriftensammlung vorkommen, nämlich die Begriffe homo-ousios und homoi-ousios. Die Vertreter der Christenheit führen die Debatte mit großem Ernst und sind davon überzeugt, dass die richtige Begriffswahl von höchster Bedeutung für den christlichen Glauben ist. Der außerirdische Forscher notiert in seinem Notizbuch: »Ein außerordentlich starkes Interesse an Metaphysik und Theologie, große intellektuelle Strenge und Genauigkeit, und das Bemühen um eine präzise Wortwahl«. Er vergleicht seine Beobachtungen mit den Aufzeichnungen seines Besuchs in Jerusalem 300 Jahre zuvor, kratzt sich am Kopf und wundert sich. Diese Verwunderung wird noch verstärkt bei seinem nächsten Besuch, noch einmal etwa 300 Jahre später. An der felsigen Küste Irlands trifft er eine Gruppe von Mönchen. Manche stehen bis zum Hals in eiskaltem Wasser und rezitieren Psalmen. Andere stehen stocksteif da, die Arme nach rechts und links ausgestreckt wie in Kreuzform und beten. Wieder andere Mönche sitzen allein in dunklen Höhlen in der Umgebung. Sie haben sich zurückgezogen und wollen keinen Kontakt mit anderen Menschen. Eine Gruppe von Mönchen ist gerade dabei, eine Kiste mit wertvollen Manuskripten in ein Boot zu verladen und sich einzuschiffen zum schottischen Fjord von Clyde. Dort wollen sie die Bewohner Schottlands auffordern, ihre Verehrung der Naturgottheiten aufzugeben und ihre Freude in einem zukünftigen, himmlischen Reich zu suchen. Der Forscher schließt aus seinen Beobachtungen, dass es sich bei den wertvollen und künstlerisch gestalteten Manuskripten in der Holzkiste um die gleichen Texte handeln muss, die auch die griechischen Kirchenväter benutzt haben. Er hört sogar bei den irischen Mönchen die gleichen Sätze, auf die man sich bei der Konferenz im Jahr 325 in Nicäa geeinigt hat. Das wundert ihn, denn diese Mönche machen nicht den Eindruck als seien sie sehr interessiert an Metaphysik und theologischen Diskussionen. Er notiert in seinem Notizbuch: »Ein starkes Verlangen nach Heiligung und eine gewaltige Strenge und Kargheit in dem Streben nach derselben«. Der Forscher verschiebt seinen nächsten Besuch auf der Erde bis auf die Zeit um 1840. Da trifft er in der Exeter Hall in London eine große Versammlung hoch motivierter, begeisterter Christen, die sich in Vorträgen damit beschäftigen, wie wichtig die Verbreitung des Christentums, des Handels und der Zivilisation in Afrika sei. Man schlägt vor, Missionare auszusenden, die mit Bibel und

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Baumwoll-Samen bepackt 6000 km weit reisen sollen, um genau diese Ziele zu verwirklichen. Diese Gruppe von Christen beschließt auch, eine Abordnung zur britischen Regierung zu senden, um die Abschaffung des Sklavenhandels zu fordern und den Schwarzen eine Möglichkeit zur Ausbildung zu verschaffen. Es werden Briefe geschrieben, Aufsätze und Traktate veröffentlicht, um diese Ziele zu erreichen. Die Versammlung in London beginnt mit einer Lesung aus den gleichen Schriften, die auch die anderen Christen in früheren Zeiten benutzten. Hier wird jedoch der Text in einer englischen Übersetzung verlesen. Auch sonst wird in den Vorträgen immer wieder aus den Schriften zitiert. Und es fällt auf, dass eine ganze Reihe der hier versammelten Christen ihre eigene Ausgabe dieser Schriften in Buchform bei sich haben. Auf Nachfrage geben diese Christen zur Antwort, dass auch sie sich zu dem Bekenntnis von Nicäa stellen. Und ähnlich wie die Mönche in Irland benutzen auch sie den Begriff »heilig« sehr oft. Allerdings sind sie hell entsetzt bei dem Gedanken, Heiligkeit könne etwas zu tun haben mit stundenlangem Stehen in eiskaltem Wasser. Den Gedanken, das Leben allein zurückgezogen in einer einsamen Höhle betend zu verbringen, weisen sie weit von sich. Noch etwas fällt unserem Forscher auf: Während die Mönche in Irland sehr einfach lebten und mit ganz wenigem zufrieden waren, ist diese Gruppe von Christen hier erstaunlich wohl genährt. Unser Forscher ist beeindruckt von dem Aktivismus dieser Gruppe und von der Rolle, die ihr Glaube spielt für ihr persönliches und ihr gesellschaftliches Leben.1 Der interplanetarische Religionswissenschaftler rundet seine Forschung ab mit einem Besuch im Jahr 2018. Bei seiner Suche nach repräsentativen Vertretern der christlichen Kirche landet er diesmal nicht in Europa, sondern in Lagos in Nigeria bei einer »African Independent Church«.2 Er findet sich in einem Gottesdienst wieder, in dem prophetisches Reden, Krankenheilungen und Dämonenaustreibung ganz selbstverständlich praktiziert werden. Männer und Frauen beteiligen sich spontan am Gottesdienst. Die Christen hier führen keine langen Diskussionen. Sie bringen ihre Freude über die Gegenwart Gottes in ihrem Leben in Musik und Tanz zum Ausdruck. Und sie adressieren ihre alltäglichen Bedürfnisse im prophetischen Reden und in Gebeten, in Heilungen und Dämonenaustreibungen, und in gegenseitiger Hilfeleistung.3 Der Forscher no1

Wiedergegeben nach Andrew F. Walls, The Gospel as Prisoner and Liberator of Culture, in: ders., The Missionary Movement in Christian History. Studies in the Transmission of Faith, Maryknoll 1996, 3–15. 2 Das Akronym »AIC« wird unterschiedlich wiedergegeben: »African Independent Church(es)«, »African Initiated Church(es)«, oder »African Indigeneous Church(es)«. Es handelt sich um christliche Kirchen, die sich von der Tradition der westlichen Missionskirchen bzw. -gesellschaften gelöst haben oder ganz unabhängig von diesen entstanden sind. 3 »An African ekklesia is a church where the activities of the Holy Spirit are not constrained; where the liturgy is not regimented but vibrant and participatory; where the goodness and mercy of God are joyfully celebrated in diverse ways; where members are not inhibited but can express their exuberance in a language they can speak fluently and in a choreography that is common to the worshipers; where religious ingenuity is not stifled by bureaucracy; where the tenets of the Bible are upheld uncompromisingly; where the reality of de-

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tiert in seinem Notizbuch das Stichwort »Power«: lautstarkes Predigen, freudevolle Musik, kraftvolle Heilungen, persönliche Visionen. In der heimatlichen Studierstube steht der Forscher nun vor der Frage: Was sind eigentlich die verbindenden Elemente zwischen diesen Gruppen von Christen? Schließlich hat er – sowohl was die kulturelle Ausprägung als auch die theologische Akzentsetzung betrifft – stark voneinander abweichende Formen des christlichen Glaubens beobachtet, wobei er doch jedes Mal darauf geachtet hat, einen repräsentativen Querschnitt der Kirche zu untersuchen. Bei näherem Hinsehen sind an gemeinsamen Elementen zu nennen: Die Person Jesus Christus spielt bei allen Gruppen, die er besucht hat, eine zentrale Rolle. Sie beschäftigen sich mit den gleichen Heiligen Schriften, wenn auch in unterschiedlichen Sprachen und z. T. in unterschiedlichem Umfang. Bei allen Gruppen spielen Wasser, Brot und Wein in der religiösen Praxis eine besondere Rolle. Und es gibt ein historisches Band, das diese Gruppen miteinander verbindet. Im Übrigen dominieren Unterschiede das Bild. Als Fazit bleibt die Erkenntnis: Auf ihrem Weg durch die Geschichte hat sich die christliche Kirche auf unterschiedlichste Weise eine empirische Gestalt gegeben, ihre Glaubensüberzeugungen zum Ausdruck gebracht, und auch ihre theologischen Akzente gesetzt. Glaube, Kirche und Theologie waren so von Anfang an »kontextuell«. Das Phänomen der Kontextualisierung geht bis in die Frühzeit der Kirche zurück, auch wenn der Begriff erst in den 1970er-Jahren in die missionswissenschaftliche Diskussion eingeführt wurde. Was genau ereignet sich jedoch im Prozess einer Kontextualisierung? Wie kommt es dazu? Wie kann man Kontextualisierung fördern? Im Folgenden werde ich zunächst in drei Stichworten einige grundlegende Charakteristika von Kontextualisierung aufzeigen. Im zweiten Teil illustriere ich meine Ausführungen durch drei Beispiele aus der weltweiten Kirche. Im dritten Teil fasse ich meine Beobachtungen in vier Thesen kurz zusammen.

1 Drei Stichworte 1.1 Stichwort 1: Inkarnation

Die Beschäftigung mit dem Thema Kontextualisierung beginnt häufig mit einem Blick auf den Kommunikationsprozess. Wie können wir das Evangelium so kommunizieren, so »verpacken«, dass es von einem Hörer in seiner Situation mons and their activities is neither denied nor rationalized but counteracted; where sin and its effects are denounced unequivocally; where African spirituality is integrated with biblical spirituality; and where people are ushered into a wider Christian family – a family where pragmatic Christian care and empathy are emphasized and practiced.« Thomas A. Oduro: »Arise, Walk through the Length and Breadth of the Land.« Missionary Concepts and Strategies of African Independent Churches, International Bulletin of Missionary Research 38 (2014), 86–89, 88.

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verstanden und angenommen werden kann? So betrachtet Ebertz im ersten Kapitel des Buches Milieupraxis – Vom Sehen zum Handeln in der pastoralen Arbeit den Kommunikationsvorgang im Licht der drei Aspekte Information – was wir inhaltlich ausdrücken, Mitteilung – wie wir etwas ausdrücken, und Verstehen – kommt das, was wir sagen wollen, auch beim Hörer oder Leser an?4 Wird die kulturelle Landschaft bunter, brauchen wir unterschiedliche Ausdrucksformen für unsere Kommunikationsprozesse. Ebertz verweist auf den Begriff »Diversity Management: schöpferischer Umgang mit Vielgestaltigkeit«.5 One size fits all gilt hier eben nicht mehr. Die Tatsache, dass Menschen in unterschiedlichen Kontexten leben, denken und die Welt verstehen, bringt mit sich, dass wir anders und vielgestaltig kommunizieren müssen. Allerdings würde es zu kurz greifen, wollten wir das Thema Kontextualisierung auf den Kommunikationsvorgang beschränken. Kontextualisierung setzt tiefer an. Es geht um Inkarnation, nicht nur um Kommunikation. Die Menschwerdung Gottes in der Person Jesus von Nazareth ist das klassische Beispiel christlicher Kontextualisierung. Shoki Coe, Direktor des Theological Education Fund des ÖRK, sprach von der Inkarnation als Gottes Weise der Kontextualisierung: »By contextuality we mean the wrestling with God’s word in such a way that the power of the incarnation, which is the divine form of contextualization, can enable us to follow his steps to contextualize.«6

Die Bemühungen um Kontextualisierung hatten von Anfang an eine umfassende, ganzheitliche Begegnung zwischen Menschen – eingebettet in ihren kulturellen, sozialen, politischen und ökonomischen Kontext – und dem Evangelium zum Ziel. Das zeigt diese frühe Definition aus dem Jahr 1972, in der Kontextualisierung als »the capacity to respond meaningfully to the gospel within the framework of one’s own situation« verstanden wird.7 Schon hier liegt der Akzent nicht auf einer kontext-angemessenen Kommunikation des Evangeliums, sondern auf dem Freiraum und der Ermächtigung, dem eigenen Kontext entsprechend auf die Botschaft des Evangeliums antworten zu können. Eine solche

4

Michael N. Ebertz, Wie Milieus kommunizieren, in: ders. (Hg.), Milieupraxis. Vom Sehen zum Handeln in der pastoralen Arbeit, Würzburg 2009, 15–24, 15. 5 Ebertz, Wie Milieus kommunizieren, 24. Ebertz zitiert an dieser Stelle aus Wolfgang C. Müller, Zielgruppenorientierung. Genau hinschauen, mit wem man spricht, Unsere Jugend 61 (2009), 146–149. 6 Shoki Coe, Theological Education. A Worldwide Perspective, Theological Education 11 (1974), 5–12, 7. Ich verweise an dieser Stelle auch auf das erste Kapitel des Buches »Gott im Milieu« von H. Hempelmann, das den Titel trägt »Der Spur des heruntergekommenen Gottes folgen«, und genau dieses Geschehen der Inkarnation an den Ausgangspunkt missionarischer Überlegungen stellt (Heinzpeter Hempelmann, Gott im Milieu. Wie Sinusstudien der Kirche helfen können, Menschen zu erreichen, Gießen 2012, 13–22). 7 Theological Education Fund: Ministry in Context. The Third Mandate Programme of the Theological Education Fund (1970–77), Bromley, Kent 1972, 20.

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Reaktion setzt eine gelungene Kommunikation, d. h. ein Verständnis für den Bezug der Christusbotschaft zur eigenen Lebenswelt, bereits voraus. Gilliland beschreibt das Ziel von Kontextualisierung folgendermaßen: »Das Ziel von Kontextualisierung ist – soweit das menschlich möglich ist –, dass Jesus Christus authentisch erfahren werden kann in jedem menschlichen Kontext. Kontextualisierung zielt darauf ab, dass das Wort – Jesus Christus – unter allen Familien und Kulturen der Menschheit so wohnt und Gestalt gewinnt, wie Jesus unter den Menschen seiner Zeit gewohnt hat. Das Evangelium ist dann »Gute Nachricht«, wenn es Antworten bereit stellt für eine bestimmte Gruppe von Menschen an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit. Dazu gehört: die Weltsicht dieser Menschen bildet den Rahmen für die Kommunikation, die Fragen und Bedürfnisse der Menschen dienen als Leitfaden für die Akzente der Botschaft, und die Begabungen der Menschen werden zu Ausdrucksformen für ihre Antwort auf das Evangelium.«8

Ziel von Kontextualisierung ist also eine Inkarnation und Heimischwerdung des logos Jesus Christus in Gemeinschaften von Menschen unterschiedlichster Kulturen und Milieus. Dabei wird das Evangelium dann zur guten Nachricht, wenn es Antworten bereit stellt auf Fragen, die Menschen an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit stellen. In diesem Prozess wird die Weltsicht dieser Menschen zum Rahmen, in dem die Kommunikation stattfindet; dazu gehören ihre Plausibilitätsstrukturen, die Art und Weise ihres Denkens. Die Fragen und Bedürfnisse der Menschen werden zum Anhaltspunkt für den Schwerpunkt der Botschaft (Was müssen wir hier weitersagen? Wo berührt das Evangelium die Lebenswelt dieser Menschen?). Und die kulturellen Ausdrucksformen der Menschen stellen das Medium bereit, die Botschaft zu kommunizieren und auf diese Botschaft zu antworten. Es geht also in Prozessen der Kontextualisierung um ein Sich-Einlassen auf Menschen in ihrem spezifischen Kontext, aus dem dann eine kontextrelevante Kommunikation und eine Heimischwerdung des logos folgen kann. Kontextualisierung zielt somit auf eine inkarnatorische Gestaltwerdung des Evangeliums in spezifischen kulturellen Kontexten.

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Dean S. Gilliland, Art. Contextualization, in: A. Scott Moreau u. a. (Hg.), Evangelical Dictionary of World Missions, Grand Rapids 2000, 225–228. Eigene Übersetzung; engl. Original: »The goal of contextualization perhaps best defines what it is. That goal is to enable, insofar as it is humanly possible, an understanding of what it means that Jesus Christ, the Word, is authentically experienced in each and every human situation. Contextualization means that the Word must dwell among all families of humankind today as truly as Jesus lived among his own kin. The gospel is Good News when it provides answers for a particular people living in a particular place at a particular time. This means the worldview of that people provides a framework for communication, the questions and needs of that people are a guide to the emphasis of the message, and the cultural gifts of that people become the medium of expression.«

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1.2 Stichwort 2: Pflanzen und Loslassen

Zur Kontextualisierung des Evangeliums gehört, dass wir das Evangelium Menschen – in einem wörtlichen und übertragenen Sinne – in die Hand geben, damit sie selbst damit umgehen und dabei entdecken, was diese gute Nachricht für sie bedeuten kann. Dieser Schritt beinhaltet, dass wir das Evangelium frei geben und loslassen; dass wir die Kontrolle über den nun folgenden Prozess aus der Hand geben und – gemeinsam mit den Menschen – gespannt entdecken, was passieren wird. Traditionsorientierte, konservative Menschen zögern hier in aller Regel. Die Bedenken erstrecken sich in zwei Richtungen: Auf der einen Seite melden konservative Christen theologische Bedenken an. Das trifft besonders im evangelikalen Raum zu. Solche Bedenken drücken sich etwa in folgender Definition von Kontextualisierung aus: »Contextualization is ›taking the unchanging truth of the gospel and making it understandable in a given context.‹«9 Die Unveränderbarkeit der Wahrheit des Evangeliums wird betont. Gleichzeitig wird Kontextualisierung auf einen Kommunikationsprozess reduziert: »making it understandable in a given context.« Häufig wird in diesem Zug das Evangelium abstrahiert und auf eine Sammlung von Lehrsätzen reduziert, wobei sich durch die Hintertür eine ganze Portion platonischer Ideenlehre in die Interpretation des Evangeliums einschleicht, ein Charakteristikum, das bei einer Kontextualisierung im westlichen Kontext nicht überraschen dürfte. Das Bewahren kann sich jedoch auch auf formale, kulturelle Aspekte beziehen. Hierzu gehören soziale Räume und Zeiten, Rituale und Gewohnheiten. Soziale Räume bezeichnen mehr als nur geografische Orte. Sie sind Konstruktionen, in denen Objekte, Menschen und Handlungen in einer Art Skript zueinander in Beziehung gesetzt werden, ja diese geradezu zu einem neuen Ganzen verknüpfen.10 Nehmen wir einen sozialen Raum wie beispielsweise Spielplatz, Standesamt oder Fußballstadion. Mit jedem dieser sozialen Räume verbinden wir Akteure, Objekte, Handlungen und Handlungsabläufe. Je vertrauter wir mit einem sozialen Raum sind, umso klarere Vorstellungen haben wir von den Handlungsabläufen und ihren Interpretationen, umso sicherer fühlen wir uns, und umso selbstverständlicher nehmen wir an den Handlungsabläufen teil. Der Besuch beispielsweise im Fußballstadion wird so zu einem Erlebnis, das ein gewisses Heimatgefühl vermittelt. 9

Roy Oksnevad, Contextualization in the Islamic Context, www.lausanneworldpulse.com/ themedarticles-php/686/04-2007 (2007) (zuletzt geprüft am 18.02.2019). 10 Löw spricht von spacing, »eine relationale (An)Ordnung sozialer Güter und Menschen (Lebewesen) an Orten« (Martina Löw, Raumsoziologie, Frankfurt am Main 2001, 225; zitiert in Ebertz, Milieupraxis, 51). Die Verknüpfung der verschiedenen Elemente kann so eng sein, dass es möglich wird, »›Ensembles von Gütern und Menschen wie ein Element zusammenzufassen‹ (Löw 2001, 224f), also kognitiv zu einem ›Bild‹ oder zu einer ›Gestalt‹ zu verknüpfen« (Ebertz, Milieupraxis, 55). Hier wäre auch auf das Konzept so genannter cultural frames zu verweisen, das (Sub-)Kulturen oder Milieus als kulturelle Referenzrahmen versteht. So hat auch jeder soziale Raum einen cultural frame, in dem das Verhältnis von Handlung und Bedeutung gedeutet und kommuniziert wird.

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So wirken auch Gottesdienste und kirchliche Veranstaltungen als soziale Räume. Ihre Handlungsabläufe vermitteln treuen Kirchgängern Kontinuität, Vertrautheit, Sicherheit, Geborgenheit, etwas salopp gesagt, unabhängig von Inhalt und Qualität der Veranstaltung. Was den einen Vertrautheit vermittelt, ist jedoch für andere fremd. Der soziale Raum Gottesdienst oder kirchliche Veranstaltung kann eben aufgrund fehlender Vertrautheit und aufgrund eines fehlenden Interpretationsrahmens auch Unsicherheit vermitteln oder Irrelevanz. Genau hier setzt das zweite Stichwort an: Pflanzen und Loslassen. Wir brauchen den Mut für ein neues mentales Bild. Es geht weder darum, dem Evangelium eine neue Verpackung zu verpassen, um es für den potenziellen Interessenten ansprechend darzustellen, noch darum, die Schwelle zum kirchlichen sozialen Raum zu senken. Es geht vielmehr darum, in einem sozialen Raum, der den Menschen vertraut ist, die wir mit dem Evangelium ansprechen wollen, Samen auszusäen, eine Pflanze zu pflanzen, und dann zu beobachten, was aus diesem Prozess erwächst. Wie genau sich diese Pflanze entwickeln wird, das ist im Voraus nicht absehbar. Ein solches Vorgehen erfordert den Mut, loszulassen, freizugeben und wachsen zu lassen, was aus dem Samen des Evangeliums aufkeimt. 1.3 Stichwort 3: Transformation

Eine Folge dieses Wachstumsprozesses wird sein, dass die junge Pflanze – als junge Gemeinde, als FreshX, oder auch als junger Christ – in einen Reflexionsprozess hinein wächst. Ziel dieses Prozesses ist, das Evangelium mit dem eigenen Lebenskontext ins Gespräch zu bringen, Gedanken und Lebensvollzüge auf das Evangelium abzustimmen, und neue Verhaltens- und Denkweisen einzuüben. Gilliland stellt diesen Prozess im zweiten Teil seiner Definition dar: »Kontextualisierung in der Mission beschreibt das Bemühen einer Kirche, das Evangelium erfahrbar zu machen in ihrem eigenen Lebensumfeld. In diesem Prozess wird die Kirche – geleitet durch den Heiligen Geist – Elemente ihrer eigenen Kultur kritisch reflektieren, sie integrieren oder auch transformieren, mit dem Ziel, sie unter die Herrschaft Christi zu bringen. Die Gläubigen werden das Wort Gottes reflektieren in ihren eigenen Gedanken, ihre eigenen kulturellen Gaben einsetzen, und auf diese Weise das Evangelium als Inkarnation in ihre Lebenswelt verstehen lernen.«11

Im Zuge ihrer Beschäftigung mit dem Wort Gottes wird eine Kirche ihr eigenes kulturelles Umfeld reflektieren unter der Fragestellung: Welche Aspekte unserer Kultur werden im Evangelium aufgenommen und positiv bewertet? Welche Aspekte unserer Kultur passen nicht zum Wesen Jesu Christi? Welche Aspekte 11

Eigene Übersetzung; engl. Original: »Contextualization in mission is the effort made by a particular church to experience the gospel for its own life in light of the Word of God. In the process of contextualization the church, through the Holy Spirit, continually challenges, incorporates, and transforms elements of the culture in order to bring them under the lordship of Christ. As believers in a particular place reflect upon the Word through their own thoughts, employing their own cultural gifts, they are better able to understand the gospel as incarnation« (Gilliland, Contextualization, 225).

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unserer Kultur benötigen eine Transformation durch das Evangelium? Diese Fragen können wir nicht stellvertretend für andere beantworten. Wir können sie nur für unseren eigenen Kontext durchdenken. Und wir können Menschen anleiten und begleiten bei solchen Reflexionsprozessen in ihrem jeweiligen Kontext. Die Prozesse geschehen in ihrer Sprache, in ihren Denkkategorien, unter Berücksichtigung ihrer kulturellen Besonderheiten. Sie führen dazu, dass der christliche Glaube für Menschen in ihrem kulturellen Kontext authentisch erfahrbar wird. Die drei Schritte Inkarnation, Pflanzen und Loslassen, sowie Transformation spiegeln Wrogemanns Anliegen einer »symbiotischen Evangelisierung« wieder.12 Wrogemann verwendet den Begriff symbiotisch für eine »vielschichtige Austauschbeziehung« zwischen den Akteuren, die im Prozess der Bezeugung des Evangeliums am Geschehen beteiligt sind. Die traditionelle Rollenzuweisung im Kommunikationsprozess (Sender, Botschaft, Empfänger) wird durchbrochen, indem das Geschehen als wirkliche Interaktion zwischen allen am Geschehen beteiligten Menschen und dem Evangelium verstanden wird. Der konversive, dynamische und auch ganzheitliche Charakter des Prozesses wird in den Blick genommen. Zu dieser Interaktion gehört, dass das Ergebnis nicht vorher festliegen kann. »[D]ie Andersartigkeit des Anderen [bleibt] grundsätzlich gewahrt.«13 Es wird sich erst im Lauf des Prozesses zeigen, welche Veränderungen durch die Interaktion mit dem Evangelium ausgelöst werden, und wie dieser Prozess die am Geschehen beteiligten Menschen zusammenführt. Genau um diese Dynamik geht es bei den drei Stichworten dieses Abschnitts.14 Wie kann das in der Praxis aussehen? Ich ziehe als Beispiel die Entwicklung von Somewhere Else, der so genannten Bread Church in Liverpool heran. Die Methodistenpastorin Barbara Glasson begann 1999 nach einem intensiven Orientierungsprozess, in dem sie sich mit der Lebenswelt der Menschen in der Innenstadt von Liverpool beschäftigt hatte, Menschen einzuladen zum gemeinsamen Brotbacken in einem öffentlichen Raum in einer Ladenzeile der Innenstadt. In den Gesprächen beim Brotbacken entstand allmählich eine geistliche Gemeinschaft, die vom gegenseitigen Austausch, dem gemeinsamen Gebet und einer Orientierung am Wort Gottes geprägt war. Der soziale Raum, in dem diese geistliche Gemeinschaft »geboren« wurde, war eine gemeinsame Backstube, kein kirchlicher Veranstaltungsort und -rahmen. Was aus dem gemeinsamen Brotbacken erwachsen würde, war nicht im Voraus abzusehen. Es zeichnete sich lediglich ab, dass das Angebot, gemeinsam Brot zu backen, ein Bedürfnis einer 12 Henning Wrogemann, Wer betreibt Inkulturation? Evangelium und Kulturen im Spannungsfeld von Machtkonstellationen, Anerkennung und kritischem Dialog, Zeitschrift für Mission 32/3 (2006), 234–252. 13 Wrogemann, Wer betreibt Inkulturation?, 247. 14 Reppenhagen nimmt Bezug auf Wrogemann und entfaltet den hier angesprochenen Prozess unter dem Stichwort »symbiotische Evangelisierung als Beziehungsgeschehen«. Martin Reppenhagen, Evangelistische Verkündigung als Übersetzungs- und Beziehungsgeschehen, Theologische Beiträge 47 (2016), 343–354.

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Gruppe von Menschen in Liverpool ansprechen würde. Die Entwicklung dieser Gemeinschaft ist das Ergebnis eines gemeinsamen Prozesses, in dem die Teilnehmer – neben dem Wirken des Heiligen Geistes – die entscheidende Rolle spielten.15 In der Geschichte dieser Gemeinschaft zeigen sich die in diesem Abschnitt genannten Stichworte. Kontextualisierung wird so als ein dynamischer, offener Prozess verstanden, in dessen Mitte eine authentische Begegnung von Menschen mit dem Evangelium – dem logos, Jesus Christus – steht. Im Folgenden werde ich drei theologische Fragestellungen aus dem weltweiten Kontext der Kirche heranziehen, um die bisherigen Ausführungen zum Prozess der Kontextualisierung zu verdeutlichen.

2 Drei theologische Fragestellungen der weltweiten Kirche 2.1 Der Begriff Sünde im japanischen kulturellen Kontext

Die US-amerikanische Ethnologin Ruth Benedict hat im Jahr 1946 in ihrem Buch The Chrysanthemum and the Sword. Patterns of Japanese Culture16 Japan als »Scham-Kultur« bezeichnet und diese der amerikanischen Kultur als SchuldKultur gegenübergestellt. Dieser polarisierenden Darstellung wurde von japanischen Sozialwissenschaftlern später widersprochen. Dessen ungeachtet haben Missionswissenschaftler diese Unterscheidung aufgegriffen und versucht, ihre theologische Relevanz zu reflektieren. Man hat sich dabei zunächst auf folgenden Argumentationsgang gestützt: Das Evangelium ist eine gute Nachricht über die Vergebung menschlicher Schuld. In einer Gesellschaft, in der jedoch kein Schuldbewusstsein vorhanden ist, sondern »nur« ein Schambewusstsein, lässt sich das Evangelium gar nicht als gute Nachricht verkündigen. Verkündiger müssen deshalb zuerst ihren Zuhörern den »Spiegel des Gesetzes« vorhalten, damit Menschen ihre Schuld erkennen. Dann erst kann das Evangelium als gute Nachricht der Vergebung von Schuld gehört und verstanden werden. Bei dieser Argumentation wird jedoch übersehen, dass Menschen in Japan in ihrem religiösen Erleben durchaus ein vergleichbares Empfinden haben für das, was wir in unserer Terminologie mit Schuld beschreiben. Wer in Japan einen Shintō-Schrein besucht, findet am Eingang ein steinernes Reinigungsbecken (chōzuya oder temizuya) mit einem eingemeißelten Schriftzug, wie beispielsweise »das Herz waschen«.17 Japaner waschen sich hier die Hände und spülen sich den Mund mit Wasser aus, bevor sie vor die Götter treten mit ihren Gebeten. Nimmt man am Schrein an einer religiösen Zeremonie teil, wird der Priester 15

Weitere Informationen unter www.somewhere-else.org.uk (zuletzt geprüft am 18.02.2019). Dt. Übersetzung: Ruth Benedict / Jobst-Mathias Spannagel, Chrysantheme und Schwert. Formen der japanischen Kultur, Frankfurt am Main 42012. 17 Für ein Foto eines solchen Reinigungsbeckens siehe: www.123me.de/tb/2017/kontextua lisierung (zuletzt geprüft am 18.02.2019).

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einen Zeremonienstab (gohei), an dem geflochtene Papierstreifen angebracht sind, über die Köpfe der Teilnehmer bewegen, um den Raum und die versammelten Menschen rituell von bösen Einflüssen zu reinigen. So wird im Kontext des Shintō das Böse als Unreinheit verstanden und entsprechend beseitigt. Die theologische Argumentation – Menschen in Japan hätten kein Schuldbewusstsein, deshalb müsse man ihnen zunächst das Gesetz predigen, um ihnen im Anschluss die Vergebung der Sünden verständlich zu machen – nimmt den kontextuellen japanischen Bezug nicht auf. Westliche Missionare und Theologen haben der Tatsache keine Beachtung geschenkt, dass der Diskurs zum Thema Sünde und Vergebung nicht nur in juristischen Metaphern von Schuld, Strafe und Sühne, sondern auch in rituellen Metaphern von Unreinheit und Reinigung geführt werden kann. Es gilt, den japanischen Kontext als Herausforderung für eine facettenreichere theologische Reflexion zu begreifen. Das ist natürlich nicht nur für die Hamartiologie von Bedeutung, sondern auch für Christologie und Soteriologie. Der mennonitische Theologe Norman Kraus geht deshalb in seinem Buch Jesus Christ, our Lord18 ausdrücklich darauf ein, dass und wie Gott am Kreuz sowohl mit unserer Scham als auch mit unserer Schuld umgeht. Der Akt der Kreuzigung selbst ist ein zutiefst beschämendes Geschehen. Der Gekreuzigte kämpft vor den Augen der Öffentlichkeit entblößt mit dem Tod. Einen größeren Akt der Bloßstellung und Beschämung kann man sich nicht vorstellen. Aber gerade indem Christus sich so tief erniedrigt und unsere Scham und Bloßstellung auf sich nimmt, bedeckt er unsere Blöße. Er stellt sich schützend vor uns. In einem schamorientierten Kontext entfaltet die Kreuzigungsszene erst recht ihre Kraft, mehr als sie das in einem schuldorientierten Kontext tun kann.19 Es ließe sich hier eine dritte Metapher ergänzen, die ebenfalls biblische Bezüge aufweist, und die in der für zwischenmenschliche Beziehungen überaus sensiblen japanischen Kultur sehr gut verstanden wird. Ich meine die Rede von Sünde als zerbrochener Beziehung. Jeder erwachsene Mensch in Japan weiß, wie komplex zerbrochene Beziehungen sind. Beziehungen lassen sich in dieser Gesellschaft nur sehr schwer wiederherstellen. Auf diesem Hintergrund bietet ein theologischer Diskurs von Versöhnung und der Heilung zerbrochener Beziehungen – der Gottesbeziehung und der Beziehung zu anderen Menschen – eine große Relevanz zur japanischen Lebenserfahrung. Kontextualisierung fordert 18

C. Norman Kraus, Jesus Christ our Lord. Christology from a Disciple’s Perspective, Scottdale 1987. 19 Vgl. den Gebrauch der Metaphern »Gewänder des Heils« (Jes 61,10); »bekleiden mit festlichen Gewändern« (Sach 3,4); »weiße Kleider / weißes Gewand« (Apk 3,18; 6,11; 7,14; 22,14). Die reinen Festgewänder stehen im Gegensatz zu verschmutzten Kleidern oder zur Blöße, mit denen Menschen als Beschämte dastehen. Auch Paulus stellt in seiner Abhandlung über die Schuld der Menschen in Röm 3,23 eine Verbindung zwischen Sünde und dem Verlust der Herrlichkeit Gottes her (»mangeln des Ruhmes, den sie bei Gott haben sollten«), eine Redewendung, die eindeutig dem Kontext von Ehre bzw. Scham zuzuordnen ist.

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also heraus, die eigene theologische Perspektive zu erweitern und die biblischen Texte in einer größeren Breite in den Blick zu nehmen, um so die Begegnungsflächen zwischen dem Evangelium auf der einen Seite und den Menschen in einem spezifischen Kontext auf der anderen Seite zu vergrößern. Das ist Teil eines inkarnatorischen Geschehens. 2.2 Der Umgang mit dem buddhistischen Hausaltar für japanische Christen (und solche, die es gern werden wollen)

Ich schließe ein zweites Beispiel aus Japan an. In vielen, wenn nicht den meisten japanischen Häusern findet man einen buddhistischen Hausaltar, häufig in Form eines Wandschranks, etwa 1,80 m hoch und etwa 80 cm breit, im Japanischen butsudan genannt.20 Missionare haben mit ihrer Kritik an den religiösen Praktiken, die mit dem butsudan verbunden sind, und mit ihren Forderungen an die Konvertiten, sich vom butsudan zu trennen, den Eindruck vermittelt: der christliche Glaube und ein butsudan im Haus, das passt nicht zusammen. Für manche Japaner mag das wohl ein Grund sein, sich gar nicht erst näher mit dem christlichen Glauben zu beschäftigen. Auf den ersten Blick macht eine solche Forderung – aus westlicher Sicht – Sinn: Entweder ich bin Buddhist; dann habe ich für meine religiösen Riten einen buddhistischen Altar im Haus. Oder ich bin Christ; dann muss der buddhistische Altar weichen. (Für Asiaten ist eine solche Entweder-oder-Logik fremd, egal wie einleuchtend wir das finden mögen.) Grundsätzlich müssen wir uns jedoch zunächst einmal darum bemühen zu verstehen, was an einem solchen buddhistischen Hausaltar geschieht, und welche Vorstellungen Menschen hier mit ihren täglichen Gebeten und Riten verbinden. Erst in einem zweiten Schritt können wir darüber nachdenken, wie Christen sich zu diesen Praktiken verhalten können und ggf. sollten. In aller Kürze: An dem butsudan berichten die Familienmitglieder ihren kürzlich verstorbenen Vorfahren über aktuelle Geschehnisse in der Familie (der Vater hat einen Krankenhausaufenthalt vor sich, die Tochter schreibt eine wichtige Klausur etc.). Neben diesen Berichten aus dem Alltag der Familie unterstützt man mit Gebeten für die Toten die Entwicklung der Totenseele im Jenseits. Dahinter steht die Vorstellung, die Seele des Verstorbenen entwickle sich im Lauf von 33 Jahren (in manchen Gegenden 50 Jahren) von einer hilflosen Totenseele hin zu einem Bodhisattva, oder in der Vorstellung des Shintō, der traditionellen Religion Japans, zu einem kami, einer Gottheit. Dieser Prozess ist vergleichbar mit der Entwicklung eines Menschen in seinem irdischen Leben von einem hilflosen Säugling hin zu einem erwachsenen, selbständigen Menschen. Am Ende dieses Entwicklungsprozesses der Totenseele steht die Existenz eines spirituellen Wesens, das nicht mehr auf die Unterstützung der Nachkommen angewiesen ist, sondern der ganzen Dorfgemeinschaft oder dem Stadtbezirk als Schutzgottheit zur Verfügung steht. An dem buddhistischen Hausaltar ist die Seele zu spre20

Für ein Foto eines butsudan siehe: www.123me.de/tb/2017/kontextualisierung (zuletzt geprüft am 18.02.2019).

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chen, solange sie diesem Prozess der Veränderung unterliegt. Wenn sie das Stadium der Vollkommenheit erlangt hat, geleitet man sie zum örtlichen ShintōSchrein (oder zu einem buddhistischen Tempel).21 Weiterhin ist zu beachten, dass ein solcher butsudan jeweils vom Vater an seinen ältesten Sohn vererbt wird. Dieser übernimmt damit die Verpflichtung, für die verstorbenen Vorfahren zu sorgen. Wenn jetzt aber – wie das in Japan häufig der Fall ist – zunächst die Ehefrau Kontakt aufnimmt zu einer christlichen Gemeinde und Christin wird, dann hat sie faktisch gar nicht das Recht, den butsudan aus dem Haus zu entfernen. Zudem würde ein solcher Akt dem Ehemann signalisieren: In meinem neuen Glauben ist kein Platz für deine Tradition und deine Vorfahren. Die Frage nach dem Umgang mit dem butsudan darf nicht auf einer äußeren Ebene des Verhaltens beantwortet werden. Die vorrangige Aufgabe muss vielmehr sein, japanischen Christen zu einer differenzierten Auseinandersetzung mit dem eigenen Welt- und Menschenbild aus der Perspektive des Evangeliums zu verhelfen. Transformation gelingt nur, wenn sie aus einer mündigen Beschäftigung mit der eigenen Tradition im Licht des Evangeliums erfolgt. Dabei können sich verschiedene Optionen auftun. Allen gemeinsam wird sein, dass japanische Christen lernen, ihre Gebete nicht an Verstorbene, sondern an Gott, den Schöpfer und Retter zu richten. Dabei können solche Gebete selbstverständlich auch die verstorbenen Vorfahren zum Thema haben. Wie immer die Entscheidung im Blick auf den Umgang mit dem butsudan ausfällt, Berentsen hat sicher recht, wenn er darauf hinweist, dass die Frage nach dem Umgang mit den Riten der Ahnenverehrung einer differenzierten Antwort bedarf.22 Eine Empfehlung aus meiner Sicht an die japanische Kirche wäre, den Gemeindegliedern liturgische Texte (Schriftlesung, Liedverse, Gebete) an die Hand zu geben, mit denen beispielsweise eine christliche Ehefrau am Gedenktag eines verstorbenen Familienangehörigen bei einer gemeinsamen Mahlzeit im Familienkreis an den Gedenktag erinnern und ihre Familie und Vorfahren ins Gebet einschließen kann. Es würde sicher nicht ohne Wirkung auf manchen areligiösen oder buddhistischen Ehemann in Japan bleiben, dass seine Frau, als Christin, der Familie ihres Mannes, einschließlich seiner Vorfahren, Achtung entgegen bringt und seine Vorfahren im christlichen Glauben seiner Ehefrau bedacht 21 Vgl. Robert John Smith, Ancestor Worship in Contemporary Japan, Stanford 1974; Herman Ooms, A Structural Analysis of Japanese Ancestral Rites and Beliefs, in: William H. Newell (Hg.), Ancestors, Chicago 1976, 61–90. 22 »In other words, the ancestral rites have to be faced not as a barrier or a bridge – a simple alternative which calls for either wholesale rejection or uncritical adoption. For better or worse the problem is much more complex. This significant aspect of Japanese culture presents the church with a barrier and a bridge at the same time. The encounter is profoundly a paradoxical one. Real indigenization of Christianity in this respect, it seems to me, can materialize only via a dialectical process of rejection and adoption whereby the motives of the rites are reinterpreted into a new whole in the light of the gospel« (Jan-Martin Berentsen, Grave and Gospel, Leiden 1985, 298).

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werden. Ein solch einfacher Ritus könnte das christliche Zeugnis der Ehefrau im Kontext ihrer Familie stärken. Das Beispiel mag illustrieren, wie ein Prozess der Transformation – auf der Ebene des Weltbilds und daraus folgend des Verhaltens – aussehen kann. 2.3 Insider-Bewegungen in der islamischen Welt

Das dritte Beispiel soll den Aspekt des sozialen Raumes und der kulturellen Vertrautheit aufgreifen. Wir beobachten seit etwas mehr als 20 Jahren eine wachsende Bewegung von jesusgläubigen Muslimen, die sich dafür entschieden haben, mit ihrem Jesus-Glauben in ihrem religiösen und kulturellen Umfeld zu bleiben. Missionswissenschaftler sprechen hier von so genannten »InsiderMovements«.23 Diese Menschen nennen sich nicht Christen, sondern verstehen sich weiterhin als Muslime. Für sie ist das in erster Linie eine kulturelle Bezeichnung. Im Hintergrund steht, dass Christsein in vielen Teilen der Welt mit westlicher Kultur und einem dekadenten westlichen Lebensstil identifiziert wird. Viele ernsthaft gläubige Muslime sind von einem solchen Lebensstil abgestoßen und wollen sich damit nicht identifizieren. Sie wollen in diesem kulturellen Sinne keine »Christen« sein, glauben aber an Jesus. Sie bleiben in der Moscheegemeinde und nehmen an den muslimischen Gebeten teil. Sie unterscheiden sich lediglich darin von anderen Muslimen, dass sie Jesus als Erlöser und nicht nur als einen Propheten sehen. In manchen Gegenden ist es ihnen erlaubt, im Anschluss an das Freitagsgebet von ihrem Glauben an Isa, den Messias, öffentlich zu sprechen. An anderen Orten treffen sie sich in einer Art JesusHauskreis zusätzlich zu den Gebeten in der Moschee. Kritische Stimmen – vor allem aus der westlichen Welt, aber auch ehemalige Muslime, die aufgrund ihrer Bekehrung zu Christus großes Leid und eine schmerzhafte Trennung von ihren Familien und ihrer Kultur auf sich nehmen mussten – fordern von den Jesus-Gläubigen einen klaren Bruch mit ihrer Tradition. Für sie steht die religiöse Dimension bei dieser Frage im Mittelpunkt. Die jesusgläubigen Muslime auf der anderen Seite betonen, dass es doch möglich sein müsse, an Jesus, den Messias, zu glauben, ohne die eigene Kultur verlassen zu müssen. Es ist nicht leicht, verlässliche Informationen zu erhalten über die Glaubensvorstellungen dieser jesusgläubigen Muslime, da sie nicht als klar identifizierbare Gruppe von Christusgläubigen öffentlich auftreten. Parshall veröffentlichte 1998 Ergebnisse einer Untersuchung in »Islampur«, ein Pseudonym für einen unbekannten Ort in der islamischen Welt.24 Zwölf Jahre nach dem Entstehen 23

Vgl. Timothy C. Tennent, Ecclesiology. Followers of Jesus in Islamic Mosques, in: ders., Theology in the Context of World Christianity. How the Global Church is Influencing the Way we Think About and Discuss Theology, Grand Rapids 2007, 193–220; H.L. Richard, New Paradigms for Religion, Multiple Religious Belonging, and Insider Movements, Missiology 43 (2015), 297–308. 24 Phil Parshall, Danger! New Directions in Contextualization, Evangelical Missions Quarterly 34 (1998), 404–417.

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einer Insider-Bewegung wurden 72 jesusgläubige Muslime befragt, die in 66 Dörfern insgesamt 4.500 andere jesusgläubige Muslime geistlich begleiteten. Insgesamt schätzte man die Zahl der jesusgläubigen Muslime in diesem Gebiet auf etwa 45.000. Die 72 Befragten machten folgende Angaben: − − − − − − − − − − − − − − − −

76% trafen sich einmal in der Woche zu einem christlichen Gottesdienst; 66% lasen täglich im Evangelium oder hörten auf neutestamentliche Texte; keiner von ihnen las täglich im Koran; 55% sagten, Gott existiere als Vater, Sohn und Heiliger Geist; 97% bekannten, Jesus sei der einzige Retter; 93% sagten, »Allah liebt mich und vergibt mir, weil Jesus sein Leben für mich gegeben hat«; 100% waren überzeugt, Menschen könnten durch den Glauben an Jesus von der Macht der bösen Geister befreit werden; 100% beteten zu Jesus um Vergebung ihrer Schuld; 97% bekannten, sie seien nicht gerettet aufgrund von Mohammeds Gebeten; 100% fühlten sich Gott nahe, wenn sie das NT lasen; 50% gingen freitags zur Moschee; 31% gingen mehr als einmal am Tag zur Moschee. Sie beteten muslimische Gebete, in denen Muhammad als Prophet Gottes bestätigt wird; 96% sagten, es gebe vier heilige Bücher (die Thora, die Propheten, das Evangelium und den Koran); 66% sagten, der Koran sei das größte der vier Bücher [auch wenn keiner von den Befragten täglich darin las, was der Tatsache geschuldet sein dürfte, dass der Text in Arabisch abgefasst ist]; 45% sprachen nicht von einem trinitarischen Gott; 45% fühlten sich Allah nahe, wenn sie auf die Lesung des Koran hörten.

Die bis heute kontrovers diskutierte Frage lautet: Ist eine solche Insider-Bewegung eine legitime Ausdrucksform des Glaubens an Jesus Christus im Kontext islamischer Kultur? Oder muss von diesen Gläubigen ein eindeutiger Bruch mit ihrer Kultur gefordert werden? Die Ergebnisse dieser Umfrage wurden von Parshall selbst eher kritisch bewertet. Er betonte die Gefahr des Synkretismus durch den Verbleib in der Moschee. Im Licht der obigen Ausführungen zum Thema »Pflanzen und Loslassen« stellt sich jedoch die Frage, ob es nicht für diese Jesus-Gläubigen legitim ist, ihren Jesus-Glauben im Kontext der eigenen Kultur zu leben. Ungeachtet aller kritischen Stimmen bin ich für meine Person eher zuversichtlich und gespannt, wie solche Bewegungen sich entwickeln. Ich habe dabei die Hoffnung, dass hier in neuen soziokulturellen Räumen neue geistliche Pflanzen heranreifen, die eine inkarnatorische Gestalt des Evangeliums darstellen. Dass es dabei dann in irgendeiner Weise auch zu transformatorischen Entwicklungen kommen wird, davon gehe ich aus. Diese können jedoch nur aus den Bewegungen heraus erwachsen, nicht von außen eingefordert werden.

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Die drei Beispiele aus dem Kontext der weltweiten Kirche illustrieren die im ersten Kapitel erwähnten Stichworte. Ich fasse meine Beobachtungen abschließend in vier Thesen zusammen.

3 Vier Thesen 3.1 These 1: Das Evangelium lässt sich in jeder Kultur – in jedem Milieu – kommunizieren und leben.

Der eingangs erwähnte britische Missionshistoriker Andrew Walls spricht von der »grenzenlosen Übersetzbarkeit« des christlichen Glaubens. »The faith of Christ is infinitely translatable, it creates ›a place to feel at home‹.«25 Menschen müssen nicht erst eine kulturelle Grenze überschreiten, um einen Zugang zum Evangelium und zu Christus zu erhalten. Das Evangelium hat inkarnatorischen Charakter. 3.2 These 2: Das Evangelium lässt sich in keine Kultur – in kein Milieu – nahtlos integrieren oder absorbieren.

Trotz dieser grenzenlosen Übersetzbarkeit des christlichen Glaubens bewahrt das Evangelium eine Eigenständigkeit. Es widersetzt sich einer Art von kultureller Integration, die es in einen spezifischen kulturellen Kontext hinein absorbieren und es in diesem Kontext auflösen möchte. Es bleibt in jeder Kultur widerspenstig und – im besten Sinn des Wortes – eigensinnig. Der bereits mehrfach zitierte Walls spricht in diesem Zusammenhang von einer Spannung zwischen dem Prinzip des Heimisch-Werdens (indigenizing principle) und dem Prinzip des Pilger-Seins (pilgrim principle).26 Christliche Existenz ist immer von diesen beiden Polen geprägt. »In der Welt … aber nicht von der Welt« (Joh 17,14–18). Auf der einen Seite geht es um einen Vorgang, der der Inkarnation vergleichbar ist. Christus will in und durch uns Gestalt gewinnen in unserem kulturellen Umfeld. Auf der anderen Seite steht die Wahrnehmung, dass ein völliges, nahtloses Aufgehen in unserem kulturellen Umfeld unsere christliche Existenz ersticken würde. Einheimischwerdung und Pilger-Dasein bleiben in einer Spannung zueinander bestehen. 3.3 These 3: Das Evangelium verändert Menschen und Kulturen von innen heraus.

Im Apostolischen Schreiben Evangelii Nuntiandi (1975) spricht Papst Paul VI. von einer »Evangelisierung der Kulturen«:

25 26

Walls, Missionary Movement, 25. Walls, Missionary Movement, 7–9.

Kontextualisierung des Evangeliums

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»Vielleicht können wir dies zusammenfassend auf folgende Weise ausdrücken: Es gilt – und zwar nicht nur dekorativ wie durch einen oberflächlichen Anstrich, sondern mit vitaler Kraft in der Tiefe und bis zu ihren Wurzeln – die Kultur und die Kulturen des Menschen im vollen und umfassenden Sinn […] zu evangelisieren, wobei man immer von der Person ausgeht und dann stets zu den Beziehungen der Personen untereinander und mit Gott fortschreitet. […] Unabhängig zwar gegenüber den Kulturen, sind Evangelium und Evangelisierung jedoch nicht notwendig unvereinbar mit ihnen, sondern fähig, sie alle zu durchdringen, ohne sich einer von ihnen zu unterwerfen.«27

Auch wenn man kritische Anfragen richten mag an die Formulierung »Evangelisierung der Kulturen«, meint Papst Paul VI. hier m. E. das, was ich mit dem Stichwort Transformation bezeichnet habe. 3.4 These 4: Das Evangelium – und die Kirche – kann nicht anders Gestalt gewinnen als in einer Vielzahl von partikularen, kontextuellen Formen. Ungeachtet dieser Tatsache ist die Kirche aufgerufen, sich um ihre – von Gott in Christus gestiftete – Einheit zu bemühen.

Das Evangelium gewinnt dann für Menschen Bedeutung, wenn es Antworten gibt auf Fragen, die sie bewegen; und wenn darüber hinaus Menschen in ihrer kulturellen Heimat mit Ausdrucksformen, die ihnen zur Verfügung stehen, auf das Evangelium antworten können. Das bringt zwangsläufig eine Vielfalt von Ausdrucksformen christlichen Glaubens mit sich. Es stellt sich im Zusammenhang dieser Wahrnehmung die eingangs aufgeworfene Frage: Was ist das Verbindende zwischen den verschiedenen Ausdrucksformen von Glauben, von Kirche und Theologie? Hier ist die Kirche in ihrer Verschiedenheit als hermeneutische Gemeinschaft gefragt. Der Wuppertaler Missionswissenschaftler Wrogemann bringt die dauerhafte Aufgabe der Kirche in seiner Definition Interkultureller Theologie folgendermaßen auf den Punkt: »Interkulturelle Theologie reflektiert die durch den universalen Geltungsanspruch ihrer Heilsbotschaft motivierten missionarisch-grenzüberschreitenden Interaktionen christlichen Glaubenszeugnisses, die im Zusammenspiel mit den jeweiligen kulturellen, religiösen, gesellschaftlichen und anderen Kontexten und Akteuren zur Ausbildung einer Vielzahl lokaler Christentumsvarianten führen, die sich durch das Bewusstsein ihrer Zusammengehörigkeit vor die Aufgabe gestellt sehen, normative Gehalte christlicher Lehre und Praxis in der Spannung zwischen Universalität und Partikularität immer wieder neu auszuhandeln.«28

27

Papst Paul VI., Apostolisches Schreiben Evangelii Nuntiandi, 1975, § 20; w2.vatican.va/ content/paul-vi/de/apost_exhortations/documents/hf_p-vi_exh_19751208_evangelii-nun tiandi.html (zuletzt geprüft am 16.01.2017). 28 Henning Wrogemann, Theologie interreligiöser Beziehungen. Religionstheologische Denkwege, kulturwissenschaftliche Anfragen und ein methodischer Neuansatz, Gütersloh 2015, 420.

Der menschliche Faktor Milieusensible Kommunikation des Evangeliums als Arbeit und Mühe Heinzpeter Hempelmann

1 Von einem neuerdings erhobenen abgehobenen Ton in der Theologie Unter Berufung auf die Theologizität der Theologie wird vielfach der gelehrte akademische Ton erhoben gegen die viel zu weitgehende oder als gänzlich überflüssig empfundene Berücksichtigung der Lebensweltperspektive. Milieuforschung braucht es theologisch – eigentlich – nicht. Eine so verstandene Theologizität hält die Reflexion auf die mentalen, sozialen und anderen empirischen Rahmenbedingungen der Kommunikation des Evangeliums für überflüssig, ja eigentlich häretisch, und das aus zwei Gründen: (1) weil das Evangelium eine an sich gegebene Größe ist, deren Kommunikation keinen Bedingungen unterliegt und (2) weil die Wirkung des Evangeliums durch den Heiligen Geist selbst geschieht. Wir haben ja in dieser Perspektive das Evangelium schon. Und wir haben den Heiligen Geist, der das tut, was wir nicht tun müssen: das Evangelium konkret adressieren. Das Evangelium wird als eine feste, invariante Größe unterstellt, die als solche existiert und als solche zugänglich ist. Die Mühe um eine kontextsensible Kommunikation, speziell die Arbeit an einer die Milieus als Rezipienten berücksichtigenden Weitergabe des Evangeliums ist streng genommen überflüssig. Wir haben offenbarungstheologisch den Zugang zu ihm, und auch alle anderen Menschen haben ihn – prinzipiell.1 Und eigentlich ist die 1

Prominent und exemplarisch ist diese Haltung bei Ellen Überschär, der Generalsekretärin des Deutschen Evangelischen Kirchentages, zu greifen (Vom Priesteramt aller Gläubigen. Ehrenamt in einer Kirche für andere, Beitrag zum Zukunftskongress der Evangelischen Landeskirche Baden, 20.10.2011, MS S. 5, www.ekiba.de/html/media/dl.html?i=10548 [zuletzt geprüft am 13.08.2019]). Differenzierungen bedeuten Trennungen, und die sind protestantisch nicht korrekt. Wir erreichen als gesellschaftliche Institution ja ohnehin noch mehr als alle anderen. Und es wäre absolut unevangelisch, sich etwa speziell auf das hedonistische Milieu einzulassen. Mit wünschenswerter Deutlichkeit heißt es: »Ein neues Evangelium haben wir […] nicht« und brauchen wir nicht (ebd., 10). Im Namen der Abwehr von Exklusion geschieht hier Exklusion derer, die dem »alten Evangelium« nicht folgen können. – Auch da, wo zugestanden wird, dass sich Kirche einlassen muss auf »die Postmoderne«, unterstellt man immer noch ein Wesen der Botschaft, etwas, das an sich und kompakt gilt und das dann eben doch als solches zu kommunizieren ist (vgl. exemplarisch den katholischen Beitrag: Eckhard Bieger / Wolfgang Fischer / Jutta Mügge / Elmar Nass, Pastoral im SINUS-Land. Impulse von der Praxis für die Praxis, Münster 22008, 50–59). Auch sehr reflektierte, sich spezifisch reformatorisch definierende, an der Grenze von Wissenschaft und Praxis arbeitende Theologinnen sind allzu schnell geneigt, das Evangelium oder den christlichen Glauben gegen eine spezifische Milieuprägung ins Spiel zu bringen. Im Blick auf das

Der menschliche Faktor

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Mühe und Arbeit an der Kommunikation nicht nur nicht nötig, sie ist unevangelisch, weil »Werkerei«. Immanuel Kant polemisiert in einer weniger bekannten Schrift mit dem Titel »Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie«2 aus dem Jahr 1796 gegen den Grafen von Stolberg, der zu dem Kreis um die Fürstin Gallitzin gehört. Jacques Derrida arbeitet den Ton heraus, mit dem der bürgerliche Philosoph Kant sich gegen den erhobenen Ton derer wendet, die von hohem Stand sind.3 Die Adeligen haben qua Status Arbeit nicht nötig, Kant dagegen muss mit ihr seinen Lebensunterhalt verdienen. Ihnen, die Kant an anderer Stelle als Träumer und Geisterseher4 qualifiziert, steht qua Erkenntnisprivileg in Form exklusiver Offenbarung das Mysterium, das innerste Wesen der Dinge offen. »Sie versäumen nie, sich für Vornehme zu halten, für Elitewesen, für Ausgezeichnete, höhere Subjekte, die sich abseits von der [bürgerlichen; hph] Gesellschaft halten«5. Kant dagegen muss sich mühen, seine Philosophie besteht in der Anstrengung des Begriffs. Seine Philosophie ist Arbeit. Erkenntnis der Welt vollzieht sich in der mühevollen diskursiven Zerlegung von Begriffen.6 Erkenntnis der Wirklichkeit im kommunikativen Diskurs, in der Analyse, im Unterscheiden oder als Privileg, als spektakuläre Über-Schau; vornehm-theologisch oder eingespannt in die Niederungen der phänomenologischen Soziologie und der empirischen Erhebung; als Offenbarung oder als Arbeit; als abschließbare und abgeschlossene Gegebenheit oder als fortlaufende diskursive Erläuterung, die ja auch an kein definitives Ende kommt. Das ist die Frage, vor der wir auch heute stehen, wenn wir nach der möglichen Relevanz der Lebensweltperspektive für die Kommunikation des Evangeliums fragen. Derridas Analyse des Kantischen Pamphlets gegen die Träumer und Geisterseher, die direkten Zugang zu Wirklichkeit und Wahrheit haben, hat ihre Pointe darin, dass sie im dekonstruktiven Modus zeigt, dass Anspruch und Form von Wissen soziokultuhedonistische Milieu bedeutet das dann: der christliche Glaube steht der Lustorientierung gegenüber und entgegen (vgl. Richard Mössinger, Jahresbericht Evangelium und Kirche 2013, online auf www.evangelium-und-kirche.de [zuletzt geprüft am 13.08.2019]). Abgesehen von der mangelnden Präzision in der Charakterisierung des HED und abgesehen von der Tatsache, dass eine Lustorientierung nicht nur in diesem Milieu zu finden ist, sondern in unterschiedlichen Formen als etwas Allgemeinmenschliches in allen Lebenswelten anzutreffen ist, wird hier die Chance vergeben, aus einer alternativen Sicht christlichen Glauben noch einmal anders zu erschließen und vielleicht zu entdecken, wo bisherige, immer historisch gewordene Begriffe von »christlichem Glauben« verengt sind und in der Folge exkludieren. 2 Immanuel Kant, Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie, AA VIII 193–196; Edition Weischedel, Band 6, Wiesbaden 1958. 3 Jacques Derrida, Apokalypse. Von einem neuerdings erhobenen apokalyptischen Ton in der Philosophie (Edition Passagen 3), Wien 1985. 4 Kant, Ton, 378. 5 Derrida, Apokalypse, 28. 6 Vgl. exemplarisch Kants »Logik« (ders., Logik – Ein Handbuch zu Vorlesungen [hg. von Gottlob Benjamin Jäsche], Königsberg 1800), die seine Philosophie exemplarisch als mühsame Zerlegung von Begriffen erkennen lässt.

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Heinzpeter Hempelmann

rell bestimmt sind. Schon die Auseinandersetzung über die Milieuperspektive ist milieubestimmt. Haben es Theologie und Kirche nötig, sich in die Niederungen der sozialwissenschaftlichen Empirie zu begeben? Brauchen sie Hilfe, um ihrem Auftrag, der Kommunikation des Evangeliums, nachzukommen? Ist Theologie nicht »autonom«? Hat sie nicht ein sie allein bestimmendes »Gesetz«, eine unveränderbare Vorgabe? Imponiert sich das Evangelium nicht selbst, ohne unser Zutun, ohne Mühe, ohne Arbeit, ohne »Werkerei«? Gegenüber dem neuerdings in der Theologie wieder erhobenen vornehmen Ton, gegenüber diesem die Theologie von fast allen Übeln heilenden, sie vom Zwang des (empirischen) Wirklichkeitsbezuges befreienden, ihr Sonderrecht, ihr Privileg und ihre Eigenexistenz begründenden Postulat der Theologizität7 möchte ich im Folgenden die These stark machen: Kommunikation des Evangeliums ist Arbeit, ist Mühe. Sie hat ihre theologische Fundierung im Vorbild des dreieinigen Gottes, der seine himmlische Lebens-Welt verlässt (vgl. Phil 2,5ff), mit Karl Barth8 gesprochen in die Fremde geht und Teil unserer Lebenswelt wird, nur um mit uns zu kommunizieren. Wir folgen dabei dem Ansatz einer Hermeneutik der Demut9 in der Tradition von Johann Georg Hamann. Diese gewinnt ihre Richtung und Bewegung aus dem Nachvollzug der konkreten Herunterneigung, der präzisen Herunterlassung, der realisierten Kondeszendenz. Nicht das abstrakte Überspielen der Differenz zwischen den Lebenswelten, sondern die – wie Hamann formuliert – »Demuth des Herzens«10, die sich ihrem Gegenstand als Gegenüber konkret zuwendet, sich auf ihn einlässt, an seiner Lebenswirklichkeit teilnimmt, ist die einzige, allerdings unverzichtbare Voraussetzung einer solchen Theologie und ihrer Kommunikationsstrategie.

2 »Unsichtbare Grenzen« und ihre massiven, mentalen Gründe a) Milieuforschung und Kirche – die provozierenden Ergebnisse

Das SINUS-Institut spricht von Milieuforschung als Stammes-Ethnologie für westliche Gesellschaften. Man kann das noch weiter zuspitzen. Milieuforschung 7

Vgl. Heinzpeter Hempelmann, Gott im Milieu. Wie Sinusstudien der Kirche helfen können, Menschen zu erreichen, Gießen 22013, 225–248: Nachwort zur 2. Auflage: »Zu Risiken und Nebenwirkungen … Zur aktuellen Auseinandersetzung über den Einsatz sozialwissenschaftlicher Tools in Kirche und Theologie«. 8 Vgl. Kirchliche Dogmatik Band IV,3 und 4. 9 Zur Sache vgl. die zusammenfassenden Darstellungen bei Heinzpeter Hempelmann, Wie wir denken können, Lernen von der Offenbarung des dreieinigen Gottes für Wissenschaftstheorie, Sprachphilosophie und Hermeneutik, Wuppertal 2000, Teil III; ders., »Wir haben den Horizont weggewischt«. Die Herausforderung: Postmoderner Wahrheitspluralismus und christliches Wahrheitszeugnis, Wuppertal 2008, Kap. 7 (Wie die wahre Welt zur Fabel wurde; Band 2). 10 Johann Georg Hamann, Über die Auslegung der Heiligen Schrift, in: ders., Londoner Schriften. Historisch-kritische Neuedition von Oswald Bayer und Bernd Weißenborn, München 1993, [59–61] 59.

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ist Stammesforschung an westlichen Gesellschaften, incl. aller provozierenden Voraussetzungen, die eine solche Sicht impliziert.11 Aus der fruchtbaren Begegnung von Ethnologie, Phänomenologie12 und Soziologie resultieren Ergebnisse, die die Gesellschaft, vor allem aber die Kirche herausfordern. 1) Kirche ist segmentiert, ja fragmentiert wie die Gesellschaft, deren Teil sie ist. Während Freiwilligkeitskirchen nahezu programmatisch ein Milieu abbilden und sich so distinguieren, finden Volkskirchen die Milieudistinktionen in sich vor. Betroffen sind beide Typen. 2) Gemeinden sind aus dieser Perspektive Gruppen gleich Gesinnter13. Sie bilden – ästhetisch so oder so bestimmte – Milieukirchen, sind de facto Milieugemeinden. 3) In diesen volkskirchlichen Gemeindekernen und Kerngemeinden dominieren jeweils bestimmte Milieus, mit allen gruppensoziologischen Konsequenzen von Inklusion und Exklusion, Eigengruppenbevorzugung, Selbstrekrutierungsmechanismus. Die, die dazu passen, werden inkludiert. Den anderen muss man es gar nicht erst sagen. Sie spüren instinktiv: Hier passen wir nicht rein. 4) Milieugemeinden sind durch »unsichtbare Grenzen« (Jörg A. Reiter)14 von den Menschen getrennt, die nicht zu ihrem Stamm-Milieu gehören. Wie der zwischendörfliche Diskurs über die richtige Art, ein Schwein zu zerteilen, distinguierend wirkt, also über Zugehörigkeit entscheidet,15 so sind es nach Bourdieu16 »die feinen Unterschiede«, etwa der richtige Neigungswinkel des beim Teetrinken abgespreizten kleinen Fingers, die über Drin-

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Voraussetzung ist ja, dass sich auch hochentwickelte westliche Gesellschaften verstehen lassen als Miteinander und Widereinander von Gruppen, Sippen, Milieus – »Stämmen«, mit ihren sie jeweils verbindenden und auszeichnenden Formen von Denken, Erkennen, Reden und Handeln, den entsprechend distinguierenden unterschiedlichen Weisen der Kommunikation und der Lebensweisen (vgl. schon Alfred Schütz, Grundzüge einer Theorie des Fremdverstehens, in: ders., Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine Einleitung in die verstehende Soziologie, Frankfurt am Main 21981, 137–197). 12 Vgl. den phänomenologisch fundierten Ansatz von Schütz (s. vorige Anm.) und die Karriere, die der Begriff der Lebenswelt in der modernen Soziologie von Luhmann bis Habermas macht. Vgl. Veronique Becker, Analyse von »Strukturen der Lebenswelt« von Schütz und Luckmann, Norderstedt 2014. 13 Nicole Burzan, Soziale Ungleichheit. Eine Einführung in die zentralen Theorien, Wiesbaden 42011. 14 Vgl. seine ethnologische Studie: Unsichtbare Grenzen. Distinktion und Demarkation bei einer bäuerlichen Gemeinschaft in Nord-Luzon: Maligcong, Mountain-Provinc, Berlin 1992. 15 Unsichtbare Grenzen, 150. 16 Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft (stw 658), Frankfurt am Main 1987. Vgl. J. Elmar Koenen, Zur hermeneutischen Rekonstruktion von sozialen Distinktionen, in: Ingo Mörth / Gerhard Fröhlich (Hg.), Das symbolische Kapital der Lebensstile. Zur Kultursoziologie der Moderne nach Pierre Bourdieu. Frankfurt am Main 1994, 93–106.

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nen und Draußen entscheiden. Mang-ili oder Ka-ili: Wir und Nicht-Wir17, das ist die entscheidende Frage. Kirchlich irritierend ist der Befund, dass es hier nicht um tiefschürfende theologische Fragen geht, sondern um die Ästhetisierungen des Alltags, entlang derer die Bruch- und Trennungslinien sich vollziehen. 5) Ethnologisch wird das gefasst durch das Konzept der Endo- und der Exosphäre einer Zwei-Sphären-Welt18. Kirche, das sind Wir, mal eher traditionsorientiert-bürgerlich, mal mehr postmateriell bestimmt. Das andere sind die anderen, eben Nicht-Wir. Sie sind zwar formal »Kirchenmitglieder«, aber – deine Sprache verrät dich – sie gehören zu den sog. »kirchenfernen Milieus«. Präzise müsste es heißen: »kirchengemeindefernen Milieus«. Aber genau diese Differenzierung fehlt eben. Schon mit der geläufigen Redeweise von den »kirchenfernen Milieus« wird der implizite Anspruch deutlich, dass die bestehenden Kirchengemeinden mit dem jeweils gegebenen dominierenden Milieu die Kirche repräsentieren, nicht nur faktisch, sondern auch normativ.19 Dass die anderen Milieus der Kirche fern sind, ist das wirklich nur deskriptiv gemeint? Schwingt da nicht auch ein normativer Ton mit, ein erhobener, normierender Ton?20

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Reiter, Unsichtbare Grenzen, passim. Endo- und Exosphäre sind hier nicht geophysikalisch gemeint, sondern werden ethnologisch gebraucht zur Kennzeichnung von klar definierten und gegeneinander abgegrenzten – sozialen – Räumen. 19 Diese theologische Unterstellung wird selbst in der »streng sozialwissenschaftlichen« Ansprüchen genügen wollenden Fünften Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung greifbar (Engagement und Indifferenz. Kirchenmitgliedschaft als soziale Praxis. V. EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft, hg. von der Evangelischen Kirche in Deutschland, Hannover 2014; Heinrich Bedford-Strohm / Volker Jung (Hg.), Vernetzte Vielfalt. Kirche angesichts von Individualisierung und Säkularisierung. Die fünfte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft, Gütersloh 2015). Es ist ja durchaus spannend, mit welcher Selbstverständlichkeit die KMU V »Kirchlichkeit« daran misst, wie oft man Kontakt mit einer Pfarrerin hat, wie oft man im Gottesdienst ist und inwieweit man am – milieugeprägten – kirchlichen Leben vor Ort teilnimmt. Bei dieser Betrachtungsweise werden qua Methode automatisch alle die selektiert, die andere Partizipationsformen an Kirche wählen und realisieren. Der sich in freien Gruppen organisierende und hier v.a. lebende Protestantismus kommt – programmatisch? – nicht in den Blick (vgl. dazu Heinzpeter Hempelmann, Kirchendistanz oder Indifferenz? Wie die Kirche von der Typologie der Lebensweltforschung profitieren kann. Ein kritischer Abgleich der Sinus-Studie für Baden-Württemberg mit der 5. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung, Theologische Beiträge 45 [2014], 284–303). 20 Kulturanthropologisch bekommt diese Distinktion ihre Relevanz und ihre Schärfe dadurch, dass in sehr vielen Stammesgesellschaften die Bezeichnung für den eigenen Stamm zugleich Bezeichnung für die Gattung Mensch ist. Aber was heben wir zu einem vornehmen Ton an, wenn der bedeutendste Ethiker des Abendlandes, dessen Einfluss auf Dogmatik und Ethik gar nicht überschätzt werden kann, in seiner Ethik die Fundamentaldistinktion zwischen Mensch einerseits und Sklave andererseits etabliert? 18

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b) Irritationen modern-protestantischen Selbstverständnisses

Ich möchte sieben Überzeugungen wenigstens andeuten, die in unserer Kirche die Grenzen, Schranken, Distinktionen wie mit Zauberhand unsichtbar werden lassen. Es sind im Wesentlichen das Selbstverständnis als Volkskirche und das Selbstverständnis als moderner, aufgeschlossener Protestantismus, die die Überzeugungen untermauern: 1. Überzeugung: »Wir sind doch kommunikativ! In der Kirche gibt es (noch) keine Milieuverengung. Wir sind doch für alle da.« Schönstes Beispiel sind die weiß-gelben, manchmal auch noch violett gefärbten Hinweistafeln an den Ortseingängen, auf denen die Gottesdienstzeiten angegeben sind. Die – implizite – Botschaft dieser öffentlichen Schilder lautet: Das sind Veranstaltungen für alle. Hier kann und darf ja jeder kommen. Alle sind eingeladen. Milieuverengung? Wo denn? Und dann vergisst man die Gottesdienstzeiten, die einmal angesetzt wurden, um der ländlichen Bevölkerung zwischen zwei Viehfütterungen den Gottesdienstbesuch zu ermöglichen. Dann übersieht man, dass am SonntagmorgenHauptgottesdienst zwischen 40% und 60 % der arbeitenden Bevölkerung nicht teilnehmen können, weil sie in unserer Dienstleistungsgesellschaft am Wochenende berufstätig sind.21 Dann übersieht man, dass der Sonntagvormittag die Hauptkommunikationszeit für Familien ist, oft die einzige, die es noch gibt, wo alle anwesend sind. Neben die exemplarische Milieuverengung22 bei der 21

Der Sachverhalt ist komplex: »Der Deutsche Gewerkschaftsbundes (DGB) hat im DGBIndex ›Gute Arbeit 2014‹ knapp 6.000 fest beschäftigte Arbeitnehmer befragt und kommt zu folgendem Ergebnis: 13 Prozent der Beschäftigten arbeiten ›sehr häufig‹ an den Wochenenden, 14 Prozent ›oft‹, und 33 Prozent ›selten‹. Das sind zusammengenommen 60 Prozent, also mehr als die Hälfte der Arbeitnehmer. Nur 40 Prozent der Befragten gaben an, ›nie‹ am Wochenende arbeiten zu müssen.« (Miriam Zöllich, Ranklotzen am Wochenende. Sonntagsarbeit nimmt zu, www.web.de/magazine/geld-karriere/ranklotzen-wochenende-sonntagsarbeit31360214 zuletzt geprüft am 18.02.2019). Zu berücksichtigen ist insgesamt, dass sich der Anteil der Beschäftigten, die am Wochenende arbeiten müssen, in den vergangenen 20 Jahren um zwei Drittel erhöht hat (Umfrage. Immer mehr Menschen müssen am Wochenende arbeiten, WiWo 3. Juni 2012). Am Wochenende haben viele Menschen dadurch generell weniger freie Zeit. Auch die wachsenden Verfügbarkeitserwartungen engen den zeitlichen Spielraum ein. Dazu kommt schließlich, dass viele Mütter und Väter alleinerziehend sind und wichtige Tätigkeiten auf Samstag und Sonntag verlagern müssen. Der Besuch des Gottesdienstes am Sonntagvormittag erscheint da fast wie ein Luxus. Wie sähe eine Kirche aus, die diesen hier nur angedeuteten Sachverhalten auch nur ansatzweise »entgegen-käme«? 22 In der SINUS-Studie Evangelisch in Baden und Württemberg ergaben sich für bestimmte Typen von Kirchenmitgliedern massive, erstaunliche Unterschiede. Auf der einen Seite gibt es die Traditionellen Kirchgänger, für die der Kirchgang am Sonntagmorgen geradezu zu ihrem sonntäglichen Alltag dazu gehört. Hier geben an, 74% »regelmäßig« die Kirche zu besuchen. Auf der anderen Seite steht der Typos der Säkular Distanzierten, von denen bloß 19% angeben, »regelmäßig« einen Gottesdienst zu besuchen. Zu beachten ist, dass bei dieser Umfrage das Selbstverständnis der Befragten erhoben wurde (vgl. Heinzpeter Hempelmann / Karen Hinrichs / Ulrich Heckel / Dan Peter [Hg.], Auf dem Weg zu einer milieusensiblen

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»Hauptveranstaltung« tritt das sehr spezielle kirchliche Leben, das Kirche als Verein und Kirche als Behörde ausmacht, mit all den Sitzungs- und WahlRhythmen, Verfahrensregeln und Strukturen, die früher einmal für viele Sinn gemacht haben, heute aber für immer weniger Menschen passen. Aber hat man es nicht immer schon so gemacht? Muss es darum nicht richtig sein? 2. Überzeugung: »Wir sind doch kommunikativ. Wir erreichen doch alle.« Als Beispiel gelten dann »wenigstens noch die Konfirmation« oder eben natürlich die Taufe23. Dabei wird übersehen, dass laut einer Konfirmanden-Studie für die Ev. Landeskirche in Württemberg nur 93% der Evangelischen eines Jahrgangs konfirmiert werden.24 »Nur 93%?«, könnte man fragen. Ist das nicht sehr viel? Es fehlen 7%.25 Und das passt zum Anteil der Kinder aus PRE-Milieus. Kann uns das gleichgültig sein? Noch viel schwerer wiegt natürlich der Sachverhalt, dass der Großteil eines Konfirmationsjahrgangs nach der Konfirmation mit großer Selbstverständlichkeit in der Kirche keinen Platz, keine Aufgabe und keinen Sinn sehen.26 Eine EKD-Studie und verschiedene Fallstudien zeigen, dass wir massenhafte Taufaufschübe27 haben, nicht bei den situierten Familien, sondern in Familien mit prekären, schwierigen Familienkonstellationen. Aber, es gilt natürlich trotzdem: Kirche erreicht alle. 3. Überzeugung: »Wir sind doch kommunikativ! Wir können Kommunikation. Wer, wenn nicht wir? Wir können mit allen über alles reden. Wir sind einladende, offene Kirche, für alle. Uns muss man nicht belehren.« Und dann wird übersehen, dass schon der eigene Kommunikationsbegriff milieuverengt ist und ganz viele ausschließt. Wir hätten vielleicht gerne eine Akademikerkirche mit vielen kleinen »Habermas’«, hochreflektiert, kritisch, Bescheid wissend, sozial engagiert, an Autonomiewerten orientiert. Aber so ist Kirche eben nicht. Es ist fatal, dass in Bezug auf den Zentralbegriff der PraktiKirche. Die SINUS-Studie »Evangelisch in Baden und Württemberg« und ihre Konsequenzen für kirchliche Handlungsfelder [Kirche und Milieu 2], Neukirchen-Vluyn 2015). 23 Zur kritischen Reflexion dieser Überzeugung vgl. das in dieser Reihe erschienene Handbuch Taufe: Heinzpeter Hempelmann / Benjamin Schließer / Corinna Schubert / Markus Weimer, Handbuch Taufe. Impulse für eine milieusensible Taufpraxis (Kirche und Milieu 1), Neukirchen-Vluyn 2013, 2. Aufl. Göttingen 2019. 24 Vgl. Colin Cramer / Wolfgang Ilg / Friedrich Schweitzer, Reform von Konfirmandenarbeit – wissenschaftlich begleitet. Eine Studie in der Evangelischen Landeskirche in Württemberg, Gütersloh 2009, 193. 25 Es sei daran erinnert, dass die Zahlen in Ostdeutschland teilweise deutlich niedriger liegen. Auch in südwestdeutschen Landeskirchen ist eine Tendenz zu beobachten, dass die Selbstverständlichkeit, mit der man seine Kinder zur Konfirmation anmeldet, deutlich abbröckelt. 26 Hansjörg Kopp / Stefanie Hügin / Steffen Kaupp / Inga Borchard / Marc Calmbach (Hg.), Brücken und Barrieren. Jugendliche auf dem Weg in die Evangelische Jugendarbeit. Eine qualitative Studie des Sinus-Instituts für das Evangelische Jugendwerk Württemberg sowie die Evangelischen Kirchen Baden und Württemberg, Stuttgart 2013. 27 Vgl. Handbuch Taufe (Anm. 23), 53.

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schen Theologie ein blinder Fleck besteht. Er lässt die Milieubedingtheit gerade des Handelns übersehen, das dazu dienen soll, andere zu erreichen.28 Dass wir Kirche des Wortes, kognitiv fokussierte Kirche sind, zeigt sich in den Grenzsituationen,– etwa dann, wenn wir im PRE ein Taufgespräch führen wollen, aber der Großbild-TV laut läuft, das Baby schreit und wir uns nicht artikulieren, unsere Distinktionen nicht an den Mann oder die Frau bringen können. Da ist dann pure Hilflosigkeit. Ein anderes Beispiel: Bei einem Workshop zu Milieu und Taufe präsentieren Teilnehmer das mitgebrachte schöne Material. Fast alles schriftlich, Broschüren, Bücher, Faltblätter. Auf die Frage nach möglicher Medien- und Milieuverengung, die vielen Menschen den Zugang zum Kasus versperren könnte, kommt die entwaffnende Antwort einer Teilnehmerin: »Aber so, mit diesen Medien, fühlen wir uns doch sicher.« Kommunikation zu unseren, kognitiv formatierten Bedingungen! Veranstaltungen, bei denen den Besucher Bleistifte und Papier auf den Tischen erwarten. Was werden Menschen tun, die wir dem PRE zuordnen? Sie werden innerlich oder auch äußerlich auf der Stelle umdrehen. Noch mehr Misserfolgserfahrungen in verbaler Artikulation und schriftlicher Kommunikation brauchen sie nicht. Dieses Angebot ist nichts für sie; es ist nicht für sie. Das Beispiel zeigt aber ein weiteres Mal, wie elitär, wie abgehoben der gehobene, vornehme kognitiv basierte und orientierte Kommunikationsstil in unseren Kirchen oft ist; wie sehr wir durch das Medium verbaler Kommunikation kognitiv basierter Verständigung milieuverengt operieren und ausgerechnet durch Kommunikation nicht ein-, sondern ausschließen.29 4. Überzeugung: »Wir sind doch kommunikativ. Wir kennen als tolerante, diversitätsorientierte Christen keine Ekelschranken und Distinktionsgrenzen. Wir, das meint vor allem das postmateriell geprägte hauptamtliche Bodenpersonal, das erhaben ist über die Niederungen der Lebenswelt. Es gehört zum Selbstverständnis von moderner als toleranter, aufgeklärter Kirche, für alle und alles offen zu sein.« Kritisches Hinterfragen dieses Selbstbildes hat hier fast beleidigende Wirkung. Die ausgeprägten Abwehrreflexe der kirchenleitend und theologisch den gehobenen Ton angebenden postmateriellen Milieus sprechen freilich eine andere Sprache. Menschen, die wir dem PRE oder HED zuordnen, ticken aus libe28

Auch hier zeigt ein Blick auf die Fünfte Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung die Milieuverengung derer, die die Studie angelegt haben. Vorausgesetzt werden expressis verbis »Kirchenmitglieder als religiöse Akteure«, »Mitgliedschaft als soziale Praxis« etc. (vgl. Engagement und Indifferenz als soziale Praxis. V. EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft, Hannover 2014, 24ff; Vernetzte Vielfalt. Kirche angesichts von Individualisierung und Säkularisierung. Die fünfte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft, hg. von Heinrich Bedford-Strohm und Volker Jung, Gütersloh 2015, 33ff). Kritisch zu dieser Perspektive vgl. Heinzpeter Hempelmann, Kirchendistanz oder Indifferenz? Wie die Kirche von der Typologie der Lebensweltforschung profitieren kann. Ein kritischer Abgleich der Sinus-Studie für Baden-Württemberg mit der 5. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung, in: Theologische Beiträge 45 (2014), 284–303. 29 Ein weiteres Beispiel finden wir in den fast allseits gelobten »Glaubenskursen«. S.u. bei Überzeugung 7!

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ral-intellektueller oder sozial-ökologischer Sicht oft politisch nicht korrekt. Nicht nur ihr mangelndes ökologisches Bewusstsein, ihre fehlende konsumkritische Haltung, ihre Abwehr des Fremden und ihre geschlechtsspezifischen Rollenzuweisungen provozieren ebenso Distinktionsschranken wie die volkstümliche Kultur (deutsche Schlager), das körpersprachliche Auftreten und die mangelnde Reflektiertheit (»Stammtischniveau«) oder auch das mangelnde politische Engagement (Demokratiedefizite), die die Ekelschranken hochgehen lassen. Wie kann man nur so leben, so denken, so reden, so handeln! – Wir sind als Kirche sicher für Arme und Prekäre da,– aber mit ihnen? 5. Überzeugung: »Wir sind kommunikativ. Wir sind und bilden – trotz aller Pluralisierung – als Kirche eine Einheit.30 Die These von der Milieusegmentierung widerspricht unserer Überzeugung und unserem ekklesialen Anspruch. Wir sind eine Kirche.«31 Schwierig ist hier die Verwechslung bzw. Identifikation von theologischem Anspruch und empirisch soziokultureller Wirklichkeit. Verständlich wird diese Verwechslung, wenn man sich ein verbreitetes Selbstverständnis moderner protestantischer Eliten anschaut: Natürlich denken nicht alle so wie wir. Aber so, wie wir sind, müssten eigentlich doch alle sein. Wir sind mit unseren postmateriellen 30

Diese Einheitsunterstellung kann unterschiedlich begründet werden. Einerseits theologisch durch Unterstellung eines theologischen als eo ipso auch sozialwissenschaftlichen Sachverhaltes; andererseits aber auch untermauert durch eine i.A. an Jürgen Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns etablierte Diskursethik: Im Diskurs bilden und schaffen wir kirchliche Einheit. 31 Dieses Argument ist der Standardeinwand von kirchenleitender Seite gegenüber der sozialwissenschaftlich beobachtbaren Segmentierung, ja mentalen Fragmentierung von Kirche (vgl. die a.a.O. Anm. 1, zitierte Äußerung von Überschär). Es wird hier nicht nur die spezifische Gegenstandskonstitution übersehen, die je nachdem aus theologischer oder soziologischer Sicht zu völlig anderen Begriffen von »Kirche« führt. Es wird auch übersehen, dass der sozialwissenschaftliche Befund als solcher nicht normativ, sondern deskriptiv ist. Der Befund aus der Sicht kirchlicher Sozialforschung verlangt nach einer theologischen Antwort. Er ist sie nicht selbst. Wie sich im unterschiedlichen Umgang mit sozialwissenschaftlichen, speziell milieutheoretischen Befunden Ideologien bilden und Ekklesiologien instrumentalisieren, hat sehr schön Gerhard Wegner (ders., Potentiale provozieren. Über die Selbstwirksamkeit des Glaubens und seine Verkleisterung, in: Philipp Ehlhaus / Christian Hennecke [Hg.], Gottes Sehnsucht in der Stadt. Auf der Suche nach Gemeinden für Morgen, Würzburg 2011, 121– 144) gezeigt. Aber selbst dann, wenn Wegner den – missionarisch begeisternden – Satz wagt, dass es unter dem »Feuer kreativer Verkündigung« zu einem »Einschmelzungsprozeß« der Milieus und ihrer kreativen Zerstörung kommen kann (a.a.O., 130), kann dieses Argument – wie alle anderen Rekurse auf die vollmächtige, schöpferische Kraft des Heiligen Geistes – instrumentalisiert werden gegen den Einsatz der Milieubrille und einen milieusensiblen Gemeindebau. Glaubwürdig werden solche Überlegungen nur dann und dort, wo wir uns wirklich um eine solche Kommunikation des Evangeliums bemühen, die der Begegnung mit dem Gott, der redet, Raum schafft. Eine solche Bemühung wird sich aber genau darum bemühen, getrieben von dem Gott, der alle will (vgl. 1Tim 2,4), Milieuschranken, die es Menschen erschweren, Gott zu begegnen, zu überwinden. Sie wird nicht durch eine nur abstrakt wahre theologische Theorie einer de facto milieugefangenen Kirche und umgekehrt der Exklusion anderer das Wort reden und sich für Milieuverengung instrumentalisieren lassen.

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Einstellungen doch richtig. Wir wissen, wie man richtig handelt, verantwortlich denkt, korrekt spricht. Natürlich gibt es Differenzen zu anderen. Aber da müssen sich eben die anderen ändern, doch nicht wir. Wir verkörpern das Richtige, das normativ Allgemeine. Da besteht eben die Volkserziehungsaufgabe der protestantischen Kirche. Um es deutlich zu sagen: Unsere Distinktionsgrenzen sind die richtigen Grenzen. Unser Ekel ist berechtigt. Als das wahre Allgemeine verkörpern wir die Einheit der Kirche. Wer nicht zu uns gehört, so tickt wie wir, gehört eigentlich noch nicht zur Kirche, ist allenfalls Kirchenmitglied. Partizipation ist möglich, aber selbstverständlich nur zu unseren Bedingungen und nach unseren Regeln.32 Schöner, oder besser: ärgerlicher kann sich milieubedingte Apotheose der eigenen Lebensweltperspektive nicht dokumentieren. Der Himmel steht zwar heilsuniversalistisch allen offen. Alle sind irgendwie bei Gott, aber einige sind doch weiter weg, andernfalls würden wir nicht gern dazu gehören. Vielleicht ist ein Widerstand der Gebildeten gegen die Anerkennung der unsichtbaren Grenzen in dem begründet, was Pierre Bourdieu als die Forderung formuliert, »sich in einer Art vorsätzlicher Amnesie aller ›gebildeten‹ Diskurse über Kultur und Bildung zu begeben, und damit nicht allein auf den Gewinn zu verzichten, den das Vorzeigen von Erkennungszeichen gemeinhin verschafft […], sondern im weiteren auch auf die sublimen Genüsse des Gebildeten […]«.33

Gefordert ist der Verzicht auf den erhobenen Zeigefinger, hinfällig wird das Bewusstsein des gehobenen Status; gefordert ist der Verzicht auf den gehobenen gebildeten Ton, auf den sich auch Kirche als Bildungsinstitution so viel zu Gute hält. 6. Überzeugung: »Wir sind kommunikativ: Wir kennen und wissen das Evangelium. Dieses Evangelium ist eines, ganz gleich, wem wir es sagen.« Natürlich gilt, was Paulus sagt: 32

Und wer sich nicht nach ihnen richtet, steht vor der Tür. Um es politisch alles andere als korrekt auszudrücken: Die Selbstgewissheit, mit der der herrschende Kirchentagsprotestantismus darüber bestimmt, was überhaupt diskussionswürdig ist, zeigt genau diese Ekelschranken und die – trotz aller gegenteiligen Beteuerungen – sehr stark gegebene Bereitschaft, andere auszugrenzen und vom Anerkennungs-Diskurs auszuschließen. Das betrifft dann sowohl die Gemeinden messianischer Juden, deren Vertreter nicht reden dürfen, wie die gewählten Vertreter einer Partei, die in Teilen der Republik zwischen 20 und 30% Wählerinnen findet. Problematisch ist nicht – nota bene und um nicht missverstanden zu werden – die kritische Position als solche. Die muss möglich sein. Problematisch ist die Verweigerung der Kommunikation; problematisch ist die Selbstverständlichkeit, mit der dies geschieht; problematisch ist der Appell und das Inanspruchnehmen von Ekelschranken, die hochgezogen werden, indem bestimmte Schlüsselbegriffe aufgegriffen werden. (Neu ist das Verfahren nicht. Ein ähnliches Verfahren liegt ja auch dann vor, wenn das »Kritische« als Zentralwert apostrophiert und umgekehrt alles, was sich dem nicht stellt, als »fundamentalistisch« qualifiziert wird.) 33 Bourdieu, Unterschiede, 756.

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»Wenn aber auch wir oder ein Engel aus dem Himmel euch etwas als Evangelium entgegen dem verkündigten, was wir euch als Evangelium verkündigt haben: Er sei verflucht!« (Gal 1,8)

Kein anderes Evangelium! So fordern es gleichermaßen Theologen, die sich ausgesprochen konservativ verstehen, wie solche, für die das ein Ruf zur Veränderung ist. Freilich gibt es da schon eine gewisse Spannweite von Künneth bis Käsemann. Nun kann man natürlich hingehen und exegetisch klären, was Paulus in der gegebenen galatischen Situation unter to euangelion konkret verstanden hat. Und es gibt herausragende Analysen etwa des Vertreters einer Biblischen Theologie Peter Stuhlmacher, die uns sagen, was Paulus hier als unüberbietbare Gewissheit zugewachsen ist: Der zelotisch geprägte Jude verfolgt die Gemeinde derer, die den gekreuzigten Messias Jesus als auferstandenen Sohn Gottes verehren. Nach Dtn 21,23 begehen sie damit eine Gotteslästerung, die des Todes würdig ist. Paulus begegnet vor Damaskus dem auferstandenen Kyrios, der ihm eröffnet: Ich bin es, den du verfolgst. Wider alles Erwarten beruft der Kyrios ihn, ausgerechnet ihn, den völlig unwürdigen, todeswürdigen in seine Nachfolge und macht ihn zum Apostel. Paulus wird klar, Gal 3,13, dass Christus nach Dtn 21,23 tatsächlich ein Fluch Gottes geworden ist, aber einer, der für uns, um unseretwillen, an unserer Stelle verflucht worden ist. Stuhlmacher drückt das so aus: Bevor Paulus die Rechtfertigung des Gottlosen, allein aus Gnade, nicht aus Werken des Gesetzes verkündet, hat er sie in seiner eigenen Biografie am eigenen Leib erfahren.34 Kein anderes Evangelium! Ja, natürlich! Aber welches ist gemeint? Der Galaterbrief, in dem Paulus »das Evangelium« einschärft, ist wie kaum ein anderer durch eine sehr spezifische soziokulturelle Konstellation bestimmt. Für diese gilt dieses Evangelium in dieser Fassung. Voraussetzungen sind ein jüdischer Horizont, der Kampf um die Öffnung des Heils in Jesus Christus für Nicht-Juden, ein hermeneutischer Streit um die rechte christologische Lektüre der Heiligen Schrift (der Juden) = des »Alten Testaments«. Das sind singuläre Konstellationen, die der – immer riskanten, in ihrem Gelingen offenen – »Übersetzungs«Arbeit für ganz andersartige Konstellationen bedürfen, die oft nur sehr begrenzt an diese Ursprungssituation anschließen können. Wissenssoziologisch und missionstheologisch muss die jeweilige verbindliche Form von »Evangelium« für den jeweiligen soziokulturellen Kontext erst herausgearbeitet und mühsam definiert werden.35 Ein vornehm-abgehobener Ton hilft da überhaupt nicht. Gegenüber der arg schlichten, freilich mühelosen Vorstellung vom Evangelium als semantischem Container, der als in sich geschlossene, mit sich selbst identische Größe nur von einer Kultur in die andere »über-ge-setzt« werden muss, steht die Aufgabe, ja Herausforderung der Kontextualisierung. Franz Rosen34

Peter Stuhmacher, Biblische Theologie des Neuen Testaments, Band 1, Göttingen 32005, 247. Jürgen Schuster hat in diesem Band in seinem Aufsatz das sich hier stellende Problem der angemessenen Kontextualisierung des Evangeliums deutlich herausgearbeitet. 35

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zweig sagt, durchaus in einem weiteren, hermeneutischen Sinne: »Übersetzen heißt, zwei Herren dienen. Also kann es niemand.«36 Wie sieht das Evangelium für die Lebenswelten einer nicht unchristlichen, aber nachristlichen, weitgehend unabhängig vom christlichen Abendland gewordenen postmodernen Kultur aus? Hier verbietet sich der gehobene, hier braucht es den demütigen Ton. Kontextualisierung als Aufgabe der Kommunikation des Evangeliums ist nicht leicht, mühelos, selbstverständlich möglich. Sie ist Dienst, Mühe, Arbeit, auch Risiko. 7. Überzeugung: »Wir sind doch schon so kommunikativ. Wir kommunizieren doch das Evangelium in einem unglaublichen, über lange Zeit gewachsenen Reichtum an Formen, Inhalten, Gestalten und Medien prämoderner und z. T. moderner Art. Geht mehr? Geht noch mehr? Braucht es noch mehr?« Freilich, die Praxis sieht oft so aus: Wenn wir im Gottesdienst »moderne Lieder« singen, dann solche aus der Kirchentagsbewegung der 70er- und 80erJahre. Das ist dann »modern«, im Sinne von aktuell und gegenwärtig. Der eigene Reichtum wird Kirche zum Fallstrick. Die Kirchengeschichte hat so phantastische hochkulturelle Leistungen hervorgebracht, dass es gar nicht nötig scheint, sich auf etwas Neues und Anderes einzulassen. Die Orgel ist ein so phantastisches hochkulturelles Instrument, dass sie nicht zu überbieten ist, dass alles andere nur verbotener Rückschritt, allenfalls Kompromiss ist. Dieses Ausgezeichnete ist uns zudem so selbstverständlich geworden, dass nicht mehr aufscheint, dass es unsere Tradition ist; es ist so bewährt und qualitativ hochwertig, dass nicht mehr aufscheint, dass auch es historisch geworden und inzwischen Tradition ist. Englische Lieder im Gottesdienst? Was ist das gegen deutschsprachige Choräle von Martin Luther oder Paul Gerhard? Oder gar hip-hop? Kann der Heilige Geist durch so etwas überhaupt wirken? Als bekannt wurde, dass sich die Punk-Sängerin Nina Hagen mit 54 Jahren hat taufen lassen,37 konnten sehr viele ihre Konversion nicht glauben. Eine Verbindung von Punk und Evangelium kann es nicht geben. Das Evangelium scheint dann geradezu gebunden an Paul-Gerhard- und Martin-Dichtungen; es erklingt nur durch die Übersetzung der Luther-Bibel. Oder umgekehrt: Als die EKD die sehr lobenswerte Glaubenskurs-Initiative startete, war bald die Idee geboren: Wir nehmen uns die SINUS-Milieus vor und suchen bzw. machen Glaubenskurse für alle Milieus, nicht nur für die gebildete und bildungshungrige Oberschicht und obere Mittelschicht, sondern für alle Milieus, TRA, HED und PRE eingeschlossen. Was für uns, die leitenden protestantischen Eliten gut ist und hier funktioniert, muss auch für andere gut sein. 20% funktionale Analphabeten, die sich im PRE ballen, stellen da für eine kog-

36 Franz Rosenzweig, Die Schrift und Luther, in: ders., Die Schrift. Aufsätze, Übertragungen und Briefe (hg. von Karl Thieme), Königstein 1984, 51–77, 51. 37 Vgl. Nina Hagen, Bekenntnisse, München 2011, sowie ihre CD Personal Jesus (erschienen im September 2010).

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nitiv fokussierte Bildungskirche kein Hindernis dar.38 Egalitäres Selbstverständnis verbindet sich mit elitären Kommunikationsformen. Zusammenfassend lässt sich resümieren: (1) Die »unsichtbaren«, aber umso wirksameren Grenzen treffen das Selbstverständnis einer modernen Kirche, die sich als liberal, offen, egalitär versteht, ins Mark. (2) Die sieben Überzeugungen zeigen in ihrer Summe das ganze Ausmaß der Milieubefangenheit, ja Milieugefangenschaft von Kirche. (3) Was es braucht, ist Arbeit an der milieusensiblen Kommunikation des Evangeliums und einen demütigen Ton.

3 Der Praxis des dreieinigen Gottes folgen: Kommunikation aus Liebe, als Last und als inter-esse Ich beziehe mich im Folgenden auf niedrigkeitschristologische Aussagen vor allem aus dem Hebräer- und dem Philipperbrief: »Daher musste er in allem seinen Brüdern gleich werden, damit er barmherzig würde.« (Hebr 2,17) »Wir haben nicht einen Hohenpriester, der nicht könnte mitleiden mit unserer Schwachheit, sondern der versucht worden ist in allem wie wir, doch ohne Sünde. Darum lasst uns hinzutreten mit Zuversicht zu dem Thron der Gnade, damit wir Barmherzigkeit empfangen und Gnade finden zu der Zeit, wenn wir Hilfe nötig haben.« (Hebr 4,15–16) »So hat er, obwohl er Gottes Sohn war, doch an dem, was er litt, Gehorsam gelernt.« (Hebr 5,8) »Habt diese Gesinnung in euch, die auch in Christus Jesus war, der in Gestalt Gottes war und es nicht für einen Raub hielt, Gott gleich zu sein. Aber er machte sich selbst zu nichts und nahm Knechtsgestalt an, indem er den Menschen gleich geworden ist, und der Gestalt nach wie ein Mensch befunden, erniedrigte er sich selbst und wurde gehorsam bis zum Tod, ja, zum Tod am Kreuz. Darum hat Gott ihn auch hoch erhoben und ihm den Namen verliehen, der über jeden Namen ist, damit in dem Namen Jesu jedes Knie sich beuge, der Himmlischen und Irdischen und Unterirdischen und jede Zunge bekenne, dass Jesus Christus Herr ist, zur Ehre Gottes, des Vaters.« (Phil 2,5–11) Der menschliche Faktor kommt nicht erst heute als ein lästiges Additum und Adiaphoron dazu. Er spielt eine zentrale Rolle in der Kommunikationspraxis 38

Es wurde völlig übersehen, dass dieser kognitiv basierte Ansatz sowohl inkludierende (daher das positive Echo) wie exkludierende Wirkung hat (die Ausgeschlossenen wehren sich naturgemäß nicht; sie kommen einfach nicht). Vgl. die Auswertung einer Umfrage über die Rezeption von Glaubenskursen in der Modellregion Heidelberg / Ladenburg-Weinheim: Aufbruch in die Lebenswelten. Milieusensibles Marketing für Kurse zum Glauben in der Modellregion Heidelberg / Ladenburg-Weinheim. Projektabschlussbericht, hg. von der Arbeitsgemeinschaft Missionarischer Dienste und dem EKD-Zentrum für Mission in der Region, Berlin/Dortmund 2012, 49–69.

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des dreieinigen Gottes und für seine Mission, deren Teil wir sind. Ich unterscheide fünf Momente, die an der Kondeszendenz, Kenose und Inkarnation des Sohnes ablesbar sind.39 a) Sehnsucht nach dem, was fehlt. Der Sohn bricht auf aus der himmlischen Herrlichkeit. Es könnte ihm nirgendwo besser gehen als beim Vater. Aber er hält das Privileg des Gottgleichseins, in der Antike Inbegriff des Glücklichseins, nicht wie ein mühsam errungenes Beutestück (wörtlich, wie einen »Raub«) fest, sondern lässt los und macht sich auf den Weg in die Fremde. Weil etwas fehlt. Weil wir Menschen ihm fehlen. Milieusensible Kirche überwindet ihre lebensweltlichen Grenzen, weil sie nach denen sucht, die doch auch dazu gehören, aber doch nicht da sind. Sie macht es sich nicht in ihrer angestammten Kultur und Ästhetik bequem und folgt nicht ihrem Rückzugs-Reflex; sie macht sich auf die Suche nach denen, die sie bisher durch soziokulturelle und ästhetische Barrieren distanziert hat, und sucht Brücken zu ihnen zu schlagen. b) Der Gott, der Liebe ist, bricht auf. Weil er Liebe ist, ist er der lebendige, flexible, mobile Gott, der Gott unterwegs, der Gott, der nicht bei sich bleibt, sondern zu uns kommt; der die himmlische Herrlichkeit verlässt und Teil unserer irdischen, ganz anderen gefallenen Lebenswelt wird (»geboren unter Gesetz, geboren von einer Frau«; Gal 4,4). Kirche verlässt ihre Mauern, überwindet ihre soziokulturellen Gräben, gibt ihre hochkulturelle Herrlichkeit preis, lässt ihre traditionsorientierte Heimeligkeit los, tritt aus ihren angestammten sicheren Räumen heraus, in die sie sich vor dem Wind zunehmender Säkularisierung immer mehr zurückziehen möchte. Sie vollzieht die kopernikanische Wende von der Kommt-her-Haltung zur Wir-gehen-hin-Bewegung. c) Der Sohn gibt seine göttliche Identität auf. Er entleert sich: ἐκένωσεν (ekenōsen), er macht sich selbst zu nichts. Er wird Mensch, ganz und gar, nicht nur ein bisschen. Die kopernikanische Wende von der Komm-doch-zu-uns-Haltung zur Wirgehen-hin-Bewegung kostet. Sie kostet die historisch gewachsene Identität, in der wir uns mit Recht so wohl fühlen. Und sie ist Risiko. Der Aufbruch ist mit viel Unsicherheit verbunden. Wenn wir uns so preisgeben; unsere kulturelle, institutionelle, finanzielle Identität preisgeben, wer sind wir dann noch? Was ist das Evangelium, wenn wir es in neuen Lebenswelten kontextualisieren? Was bleibt von ihm, von dem, was wir glauben? Die Missio Dei gibt uns die im Weg Christi schon wahr gewordene Verheißung: Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein. Wenn es aber stirbt, bringt es viel Frucht (Joh 12,24). 39 Vgl. zum Folgenden ausführlicher: Heinzpeter Hempelmann, Gott im Milieu. Vom Vorbild Gottes, der seine Welt verlässt, um bei uns in unserer Welt zu sein, in: Hans-Hermann Pompe / Thomas Schlegel (Hg.), MitMenschengewinnen. Wegmarken für Mission in der Region (Kirche im Aufbruch 2), Leipzig 2011, 29–34.

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d) Der Sohn leidet an dem, was er lernt und »in der Fremde« erfährt (παθήματα [pathēmata] μαθήματα [mathēmata]). Er wird zum barmherzigen Hohepriester über der Teilnahme an der menschlichen Lebenswelt. Das sind dogmatisch ungeheuerliche Aussagen mit ekklesiologisch explosivem Potenzial. Weiß Gott nicht alles? Ist ihm nicht alles bekannt? Aber, Wissen und Kennen ist zweierlei. Begreifen, theoretisch auf den Begriff bringen, abstrakt wissen – das ist eine Sache. Mit-Leben, Kennen-lernen, das ist etwas anderes. Aus der distanzierten Haltung des cartesianischen Erkenntnis-Subjekts wird hier die empathische Teilnehmer- und Teilhabe-Perspektive, der die Wahrheiten und Urteile mit einem Male im Halse stecken bleiben. Kirche, die Interesse hat, indem sie inter-esse ist, verliert ganz schnell ihren Charakter als moralische Anstalt. Sie wird nicht über die Spaßorientierung des HED die Nase rümpfen, sich nicht mehr über das Stammtisch-Niveau der Konsum-Orientierten und seine Anfälligkeit für sog. Rechtspopulismus erheben und auch nicht das fehlende soziale Engagement der ADA monieren,– da, wo sie Teil dieser Lebenswelten wird und nicht mehr ihre Stamm-Milieus zum Ausgangspunkt und Maßstab macht. Sie wird über der Wahrnehmung der Verhältnisse und Teilhabe an ihnen ganz einfach barmherzig werden und sich über dem leidenden Lernen selbst entscheidend verändern. e) Der dreieinige Gott kommuniziert sich selbst. Er kommuniziert mit uns, indem er wird wie wir. Er kommuniziert, indem er sich kommuniziert. Dieser lebendige, flexible, mobile, seine Würde wenig achtende Gott, dieser Gott unterwegs: Das AT beschreibt ihn als nicht-sesshaften Camping-Gott, und nach dem NT zeltet er (Joh 1,14). Aber genauso ist er unter den Menschen. Seine Teilnahme an unseren Lebensverhältnissen ist Voraussetzung der Teilgabe seines Lebens. Kirche kommuniziert das Evangelium, indem sie Teil hat und so Anteil geben kann an ihrem Reichtum. Sie wird – wie Paulus ungeheuer provozierend ausgerechnet über die Gemeinde in Korinth sagt – zum »Brief Christi«, geschrieben nicht mit Tinte, sondern mit dem Geist des lebendigen Gottes, gehauen nicht auf steinerne Tafeln [grauer Theorie], sondern inkorporiert in die Lebenswelt-Tafeln, die fleischerne Herzen sind. (2Kor 3,2f.) Wie kommuniziert Gott? Was ist kennzeichnend für die Kommunikationsweise Gottes mit uns Menschen? Zunächst überhaupt dies, dass er mit uns kommuniziert; dass er nicht einfach »Gott« ist, unberührt und abgehoben, wie der unbewegte Beweger (ἀκίνητος κινοῦν [akinētos kinoun]40) des Aristoteles; dass er sich vielmehr auf uns einlässt; dass er sich bewegt; dass er sich herunterlässt; dass er nicht wartet, bis wir zu ihm kommen; dass er vielmehr zu uns kommt, hinein in unsere Lebenswelt(en); dass er sich – innerlich – bewegen lässt durch unser Ergehen; dass er sich – seiner Würde nicht achtend – bewegen lässt, wie der Vater im Gleichnis vom verlorenen Sohn, der dem Sohn entgegenläuft; dass er mitgeht, auch wo wir in die Irre gehen, fehlgehen; dass er probiert, 40

Aristoteles, Metaphysik, Buch Lambda (12), 1072a19-1073a14.

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was geht und was nicht geht; dass er – als der gegebene Bund kein tragfähiges Fundament für das Miteinander von Gott und Mensch bietet, einen neuen schafft; dass er sich anpasst, ja selbst korrigiert (vgl. Hes 20,25; vgl. Röm 7,10); dass er es nicht bei dem bewenden lässt, was er – sicher vollkommen – an Wissen über uns besitzt; dass er uns und unser Leben vielmehr erkennen, kennenlernen will und dass ihn das nicht nur Schweiß, sondern schließlich Blut, sein Leben kostet; dass er, als es ums Ganze geht, die Selbst-Entleerung, den Verlust der eignen Identität und himmlischen Seinsweise nicht scheut, sondern konkret wird, mit der menschlichen Natur zusammenwächst und die Unbilden und Passion menschlicher Existenz nicht scheut. Wir stehen vor dem Gott, der deshalb zum Volk Israel sagen kann: Du hast mir Arbeit/Mühe gemacht mit deinen Sünden. Du hast mich ermüdet mit deinen Sünden (Jes 43,24). Diese so gar nicht aristokratische Kommunikation eines so wenig aristotelischen Gottes macht Arbeit, aber sie ist aller Mühe wert.

Teil II: Dimensionen der Kommunikation des Evangeliums

1 Die verbale Dimension

Das Evangelium mit Worten kommunizieren Matthias Clausen

1 Vorab »Nur der Prediger geht von der Vorstellung aus, dass Menschen zur Kirche kommen mit dem dringenden Bedürfnis, herauszufinden, was denn nun mit den Jebusitern passiert ist (Harry Fosdick).«1

Kirchliche Verkündigung hat auch in den eigenen Reihen nicht immer den besten Ruf. Und manche Einwände reichen weiter: »Warum überhaupt verbale Kommunikation für so grundlegend erklären?« – so könnte man schon die Themenstellung dieses Textes hinterfragen. »Ist die Konzentration auf die verbale Dimension, ja die Gleichsetzung von kommunikativ und verbal, nicht selbst schon Ausweis der Milieubefangenheit von Kirche? Und gilt nicht auch schon ganz abgesehen von der Milieuperspektive, dass die non-verbalen Anteile von Kommunikation meist wirksamer sind als die verbalen?« Darauf könnte man nüchtern entgegnen, dass im Verlauf des Buches ja noch weitere Dimensionen von Kommunikation besprochen werden. Die inhaltliche Begrenzung auf ein Thema bedeutet noch keine Bewertung. Aber das wäre mir zu formal und zu defensiv. Theologisch ist zum Stellenwert verbaler Kommunikation deutlich mehr zu sagen. Diesen Stellenwert möchte ich daher aus biblisch-theologischer und systematisch-theologischer Perspektive präzisieren (1). Was heißt das für den kirchlichen Umgang mit Milieus bzw. für die kirchliche Kommunikation in Milieus? – darum geht es in (2). Es folgt ein kurzer Vorgeschmack auf die Praxis, am Beispiel der Predigt (3). Dieser letzte Teil soll nichts von den folgenden Texten zur Praxis vorwegnehmen, sondern veranschaulichen, wie kirchliche Kommunikation milieusensibel und gerade darin selbstbewusst verbal sein kann. 1

Zitiert nach O. Wesley Allen, Introduction. The Pillars of the New Homiletic, in: ders., (Hg.), The Renewed Homiletic, Minneapolis 2010 Minneapolis 2010, 1–18, 4. Eigene Übersetzung.

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2 Grundlegendes Dass Kommunikation des Evangeliums immer auch verbal ist, dass die verbale Dimension zwar nicht die einzige, aber dass sie unverzichtbar und zentral ist, lässt sich zunächst biblisch-theologisch begründen: Mit »das Evangelium verkünden« wird im Neuen Testament üblicherweise das Verb εὐαγγελίζεσθαι (euangelizesthai) übersetzt. Dieses begegnet zunächst vorösterlich in der Verkündigung des Reiches Gottes durch Jesus.2 Die Botschaft vom Reich Gottes ist eine gute Nachricht, ein εὐαγγέλιον (euangelion); sie wird begleitet von Zeichen der Heilung und Befreiung, aber sie ist im Kern eben eine Botschaft, ein Stück Kommunikation, die mit Worten überbracht wird. Dazu passt auch die Parallelität von εὐαγγελίζεσθαι (euangelizesthai) und κηρύσσειν (kēryssein – verkündigen, eine Botschaft überbringen) mit Bezug auf das Reich Gottes.3 Dabei sind die Präsenz Jesu und sein befreiendes Handeln selbst schon Erweis der anbrechenden Herrschaft Gottes4; zugleich steht das Kommen des Reiches nach Jesu Auskunft noch aus; es wird eines Tages plötzlich und unmissverständlich anbrechen.5 Nach Ostern wird das Verb εὐαγγελίζεσθαι (euangelizesthai) zur Bezeichnung der missionarischen Verkündigung der Apostel, besonders Paulus, verwendet. Nicht mehr das Reich Gottes, sondern Jesus Christus selbst und Gottes heilvolles Handeln in ihm stehen jetzt im Mittelpunkt der Verkündigung. Das ist im wörtlichen Sinne christo-logisch, denn der vorösterliche Jesus hat seine Gegenwart ja selbst mit dem Kommen des Reiches identifiziert; nach Kreuz und Auferstehung ist es daher folgerichtig, ihn selbst zum Zentrum der Botschaft zu machen.6 Bei Paulus schließlich ist die »Verkündigung des Evangeliums« zum Fachbegriff der missionarischen Verkündigung geworden7, teils tautologisch ausgedrückt.8 Und wieder erfolgt solche Kommunikation für Paulus und seine Mitarbeiter selbstverständlich verbal. Wie auch sonst? Das hängt schon mit ihrem Inhalt zusammen. Dieser Inhalt lässt sich durch das Verhalten der Verkündiger unterstützend bezeugen, aber ohne Worte nicht vollständig aussagen. Gerade weil die 2

Lk 8,1 u. ö. Siehe Lk 8,1 im Vergleich mit Mk 1,4. 4 Mk 1,15; Mt 12,28; Lk 11,20; Lk 17,21 u. ö. 5 Mk 9,1; Lk 21,31, 22,16 u. ö. 6 Es ist außerdem auch ein Beleg für die Glaubwürdigkeit der Auferstehung. Denn wäre Jesus nicht auferstanden, wäre es für die Jesusbewegung plausibler gewesen, seine Botschaft weiter zu verbreiten, statt nun – ohne frühjüdische Parallele – einen gescheiterten MessiasPrätendenten für vorzeitig auferstanden zu erklären und danach seine Person selbst zum Zentrum der Verkündigung zu machen. 7 Vgl. Walter Klaiber, Ruf und Antwort. Biblische Grundlagen einer Theologie der Evangelisation, Stuttgart / Neukirchen-Vluyn 1990, 27ff. 8 1Kor 15,1: Γνωρίζω δὲ ὑμῖν, ἀδελφοί, τὸ εὐαγγέλιον ὃ εὐηγγελισάμην ὑμῖν. – Gnōrizo de hymin, adelphoi, to euaggelion ho euēggelisamēn hymin. 3

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Verkündigung der Apostel nicht sie selbst, ihre Gemeinden oder ihre Frömmigkeit zum Inhalt hat, braucht es Worte, um deutlich zu machen: Es geht nicht um uns, »wir predigen nicht uns selbst«9. Die Apostelgeschichte bringt es mehrfach fast witzig auf den Punkt, wenn die Adressaten der Verkündigung auf begleitende Wunderzeichen hin auf einmal die Verkündiger für göttlich erklären – und diese dann mit Worten richtigstellen müssen: Es geht nicht um uns, sondern um Christus.10 Damit sind wir bei der systematisch-theologischen Begründung für die Unverzichtbarkeit von Worten. Denn zwar könnte man vermuten, dass gerade Theologen hier unangemessen voreingenommen sind, Worte sind immerhin ihr wichtigstes Werkzeug. Aber es gibt auch einen inhaltlichen Grund für die Notwendigkeit von Worten: Christliche Verkündigung hat immer Zeugnischarakter; nicht der oder die Bezeugende ist ihr Inhalt, sondern Gott selbst, auf den das Zeugnis verweist. Anders gesagt, Verkündigung ist »Weg-Weisung« in einem zweifachen Sinn11: Ich weise einen Weg (Christus), und ich weise von mir selbst weg. Dafür braucht es eine Kommunikation, die im Zentrum explizit und transparent ist. Und trotz aller Schwächen auch verbaler Kommunikation, trotz der Unschärfen und Missverständnisse, die sich natürlich auch beim Gebrauch von Worten nicht vermeiden lassen – so erlauben Worte jedenfalls, ausdrücklich zu werden. Unnötig zu sagen: Damit ist nicht gemeint, dass man die Botschaft des Evangeliums auf eine Reihe von Satzwahrheiten reduzieren könnte. Es geht um ausdrückliche Kommunikation, aber ausdrücklich heißt nicht notwendig und ausschließlich propositional. Ein Großteil der biblischen Botschaft ist in anderen Redegattungen überliefert, v. a. in erzählender Form. Erzählungen lassen sich zwar zusammenfassen, aber nicht durch ihre Zusammenfassungen ersetzen (man stelle sich nur einen entsprechenden Versuch für die Geschichte vom Verlorenen Sohn vor). Die gelungene Zusammenfassung einer Erzählung fungiert vielmehr wie eine Landkarte, die das Gehen durch das Gelände nicht ersetzt, aber Irrwege vermeiden hilft. Erzählungen haben zudem immer Deutungsspielraum, genau das lässt sie auf Leser und Hörer ja so einnehmend wirken. Dieser Spielraum ist aber nicht unbegrenzt, denn eine Erzählung, die tatsächlich beliebig deutbar wäre, hätte am Ende gar keinen Aussagegehalt mehr (und wäre damit auch kein bisschen spannend). Die Erzählungen der Evangelien etwa handeln sämtlich von der gleichen Person, Jesus, die umgekehrt durch jede dieser Erzählungen in den Gedanken der Leser und Hörer an Kontur gewinnt. Nicht notwendig und nicht ausschließlich propositional heißt wiederum auch nicht ›bloß nicht propositional‹. Nicht erst die altkirchlichen Glaubensbekenntnisse, schon die Briefe des Neuen Testaments enthalten natürlich auch 9

2Kor 4,5. Apg 14,11–15; s. a. Apg 28,1–6 (hier allerdings wird die Richtigstellung durch Paulus nicht ausdrücklich erwähnt). 11 Heinzpeter Hempelmann, Missionarische Verkündigung als Weg-Weisung. 27 Thesen zur Frage: Was heißt »missionarische Verkündigung«, Theologische Beiträge 29 (1998), 126–143. 10

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Zusammenfassungen des Glaubens in Aussageform. In der Sprache der Digitalisierung gesagt: Solche Aussagesätze lassen sich im Idealfall als komprimierte Information verstehen, wie eine Zip-Datei, die einen umfassenden Inhalt zuverlässig bündelt, die aber für ein volles Verständnis dieses Inhalts erst ›entpackt‹ werden muss, also inhaltlich entfaltet. Dass christliche Verkündigung den beschriebenen Zeugnischarakter hat, hängt eng mit ihrem Inhalt zusammen: Es geht im Evangelium von Jesus Christus eben im Kern nicht um uns, unser Handeln, unsere Vorbildfunktion usw., sondern um Christus und das, was Gott durch ihn für uns getan hat. Verbale Verkündigung wirkt daher gerade entlastend: Das Leben des Zeugen sollte der Botschaft natürlich so weit wie möglich entsprechen, nur so wird seine Verkündigung ja glaubwürdig. Aber sein Leben kann die Botschaft niemals ersetzen. Das braucht es auch gar nicht. Denn das Leben des Bezeugenden wird für sich genommen immer fehlerhaft und damit missverständlich sein. Gerade deswegen ist das Evangelium ja nötig; es gilt auch den Menschen, die es bezeugen, selbst.

3 Was heißt das für den Umgang mit Milieus? Genauer gefragt: Was heißt das für die kirchliche Kommunikation innerhalb eines Milieus bzw. zwischen Milieus? Denn gesellschaftlichen Milieus gehören ja nicht nur »die anderen« an, sondern wir alle. So könnte man – erneut – schon die Aufgabenstellung dieses Textes bemängeln: ›Warum überhaupt die verbale Kommunikation so stark in den Blick nehmen? Und ist es nicht verdächtig, dass nach kurzem theologischen Nachdenken gleich wieder die Unverzichtbarkeit des Verbalen herauskommt? Ist das nicht typisch Kirche?‹ Die Festlegung auf bestimmte Ausdrucksformen, das fehlende Gespür dafür, wie das eigene Reden für andere klingt, treibt schließlich schon in der Predigt selbst seltsame Blüten. Auf Menschen außerhalb eines engen kirchlichen Dunstkreises kann das unverständlich bis bizarr wirken. ›Sprachpapst‹ Wolf Schneider hat schon vor Jahren den Finger in diese Wunde gelegt, als er in der Süddeutschen Zeitung die Weihnachtspredigten deutscher Bischöfe untersuchte: »Nicht menschliche Macht ist gefragt«, liest man da, »sondern Bedürftigkeit, die um ihr Angewiesensein auf die heilsame Gnade Gottes weiß« (Baden, ev.). »Die vollständige Verzweckung des Menschen« wurde getadelt, »die neuheidnische Vergleichgültigung« dazu, während Jesus »keine Berührungsängste vor der menschlichen Geschöpflichkeit« besessen habe (Fulda, kath.). Geschöpflichkeit! Das muss einem einfallen. Es muss eine jener »immer abstrakteren Verrenkungen« sein, in denen wir Gott nicht finden (Paderborn, kath.). So viel scheint klar: Solche Wortgespinste hätten sie beide um ihren Welterfolg gebracht – Jesus (»Es hat nie kein Mensch also geredet wie dieser«, Joh. 7,46) ebenso wie Luther, der »der Mutter im Hause« aufs Maul schaute, so, dass das Volk ihm aufs Maul geschaut hat. Mütter reden auch selten von »Laizismus« und »Neuatheismus« (Regensburg, kath.). Was farbig und unschuldig mit dem Esel anfing, endete leider damit, dass der »als Tier der Demut gleichzeitig Metapher für Jesus Christus« sei (Hannover,

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ev.). Ja – voll von Metaphern, Sprachbildern, ist die Bibel, aber das Wort »Metapher« kommt in ihr nicht vor, die meisten Kirchgänger kennen es nicht, und denen, die es verstehen, erwärmt es nicht das Herz.12

Man muss nicht bildungsfern oder hedonistisch geprägt sein, um die zitierten Predigtpassagen als merkwürdig zu empfinden. Aber selbst, wo es besser gelingt, wo Predigten treffsicher und anregend sind: Geschick im Sprechen und Diskutieren sind eben keine selbstverständlichen Fertigkeiten, sondern Identitätsmarker ganz bestimmter Milieus. In der Sprache der SINUS-Studien: Sie sind Kennzeichen z. B. des konservativ-etablierten oder liberal-intellektuellen Milieus. Wer dagegen Menschen im prekären oder hedonistischen Milieu erreichen will, muss auch ganz andere Kommunikationskanäle wählen. Auch, aber nicht nur. Denn kein Milieu ist ja ›sprachlos‹, überall findet Kommunikation immer auch verbal statt. Verbal heißt nicht automatisch milieubefangen; auf Worte zu setzen heißt nicht gleich einen hermetischen Code zu pflegen. Das klingt selbstverständlich, ändert aber nichts an der Skepsis auch vieler kirchlicher Mitarbeiter etwa in Sachen Wortverkündigung. »Was soll die denn noch bringen?« – wer so fragt, hat oft schlicht zu wenig gute Erfahrungen mit gelingender Praxis gemacht. Das kann man ihm keinesfalls vorwerfen; es sollte ihn aber auch nicht in seinem praktisch-theologischen Urteil festlegen. Was nicht ist, kann schließlich noch werden. Interessanterweise bestätigen das oft besonders solche Menschen, die sich in vermeintlich unerreichbaren Milieus als Evangelisten auch mit Worten engagieren – und dabei erfreuliche Wirkung erleben.13 Wie Verkündigung im Rahmen unterschiedlicher Milieus aussehen kann, damit hat sich im katholischen Bereich besonders Matthias Sellmann beschäftigt.14 Sein Bezugspunkt sind die DELTA-Milieus; seine Überlegungen lassen sich mit wenig Übersetzungsarbeit aber auch auf andere Milieu-Konzeptionen übertragen. Am Anfang steht die »dichte« Beschreibung der Selbst- und Weltwahrnehmung eines Milieus, gefolgt von einem griffigen Motiv, das sinnbildlich für die Werte des Milieus stehen und aus dem sich auch die Haltung zu Kirche und Religion ablesen lassen soll.15 Es folgen theologische Überlegungen – wie lässt sich konstruktiv-kritisch auf das Beschriebene eingehen? 12

Wolf Schneider, Goldene Worte zum Fest, Süddeutsche Zeitung vom 17. Mai 2010, www.sueddeutsche.de/kultur/sprache-von-weihnachtspredigten-goldene-worte-zum-fest1.384075 (zuletzt geprüft am 18.02.2018). 13 Vgl. David Winkler, Die Möglichkeit von Evangelisation im prekären Milieu im Horizont von Gemeindeaufbau- und Milieuforschung, Bachelorarbeit, Evangelische Hochschule Tabor 2016, bes. 43ff.; sowie G. Burkhard Wagner / Cornelius Bach, Missionarisch leben in der »Platte« – »nebenan« in Bergen auf Rügen, in: Christiane Moldenhauer / Georg Warnecke (Hg.), Gemeinde im Kontext. Neue Ausdrucksformen gemeindlichen Lebens, NeukirchenVluyn 2012, 118–123. 14 Matthias Sellmann, Zuhören, Austauschen, Vorschlagen. Entdeckungen pastoraltheologischer Milieuforschung, Würzburg 2012, 147ff. 15 Sellmann, Milieuforschung, 147.

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Missionstheologisch gesagt, beschreibt Sellmann Möglichkeiten der Kontextualisierung des Evangeliums in je unterschiedliche Milieus hinein. Dazu gehören immer Würdigung und Kritik, also das Aufgreifen, das Umdeuten und auch das Zurückweisen von Wertvorstellungen. Selbst das Zurückweisen kann aber von den Adressaten als heilsam und respektvoll verstanden werden, wenn es im Gespräch, in der Sprache und mit Verständnis für die Werte ihres Milieus erfolgt. Mancher Druck, den Menschen empfinden, ist schließlich hausgemacht, und wer sie davon freispricht, erntet am Ende Dankbarkeit. Zwei Beispiele: Für die »Etablierten« macht Sellmann als »Biografie-organisierendes Motiv« das »Leben als exponierende Herausforderung« aus.16 Leben heißt leisten, und wer erfolgreich leistet, lebt gut. »Eng an das Ethos der Leistung ist darum auch ihr Glücks- und Verantwortungsempfinden gekoppelt […]. Glück sind der flow während des Produktionsprozesses und die Befriedigung nach seinem Abschluss.«17

Die Aufgabenorientierung zeigt sich demnach auch in der Alltagsästhetik; die Vorliebe für die ›klare Kante‹ im Design vor unbehandelter Oberfläche oder für den klar umrissenen, durchgestylten Gegenstand vor ›wildem‹, weitem Hintergrund spiegelt die Selbstwahrnehmung wider: »Ich ordne das Ungeordnete; das fordert Anstrengung und Verantwortungsbewusstsein, aber wer sich der Herausforderung stellt, wird mit der Freude über das Erreichte belohnt.« Das kann man allzu konstruiert finden, wirkt aber jedenfalls eindrücklich. Noch naheliegender erscheint, was als Erwartung dieses Milieus an die Kirche ausgemacht wird: »Man erwartet eine Kirche, die aneckt, die ihre Linie durchhält, die ihre Würde und Dynamik kennt und sich nicht dauernd unter Wert verkauft […]. Die hohe Kompetenzzuschreibung wird zur hohen Kompetenzerwartung, ist aber getrübt durch die fehlende Kompetenzerfahrung vor Ort.«18

Einfacher gesagt, man hat Respekt vor Selbstbewusstsein und Professionalität, und ist enttäuscht oder gelangweilt, wenn beide fehlen. Wie geht man theologisch darauf ein? Sellmann identifiziert das Motiv der Rechtfertigung. Seine These: »Etablierte sind Leute, die ihre Biografie als eine Aufgabe verstehen, als einen Anspruch. Diesem Anspruch wollen sie entsprechen – was nichts anderes heißt als: Sie wollen sich an ihm rechtfertigen und sie wollen an ihm gerechtfertigt werden.«19

Interessant ist, wie Sellmann dies z. B. am Gebrauch des Worts deadlines illustriert: »Im Leben gibt es Linien, an denen Entscheidendes geschieht; Linien, die 16 17 18 19

Sellmann, Milieuforschung, 147, 153ff. Sellmann, Milieuforschung, 154. Sellmann, Milieuforschung, 160. Sellmann, Milieuforschung, 162.

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›kleine Tode‹ inszenieren«; dahinter steht letztlich das Streben nach »Vollendung« durch das eigenständige Erreichen von Zielen.20 Überraschend ist, dass Sellmann nun erst einmal vom Gericht spricht: Die Vorstellung einer letzten Rechenschaftspflicht ist für Etablierte instinktiv plausibel, sollte also gerade nicht ausgespart werden.21 Umso befreiender ist aber die Botschaft von der freien Gnade Gottes. Einfach gesagt – und auch Etablierte dürften sich über klare, transparente Sätze freuen: Du kannst dich nicht durch dein eigenes Tun selbst ›vollenden‹, deinen Wert beweisen. Du musst es auch nicht. Weil Gott in Christus schon alles getan hat, was dazu nötig ist – darin stecken für Etablierte eine Zumutung und ein enormer Zuspruch. Beides zu verdeutlichen, ist Aufgabe und Chance kirchlicher Kommunikation. Und dazu braucht sie Worte.22 Nächstes Beispiel: die »Postmateriellen«. In der neueren Fassung der SINUS-Milieus wurde dieses Milieu inzwischen in die »Sozial-Ökologischen« und »Liberal-Intellektuellen« ausdifferenziert. Sellmanns »dichte Beschreibung« von Alltagsästhetik, Werten und Einstellungen zu Kirche und Religion ist ihm zufolge aber auch auf diese beiden Sub-Milieus anwendbar.23 Als Grundmotiv der Postmateriellen macht er das »Leben als sich durchsetzende Unbeschränktheit« aus.24 »Es geht um das originelle Konzept innerer Freiheit, die sich als äußere Freiheit Raum verschaffen will«.25 Sprachlich zeigt sich das am häufigen Gebrauch von Formulierungen wie »unabgeschlossenes Projekt«, »Wandel«, »Wachstum« oder »Entwurf«.26 Dem entspricht auf der negativen Seite der »Kampf gegen Horizontverengungen […]. Die Anti-Begriffe, die hier fallen, transportieren sämtlich Gehalte des Starren, Unbeweglichen, Sklerotischen: ›kalt‹, ›trocken‹, ›Ellenbogen‹ […].«27

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Sellmann, Milieuforschung, 162. Sellmann, Milieuforschung, 163f. 22 Ein Beispiel aus meiner eigenen Vortragspraxis: Ein Vortrag mit dem Titel »Ich leiste, also bin ich? Über Selbstwert und Lebenssinn«, seit Jahren öfters gehalten an Hochschulen bundesweit, mit kirchendistanzierten Studierenden als Zielgruppe. Die These: Leistungsorientierung ist nicht an sich fragwürdig, sondern nötig für unser Wachstum als Persönlichkeit. Wo sie aber Selbstwert und Sinn garantieren soll, wirkt sie am Ende lebensfeindlich. Ganz anders das Identitätsangebot des Evangeliums: Mein Wert wird mir von außen zugesprochen, von Gott in Christus, ohne dass ich etwas dafür tun könnte. Und eben das kann (nebenbei gesagt) sogar mehr Leistungsfähigkeit freisetzen als jeder externe Druck. – Gerade ›künftige‹ Etablierte, also Studierende aus Fachbereichen wie Jura oder BWL, reagieren auf diese Pointe oft verblüfft – und teils fasziniert. 23 Sellmann, Milieuforschung, 170. 24 Sellmann, Milieuforschung, 147. 25 Sellmann, Milieuforschung, 165. 26 Sellmann, Milieuforschung, 165. 27 Sellmann, Milieuforschung, 166.

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Auch in der Alltagsästhetik wird das Prozesshafte betont, als Ausdruck der eigenen Persönlichkeit: »Was nach außen vorgestellt wird, muss nicht in erster Linie für den Betrachter dekodierbar sein, sondern soll sich auf das Subjekt des Besitzers hin lesen lassen. Postmaterielle Wohnungen sind daher meistens erheblich voller, unordentlicher und kombinatorischer als etwa die Lofts der Etablierten […].«28

Schließlich gehe es ihnen »um äußere Zeichen des Sieges über feste Strukturen […]. Efeu soll die feste Hausmauer wuchernd umranken; das Auto soll in einer gewissen Non-Chalance ungepflegt wirken […].«29

Für das Verhältnis zu Kirche und Religion heißt das: »Der Einzelne muss in der Religion aufblühen«.30 Glaube ist da wertvoll und positiv, wo er die individuelle Entfaltung fördert und hemmende Strukturen lockert. Im christlichen Glauben fasziniert besonders die Person Jesu. Klar umrissene Glaubensüberzeugungen wie auch die Kirche werden dagegen mit Skepsis gesehen. »Die Kirche gilt in diesem Milieu gerade als gegnerische, eben: beschränkende und beschränkte Macht, die Authentizität, Querdenkertum und sozialpolitische Intelligenz verhindert.«31

Nun könnte man sich damit beruhigen, dass das ja aus katholischer Perspektive formuliert ist; ähnlichen Vorbehalten wird man aber auch als evangelische Kirche begegnen, wo sie profilierte Überzeugungen vertritt. Welches Motiv steckt dahinter, das sich auch theologisch deuten ließe? Sellmanns Vorschlag ist nicht überraschend: Befreiung.32 Die Freunde und Vertreter einer Theologie der Befreiung kommen hierzulande typischerweise gerade aus dem Milieu der Postmateriellen.33 Sellmann meint aber mehr als die Nähe zu einem bestimmten Programm: »Der theologische Begriff der Befreiung ist erkennbar prozessorientiert; er meint den Menschen in seiner Ganzheitlichkeit; er ist kritisch als ›gefährliche Erinnerung‹ (J.B. Metz); er kann im biblischen Gehalt der Exodus-Erzählung eine sehr starke narrative Kraft entfalten […].«34

Kirchliche Kommunikation wird daher in der Lebenswelt und Selbstwahrnehmung der Postmateriellen einiges finden, was sich gut zur Veranschaulichung der eigenen Botschaft nutzen lässt, auch in überraschender Weise. Das

28 29 30 31 32 33 34

Sellmann, Milieuforschung, 168. Sellmann, Milieuforschung, 168. Sellmann, Milieuforschung, 171. Sellmann, Milieuforschung, 172. Sellmann, Milieuforschung, 172ff. Sellmann, Milieuforschung, 173. Sellmann, Milieuforschung, 173.

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darf laut Sellmann allerdings nicht kritiklos geschehen, denn die Postmateriellen werden ihrerseits »zur Toleranz auch für solche Lebenswege aufgerufen, die den ihren erkennbar unähnlich sind und zum Beispiel wesentlich materieller oder karrieristischer ausgerichtet sind.«35

So weit, so wünschenswert. Aber ist das alles? Befreiung ist im Licht des Evangeliums doch viel mehr als nur der Blick für die Prozesshaftigkeit und Ganzheitlichkeit des Lebens, und sei er theologisch ›getauft‹. Sie ist konkreter die Befreiung von, nämlich Befreiung von der Sünde, vom Zustand der Entfremdung von Gott. Und sie ist konkreter die Befreiung zu, zum Leben im Vertrauen auf Gott, frei von Schuld und befreit auch von der Last, den Sinn des eigenen Lebens erst selbst konstruieren zu müssen. Die Herausforderung für die Verkündigung besteht darin, das alles so zu sagen, dass Postmaterielle es anhören und verstehen können. Evangelistisch lässt sich dabei an eine Reihe von Werten des Milieus anknüpfen: sozial-ökologisches Verantwortungsbewusstsein, Skepsis gegenüber Institutionen, Flexibilität in der Form, Verletzlichkeit und durchaus auch das Wissen um die eigene Fehlbarkeit. Das alles überschneidet sich mit christlichen Grundhaltungen, erfordert also keinesfalls ein ›Verbiegen‹. Und es lässt sich – wieder – natürlich auch in Worte fassen.36

4 Die Praxis Was heißt das für die verbale Kommunikation des Evangeliums in der Praxis? Erste Ausblicke habe ich schon gegeben, weiteres folgt in den nächsten Texten. Daher formuliere ich nun, in bewusster Beschränkung auf die Kommunikationsform Predigt, nur erste Rahmenbedingungen: 4.1 Verbal ≠ frontal

Kommunikation mit Worten, auch Predigt, muss nicht ›von vorne‹, muss schon gar nicht konfrontativ erfolgen. Wo Vorbehalte gegen die Hochschätzung des 35

Sellmann, Milieuforschung, 174. Auch hierzu ein Beispiel aus meiner eigenen Vortragspraxis: Ein Vortrag etwa mit dem Titel »Ich bin so frei? Über Glaube und Freiheit«, wieder mit kirchendistanzierten Studierenden als Zielgruppe. Ich beginne mit dem Eingeständnis: Ausgerechnet Kirche und Glaube machen auf Außenstehende oft nicht den Eindruck, Experten für Freiheit zu sein. Die Lösung ist aber auch nicht, einfach mit gelockerten Maßstäben zu werben – denn dieses ›Spiel‹ ließe sich unbegrenzt fortsetzen. Stattdessen frage ich, was Freiheit im Kern ausmacht: Sie ist eben nicht pure Optionalität, sondern hat immer auch mit dem freudigen Ja zu einer Option, einer Sache oder Person zu tun. Meine These: Hier gibt es einen Erwartungsüberschuss; unsere Sehnsucht nach intensiven Freiheitserfahrungen übersteigt unsere Lebenswirklichkeit. Das kann neugierig machen auf die Antwort des christlichen Glaubens: Freiheit erfahren wir im Vertrauen zu Gott. Die wachsende Nähe zu ihm macht uns nicht unfreier oder gleichförmig, sondern sie macht freier und bringt unsere Einzigartigkeit gerade zum Vorschein. 36

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Verbalen bestehen, steckt dahinter bei näherem Hinsehen oft eine zu selbstverständliche Assoziation von verbal mit frontal. Predigt kann aber auch auf Augenhöhe gehalten werden, eher im Tonfall eines Gesprächs (conversational), werbend, nachdenklich, ja sogar (je nach Milieupassung) selbstironisch. 4.2 Verbal ≠ monologisch

Damit ist nicht nur gemeint, dass der Predigtmonolog mit anderen Formen ergänzt oder variiert wird, das sog. Predigtnachgespräch oder der Predigtdialog. (Eine echte Diskussionsrunde im Plenum ist oft sowieso vorzuziehen, denn ein inszenierter Dialog wird schnell als solcher erkannt.) Sondern es ist auch gemeint, dass Predigt selbst dialogische Züge haben kann. Das Aufgreifen von Hörererwartungen, das Eingehen auf mögliche Fragen oder Zweifel, gehören zum selbstverständlichen Repertoire neuerer Predigtlehren wie schon der antiken Rhetorik. Und all das lässt sich einüben. 4.3 Verbal = plural

Wieder könnte allzu große Skepsis gegen das Verbale damit zusammenhängen, dass der Gebrauch von Worten vorschnell mit einer einzelnen Redeform verwechselt wird. Gerade die evangelistische Verkündigung lebt aber vom Mix unterschiedlicher Redeformen.37 Sie enthält zwar fast immer auch Proklamation, also die Ansage christlicher Grundüberzeugungen im Indikativ. Aber genauso gehören zu ihr das apologetische Reden, das Erzählen v. a. biblischer Geschichten und das persönlich-zeugnishafte Reden vom eigenen Erleben im Glauben. All dies kann je nach Anlass, Thema, eigenem Stil und Zuhörerschaft unterschiedlich kombiniert und gewichtet werden. Die Verkündigung behält so ihre Würze und milieuübergreifende Flexibilität. 4.4 Verbal = mündlich

Bei aller Pluralität der Form: Kommunikation mit Worten erfolgt immer auch mündlich. Was ich nur gedruckt oder auf einem Display lese, entfaltet nicht die gleiche kommunikative Kraft wie mündlich Gesagtes. Geschriebene Worte sind daher nötig, ja unerlässlich, aber sie können das in der direkten Begegnung gesprochene Wort nicht vollständig ersetzen. Das lässt sich zum einen anhand der neutestamentlichen Formgeschichte begründen: Demnach waren die Sinnabschnitte der Evangelien, die Perikopen, teils stichpunktartige Zusammenfassungen ursprünglich längerer Erzählungen und damit Vorlagen für die Missionspredigt der Apostel und Tradenten. Wer aus ihnen wieder Erzählstoff macht und sie mündlich wiedergibt, tut insofern also nichts ›Neues‹, sondern gebraucht sie wie ursprünglich vorgesehen. 37

Vgl. Matthias Clausen, Evangelisation, Erkenntnis und Sprache. Über-zeugend predigen unter nachmodernen Bedingungen, Neukirchen-Vluyn 2010, 80–86, auch zum Folgenden.

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Man kann sogar noch weiter gehen und daraus gleich ein Plädoyer für das freie Sprechen machen. Verbündete dafür findet man sogar in der Soziologie. Hartmut Rosa etwa entfaltet das für seine Theorie menschlichen Handelns zentrale Motiv der Resonanz u. a. ausgerechnet an diesem Punkt: »Gemeinhin wird angenommen, dass man abgelesenem Text deswegen so schlecht folgen könne, weil die geschriebene Syntax komplizierter sei und die Sätze entsprechend länger als bei der gesprochenen Sprache. Die Differenz bleibt jedoch in der Regel auch dann erhalten, wenn der abgelesene Text bereits entsprechend reduziert, das heißt für den mündlichen Vertrag aufbereitet ist. Dies lässt sich nur so deuten, dass sie eben nicht in erster Linie oder zumindest nicht nur auf der Syntax beruht, sondern darin wurzelt, dass ein Redner in der freien Sprache die Zuhörer auf andere Weise und direkt anspricht, also ganz unwillkürlich eine Resonanzbeziehung herzustellen versucht, während das Ablesen im Prinzip ein ›stummer‹, monologischer Akt ist.«38

Verkündigung des Evangeliums erfolgt mit Worten, weil sie vom Verkündiger, von der Verkündigerin weg weist hin auf Christus. Dafür sind Worte trotz aller Missverständnisse und Fehleranfälligkeit grundsätzlich geeignet. Und Verkündigung erfolgt immer auch mündlich, weil die mündliche Kommunikation das Gegenüber, die persönliche Begegnung voraussetzt. In ihren besten Momenten spiegelt die Verkündigung des Evangeliums so schon in ihrer Form wider, wozu sie ihre Adressaten einlädt: zu einer persönlichen Begegnung mit einem persönlichen, kommunikativen Gott. Und diese Begegnung wird je nach Milieu unterschiedlich angebahnt, aber sie ist keinem Milieu grundsätzlich verschlossen.

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Hartmut Rosa, Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin 2016, 97f.

Angebote milieuspezifisch texten Milieus richtig ansprechen, zur Teilnahme einladen und zum Engagement ermutigen Günther Frosch Damit das Milieu-Modell für die Kommunikation im Alltag umsetzbar ist, braucht es neben Kenntnissen über Milieus auch Klarheit über Sprache und Sprachverwendung. Denn das Milieu-Modell als Analyseinstrument nutzen, das ist nur die eine Seite. Mindestens ebenso wichtig ist es, das daraus gewonnene Wissen konkret in einladende Texte zu übersetzen – und zwar nachhaltig. Dieser Artikel gibt Tipps und Hinweise für die Ansprache der Milieus, Tipps, die sich in vielen TextWerkstätten bewährt haben. In einer TextWerkstatt erarbeiten Mitarbeitende und Ehrenamtliche in Kirchen, Bildungseinrichtungen oder Unternehmen konkrete Formulierungen für wirksame milieuspezifische Texte. Ergänzend erhalten sie mit dem Trainingsskript auch detaillierte Sprachprofile für »ihre« Milieus. So kennen sie »Dos and Don’ts« und können die Leserinnen und Leser aus unterschiedlichen Milieus »unfallfrei« ansprechen. Sprachprofile sind also eine mögliche Grundlage der Ansprache von Milieus. Daraus lassen sich fünf Ebenen für die Texterstellung ableiten, die ich Ihnen im Folgenden zusammen mit einer Reihe von Praxisbeispielen und Übungen vorstelle. − − − − −

Ebene 1: Textplanung Ebene 2: Textaufbau Ebene 3: Satzstruktur Ebene 4: Nutzenargumentation Ebene 5: Signalwörter und Reizworte

1 Die Textplanung: Vier Planungsfragen beantworten Damit Sie mit Ihrem Angebot das richtige Milieu mit den richtigen Worten ansprechen, sollten Sie zunächst einmal gut planen. Einfach so drauflos schreiben, das mag bei manchen Alltagstexten funktionieren, bei der Ansprache von Milieus aber nicht. Bevor Sie also einen Text, ein Angebot erstellen oder überarbeiten, lohnt es sich, die folgenden vier Planungsfragen zu beantworten. Bei der Beantwortung dieser Fragen können Sie sich durch die Sprachprofile des SINUS-Kommunikationspakets unterstützen lassen. Sie können aber auch selbst über das Milieu reflektieren und sich vertraut machen mit den Werten, Bedürfnissen und Handlungsimpulsen, die ein Milieu charakterisieren. Einen Auszug aus den Sprachprofilen finden Sie am Ende des Artikels.

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1.1 Planungsfrage 1: Was will ich erreichen?

Was ist meine Absicht und mein Anliegen? Will ich erst einmal Problembewusstsein wecken oder direkt zum Handeln auffordern? Was ist der milieuspezifische Aspekt des Angebots? 1.2 Planungsfrage 2: Wer ist mein Milieu?

Wer sind typische Repräsentanten und Repräsentantinnen des Milieus? In welchem Alter sind sie? Welchen Bildungsstand haben sie? Was ist ihr Bedarf, ihre Lebenswelt? Welchen Anspruch haben sie an Ort, Präsentation, Atmosphäre? Was ist den Repräsentantinnen und Repräsentanten des Milieus wichtig? Unter welchen zeitlichen, räumlichen, finanziellen Bedingungen leben sie? Wie kann ich das Thema für das Milieu spannend machen? 1.3 Planungsfrage 3: Wozu nützt das Angebot?

Was ist der Nutzen? Was hat jemand davon – Erkenntnisgewinn, Freude, Einsichten, Wissen? Warum sollte sich jemand mit meiner Absicht, meinem Anliegen, dem Thema beschäftigen? Wie unterscheidet sich der milieuspezifische Nutzen vom Nutzen für ein anderes Milieu? Nutzen-Fragen können sein: »Was genau bewirkt … was bringt es, was gelingt danach oder damit besser?« 1.4 Planungsfrage 4: Wie verpacke ich das Thema?

In welche Sprache, welchen Stil, welches Wording verpacke ich das Thema? Welche Signalwörter, welche Überschrift, welchen Stil wähle ich? Welche sprachlichen Fallen kann ich vermeiden?

2 Der Textaufbau Dann gilt es, die Textebene in Augenschein zu nehmen. Hier stellt sich vor allem die Frage »Wie lange darf ein Text für die Zielgruppe heute sein?«. Denn viele Texte, die für Liberal-Intellektuelle, Konservativ-Etablierte oder SozialÖkologische ohne Probleme zu verarbeiten sind, sind für das Leseverhalten anderer Milieus zu lang. Wenn Sie Ihre Angebote aber als spannende, leicht genießbare Häppchen aufbereiten, können Sie damit auch Menschen erreichen, die keine »Romane« lesen wollen. Das bedeutet: Es muss nicht der gesamte Text kurz sein. Viel wichtiger: Teilen Sie Ihre Texte in Häppchen auf, zum Beispiel durch Aufzählungen, Zwischenüberschriften, Zusammenfassungen. Verzichten Sie insbesondere auf lange Herleitungen und kommen Sie schnell zum entscheidenden Punkt. Das ist insbesondere wichtig, wenn Ihre Nachricht im Web veröffentlicht wird. Das Smartphone, mit dem heute viele Menschen ins Netz gehen, zeigt zunächst nur eine sehr begrenzte Textmenge an. Hier gilt es, gleich mit den ersten Worten die Leserinnen und Leser direkt anzusprechen.

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3 Die Satzstruktur Lange Sätze sind nicht nur bei der Ansprache von Milieus ein Problem. In der Stilistik und in der Verständlichkeitsforschung werden gerade die typischen deutschen Schachtelsätze immer wieder angeprangert. Häufig ist es eine Kombination aus Satzlänge, Satzkonstruktion und Signalwörtern, die einen Satz für ein Milieu »genießbar« und für ein anderes Milieu schwer erträglich machen. Auch hier gilt: Liberal-Intellektuelle, Konservative-Etablierte oder Sozial-Ökologische können am besten mit langen Sätzen umgehen. Nachdem gerade in der kirchlichen und ehrenamtlichen (Bildungs-)Arbeit die Absender vorwiegend aus diesen Milieus stammen, gilt es immer wieder zu reflektieren: Wen soll mein Text erreichen? Wie lässt sich ein Satz kürzer und prägnanter formulieren, sodass er auch Menschen mit anderem Bildungshintergrund und wenig Lesezeit erreicht? Im Zweifelsfall gilt: Machen Sie aus einem langen Satz zwei kurze Sätze.

4 Die Nutzenargumentation Umfassende Bildung, ausführliche und fundierte Beschäftigung mit Werten – das ist nur noch für eine Minderheit der Milieus bedeutsam, wiederum vor allem für Konservativ-Etablierte, Liberal-Intellektuelle und Sozial-Ökologische. Für alle anderen Milieus ist die unmittelbare praktische Verwertbarkeit von Wissen in der Regel wichtiger. Verwertbarkeit – ein Wort, das bereits auf den Nutzen hinweist, manchmal aber auch negative Assoziationen auslöst. Besonders für jüngere berufstätige Adaptiv-Pragmatische und Performer sind die Alltagstauglichkeit von Wissen sowie die sofortige praktische Umsetzbarkeit wichtige Argumente für eine Entscheidung zur Teilnahme und zum Engagement. Der Anbieter-Blick sollte sich hier, wie auch bei sogenannten »bildungsfernen« Prekären oder Hedonisten auf die konkreten Lebenssituationen der Zielgruppen richten. Repräsentanten dieser Milieus erwarten sich von kirchlichen Angeboten Orientierungshilfen, Ermutigungen und konkrete Anregungen zur Lebensbewältigung. Diese Konkretheit sollte sich auch in Ihren Texten wiederfinden. Ein wesentlicher Einflussfaktor auf die konkrete Lebenssituation vieler Zielgruppen ist heute die Zeitknappheit. Tatsächlich ist für viele Menschen weniger das Geld, sondern vielmehr die Zeit ein Engpass. Die Erfahrung zeigt: Menschen wollen sich heute möglichst lange möglichst viele Optionen offenhalten und viele Verpflichtungen und Aktivitäten »unter einen Hut bringen«. Viele Menschen bevorzugen Veranstaltungen in kürzeren Formaten und bevorzugen im Bereich des Ehrenamts eher projektbezogenes, zeitlich begrenztes Engagement. Auch mit Blick auf ehrenamtlich Engagierte wird es immer notwendiger, deren Nutzenerwartungen zu kennen und mit entsprechenden Angeboten darauf zu reagieren. Das erhöht umgekehrt die Bereitschaft der Ehrenamtlichen, sich in der Gemeinde im Gegenzug auch nützlich zu machen.

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Und dann gilt es, den Nutzen auch zu formulieren: Was soll sich durch die Teilnahme bewegen? Was hat jemand davon, sich zu engagieren, teilzunehmen, mitzumachen, zu reagieren, etwas zu lesen? Warum sollte sich jemand zwei Stunden in einen Vortrag setzen? Was bringt das? Eine Nutzenformulierung leitet den Nutzen logisch aus den Inhalten ab. Drei Beispiele: − Sie erarbeiten sich einen Leitfaden für Feedbackgespräche. [= Inhalt] So stellen Sie sicher, dass Kritik richtig ankommt und auch angenommen wird. [= Nutzen] − Ein Abendvortrag, an dem Sie einen Überblick über die wichtigsten aktuellen Themen für Ehrenamtliche erhalten. [= Inhalt] So gehen Sie gestärkt und inspiriert an Ihre Aufgaben. [= Nutzen] − Sie lernen nützliche Deeskalationsstrategien vor und während einer Veranstaltung kennen. [= Inhalt] − So bleiben Sie in konflikthaften öffentlichen Veranstaltungen als Moderatorin oder Hausherrin handlungsfähig. [= Nutzen]

5 Signalwörter und Reizwörter Ein besonderes Augenmerk beim Texten für Milieus gilt der Wortebene. Dabei lassen sich vor allem Signalwörter (positiv) und Reizwörter (negativ) unterscheiden. Für manche Milieus ist zum Beispiel die Mischung aus deutschen und englischen Begriffen, das sogenannte »Denglish«, negativ besetzt. Begriffe wie »Coaching«, »Performance«, »Lifestyle« fungieren hier als Reizworte. Performer, aber auch Adaptiv-Pragmatische haben damit wenig Probleme. Aus meinen TextWerkstätten für evangelische und katholische Bildungseinrichtungen kenne ich das Unbehagen, das viele Teilnehmende anhand vermeintlich oder tatsächlich »zu ökonomischer« Begriffe beschleicht. Als Beispiel seien hier die Begriffe »Nutzen« und auch das Wort »Zielgruppe« genannt, darüber hinaus auch das Denglische »Stakeholder«. Die Teilnehmenden stammen häufig aus dem sozial-ökologischen oder liberal-intellektuellen Milieu und erleben, wie sie selbst auf Reizwörter reagieren. Das erleichtert die Erkenntnis, dass andere Milieus auf andere Reizwörter reagieren. Um den Blick für die Bedeutung der Wörter zu schärfen, lasse ich die Teilnehmenden in TextWerkstätten gerne folgende Übung machen.

6 Übungen und Beispiele 6.1 Übung 1: Worte

Stellen Sie sich vor, Sie repräsentieren ein Milieu, zum Beispiel das Milieu der Bürgerlichen Mitte oder der Adaptiv-Pragmatischen. Ergänzen Sie folgende Sätze: Familie bedeutet für uns … Rituale bedeuten für uns …

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Bei dieser Übung geht es um verschiedene Aspekte der Wortebene. Das Wort »Familie« ist in allen Milieus gebräuchlich und auch weitgehend positiv konnotiert. Dabei wird es jedoch mit unterschiedlichen Aspekten assoziiert. Während die Bürgerliche Mitte mit Familie privates Glück, Heimat, Geborgenheit assoziiert, ist Familie für Performer durchaus ein weiteres Projekt, das erfolgreich gemanagt werden soll. Für Adaptiv-Pragmatische, oft noch am Anfang der Familienphase, ist Familie eine Herausforderung auf dem Weg zur Etablierung. Das Wort »Familie« selbst stellt aber kein Problem dar. Anders ist das dann beim Wort »Ritual«. Nur in wenigen Milieus gehört dieser Begriff zum aktiven Wortschatz und ist gleichzeitig positiv konnotiert. Vor allem im hedonistischen, aber auch im adaptiv-pragmatischen Milieu oder bei Performern ist das Wort eher negativ bewertet. Das bedeutet aber nicht, dass hier keine Rituale gepflegt werden – vielmehr werden ritualähnliche Handlungen nicht als Rituale erkannt oder zumindest nicht als solche benannt. Denn auch das allmorgendliche Checken von Social-Media-Nachrichten ist natürlich ein Ritual. 6.2 Beispiel 1: Umgangsformen

In der folgenden Aussage ist es vor allem der Begriff »Umgangsformen«, den verschiedene Milieus unterschiedlich bewerten. »In einer Gesellschaft, die durch das Nebeneinander verschiedener Lebensstile geprägt ist, sind die richtigen Umgangsformen nicht mehr so eindeutig definiert wie früher.«

Auch hier gilt Ähnliches wie für den Begriff »Ritual«. Zwar pflegen die Repräsentanten aller Milieus bestimmte Umgangsformen, der Begriff selbst ist aber in konservativen, traditionellen Milieus positiver konnotiert als in hedonistischen Milieus oder Performer-Milieus. Gehen wir mit der Analyse etwas tiefer, können wir zu dieser Aussage etwa folgende Vermutungen anstellen: Diese Aussage stammt vermutlich aus konservativem Mund und spricht Konservativ-Etablierte an. Der Satzbau ist durchaus elaboriert, ein Bezug auf Gesellschaft und die verschiedenen Lebensstile drückt reflektierte Wahrnehmung aus. Das Adjektiv »richtig« verortet den Satz konkret konservativ. LiberalIntellektuelle oder Sozial-Ökologische könnten zwar mit dem Bezug auf Gesellschaft und Lebensstile einverstanden sein, würden jedoch sicher Widerspruch anmelden zur Charakterisierung von Umgangsformen als »richtig«. Das kritische Bewusstsein dieser Milieus ließe sie wahrscheinlich eher von »als richtig empfundenen« oder »vereinbarten« Umgangsformen oder »Konventionen« sprechen. Performer und Adaptiv-Pragmatische wiederum legen weniger Wert auf historische Herleitung, dafür mehr auf aktuelle Verwertbarkeit, also z. B.: sich sicher auf gesellschaftlichem Parkett bewegen, Business-Etikette kennen, interkulturelle Fettnäpfchen vermeiden.

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6.3 Beispiel 2: Spirituelle Wanderung

In einer TextWerkstatt ging es darum, ein spirituelles Angebot für Menschen aus unterschiedlichen Milieus zu machen, konkret eine spirituelle Wanderung durch den Landkreis – in zwei Versionen. Im Folgenden finden Sie eine Sammlung an Inhalten und Stichworten für dieses Angebot, so wie die Teilnehmenden sie erarbeitet haben: Inhalte und Stichworte für Sozial-Ökologische − Stille Wege – starke Menschen − In der Natur geheimnisvolle Wege entdecken und starke Menschen, Vorbilder aus der Region kennenlernen, die »gegen den Strom« geschwommen sind und sich engagiert haben − Kulturelle Schätze entdecken − Ungewöhnlicher Blick auf Heimat − Miteinander, Austausch in der Gruppe − Impulse für den eigenen Weg − Bestärkung für gesellschaftliches Engagement Inhalte und Stichworte für Adaptiv-Pragmatische − Kraft tanken für neue Herausforderungen − Pilgernde Entdeckungstour durch den Landkreis − Outdoor-Erlebnis − Am Trend Pilgern teilhaben − Mit netten Leuten − Kräfte sammeln, auftanken − Vorbilder kennenlernen, Lernen von den Besten, Menschen die etwas geschafft haben − Impulse zur Zielfindung: Wo will ich hin 6.4 Übung 2: Die 10 AnGebote der Kirche

Für Ihre Textarbeit brauchen Sie nicht zwingend Sprachprofile auswendig zu lernen. Ein wenig Sprachgefühl und Intuition reichen oft aus. Das können Sie an folgendem Text selbst ausprobieren. Der Text stammt von der Seite archiv.ekd.de/glauben/10angebote.html (zuletzt geprüft am 18.02.2019). Es ist das erste von zehn »AnGeboten der Kirche« an Menschen, die der Kirche bisher fernstehen. 1. AnGebot: Lebe deinen Glauben in Gemeinschaft Kirche ist eine große Gemeinschaft. In ihr tauschen sich die Menschen über ihren Glauben aus und bekommen dadurch neue Anregungen für die großen Fragen nach Ursprung, Sinn und Ziel des Lebens. In den vielen kirchlichen Gruppen für alle Generationen und den Gottesdiensten (nicht nur am Sonntagmorgen) geht es fröhlich und einladend zu, die Menschen sind offen und gastfreundlich.

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Das erleichtert den Schritt heraus aus dem Alleinsein, hinein in ein gutes Miteinander. Diese Glaubensgemeinschaft hat ihre Keimzelle in der Kirche an deinem Ort. Sie geht aber auch darüber hinaus. Fast in der ganzen Welt kannst du Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der evangelischen Kirche ansprechen. Dazu drei Übungsaufgaben 1) Identifizieren Sie Signalwörter, von denen sie glauben, dass sie für den Ton, die Atmosphäre des Texts verantwortlich sind: Adjektive, Hauptwörter, Verben. 2) Überlegen Sie, auf welche Milieus diese Signalwörter eher positiv wirken und auf welche Milieus die Begriffe als Reizwörter eher negativ wirken. 3) Finden Sie für drei bis fünf dieser Wörter Alternativen, die ein anderes Milieu ansprechen könnten. Wichtig: Vertrauen Sie Ihrer eigenen Intuition. Auch wenn ich Ihnen im Folgenden meine Überlegungen skizziere, so beansprucht diese Skizze doch keine Allgemeingültigkeit. Skizze zur Übung 2 1) Signalwörter, die für den Ton, die Atmosphäre des Texts verantwortlich sind: Adjektive, Hauptwörter, Verben Signalwörter Gemeinschaft (2mal) Glaubensgemeinschaft Keimzelle Miteinander sich austauschen Anregungen Gruppe Generation Gottesdienst Glaube große Fragen Ursprung, Sinn, Ziel des Lebens fröhlich und einladend offen und gastfreundlich fast in der ganzen Welt ansprechen

nach Sprachprofilen Milieus eindeutig zuzuordnen Gemeinschaft: Traditionelle, Bürgerliche Mitte Miteinander: Bürgerliche Mitte

intuitiv Milieus zuzuordnen − Keimzelle: KET, eher veraltet (Familie als Keimzelle der Gesellschaft) − Sich austauschen: SozialÖkologische, LiberalIntellektuelle − Gruppen: Sozial-Ökologische, Liberal-Intellektuelle − Offen und gastfreundlich: Sozial-Ökologische, Liberal-Intellektuelle − Fragen nach dem Ursprung, Sinn, Ziel des Lebens: Konservativ-Etablierte, Sozial-Ökologische, Liberal-Intellektuelle

Angebote milieuspezifisch texten

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2) Analyse zur Wirkung der Signal- und Reizwörter Gemeinschaft, Miteinander, sich austauschen, Gruppen – mit diesen Signalwörtern betont der Text eine Ursache und ein daraus folgendes Bedürfnis der Annäherung an die Kirche, nämlich die Ursache Alleinsein und das Bedürfnis nach einer Gruppe oder Gemeinschaft. Durch die starke Betonung von Gemeinschaft und Miteinander, den Austausch in der Gruppe wird der Text für Milieus, deren Werte eher einer Individualisierung zuneigen, schwer annehmbar. Mindestens für Performer, Hedonisten und Expeditive, aber auch für AdaptivPragmatische und selbst für die Bürgerliche Mitte kann es etwas zu viel »Gruppe«, »Austausch« sein, zu viel »sich öffnen«, zu viel Nähe. Gerade für AdaptivPragmatische gilt: Das Bedürfnis nach Sicherheit und Rückhalt geht immer einher mit einem Bedürfnis nach Eigenständigkeit, Unabhängigkeit. Hypothese: Dieser Text spricht vor allem Traditionelle bis Konservativ-Etablierte und den konservativen Teil der Bürgerlichen Mitte an, sowie Sozial-Ökologische und den eher postmateriell geprägten Teil der Liberal-Intellektuellen. 3) Drei bis fünf Alternativen und ein Textvorschlag für Adaptiv-Pragmatische Angenommen, Sie möchten diesen Text für Adaptiv-Pragmatische aufbereiten. Dann können folgende Begriffe aus dem Sprachprofil in Frage kommen: − Weiterkommen, Rückhalt, Kompetenz für den Alltag, Chancen nutzen, Sicherheit, Kenntnisse − lebensnah, verlässlich, sympathisch, aktiv, unkompliziert − gestalten, etwas meistern, den eigenen Weg finden, Sicherheit gewinnen, zur Ruhe kommen Ein neuer Textvorschlag für Adaptiv-Pragmatische kann dann so lauten: Lebe Deinen Glauben! Kirche ist eine positive Gemeinschaft. In ihr finden Menschen Rückhalt, gehen den eigenen Weg, meistern ihr Leben. Sie erhalten Antworten auf die »großen Fragen« nach Sinn und Ziel. Viele kirchliche Angebote stehen Dir offen. Hier geht es aktiv und unkompliziert zu, die Menschen sind sympathisch, engagiert und offen. Das gibt Sicherheit und einen Rahmen, um Neues zu entdecken und Kenntnisse zu gewinnen. Basis dieser Gemeinschaft ist die Kirche vor Ort. Sie geht aber auch darüber hinaus. Weltweit kannst du Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der evangelischen Kirche ansprechen.

7 Fazit Neue Milieus auf neue Art ansprechen, das erfordert etwas Arbeit und Freude an der Herausforderung. Wichtig dabei ist auch: Bitte nicht über den eigenen Mut erschrecken, wenn Sprache und Nutzenbotschaft nicht dem entsprechen, womit man die letzten 30 Jahre über die alten Kernzielgruppen beglückt hat.1 1

Weiterführende Literatur: Günther Frosch, Texten für Trainer, Berater, Coachs, Offenbach 52016; ders., Milieuspezifische TextWerkstätten, in: Rudolf Tippelt / Jutta Reich / Aiga

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8 Sprachprofile Im Folgenden Auszüge aus den Sprachprofilen für die Bürgerliche Mitte und Adaptiv-Pragmatische. 8.1 Bürgerliche Mitte

Grundlage der sprachlichen Kommunikation mit der Bürgerlichen Mitte Werte Bedürfnisse Impulse − beruflicher Erfolg und privates Glück − eine harmonische, gesicherte Existenz aufbauen − Streben nach Wärme, Nähe, Geborgenheit − geordnete Verhältnisse Stilempfehlungen − Satzbau: Hauptsätze und einfache Haupt-Nebensatzkombinationen im Wechsel − Tonalität: freundlich, klar, höflich; an sozialen Konventionen orientiert; Betonung von Kompetenz, Work-Life-Balance, Fakten, beruflicher Verwertbarkeit, dabei aber unprätentiös (»am Ball bleiben«) − Wortwahl: »Denglisch« in Maßen, vor allem wenn es beruflich relevant oder bekannt ist, weder zu einfach noch zu elaboriert, sondern klare, bildhafte Sprache, die sich in der Wortwahl am Thema orientiert Don’ts: Sprachliche Fallen − nicht zu einfach – Bürgerliche Mitte grenzt sich nach »unten« ab − Nichts Unerwartetes, nichts Irritierendes, nichts, was die Bürgerliche Mitte nicht einordnen kann oder vermutet »es übersteigt meinen Horizont«, also Vorsicht mit Sprachspielen, Zitaten, Ironie − nicht zu intellektuell (»Fachidioten-Deutsch«) – die Bürgerliche Mitte mag es nicht, wenn sie die Grenzen des eigenen Horizonts aufgezeigt bekommt Nutzenargumente für die Bürgerliche Mitte − Position erreichen und sichern − am Ball bleiben − konkretes Handwerkszeug − Statussicherung und gesellschaftliche Etablierung

von Hippel / Heiner Barz / Dajana Baum (Hg.), Weiterbildung und soziale Milieus in Deutschland, Band 3: Milieumarketing implementieren, Bielefeld 2008; ders. / Hubert Klingenberger, Eine Bildung, die keinen Nutzen stiftet, nutzt zu nichts? Das Nutzen-Konzept als Antwort auf aktuelle Verunsicherungen in der Bildungsarbeit, Erwachsenenbildung 1 (2016), 30–32.

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Angebote milieuspezifisch texten

Wortliste: Einige Wörter für die Ansprache der Bürgerlichen Mitte Adjektive

Nomina

Verben

aktiv anerkannt angenehm einfach freundlich gemütlich geschmackvoll gesichert harmonisch machbar miteinander modern notwendig praktisch qualifiziert realistisch richtig sicher sinnvoll solide

Arbeit Balance von Arbeit und Freizeit Bodenhaftung Familie Förderung der Kinder Freude Freunde Freundlichkeit Geborgenheit Gemeinsamkeit Gemeinschaft Genauigkeit Genuss Gerechtigkeit Gesundheit Harmonie Kenntnisse Materielle Sicherheit Menschlichkeit Miteinander

am Ball bleiben anpacken arbeiten aufgehoben sein das Beste machen aus das Erreichte sichern den Mittelweg finden etwas Gutes tun gestalten gewinnen positive Akzente setzen probieren sich an Regeln halten sich etwas aufbauen sich zugehörig fühlen Sicherheit gewinnen sichern sorgenfrei leben

8.2 Adaptiv-Pragmatische

Grundlage der sprachlichen Kommunikation mit Adaptiv-Pragmatischen Werte Bedürfnisse Impulse − beruflich und finanziell weiterkommen − nicht stehen bleiben − zielstrebig, zielorientiert und dabei kompromissbereit sein − jung, modern, weltoffen sein − Bedürfnis nach Verankerung, Zugehörigkeit Stilempfehlungen − Satzbau: Hauptsätze und einfache Haupt-Nebensatzkombinationen im Wechsel − Tonalität: klar, offen, leicht, trendy, Betonung des Nutzens: Was bringt das?; modern lässig ausgedrückte Wertschätzung »Du bist ok.« − Wortwahl: »Denglisch« und Marketing-Begriffe in Maßen, Trendbegriffe, die sich bereits durchgesetzt haben (Flow, Lifestyle, Shopping, Coaching)

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Don’ts: Sprachliche Fallen − nicht zu intellektuell – Adaptiv-Pragmatische sind nicht auf der Suche nach intellektueller Auseinandersetzung − nicht pessimistisch – Adaptiv-Pragmatische haben Aversion gegen Negativbotschaften, denken in Potenzialen, Ressourcen, Zielen (»Wünsche an das Universum«) − wenn, dann Schwächen oder negative Aspekte als »Herausforderungen« definieren – Adaptiv-Pragmatische nehmen Angebote zur Bewältigung von Herausforderungen an (z. B. Trainings, Seminare) Nutzenargumente für Adaptiv-Pragmatische − Position erreichen und sichern − Leistungsziele erreichen − eigene Ideen verwirklichen − Chancen nutzen − die berufliche Etablierung unterstützen − im Freundeskreis etwas unternehmen − unkompliziert und ohne Verpflichtungen − Rückhalt und Sicherheit Wortliste: Einige Wörter für die Ansprache der Adaptiv-Pragmatischen Adjektive

Nomina

Verben

aktiv anerkannt angenehm down to earth einfach flexibel freundlich lustvoll machbar modern normal notwendig pfiffig positiv pragmatisch praktisch

Anerkennung Arbeit Ausdauer Auszeit Etablierung Fachwissen Fakten Familie Flexibilität Freiheit Freizeit Freunde Harmonie Herausforderung Job Karriere

am Ball bleiben anpacken arbeiten beruflich weiterkommen das Beste aus seinen Möglichkeiten machen gewinnen herauskommen (es kommt etwas dabei heraus) im Leben vorankommen loslassen meistern motivieren nachdenken nicht stehen bleiben Optionen offen halten

Zur Inspiration: Das dritte AnGebot der EKD in milieuspezifischer Sprache – ein Versuch Sebastian Steinbach Ist es möglich, das eine, immerwährende Evangelium jeweils neu zuzuschneiden bzw. zur Sprache zu bringen; in immer neue Situationen, Bedürfnisse, Lebensgewohnheiten und Milieus hinein? An immer neue Situationen, Bedürfnisse, Lebensgewohnheiten und Milieus anknüpfend? Die EKD versucht in ihren »10 AnGeboten der Kirche«1, Kirchenfernen zentrale Bereicherungen des christlichen Glaubens zu vermitteln: 1. Lebe deinen Glauben in Gemeinschaft 2. Erfahre Zuspruch von Hoffnung 3. Gib deinem Leben Sinn 4. Übernimm Verantwortung 5. Erlebe die Vielfalt 6. Feiere den Jahreslauf 7. Empfinde mit allen Sinnen 8. Lerne zusammen mit anderen 9. Finde immer ein offenes Ohr 10. Hilf anderen ehrenamtlich Das 3. AnGebot der EKD für Kirchenferne lautet im »Original«: 3. AnGebot: Gib deinem Leben Sinn »Im christlichen Glauben bewahrt die Kirche eine Wahrheit, die Menschen sich nicht selber sagen können. Diese Wahrheit, in der Jesus Christus gelebt hat, gibt auch deinem Leben einen Sinn. Sie macht ein verantwortungsbewusstes Leben möglich. In der Kirche wird jeder Mensch als Person ernst- und angenommen, mit allen Schwächen und Stärken, mit aller Sympathie und allen Eigenheiten. Ich sein zu können, das ermutigt zu eigenverantwortlichem Handeln, gerade auch anderen gegenüber, im Alltag, im Beruf, das ermutigt dich auch dazu, dich zum Beispiel in der Kirche ehrenamtlich zu engagieren.«2

Im Folgenden findet sich der Versuch, diesen kleinen Text bzw. die darin innewohnende »Bereicherung« in verschiedene Milieus hinein zu übersetzen. Die Texte erheben keinen Anspruch auf wissenschaftliche Korrektheit, sondern wollen Inspiration und Anstoß für ganz konkrete Auseinandersetzung mit der Formulierung des Evangeliums in unterschiedliche Milieus hinein sein. 1 2

archiv.ekd.de/glauben/10angebote.html (zuletzt geprüft am 18.02.2019). archiv.ekd.de/glauben/10angebote.html (zuletzt geprüft am 18.02.2019).

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1 Konservativ-etabliertes Milieu – »3. AnGebot: Sinn finden und Sinn geben« Im christlichen Glauben und seinen Traditionen eröffnet sich eine Wirklichkeit, die unserem Leben ein festes, beständiges Fundament gibt. Wir haben Zutritt zu einer Wirklichkeit, die wir selbst nicht machen können. Wir betreten einen Raum, in dem wir in Worten, Musik und Schweigen Gott begegnen. Die Begegnung mit Gott und das Erlösungswerk Christi machen uns frei, Verantwortung für die Welt um uns herum zu übernehmen – und das nicht allein, sondern verbunden mit anderen, die ebenfalls aus dieser göttlichen Wirklichkeit heraus leben. Im Lichte Gottes erkennen wir unseren einzigartigen Wert und unsere Identität als Teil seiner weltweiten Gemeinschaft. Wir erkennen, dass wir erwählt und berufen sind, an der Seite Gottes die Welt zu gestalten und so unserem Leben einen Sinn zu geben – im beruflichen Alltag genauso wie durch ehrenamtliches Engagement.

2 Milieu der Performer – »3. AnGebot: Entdecke die Möglichkeiten« Das Leben ist ein riesiger Raum voller Gestaltungs- und Erlebnismöglichkeiten: unmöglich scheint nur wenig. Und doch erleben wir: Manchmal stoßen wir an Grenzen. Der christliche Glaube lädt ein, völlig neue Grenzen zu überwinden: die Grenze zwischen Erde und Himmel, die Grenze zwischen Tod und Leben, die Grenze unserer menschlichen Möglichkeiten. In der erlebbaren Person Jesus Christus begegnen wir dem Gott der unbegrenzten Möglichkeiten – und seiner Vision von Gemeinschaft, die die Grenzen von Zeiten und Kulturen überschreitet. Zugleich konfrontiert uns gerade diese Gemeinschaft mit der Erkenntnis, dass jenseits des Himmels (also hier auf Erden) gewisse menschliche Grenzen unumgänglich sind – manche sogar heilsam.

3 Sozial-ökologisches Milieu – »3. AnGebot: Die Welt verändern« Wir leben in einer Welt, die nicht so ist, wie sie sein sollte: Unsere Welt ruft nach Engagement, nach Widerstand an den richtigen Stellen, nach Einsatz und Veränderung. Im christlichen Glauben entdecken wir unsere Welt als Gottes ureigene und kostbare Schöpfung, wir entdecken Gottes Herzschlag und Gottes Leidenschaft für unsere verwundete Welt. Die Begegnung mit dem Lebenswerk Jesu weckt und stärkt in uns eine begründete Hoffnung. Wir erkennen: Gott selbst gibt sich hinein in unsere Welt, steht auf gegen Ausbeutung und Ungerechtigkeit und erschafft durch Tod und Auferstehung Jesu neue Herzen. Gott hat seine Welt und seine Menschen nicht aufgegeben: In seiner Kirche und durch seine Kirche wendet sich Gott seinen Menschen zu, schafft einen Ort für Annahme und Veränderung und formt eine Bewegung, die diese unsere Welt zu einem heileren Ort macht.

Das dritte AnGebot

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4 Traditionelles Milieu – »3.AnGebot: Sicherheit und Kraft finden fürs eigene Leben!« Die Welt ist unübersichtlich geworden: so vieles ist im Wandel. Ständig tauchen neue Entwicklungen, neue Möglichkeiten und neue Bedrohungen auf – in der Politik, in der Technik, am Arbeitsplatz. Und irgendwie ist »neu« ja auch gut. Aber zugleich gilt: Wir Menschen brauchen Beständigkeit. Irgendetwas, das bleibt. Etwas, wo wir Sicherheit und Halt finden. Heimat und Verlässlichkeit. Bei Gott erleben wir genau das: Gott ist für uns Halt, Sicherheit und Heimat. Ein Halt, eine Sicherheit, eine Heimat, die nicht von dieser Welt ist – und die deshalb von der Beschleunigung und den Veränderungen dieser Welt nicht bedroht ist. Bei Gott erleben wir, dass er uns ansieht und sagt: »Fürchte dich nicht! Du bist mein Kind! Du bist ein Teil meiner himmlischen Familie! Du bist bei mir zu Hause!« In der Kirche finden wir also ein Zuhause. Der Pfarrer bzw. die Pfarrerin steht uns zur Seite, genauso wie andere Mitchristen. Mit dieser Geborgenheit, mit dieser Sicherheit im Rücken können wir uns den Herausforderungen dieser Welt zuwenden. Wir bekommen ein weites Herz und finden in unserer Kirchengemeinde oder in unserem Umfeld Möglichkeiten, uns für andere einzusetzen.

5 Prekäres Milieu – »3. AnGebot: Mit Jesus an der Seite durchs Leben« Natürlich kann Leben sehr, sehr schön sein. Oft aber ist es ein ziemlicher Kampf: das Geld muss irgendwo herkommen, die Gesundheit ist angeschlagen oder die Ämter machen Schwierigkeiten. Vieles ist mühsam, muss hart erarbeitet und erkämpft werden. Dass Dinge leicht sind, Ihnen einfach so in den Schoß fallen, dass Sie mit Respekt und Hochachtung behandelt werden: das wäre schön! Bei Gott können Sie genau das erleben: In Gottes Augen haben Sie unendlichen Wert. Sie müssen sich seinen Respekt und seine Hochachtung nicht verdienen. Und bei Jesus erleben Sie: Er ist auf Ihrer Seite. Und er antwortet auf Gebet: macht manches im Leben leichter und gibt neue Kraft. An der Seite Jesu entdecken wir: es lohnt sich, zu leben. Und wir entdecken, dass wir nicht allein sind. Viele unterschiedliche Menschen stehen uns in der Kirche zur Seite: helfen uns und freuen sich, wenn wir ihnen helfen. Wenn wir an Jesus glauben, sind wir Teil der einen großen Familie Gottes.

6 Hedonistisches Milieu – »3. AnGebot: Lebe! Und zwar glücklich!« Das Wichtigste an deinem Leben ist, dass du es lebst! Du hast nur eins! Lass dir also von keinem anderen Menschen vorschreiben, wie du zu leben hast!

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Gott ist der Ursprung von Lebendigkeit und Freude. Er hat dich einzigartig geschaffen und er möchte, dass du dich entdeckst: Es gibt so vieles, wozu du fähig bist, was du noch nicht kennst und was du noch nicht erlebt hast! Gott ist es wichtig, dass sich dein Leben gut anfühlt. Das Besondere an Gott ist dabei, dass er ein Profi ist, wenn es darum geht, was dich dauerhaft glücklich macht. Er weiß, welche Dinge im Leben furchtbar schnell langweilig werden oder bloß mit einem Kater enden. Mit Gott wirst du Dinge erleben, die du noch nie erlebt hast und du wirst erleben, wie andere Menschen dadurch von dir profitieren. Wie gesagt: Gott ist ein Profi in Sachen Leben!

2 Die mediale Dimension

Mensch und Medium Eine Hinführung zu McLuhan Norbert Schmidt

»Unsere übliche Antwort, mit der wir alle Medien abtun, nämlich daß es darauf ankomme, wie wir sie verwenden, ist die befangene Haltung des technischen Dummkopfs.« (McLuhan, Understanding media, 37)1

»Mediengesellschaft« als aktuelles Thema

Medien, meist als »soziale Medien«, sind in aller Munde. Nach wiederholten Skandalen bei den großen sozialen Netzwerken wächst die Skepsis, aber ohne dass dies signifikanten Einfluss auf Verbreitung und Häufigkeit der Nutzung hätte. Im Gegenteil, der Zugang zu digitalen Medien gilt als Schlüssel für gesellschaftliche Teilhabe ebenso wie zeitgemäße Bildung. Kritiker dieser Entwicklung, wie der früh verstorbene Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Frank Schirrmacher2, werden als Nörgler abgetan, die sich eine Zeit zurückwünschen, die unwiederbringlich der Vergangenheit angehört. Medien sind ein elementarer Bestandteil der modernen Gesellschaft, die in vielen Veröffentlichungen als »Mediengesellschaft« beschrieben wird.3 Dabei hat jeder so seine Vorstellung, was der Begriff »Medium« bedeutet: Wir denken an Massenmedien, Werbemedien, soziale Medien etc. In einer Einführung unter dem Titel »Medien in Deutschland« bietet Heinz Pürer eine ganze Reihe von

1

Marshall McLuhan, Die magischen Kanäle = Understanding media [aus dem Englischen von Meinrad Amann], Dresden u. a., 1994. 2 Vgl. Frank Schirrmacher, Payback. Warum wir im Informationszeitalter gezwungen sind, zu tun, was wir nicht tun wollen, und wie wir die Kontrolle über unser Denken zurückgewinnen, München 32009; ders., Ego. Das Spiel des Lebens, München 22013. 3 So der Titel eines Aufsatzes von Otfried Jarren. Vgl. www.bpb.de/apuz/25985/medienge sellschaft-risiken-fuer-die-politische-kommunikation (zuletzt geprüft am 18.02.2019).

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Norbert Schmidt

möglichen Definitionen und Differenzierungen.4 Allen Definitionen gemeinsam ist die Verknüpfung von Medien und Kommunikation sowie der Rekurs auf die materiale (oder immaterielle) Seite des Kommunikationsmittels. Auf Harry Pross geht die Unterscheidung von primären (ohne Technikeinsatz – z. B. Sprache), sekundären (Technikeinsatz auf der Produktionsseite – z. B. Printmedien) und tertiären (Technikeinsatz auf Produktions- und Empfängerseite – z. B. Rundfunk) zurück. Diese Liste wurde dann um quartäre Medien ergänzt, »die auf Digitalisierung und Konvergenz basieren und die Möglichkeiten der interpersonalen Kommunikation, der Gruppen- und der Massenkommunikation integrieren.«5 Der eingangs zitierte Marshall McLuhan6 verwendet demgegenüber einen weiten Medienbegriff, in dem auch Werkzeuge, Waffen, die Eisenbahn oder das elektrische Licht als Medien gesehen werden.7 Wenn McLuhans Werke im Folgenden als Grundlage verwendet werden, liegt das darin begründet, dass er unseren Blick auf die Wirkung, den Effekt der Medien richtet und die wesentliche Rolle des Mediums selbst im Vorgang der Kommunikation zur Sprache bringt. Damit weist er bereits in den 1960er Jahren auf eine Tatsache hin, die vielen im Zusammenhang von politischen Entwicklungen des zweiten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts Kopfzerbrechen bereiten. »Das Medium ist die Botschaft« (McLuhan)

Dies ist der vielleicht bekannteste und am häufigsten missverstandene Satz des kanadischen Literaturwissenschaftlers; er bedarf näherer Erläuterung. Ein Medium ist die Erweiterung unseres Körpers oder unserer Sinne oder unseres Geistes, aus der eine Veränderung hervorgeht. Und da aus allem, was wir konzipieren oder schaffen, eine Art Veränderung entsteht, sind alle unsere Erfindungen, Innovationen, Ideen und Ideale McLuhan-Medien. Damit sind Äxte genauso Medien wie die Schrift oder die Eisenbahn. Die Axt ist eine Erweiterung der Hand, die Schrift eine Erweiterung der Sprache, die Eisenbahn eine Erweiterung des Fußes. Und für alle drei wie für alle anderen Medien gilt, dass sie eine Wirkung haben, die unabhängig von ihrem Inhalt ist, also von dem, wozu die Axt gebraucht, was niedergeschrieben oder in der Eisenbahn transportiert wird. Genau diese Wirkung wird von McLuhan als die Botschaft des Mediums bezeichnet. Einige von McLuhan selbst angeführten Beispiele mögen den Sachverhalt erläutern: Für die australischen Eingeborenen war vor der Ankunft der 4

Vgl. dazu Heinz Pürer, Medien in Deutschland. Presse – Rundfunk – Online. Bonn 2016, 12f. Pürer, Medien, 13. 6 Herbert Marshall McLuhan (* 21. Juli 1911 Edmonton, Alberta; † 31. Dezember 1980 Toronto) Professor für englische Literatur, Literaturkritiker und Kommunikationstheoretiker. 7 McLuhan ist mit diesem weiten Medienbegriff nicht allein, auch andere Theoretiker wie Vilém Flusser oder Niklas Luhmann operieren mit sehr umfassenden Konzepten von Medien. 5

Mensch und Medium

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Weißen die Steinaxt zum einen sehr wertvoll, zum anderen als Machtsymbol den Männern vorbehalten. Als Missionare Stahläxte in Massen und sogar an Frauen und Kinder verteilten, brach die Kultur zusammen. Männer mussten sich sogar Äxte bei den Frauen leihen, was zum Verlust ihrer männlichen Würde führte. Dies zeigt, dass eben nicht der »Inhalt« und die Anwendbarkeit des Mediums, in diesem Fall wäre die Anwendbarkeit beispielsweise Bäume fällen, bedeutend sind, sondern das Medium an sich großen Einfluss auf die Menschheit hat. Ähnliches gilt für die Einführung der Maschine im Zusammenhang der industriellen Revolution, die von Gerhard Hauptmann in »Die Weber« sehr plastisch dokumentiert wird. Nicht das, was die Maschine, in diesem Fall der mechanische Webstuhl leistet, ist der Sinn oder die Botschaft, sondern die Veränderung, die diese Maschine mit sich brachte. Der Apparat an sich verändert die Arbeitsweise und das Verhalten der Menschen, indem er das Arbeiten erleichtert und die Handarbeit überflüssig gemacht hat. Die Botschaft eines Mediums ist damit das, was es mit den Menschen macht, aber nicht sein Inhalt. In der Medientheorie von McLuhan ist der Inhalt irrelevant.8 Am deutlichsten wird dies an dem einen Medium, das keinen Inhalt, wohl aber eine Botschaft hat – das elektrische Licht. Ob es ein Fußballstadion oder einen OP-Saal erleuchtet, ist medientheoretisch ohne Bedeutung. Dass seine Existenz das menschliche Zusammenleben grundlegend verändert hat, ist allerdings unbestreitbar – das ist seine Botschaft. Mit diesen Thesen lehnt McLuhan ausdrücklich das Sender-EmpfängerModell von Kommunikation ab, in dem dem Medium als Kommunikationskanal bestenfalls eine untergeordnete Rolle zukommt. Vielmehr ist der Kanal die entscheidende Größe, auf die sich die Aufmerksamkeit richten muss. McLuhan geht noch einen Schritt weiter, wenn er feststellt, dass der Fokus auf dem Inhalt einer Kommunikation von der eigentlichen Botschaft des Mediums ablenkt – und ablenken soll. In seinen eigenen Worten: »Denn der ›Inhalt‹ eines Mediums ist mit dem saftigen Stück Fleisch vergleichbar, das der Einbrecher mit sich führt, um die Aufmerksamkeit des Wachhundes abzulenken.«9 Vier Medienepochen in der Menschheitsgeschichte

Eine besondere Rolle kommt hierbei den von McLuhan so genannten elektrischen Medien zu. Er unterteilt die Menschheitsgeschichte medientheoretisch in vier Epochen: eine orale Phase, die Schriftkultur des phonetischen Alphabets, die Ära des Buchdrucks und schließlich das elektrische Zeitalter beginnend mit

8

Diese Aussage ist potenziell missverständlich. McLuhan selbst sagt dazu in einem berühmt gewordenen Interview mit der Zeitschrift Playboy (»The Playboy Interview: Marshall McLuhan«, Playboy Magazine, March 1969, S. 17): »By stressing that the medium is the message rather than the content, I’m not suggesting that content plays no role – merely that it plays a distinctly subordinate role.« 9 McLuhan, Understanding, 38.

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der Erfindung des Telegrafen.10 Die vier Epochen im Einzelnen zu beschreiben, würde zu weit führen. Deshalb müssen einige knappe Bemerkungen genügen: Der Übergang von der oralen Kultur zur Schriftkultur wird (schriftlich!) von Platon in seinem Phaidros dokumentiert. Dort lässt er Sokrates vier Einwände gegen die Schrift aufführen, die ein wenig umgeschrieben sehr gut in die Gegenwart und die Auseinandersetzung mit den digitalen Medien passen würden:11 1. Sie schwäche das Gedächtnis, weil es sich auf eine äußere Stütze »vermittels fremder Zeichen« verlasse; 2. sie biete nur einen stummen Text (»Du könntest glauben, sie sprächen, als verstünden sie etwas, fragst du sie aber lernbegierig über das Gesagte, so enthalten sie doch nur ein und dasselbe stets.«); 3. sie sei – anders als die mündliche Rede – nicht auf einen mit Bedacht ausgewählten Kreis von Adressaten einzugrenzen, sondern schweife »unter denen umher, die sie verstehen, und unter denen, für die sie sich nicht gehört«. 4. »In einer geschriebenen Rede über jeden Gegenstand sei vieles notwendig nur Spiel«, weil ihr Autor nicht anwesend sei und er deshalb nicht mit dem Ernst seiner ganzen Person für die vorgebrachte Lehre einstehe. Diese Kritik ist nicht nur deshalb spannend, weil sie uns in Schriftform vorliegt, die durch sie ja gerade kritisiert wird. Sie zeigt auch umgekehrt die großartige Leistung der Schrift. Denn diese 1. entlastet das Gedächtnis, das damit zu neuen intellektuellen Leistungen frei wird; 2. kann sie sich aus der Situation ihrer Entstehung lösen und an anderem Ort zu anderer Zeit gegenwärtig sein, bedarf aber dann der Übersetzung, der Interpretation, des Kommentars; 3. ist sie leicht zu lernen, sodass durch Schrift verbreitetes Wissen vielen zugänglich ist. Somit wird Schrift, wie wir sie kennen, zu einer notwendigen Vorbedingung moderner Demokratie; 4. ist Schrift Produkt eines Autors – mündliche Überlieferung kennt keine Autoren, nur Tradenten, eine Tatsache, die sich auch noch sehr lange im Umgang mit Schrift niedergeschlagen hat und eigentlich erst durch den Buchdruck überwunden wurde. Auf eine weitere Folge der Schrift soll noch verwiesen werden: Unter oralen Bedingungen sind sowohl Wortschatz als auch Wissen begrenzt. Literalität führt zu einer Entgrenzung. Worte mögen zwar vergessen werden, sie verschwinden aber nicht, Wörterbücher belegen allein im Deutschen weit über 100.000 Worte, ein Vielfaches von dem, was selbst gelehrte Menschen als aktiven Wortschatz beherrschen und immer noch ein Mehrfaches des passiven Wortschatzes auch der intellektuellen Elite des Landes. Gleiches gilt für Wissen, das aufgrund der Schrift exponentiell wachsen kann und damit die Fähigkeiten auch des intelligentesten und best-ausgebildetsten Einzelnen übersteigt. So sehr also die Schrift die Teilhabe von Menschen an einem demokratischen Prozess überhaupt erst ermöglicht, befördert sie zugleich deren Begrenzung und damit die Sehnsucht nach einfachen und schlüssigen Lösungen. 10

In dieser Einteilung folgen ihm die meisten Medientheoretiker, auch wenn sie teilweise andere Übergänge postulieren. 11 Zitate nach: Platon, Phaidros oder Vom Schönen. Übertragen und eingeleitet von Kurt Hildebrandt, Stuttgart o.J., Abs. 60, S. 34.

Mensch und Medium

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Der nächste Umbruch kommt mit der Erfindung der Druckerpresse mit beweglichen Lettern im 15. Jahrhundert. Ihm widmete McLuhan ein eigenes Werk unter dem Titel The Gutenberg Galaxy. The Making of Typographic Man. Das gedruckte Buch war im Gegensatz zum handgeschriebenen Manuskript ein Massenprodukt. Erstmalig in der Geschichte konnte ein und derselbe Text identisch in hoher Auflage reproduziert werden. »Der Druck lieferte das erste uniforme und wiederholbare Konsumgut.«12 Die Konsequenzen für die menschliche Gesellschaft waren massiv: Dem Buchdruck verdanken wir Lexika und Grammatiken, den Aufstieg der Nationalsprachen und somit von Nationalbewusstsein, die eindeutige Autorschaft von Büchern und anderes mehr. Der Buchdruck wird auch zum Vorläufer der industriellen Fertigung, die sich ab dem 18. Jahrhundert Bahn bricht. Und McLuhan dürfte auch nicht falsch liegen, wenn er den Erfolg der protestantischen Reformation am Buchdruck festmacht. Nicht nur die Bibel in der Landessprache, sondern auch ungezählte Flugschriften trieben die rasche Ausbreitung reformatorischen Gedankenguts voran. Mit dem Buchdruck war auch eine allgemeine Schulbildung erst in den Rahmen des Möglichen gerückt. Dies gilt zum einen schlicht in Bezug auf die Verfügbarkeit von Lehrmaterial und zum anderen, weil dieses Material jetzt uniform war, d. h. die einzelnen Exemplare der Lehrbücher nicht mehr voneinander abwichen, wie dies unter Manuskript-Bedingungen noch der Fall war. Mit der Erfindung des Telegrafen beginnt das »elektrische Zeitalter«,13 das nicht nur einen weiteren Umbruch darstellt, sondern sich radikal von seinen Vorläufern unterscheidet. Elektrizität ermöglicht Gleichzeitigkeit; beim Telegrafen lag ein Text (fast) gleichzeitig am Ort des Versands und am Ort des Empfangs vor. War Schrift und Buchdruck noch analog, also durch eine festgelegte Reihenfolge bestimmt, so gilt dies unter »elektrischen« Bedingungen nicht mehr. McLuhan spricht in diesem Zusammenhang von einem akustischen Raum, der durch Gleichzeitigkeit gekennzeichnet ist, während der visuelle Raum immer durch den Standpunkt des Blicks bestimmt und begrenzt wird. Konsequenz der elektrischen Revolution ist die Entstehung eines globalen Dorfes, da die Vernetzung in Lichtgeschwindigkeit Raum und Zeit überwindet und Distanzen aller Art schrumpfen lässt. Die Elektrizität beendet die Aufteilung in Sender und Empfänger, das Medium »verstrickt die Menschen ineinander.« Und weiter: »Unsere elektrisch konfigurierte Welt hat uns gezwungen, von der Gewohnheit der Datenklassifizierung zum Modus der Mustererkennung überzugehen. Wir können nicht mehr seriell, Block für Block, Schritt für Schritt bauen, denn die sofortige Kommunika-

12

Angela Spahr in: Daniela Kloock / Angela Spahr, Medientheorien, Paderborn 2012, 63. Auch wenn McLuhan den Begriff »elektronisch« kannte, verwendet er ihn bewusst nicht, weil der Schritt von der Elektrizität zur Elektronik nur eine Vervollkommnung der Ersteren darstellt. 13

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tion stellt sicher, dass alle Faktoren der Umwelt und der Erfahrung in einem Zustand des aktiven Zusammenspiels koexistieren.«14

M. E. lässt sich die Welt der so genannten sozialen Medien – von denen McLuhan nichts wusste – nicht besser charakterisieren als mit diesem Zitat. Der Umbruch verdankt sich Medien, Erweiterungen des Menschen, nicht deren Inhalten. Umgekehrt werden die Inhalte, um die sich so viel in menschlichen Kommunikationsbemühungen dreht, von den Medien bestimmt. Ihnen wird nicht nur eine bestimmte Form aufgezwungen, sondern sie sind auch in ihrer Aussage völlig vom jeweiligen Medium abhängig. Nun wäre es aber völlig falsch, anzunehmen, dass die Menschen diese Prozesse passiv erleiden. Medien sind Erweiterungen des menschlichen Körpers und somit menschliche Geschöpfe. In den Worten von McLuhan: »In dem Sinne, dass diese Medien Erweiterungen von uns selbst – des Menschen – sind, dann ist mein Interesse an ihnen vollkommen humanistisch. Alle diese Technologien und die Mechanismen, die sie schaffen, sind zutiefst menschlich.«15 Mit anderen Worten, Menschen sind nicht nur daran beteiligt, einzelne Medien zu schaffen, auch in ihrer Gestaltung, ihrem Einsatz und ihrer möglichen Weiterentwicklung ist menschliches Handeln notwendig und gefordert. Andererseits, und auch darauf weist McLuhan vielfach hin, sind Medien unbewusst – wir hören die Nachrichten im Rundfunk und das Medium Radio einschließlich seiner Zwänge und Begrenzungen bleibt dabei unbewusst; wir unterhalten uns in einem sozialen Medium mit guten Freunden tausende Kilometer entfernt und das Medium Computerprogramm samt seinen Zwängen und Begrenzungen ist nicht im Blick. Die Technik wird Teil unseres Körpers, den wir in der Regel auch nur dann wahrnehmen, wenn er entweder nicht ordnungsgemäß funktioniert oder wir ihm uns bewusst zuwenden. McLuhans ganzes Werk kann als ein Aufruf verstanden werden, sich den medialen Erweiterungen des menschlichen Körpers zuzuwenden und damit wahrzunehmen, was diese Erweiterungen mit uns machen.16 Die gestalttheoretische Grundlage

Ehe wir uns jedoch einem letzten Abschnitt zuwenden, in dem es um den Ertrag der hier dargestellten Überlegungen gehen soll, müssen noch zwei wesentliche Aspekte des Beitrags von Marshall McLuhan kurz Erwähnung finden: McLuhan lebte im 20. Jahrhundert und er sah diese Epoche als eine Zeit des Übergangs. Die Gutenberg Galaxie war zwar an ihr Ende gekommen, aber ältere Wahrnehmungsweisen bleiben bestehen, überleben ihre eigene Gültigkeit. Die Konsequenzen sind deutlich. In seinen Worten (von 1969!): »Unzählige Verwir14

Marshall McLuhan / Quentin Fiore, Das Medium ist Message = The medium is the message [aus dem Amerikanischen übersetzt von Max Nänny], Berlin u. a., 1969, 63. 15 McLuhan/Fiore, Das Medium, 280. 16 Im schon erwähnten Playboy-Interview (S. 37) sagt der Autor von »Understanding media«: »Understanding is half the battle.«

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rungen und ein tiefes Gefühl der Verzweiflung entstehen immer wieder in Zeiten großer technologischer und kultureller Veränderungen. Unser Zeitalter der Angst ist zum großen Teil das Ergebnis des Versuchs, den heutigen Job mit den Werkzeugen von gestern mit den Konzepten von gestern zu erledigen.«17 An anderer Stelle gebraucht er das Bild vom »Rückspiegeldenken«, das die Gegenwart bestimme. Das zeigt sich nicht nur in Begriffen wie »Automobil«, d. h. selbstfahrende (Kutsche) oder Fern-Sehen, sondern auch im Umgang mit diesen Medien, deren revolutionärer Charakter verkannt wird. »Die Chance der Erkenntnis, die die neue Form der Technik bietet, kann nur erfolgreich genutzt werden, wenn die Herausforderung des Neuen auch angenommen wird.«18 An verschiedenen Stellen thematisiert McLuhan selbst, dass die Grundlage seiner Aussage »Das Medium ist die Botschaft« die Gestalttheorie mit ihrer Grunddifferenzierung von Figur und Grund sei. Till Heilmann und Jens Schröter erläutern die Zusammenhänge so:19 Für das gestalttheoretische Figur-Hintergrund-Schema, auf das sich McLuhan an vielen Stellen beruft, ist ein Medium etwas, das hinter die Figur zurücktritt und durch seine Eigenschaftslosigkeit der Figur erlaubt zu erscheinen. Die Figur aber ist nicht ohne Hintergrund oder hervorbringendes Medium zu erkennen. Gemeinsam bilden sie eine Gestalt. Jede Wahrnehmung hat, so die zugrunde liegende These, einen Fokus der Aufmerksamkeit, der Figuren vor einem selbst nicht wahrgenommenen Hintergrund heraushebt. Die Figuren werden erst vor dem diffusen Hintergrund als abgegrenzte Figuren erkennbar, indem sie sich von ihm unterscheiden, aber in diesem Prozess auf ihn angewiesen sind. Der Hintergrund kon-figuriert. Die Unterscheidung von Figur und Hintergrund wird vom Beobachter im Übergang »gemacht«, aber beide Bestandteile müssen gleichzeitig vorhanden sein. Als Hintergrund der Figur »Auto« kann die Infrastruktur der Straßen, der Kfz-Werkstätten und der Tankstellen gedeutet werden (aber auch umgekehrt), und als Hintergrund von Wissen das Nicht-Wissen – was besagt, dass Lernen das Nicht-Wissen verstärkt. Im Prozess der Wahrnehmung oder intellektuellen Erkenntnis ist immer nur eine Seite erkennbar, die zur Figur wird. Man sieht entweder die Schrift oder das Papier. Man erkennt entweder das Medium oder seinen Inhalt. Mit diesen Erläuterungen können wir nun ein erstes Resümee ziehen und nach dem Ertrag McLuhanscher Medientheorie für die milieusensible Kommunikation des Evangeliums fragen.

17

McLuhan/Fiore, Das Medium, 8f. Spahr in Kloock/Spahr, 70. 19 Alle folgenden Zitate aus Till A. Heilmann / Jens Schröter, Medien verstehen: Marshall McLuhans »Understanding Media«, Lüneburg 2017, 43f. 18

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Norbert Schmidt

Ertrag

(1) Entgegen einer Tendenz, Medien auf ihre Nützlichkeit zum Transport einer vorgegebenen Botschaft zu reduzieren, müssen sie »von allen Seiten gleichzeitig betrachtet werden: »A structural approach to a medium means studying its total operation, the milieu it creates – the environment that the telephone or radio or movies or the motorcar created.««20 McLuhan lenkt den Blick darauf, dass Medien ihre Umwelt aktiv gestalten, d. h. auch Milieus sind nicht nur Empfänger, sondern Ergebnis medialer Gestaltung. Und dieses Ergebnis ist nicht etwa statisch, sondern prozesshaft, also in ständigem Wandel begriffen. Milieusensible Kommunikation ist sich dieses Sachverhalts bewusst und reflektiert ihn theologisch. (2) McLuhan rückt die Medien selbst ins Zentrum seiner Untersuchung und zwar nicht in ihrer Funktion als Träger eines Inhalts, sondern in ihrer Wirkung qua Medien. Dabei wird auch deutlich, dass sich der Begriff »Medium« nicht auf klassische Kommunikationskanäle beschränken lässt – Radio, Fernsehen, Internet usw., sondern weiter gefasst werden kann und muss. So darf und muss man im Zusammenhang einer milieusensiblen Kommunikation des Evangeliums auch nach der Botschaft, will heißen Wirkung, von sakralen Bauten, Gegenständen (Kanzel, Altar), Kleidung etc. fragen. Sie alle haben eine – milieuspezifische – Botschaft, die im Einklang oder im Widerspruch zu ihren Inhalten stehen kann. (3) Gemäß der Figur-Grund-Distinktion tut sich der Bedeutungsgehalt jeder Information im Unterschied von Figur und Grund auf. Die Figur – hier ggf. die Kommunikation des Evangeliums – gewinnt Bedeutung auf dem Grund, d. h. dem Kontext, in den hinein sie gesprochen wird. Der Grund entscheidet somit wesentlich über den Bedeutungsgehalt eben jener Information. Der Grund ist aber unsichtbar (sonst wäre er Figur) also auch unbewusst.21 Die Sichtbarmachung des blinden Flecks ist nach McLuhan die Aufgabe des Künstlers, es wäre zu fragen, ob diese Rolle auch durch akademische Arbeit, wie im vorliegenden Fall durch die Milieuforschung, wahrgenommen werden kann. (4) Medien sind Erweiterung des menschlichen Körpers, »verstärken« Funktionen des Körpers und ersetzen sie potenziell oder tatsächlich. Das Mikrofon verstärkt die Stimme, das Auto ersetzt die Füße, die elektrischen Medien schließlich ersetzen dank der durch sie möglichen Überwindung von Raum 20

Schultz in: Alice Lagaay / David Lauer, Medientheorien. Eine philosophische Einführung, Frankfurt u. a. 2004, 65. 21 Vgl. Heilmann/Schröter, Medien, 44: Erst die Differenz zum Grund macht die Figur zur solchen, und diese Grenze kann sich jederzeit verschieben. Der Grund ist nicht einfach passiv oder untergeordnet, sondern steht in zahlreichen Wechselverhältnissen mit der Figur, in die er eingreift. Diese Verhältnisse variieren je nach Situation und sind entsprechend immer wieder neu zusammengesetzt. Der Hintergrund ist der blinde Fleck jeder Wahrnehmung, der zwar konstitutiv ist, aber selbst nicht wahrgenommen werden kann. Wenn ihm die Aufmerksamkeit gilt, ist er kein blinder Fleck mehr.

Mensch und Medium

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und Zeit die Person. McLuhan spricht hier vom diskarnierten Menschen. In den Worten eines seiner Biografen: »Der diskarnierte Mensch, so McLuhan, sei ein elektronischer Mensch, der es gewohnt sei, mit anderen Menschen Hunderte von Kilometern entfernt am Telefon zu sprechen, der gewohnt sei, dass Menschen über den Fernseher in sein Wohnzimmer und sein Nervensystem eindringen. Der diskarnierte Mensch hat die Tatsache absorbiert, dass er durch die Elektronik an vielen verschiedenen Orten gleichzeitig präsent sein konnte, ohne seinen Körper. Sein Selbst war nicht mehr sein physischer Körper, sondern ein Bild oder ein Muster von Informationen, das eine Welt anderer Bilder und anderer Informationsmuster bewohnte.«22

Hier liegt für den gläubigen, zur katholischen Kirche konvertierten Christen Marshall McLuhan die größte Herausforderung. In einem Brief an eine gute Bekannte schrieb er 1973: !Ich habe überhaupt keinen Zweifel, dass Christus Vincit. Deshalb kann ein Christ nicht umhin, sich über die Possen der Weltlinge zu amüsieren, uns ›aufziehen‹ zu wollen. Dies löst jedoch nicht die Frage, welche Art von Strategien literarische Menschen anwenden sollten, um diesen oder jenen Teil der weltlichen Kultur zu einem bestimmten Zeitpunkt zu unterstützen. Muss die christliche Strategie nicht pragmatisch und vorläufig sein? Wenn die gesamte westliche Welt über elektrische Informationen nach innen geht und der gesamte Orient über westliche Hardware und Technologie nach außen, wie ist es dann möglich, Werturteile zu treffen? […] Gegenwärtig, wenn die Möglichkeiten zur Schaffung verschiedener Raum-, Arbeits- und Wohnformen fast unbegrenzt sind, scheint es ein sehr guter Zeitpunkt zu sein, die Vision einer christlichen Kultur oder Stadt auf einen neuen Stand zu bringen.«23

Hier liegt wahrscheinlich die größte Herausforderung aller christlichen Kommunikation, dass sie notwendigerweise eingebunden ist in die medialen Entwicklungen der gesamten Menschheit. Und die Frage ist: Wie kann ein Glaube, in dessen Zentrum die Inkarnation des Gottessohnes steht, dies in einer diskarnierten Medienwelt wirksam bezeugen?

22 23

Philip Marchand, Marshall McLuhan: The Medium and the Messenger, Toronto 1989, 249. McLuhan, Letters, 1988, 467f.

Die mediale Kommunikation des Evangeliums Karsten Kopjar

Mediale Verkündigung im Wandel der Zeit In der Geschichte des Christentums wurde das religiöse Wissen schon immer medial transportiert. Zu jeder Zeit mit den entsprechend zugänglichen Medien. Man denke an Propheten zur Zeit des Alten Testaments, die das, was sie von Gott verstanden haben, durch Sinnbilder, dramatische Darstellungen, Lieder oder Tänze weitergegeben haben. Nach einer vermutlich langen Phase der mündlichen Weitergabe (auch eine gut erzählte Geschichte ist ein Medium) wurden die religiösen Geschichten aufgeschrieben, gesammelt, geordnet, kombiniert und zu geschichtlichen, poetischen und philosophischen Schriften zusammengestellt. Im Judentum sind nach der Kanonbildung dann weitere rabbinische Streitgespräche bzw. im Christentum gesammelte Jesusworte und Evangelien das Medium, durch das die Religion in Form gegossen wurde. Frühe christliche Traditionen wurden in Einzel- und Gemeindebriefen von Paulus und anderen verbreitet und die Gemeinden haben Bibliotheken mit medial fixierten Glaubensinformationen gefüllt.

Individualisierung durch medialen Wandel Der Buchdruck hat das rationale Christentum in Studierstuben gesteckt, die Erfindung von Radio, TV und Kino haben geistliche Inhalte auch in die medialen Gemeinschaftsformen gebracht. Am Ende vereint das Internet die medialen Möglichkeiten aller Zeiten im Kanon der digitalen Medien. Alles ist möglich: Bibeltext online lesen, Kommentare studieren oder die eigene Meinung darzustellen. Bilder des alten Orients, Videos zu biblischen Geschichten, Spielszenen, die geistliche Wahrheiten verdeutlichen und unzählige mediale Diskursformate in Kinofilmen und Hauskreismaterialien. Gleichzeitig ist zu beobachten, dass Menschen, die stark vernetzt leben, in den meisten Fällen nicht aufhören, sich auch physisch zu treffen. Im Gegenteil, wer sich virtuell intensiv kennen lernt, strebt meist eine Realisations-Transformation an und möchte das gegenüber auch mal von Angesicht zu Angesicht treffen. Die Kanalverengung soll aufgebrochen werden. Und E-Learning-Szenarien zeigen, dass nach einem physischen Kontakt der virtuelle Austausch deutlich persönlicher werden kann.1 1

Vgl. Karsten Kopjar, Kommunikation des Evangeliums für die Web-2.0-Generation. Virtuelle Realität als reale Virtualität, Berlin 2013.

Die mediale Kommunikation

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Online – offline – onlife: mediale Realitäten verschwimmen Für viele Zeitgenossen ist eine Form der Kommunikation heute schon normal, die die virtuelle und analoge Realität miteinander verbindet. Schüler treffen sich im Klassenzimmer, chatten auf dem Heimweg, spielen zu Hause gemeinsame Onlinespiele oder skypen, um sich abzusprechen, wo sie abends noch abhängen wollen. Das eine schließt das andere nicht aus. Menschen schöpfen aus der Fülle der medialen Möglichkeiten. Der Mensch-zu-Mensch-Kontakt kann durch mediale Kommunikation sogar gewinnen, weil es leichter fällt, sich in belebten Szenarien zu finden, konkret zu verabreden oder überhaupt mitzubekommen, dass man sich in der Nähe aufhält. Gleichzeitig erleben wir, dass Absprachen unkonkreter werden. Statt Samstag 15 Uhr am Marktplatz-Brunnen verabredet man sich »für Samstag, wir schreiben dann«, um sich Optionen offen zu halten. Denn die digitale Welt bietet so viele Möglichkeiten, dass eine Festlegung (15 Uhr, Marktplatz) ein eventuell kurzfristiges Angebot (z.B. Mittagessen 13 Uhr Hauptbahnhof oder Onlinespiel, sei zu Hause bis 15.30 Uhr) unmöglich machen würde und daher Flexibilität gefragt ist. Flexibel musste man früher auch sein, weil man nicht wusste, dass der Lieblingsitaliener gerade geschlossen hat oder im Urlaub nicht alles digital ausgeschildert war und nur die drei Tipps aus dem Reiseführer bekannt waren. So sah man sich um, entdeckte spontan Dinge und entschied dann, was man tat. Heute scannt man das Netz nach den besten Angeboten, und wer sich wann und wo trifft, wird dem individuellen Ergebnis untergeordnet. Persönliche Glaubensformate stehen hoch im Kurs. Meine Bibellese-App zeigt mir tägliche Texte an, bietet multimediale Inhalte oder regt mich durch getimte Erinnerungen zum Innehalten und getakteten Abschalten an. Es gibt digitale Kirchenführungen statt nur unwissend Oh und Ah zu sagen, und teilweise kann man per Augmented Reality2 einem Gottesdienst beiwohnen, der jetzt gerade gar nicht stattfindet. Das Ego bekommt also geistliche Nahrung nach eigenem Gutdünken oder nach algorithmisch festgelegten Kriterien eines Dienstes. Was macht so eine Individualisierung mit Gemeinschaftsformen des christlichen Glaubens? Warum sollte ich mich festlegen, sonntags um 10 Uhr in einer kalten Kirche zu sitzen, um mit Menschen, die ich kaum kenne, ein Programm zu erleben, das kaum auf mich persönlich zugeschnitten ist? Da entwickelt sich eine Diskrepanz. Eine Antwort können Zielgruppenveranstaltungen und Ausdifferenzierung sein. Aber ein wichtiger Schritt wäre eine Zumutung des anderen, des Fremden, des Ungewohnten. Nur daran kann man sich reiben, kann man reflektieren, kann man wachsen. Und nur so kann man sich als Teil einer Gemeinschaft erleben, in der man etwas Spezifisches einbringen kann, weil man eben anders ist. 2

Augmented Reality, wörtlich: erweiterte Realität, nennt man ein Verfahren, bei dem die analoge Wahrnehmung und Reichweite des Körpers durch digitale »Mittel« erweitert wird.

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Wäre jeder gleich, wäre auch jeder ersetzbar. Und digitale Utopien, die uns in vollständig passenden Blasen aufgehen lassen, lassen am Ende unser Wesen verkümmern.

Geistliche Realität kommunizieren Ebenso wird ein Leben einseitig, das nur noch instant eigene Bedürfnisse befriedigt, statt sich auf andere Menschen und deren Bedürfnisse einzulassen. Bei allem Segen der individuellen Kommunikation bedeutet echte Begegnung auch das Aushandeln gemeinsamer Grundregeln. Fenster auf oder zu. Heizung an oder aus. Musik laut oder leise oder andere. Wer in Gemeinschaft leben möchte, muss lernen, gemeinsame Lösungen zu finden. In der Bibel sprechen zahlreiche Geschichten von geistlicher Gemeinschaft. Auch wenn eine digital optimierte Zielgruppenorientierung jedem Gottesdienstbesucher eigene Beispiele, Übertragungen und Musikstile aussuchen könnte, würde die Gemeinschaft mit der Wolke der Zeugen verloren gehen. Schon heute können viele Jugendkirchen den Schatz alter Choräle nicht mehr würdigen und schneiden sich so von den Erkenntnissen und Glaubensgeschichten voriger Generationen ab. Gleichzeitig führt eine Verweigerung gegenüber aktuellen Kulturformen zu einem Verharren in alten Mustern, die mit dem heutigen Leben teilweise nicht mehr kompatibel sind. Form und Inhalt von Glaubenskommunikation bedingen einander. Wie ich einen Inhalt präsentiere, beeinflusst, wie er wahrgenommen wird. Die Gestalt einer Botschaft hat unglaubliche inhaltliche Konsequenzen.

Ist das Medium wirklich die Botschaft? Der Medientheoretiker Marshall McLuhan hat in den 60er-Jahren das aufkommende Fernsehen kritisch beäugt. Seine Aussage »Das Medium ist die Botschaft« hat Generationen von Medienwissenschaftlern geprägt und wird auch heute noch gerne zitiert. Dabei geht es um keine monokausale Zuschreibung, sondern um das Bewusstsein, dass die Kanalauswahl eine große Auswirkung darauf hat, wie etwas wahrgenommen wird. Ein Lob, eine Kündigung, ein Reisesegen oder eine Kritik können als WhatsApp-Botschaft eine andere Wirkmächtigkeit entfalten als im Vier-Augen-Gespräch, zwischen Tür und Angel, im Videochat oder auf einer Litfasssäule. Und das biblische Evangelium kann ebenfalls sehr unterschiedlich klingen, wenn man es in der Fernsehansprache eines Bundespräsidenten im Fernsehen wahrnimmt oder im persönlichen Zuspruch am Krankenbett. Das bedeutet nicht, dass das eine richtig und das andere falsch wäre, aber dass man sich der Prägbarkeit jeder Nachricht bewusst sein muss, wenn man die volle Bandbreite der Kommunikationsmöglichkeiten zur Auswahl hat.

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Für manche News ist Aktualität wichtig, und sie nicht über einen Messenger zu verschicken, wäre verstörend. Andere Inhalte brauchen eine gründliche Recherche und ein tiefergehender Blogbeitrag am Folgetag ist hilfreicher als der schnelle Tweet einer Behauptung. Optimal kann sogar der Tweet auf spätere FollowUps verweisen und der Hintergrundartikel auf einen Newsticker verweisen, der bereits eine Chronologie vermittelt hat. Welche Nachrichten wollen wir wem sofort mitteilen? Welche Erkenntnisse brauchen den richtigen Kontext, um zu wirken? Und welche durchdachten Erkenntnisse sind so relevant, dass wir sie in gedruckte Bücher stecken, die vom ersten Gedanken bis zur Drucklegung oft mehr als ein Jahr verstreichen lassen? Aktualität ist nicht immer das wichtigste, aber zeitnahe Prozesse werden im täglichen Kampf der Medien oft zum obersten Gebot erklärt. Und ein Glaube, der ritushaft aus jahrtausendealten Quellen schöpft und immer wieder gleiche Inhalte wiederholt, um sie nochmal neu und nochmal anders und ein Stückchen tiefer zu verstehen, läuft einem Zeitgeist entgegen, der heute dies und morgen das nächste zum Hype erklärt. Gleichzeitig werden im internationalen Kontext unterschiedliche Wahrnehmungen der gleichen Werke immer relevanter. Hat man bis zur Moderne noch primär Kunst und Wissen des eigenen Kulturraums konsumiert und allenfalls das Fremdartige als exotisch begutachtet, wird die digitale Wissensgesellschaft der Zukunft global sein. Schon heute kann man per Messenger Nachrichten automatisiert übersetzen lassen, und es gibt Gottesdienstformate, bei denen Menschen gemeinsam ins Gespräch kommen und jeder in seiner Sprache schreiben und lesen kann. Gleichzeitig etablieren sich ikonografische Zeichen, die weltweit verstanden werden, die auch Analphabeten einschließen, die über Musik, emotionale Bilder wirken und das geschriebene oder gesprochene Wort in den Hintergrund treten lassen.

Von Babel nach Jerusalem: Wie der technische Fortschritt die Kommunikation des Evangeliums beeinflusst Die Gesellschaft ist dabei, das Pfingstwunder technisch umzusetzen und die babylonische Zerstreuung aufzuheben. Theologisch kann man das als Chance begrüßen und gute Inhalte für Mainstreamdatenbanken produzieren. Wie schön wäre es, wenn über Alexa, Siri & Co Menschen verlässliche und positive Informationen zum christlichen Glauben finden würden? Wie gut, wenn kranke Menschen digital und vollwertig am Gottesdienst ihrer Heimatgemeinde teilnehmen könnten, und wie erhebend, wenn wir geistliche Erkenntnisse gleichberechtigt teilen könnten, um Menschen aus den Fängen von Sekten zu befreien, weil transparente Informationen zu geistlichen Belangen für alle frei verfügbar sind? Gleichzeitig erleben wir eine Welt, in der die Kommunikation von vielen durch kapitalistische Interessen geleitet wird. Firmen stellen kostenlose Dienste

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zur Verfügung und lassen sich weitgehende Rechte zusprechen, um die Inhalte und Nutzungsgewohnheiten der Nutzer zu analysieren und zu verwerten. Wir werden gläsern, vorhersehbar und manipulierbar. Große Datenmengen in den richtigen Händen könnten eine gerechte Gesellschaft schaffen, in den falschen Händen jedoch auch zu digitaler Sklaverei führen. Genauso, wie gesellschaftlich beide Optionen offenstehen, kann auch geistliches Leben durch digitale Vernetzung profitieren, weil die nahezu unbegrenzten Möglichkeiten eine umfassende Ausübung religiöser Rituale, persönlicher Information und den gemeinsamen Austausch ermöglichen. Gleichzeitig könnte ein System, das perfekte globale Kommunikation für geistliche Belange zur Verfügung stellt, auch umfassend beeinflussen, wer welche Inhalte ausgeliefert bekommt, wer in welcher Realität glaubt und welche Prägung erfährt. Jedes Überangebot an Information führt dazu, dass eine Instanz die Informationen für die Nutzer sortieren muss. Und nach welchen Kriterien das geschieht, ist eine nicht zu unterschätzende politische, geistliche und menschliche Frage. Diese Macht sollte keine einzelne Kirche, Firma oder Regierung haben, sondern jeder Mensch sollte autark bleiben, sich selbst zu informieren und auszuwählen, welche Informationen er senden und bekommen möchte. In diesem Sinn wird ein gewichtiger Beitrag der Kommunikation des Evangeliums in der digitalen Welt auch darin bestehen, geistliche Grundwerte anzuwenden in der Form, wie Menschen weltweit medial kommunizieren. Diese Aufgabe können wir nicht nur den MINT-Wissenschaften3 und auch nicht geschäftlichen Interessen überlassen. Wir müssen geistliche Grundlagen des menschlichen Miteinanders entwickeln, die positiven Aspekte der neuen Möglichkeiten aufnehmen, ohne die Missbrauchsmöglichkeiten zu ignorieren.

Kirchliche Kommunikation der Zukunft Und in der Gemeinde der Zukunft werden digitale Kommunikationsformen mit physischen Hand in Hand gehen. Psalmen, die ja ursprünglich Lieder waren, werden als gesprochenes, gesungenes oder gestaltetes Wort einen Platz finden, während argumentierende Paulustexte eher in Diskussionsplattformen, auf Podien oder in Kleingruppen debattiert werden, um dann Ergebnisse auszutauschen und aneinander zu wachsen. Gemeinden werden vernetzt sein, werden – im positiven Sinne – online sein, aber werden vor allem weiterhin Orte sein, wo Menschen sich treffen, um Kontakt zu anderen Menschen und zu Gott zu suchen. Und diese Gemeinden werden weiterhin zentrale Orte oder Zeiten haben, wo man sich versammelt, wo man gemeinsam bestimmte Rituale vollzieht und gemeinsam feiert. Aber sie werden auch im Alltag der Menschen eine Rolle spielen, weil sie tägliche Begleiter sein können, weil sie Antworten, Anstöße und 3

Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik.

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Argumente nicht nur vor Ort, sondern auch dezentral übers Netz bereitstellen und weil sie virtuelle Orte schaffen, wo man auch onDemand Inhalte abrufen, miteinander erarbeiten und ganzheitlich erleben kann. Geistliche Disziplinen wie Gebet, Bibellese, Bildung, Diskurs und seelische Erbauung sind immer und überall möglich. Manche Formate wirken stärker, wenn sie zeitgleich erfahren werden. Manche leben von bewusster Kanalreduktion, andere von möglichst umfassender Co-Präsenz. Selbstwirksamkeit, Selbstbestätigung, Gruppenidentität. Abschließend ist festzustellen: Für die Kommunikation des Evangeliums sind prinzipiell alle Medien nutzbar. Wer individuelle Stärken und Schwächen kennt, kann souverän auswählen, was im konkreten Fall zielführend ist.

Die mediale Kommunikation des Evangeliums Interview mit Kirchenrat Dan Peter Gesprächspartner: Dan Peter (=DP), Heinzpeter Hempelmann (=HpH)

Welche Bedeutung hat ein Medium für den Inhalt? HpH: Wir wollen das Thema Medien unter dem Gesichtspunkt »Was bedeuten Medien für die Kommunikation des Evangeliums?« behandeln. Warum ist denn das Thema »Medium« überhaupt so wichtig? DP: Es gibt meiner Ansicht nach kein abstraktes Evangelium, sondern es gibt erzähltes, niedergeschriebenes, also komprimiertes Evangelium, z. B. als Glaubensbekenntnis, und es gibt beispielsweise auch gesungenes Evangelium, in dem sich Lebenserfahrungen mit Gott zusammenfassen. Und damit ist auch die Vermittlung des Evangeliums schon von Anfang an an Medien gebunden. Denn Sprache ist das erste und grundlegendste Medium überhaupt. HpH: Würdest du sagen: Es gibt überhaupt keine Kommunikation ohne Medien? DP: Ja, die Vorstellung, dass ich dem anderen etwas vollumfänglich vermittle – das ist eine Illusion. Das Medium spitzt zu, es selektiert, es betont – immer. HpH: Und wie ist das mit dem Heiligen Geist? Ist das nicht derjenige, der die Menschen unmittelbar anspricht? DP: Das glaube ich absolut. Er erreicht die Menschen direkt und unmittelbar. Ich glaube aber auch, dass er dazu die einzelnen Menschen als individuelle Resonanzböden benutzt und quasi als Medien einbezieht. Er wirkt in unterschiedliche Erfahrungshorizonte hinein und erzeugt damit auch unterschiedliche Bilder, Formen, Gestalten von Evangelium. Es ist eben nicht 1:1 deckungsgleich, was er in dir oder in mir erzeugen würde mit dem gleichen Inhalt. Wenn wir nach einer Predigt die Probe machen und fragen, was jeweils – bei derselben Predigt – gehört worden und angekommen ist, kennen wir diesen Effekt schon. HpH: Ist das nicht jetzt aus theologischer Sicht ein Problem zu sagen: Wir müssen uns über Medien Gedanken machen bei der Kommunikation des Evangeliums? Ist der Gedanke nicht viel naheliegender und auch theologisch legitimer zu sagen: Der Heilige Geist wirkt direkt, unabhängig von der Frage, in welcher Situation eine Kommunikation stattfindet? DP: Nun, wir sitzen uns ja auch nicht sprachlos gegenüber, sondern wir treten tatsächlich in einen Dialog, nutzen die Sprache als Medium. Wir haben als

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Christen eine Tradition, die uns lehrt: Christentum, der christliche Glaube, die Evangeliumsvermittlung war von Anfang an medial geprägt. HpH: Also auch schon im Neuen und im Alten Testament? DP: Absolut! Die Briefe sind ja selber ein Testat, dass medial gearbeitet wurde. Die Bibel ist ja nicht als Ganzes gegossen worden, ist auch nicht eine einzige lange Rede, sondern sie besteht aus Büchern, die in einem Sammelband zusammengefasst sind und die vielfach selber wieder auf mündliche Tradition – noch einmal ein anderes Medium – zurückgehen. HpH: Darf ich mir das so vorstellen, dass der Heilige Geist eben seinem Wesen nach sich immer in bestimmte Situation hineinbegibt und die entsprechenden Medien benutzt? DP: Genau, er passt sich den entsprechenden Medien an, aber er nimmt auch die Erfahrungshintergründe von Menschen in Gebrauch.

Gibt es »gute« und »schlechte« Medien für die Kommunikation des Evangeliums? HpH: Er passt sich an die Lebenssituationen an, die daraus entstehen, und auch an die unterschiedlichen Kulturen. Gibt es theologische Kriterien für legitime und nicht-legitime Medien? DP: »Legitim« ist ein sehr juristischer Begriff. Besser ist vielleicht der Begriff der »Angemessenheit«. HpH: Angemessen, gut. DP: Ja, also wenn wir jetzt alle sagen würden: Die Evangeliumsvermittlung geht nur in einem Groß-Kino in der Innenstadt; dann würde ich sagen: Hier haben wir uns furchtbar eingeschränkt. Es gibt aber auch Situationen, in denen ich auch sagen würde: Da schließt sich vielleicht die Evangeliumsvermittlung aus, weil das Medium selber so dominant ist, dass es bestimmte Inhalte schwerer kommunizieren kann. HpH: Ein Beispiel? DP: Es gibt ja auch Medien, die ein Stück weit tabuisiert wurden. Ich nehme jetzt mal das Megafon. Das Megafon und diese etwas schrille Stimmzusammenführung schafft eher eine aggressive Stimmung. Wir sind es von Demos oder Ähnlichem gewohnt. Das mag zu einer bestimmten Zeit sogar eine Möglichkeit

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Gesprächspartner: Dan Peter (=DP), Heinzpeter Hempelmann (=HpH)

gewesen sein, zu mehr als zehn Menschen laut zu sprechen. Heute löst es so viel Antipathie aus, dass die Nähe Gottes sich deutlich schwerer vermittelt. HpH: Weil das Megafon etwa auch etwas Gewaltsames an sich hat? DP: Ja genau. So wie ein früherer Radioton; das hört man ja oft heraus, die Sprecher haben oft mit erhobener Stimme gesprochen, einen bestimmten Sprachduktus gehabt, der uns dann unangenehm ist – und damit wird natürlich auch die Botschaft ein Stück weit korrumpiert. HpH: Also dann gibt es doch schon gewisse Kriterien dafür, welche Medien dem Evangelium eher entsprechen bis ins Technische hinein, und wo wir evtl. zurückhaltend sein müssen? DP: Ja, aber sehr zeit- und situationsbezogen, nicht absolut. HpH: Aber kann man nicht z. B. sagen, dass die Kanzel das zentrale Medium ist, also der Prediger/die Predigerin steht zwischen dem Himmel, dem Wort Gottes auf der einen Seite und dem Kirchenvolk auf der anderen Seite, das dankbar die Worte Gottes empfängt, die durch den Prediger hindurchgehen – also ist die Kanzel und Kanzelrede nicht geradezu das ideale Medium? DP: Ich würde sagen, dass es ein bestimmtes Setting ist, für bestimmte Menschen offensichtlich ein sehr wünschenswertes Setting, nicht zuletzt für den Verkündiger selbst. Aber wenn wir mal die Situation anschauen, hat sich allein dieses Setting in unserer Kultur so dermaßen gewandelt, von einer stehenden Gemeinde, die die Worte zunächst nicht verstand, weil eine andere Sprache gewählt wurde; oder weil sie in der hintersten Kirchenecke vielleicht auch überfordert waren, es akustisch zu verstehen. Wir schauen auch das idealtypisch an, obwohl es nicht immer idealtypisch war. Wir empfinden heute etwas als eine Selbstverständlichkeit und Normalität, was in einer bestimmten Situation auch erst geworden ist.

Sollten sich die Leitmedien wandeln? HpH: Aber der kulturelle Wandel kann ja theologisch nicht unbedingt ein Argument sein. Würden wir dann nicht in eine gewisse Beliebigkeit hineinkommen? DP: Aber die Empfänglichkeit für bestimmte Inhalte hängt schon sehr stark mit bestimmten Settings zusammen. Es gehört doch geradezu zum Wesen Gottes, etwa in der Menschwerdung, in seiner Begleitung des Volkes Israel in alttestamentlicher Zeit, dass er sich auf das jeweilige Setting einlässt; dass er mitgeht.

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HpH: Ja, kannst du dazu noch etwas mehr sagen? DP: Wir haben z. B. auch einen sehr starken Trend zu Hausgemeinden gehabt, in der alten Kirche oder jetzt, zu Hauskreisen, wobei man gemerkt hat: Das häusliche Umfeld, eine vertraute Atmosphäre, eine persönliche Atmosphäre, ein überschaubarer Personenkreis, eröffnen auch ganz andere Möglichkeiten für das Gespräch und dienen auch zur tieferen Durchdringung des Gegenstandes. Für die einen absolut eröffnend, für die anderen eher ausschließend, weil sie sagen: Da bin ich ja schon halb vereinnahmt. Da weiß ich gar nicht, ob ich mich wirklich so ehrlich öffnen kann, während es für die anderen gerade die ehrlichste Situation ist. HpH: Mit deiner Antwort berührst du auch die Milieufrage. Heißt das Ganze: Wir dürfen bestimmte Settings und Medien nicht einfach als allein »richtig« absolut setzen? DP: Genau, und was man gelernt hat im Laufe der Zeit, ist, ganz stark auch den Rezipienten in den Blick zu nehmen und nicht nur sozusagen die idealtypische Situation für denjenigen, der etwas zu verkündigen hat. Es geht darum, dass der Rezipient möglichst viel von der Botschaft an inhaltlichen, an emotionalen Aspekten mitnimmt, aber auch – das ist gerade für die Kommunikation des Evangeliums von der freien Liebe Gottes wichtig – die Möglichkeit hat, sich zurückzuziehen oder anzunähern, mit hoher Freiheit, Distanz und Nähe zu bestimmen; das ist wichtig.

Social Media HpH: Jetzt sind wir ja – Stichwort Moderne – in einer Situation, wo die Social Media für bestimmte Lebenswelten eine dominierende Bedeutung haben. Und wir haben eben schon darüber gesprochen – bestimmte Medien sind dem Evangelium eher angemessen oder eher weniger angemessen. Kannst du dazu etwas sagen? DP: Früher hat man stark unterschieden und z. B. festgestellt, dass es Medien gibt, die den Menschen eine größere Nähe vortäuschen oder sie erzeugen. Radio z. B., sagte man immer, ist Kopf-Kino. Das gesprochene Wort ist einem ganz nah; ähnlich wie beim Telefonieren. Das habe ich in der Seelsorge gelernt. Also das Telefon ist auch ein ganz wichtiges Medium. Radio und Telefon, die praktisch nur übers Ohr gehen, dringen direkt in die Gedanken, das Herz der Menschen. Und deshalb hat man eher das distanziertere Medium – Fernsehen – als etwas gesehen, was angeblich eine größere Distanz und eine stärkere Objektivität hatte. Dann hat man aber gemerkt, dass die Entwicklung der Medien eine konvergente ist. Das Radio gewinnt plötzlich die Bild-Dimension dazu, weil Menschen wissen wollen: Was geht im Studio vor sich? Wie sehen die Sprecher

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Gesprächspartner: Dan Peter (=DP), Heinzpeter Hempelmann (=HpH)

tatsächlich aus? Steckt hinter der tiefen gewaltigen Stimme auch ein großer Mensch oder ist das evtl. ein Menschlein und umgekehrt? Also die Neugier hat auch das Medium verändert. Und beim Fernsehen ist es so geworden: Dadurch, dass in vielen Haushalten das lineare Fernsehen oft den ganzen Tag lief oder auch zum Begleitmedium degradiert oder hochgelobt wurde, z. B. beim Bügeln, hat man gar nicht mehr so sehr nur auf die Bilder geachtet, hat das Gespräch eine immer größere Rolle gewonnen und die behandelten Themen und die verwendete Sprache wurden immer »alltäglicher«. So entstanden immer mehr Talkshows oder Sendungen, bei denen nicht jedes einzelne Bild so wichtig ist. Also da gibt es inzwischen eine gewisse Konvergenz. Und so ist das Fernsehen etwas »näher« geworden und das Radio hat auch andere Dimensionen gewonnen. Man kann ganz einfach sagen: Die Medien wandeln sich. Social Media hat natürlich die Chance, dass ich auch einmal etwas von mir selber zeigen kann. Ich kann in Dialog mit anderen treten, eigene Inhalte (Content) einbringen. Das funktioniert bei linearen Medien, bei den sogenannten Massenmedien, die einen Absender haben und ganz viele Empfänger, so nicht. Da muss man mit einem völlig anderen Medium, zum Beispiel einem Brief oder übers Telefon reagieren. HpH: Also ich versuche zu bündeln: Es gibt nicht einfach das Medium Fernsehen oder Radio, sondern diese Medien verändern ihr Profil, ihre Bedeutung, durch die unterschiedlichen Szenarien, in denen sie eingesetzt werden. DP: Ja, genau. Deshalb verändert man auch die Begrifflichkeit und spricht statt von TV von Bewegtbild oder Video und unterscheidet dann in Bezug auf die Plattformen die linearen (synchronen) und die non-linearen (asynchronen). HpH: Du bist zum Schluss auch auf Social Media nochmal zu sprechen gekommen. Die werden ja von vielen auch sehr, sehr kritisch gesehen. Wie würdest du denn die Möglichkeiten und Chancen auf der einen Seite und die Gefährdungen und Probleme auf der anderen Seite sehen? DP: Das ist natürlich jetzt nicht nur eine Frage, ob Evangelium gut darin verkündet wird oder nicht, sondern es hat ja auch mit der Handlungsweise der Akteure zu tun. Ich kenne Menschen, die ihre gesamte Krankheitsgeschichte sogar in Bildern in den Social Media ausbreiten und dadurch auch Reaktionen provozieren, mit denen sie selber offensichtlich nicht gerechnet haben; zustimmend, ablehnend, manchmal auch bis hin zu sexistischen Kommentaren, die ganz schwierig sind. Oder es gibt auch die Erfahrung, dass Menschen einfach ihren Spott, ihren Hass ausgießen, sodass es richtig kränkend wirkt. Man stößt in den Social Media plötzlich auf alles Mögliche, was im Alltag passieren kann, obwohl man doch in einer Distanz zu dem lebt, was man sieht. HpH: Das hat natürlich auch Bedeutung, wenn es um Christliches und Kirche geht.

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DP: Genau. Dann passiert interessanterweise Ähnliches. Manche schicken nur ein Herz der Zustimmung als Zeichen dafür, dass sie emotional »berührt« wurden. Andere äußern sich sehr kritisch und sagen z. B.: »Ich kann mit dem Pfarrersgewäsch« – das wird ja sehr explizit manchmal – »gar nichts anfangen. Komm mir nur nicht mit Kirche«. Ob das eine Projektion oder echte Erfahrung ist, kann man ja nicht einmal hinterfragen, aber es ist ein Ausgesetzt-Sein, das man eigentlich normalerweise im Alltag in dieser Schärfe und Zuspitzung nicht erlebt. Das wird dann sehr direkt. HpH: Wo würdest du die speziellen Chancen der Social Media sehen, wo die Probleme? DP: Also am Anfang haben die meisten natürlich eine Chance darin gesehen, dass jeder zum Kommunikator, sogar zum Multiplikator des Evangeliums werden kann. Das ist aber auch ein Problem, denn wir erleben ja manchmal auch hahnebüchene »Theologie« in diesem Medium. Umgekehrt haben viele auch die Chance der großen Reichweite zu sehr geringen Kosten gesehen. Das haben aber die Social Media auch ganz schnell wieder abgestellt, indem sie die Reichweite, die Abspielgeschwindigkeit, die Privatsphären usw., wieder neu definiert haben, sodass diese Möglichkeiten, welche für viele Motiv waren, sich hier zu engagieren, es einfach nicht mehr gibt. Aber eins ist geblieben und das halte ich nach wie vor für ein ganz wichtiges Element, dass eben ein Austausch über die Inhalte passiert, dass also wirklich dialogisch kommuniziert wird und so etwas wie eine Gemeinschaft entsteht. Während Medien früher immer einen klar definierten Sender und viele Empfänger oder Rezipienten hatten, können diese Positionen heute schnell wechseln. Denn beide Seiten sind Sender, beide sind Empfänger und es kann echter Dialog auch über unterschiedlichste Inhalte geschehen. HpH: Nun bist du ja im Bereich der württembergischen Landeskirche eigentlich der Hauptverantwortliche für diese ganzen Fragen des Umgangs mit den Medien. Wenn du einen Wunsch frei hättest, in welche Richtung es gehen soll, was würdest du äußern?

Was sollte Kirche anstreben? DP: Es gab sogar eine ganz frühe Festlegung von vielen evangelischen leitenden Persönlichkeiten, die gesagt haben: Das Internet ist evangelisch, das Fernsehen ist katholisch. Das ist eine ziemlich überspitzte Aussage, weil man dadurch sagt: Katholiken arbeiten auch in ihrem Gottesdienstgeschehen sehr bildhaft, auch mit Schönheit, also mit einem sehr positiv belegten Begriff, der sich natürlich auch in einem schön inszenierten Fernsehbild anders ausdrückt, während die evangelische Kirchen immer Kirchen des Wortes sind und mit dem Wort arbeiten. Da hat das Internet völlig neue Möglichkeiten geschaffen, tatsächlich auch

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Gesprächspartner: Dan Peter (=DP), Heinzpeter Hempelmann (=HpH)

im Austausch des Wortes, in der Präzisierung und Klärung von Aussagen. Wenn man nachfragen kann, ist man ja auch manchmal zur Korrektur genötigt, oder zur Zuspitzung an bestimmten Stellen. Ich sehe es offen gestanden nicht so, dass ich das jetzt konfessionell zuordnen würde, aber das Internet ist auf jeden Fall eine Bereicherung, weil es eben Text, Bild, Bewegtbild und Ton, alle relevanten Medienspielarten transportieren kann und durch Social Media sich auch Einzelne mit ihrer Persönlichkeit einbringen, und einen Teil ihrer Persönlichkeit offenlegen können. Das schafft, wenn man das bewusst macht, auch eine neue Form der Offenheit und Ehrlichkeit im medialen Miteinander. HpH: Was wäre also dein konkreter Wunsch? In welche Richtung sollte Kirche oder sollten einzelne Christen gehen? DP: Ich glaube, dass wir im Bereich der Social Media und möglicherweise noch neuerer Medien ganz stark unterwegs sein müssen. Denn dort, wo Menschen miteinander ins Gespräch kommen, da muss Kirche präsent sein. Ich gehe sogar noch weiter, da entsteht Gemeinschaft, Identifikation, Selbstvergewisserung also das, was Kirche ausmacht, eine lebendige Community. HpH: Das heißt von deiner Seite her, die Bitte, die Aufforderung: Mischt euch ein! Beteiligt euch! DP: Ja, auf jeden Fall. Und: Das heißt aber nicht, andere Medien dahinter zurückfallen zu lassen, sondern wir haben ja heute eine Mediennutzung in der Vielfalt. Es ist nicht so, dass irgendein Medium dramatisch an Bedeutung verloren hätte oder bereits verschwunden ist. Radio hat interessanterweise kaum an Bedeutung verloren, sondern es wird anders genutzt. Fernsehen hat auch nicht an Bedeutung verloren, rein von den Einschaltquoten her. Es wird ergänzt oder über andere Endgeräte wahrgenommen. Es ist eher so, dass die mediale Nutzung, die virtuelle Welt und die reale sich so verschränkt haben, dass auch diese künstliche Trennung kaum mehr möglich ist.

Ist Kommunikation auf Augenhöhe und im Dialog legitim? HpH: Ich formuliere jetzt aus einer bewusst konservativen Perspektive nochmal eine Rückfrage: Du hast eben ja auch auf die durchaus problematischen Seiten der Möglichkeit der individuellen, zugespitzten Kommunikation des Evangeliums über Social Media hingewiesen. Man könnte danebenlegen: Ist überhaupt das Dialogische, wo man sich auf Augenhöhe begegnet, und zunächst eine Meinung genau so viel wert ist wie die andere, – ist das nicht auch schon eine Einschränkung des Evangeliums? Oder positiv formuliert: Wäre Kirche nicht gut beraten, sich auf die traditionellen Orte der Kommunikation des Evangeliums mit den traditionell gegebenen Medien zurückzuziehen, weil sie dann nämlich auch für eine gewisse Klarheit und Eindeutigkeit sorgen kann?

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DP: Ich glaube, dass heute kein Kommunikationsgeschehen so isoliert geschieht, dass es eindimensional bleiben kann. Man kann es auch kritisch sehen, dass klassische Medien ein gewisses Machtgefälle konstituiert hatten. Die Augenhöhe zu erreichen, ist mit klassischen Massenmedien, sei es im Druckbereich, sei es im Radio- oder Fernsehbereich, ganz schwer möglich. Das ist auch ein Problem bei der redaktionellen Arbeit, die immer eine Perspektivenverschiebung verursacht; die im Prinzip immer auch nur einen Ausschnitt schafft, während wir in Social Media im Dialog auch Dinge vertiefen können und die Augenhöhe suchen müssen, weil der andere die Freiheit hat und haben muss, sich jederzeit auszudrücken. HpH: Und die Augenhöhe wäre aus deiner Sicht dann etwas, was erstrebenswert wäre? DP: Absolut. Ich bin der festen Überzeugung, dass Evangeliumsverkündigung kein Machtgefälle konstituieren darf. HpH: Dann hätten wir ja ein weiteres theologisches Kriterium. Es geht nicht um die Hierarchie des Gefälles, sondern es geht im Grunde um das Dialogische auf Augenhöhe. DP: Ich denke, dass das Evangelium, zugespitzt der Geist Gottes, sich im Moment der Kommunikation in dem Hörenden einen gleichwertigen Partner schafft. Also derjenige, der hört und etwas aufnimmt, wird automatisch zu einem, der auch über Christus nachdenkt und verhandelt, eine Person, in der Gottes Wort »geschieht«.

Ist das Medium tatsächlich die Botschaft (McLuhan)? HpH: Gehen wir jetzt einfach nochmal auf Marshall McLuhan ein. Ein berühmter Satz des Medientheoretikers Marshall McLuhan lautet: »Das Medium ist die Botschaft.« Haben wir tatsächlich verschiedene Botschaften je nach Medium, das wir benutzen, und wäre das nicht im Grunde auch schon wieder eine Gefährdung des Evangeliums, wenn es durch neue, alternative Medien dann tatsächlich verändert wird? DP: Es steckt viel Wahrheit in dem berühmten Zitat und Buch-Titel von McLuhan, aber ich glaube nicht, dass umfassend erfasst ist, was bei dem Gebrauch von Medien tatsächlich passiert. Jedes Medium trägt in sich gewisse SubBotschaften. Ich gehe mal auf ein Beispiel ein: Der Film »Die Passion Christi«, Regisseur Mel Gibson (2004). Die Passion Jesu kann man ja sehr unterschiedlich verfilmen. Ich kann sehr explizit die Leidensgeschichte darstellen und damit eine bestimmte Wirkung erzielen, indem ich einfach auch ein bestimmtes Filmgenre nachahme und damit vielleicht auch eine bestimmte Kultur bediene. Es

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Gesprächspartner: Dan Peter (=DP), Heinzpeter Hempelmann (=HpH)

war interessant, in welchen Erdteilen diese Passion Christi eine Zustimmung hatte; es waren Erdteile, wo Brutalität oder Tod im Tagesgeschehen noch stärker präsent sind, während europäische Filmer diese Szenen eher vermieden oder ausgeblendet haben, sie mit Wetterereignissen oder wie auch immer kaschiert haben, und damit auch eine Aussage generiert haben. Aber bildgewaltige Szenen sind natürlich eine andere Vermittlung, als wenn ich sage: Christus wurde gekreuzigt zu der und der Stunde; was einfach als Faktum berichtet wird; was sozusagen fast wie in eine Pressemeldung hineinpassen würde; es ist damit sehr print-nah, sehr textkonzentriert; oder ob ich das mit expliziten oder symbolischen Bildern ausmale. In den jeweiligen Medien sind Sub-Botschaften enthalten, Deutungen oder Narrative, die bestimmte Kulturkreise besonders gut ansprechen können. Das ist ja auch eine der Aufgaben in der Verkündigung – das Evangelium tatsächlich zu inkulturieren. HpH: Ja, und wir hatten in Deutschland auch eine ganz starke Diskussion darüber, ob das theologisch legitim sei, was in dieser drastischen Darstellung der Passion Christi rübergekommen ist. Wenn das Medium tatsächlich die Botschaft konstituiert, in dem Fall eben eine bestimmte Regiearbeit, ein bestimmter Stil, eine bestimmte Ästhetik, dann entsteht doch auch hier wieder die Frage: Was ist theologisch richtig, legitim, und wovon müssen wir letzten Endes Abstand nehmen? DP: Für mich ist das eine anthropologische Frage, aber es ist nicht eine primär dogmatische oder eine ethische Frage. Denn in jeder Botschaft kann ich versuchen, Emotionalität z. B. zu reduzieren oder zu verstärken. Und können wir menschliche Geschichten – und das Evangelium hat sich in menschliche Geschichte inkarniert –, wollen wir die tatsächlich so abstrakt machen, als wäre sie dann für alle gültig? Ich glaube, dass das ein zum Scheitern verurteiltes Unterfangen ist. Ich glaube, dass wir immer in irgendeiner Form inkarnieren müssen, und bei manchen Menschen ist es trotzdem einfacher auf einer abstrakteren – ich wähle bewusst den Komparativ – auf einer abstrakteren Ebene das zu tun und bei anderen auf einer sehr expliziten und hochemotionalen Ebene.

Medium: virtuell oder real/»analog«? HpH: Ok, also wir benutzen, was du vorher schon mal gesagt hast, immer ein Medium. DP: Immer. Sprache, Bilder, Vorstellungen, die da sind, auch Erfahrungshintergründe, bilden natürlich ein ganzes Szenario für den Rezipienten. HpH: Du bist eben schon einmal auf die Unterscheidung von virtuell und real zu sprechen gekommen. Wir haben ja zurzeit ganz starke Debatten – oder nicht zurzeit, sondern schon länger – über die Frage: Sind Gottesdienste, die über das

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Internet oder über das Fernsehen passieren, gleichwertig zu solchen, die mit physischer Anwesenheit verbunden sind? Wie stehst du zu dieser konkreten Frage und wie bewertest du die Unterscheidung von virtuell und real? DP: Das ist eine Frage, die wir nie ganz lösen werden. Ich glaube einfach, dass die Grenzen stärker verschwimmen, die Wirklichkeiten sich verflechten. Früher habe ich gedacht, wenn jemand anruft, ist das ja fast ein transzendenter Vorgang, eine andere Wirklichkeit springt hinein und der Mensch ist plötzlich in zwei Realitäten gefangen und man merkt das ja manchmal, dass plötzlich bestimmte Dinge im eigenen Umfeld nicht mehr wahrgenommen werden. Ich glaube aber, dass sich diese Vorgänge – andere Wirklichkeiten aus einem anderen Kontinent, die sich gerade über Medien transportieren, oder aus einer anderen Vorstellungswelt, diese Verschränkung der Wirklichkeiten – für uns immer alltäglicher und damit normaler werden. Es ist so, wie wenn man sich abends am Lagerfeuer eine Geschichte erzählt hat, die Atmosphäre des Feuers und die Geschichte verbinden sich zu einer umfassenden Erfahrung und einer gemeinsamen Emotion, werden zu einer Wirklichkeit verwoben. Also ich schaffe es, in der Straßenbahn mir eine bewegliche Kathedrale auf Zeit zu eröffnen, wenn ich mir einen Kopfhörer aufsetze und möglicherweise eine Predigt oder eine geistliche Musik aus einer Kirche anhöre. Und dann ist trotzdem die S-Bahn, in der ich sitze und höre, das Maß der Dinge, weil sie den Zeithorizont vorgibt. Ein Fahrgast, der mich plötzlich anstupst, ist auch Teil dieser neuen Realität. Ich kann das gar nicht trennen. Digital/virtuell und anlog/real verbinden und durchdringen sich. HpH: Eine Grenze wäre wahrscheinlich dort erreicht, wo es um Brotbrechen/ Abendmahl geht, oder? DP: Das hat man sehr diskutiert: Gibt es sozusagen etwas Idealtypisches oder etwas Falsches? Wir könnten die Diskussion genauso über Wein und Traubensaft führen, über die Art des Brotes etc. Und wir sagen ja gerade, dass eigentlich in dem Moment, wo ich etwas, wo ich eine Situation konstituiere, wo ich das Sakrament ausrufe, das ein »Wortzeichen« (Johannes Brenz) ist. Deshalb ist für mich das Medium nicht die Grenze, die räumlich den einen ausschließt und den anderen einschließt.

Vollwertige Gottesdienste ohne körperliche Präsenz? HpH: Gut, aber es gibt evangelikale Kirchentheoretiker, die sagen: Die physische Präsenz in der Gottesdienstgemeinschaft ist eigentlich unabdingbar – das andere sind allenfalls Hilfskonstruktionen für kranke, bettlägerige Menschen oder solche, die in anderer Weise behindert sind, teilzunehmen.

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Gesprächspartner: Dan Peter (=DP), Heinzpeter Hempelmann (=HpH)

DP: In unserer Welt ist es nicht mehr so, dass ein Ort, an dem ich wohne, konstituiert, wo ich tatsächlich lebe. Freundschaften haben sich längst auch virtuell so entwickelt, dass sie tragfähiger werden; dass sie Vertrauen schaffen und möglicherweise ganz andere Vergemeinschaftungssituationen schaffen. Also vielleicht bin ich dann doch mit denen, die jetzt mit mir zur gleichen Zeit etwas anschauen, sogar enger verbunden – es kann sich ja auch in einem realen Raum ereignen – als mit denen, die sonntags sich an einem bestimmten Ort zu einer gemeinsamen Zeit einfinden. Umgekehrt stärken Messenger wie WhatsApp den familiären Zusammenhalt oder Freundschaften über den Tag hinweg, also zu Zeiten, in denen man sich physisch nicht treffen kann. Ich glaube einfach, dass unsere Gesellschaft, die ganz stark auf Mobilität und einer Vielzahl an Beziehungen basiert; die auch Beziehungen über Arbeit, über andere Verhältnisse schafft, die so vor zehn, zwanzig Jahren noch nicht denkbar waren, – dass die auch neue Formen der Vergemeinschaftung bewirkt. HpH: Das würde dann aber bedeuten, dass – nehmen wir mal das klassische Beispiel eines übertragenen Gottesdienstes, an dem ich teilnehme – auch noch Dialog- und Interaktionsmöglichkeiten beinhalten müsste, damit das Gemeinschaftsgefühl entsteht. DP: Das wäre ein Ideal, und daran arbeiten wir z. B. auch ganz konkret. Wir entwickeln im Moment z. B. Gottesdienst-Apps mit anderen Partnern, mit der Überlegung: Wie kann ich auch hier interaktives Geschehen ermöglichen oder mehr gemeinschaftliche Momente schaffen? Im Gottesdienstfall feiert ja nicht der Pfarrer mit seiner Gemeinde, sondern die ganze Gemeinde feiert den Gottesdienst. Das versuchen wir ein Stück weit in unterschiedliche Möglichkeiten der Beteiligung zu transferieren im virtuellen Raum. Mehr und mehr komme ich aber dabei zur Überzeugung, dass man hier nicht einfach das gewohnte Modell Gottesdienst transferieren kann, sondern sich eher modular herantasten muss und auch neue Kombinationen von Hören, Reden, Beten, Singen, Schweigen, Empfangen usw. entstehen bis hin zum Verständnis von dem, was »Gemeinde« ist und ausmacht.

Ekklesiologische Konsequenzen HpH: Das heißt, wir kommen über das Thema mediale Kommunikation des Evangeliums auch zu ekklesiologischen Konsequenzen letzten Endes – … DP: … absolut … HpH: … – indem wir über neue Formate von Gemeinschaft und Kirche nachdenken?

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DP: Ja. Ich nenne mal ein anderes Beispiel. Da ist jemand, der der Ev. Landeskirche in Württemberg angehört, also ein lutherisches Bekenntnis hat, aber eher reformierte Gottesdienstformen gewohnt ist. Dieser ev. Christ oder diese Christin zieht nach Heidelberg oder Karlsruhe um, also in die badische Landeskirche, eine unierte Kirche, die an manchen Stellen auch ein theologisch anderes Verständnis hat. Obwohl es also manifeste Unterschiede gibt, sind diese für die meisten nicht mehr so wichtig. Virtuell haben wir möglicherweise sogar eine größere Konsistenz, auch in der Theologie – ob das ein Ideal ist, sei ganz dahingestellt. Aber da zeigt sich für mich schon die Fragwürdigkeit einer Haltung, die auf bestimmte Räume und Rahmenbedingungen fixiert ist, die in unserer mobilen Welt einfach ein Stück weit überholt sind.

Megatrend Digitalisierung HpH: Das führt uns zum Stichwort Digitalisierung als oft zitiertem Megatrend. Was bedeutet Digitalisierung für unser Thema und in welcher Weise muss Kirche sich darauf einstellen? DP: Digitalisierung ist natürlich ein Schlagwort, das so viel Unterschiedliches umfasst und beschreibt, dass man erst einmal identifizieren muss, was bei unserer Fragestellung relevant wird: Technische, gesellschaftliche Entwicklungen? Eine virtuelle Instanz, die neues Verbinden, Steuern und Zusammenfügen ermöglicht? Neue Kommunikationsinstrumente oder mobile Endgeräte wie Smartphones? Ein mobiles, überall verfügbares, weltweites Netz? Für mich haben bei Digitalisierung z. B. die Begriffe »Nähe« und »Individualität« eine ganz große Bedeutung, und auch der Begriff der »Konvergenz«. Nähe heißt für mich z. B. – und da sind wir wieder bei diesen dialogischen Strukturen – anders als im klaren Absender-Empfänger-Diskurs, dass ich mit digitalen Medien einen echten Austausch auf Augenhöhe schaffe. Es gibt Risiken, das ist mir bewusst, aber theoretisch ist dieser Austausch und diese dialogische Kommunikation in Vielfalt immer und überall und für jeden ohne Medienbruch möglich. Das zweite ist für mich das Thema der »Konvergenz«. Also wir haben bisher ganz viele Inhalte in irgendeiner Weise erhoben. Jemand bereitet eine Predigt vor, hält sie an einem bestimmten Punkt x. Heutzutage kann jemand eine Predigt schreiben, merkt aber: Ich habe hier einen Spitzensatz; der würde sich auch gut dazu eignen, z. B. mit einem Bild versehen, einfach in meinen Facebook-Auftritt hineingenommen zu werden. Und damit kann ich jemanden für die Predigt interessieren, aber vielleicht mit dem einen Satz auch schon etwas mit auf den Weg geben. Und dann merkt plötzlich ein Dritter: Moment, er hat das jetzt zwar für Facebook gedacht, aber das wäre ein toller Impuls für unseren Hauskreis heute Abend. Wir haben hier sozusagen eine Konvergenz dadurch, dass die Inhalte so aufbereitet sind, dass sie in völlig unterschiedlichen Zusammenhängen auch gestückelt nutzbar werden. Und das ist für mich also im Sinne der Kräfteöko-

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Gesprächspartner: Dan Peter (=DP), Heinzpeter Hempelmann (=HpH)

nomie, aber auch im Sinne der unterschiedlichen Verwendbarkeit eines geistgewirkten Wortes, etwas ganz sensationell Praktisches und Schönes.

Medien und Milieus: der Rezipient muss in den Mittelpunkt rücken HpH: Ja, eine Bereicherung. Es geht ja in unserem Buch »Milieusensible Kommunikation des Evangeliums« auch um das Anliegen der Milieusensibilisierung. Was fällt dir an grundsätzlichen Hinweisen ein, wenn es um das Thema »Medien und Milieus« geht? DP: Man muss nur einmal auf die Fernseh- und Radiosender schauen, die ein Stück weit schon auf eine bestimmte Zielgruppe oder ein Milieu hin ausgerichtet, formatiert werden. Das umfasst nicht nur Sprache, Musik und alle Inhalte, sondern geht bis hin zu »Farbräumen«. Das ZDF nutzt einen anderen Farbabgleich als z. B. RTL. Und wenn schon die Tonalität im wahrsten Sinne des Wortes Unterschiede und auch Sympathie oder Akzeptanz auslöst, einmal ein sachlicher Ton, einmal ein sehr artifizieller Ton, mal ein eher weicher, warmer Farbgrundton, dann muss man sich schon fragen, ob wir tatsächlich mit einer Form der Verkündigung, mit einem bestimmten Setting, wirklich alle Menschen in gleicher Weise erreichen und ansprechen können. Der Rezipient muss in den Mittelpunkt rücken. Und das ist zunächst angesichts der Vielfalt der Menschen eine fast unlösbare Aufgabe. Wie viele Geschmäcker, Haltungen und Kulturen gibt es mitten unter uns? Vier, fünf oder zehn oder hundert? Jeder kennt bestimmte Themen, Haltungen und Geschmacksfragen, die Grenzen plötzlich sichtbar machen oder Barrieren aufrichten. Aber wir können natürlich auch Menschen Zugänge verschaffen, sie mitnehmen, wenn wir bestimmte Inhalte unterschiedlich aufbereiten, darstellen oder erklären. HpH: Kann man sagen, dass die unterschiedlichen Lebenswelten auch unterschiedliche Medien favorisieren und dieselben Medien anders nutzen? DP: Also es fängt ja schon damit an, dass – wenn wir die SINUS-Milieus zugrunde legen – wir Milieus haben, bei denen der Fernseher zu einer ganz bestimmten Zeit angeschaltet und wieder ausgeschaltet wird, und bei anderen ist er immer an oder längst schon durch das Laptop oder Smartphone ersetzt. Und damit ist eine völlig andere Form der Beteiligung, des Zuhörens, des Aufnehmens von Inhalten gegeben. Im einen Fall haben wir einen kontrolliert hochkulturellen Umgang mit dem Medium TV, und im anderen Fall wird der Fernseher zu einem Nebenbei-Medium, das einen begleitet wie eine Lampe und im letzten Fall wird damit auch Zeit unterwegs gefüllt. Die Nutzung von Bewegtbild bringt’s glaube ich am einfachsten auf den Punkt. Man kann jetzt aber auch weiter feststellen, wie es auch sonst ist: Es gibt Menschen, die haben nie ein Theater von innen gesehen und andere möglicherweise nie eine bestimmte Art von Szenelokal. Für uns heute ist in dieser Gesellschaft die Frage zentral: Wo

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kommen Menschen überhaupt noch im öffentlichen Leben vor, und wo können wir sie in ihrer Privatsphäre ein Stück weit mit der christlichen Botschaft und dem Zuspruch des Evangeliums erreichen und ihnen Möglichkeiten der eigenen Erkundung und Auseinandersetzung schaffen? Ich glaube nicht, dass das jetzt heißt, den Fächer wie auch immer umfassend aufzumachen. Das werden wir nicht schaffen, werden wir auch qualitativ nicht hinbekommen. Aber zumindest ein paar Leuchtfeuer sind so zu setzen, dass auch sehr unterschiedliche Menschen in der ganzen Bandbreite der Milieus Zugang finden.

Wohin geht die Reise? HpH: Wohin geht die Reise aus deiner Sicht und wie sollte sich Kirche dann darauf einstellen? DP: Die Reise geht tatsächlich dahin, dass Menschen sehr unterschiedliche Kanäle im weitesten Sinne nutzen. Und zu den Kanälen zähle ich genauso die Tageszeitungen wie bestimmte Social Media. Für uns heißt das, weil wir nicht alles bedienen können, z. B. Inhalte tatsächlich in irgendeiner Weise auch so nutzbar zu machen, dass wir sie auf unterschiedliche Kanäle, unterschiedlich formatiert, ausspielen können. Wir praktizieren das im Bereich der Medienarbeit, aber letztlich lässt sich dieses System auch auf Gemeindearbeit, auf viele andere Formen der kirchlichen Arbeit transferieren. HpH: Im Anschluss daran: Diese von dir als notwendig empfohlene Multimedialisierung der Verkündigung/der Kommunikation des Evangeliums – was bedeutet die für das, was wir unter Kirche verstehen? Könnte da nicht auch die Sorge entstehen, jetzt zerfällt alles? Oder positiv formuliert: Wie können wir denn dann Kirche noch als eine einheitliche Größe denken oder begreifen? DP: Mir fällt auf, dass wir noch viel zu sehr konfessionell und institutionell orientiert sind. Dabei gab es auch in Zeiten, als die konfessionelle Verschiedenheit groß war, den Wunsch nach Einheit in der Verschiedenheit. Ich glaube, dass wir im Moment eine Entwicklung haben hin zu einer Entkonfessionalisierung. bei der wir, selbst in der evangelischen Kirche, unsere Grenzen nicht mehr scharf ziehen können und wollen. Wir integrieren plötzlich ausländische Gemeinden; wir haben Menschen, die – wenn wir sie genau abfragen würden – niemals ganz auf dem Grund unseres Bekenntnisses stehen. Und deshalb ist schon der Wunsch da, nach der Profilschärfung oder dass die Grundelemente und die Kernaussagen des Glaubens besser erkennbar werden, damit wir uns nicht in Nebensächlichkeiten verlieren und nicht nur ethische Themen dominieren. Die Grundaussagen des Glaubens – dazu gehört für mich Leben, Tod und Auferstehung Christi – müssen wieder ganz in den Mittelpunkt gerückt werden. Diese verbinden uns und machen die Einheit der Kirche aus.

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Gesprächspartner: Dan Peter (=DP), Heinzpeter Hempelmann (=HpH)

HpH: Und was ist mit den verschiedenen, sozialen und medialen Räumen, in denen wir unterwegs sind? Ich habe hier meine Facebook-Gruppe, ein anderer geht in den Live-Stream von ICF Zürich am Sonntag-Vormittag. Der dritte guckt die ZDF-Fernseh-Gottesdienste usw. Das alles ist Kirche, haben wir festgestellt. Aber was ist dann noch evangelische Kirche in Württemberg? DP: Ja, das ist eine gute Frage. Ich habe interessanterweise mit einer Pfarrerin, die für Prädikanten zuständig ist, genau diesen Punkt besprochen. Sie hat gesagt, es regt sie mittlerweile selber auf, was für bestimmte Leute ein vollwertiger Gottesdienst – da hat sie noch nicht den Kirchenbegriff gemeint – ist und wann er es umgekehrt nicht wäre. Und sie sagt, sie kennt für sich keine solche Unterscheidung mehr. Für sie ist dort, wo Menschen sich mit dem Evangelium beschäftigen und in irgendeiner Weise in einen Austausch treten, Gottesdienst. Umgekehrt gilt es aber dann auch, diese völlig unterschiedlichen Settings wieder zusammenzufügen. Und da ereignet sich Kirche, um überhaupt dieser umfassenden Aufgabe gerecht zu werden. Vielleicht wird hier die institutionelle Kirche im positiven Sinne Institution, dass sie sich auf das Organisieren beschränkt und erlebt, wie Geschichte, wie Kirche sich ereignet; wie das Christusgeschehen sich auch dank dieser Organisation medial unterschiedlich ereignen und verbinden kann. Es gilt: Nicht die Institution ist die Grundlage dafür, dass das überhaupt geschieht, aber sie hilft durch das Zur-Verfügung-Stellen von Ressourcen entscheidend dabei mit. HpH: Und das würde natürlich dann auch zu einer neuen Rolle des Pfarrers/der Pfarrerin führen. DP: Genau so. HpH: Aber das ist ein Thema für ein andermal. Herzlichen Dank für dieses Perspektiven eröffnende Gespräch.

3 Die temporale Dimension

Meine Zeit steht in deinen (und meinen) Händen: Verständigungsmöglichkeiten von christlichen Zeitkonzepten und moderner Beschleunigungskultur Henning Freund

1 Aus der Zeit gefallen Als Kind wurden mir in meinem evangelikalen Herkunftsmilieu ein sehr spezielles Zeitkonzept vermittelt. Es wurde als »Entrückung«1 bezeichnet und ich verstand es so: Vor der Wiederkunft von Jesus werden von einem Moment auf den anderen sämtliche gläubige Christen aus ihrer lebendigen leiblichen Präsenz von der Erde in den Himmel hinweggeführt. Zurück bleiben auf der Erde nur die, die nicht zu Jesus gehören und die ewige Gottesferne zu erwarten haben. Man kann sicher meine Panik erahnen, als ich einmal völlig unerwarteterweise zu Hause weder meine Eltern noch meine Geschwister vorfand. Sofort fiel mir ein, dass vielleicht die »Entrückung« stattgefunden hat und ich unglücklicherweise zu den Zurückgebliebenen gehöre. Um mich zu vergewissern, ob dies tatsächlich so sei, rief ich meinen besten Freund an, der in die gleiche Gemeinde ging. Freudig nahm ich zur Kenntnis, dass er tatsächlich den Telefonanruf entgegennahm. Nachdem ich ihm mein Anliegen erklärt hatte, meinte er allerdings mit ironischem Unterton, dass seine Präsenz nicht unbedingt als Entwarnung für meine Befürchtung gewertet werden könne. Immerhin könnte es ja sein, 1

Das Zeitkonzept der Entrückung ist in besonderer Weise im 19. Jahrhundert im christlichen Lehrsystem des Dispensationalismus ausgearbeitet worden. Der Dispensationalismus formulierte als wörtliche Auslegung der Bibel eine Lehre von der Abfolge verschiedener Zeitabschnitte göttlichen Eingreifens und menschlicher Prüfung in der Endzeit. Diese besondere Lehre von den letzten Dingen (Eschatologie) gewann zunächst in der Brüderbewegung Kontur, entwickelte sich aber später zu einer verbreiteten Sichtweise in evangelikalen christlichen Gemeinden.

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dass er auch zu den Zurückgebliebenen gehöre. Wie erleichtert war ich, als ich in diesem Moment meine Eltern und Geschwister ins Haus zurückkommen hörte. Als ich Jahrzehnte später katholischen Freunden diese Kindheitsepisode erzählte, schüttelten sie ungläubig den Kopf. Vom Begriff und Konzept einer »Entrückung« hatten sie noch nie etwas gehört. Diese Möglichkeit in einem alles entscheidenden Augenblick aus der gemeinsamen raumzeitlichen Präsenz mit den mir vertrauten Menschen herauszufallen, scheint nicht von allen christlichen Gruppierungen und Milieus in Betracht gezogen zu werden. Um wieviel mehr könnte sie für Menschen, die eine säkulare Weltanschauung mit offener Zukunftskonzeption besitzen, verstörend und befremdlich erscheinen. Dennoch zeigt diese kleine Episode, dass solche Vorstellungen von einem feststehenden und zielgerichteten Zukunftsszenario enorme Auswirkungen auf die psychische Befindlichkeit der Betroffenen, deren Krisenbewältigung und vielleicht sogar auf deren gesamte Lebensführung haben kann.2 Zeithorizonte stehen somit nicht nur für sich allein da, sie haben eine enorme Bedeutung für die Handlungsorientierung und das Selbstverhältnis von Menschen. Gesellschaftlich oder kulturell bedingte Zeitstrukturen wirken sich kognitiv und normativ auf das Individuum aus, »dass das soziale erzeugte individuelle Zeitbewusstsein als sozialer Habitus und gleichsam ›zweite Natur‹ unhintergehbarer Bestandteil der Persönlichkeit« wird.3 Der These, dass Konzepte und Erfahrungen von Zeit sich zwischen verschiedenen (sub)kulturellen Gruppierungen deutlich voneinander unterscheiden können (2), soll im Folgenden nachgegangen werden. Dabei wird den kulturellhistorischen Zeitkonzepten, die der Bibel und deren theologischer Auslegung zugrunde liegen, besondere Aufmerksamkeit geschenkt (3). Diesen christlichen Zeithorizonten werden dann die Zeitstrukturen der säkularen Moderne gegenübergestellt, in enger Orientierung an dem Begriff der Beschleunigung wie er von dem Soziologen Hartmut Rosa entfaltet worden ist (4). Abschließend wird nach den Möglichkeiten der Kommunikation bzw. Verständigung von sich unterscheidenden Zeitkonzepten zwischen kulturellen Gruppen und gesellschaftlichen Milieus gefragt. Dabei stehen Überlegungen im Zentrum, welche Herausforderungen und Chancen bei der Kommunikation von christlichen Zeitkonzepten in der pluralisierten Gegenwartsgesellschaft entstehen (5). Schon an dieser Stelle sei vorsichtshalber darauf hingewiesen, dass die interkulturelle Verständigung über Zeitkonzepte gewisse kommunikative Schwierigkeiten birgt, wie der vielzitierte Satz von Augustinus nahelegt: »Was also ist Zeit? Wenn mich niemand danach fragt, weiß ich es; will ich einem Fragenden es erklären, weiß ich es nicht«.4 2 Christian Zwingmann / Sebastian Murken, Religiosität, Zukunftsbewältigung und Endzeiterwartungen, in: Jens Möller / Bernd Strauß / Silke M. Jürgensen (Hg.), Psychologie und Zukunft. Prognosen, Prophezeiungen, Pläne, Göttingen 2000, 255–278. 3 Hartmut Rosa, Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt am Main 112016. 4 Augustinus, Confessiones 11,14.

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2 Kultur und Zeit Es wurden wiederholt Vorschläge gemacht, Zeitkonzepte als historisch-kulturelle Idealtypen menschlichen Zeitverständnisses zu ordnen. Böhm beispielsweise formuliert als dominante Form des Zeiterlebens die drei Typen Wiederholung, Ewigkeit und Beschleunigung, die er in einem kultur-evolutionären Modell bestimmten Gesellschaftstypen zuordnet.5 In den sogenannten primitiven Gesellschaften der Naturvölker ist die Wiederholung das zentrale Moment der Zeitauffassung. Das primitive Zeitverständnis fügt sich nahtlos in die Zyklen der Natur (Tag/Nacht, Jahreszeiten, Geburt/Tod) ein und wurde deshalb auch schon als zyklische Zeiterfahrung bezeichnet.6 Die Repetition durchdringt als zentrales Gestaltungsprinzip in Spiel, Ritual und Geschichtsbewusstsein das gesamte gesellschaftliche Leben dieser Kulturen. Anstelle der uns so geläufigen Unterscheidung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft drückt sich in der Wiederholung eine Verdichtung aus, die gleichzeitig auf die Zukunft vor- und auf die Vergangenheit zurückgreift. Mit dem Begriff Ewigkeit typisiert Böhm die Zeitauffassung archaischer Hochkulturen wie beispielsweise Ägypten oder Mesopotamien. Die Machtfülle ihrer Herrscher besitzt nicht nur eine territoriale Dimension, sondern verlangt auch nach einem zeitlichen Erweiterungsraum. Das Jenseits wird als eine einfache Fortsetzung des Diesseits verstanden und das Denken einer Ewigkeit ermöglicht den Fortbestand eines dynastischen Herrschaftsanspruchs. Mit der Vorstellung von Ewigkeit ist aber auch die Möglichkeit eines eschatologischen Denkens verknüpft, dass die Krisen der Gegenwart bewältigbar macht: »Aktuelle Jetzt-Zeit bedeutet dann noch nicht vollkommene Zeit, denn nur im Lichte einer sinnstiftenden Zielgewissheit, die in der Ewigkeit liegt, wird die Entlastung der Gegenwart möglich.«7

Unter dem Gesichtspunkt der Beschleunigung lassen sich die Zeiterfahrungen neuzeitlicher Gesellschaften verstehen. Zum einen werden Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als separate Kategorien einer reflexiven Zuwendung zugänglich. Die Zukunft kann geplant, die Gegenwart im achtsamen Moment gespürt und die Vergangenheit historisch erforscht werden. Die technischen Möglichkeiten der Zeitmessung erlaubten eine Quantifizierung und Operationalisierung von Zeiteinheiten, die zu einer Linearität von Zeiterfahrung beitragen. Andere Forscher sprechen deshalb auch von einem linearen Zeitkonzept.8 Zum anderen kommt durch Geldökonomie, zunehmende Mobilität und die technische Entwicklung eine ständige Bewegtheit ins Bewusstsein, die letztend5

Thomas Böhm, Art. Zeit, in: Hubert Cancik / Burkhard Gladigow / Karl-Heinz Kohl (Hg.), Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe 5, Stuttgart 2001, 397–409. 6 Joel M. Halpern / T. Laird Christie, Time: A Tripartite Sociotemporal Model, in: J.T. Fraser (Hg.), Dimensions of Time, Madison 1995, 187–198. 7 Böhm, Zeit, 405. 8 Halpern/Christie, Time.

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lich vom Individuum als zeitliche Beschleunigung erfahren wird. Der Philosoph Karl Löwith hat die These vertreten, dass das lineare Zeitkonzept und der Fortschrittsgedanke der westlichen Moderne wesentlich in der jüdisch-christlichen Zeitauffassung wurzelt.9 Die Erwartung eines zukünftigen Gottesreiches und die Etablierung einer linear angelegten Heilsgeschichte werden in dieser Sichtweise als Wegbereiter von modernem Fortschrittsglauben und säkularen Gesellschaftsutopien gewertet. Fugmann macht darauf aufmerksam, dass wir in der Moderne aber auch immer ein Nebeneinander alle drei Zeitauffassungen Wiederholung, Ewigkeit und Beschleunigung vorfinden können.10 Diese Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigem ist als eine zunehmende Pluralisierung von Zeitauffassungen in den verschiedenen Lebenswelten und Milieus unserer Gesellschaft zu verstehen.11 Mit den gesellschaftlichen Trends der Moderne wie soziale Arbeitsteilung, funktionale Differenzierung und Individualisierung nimmt auch die Varianz der Zeitauffassungen zu. Eine etwas andere »Landkarte der Zeit« hat der amerikanische Sozialpsychologe Robert Levine aufgrund einer kulturvergleichenden empirischen Untersuchung zum Lebenstempo in 31 Ländern der Erde gezeichnet.12 Im Unterschied zum oben dargestellten diachronen Zeitmodell von Böhm im Sinne einer Kulturevolution geht Levine von einer synchronen Verteilung unterschiedlicher Zeitkulturen in verschiedenen Regionen unserer gegenwärtigen Welt aus. Er unterscheidet zwischen Kulturen, die von der Uhrzeit geprägt sind, von Ereigniszeitkulturen. Uhrzeitkulturen finden sich nach Levine in nordamerikanischen und westeuropäischen Ländern. Sie betrachten Zeit als feste, lineare und messbare Größe, die eine maßgebliche Rolle bei der Strukturierung des Alltags und der zwischenmenschlichen Umgangsformen spielt. Die Planung des Anfangs und eines definierten Endes einer Aktivität ist von Bedeutung. Pünktlichkeit, das Ausnutzen von Zeit, der Vorrang von persönlicher Leistung vor persönlichen Beziehungen und die Verknüpfung »Zeit ist Geld« stellen wichtige Werte der Uhrzeitkulturen dar. In Ereigniszeitkulturen wird Zeit als flexibler und ungewisser wahrgenommen. Sie orientieren sich an gesellschaftlichen Ereignissen und den Zyklen bzw. Rhythmen der Natur. »Wenn die Ereigniszeit dominiert, wird der Zeitplan von den Aktivitäten bestimmt. Ereignisse beginnen und enden, wenn die Teilnehmer im gegenseitigen Einverständnis ›das Gefühl haben‹, dass die Zeit jetzt richtig ist.«13

9

Karl Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie, Stuttgart 1953. 10 Haringke Fugmann, Woher und Wohin? Auch unsere Zeitvorstellungen sind zeitbedingt, Psychotherapie und Seelsorge (01/2018), 15. 11 Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main 1989. 12 Robert V. Levine, Eine Landkarte der Zeit. Wie Kulturen mit Zeit umgehen, München 2001. 13 Levine, Landkarte, 127.

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Levine lokalisiert diese Zeitkultur in nicht westlich geprägten Territorien hauptsächlich außerhalb von Westeuropa und Nordamerika. Er vertritt also die These, dass sich Kulturen in ihrem jeweiligen Zeitverständnis deutlich voneinander abheben können. Diese kulturvergleichende Perspektive fokussiert die Vielfalt der Zeitrhythmen und Zeitdynamiken und die damit verbundenen Lebensstile.14 Zeiterleben scheint also kulturell überformt zu sein, sodass von kulturspezifischen Modi der Relation des Menschen zur Zeit ausgegangen werden kann.15 Umgekehrt gesehen prägen Zeitkonzepte aber auch kulturelle Lebensweisen und -welten, worauf Begriffe wie Uhrzeitkulturen oder Beschleunigungskultur hinweisen. In dieser kulturellen Unterschiedlichkeit von Zeitkonzepten spielt der Einfluss von Religion eine bedeutsame Rolle. Sie können als Strategien der Zeitordnung verstanden werden, die »Orientierung in dem zeitlich-vergänglichen Verlaufe der Welt für individuelles und kollektives Handeln und Denken« stiften.16 In den heiligen Schriften der Weltreligionen finden sich meist implizite und seltener explizite Thematisierung von Zeitkonzepten. Bei den antiken Philosophen und den Kirchenlehrern des Mittelalters ist erstmals eine reflexive Zuwendung zur Zeitthematik zu beobachten. Erst in der Moderne ist daraus aber eine Reflexion der kulturell-gesellschaftlichen Bedingtheit von Zeit geworden.

3 Zeitkonzepte im christlichen Kontext Wenn wir die Texte des Alten (AT) und Neuen Testaments (NT) in der Bibel als historisch eingebettet und kulturell geprägt betrachten, dann stellt sich die Frage, welche Konzepte und Vorstellungen von Zeit sie transportieren. In der biblisch-hebräischem Zeitvorstellung ist die Schöpfung der Welt der zentrale Bezugspunkt, von dem Zeitlängen (z. B. Tag und Nacht) und Zeitstrukturen (z. B. der siebte Tag als Ruhetag) abgeleitet werden.17 In der griechischen Übersetzung des AT (Septuaginta) finden die beiden Begriffe καιρός (kairos) und χρόνος (chronos) Verwendung. Der καιρός (kairos) wird gemeinhin als der günstige oder kritische Augenblick verstanden, der aus dem unablässigen Zeitstrom oder den Zyklen der Natur (χρόνος [chronos]) schicksalhaft herausragt. καιρός (kairos) bezeichnet deshalb auch die Momente, in denen Gott sich dem Menschen in besonderer Weise zuwendet. Im NT ist damit besonders die heilsge14

Gerald Hartung, Mensch und Zeit – zur Einführung, in: ders. (Hg.), Mensch und Zeit, Wiesbaden 2015, 7–22. 15 Philipp Seitz, Zwischen Europa und Afrika. Zur Synchronisierung kultureller Zeiten am Beispiel der christlichen Missionierung Afrikas, in: Gerald Hartung (Hg.), Mensch und Zeit, Wiesbaden 2015, 267–289. 16 Jürgen Mohn, Art. Zeit/Zeitvorstellungen, I. Religionswissenschaftlich, in: Religion in Geschichte und Gegenwart 8, 42005, 1800–1802. 17 Kurt Koch, Art. Zeit/Zeitvorstellungen, II. Altes Testament, in: Religion in Geschichte und Gegenwart 8, 42005, 1802f.

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schichtlich bedeutsame Menschwerdung Gottes durch Jesus Christus angesprochen.18 Die in den späten AT-Schriften formulierte Erwartung einer zukünftigen Heilszeit finden darin eine Erfüllung (Gal 4,4: »Als die Zeit erfüllt war…«). Ähnlich wie in den archaischen Hochkulturen findet sich auch im biblischen Israel eine auf die Ewigkeit ausgerichtete Zeitauffassung. Mit der häufigen alttestamentlichen Redewendung »von Ewigkeit zu Ewigkeit« ist ein sich unermesslich erstreckender Zeitraum in Vergangenheit und Gegenwart bezeichnet. Damit ist vor allem die Souveränität der Herrschaft Gottes über alles Zeitliche gemeint und nicht eine Hoffnung auf ein vom Diesseits deutlich abgegrenztes Jenseits. Im NT kommt noch eine zweite Bedeutungsebene von Ewigkeit hinzu: Die Erwartung eines kommenden Weltzeitalters, in dem die irdischen Charakteristika von Tod, Leid und Sünde überwunden sind. Die Zeiterfahrung des Urchristentums war geprägt von der Naherwartung der Wiederkunft Jesu (Parusie), mit dem Bewusstsein, auf Abruf in einer Endzeit zu leben. Diese eschatologische Ausrichtung mit Spekulationen über die zeitliche Ereignisabfolge der Apokalypse bewegte immer wieder einzelne Gruppierungen in der Geschichte der christlichen Kirche (Chiliasmus). Augustinus (354–430) hat als erster christlicher Theologe das biblische Zeitkonzept wegweisend reflektiert und in der Zeit-Ewigkeits-Diskussion Position bezogen. Dabei stellte er fest, dass die Zeit Teil der Schöpfung Gottes ist und nicht etwa im Sinne eines schon immer Dagewesenen einen von Gott unabhängigen Status hat. Das Attribut ewig hingegen gebühre allein Gott, als Souverän über Zeit und Lauf der Welt. Während die Theologen des Mittelalters sich bei ihren Reflexionen über das Zeitproblem immer auf die eine oder andere philosophische Tradition Bezug genommen haben, sieht dies bei Martin Luther ganz anders aus. Er versuchte weniger Vernunftgründe, als vielmehr rein binnentheologische Perspektiven beim Sprechen über das Verhältnis von Zeit, Ewigkeit und Schöpfung gelten zu lassen. Wolfgang Achnter führt dazu aus: »Zeit ist für Luther streng biblisch-theologisch gedacht der Möglichkeitsraum des schöpferischen Gottes in seiner creatio continua. Die Schöpfung wie auch der Mensch und damit ihre je spezifischen Zeiten sind unter dieser theologischen Perspektive noch nicht fertig, sie sind Gegenstand beständiger, täglicher schöpferischer Aktivität Gottes und damit neuer Zeiten.«19

Spätere christliche Theologen haben ebenfalls über das Verhältnis von Zeit und Ewigkeit nachgedacht. Dabei ist eine Tendenz von der dualistischen Verhältnisbestimmung Augustins hin zu einem dialektischen Verhältnis bei Sören Kierkegaard und Karl Barth zu beobachten. Barth beispielsweise betont die Mög-

18

Rolf Hille, Art. Zeit und Ewigkeit, in: Evangelisches Lexikon für Theologie und Gemeinde 3, 1994, 2201–2205. 19 Wolfgang Achtner, Gott als Schöpfer der Zeit und die Grenzen zeitlichen Sprechens von Gott, in: Matthias Petzoldt (Hg.), Theologie im Gespräch mit empirischen Wissenschaften, Leipzig 2012, 315–373, 332.

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lichkeit der Begegnung von irdischer Zeit und göttlicher Ewigkeit durch die Menschwerdung Jesu Christi.

4 Beschleunigung als dominante Zeiterfahrung der Moderne Wir haben bereits die These von der Beschleunigung als prägender Zeiterfahrung neuzeitlicher Gesellschaften zur Kenntnis genommen und den Begriff der westlich geprägten modernen Uhrzeitkulturen kennengelernt (2). Der Soziologe Hartmut Rosa bestätigt, dass die Temporalstrukturen der Moderne vor allem im Zeichen der Beschleunigung stehen. In einer wegweisenden Studie aus dem Jahr 2005 hat er versucht, die der Beschleunigungserfahrung zugrundeliegenden sozialen Prozesse und Logiken zu entschlüsseln. Er spricht von einer Beschleunigung durch technischen Fortschritt, die sich eigentlich als Zeitersparnis für viele Menschen auswirken könnte. Paradoxerweise ist es aber tatsächlich nicht zu einer Entschleunigung, sondern zu einer Beschleunigung des allgemeinen Lebenstempos gekommen, die sich in einem Gefühl der enormen Zeitverknappung bemerkbar macht. Parallel dazu diagnostiziert er eine Beschleunigung der sozialen und kulturellen Veränderungsraten. Der Wert seiner Studie liegt darin zu zeigen, wie das komplexe Wechselspiel dieser drei Beschleunigungsaspekte zu einer krisenhaften Erfahrung von Zeit in der modernen Gesellschaft geführt hat. Interessanterweise identifiziert Hartmut Rosa eine konfessionelle Strömung des Christentums als wichtigen kulturellen Motor der Beschleunigungsbewegung. Er beruft sich dabei auf die klassische Studie des deutschen Soziologen Max Weber zur protestantischen Arbeitsethik.20 Diese attestierte besonders dem Calvinismus einen wesentlichen Beitrag zum Aufstieg einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung. Die calvinistische Prädestinationslehre habe die Kombination von wirtschaftlichem Erfolg und asketischer Lebensführung als Versicherungsstrategie für die quälende Frage nach der Teilhabe am ewigen Heil propagiert. Daraus resultiere eine doppelte Zeitethik mit dem Verbot von Zeitverschwendung und dem Gebot, die zur Verfügung stehende Zeit effizient zu nutzen. Über den Calvinismus hinaus sieht Weber den Primat der Arbeit und die Steigerung der Effizienz als Grundpfeiler einer allgemeinen Zeitökonomie des Protestantismus. Weber weist in diesem Zusammenhang auf ein Paradoxon hin: Obwohl die protestantische Erwerbsethik zu einer maximalen Akkumulation von Reichtum führe, sei aber der Genuss der Annehmlichkeiten dieser Prosperität durch ein puritanisches Askeseideal verpönt. Mit der zunehmenden Säkularisierung westlicher Gesellschaften wurde das kapitalistische Zeitkonzept auch ohne transzendenten Überbau fortgeführt. Die eschatologischen Hoffnungen des christlichen Glaubens (erwartetes Ende der Weltzeit durch die Wiederkunft Jesu und das Jüngste Gericht) machte einer ungerichteten offenen Zukunft Platz. Die damit verbundenen Ängste und Unsi20

Max Weber, Die protestantische Ethik I. Eine Aufsatzsammlung, Gütersloh 1991.

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cherheiten verlangen nach einer Anpassungsleistung. In Anlehnung an Deutschmann21 vermutet Rosa, dass »Geld (als gleichsam geronnene Zeit) in der säkularisierten kapitalistischen Gesellschaft eine religiöse Ersatzfunktion [gewinnt], indem es als Kontingenzbewältiger an die Stelle Gottes tritt. Angesichts der fundamentalen Ungewissheit der Zukunft verspricht nicht mehr die Hinwendung zu einem gegenüber den Kontingenzen eingriffsmächtigen und rückversichernden Gott Beruhigung […], sondern als funktionales Äquivalent dafür dient nun die Vorstellung, dass das Verfügen über eine möglichst große Geld- und Optionsmenge es erlaube, auf zukünftige Kontingenzen, d.h. neue Bedürfnisse und neue Bedrohungslagen, angemessen reagieren zu können.«22

Mit dem Verzicht auf die Annahme eines ewigen Lebens in der säkularisierten Moderne kommt dem Tod eine endgültige Bedeutung zu. Während nach Rosa im christlichen Glauben die Weltzeit (d. h. der gesamte Zeithorizont bestehend aus dem irdischen Dasein und der Ewigkeit) mit der Lebensspanne eines Menschen identisch ist, fallen mit der Verabschiedung vom Gedanken an ein Leben nach dem Tod Welt- und Lebenszeit auseinander. Eine mögliche Antwort auf diese finale Grenze ist die beschleunigte Auskostung der Lebenszeit durch das Wahrnehmen möglichst vieler Optionen: »Daraus ergibt sich als neuzeitliches Lebens- und Zeitideal, dass das gute Leben das erfüllte Leben sei, das darin besteht, möglichst viel von dem, was die Welt zu bieten hat, auszukosten und möglichst umfassend von ihren Angeboten Gebrauch zu machen.«23

Diese Steigerungslogik der Glücks- und Optionenausschöpfung ist enorm prägend für die Zeitkonzeptionen- und pathologien der modernen säkularen Kultur geworden. Sie äußert sich vermehrt in einer Erfahrung der Verknappung und Verdichtung von Zeit, die letztlich als Zeitnot und Beschleunigungsstress erlebt wird. Der französische Soziologe Alain Ehrenberg hat in diesem Zusammenhang den Begriff »Das erschöpfte Selbst«24 geprägt und macht diese Dynamik der maximalen Auskostung von Möglichkeiten und der eigenverantwortlichen Optionswahl für die epidemische Ausprägung von depressiven Erkrankungen verantwortlich.

5 Verständigung von Zeitkonzepten des christlichen Glaubens und der säkularen Moderne Bei der Gegenüberstellung von Zeitvorstellungen aus dem christlichen Kontext (3) mit den Zeitkonzepten neuzeitlicher säkularer Gesellschaften (4) fallen deut21

Christoph Deutschmann, Die Verheißung des absoluten Reichtums. Zur religiösen Natur des Kapitalismus, Frankfurt am Main 1999. 22 Rosa, Beschleunigung, 285. 23 Rosa, Beschleunigung, 290. 24 Alain Ehrenberg, Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart, Frankfurt am Main 2008.

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lich mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten auf. Während die Beschleunigung als dominante Zeiterfahrung der Moderne gelten kann, sind die Zeitvorstellungen der Bibel zum einen vor dem Horizont der Ewigkeit und zum anderen vom Begriff des kairos her zu verstehen. Das Zeitkonzept der Ewigkeit ist als geschlossene Zukunftsidee mit einem festgelegten Geschichtstelos zu verstehen. Das Eingreifen Gottes in diese Welt ist durch die schon geschehene Menschwerdung Gottes in seinem Sohn Jesus Christus und die noch erwartete Wiederkunft Jesu als wesentliche Ereignisse bestimmt. Davon unterscheidet sich die offene und unbestimmte Zukunftsperspektive der säkularen Moderne, die mit dem Tod eines einzelnen Menschen einen individuellen und finalen Abschluss findet. Lediglich die kirchengeschichtlich bedeutsame Strömung der protestantischen Zeit- und Arbeitsethik lässt sich als Wurzel der neuzeitlichen Beschleunigungsdynamiken finden. Insgesamt kann man von kulturell recht unterschiedlichen Zeitkonzepten der biblischen Botschaft im Vergleich mit der westlich geprägten modernen Gegenwartsgesellschaft sprechen. Nach dieser Diagnose vom Auseinanderfallen säkularer und christlicher Zeitkonzepte stellt sich die Frage, wie Verständigungs- und Kommunikationsprozesse zwischen diesen beiden Zeitkulturen aussehen könnten. Hier können wir auf den Begriff des »Dritten Raumes« als Verständigungsmetapher zur kultursensiblen Kommunikation von Zeitvorstellungen zurückgreifen. Der »Dritte Raum« ist eine Metapher des indischen Kulturwissenschaftlers Homi Bhabha, die den imaginären Begegnungsort zwischen verschiedenen Kulturen im postkolonialistischen Zeitalter bezeichnet.25 In diesem Übergangraum können unterschiedliche kulturelle Konzepte, Vorstellungen und Bedeutungen verhandelt werden. Dabei können sich Differenzen ohne Hierarchisierung begegnen und in Diskussion kommen. »Im Prozess des Mitteilens und des Austauschs lösen sich die Grenzen zwischen dem ›Eigenen‹ und dem ›Fremden‹ vorübergehend auf, so dass es zu einer Vermischung, einer möglicherweise auch chaotischen und nicht sofort überschaubaren Vielfalt kultureller Zugehörigkeiten und Bedeutungen kommt.«26

Der Theologe Phillip Seitz beispielsweise nutzt das erwähnte Konzept des »Dritten Raumes« um die Synchronisation kultureller Zeitkonzepte am Beispiel der christlichen Missionierung Afrikas zu beschreiben.27 Dabei zeigt er, wie christlich-westliche Strukturen der Zeiterfahrung im Rahmen von Bibelübersetzungen und konkreten alltäglichen Praktiken von afrikanischen Gesellschaften verhandelt und neu angeeignet werden. Zentrale Aspekte des christlich-biblischen Zeitverständnisses sind der Beginn der Zeit in Gottes Schöpfung, der kairos der Zuwendung Gottes durch die 25

Homi K. Bhabha, Die Verortung der Kultur, Tübingen 2000. Maya Nadig, Transkulturelle Spannungsfelder in der Migration und ihre Erforschung, in: Ernestine Wohlfart / Manfred Zaumseil, Transkulturelle Psychiatrie – Interkulturelle Psychotherapie. Interdisziplinäre Theorie und Praxis, Heidelberg 2006, 67–80. 27 Seitz, Zwischen Europa und Afrika. 26

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Menschwerdung Jesu und der zukünftige Ablauf der Heilsgeschichte Gottes. Als Gemeinsamkeit dieser theologischen Zeitkonzepte lässt sich der schon von Augustinus geäußerte Gedanken von Gott als Schöpfer und Herrn über die Zeit (Kap. 3) ausmachen. Die Kernaussage des christlichen Glaubens zur Zeit ist sehr prägnant in Psalm 31,16 mit der Weisheit »Meine Zeit steht in deinen Händen« zusammengefasst. Dieser Gedanke könnte sich sehr heilsam auf die Pathologien und Deformationen der modernen säkularen Beschleunigungskultur auswirken. Gerade deren Kompensationsstrategie »das Leben als letzte Gelegenheit«28 ausnutzen zu müssen, zeitigt die von Hartmut Rosa diagnostizierten Pathologien wie »rasender Stillstand«, Zeitstress, Burnout und Depressionen. An genau diesem Punkt können christliche Zeitkonzepte in den Dialog mit den Akteuren der Beschleunigungskultur eintreten. Diese können zu einem bewusst veränderten Umgang mit der Zeit angeregt werden, für den die christliche Tradition mit vielen rituellen Formen und Zeitrhythmen einen großen strukturgebenden Schatz besitzt.29 Dazu gehört der liturgische Rhythmus des Kirchenjahrs mit seinen Festen ebenso wie die Unterbrechung der Arbeitswoche durch den Sonntag. So sieht Hartmut Rosa als Reaktion auf die moderne Beschleunigungsdynamik auch Phänomene der »intentionalen Entschleunigung«30, bei denen Menschen sich aktiv für Erholungsphasen, Ruhepausen und Auszeiten entscheiden. Diese finden sich interessanterweise besonders häufig in Form von religiösen Ritualen und spirituellen Erfahrungen. Rosa verweist dabei auf den gegenwärtigen Boom von Auszeiten im Kloster und auf Pilgerreisen Er hält es für möglich, dass dieser intentionale Entschleunigungstrend zur dominanten Gegenbewegung des 21. Jahrhunderts werden könnte. Ähnlich argumentiert auch Marianne Gronemeyer, wenn sie als Gegenmittel Formen »radikaler Vergegenwärtigung« vorschlägt.31 Treffender könnte man den anhaltenden Boom des buddhistisch geprägten Achtsamkeitskonzeptes in Psychotherapie und Lifestyle nicht beschreiben.32 Doch lässt sich Achtsamkeit auch im Lichte der biblischen Botschaft und christlicher spiritueller Traditionen verstehen. Klemens Schaupp interpretiert in diesem Sinne Achtsamkeit als »ein Loslassen, ein Sichfrei-Machen, um sehen zu lernen, wodurch wir beschenkt wurden (Vergangenheit), und vertrauen zu lernen (Zukunft)«.33 Der christliche Glaube vermag auf diese Fragen nach dem Geber aller Gaben und die Frage, auf wen wir in Zukunft vertrauen können, eindeutige Antworten zu geben. Insgesamt gesehen können 28 Marianne Gronemeyer, Das Leben als letzte Gelegenheit. Sicherheitsbedürfnisse und Zeitknappheit, Darmstadt 1993. 29 Ulrike Schorn, Rhythmus des Jahres – Rhythmus des Glaubens. Was unserem Leben Struktur gab und gibt, Psychotherapie und Seelsorge (01/2018), 10–14. 30 Rosa, Beschleunigung, 146f. 31 Gronemeyer, Das Leben als letzte Gelegenheit. 32 Henning Freund / Michael Utsch (Hg.), Achtsamkeit aus psychologischer und theologischer Sicht (EZW-Texte Nr. 235), Berlin 2015. 33 Klemens Schaupp, Das Konzept der Achtsamkeit aus christlicher Perspektive, in: Freund/ Utsch (Hg.), Achtsamkeit, 40–49, 49.

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christliche Zeitkonzepte zur Ausbildung eines kritischen Zeitbewusstseins beitragen, das gerade durch den Transzendenzbezug zu einer Wiedergewinnung eines humanen Umgangs mit der Zeit anleiten kann.34 Umgekehrt könnte aber auch die Beschleunigungskultur interessante Denkanstöße für christliche Zeitkonzepte geben. Zwei bereits in diesem Text angeklungene Aspekte seien dazu kurz erwähnt. Zum einen wäre der protestantischen Tradition ein Spiegel vorzuhalten und darauf hinzuweisen, dass die protestantische Zeit- und Erwerbsethik maßgeblichen Anteil an der allgemeinen Beschleunigung des Tempos in der westlichen Moderne und ihren Pathologien hat. Zum anderen könnte darauf hingewiesen werden, dass der Versuch verschiedener christlicher Strömungen, die Zukunft in Form allzu konkreter und berechenbarer Eschatologien kontrollierbar zu machen, auch soziale Schwierigkeiten und psychische Risiken in sich birgt.35 In diesem Zusammenhang könnten weniger konkretistische und teleologische Zukunftskonzepte eine deutliche Entlastung schaffen. Wenn wir den Begriff des »Dritten Raumes« als einen Ort des Dialogs zwischen Kulturen auf Augenhöhe verstehen, dann liegt es nahe, zu fragen, welche Kernbotschaften zum Thema Zeit sich in diesem Übergangsraum begegnen. »Meine Zeit steht in deinen Händen« (Ps 31,16) haben wir als zentrale Aussage für das theozentrische Zeitverständnis des Christentums bereits identifiziert. Für das Zeitverständnis der säkularen Moderne lässt sich dafür die anthropozentrische Entsprechung »Meine Zeit steht in meinen Händen« formulieren. Diese entgegengesetzten Kernbotschaften können in ihrer jeweiligen Totalität auch zu problematischen Entwicklungen führen. Im christlichen Glauben könnte das theozentrische Zeitverständnis mit einer Haltung verbunden sein, die von einem Gefühl des Kontrollverlusts über die Zeit geprägt sind. Beispiele dafür haben bereits mit der calvinistischen Prädestinationslehre und der dispensationalistischen Lehre von der »Entrückung« kenngelernt, die für die Gläubigen zu einer enormen Verunsicherung über die Vorhersehbarkeit des eigenen zeitlichen Schicksals führen können. So kann auch die von Max Weber beschriebene protestantische Arbeits- und Zeitethik mit dem Verbot von Zeitverschwendung und dem Gebot einer effizienten Nutzung der Zeit als kompensatorische Strategie zur Wiedergewinnung der eigenen Kontrolle über die Zeit gedeutet werden. Diese Bewegung hat Max Weber als wichtigen Motor der kapitalistischen Wirtschaftsordnung und damit letztlich auch der modernen Beschleunigungskultur ausgemacht. Deren Zeitmotto »Meine Zeit steht in meinen Händen« hat ebenfalls in letzter Konsequenz zu einem gefühlten Kontrollverlust über die Zeit geführt. Hartmut Rosa hat diese Tendenz als subjektive Erfahrungen des Zeitdrucks und der rasenden Zeit bezeichnet. Zentrale Punkte einer interkulturellen Verständigung im »Dritten Raum« zwischen christlicher und säkularer Zeitkultur könnten Haltungen zur Kontrol34

Friedrich Schweitzer, Art. Zeit/Zeitvorstellungen, VI. Praktisch-theologisch, in: Religion in Geschichte und Gegenwart 8, 42005, 1816f.. 35 Zwingmann/Murken, Religiosität.

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le über die Zeit und Möglichkeiten der Kontingenzbewältigung sein. Überlegungen zur menschlichen Zeiterfahrung und die Frage »Bin ich Herr meiner Zeit«36 könnten sehr von dieser interkulturellen Verständigung profitieren. Aus christlicher Perspektive ginge es weniger um die Kommunikation von den verschiedenen kirchengeschichtlich beschreibbaren Kontrollversuchen über die ungewisse Zukunft des Menschen. Viel heilsamer ist die Botschaft, dass wir als Geschöpfe Gottes den Status von Empfangenden haben. Die Anerkennung dieses Status entlastet uns davon, dass wir Zeit unbedingt ausschöpfen müssen. Die Erfahrung, dass Gott sich im zeitlich nicht vorherbestimmbaren kairos den Geschöpfen freundlich zuwendet, aber auch in Ewigkeit zugewandt bleiben wird, macht es leichter, auf temporale Kompensationsstrategien zu verzichten.

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Andreas Klein, Bin ich Herr meiner Zeit? Überlegungen zu menschlichen Zeiterfahrungen in unterschiedlichen Horizonten, in: Petzoldt (Hg.), Theologie im Gespräch, 244–262.

Zwischen Tages- und Lebenszyklus. Impulse aus der kirchlichen Praxis Dirk Kellner Die Kommunikation des Evangeliums ereignet sich in einem Zusammenspiel verschiedener Zeitzyklen.1 An markanten biografischen Schwellensituation bieten die Kasualien Orientierung und Vergewisserung (Lebenszyklus). Die kirchlichen Feste vergegenwärtigen die Heilsgeschichte und sind mit jahreszeitlichen Übergängen wie Jahresende und Frühjahrsbeginn verbunden (Jahreszyklus). Am Anfang der Woche steht die gottesdienstliche Feier der Auferstehung, sie wird ergänzt durch vertiefende Angebote wie z. B. Hauskreise und Gebetskreise (Wochenzyklus). Selbst jeder einzelne Tag erhält durch kleine geistliche Formen wie Morgen- bzw. Abendandacht oder Tischgebete eine geistliche Struktur (Tageszyklus). Im biblischen Zeugnis wird mehrmals die Ermahnung laut, die Gottesbeziehung in allen diesen temporalen Zyklen zu pflegen (exemplarisch Ps 1,2; Hebr 10,25; Dtn 16,1; vgl. auch die Gebetszeiten in Mk 1,35; Apg 3,1; 10,9). Auch wenn es einzelne Gegenbeispiele gibt, zeigt die Erfahrung folgenden Zusammenhang: Je tiefer ein Glaube in allen Zeitzyklen verortet ist, desto eher bietet er Orientierung und Resilienz im Alltag – gerade in Krisenzeiten. Der Glaube hat umso mehr Ressourcen zur persönlichen Aneignung des kommunizierten Evangeliums, je mehr die Glaubenspraxis im jeweils intensiveren Zeitzyklus gestaltet wird. Wer täglich Gebet und Schriftmeditation übt, wird sich in der Regel im wöchentlichen Gottesdienst leichter für eine Gottesbegegnung öffnen können, weil er eben »durch den Gebrauch geübte Sinne« (Hebr 5,14) hat. Wer regelmäßig Gottesdienste mitfeiert, hat einen prägenderen und nachhaltigeren Zugang zum Kirchenjahr und zu Gottesdiensten an biografischen Schwellensituationen. Vereinfacht lässt sich der Zusammenhang der Zeitzyklen so schematisieren:

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Vgl. hierzu Christian Grethlein, Praktische Theologie, Berlin 22016, 509–517.

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Deshalb kann ich den praktisch-theologischen Ansätzen nicht zustimmen, die die Reduktion auf Kasualfrömmigkeit (»Kirche bei Gelegenheit«) als gleichwertige Gestalt modernen Christensein rechtfertigen und intensivere Formen wie den wöchentlichen Gottesdienst oder die tägliche praxis pietatis zur Option erklären. Den Versuchen einer (Re-)Aktivierung aller Zeitebenen werden in diesen Konzeptionen eine prinzipielle Absage erteilt: sei es aus theologischen Gründen (»nicht notwendig«) oder aus Pragmatismus (»nicht möglich«). Demgegenüber halte ich daran fest: Ein Rückzug der Kirche auf die Rolle der Lebensbegleiterin in Schwellensituationen bleibt den Menschen etwas schuldig. Wenn es Teil des kirchlichen Auftrages ist, Menschen zu einem alltagsrelevanten und lebensgestaltenden Glauben zu ermutigen, dann gehört dazu auch, das Evangelium in allen genannten Zeitzyklen zu »verorten« und »verzeitigen«. Hierzu sind kreative Veränderungen und Anpassungen in der kirchlichen Veranstaltungskultur notwendig. Zeitbewusstsein und Zeitgestaltung haben sich in den letzten Jahrzehnten zum Teil erheblich verändert, vor allem in den Milieus der modernisierenden und explorativen Grundorientierung. Dies betrifft nicht nur die familien- und freizeitoptimierte Wochenendgestaltung, für die der Sonntagsmorgengottesdienst wenig passend erscheint. Die familiär und beruflich geforderte Flexibilität macht es Menschen schwer, sich mittel- oder langfristig durch ein Engagement oder eine Teilnahme an einer regelmäßigen Veranstaltung zu binden. Die folgenden Anregungen aus der kirchlichen Praxis sind durch die oben erwähnten Zeitzyklen gegliedert. Sie erheben Anspruch weder auf Vollständigkeit noch auf Innovation. Sie wollen Mut machen, selbst nach kreativen Möglichkeiten zu suchen, »die Zeit auszukaufen« (Kol 4,5).

1 Lebenszyklus − Geburtstags-Café: Geburtstage sind für viele Menschen ein Anlass biografischer Reflexion und enthalten ein Moment der Krise: »Schon wieder ein Jahr vergangen. Wie viele Geburtstage werde ich noch feiern können?« Vor allem in den Milieus der traditionellen Grundorientierung besteht der Wunsch nach kirchlichem Kontakt, konkret: nach einem Besuch des Pfarrers / der Pfarrerin. Dieser Wunsch kann als Suche nach Vergewisserung wertgeschätzt werden. Gleichzeitig kommen viele Kolleginnen und Kollegen an die Grenzen ihrer zeitlichen Belastbarkeit. Unsere Kirchengemeinde bietet seit einigen Jahren das »Geburtstags-Café« an. Am ersten Samstag des Oktobers werden alle Jubilare der vergangenen zwölf Monate ins Gemeindehaus eingeladen (halbrunde und runde Geburtstage ab 75 Jahren). Dort ist der Saal festlich geschmückt und wartet mit einem Kuchenbüfett. Das fröhliche Miteinander wird durch geistliche Impulse (Lied, Andacht) bereichert. Immer wieder ergeben sich in Einzelgesprächen Kontakte, die nach diesem Treffen vertieft werden. Eine Verbindung mit dem jeweils anschließenden Sonntags-

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gottesdienst (Mitgestaltung, Segenshandlung) ist möglich, wurde von uns aber bisher noch nicht realisiert. − Konfirmations-Jubiläum: Wir laden die Jubilare nach dem Gottesdienst zum Mittagessen ins Restaurant (Selbstkostenpreis) und zu Kaffee & Kuchen ins Gemeindehaus ein. In einem kurzen Impuls wird am Nachmittag der Hauptgedanke des Gottesdienstes aufgenommen. Bewährt hat sich ein Konfirmations-Quiz, das zum Teil Wissensinhalte des damaligen Unterrichtes abfragt (»Von wem kommt das Vaterunser?«), zum Teil Möglichkeiten bietet, über die Bedeutung des eigenen Glaubens zu erzählen: »Kennen Sie noch Ihren Konfirmations-Spruch? Gab es Situationen in ihrem Leben, in dem er für Sie eine Hilfe war?« Die Beiträge sind zum Teil sehr ergreifend. Sie überzeugen oft durch ihre Authentizität und sind zugleich ein Beispiel, wie der Glaube nicht nur im Lebenszyklus, sondern im Jahres-, Wochen- oder Tageszyklus Profil gewinnt und Halt gibt. − Konfirmand(inn)en-Eltern-Arbeit: Viele Eltern zeigen eine besondere Offenheit gegenüber Glaubensfragen, wenn die eigenen Kinder religiöse Erziehung erfahren: im Kindergarten, in der Schule und vor allem im Konfirmanden-Unterricht. Thematische Elternabende finden in der Regel großes Interesse, wenn sie verknüpft sind mit aktuellen Informationen. Wir veranstalten in der Regel drei Abende für die Konfirmand(inn)en-Eltern. Kurze Filmclips oder Bilderserien geben Einblick in das Erleben der Kinder. Es folgt ein Impuls/Vortrag. Folgende Themen haben sich bisher bewährt: »Stärken und Schwächen meiner Kinder fördern« (Vortrag durch externe Fachperson), »Ist da jemand? Kontakt mit Gott aufnehmen« (ein literarischer humorvollgeistlicher Abend zum Buch von Klaus Douglass2), »Mehr als alte Steine – unsere Kirche« (kleine Kirchenführung mit geistlichen Impulsen). Eine Verknüpfung der Eltern-Abende mit einem weiterführenden Glaubenskurs ist uns allerdings nur bedingt geglückt. Nur zwei Eltern nahmen das weiterführende Angebot an. − Taufe von Kindergarten-Kindern: Die Sonntagsgottesdienste, in denen ein Kind oder Geschwisterkind des evangelischen Kindergartens getauft wird, werden durch die Kindergartengruppe mitgestaltet (Liedbeitrag, gute Wünsche, Kreativaktion). Wenige Wochen zuvor wird die Bedeutung der Taufe in der jeweiligen Kindergartengruppe mit den Kindern erarbeitet. Hierbei hat sich die biblische Erzählung des äthiopischen Kämmerers (Apg 8) bewährt. Diese Geschichte eignet sich gut als Tauflesung, während die entsprechenden Bilder aus der Kinderbibel (z. B. Kees de Kort) auf der Leinwand gezeigt werden.

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Klaus Douglass, Beten – ein Selbstversuch, Asslar 2011.

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2 (Kirchen-)Jahreszyklus − Advents-Andacht für Lehrerinnen und Lehrer: Die Vorweihnachtszeit erfährt durch die vier Adventssonntage eine klare Strukturierung, die zum kulturellen Gemeingut geworden ist. Die mit diesen Sonntagen verbundenen Traditionen (Adventskranz) sind auch losgelöst von ihrer ursprünglichen christlichen Bedeutung verbreitet. Mit ihnen verbindet sich manchmal eine Offenheit für die transzendente Dimension des Lebens, zum Beispiel in Form von Wünschen und Erwartungen. Vielleicht sind daher viele Menschen in diesen Wochen, trotz und gerade aufgrund großer Geschäftigkeit, bereit, Angebote der Besinnung anzunehmen. An der örtlichen Grund- und Realschule (ca. 60 Lehrer/innen) fand jeweils am Freitagmorgen vor den vier Adventssonntagen von 7:10 bis 7:30 Uhr eine Advents-Andacht für Lehrerinnen und Lehrer statt (Unterrichtsbeginn ist 7:45 Uhr). Trotz der frühen Uhrzeit und dem nahen Unterrichtsbeginn kamen regelmäßig etwa 10 Kolleg(inn)en in das vorbereitete Klassenzimmer. Kaffee und Tee bzw. Adventsgebäck standen bereit. Die Gestaltung folgte einer einfachen Liturgie: Vorspruch, Gebet, Lied (immer EG 17), Impuls (meist kurze Geschichte), Stille und freies Gebet, Vaterunser, Lied (immer EG 1,1.4), Segen. Eine Fortsetzung in der Passionszeit wurde von einigen Kolleg(inn)en gewünscht, konnte in diesem Jahr aber leider noch nicht umgesetzt werden. − Abendmahl an Gründonnerstag. Ein Kollege hat eine besondere Gestaltung des Gottesdienstes an Gründonnerstag entwickelt. Das Abendmahl der Konfirmand(inn)en wird nicht mehr im Rahmen des Konfirmation-Gottesdienstes gefeiert, sondern am Gründonnerstag. Kirchenjahreszyklus und Lebenszyklus verbinden sich. Die besonderen Chancen dieses Konzeptes liegen in der Aufwertung des Gründonnerstags und des Abendmahls. Es wird nicht mehr als »unnötige« Verlängerung des Konfirmationsgottesdienstes verstanden, sondern bekommt ein eigenes Gewicht. − Osternacht: Der Osternachtsgottesdienst beginnt in unserer Kirchengemeinde eine halbe Stunde vor Sonnenaufgang. Er ist gut besucht (ca. 100 Personen). In den letzten Jahren wurde er mehr und mehr zu einem umfangreicheren Oster-Event ausgestaltet, das auch bei Jugendlichen sehr beliebt ist: Jugendkreis-Übernachtung mit Film-Nacht im Gemeindehaus, Osterfeuer (ca. 1h vor dem Gottesdienst), Osternachtsgottesdienst mit modernen Lobpreisliedern, Osterfrühstück im Gemeindehaus mit Versteigerung der alten Osterkerze (bis ca. 8:30 Uhr).

3 Wochenzyklus − Projekte: Für viele Menschen widerspricht die regelmäßige Teilnahme an wöchentlichen Veranstaltungen ihrem Bedürfnis nach Spontaneität und

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Mobilität. Die Entwicklungen, die die Soziologen mit den Stichworten »Multioptionsgesellschaft« und »Erlebnisgesellschaft« umschreiben, führen zu einer Zurückhaltung gegenüber mittel- und längerfristigen Verbindlichkeiten. Dies betrifft Menschen, die eng mit der Kirche verbunden sind, ebenso wie Außenstehende. So stellte es für uns eine große Herausforderung dar, Menschen für das Amt des Ältesten zu gewinnen. Eine sechsjährige Verpflichtung zu verbindlicher Mitarbeit ist für viele ein zu großer Zeithorizont. Noch schwieriger war es, einen zehnwöchigen Glaubenskurs zu organisieren. Von den angemeldeten 18 Teilnehmern waren pro Abend kaum mehr als 10–12 anwesend – in wechselnder Besetzung. Die Fülle an familiären und beruflichen Verpflichtungen, die Konkurrenz von anderen Freizeitgestaltungsmöglichkeiten führte bei den Teilnehmern zu einer stark alternierenden terminlichen Verfügbarkeit. Eine Möglichkeit, mit diesem Problem umzugehen, ist projektbezogenes Arbeiten: Engagement auf Zeit (z. B. Mitarbeit im Leitungsteam während eines Bauprojektes) oder kurze Veranstaltungs-Sequenzen (Glaubenskurs mit nur drei Einheiten), die dann wieder in kurzen überschaubaren Projekten fortgesetzt werden. − Gottesdienste am Samstagabend: Über alternative Gottesdienstformen und -zeiten wurde an anderer Stelle schon viel geschrieben. Fast jede Gemeinde hat ihre eigenen Erfahrungen gemacht: positive und negative. In unserer Gemeinde hat sich monatlicher Samstagabend-Gottesdienst etabliert (18:30 Uhr). Er hat eine eigene Liturgie entwickelt, die traditionelle Elemente (Psalmgebet, Predigt, 1–2 Choräle, Fürbitte, Vaterunser) mit modernen Elementen (Band, Anspiel, Kreativaktionen, Segensstationen) verbindet. Die Zeit des Samstagabends hat ihre Probleme (Konkurrenz zu anderen Feiern und Festen), aber auch ihre Chancen (Charakter des Wochenabschlusses, besondere Atmosphäre der Abendstimmung, höhere Akzeptanz einer freien Gestaltung). Der Imbiss nach dem Gottesdienst hat den bekannten Rahmen eines »Kirchcafés« schon längst überschritten. Eine reichhaltige, sich selbst organisierende Büfett-Kultur ist entstanden. Großen Anklang findet auch der Kindergottesdienst, der parallel zum Gottesdienst stattfindet (mit gemeinsamem Beginn) und ein einfaches Abendessen für die Kinder beinhaltet. Viele Familien schätzen diese Möglichkeit, Gottesdienst zu feiern und gleichzeitig einen freien Sonntagvormittag zu haben.

4 Tageszyklus − Öffentliche Tagzeiten-Andachten: Einige Kirchen in größeren Städten bieten in ökumenischer Verantwortung regelmäßige Andachts- und Gebetszeiten an: Stundengebete, Mittags-Impulse usw. In kleinstädtischen und ländlichen Strukturen sind diese Angebote oftmals nicht durchführbar. Der Kreis der Verantwortlichen ist zu klein und es gibt weniger potenzielle Teilnehmende. Der Versuch könnte jedoch auch hier gewagt werden, vielleicht in

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Beschränkung auf einzelne Wochentage: z. B. ein »Mittwoch-MittagsImpuls« von 12:15 bis 12:30 Uhr. − Give-Aways: Es genügt nach meiner Erfahrung nicht, die Bedeutung persönlicher Andachtszeiten im Tagesverlauf zu betonen. Viele Menschen brauchen konkrete Anleitungen. Schon Martin Luther ist diesem Bedürfnis nachgegangen, z. B. in der Schrift »Eine einfältige (= einfache) Weise zu beten« (bis heute sehr lesenswert). Bei einzelnen Gottesdiensten bietet es sich an, den Teilnehmenden als Give-Away einen Zettel mit Anregungen mitzugeben. Er kann den Predigttext ein einer leicht zugänglichen Übersetzung, zusammenfassende Thesen, Fragen zur Vertiefung und ein vorformuliertes Gebet (mit »Leerstellen«) umfassen. − Literatur-Arbeit: Ein vernachlässigtes Feld kirchlicher Arbeit ist in vielen Gemeinden die Literatur-Arbeit. Ein gut sortierter Büchertisch und gut ausgewählte Geschenke (für Jubilare, Konfirmanden, Mitarbeitende) können Hilfen für die tägliche Gestaltung der persönlichen Glaubenspraxis sein. Bibellesehilfen und Andachtsbücher mit täglichen Impulsen gibt es für jedes Alter – leider sind sie nicht für alle Milieus ansprechend. Hier können Andachts-Apps fürs Smartphone einen leichteren Zugang verschaffen. Empfehlenswert sind z. B. »Ich glaub schon« (tägliche Andachten aus dem Bereich der ev. Landeskirche in Württemberg), »Leben ist mehr« (tägliche missionarische Impulse) oder »bibletunes« (tägliche Bibellese mit Auslegung), aber auch der Klassiker »Die Losungen«.

5 Gegenpol zum gesellschaftlichen Beschleunigungswahn Nach dem Soziologen Hartmut Rosa ist die Moderne durch den unaufhaltsamen Prozess der dynamischen Stabilisierung gekennzeichnet. Er vollzieht sich als immanenter Zwang zu Wachstum, Innovationsverdichtung und Beschleunigung.3 Zur Veranschaulichung verwendet er das Bild einer Rolltreppe nach unten. »Die Welt, in die wir uns gestellt finden, […] befördert uns in jedem Moment gleichsam abwärts, so dass wir (immer schneller) nach oben laufen müssen, um unseren relativen Platz zu halten.«4

3

Vgl. Hartmut Rosa, Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin 2016. Zur »dynamischen Stabilisierung« siehe ebd. S. 671–706. Leichter zugänglich und verständlich sind ein Beitrag in »Zeit-Online« (www.zeit.de/2010/01/Interview-Rosa, zuletzt geprüft am 18.02.2019) und das Interview »Sich genügend Zeit lassen« bei »Deutschlandradio Kultur« (zugänglich über die Mediathek www.deutschlandradiokultur.de). 4 Rosa, Resonanz, 691.

Zwischen Tages- und Lebenszyklus

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Die Folgen sind fatal: Durch die Beschleunigung aller Lebensvollzüge kann der Mensch kaum noch resonante, das heißt stabile, gelingende und tragende, Beziehungen zur »Welt« aufbauen. Die überlieferten Religionen sind für Hartmut Rosa primäre und unverzichtbare Gegenpole: »Die Zeitordnungen religiösen Glaubens [sind] meines Erachtens nämlich gerade nicht dynamisiert, ja vielleicht nicht einmal dynamisierbar. Die Idee einer ›Heiligen Schrift‹, die Konzeption eines Heilsgeschehens und einer Heils- oder Sakralzeit, der Verlauf des Kirchenjahres – sie alle erweisen sich als weitgehend resistent gegenüber den Imperativen der Innovation, der Beschleunigung oder der Steigerung.«5

In dieser Perspektive erscheinen der göttliche Rhythmus von Arbeit und Ruhe, das Zusammenspiel von Schweigen und Reden, die Einheit von Handeln und geduldigem Harren auf Gott die Qualität als heilsame kulturkritische Momente in einer sich zunehmend beschleunigenden und gleichzeitig beziehungsverarmten Gesellschaft. Von Gott geschenkte Zeit ist qualifizierte Zeit, Kairos zum Leben, das Heute der Gnade (Hebr 6,2). Darum muss die Zeit auch selbst wieder zum Inhalt der Kommunikation des Evangeliums werden: Gott hält die Zeitpunkte des Lebens in seinen Händen (Ps 31,16), sodass »alles Vorhaben unter dem Himmel seine Stunde« hat (Pred 3,1). Er gibt dem Leben durch den wöchentlichen Sabbat einen Rhythmus von Arbeit und Ruhe. »Als die Zeit erfüllt war« (Gal 4,4), sandte er seinen Sohn Jesus Christus. Sein Kommen ist der Beginn des neuen Zeitalters (Äons), in dem die Gnade königlich herrscht – allem gesellschaftlichem Beschleunigungs- und Optimierungswahn zum Trotz. Die christliche Gemeinde lebt nun »zwischen den Zeiten«, bis sie am Ende der Zeit in die »Ruhe« der ewigen Vollendung eingeht (vgl. Hebr 4,3).

5

Rosa, Resonanz, 688.

»Zeit« in unterschiedlichen Milieus Zacharias Shoukry Kommunikation des Evangeliums hängt von vielen Faktoren ab, z. B. wer kommuniziert, was kommuniziert wird und auch wie, wo und wann. Der Fokus soll nun auf dem ›Wann?‹ liegen. Die These lautet, dass unterschiedliche Menschen ganz verschiedene Einstellungen zur Zeit haben und im Umgang mit ihr große Differenzen bestehen. Wenn das Evangelium allen kommuniziert werden soll, stellt man sich im Optimalfall auf die unterschiedlichen Umgänge mit der Zeit ein. Denn der zeitliche Rahmen und die Gestaltung der Zeit spielen eine große Rolle in religiösen Vollzügen. Ich erinnere mich an einen benediktinischen Abt, der mit mir über die Stundengebete gesprochen hat: »Natürlich müssten wir nicht um 5.00 Uhr morgens mit den Laudes beginnen. Aber wir würden etwas verpassen, wenn wir nicht um diese Uhrzeit beten würden. So früh am Morgen zu beten ist etwas ganz Besonderes. Das erste Stundengebet hat dadurch einen ganz anderen Charakter als die anderen.« In diesem Gespräch wurde mir deutlich, wie wichtig der zeitliche Faktor für den Glaubensvollzug ist. Für manche Menschen ist das Zeitverständnis einer Mönchsgemeinschaft ein Vorbild, für andere ein Schreckensbild. Der Umgang mit Zeit ist je nach Milieu sehr unterschiedlich. Auf diese spezifischen Haltungen in Hinblick auf die Zeit soll nun eingegangen werden.

1 Konservativ-etabliertes Milieu Im Konservativ-etablierten Milieu gehört der regelmäßige Gottesdienstbesuch in der Regel dazu.1 Regelmäßigkeit und Engagement spielen eine bedeutende Rolle, was sich auch auf den Umgang mit Zeit auswirkt. Glaube ist Teil der Familientradition, und die Kirche hat ein hohes Ansehen. Selbst wenn man aufgrund von schlechten Erfahrungen nicht mehr die Kirche zum Gottesdienst besucht, verknüpft man mit dem Kirchengebäude Vertrautheit, Ruhe und Sammlung. Daher besucht man die Kirche auch zu anderen Zeiten. Das passt auch zu dem Standesbewusstsein: Man möchte sich von den anderen ein Stück weit absetzen. Festzuhalten ist, dass der Sonntagmorgen nicht der einzige Zeitpunkt ist, zu der die Kirche in Anspruch genommen wird. Die Frage nach geöffneten Kirchen zeugt auch von einem dahinterstehenden neuen Zeitverständnis: Der Kirchraum wurde früher in reformatorischer Tradition eher als funktionale Größe gesehen, die ausschließlich zu Gottesdienstzeiten offensteht. Ab 1

Vgl. hier und für die folgenden Aussagen zu Milieus Marc Calmbach / Berthold B. Flaig / Ingrid Eilers, MDG-Milieuhandbuch 2013. Religiöse und kirchliche Orientierungen in den Sinus-Milieus, Heidelberg/München 2013.

»Zeit« in unterschiedlichen Milieus

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Ende des 20. Jh.s ist es auch ein verstärktes Anliegen evangelischer Kirchen, offene Kirchen zu ermöglichen und zu gestalten.2 Die Anziehungskraft von Kirchen zu anderen, nicht-gottesdienstlichen Zeiten wird z. B. daran deutlich, dass deutlich mehr Kirchenbesucher im Alltag als im Gottesdienst gezählt werden. Neben den Kirchraumbesuchen »für sich« spielt die Kirchenmusik besonders für Konservativ-Etablierte eine Rolle. Das Milieu hat eine generelle Vorliebe für klassische Musik, Oper und Theater. Hier können Abendveranstaltungen wie etwa Konzerte mit exklusivem Ambiente eine einladende Option sein.

2 Liberal-intellektuelles Milieu Menschen aus dem Liberal-intellektuellen Milieu leben möglichst strukturiert und geplant. Das wirkt sich auch auf ihren Umgang mit der Zeit aus. Ihr Zeitbegriff ist die geordnete Zeit. Sie können es sich im wahrsten Sinne des Wortes leisten, ihre Zeit ihren Vorstellungen entsprechend zu gestalten. »[Sie] verfügen über hohe Zeitsouveränität und können aufgrund ihrer ökonomischen Ressourcen lästige bzw. weniger anspruchsvolle Tätigkeiten delegieren, um sich auf sinnstiftende Beschäftigungen zu konzentrieren. Für Arbeiten im und ums Haus gibt es bei vielen Köchin, Putzfrau und Gärtner; für die Kinder eine Nanny. Verbleibende Besorgungen werden idealerweise in partnerschaftlicher Arbeitsteilung erledigt.«3

Work-Life-Balance spielt eine große Rolle. Da Leistung und Aktivität wichtige Punkte sind, nehmen diese auch entsprechenden Raum in der Zeitgestaltung ein. Durch die starke Einbindung in den Beruf wollen sie sich eher projektartig oder bei zeitlich begrenzten Ehrenamts-Angeboten engagieren. Der Umgang mit Zeit ist nicht das Problem der LIB. Sie sind so selbstbestimmt, dass sie es sich einrichten könnten, zu kirchlichen Angeboten zu kommen. Allein der zeitliche Faktor liefert hier also weniger Hinderungsgründe, sondern das Angebot muss insgesamt anziehend und für sie stimmig sein. Sie sind gerne bereit, Zeit und Geld zu investieren, wenn es sich um Aktivitäten handelt, die ihrer Lebensweltlogik entsprechen. In der Freizeit widmet man sich gerne Kultur und Bildung. Literaturabende, Ausstellungen gehören ebenso dazu wie die Netzwerkpflege mit Gleichgestellten beim Sport, klassischerweise Golf, Segeln, Skifahren oder Tennis.4 Reisen in andere Länder entsprechen ihrem Interesse an Geschichte, Architektur und Fremdsprachen. Urlaubsangebote, die in diese Richtungen gehen, könnten gut funktionieren. Ebenso jegliche Angebote, bei der Kirche (z. B. durch Konzerte) als Gestalterin des öffentlichen gesellschaftlichen Lebens auftritt und somit zur Kulturförderin wird. 2

www.kirchliche-dienste.de/arbeitsfelder/offene-kirchen/Startseite (zuletzt geprüft am 18.02.2019). 3 SINUS Institut u. a., Lebensweltliche, religiöse und kirchliche Orientierungen, 88. 4 SINUS Institut u. a., Lebensweltliche, religiöse und kirchliche Orientierungen, 41f.

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3 Milieu der Performer Im Milieu der Performer ist gute Zeit effizient gefüllte Zeit. Der Alltag muss möglichst effizient sein, man ist mit der neuesten Technik 24/7-erreichbar. Es geht nicht um geduldige Relativierungen (Liberal-Intellektuelle), sondern um entschlossenen Gestaltungswillen. Ich habe da meinen voll im Berufsleben stehenden Freund (etwa Mitte 30) aus dem Fitnessstudio vor Augen: Er kommt mit seinem BMW auf den Parkplatz gedüst. Mit seinen wachen Augen sagte er einmal zu mir: »Heute läuft alles wie am Schnürchen. Erst Arbeit, dann Sport, dann Whiskey-Abend. Zack, zack, zack. So muss es sein.« Er liebt MarathonLäufe und nimmt gerne eigenhändig Verbesserungen an seiner Wohnung vor. Er ist ein gutes Beispiel für dieses Milieu. Extremsportarten sind beliebt, man sucht das Abenteuer bzw. Grenzerfahrungen, hat ein stark ausgeprägtes Leistungsethos und ein entsprechend hohes Einkommen. Es liegt der höchste Anteil an Berufstätigen im Milieu-Vergleich vor. Die eigene Passivität in Hinblick auf Kirche oder Engagement wird mit der hohen Arbeitsbelastung und »Freizeitstress« begründet. Denn man denkt sowohl in der Freizeit als auch im Beruf vom Wettbewerb her: Stärker, schneller, besser. Deswegen kann man es sich nicht leisten, Zeit zu vertrödeln. Man erinnert sich sehr wohl aber noch an die Kindheit zurück, in der das Leben entschleunigt und zweckfrei war, aber diese Zeit ist unwiederbringlich vorbei. Glaube und Kirche spielen generell weniger einer Rolle, aber Religion wird als Exit-Strategie und Tool zur Entschleunigung durchaus interessant. Denn man weiß auch selbst, dass man der eigenen Person und der Gesellschaft keinen Gefallen mit der Haltung einer dauerhaften Verfügbarkeit tut. Da Performer mit Gewohnheiten, Bindungen und Traditionen Schwierigkeiten haben, sind es wohl nicht die regelmäßigen Angebote der Kirche, die in Anspruch genommen werden, sondern wahrscheinlich eher outdoor-orientierte Freizeitangebote (z. B. in Form von riskanten Bergsteiger-Touren) in Urlaubszeiten, in denen man sich ohnehin Abstand vom Alltag und eingeschränkte Konnektivität wünscht.

4 Expeditives Milieu Eine milieutypische Aussage zur Teilnahme am kirchlichen Leben aus dem expeditiven Milieu ist z. B. die folgende: »Mir bringt das im Moment nichts. Das ist vertrödelte Zeit, da jetzt hinzugehen.«5 Expeditive haben Ehrgeiz und sind auf Erfolg ausgerichtet. Interesse am Engagement beispielsweise ist oft höher als tatsächliche Beteiligung, was nicht zuletzt an der starken Einbindung in Beruf oder Ausbildung und den vielen konkurrierenden Freizeitinteressen liegt. Dabei würden sie selbst keine strikte Trennung von Arbeitszeit und Freizeit anstreben, 5

Calmbach u. a., Milieuhandbuch, 37.

»Zeit« in unterschiedlichen Milieus

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sondern diese aufheben wollen (z. B. für den Job am Laptop zu arbeiten und gleichzeitig den Lieblingswein zu genießen). Sie sind pragmatisch, spontan und wollen das Leben möglichst intensiv erleben. Weniger positiv besetzt sind Ordnung, Bindung, Verpflichtung und Konformität, was viel über ihren Umgang mit der Zeit aussagt. Die meisten kirchlichen Zeitstrukturen orientieren sich aber an diesen Punkten. Daher ist es nicht verwunderlich, dass der Glaube wenn überhaupt größtenteils abseits von der Kirche gelebt wird und »normale« sonntägliche oder andere regelmäßige Angebote wie »Kreise« nicht gerne in Anspruch genommen werden. Die Regelmäßigkeit, die für die Bürgerliche Mitte beispielsweise gerade attraktiv sein kann, stößt Expeditive ab. Die Freizeitgestaltung pendelt zwischen dem Wunsch nach Ruhe, bei der man ohne Verantwortung im Hier und Jetzt sein kann, und dem Wunsch nach Ekstase, die im Rausch der Sinne erlebt wird. Langfristige Organisationsarbeit (z. B. in Gremien) ist nichts für sie. Wichtig ist die Spontaneität einer Aktion, weil man lieber machen als lange planen will. Auch langfristige Mitgliedschaft ist kein Modell, das ihrem spontanen, qualitativen Zeitverständnis entspricht (Zeit ist erfüllte Zeit). Sie möchten sich eher alle Optionen offenhalten, was auch zu ihrer Neugier und Offenheit passt. Welche kirchlichen Angebote könnte es für Leute geben, die eher spontankreativ als traditionell-konventionell sind? Zeitlich festgelegte Abläufe widersprechen dem Wunsch, individuell über die eigene Zeitgestaltung verfügen zu können. Expeditive planen nicht unbedingt, sondern ergreifen Gelegenheiten. Ein Café oder eine Bar wären wunderbare Orte für Experimentalisten, wo sie Arbeit, Freizeit und ihre Weltoffenheit miteinander verbinden können. Ein Glücksmoment kann sein, bei einem Kaffee mit jemandem ins Gespräch zu kommen, den man interessant findet – ohne zu bemerken, wie die Zeit verfliegt. Nicht Routine wird gesucht, sondern Abwechslung.

5 Bürgerliche Mitte In der Bürgerlichen Mitte findet sich generell eine Akzeptanz ritualisierter religiöser Praxis. Gottesdienstbesuch und Abendgebete sind teilweise seit frühester Kindheit zur Gewohnheit geworden. Falls man nicht zur Kirche geht, wird das häufig damit begründet, dass man »keine Zeit« hat. Der Begriff der Dauer ist positiv besetzt, man wünscht sich z. B. eine dauerhafte Partnerbeziehung und befindet sich in dem Milieu mit dem höchsten Anteil an Verheirateten. Kontinuität stellt einen zentralen Wert dar. Ein harmonisches Familienleben ist von hohem Interesse. Kirchliche Angebote, die mit den eigenen Kindern zusammenhängen, werden daher gerne in Anspruch genommen (Kindergarten, Feste, Aufführungen, …). Wenn man nach einer Klischee-Tageszeit fragt, so ist es weniger der stilvolle Abend (Konservativ-Etablierte), sondern eher der Vormittag oder der Nachmittag – jedenfalls sollte es mit der klassischen Kleinfamilie vereinbar sein.

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6 Sozial-ökologisches Milieu Das sozial-ökologische Milieu trägt in sich den Wunsch nach Entschleunigung. Die Jagd nach Geld, Konsum und Spaß wird kritisiert. Beschleunigung wird abgewertet, Achtsamkeit aufgewertet. Das Engagement für eine bessere Welt ist ein wichtiges Anliegen (Politik, Gesellschaft, Migration, Fair-Trade, …). Die Lebenszeit, die zur Verfügung steht, soll für andere und die Welt als Ganze eingesetzt werden, um sie zumindest ein Stückchen besser zu machen. »[Ihnen] ist ein hohes Maß an Zeitsouveränität wichtig. Für Themen, die zentrale Bedeutung im Leben haben, möchten sie sich bewusst Zeit nehmen und sich einer Sache voll und ganz widmen.«6

Teilweise wird das Engagement als Grund dafür aufgeführt, weniger Zeit für kirchliche Veranstaltungen wie Gottesdienste, Gebetskreise oder Singstunden übrig zu haben.7 Attraktiver sind z. B. Pilgerreisen oder andere kontemplative Angebote. Man will aus dem Hamsterrad der Zeit aussteigen. Eine Scheu vor anderen Kulturen und Religionen besteht ganz und gar nicht, sondern der interreligiöse Dialog wird eher eingefordert8 und teilweise findet sich sogar ein Faible für fernöstlich-spirituelle Angebote.

7 Adaptiv-pragmatisches Milieu Für das Adaptiv-pragmatische Milieu ist die Kirche eine Dienstleisterin und wird primär unter Nützlichkeitsaspekten betrachtet. Religion eher nicht im Alltag verankert (ähnlich wie beim SÖK, anders als im KET, BÜM und TRA). Christliche Rituale dienen eher als Markierungspunkte von Lebensphasen, weswegen eine Offenheit für Kasualien festzustellen ist. Die Freizeit ist knapp bemessen und wird daher weniger für ein Ehrenamt eingesetzt. Das Verständnis von Zeit ist tendenziell so, dass man arbeitet und dann die Freizeit als entspannenden Ausgleich zur Verfügung haben will. Zeit ist Freizeit. Eine typische Aussage ist beispielsweise die folgende: »Wenn ich jetzt mit Problemjugendlichen oder -kindern arbeiten müsste, das wäre mir einfach zu anstrengend«.9 Das Freizeitverhalten ist demgegenüber unterhaltungsorientiert und liegt im Mainstream moderner Freizeitkultur. Die Entschleunigung der Sozial-Ökologischen wäre für sie wohl eher ein »altbackener« Wert, von dem sie sich abgrenzen. 6

Vgl. Reformierte Kirche Kanton Zürich/SINUS Institut Heidelberg/Berlin, Lebensweltliche, religiöse und kirchliche Orientierungen im Kanton Zürich, Zürich 2012, 88. 7 Vgl. SINUS-Studie, Evangelisch in Baden und Württemberg. Abschlussbericht (CD aus: Heinzpeter Hempelmann / Karen Hinrichs / Ulrich Heckel / Dan Peter (Hg.), Auf dem Weg zu einer milieusensiblen Kirche. Die SINUS-Studie »Evangelisch in Baden und Württemberg« und ihre Konsequenzen für kirchliche Handlungsfelder (Kirche & Milieu 2), NeukirchenVluyn 2015, 224. 8 Vgl. SINUS-Studie, Evangelisch in Baden und Württemberg, 214. 9 Calmbach u. a., Milieuhandbuch, 45.

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»Der Alltag im Milieu der Adaptiv-Pragmatischen ist bestimmt von Trubel und Betriebsamkeit; man ist ständig auf der Suche und häufig am Grübeln und Hinterfragen; man ist auf der Jagd nach dem Glück (Arbeit, Familie, Freizeit, Geld, Konsum), bekommt es aber nicht zu fassen.«10

Adaptiv-Pragmatische sind aber nicht generell kirchenkritisch. Sie sind zwar nicht so sehr bereit und oft auch wegen der Doppelbeanspruchung durch Karriere und Familie nicht in der Lage, Zeit in kirchliche Verantwortung oder Ämter zu stecken, aber Zeit kann investiert werden, wenn es sich um lohnende, alltagsrelevante Angeboten beispielsweise aus der Erwachsenenbildung (wie etwa Kochen, Basteln, Bücherlesekreis, …) handelt. Wenn man hier nach einer Klischee-Zeit der Beteiligung fragen würde, so könnten der Spiele-Nachmittag oder der Discoabend genannt werden, die im kirchlichen Angebotsspektrum aber tendenziell vermisst werden.

8 Traditionelles Milieu Es gibt Menschen, die sich kaum etwas Besseres vorstellen können, als eine Tagesstruktur vorzufinden, in die sie sich einordnen können. Solche Personen fahren in ihrem Urlaub gerne einmal in ein Kloster, in dem schon seit Jahrhunderten zu denselben Zeiten an denselben Orten dieselben Gebetszeiten gefeiert werden. Sie haben ein Bedürfnis nach Ordnung und Struktur, das sich auch auf ihre Spiritualität auswirkt. Im Traditionellen Milieu dient Religion ganz selbstverständlich als Orientierungsgrundlage für den Alltag. Gebete oder Lesungen (z. B. die Losungen oder andere Bücher mit geistlichen Impulsen) sind an bestimmte Tageszeitpunkte geknüpft und somit im eigenen Alltag verankert. Der sonntägliche Gottesdienst gehört im Normalfall zur wöchentlichen Routine. Die Beteiligung am Gemeindeleben ist hoch und es gibt ein Bedürfnis nach christlicher Gemeinschaft auch außerhalb des Sonntages.11

9 Prekäres Milieu Manche Menschen des Prekären Milieus haben einen völlig anders gearteten Umgang mit der Zeit als alle bisher genannten Milieus. Ausschlaggebend hierfür sind verschiedene Punkte: Die Rate der Arbeitslosigkeit ist im MilieuVergleich am höchsten. Wer nicht arbeitet, hat keine äußeren Zeitvorgaben. Daher fällt es teilweise schwerer, einen kontinuierlichen Alltagsrhythmus zu beizubehalten. Außerdem gibt es hier den höchsten Anteil an Geschiedenen im Milieu-Vergleich und insgesamt überdurchschnittlich viele Alleinlebende oder Verwitwete. Wer keine starke Einbindung in familiäre Kontexte hat und allein lebt, hat auf den ersten Blick sehr viel Zeit zur Verfügung. Daher kann das Be10 11

Calmbach u. a., Milieuhandbuch, 271. Vgl. SINUS-Studie, Evangelisch in Baden und Württemberg, 149.

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dürfnis nach Unterhaltung groß sein. Medien und Genussmittel werden überdurchschnittlich konsumiert (Zigaretten, Alkohol, Süßigkeiten, Snacks, …). Außerdem flüchtet man sich teils in Traumwelten (Fernsehen, Video, …), in der man auch das Zeitgefühl verliert. Es kann als eine Befreiung empfunden werden, sich dadurch vom Zeitgestaltungsdruck zu entlasten. Manche würden am liebsten insgesamt die Verantwortung für das eigene Leben abgeben. Im prekären Milieu können Schicksalsschläge im Vordergrund stehen: Neben dem bereits Genannten gibt es Betroffene von Krankheit, Behinderung oder auch Alkoholismus. Bei psychischen Krankheiten und Alkoholismus etwa wird Zeitmanagement therapeutisch eingeübt, weil es schwerfällt, sich selbst eine Struktur zu geben und die eigenen Alltagsaufgaben zu organisieren. Die Alltagswirklichkeit kann vom täglichen Kampf ums Überleben geprägt sein, in denen glückliche Zeiten eher klein sind im Vergleich zu unglücklichen Zuständen. Daher wird teils nach Mitteln gesucht, sich zumindest zeitweise besser zu fühlen (Spiele, Sex, Musik, …). Die Zeit kann aber nicht unbedingt den eigenen Wünschen entsprechend umgesetzt werden: Wer weniger finanzielle und andere Mittel hat, hat weniger Zeitsouveränität, weil ein größerer Aufwand getrieben werden muss, den eigenen Bedarf zu decken. Ist man etwa auf öffentliche Verkehrsmittel dauerhaft angewiesen, weil man kein Auto hat, muss man ggf. längere Umsteige- und Wartezeiten in Kauf nehmen. Man kann Tätigkeiten, für die man die eigene Zeit nicht aufwenden möchte (etwa Putzen), anders als in Milieus mit höherem Einkommen nicht einfach delegieren – man kann sich ja keine Hilfskräfte leisten. Wenn man einen geringeren Stundenlohn hat als andere, muss man länger arbeiten, um auf das gleiche oder sogar noch geringere Gehalt zu kommen usw. Nicht alle Menschen aus dem prekären Milieu haben schlecht bezahlte Jobs, sind arbeitslos, familiär ungebunden, krank oder Alkoholiker. Aber dennoch gibt es Einzelne, die mit solchen Problemen konfrontiert sind – und zwar im Milieuvergleich überdurchschnittlich im prekären Milieu. Man kann sich vorstellen, dass es schwierig ist, Prekäre etwa in kirchliche Mitarbeit einzubinden. Schon die Terminfindung macht Unterschiede im Habitus deutlich: Meist ist sie von haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeitenden geprägt, die Kalender benutzen, weil Zeit für sie knapp ist und durch ganz unterschiedliche Zeitabläufe geprägt sein kann. Diese Art von Planung ist Prekären eher fremd. Die Termindichte ist teils gar nicht so hoch, dass sie sich Treffen aufschreiben müssten, zumindest wenn es um kurzfristigere Termine in den nächsten Tagen oder Wochen geht. Was darüber hinausgeht, kann möglicherweise weniger gut eingeschätzt werden. Wie erreicht man ein Milieu, in dem wenig Planungssicherheit und Organisation vorherrschen? Vielleicht liegt ein möglicher Schlüssel in der Mediengestaltung. Beim Zappen durch Fernsehsender stößt man auch auf christliche Angebote (z. B. Bibel-TV, ERF, …), bleibt aber meist nicht lange da. Man müsste natürlich auch die anderen Kommunikationsdimensionen berücksichtigen (z. B. verbal: eher plakativ, unkompliziert, …), damit Prekäre angesprochen

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werden. Aber Menschen, die viel Zeit mit Medienkonsum verbringen und tendenziell sich auch in eigene Enklaven und Netzwerke zurückziehen können, sind vielleicht am besten über den digitalen Weg zu erreichen. Abschließend muss festgehalten werden, dass die Partizipation dieses Milieus an christlichen Angeboten wohl nicht an Zeitknappheit scheitert, sondern eher an den anderen Dimensionen (verbal, medial, lokal, sinnlich, …).

10 Hedonistisches Milieu Für das hedonistische Milieu ist Zeit ungebundene, freie, zur Verfügung stehende Zeit. Ungehinderte Spontaneität und Gegenwartsorientierung sind Programm. Über Planungen und Zukunft macht man sich kaum Gedanken, es geht eher um ein unbekümmertes Leben im Hier und Jetzt. Man lässt sich treiben und wird schon sehen, was kommt. Ganz anders als z. B. bei den KonservativEtablierten sind Disziplin und Ordnung negativ konnotiert. Man möchte sich auch nicht von einer Erfolgs- oder Karriereorientierung Zeitdruck auferlegen lassen. Eher möchte man frei und unabhängig seinen eigenen Weg gehen. Geliebt wird das turbulente und abwechslungsreiche Leben (Spaß, Party, Reisen, Events, starke Reize, Auspowern und Aufputschen, …), wohingegen mit Kirche Langeweile und mechanische Abläufe verknüpft werden. Ich will kommen und gehen können, wann und wohin ich will, ungebunden sein und eine gute Zeit mit den Leuten meiner Wahl verbringen können. Das ist durchaus etwas anderes als ein Gottesdienst zu einer festen Zeit an einem festen Ort mit immer denselben Abläufen. Ein Gebetshaus wie etwa das in Augsburg kann ein gutes zusätzliches Angebot sein. Es ist 24 Stunden am Tag zugänglich und von Mitarbeitenden besetzt. Man kann dort beten, wann und wie man will. Klassische Gebete sind im hedonistischen Milieu selten. Eher denkt man etwas für sich selbst durch oder meditiert. Solche Ausdrucksformen finden hier vielleicht ihren Platz. »Ganz anders als in einer herkömmlichen Kirche, doch zum Verweilen einladend. Mal ist es hier laut und fetzig, mal ganz ruhig und besinnlich. Mal beten hier viele, mal nur ein paar Leute. […] Ein bisschen wie ein Raum außerhalb von Raum und Zeit.«12

Zumindest diese Selbstbeschreibung des Gebetshauses ist einigermaßen kompatibel mit den soeben skizzierten hedonistischen Einstellungen. Der charismatische Anstrich passt zudem dazu, dass bei Hedonisten Glück »oft körperlich und immer verbunden mit starken Gefühlen und Intensität des Erlebens«13 ist. Eine weitere Konkretisierung hängt mit der zunehmenden Eventisierung von Erlebniswelten zusammen.14 12

www.gebetshaus.org/gebetshaus/#c16 (zuletzt geprüft am 18.02.2019). Calmbach u. a., Milieuhandbuch, 422. 14 Vgl. Kristian Fechtner, Religion und Gegenwartskultur, in: ders. / Jan Hermelink / Martina Kumlehn / Ulrike Wagner-Rau, Praktische Theologie. Ein Lehrbuch (Theologische Wissenschaft 15), Stuttgart 2017, 38-45, 44f. 13

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»Unter Events versteht man Großereignisse, die außergewöhnliche Erlebnisse inszenieren, indem sie raumzeitlich verdichtet das Publikum als Beteiligte in die Aufführung einbinden und emotional in hohem Maße involvieren.«15

Events sind also wie gemacht für das hedonistische Milieu, das ständig auf der Suche nach pulsierendem Leben ist. Kirchliche Angebote mit Event-Charakter sind bisher etwa der Kirchentag, Musicalprojekte, Landesposaunentage mit mehreren Tausend Teilnehmenden oder kirchliche Großveranstaltungen auf der Bundesgartenschau. Darüber hinaus ist mir ein Beispiel aus dem EC Jugendkreis der Christusgemeinde Diespeck bekannt: Schon mehrmals haben in diesen Gemeinderäumlichkeiten Techno-Partys stattgefunden. Beginn ist etwa um 21.00. Dann wird bis in die Nacht gefeiert. Das ist eine Veranstaltungszeit, die abgesehen von vereinzelten nächtlichen Gottesdiensten oder Gebetsnächten16 sonst nur von wenigen christlichen Programmen gefüllt wird. Wie schade wäre es, wenn es gar keine christlichen Angebote für diejenigen gibt, die gerne wach bleiben »bis die Wolken wieder lila sind«17! Ich zitiere aus der facebookVeranstaltungsinfo: »Ihr habt lange gewartet aber jetzt ist es endlich wieder soweit. Am 23.2.2018 schallt endlich wieder Techno durch die Räume der Christusgemeinde in Diespeck. Und wenn ihr mal eine Pause vom Raven braucht könnt ihr es euch in der SchwarzlichtChilloutarea gemütlich machen, an der Bar etwas trinken oder eine Runde am Tischkicker kickern.«18

Ein weiteres Beispiel für experimentalistische Menschen aus dem hedonistischen Milieu scheint mir eine spontane Trauung zu sein. Nicht ein langer, im Vorfeld wohl durchdachter kirchlicher Ritus ist das Spannende, sondern viel aufregender ist ein nicht geplanter Entschluss, z. B. am Kirchentag vor mehreren hundert unbekannten Menschen, Gottes Segen für die Partnerschaft zu erbitten, wie es etwa am Kirchentag 2017 in der Sankt-Marienkirche am Alexanderplatz in Berlin unter dem Motto »Trau dich! Trauung für alle auf dem Kirchentag« gemacht wurde.19 Nur zwei Paare hatten ihre Absicht im Vorfeld angemeldet, der Rest hatte sich vor Ort entschieden. Ein noch unkonventionelleres Beispiel ist das »Zelt der Kirche« auf dem Heavy-Metal-Festival Summerbreeze. In der Kurzinfo von 2018 heißt es:

15

Fechtner, Religion und Gegenwartskultur, 45. Vgl. z. B. »Night of Worship« vom Glaubenszentrum Bad Gandersheim: www.facebook.com/ events/715168962173654 (zuletzt geprüft am 18.02.2019). 17 Marteria / Miss Platnum / Yasha, Lila Wolken (2012), www.songtexte.com/songtext/ marteria-miss-platnum-and-yasha/lila-wolken-bb845d6.html (zuletzt geprüft am 18.02.2019). 18 Techno für Diespeck, www.facebook.com/events/564138410613032 (zuletzt geprüft am 18.02.2019). 19 www.kirchentag2017-ekbo.de/auswertung-zentrum/trau-dich-trauungfueralle-auf-demkirchentag.html (zuletzt geprüft am 18.02.2019). 16

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»Im Zelt der Evangelischen Kirche habt ihr die Möglichkeit, eine Pause einzulegen. Lademöglichkeiten für Handys, etwas zu trinken, Schatten und gute Gespräche warten dort rund um die Uhr auf euch.«20

Erkennbar ist das Zelt durch ein Kreuz aus Bierdosen. Michael Wolf berichtet, dass es dieses Zelt schon seit drei Jahren gibt und da immer wieder Leute kamen, die gesagt haben: »Ihr seid Kirche? Dann würden wir gerne heiraten, und zwar jetzt!« Er hat dann erklärt, dass eine offizielle Trauung zwar schwierig ist, da sie das Standesamt voraussetzen würde, aber die Paare wurden auf jeden Fall gesegnet. Das christliche Angebotsspektrum für das hedonistische Milieu ist darüber hinaus aber durchaus noch weiter ausbaufähig.

11 Milieuübergreifendes Ein milieuübergreifendes Problem der Festlegung auf den Sonntagmorgen als primäres Angebotsfenster kirchlichen Handelns liegt darin, dass nicht wenige Menschen am Sonntag arbeiten müssen. Zwar schützt das Grundgesetz (Art. 140) den Sonntag und gesetzliche Feiertage als »Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung«, aber im Arbeitszeitgesetz (§10) sind für 16 verschiedenen Gruppen von Arbeitsbereichen Ausnahmeregelungen vorgesehen (z. B. Rettungsdienste, Polizei, Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen, Gaststätten, Kulturund Freizeiteinrichtungen, Medienarbeiten, Verkehrsbetriebe, …). Wenn man alle Bereiche zusammennimmt, ergibt sich eine große Anzahl von Menschen, die an Sonn- und Feiertagen beschäftigt sein können. Die Debatte um den »selbstbestimmten Sonntag« zeigt, dass bestimmte Arbeitgeber die Möglichkeiten zum Sonntags-Shopping gerne ausbauen würden.21 Eine Konsequenz wäre eine zunehmende Anzahl von Beschäftigten an Sonntagen. Dieser Durchgang durch die zehn deutschen SINUS-Milieus hatte seinen Fokus auf dem jeweiligen spezifischen Zeitverständnis und seinen möglichen Konsequenzen für kirchliches Handeln. Denn die Kommunikation des Evangeliums kann gelingen, wenn auch die zeitlichen Rahmenbedingungen und Einbettungen den Bedürfnissen und Lebensgewohnheiten der Menschen entsprechen (kontextuell) oder gezielt widersprechen (kontrakulturell)22, die mit dem Evangelium erreicht werden sollen.

20

www.summer-breeze.de/de/abc/a-z (zuletzt geprüft am 18.02.2019). www.zeit.de/wirtschaft/2017-05/einzelhandel-sonntag-onlinehandel-diskriminierung (zuletzt geprüft am 18.02.2019). 22 Vgl. zu dieser Unterscheidung in diesem Band: Christian Grethlein, Kommunikation des Evangeliums und die Frage der Milieusensibilität, 4. Evangelium und Kultur. 21

4 Die lokale Dimension

Der Raum des Evangeliums: Zu den Voraussetzungen einer raumtheoretischen Erfassung der Kommunikation des Evangeliums Matthias D. Wüthrich In der Milieustudie der Evangelisch‐reformierten Landeskirche des Kantons Zürich werden die zehn unterschiedenen SINUS-Milieus jeweils auch im Blick auf die Kategorie »Eigenorte und Unorte« hin untersucht und porträtiert.1 Die diesbezüglichen Ergebnisse brauchen hier nicht im Einzelnen rekapituliert zu werden, denn die Grundeinsicht, die sich daraus ergibt, ist ohne weitere Erklärung evident: Jedes Milieu hat seine eigenen Raumpräferenzen im Blick auf den Stil, die Einrichtungsmaterialien, die äußere Lage der Wohnung bzw. des Wohnhauses, im Blick auf das Wohlbefinden in öffentlichen Gebäuden wie Kirchenraum, Schule, Arbeitsplatz, Opernhaus, im Blick auf Erholungsräume und die Gestaltung öffentlicher Plätze etc. Fragt man nach einer lebensweltspezifischen Kommunikation des Evangeliums so müsste man daraus folgern, dass diese zumindest auch in milieuspezifischen Räumen zu erfolgen hätte. Dem intuitiven Urteil folgend, müssten das in erster Linie Räume sein, in denen die jeweiligen Menschengruppen sich möglichst wohl fühlen und entsprechend empfänglich für das Evangelium sind. Von dieser Grundeinsicht geleitet, müsste eine theologische Bearbeitung der räumlich-lokalen Dimension einer milieusensiblen Kommunikation des Evangeliums zunächst erheben, in welchen räumlichen Umgebungen gegenwärtig faktisch diese Kommunikation geschieht. Sodann müssten dieser Erhebung gegenüber alternative räumliche Umgebungen beschrieben werden, in denen 1

Evangelisch-reformierte Landeskirche des Kantons Zürich, Milieustudie zh.ref.ch. Lebensweltliche, religiöse und kirchliche Orientierungen im Kanton Zürich. Im Auftrag der Evangelisch – reformierten Landeskirche des Kantons Zürich, Heidelberg/Zürich, 2011 (www.kirchenreform-zh.ch/dokumente/milieu-studie [zuletzt geprüft am 18.02.2019]). Die Studie operiert mit einem sehr weiten Ortsbegriff.

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jene Kommunikation je nach Milieu idealerweise (ergänzend oder ersatzweise) zu vollziehen wären. Verschiedene klassische und bisher unbedachte Räume müssten dabei in milieuspezifischer Weise jeweils neu sortiert werden: An erster Stelle wäre sicher der Kirchenraum zu nennen, der durch seine intensiven »Anmutungsqualitäten«2 und seine »Erhabenheit«3 für die Kommunikation des Evangeliums in besonderer Weise geeignet scheint, wie auch die Kirchenraumpädagogik in den vergangenen Jahren deutlich herausgearbeitet hat.4 Doch man müsste sicher auch über Kirchgemeindehäuser und alle christlichen und interreligiösen Andachtsräume in öffentlichen Zonen und Institutionen (in Bahnhöfen, Flughäfen, Gefängnissen, Spitälern, Friedhöfen) nachdenken. Man müsste sodann öffentliche Räume in Betracht ziehen, die nicht mit spezifisch religiösen Zwecken verbunden sind (Marktplätze, Kulturzentren, Konzertsäle etc.). Auch die Kommunikation des Evangeliums im privaten Wohnbereich wäre auf verschiedene Weise in den Blick zu nehmen. Schließlich wäre – je nach Kontext – ein besonderes Augenmerk auf die Kommunikation in verschiedenen kulturell spannungsvollen contact zones sowie in non-lieux5 und in Gegenden extremer sozialer Verwahrlosung und in Kriegsgegenden zu richten. So ließe sich ein differenziertes Rauminventar erstellen, das zu einer kontextrelativen, milieuspezifischen Topologie der Räume entwickelt werden könnte und zur Beurteilung der Angemessenheit und Geeignetheit der Kommunikation des Evangeliums herangezogen werden könnte. Und natürlich wäre die Liste noch vielfältig zu ergänzen … Eine solche eilfertig erstellte Topologie erscheint prima vista durchaus hilfreich. Doch sie lebt von Voraussetzungen, die theologisch nicht so schnell und unbedacht nachvollzogen werden können und dürfen. Denn die eben vorgestellte Methode geht von der Annahme aus, dass die räumliche Umgebung eine bestimmte Rückwirkung, einen gewissen Einfluss auf die Kommunikation des Evangeliums hat, diese Kommunikation auf jeden Fall nicht als ein raumneutraler Vorgang gedeutet werden kann. Die Frage ist jedoch, ob diese Annahme theologisch geurteilt nicht zu einer Vergötzung des Raumes führt, die Freiheit des Evangeliums bzw. des Wortes Gottes durch äußerliche Rahmenbedingungen einschränkt und in eine opake natürliche Theologie abgleitet. 2 So Franz-Heinrich Beyer, Geheiligte Räume – Theologie, Geschichte und Symbolik des Kirchengebäudes, Darmstadt 2008, 19. 3 Horst Schwebel (Hg.), Über das Erhabene im Kirchenbau (Ästhetik – Theologie – Liturgik 37), Münster 2004. 4 Aus den vielen Beiträgen zur Kirchenpädagogik bzw. Kirchenraumpädagogik sei exemplarisch genannt: Hartmut Rupp, Handbuch der Kirchenpädagogik. Kirchenräume wahrnehmen, deuten und erschließen, Stuttgart 2006. 5 Nach dem französischen Sozialanthropologen Marc Augé bringt die »Übermoderne« Nicht-Orte – »non-lieux« – hervor: kommunikativ verwahrloste Orte der Einsamkeit, ohne Identität, Referenz und Geschichte, Transiträume wie Einkaufszentren, Autobahnen, Bahnhöfe oder Flughäfen. Marc Augé, Non-Lieux. Introduction à une anthropologie de la surmodernité, Paris 1992.

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Wir möchten darum das Unternehmen einer solchen Topologie milieuspezifischer Räume zurückstellen und in diesem Beitrag zunächst die fundamentalere Frage klären, wie eine lebensweltlich orientierte Kommunikation des Evangeliums theologisch so konzipiert werden kann, dass dabei milieuspezifische Raumpräferenzen einfließen und erfahrungsgemäß beschrieben werden können. Wir deuten also die Kommunikation des Evangeliums nicht als ein raumindifferentes Geschehen, sondern suchen einen theologisch verantwortbaren Weg, der dieses auch im Blick auf seine räumlichen Aspekte erfahrungsgemäß zu konzipieren erlaubt. Am Beispiel des Kirchenraumes klärt unsere Untersuchung in einem ersten Schritt, worin denn näherhin das Problem einer theologischen Deutung und Würdigung des Raumes besteht und wie ihr Fehlen einer angemessenen Erfassung religiöser Erfahrungen im Wege steht (1). In einem zweiten Schritt wird ein alternatives Raummodell und seine Konkretion im Kontext des sog. spatial turn vorgestellt, das diese Würdigung zu vollziehen erlaubt (2). In einem dritten und letzten Schritt wird schließlich danach gefragt, wie sich vor dem Hintergrund dieses alternativen Raumkonzeptes die Kommunikation des Evangeliums nach ihrer räumlichen Seite hin theologisch konzipieren lässt (3). Der Beitrag skizziert also keine Topologie milieuspezifischer Räume, sondern versucht die raumtheoretischen Grundlagen zu legen, auf denen eine solche Topologie allererst zu entwickeln wäre.

1 Der Kirchenraum und die Aporien des Containermodells Um die in Frage stehende Problematik einer theologischen Würdigung der Räume der Evangeliumskommunikation besser verstehen zu können, ist es hilfreich, sie anhand einer prominenten Deutung des Kirchenraumes zu verdeutlichen. Wir wählen dazu die Position von Horst Schwebel, dem ehemaligen Direktor des Instituts für Kirchenbau und kirchliche Kunst der Gegenwart. Er schreibt: »Dem immer wieder geäußerten Wunsch nach einer Theologie des Kirchenraums muß neutestamentlich und reformatorisch entgegengehalten werden, daß es eine solche Theologie nicht gibt und auch nicht geben kann, weil das kirchliche Gebäude, weil der Kirchenraum kein medium salutis ist. Für das Heil des Menschen, für die Gottesbeziehung ist die Gestalt des Kirchenbaus irrelevant.«6

Alle gegenteiligen Versuche kämen einem Unternehmen gleich, das den Kirchenraum mit dinglicher »Sakralität« oder »Heiligkeit« auflädt. Schwebel rekurriert bei der Darstellung seiner Position auf Martin Luther und versteht diesen als Vertreter eines rein funktionalen Kirchenraumverständnisses:

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Horst Schwebel, Die Kirche und ihr Raum. Aspekte der Wahrnehmung, in: Sigrid Glockzin-Bever / ders. (Hg.), Kirchen – Raum – Pädagogik (Ästhetik – Theologie – Liturgie 12), Münster 2002, 9–30, 15.

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»Als Gebäude ist ein Kirchengebäude ein Gebäude wie jedes andere auch, ohne daß es eine besondere Heiligkeit oder Sakralität hätte. Seinen Wert erhält das Kirchengebäude einzig über das, was hier geschieht.«7

Für Schwebel ist das Kirchengebäude ein Zweckgebäude, es dient der Versammlung der Glaubenden, der Predigt und der Feier der Sakramente, es ist also rein funktional dem Gottesdienst zugeordnet. Zwar versucht auch Schwebel mittels ästhetischer und anthropologischer Kategorien der Erhabenheit des Kirchenraumes Ausdruck zu verleihen. Ebenso ist darauf zu verweisen, dass es in der neueren Diskussion um die theologische Deutung des Kirchengebäudes sehr unterschiedliche Zugänge gibt, auch Zugänge, die der Position Schwebels deutlich entgegenstehen.8 Dennoch darf man sagen, dass Schwebel hier einer in der protestantischen Theoriebildung weit verbreiteten Deutung des Kirchenraumes Ausdruck verleiht, die durchaus auf den Linien des Erbes sowohl der lutherischen wie reformierten Reformatoren liegt. Diese Denktradition hat ihr ehrwürdiges Recht. Sofern sie nämlich gegen eine Vermischung von Wort Gottes und Kirchenraum eintritt. Denn im Rahmen ihrer raumtheoretischen Voraussetzungen würde eine theologische Würdigung des Kirchenraumes vom Wort Gottes her tatsächlich nur zu einer Vergötzung des Kirchengebäudes führen, zu einer den Kirchenmauern als solchen (und das heißt auch losgelöst vom Gottesdienst bzw. den Deutungen seiner Besucher) substanziell innewohnenden »Heiligkeit«. Nun ist aber ein kurzer Blick auf die raumtheoretischen Voraussetzungen zu werfen, unter denen der eben vorgestellte dogmatisch gesteuerte Abwehrreflex zustande kommt. Er kommt dadurch zustande, dass Raum als eine vom Kommunikationsprozess des Evangeliums vollständig unabhängige Größe gedacht wird. Der Raum bildet gleichsam die bergende Umgebung, die Umfriedung, den stummen Hintergrund der Verkündigung des Wortes Gottes, bleibt aber sachlich davon unberührt und wirkt auch nicht darauf zurück. Deutet man den Raum in dieser Weise, so wird er nach dem Modell eines Containers, eines Behälters konzipiert. Raum ist der Behälter unseres Heilserlebens, das Evangelium wird in ihm erfahren, aber er selbst ist in dieses Geschehen nicht unmittelbar involviert. Dieser Deutung geht implizit die Annahme zur Seite, dass dem Heilserleben selbst bzw. der Kommunikation des Evangeliums prinzipiell keine konstitutive räumliche Dimension in unserer Erfahrung eignet.

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Schwebel, Die Kirche und ihr Raum, 14f. Vgl. die Überblicke in: Tobias Woydack, Der räumliche Gott. Was sind Kirchengebäude theologisch? (Kirche in der Stadt 13), Hamburg-Schenefeld 22009, 146–169; Klaus Raschzok, »… geöffnet, für alle übrigens« (Heinrich Böll). Evangelische Kirchenbauten im Spannungsfeld von Religion und Gesellschaft, in: Hanns Kerner (Hg.), Lebensraum Kirchenraum. Das Heilige und das Profane, Leipzig 2008, 17–36, 24–27; Stephan Schaede, Heilige Handlungsräume? Eine theologisch-raumtheoretische Betrachtung zur performativen Kraft von Kirchenräumen, in: Ingrid Baumgärtner u. a. (Hg.), Raumkonzepte. Disziplinäre Zugänge, Göttingen 2009, 51–69, 57–69. 8

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Raum als Behälter zu konzipieren, gehört zu den Alltagstheorien unseres Raumverständnisses. Wir haben gelernt, Raum als eine Art »Behältnis-Ding« hinter den Dingen zu verstehen. Man kann in diesem Zusammenhang von einer Essenzialisierung von Raum sprechen (von lat. essentia »Wesen«, Raum wird verwesentlicht, substanzhaft gedacht, es wird ihm ein »Sein« zugesprochen). Zur gesellschaftlichen Etablierung und Reproduktion solcher Essenzialisierungen dürften verschiedene gesellschaftliche Praktiken beigetragen haben: Man denke etwa an die Unterrichtspraxis, in deren Rahmen schon früh Grundlagen euklidischer Geometrie eingeübt werden9; man denke an die Ausbildung der Zentralperspektive in der Renaissance und die metrische Vermessung und die geografischen Orientierungsinstrumentarien, die sich in der Neuzeit etablieren; oder man denke an die ökonomische Praxis des Kaufens und Verkaufens von Parzellen der Erdoberfläche, die Wohnraum zu einem metrisch abgrenzbaren Besitzobjekt macht; oder man denke an die durch Staatsgrenzen vollzogene nationale Territorialisierung von »Lebensraum« usw.10 Weil wir gelernt haben, Raum so zu konzipieren, meinen wir auch, unsere räumlichen Erfahrungen als Erfahrungen »in einem Behältnisraum« verstehen zu müssen. Wir nennen hier exemplarisch zwei Punkte, die dagegen sprechen, unsere räumlichen Erfahrungen11 so zu deuten: 1. Die Soziologin Martina Löw hat darauf hingewiesen, dass wir sowohl in unserer Wahrnehmung als auch in unserer Erinnerung uns umgebende Menschen, Lebewesen oder materielle und symbolische Güter ungetrennt von den Orten bzw. den Räumen synthetisieren, an bzw. in denen diese platziert sind. In unserer Wahrnehmung verschmelzen Menschen oder Objekte mit den Orten, an denen sie lokalisiert sind.12 Die Beobachtung Löws lässt es nicht zu, anzunehmen, dass sich Akteurinnen und Rezipienten im Prozess der Kommunikation des Evangeliums als raumunabhängig erfahren.13 Gerade da, wo Erfahrungen den Charakter von Widerfahrnissen oder von »star-

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Wenngleich die euklidische Geometrie nicht zwingend nach dem Containermodell konzipiert werden muss. Zu Bildungs- und Sozialisationsprozessen im Sinne einer containerartigen Raumkonzeption vgl. Martina Löw, Raumsoziologie, Frankfurt am Main 2001, 73–82. 10 Ähnliche Beispiele bei Bernd Belina, Benno Werlens Theorie der Aneignung der materialen Welt unter Absehung der Materialität sozialer Verhältnisse, Erwägen Wissen Ethik 24 (2013), 17–19, 17f. 11 Wir sprechen hier bewusst nicht von Raumerfahrungen, da es kein Objekt namens »Raum« gibt, das erfahren werden könnte. Wir verstehen Raum vielmehr als eine alle Erfahrung mitkonstituierende Sinnordnung. Zum Begriff (religiöser) räumlicher Erfahrung vgl. Matthias D. Wüthrich, Raum Gottes. Ein systematisch-theologischer Versuch, Raum zu denken (FSÖTh 143), 499–517. 12 Löw, Raumsoziologie, 199. 13 Wir gehen hier von einem weiten Erfahrungsbegriff aus, der sowohl die Wahrnehmung wie das Erinnern integriert.

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ken Erfahrungen« haben, »die uns und unsere Welt verändern«14, existieren sie für uns nicht ohne Raumbezug, können also nicht von einem erfahrungsunabhängigen Behältnis namens »Raum« abgelöst verstanden werden. 2. Auch die Sprache gibt uns Hinweise darauf, dass das Modell des Raumes als eines Containers unseren Erfahrungen nur noch partiell entspricht. Denn unser alltagssprachliches Reden von Raum erweitert sich und wird zunehmend unscharf. Während die diskursive Relevanz des Raumbegriffes zunimmt, verliert er gleichzeitig an Erklärungskraft.15 Es fällt zumindest auf, dass der Raumbegriff nicht nur auf geografische oder architektonische Bereiche, sondern sehr oft auf Beziehungsverhältnisse unter Menschen angewandt wird, man denke etwa an Ausdrücke wie: Lebensraum, Handlungsraum, Sprachraum, Denkraum, Raum der Begegnung, Erholungsraum, Freiraum, ökonomische Räume, Räume der Kunst, der Musik usw. Gerade was diese relational-personale Verwendung angeht, hat sich der Gebrauch des Raumbegriffes erweitert. Zeigt die Zunahme dieser Ausdrücke nicht an, dass wir Raum immer weniger als einen Behälter erfahren, der von unseren zwischenmenschlichen Beziehungen unabhängig ist? Warum ist das so? Ich vermute, dass das u. a. mit dem enormen Erfolg des world wide web zusammenhängt. Denn hier werden virtuelle Beziehungsverhältnisse und Sozialordnungen auffällig häufig mittels räumlich konnotierter Ausdrücke wiedergegeben: Cyberspace, Internet- oder Online-Forum, Chatroom, Portal, Fenster, Homepage etc. Unterstellt man dem alltagssprachlichen Gebrauch, er verstehe »Raum« meist im Sinne eines bergend-umfassenden Behältnisses, dann kommt man nicht umhin, in jener relational-personalen Ausweitung der Sprachverwendung eine Wucherung von Raummetaphern zu sehen. Man kann darin freilich auch eine komplexe Entwicklung sehen, in der es nicht nur zu einer metaphorisch-semantischen Erweiterung, sondern auch zu einer grundlegenden Neukonfiguration dessen kommt, was »Raum« genannt wird – und zwar dahingehend, dass sich immer mehr relational-personale Strukturen in die Rede von Raum einzulagern beginnen. Zumindest im Blick auf das world wide web fragt sich: Muss das nicht zwangsläufig so sein, wenn die dominante Erfahrung, die wir in unserem technisierten Alltag stets neu machen, die ist, dass wir in mehreren Räumen zugleich sein können (im Büro und via Internet zugleich auf einer Plattform für Wohnungen in New York), dass wir mit Menschen über die ganze Welt gleichzeitig kommunizieren können? Wie soll diese Erfahrung sprachlich erklärkräftig ausgedrückt werden können,

14 Zur Differenz zwischen starken und schwachen Erfahrungen vgl. Bernhard Waldenfels, Bruchlinien der Erfahrung. Phänomenologie – Psychoanalyse – Phänomenotechnik, Frankfurt am Main 2002, 30–34, 30. 15 Vgl. Benno Werlen, Körper, Raum und mediale Repräsentation, in: Jörg Döring / Tristan Thielmann (Hg.), Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld 2008, 365–392, 378.

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wenn man Raum im Sinne eines statischen dreidimensionalen, bergendumfassenden Behältnisses versteht, das beziehungsunabhängig ist? Die Deutung des Kirchenraumes im Sinne eines neutralen, rein funktionalen Behälters blockiert eine theologische Würdigung des Kirchenraumes und verhindert, die räumlichen Aspekte der in ihm gemachten religiösen Erfahrungen wahrnehmen und theologisch deuten zu können. An diesem neuralgischen Punkt offenbaren sich »die Schwierigkeiten der Protestanten, mit Räumen umzugehen«16. Es gelingt der in dieser Tradition stehenden protestantischen Theologie nicht, die Erfahrung des Wortes Gottes im Gottesdienst mit den räumlichen Erfahrungen des Kirchenraumes theologisch zu verbinden. Damit wurde und wird aber auch das Wort Gottes – zumindest auf der Ebene der lehrmäßigen Deutung und Konzeptualisierung des Kirchenraumes – zu einem raumlosen und damit faktisch auch leiblosen Abstraktum. Die Kommunikation des Evangeliums kann unter diesen Bedingungen theologisch nicht erfahrungsgemäß beschrieben werden! Die eben beschriebene Schwierigkeit ist angesichts der zunehmenden Attraktivität von Kirchenräumen im Bereich »gelebter Religion« nur schwer erträglich und das sich hier anzeigende Reflexionsdefizit der Theologie dürfte einer der Treiber hinter der auffälligen Zunahme an Studien zum Kirchenraum in den letzten Jahren sein. Wie bereits deutlich geworden ist, führen wir die sich manifestierenden Schwierigkeiten im Blick auf den Kirchenraum (und der Kirchenraum stellt nur die sichtbare Spitze des Eisberges des protestantischen Raumproblemes dar!) auf eine theoretisch unangemessene Modellierung des Raumes zurück: nämlich die Modellierung nach der Vorstellung eines Behälters. Es sind aber nicht nur die eben genannten Gründe, die die Konzipierung des Raumes nach dem Containermodell problematisch machen. Es sind auch philosophische Probleme, die sich im Blick darauf stellen. Die entscheidende und nicht leicht abzuweisende Frage ist dabei, ob das Containermodell (in der hier präsentierten Konkretion) nicht ein bestimmtes Sein des Raumes suggeriert, das dann in einer nur schwer zu denkenden Weise neben oder hinter dem Sein der »Dinge« zu stehen käme – was für die meisten Philosophen in der Moderne keinen gangbaren Weg darstellt. Unsere Ausführungen legen nahe, nach Alternativen zum Containermodell des Raumes zu suchen, um unser Ziel zu erreichen, die Kommunikation des Evangeliums auch hinsichtlich ihrer räumlichen Aspekte erfahrungsgemäß denken und beschreiben zu können.

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So der verkürzte Titel des Aufsatzes von Peter Beier, Über die Schwierigkeiten der Protestanten mit Räumen umzugehen, in: Rainer Bürgel (Hg.), Raum und Ritual. Kirchenbau und Gottesdienst in theologischer und ästhetischer Sicht, Göttingen 1995, 39–45, 40.42. Unter dem Umgang mit Räumen wird hier der Umgang mit Kirchenräumen verstanden.

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2 Das relationale Modell des Raumes und der sog. spatial turn Während der Physiker Isaak Newton mit seiner Vorstellung eines »absoluten Raumes« zu den wirkmächtigen Vertretern des eben problematisierten Containermodells in der Neuzeit avancierte, hat sein Antipode Gottfried Wilhelm Leibniz im Briefwechsel mit dem Newtonanhänger Samuel Clarke ebenso wirkmächtig ein anderes Raummodell vertreten. Er schrieb an Clarke: »Was meine eigene Meinung anbetrifft, so habe ich […] gesagt, daß ich den Raum ebenso wie die Zeit für etwas rein Relatives halte, nämlich für eine Ordnung des Nebeneinanderbestehens, so wie die Zeit eine Ordnung der Aufeinanderfolge ist. Nämlich als Raum bezeichnet man eine mögliche Ordnung der Dinge, die gleichzeitig existieren, wobei man sie als gemeinsam existierend betrachtet, ohne dabei nach ihrer besonderen Art und Weise des Existierens zu fragen.«17

Raum wird hier als eine Ordnungsrelation verstanden, Raum hat keine seinsmäßige Substanz, sondern er ist eine Anordnung von Körpern an Orten. Es gibt keinen Raum, in dem sich diese Anordnung befindet, die Lagerelationen der Orte der Körper ist bereits Raum. Man kann im Blick auf Leibniz von einem relationalen Raummodell sprechen. Wie beim Containermodell, so können auch beim relationalen Modell Raumbegriffe und -verständnisse auf unterschiedlichen Abstraktionsniveaus angesiedelt sein. Bei Leibniz ist der Abstraktionsgrad sehr hoch. Doch das muss nicht so sein. So fand im Kontext des sog. spatial turn18 das relationale Modell komplexe Konkretionen, die sich auch auf die räumlichen Bezüge sozialer Praktiken von Menschen beziehen. Um zu konkretisieren, wie im Kontext des spatial turn das relationale Raummodell zur Deutung sozialer Praktiken verwendet wird, soll im Folgenden der Entwurf der »Raumsoziologie« (2001) von Martina Löw vorgestellt werden. Löw selbst bezieht sich noch nicht explizit auf den (damals in Deutschland noch wenig bekannten) spatial turn, kann ihm aber retrospektiv sachlich zugerechnet werden und wird so auch in sozial- und kulturwissenschaftlichen Beiträgen breit rezipiert. Löw entwirft einen weiten Raumbegriff (sie unterscheidet nicht 17

Volkmar Schüller (Hg.), Der Leibniz-Clarke Briefwechsel, Berlin 1991: Leibniz’ drittes Schreiben, 4. Abs., 38. Auf die historischen Vorläufer des Containermodells und des relationalen Modells kann hier nicht eingegangen werden. 18 Unter spatial turn sei hier eine seit dem Ende der Achtzigerjahre beobachtbare, neue wissenschaftliche Aufmerksamkeit für Raumfragen verstanden, die (im Anschluss an Vordenker wie v. a. Michel Foucault und Henri Lefebvre) ihren Ausgang in der angelsächsischen postmodernen Humangeografie und Städteplanung (Edward W. Soja, David Harvey, Derek Gregory, Doreen Massey u. a.) und in einer parallelen Theoriebildung in der Soziologie (Pierre Bourdieu, Erving Goffman und Anthony Giddens u. a.) genommen hat und die durch eine starke Sensibilisierung für räumliche Bezüge sozialer Praktiken charakterisiert ist. Aus der Fülle der Literatur zum spatial turn sei exemplarisch genannt: Jörg Döring / Tristan Thielmann (Hg.), Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld 2008. Für eine Hinführung aus Sicht der Theologie vgl. Wüthrich, Raum Gottes, 27–89, bes. 27–58.

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wie wir zwischen Raummodell und Raumbegriff/-verständnis). Sie geht von folgender Grunddefinition aus: »Raum ist eine relationale (An)Ordnung von Lebewesen und sozialen Gütern an Orten. Raum wird konstituiert durch zwei analytisch zu unterscheidende Prozesse, das Spacing und die Syntheseleistung.«19 Wir erläutern kurz die wichtigsten Elemente der Definition: 1. Für Martina Löw entsteht Raum durch das Handeln von Menschen, Raum wird konstituiert und sozial produziert. Raum entsteht, indem Menschen Güter und Menschen platzieren (spacing). Raum entsteht aber auch durch Wahrnehmungen, Erinnerungen und Vorstellungen, d. h. Raum wird synthetisiert (Syntheseleistung).20 2. Am Begriff der (An)Ordnung lässt sich zeigen, wie Löw Handeln und Struktur und damit auch subjektive und kollektive Raumkonstitution versteht: Der Begriff steht einerseits für die Ordnung bzw. die Struktur, die durch Räume bereits geschaffen ist und andererseits für den Prozess des fortwährenden handelnden Anordnens.21 Alltägliches, repetitives Handeln und räumliche Strukturen sind zirkulär aufeinander bezogen: räumliche Strukturen bringen ein Handeln hervor, welches in der Konstitution von Räumen räumliche Strukturen reproduziert.22 Wo Räume selbst da bestehen bleiben, wo gewisse gesellschaftliche Teilgruppen sie nicht reproduzieren, kann man von institutionalisierten Räumen sprechen.23 »Als institutionalisierte (An)Ordnung wird der Raum zur Objektivation, das bedeutet, dass er – ein Produkt menschlicher Tätigkeit – als gegenständlich erlebt wird«24. Neben solchen sozial produzierten Objektivationen im subjektiven Erleben von Menschen gibt es für Löw jedoch auch ein härteres Außen im Sinne dessen, »was die Natur vorgibt«25 – selbst wenn dieses Außen immer noch durch synthetisierende Verknüpfungsprozesse als Raum erschlossen wird.26 Zu diesem Außen zählt auch die »Außenwirkung«27 von Lebewesen und sozialen Gütern, die sich anscheinend nicht nur auf »Gerüche, Töne oder Farben«28 beschränkt, sondern auch atmosphärisch gespürt werden kann: »Raum ist eine an materialen Sachverhalten festgeschriebene Figuration, deren spürbare unsichtbare Seite die Atmosphäre ist.«29 Es bleibt aber auch hier dabei, dass die Wahrnehmung solcher Atmosphären ein selektiver und konstruktiver Vorgang ist.30 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30

Löw, Raumsoziologie, 271 et passim. Löw, Raumsoziologie, 158–161. Löw, Raumsoziologie, 166. Löw, Raumsoziologie, 172. Zum Begriff der räumlichen Struktur vgl. 171f. Löw, Raumsoziologie, 161–166, vgl. 178. Löw, Raumsoziologie, 164. Löw, Raumsoziologie, 191. Als Beispiel nennt sie an dieser Stelle einen Fluss. Löw, Raumsoziologie, 194. Löw, Raumsoziologie, 194.195f.204–210. So noch Löw, Raumsoziologie, 194. Löw, Raumsoziologie, 205, vgl. 204–210. Löw, Raumsoziologie, 197.209.

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3. (An)geordnet sind oder werden »Lebewesen und soziale Güter«. Soziale Güter können primär materieller (z. B. Tische, Häuser) oder primär symbolischer Art sein (z. B. Lieder, Werte, Vorschriften).31 Indem Löw auch Lebewesen, v. a. Menschen und Tiere, als Objekte der Raumkonstitution betrachtet, geht sie über frühere soziologische Raummodelle hinaus.32 Damit gewinnt auch die Standortgebundenheit und Perspektivität der je eigenen Raumkonstitution eine neue Qualität und Bedeutung. Ein wichtiger Gedanke kommt hinzu: soziale Güter und Lebewesen bilden nicht je für sich einen Raum, sondern in ihren Wechselwirkungen. Konkret bedeutet das beispielsweise: Wie Menschen interagieren, ihr gemeinsames Reden, ihre Gesten und Aktivitäten und meine Platzierung unter ihnen – all das fließt ein in ein Ensemble, das »Raum« heißt. Auch mein Körper, seine Bewegungen relativ zu den Körpern umgebender Mitmenschen, seine Ausrichtung, seine Wahrnehmungen von Außenwirkungen, die »Ausstrahlung« und Stimmung von Menschen u. a. spielen eine zentrale Rolle. Dadurch wird Raum verflüssigt und dynamisiert, denn er baut sich durch ein komplexes Beziehungsgeschehen auf. Wohlgemerkt, die Bezeichnung »Raum« ist hier keine Metapher. Ein übertragener Gebrauch des Raumbegriffes wäre nur dann angezeigt, wenn dieser von seiner Ausgangsbedeutung her nicht mehr in der Lage wäre, die Dynamik sozialer Praktiken in sich abzubilden (wie das bei Containermodell der Fall ist).

3 Der Raum der Kirche In diesem Kapitel soll nun der letzte Schritt unserer Argumentation vorgenommen werden, der vor dem Hintergrund des Löwschen Raumverständnisses zu zeigen versucht, wie die Kommunikation des Evangeliums nach seiner räumlichen Seite hin zu denken und zu beschreiben ist. Wir konzentrieren uns dabei zunächst wieder auf den Kirchenraum: Operiert man mit einem auf dem relationalen Modell basierenden Raumverständnis wie Löw das tut, dann ist der Kirchenraum keine neutrale, rein funktionale Größe mehr. Er erhält theologische Bedeutung, weil er nicht vom Wortgeschehen im Gottesdienst abgelöst gedacht werden kann. Der Kirchenraum ist nun nicht mehr indifferent gegenüber der Art und Weise wie das Wortgeschehen in der Gemeinde räumlich und leiblich erfahren wird. Denn das Hören des Evangeliums bleibt von all dem nicht mehr unberührt: der Atmosphäre des Kirchenraumes, seinen Lichtverhältnissen, seinen Kirchenfenstern, seinen architektonischen Linien und Bewegungssuggestionen33, seiner Temperatur, seinen Gerüchen und der Kirchenmusik, sodann v. a. auch von den uns äußerlich und innerlich näher oder ferner stehenden, versammelten Menschen, ihrem 31

Löw, Raumsoziologie, 153. Löw, Raumsoziologie, 133f.154f. 33 Zum Begriff der Bewegungssuggestion vgl. Hermann Schmitz, Der Leib, der Raum und die Gefühle, Bielefeld 2007, 80. 32

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Singen und Beten, ihrem feierlichen Essen und Trinken, der Anordnung und Ausrichtung ihrer Körper und ihren Bezüge zum eigenen Körper usw. All diese räumlichen Erfahrungsmomente fließen in unsere Hörerfahrungen des Evangeliums mit ein und werden dort zu einem Ensemble, einer Formation synthetisiert, die »Kirchenraum« heißt. Sowohl das Verkünden wie das Hören des Evangeliums im Kirchengebäude sind konstitutiv mit dem subjektiven und kollektiven leiblichen Raumerleben verbunden, sie sind verwoben mit dem Kirchenraum, sie sind ihm erfahrungsmäßig gleichsam eingeschrieben und wirken von früheren subjektiven und kollektiven Einschreibungen her auch immer wieder neu auf unsere Erfahrungen zurück. Die Löwsche Raumtheorie lässt keine Aussagen über die materielle Substanz des Kirchenraumes zu, vielmehr ermöglicht sie zu erfassen, wie er sozial erfahren, gedeutet und (re-)produziert wird. Mit ihrer Hilfe gelingt es darum, den Kirchenraum als heiligen Raum zu deuten, er ist heilig (oder kann es zumindest immer wieder werden) in der subjektiven und kollektiven Produktion von Raum. »Heiligkeit« meint hier eine spezifische Beziehungsqualität und bezeichnet nicht eine substanzontologische Heiligkeit des physischen Kirchengebäudes, wie sie Schwebel u.a. kritisiert haben. Doch nicht nur der Kirchenraum, sondern auch die anderen milieuspezifischen Räume der Topologie, die wir eingangs beschrieben haben, lassen sich mithilfe der Raumtheorie Löws so beschreiben, dass sie für eine milieuspezifische Kommunikation des Evangeliums bedeutsam sind und in deren Erfahrung einfließen – und entsprechend theologisch gewürdigt werden können. Die eingangs gestellte Leitfrage ist damit beantwortet. Auch die Raumtheorie Löws hat freilich ihre Grenzen. Denn wie es im Rahmen einer soziologischen Theorie nicht anders zu erwarten ist, wird Glaube hier auf eine sozial vermittelte kognitive Konstruktionsleistung reduziert und so bleibt die Theorie blind für ein diese Konstruktion noch einmal transzendierendes Wirken Gottes am Menschen. »Gott« kann in dieser Theorie letztlich nichts anderes sein, als ein fiktionaler, symbolischer Anordnungsgegenstand im synthetisierten Ensemble des Raumes.34 Zum Schluss meines Beitrages sei darum wenigstens vektoriell angedeutet, wie der hier entwickelte Gedankengang weitergeführt werden müsste.35 Aufgrund der erwähnten Grenzen der Löwschen Raumtheorie hat eine theo-logische Reflexion räumlicher Aspekte milieusensibler Evangeliumskommunikation weder beim Kirchenraum noch bei den anderen Räumen unserer Topologie anzusetzen, die eingangs genannt wurde. Sie hat vielmehr dort anzusetzen, wo die Kommunikation des Evangeliums selbst verortet ist: nämlich im Raum der Kirche! Dieser Raum kann mit dem Instrumentarium der Raumtheorie Löws 34

Obwohl wir mit unserem Beitrag – was den Kirchenraum angeht – weitgehend der an Löw orientierten Kirchenraumstudie von Woydack, Der räumliche Gott, zustimmen, bedarf es an dieser entscheidenden Stelle einer weiterführenden systematisch-theologischen Reflexion über die Leistungsgrenzen nichttheologischer Raumtheorien. 35 Für eine ausführlichere Darstellung des hier Angedeuteten vgl. Wüthrich, Raum Gottes, 427–460.

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nicht mit dem Wirklichkeitsgehalt versehen werden, der ihm aus der Sicht des Glaubens zukommt. Der Raum der Kirche entsteht immer dort, wo Menschen durch die Gottesfrage »Adam, wo bist Du« (Gen 3,9) aus ihren scham- und sündenbesetzten Leben herausgerufen werden, wo sie durch diesen Ruf – »ubi et quando visum est Deo« (Confessio Augustana V) – vor Gott neu verortet werden und so auch in ein neues Zusammensein mit anderen Menschen gebracht werden. Wenn im Neuen Testament von der Kirche geredet wird, so geschieht das oft in raumaffinen Bildern. Die Kirche wird als Leib Christi (1Kor 12,12f.) und die Christinnen und Christen als lebendige Steine bezeichnet, die zu einem geistlichen Haus auferbaut werden (1Petr 2,5), zu einem Bau, dessen Fundament die Apostel und Propheten und dessen Eckstein (oder Schlussstein) Jesus Christus bilden (Eph 2,20).36 Kirche wird als Haus (Hebr 3,6)37, als Tempel (z. B. 1Kor 3,16f. und 2Kor 6,16)38 oder sogar als himmlische Stadt (vgl. Apk 3,12) gedeutet. Es wäre schief, dieses Reden vor dem Hintergrund eines Containermodells zu deuten. Denn in diesen Ausdrücken geht es nicht um beziehungsunabhängige physisch-materielle Hintergrunds-Räume, sondern wird der Raum der Kirche als ein Beziehungsgeschehen gefasst. Auch und gerade der Raum der Kirche kann darum theologisch allein mittels eines relationalen Raummodells angemessen beschrieben werden. Er entsteht, indem der Geist Christi herausrufend zwischen sich und den Menschen und von da aus zwischen den Menschen Beziehung stiftet und ihre Wirklichkeit neu sehen lehrt. Der Raum der Kirche ist darum zunächst der Raum der geglaubten, verborgenen Kirche. Es ist der Raum, den sich das Evangelium durch seine Kommunikation schafft (wir sprechen darum im Titel dieses Beitrages vom »Raum des Evangeliums«). Doch dieser Raum der geglaubten Kirche ist kein von der raumproduktiven sozialen Praxis und den lebensweltlich spezifischen physischen Räumen der sichtbaren Kirche abstrakt losgelöster Raum. Der Raum der geglaubten Kirche baut sich vielmehr in, mit und unter unseren räumlichen Erfahrungen der sichtbaren Kirche auf – und ermöglicht dabei zugleich, die sichtbare Kirche allererst als Kirche zu »sehen«.

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In 1Kor 3,11 wird Jesus Christus als Fundament und in 1Tim 3,15 die Gemeinde als Pfeiler und Fundament bezeichnet. 37 So v. a. in den Pastoralbriefen, z. B. 1Tim 3,15. 38 Vgl. zudem die drei »Säulen« in Gal 2,9 und den »Fels« in Mt 16,18.

Der Raum der Kommunikation des Evangeliums – Praktische Impulse: Wie die Ästhetik des Raumes Einfluss nimmt Tobias Fritsche Räume nehmen in vielfacher Weise Einfluss auf das Bewusstsein, das Reden und Handeln von Menschen. Die Erkenntnisse des SINUS-Instituts beziehen sich vor allem auf ästhetische Vorlieben von Menschen in verschiedenen Milieus. In der Praxis können diese Erkenntnisse aus der Raumgestaltung des häuslichen Wohnraums einzelner Milieus wertvolle Impulse für die ästhetische Gestaltung von Räumen sein, in denen die Kommunikation des Evangeliums eine Rolle spielt. Nach neutestamentlichem Verständnis ist die Kommunikation des Evangeliums an keinen spezifischen Raum gebunden, aber der gestaltete Raum kann direkten Einfluss darauf haben, wie der Sender seine Botschaft formuliert und wie der Empfänger die Botschaft hört. Dies entspricht einem relationalen Raumverständnis, das davon ausgeht, dass der Raum durch ein Beziehungsgeflecht als Anordnung von »Lebewesen und sozialen Gütern an Orten«1 konstituiert wird. Ein biblisches Beispiel dafür ist die Rede des Paulus auf dem Areopag (Apg 17,22b–31). Der Raum, in dem Paulus predigt, ist der Areopaghügel als beziehungsreiches Setting der geschichts- und kulturträchtigen Polis Athen, geprägt von verschiedenen antiken Götter-Altären. Paulus greift zum einen die Ästhetik dieses spezifischen Raumes auf und knüpft darüber hinaus an die philosophisch geprägte Sprache epikureisch und stoisch denkender Passanten an. Paulus nimmt die Eigenarbeit dieses Raumes in seiner ästhetischen und milieugeprägten Eigenarbeit ernst und stellt sich in seiner Kommunikation des Evangeliums darauf ein. Interessanterweise sucht sich Paulus diesen Raum nicht von vornherein als Raum der Verkündigung aus. Zunächst predigt er in dem ihm vertrauten Raum der Synagoge, lässt sich dann aber von einigen Männern aus der Synagoge auf den Areopag führen und entfaltet vor den räumlichen Gegebenheiten dieses Ortes her seine Botschaft. Dem Weg des Paulus folgend, richtet dieses Kapitel sein Augenmerk auf die Praxis milieusensibler Kommunikation in zwei Raumsituationen: 1. Milieusensible Kommunikation im Kirchenraum 2. Milieusensible Kommunikation außerhalb kirchlicher Räume

1 Milieusensible Kommunikation im Kirchenraum Kirchlichen Gemeinschaften stehen in der Regel Räume zur Verfügung. Zu allererst sind das Kirchen, aber auch Gemeindehäuser und andere Sozialräume. 1

Martina Löw, Raumsoziologie, Frankfurt am Main 2001, 271ff.

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Auch an Klosteranlagen, Haus-Kapellen oder andere durch christliche Symbolik, Kunst oder Gestaltung geprägte Räume wäre hier zu denken. Milieusensible Kommunikation wird nach einer gründlichen Wahrnehmung der »Wohlfühlparameter« von unterschiedlichen Milieus darauf achten, welche Raumsprache der kirchlich geprägte Raum spricht und welche Elemente des Raums ein Hindernis oder auch eine Unterstützung für die Kommunikation des Evangeliums darstellen. Dies wird je nach Milieu sehr unterschiedlich sein. Durch bewusste (Um-)Gestaltung oder Ergänzung des Raums können auf der einen Seite Zugangsbarrieren vermindert werden. Im Extremfall können Kirchenräume umgebaut werden, um Zugangsschwellen abzubauen (z. B. Jugendkirchen oder Kulturkirchen). Auf der anderen Seite kann das Fremdheitspotenzial eines sakralen Raums durch gezielte Deutung erschlossen werden. Letzterem Ziel hat sich in den letzten Jahren insbesondere die Kirchenraumpädagogik gewidmet. Auch hierfür ist es notwendig, ein Gefühl dafür zu entwickeln, welche ästhetischen Gegebenheiten, Symbole oder Einrichtungsgegenstände für bestimmte Milieus fremd sind und deshalb erklärungsbedürftig sind.

2 Milieusensible Kommunikation außerhalb kirchlicher Räume Verkündiger und »Kommunikatoren« können und sollen sich aber auch mitnehmen lassen zu den verschiedensten Orten menschlicher Kommunikation. Auch hier gilt es, die Sprache des Raumes als Beziehungssetting bewusst wahrzunehmen und über die Deutung der Raumästhetik zu einer Einschätzung über Werte, Lebensfragen und milieuspezifische Lebenseinstellungen zu gelangen. Dies muss nicht explizit geschehen, bildet aber den unerlässlichen Hintergrund für das Gelingen der Kommunikation in einem Raum, in dem die Codes und Symbole eines christlichen (Sakral-)Raumes nicht als Deutehorizont zu Verfügung stehen. Über das »Lesen« des Raumes lässt sich möglicherweise auch in Erfahrung bringen, was den Menschen in diesem Raum als »heilig« gilt (vergleiche die Untersuchungen des SINUS-Instituts zu den heiligen Orten der Hausaltäre in den Wohnungen unterschiedlicher Milieus). Mit dem Fokus auf diese beiden Raumsituationen geht folglich eine Beschränkung auf das Zusammenspiel von Kommunikation des Evangeliums in einem umbauten Raum einher. Dass Raum viel mehr ist als ein kirchlicher oder außerkirchlicher »Container«, also ein Gebäude oder eine physikalisch greifbare Raumsituation, darauf hat Matthias D. Wüthrich in seinem Beitrag zum »Raum des Evangeliums« bereits hingewiesen. Bei all diesen Überlegungen sei an dieser Stelle – wie bei allen Reflexionen zu SINUS-Milieus – angemerkt, dass ein Verständnis für die Besonderheiten der SINUS-Milieus nicht in eine Verkündigung münden darf, die von einem »Machbarkeits-Denken« bestimmt sein darf. Ausgangspunkt ist immer eine Verkündigung, die Menschen durch die Kommunikation des Evangeliums mit

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ihren heutigen Lebensfragen einen einfachen Zugang zur Liebe Gottes eröffnen will. Damit nehmen Überlegungen zum Wie und Wo der Kommunikation des Evangeliums im Kontext der SINUS-Milieus den Grundgedanken einer inkarnatorischen Homiletik auf. Weil Gott sein Wort verstehbar an alle menschlichen Geschöpfe ausrichten wollte, offenbarte er sein Wort durch menschliche Kommunikationsformen an menschlichen Orten. Die folgenden Beispiele einer milieusensiblen Kommunikation sollen deshalb dazu ermutigen, selbst darüber nachzudenken, wie die Gestaltung eines Raumes dabei helfen könnte, dass Menschen unterschiedlicher Milieus das Evangelium so hören können, dass die »Sprache des Raumes« das Hören unterstützt.

3 Beispiele für milieusensible Kommunikation unter Einbeziehung der Raumästhetik 3.1 Konservativ-etabliert Milieuspezifische Vorlieben

Durch die SINUS-Milieu-Studien wissen wir, dass sich Menschen aus dem Konservativ-etablierten Milieu gerne an Orten der Hochkultur aufhalten. Theater, Opern oder Museen sind Orte, die KET gerne aufsuchen. Hier wird Tradition erfahrbar. Das kulturelle Erbe der Menschheit und damit der eigenen Geschichte wird hier gepflegt und aufbewahrt. Gleichzeitig spiegelt sich in Orten der Hochkultur Leistungsbereitschaft. Ein exklusives und hochwertiges Ambiente reflektiert Qualitätsbewusstsein, Überlegenheits-Sinn und Standesbewusstsein. Räume, in denen sich KET gerne aufhalten, sind in der Regel auch in ihren Dimensionen groß, hoch und breit. Wohnzimmer der KET spiegeln diesen Wunsch nach Großzügigkeit auch in räumlichen Ausmaßen. Milieusensible Kommunikation im Kirchenraum

Eine besondere Chance für milieusensible Kommunikation besteht in klassischen, kunstgeschichtlich relevanten Kirchenräumen. In barocken oder gotischen Kirchen kann darauf Bezug genommen werden, wie sich Glaubensgeschichte und Kunstgeschichte miteinander verbinden. Künstler betonen mit ihrer Gestaltung von Altären, Heiligenfiguren, Kreuzen, Kirchenfenstern oder Bildern ihre geistige Sichtweise auf eine Ausdrucksform christlichen Glaubens. Eine hohe künstlerische Qualität zeigt Begeisterung und Hingabe für die Beschäftigung mit einem Thema christlichen Glaubens. In kirchenpädagogische Führungen lassen sich Geschichten von Glaubensvätern- und müttern, von Heiligenfiguren und biblischen Gestalten über die künstlerische Darstellung nachvollziehen und interpretieren. Es kann verdeutlicht werden, dass die Figuren nicht nur als museale Exponate von Interesse sind, sondern Fragen und

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Impulse für den heutigen Kontext mitbringen. Märtyrergestalten tragen die Frage von Glaubenstreue und Leidensbereitschaft in sich. Zeitgenossen Jesu tragen die Frage nach dem Beziehungsverhältnis zu Jesus als menschlichem Sohn Marias und als göttlichem Christus in sich. Die historische Sicht auf biblische Themen kann zum Augenöffner für die Bedeutung eines Themas oder einer christlichen Ausdrucksform im heutigen Kontext werden. Milieusensible Kommunikation außerhalb des Kirchenraums

Insbesondere in der westlichen Kultur zeigt sich eine hohe Schnittmenge mit kirchlich geprägter Kultur, die im Laufe der Kirchengeschichte entstanden ist. Sakrale Kunst aus allen kunstgeschichtlichen Epochen findet sich nicht nur in kirchlichen Räumen, sondern auch in Museen oder anderen kunstgeschichtlich geprägten Ausstellungen. Diese bieten vielfältige Anknüpfungsmöglichkeiten für von kirchlichen Mitarbeitern angeleitete Museumsführungen, die insbesondere unter der Beleuchtung von Glaubensvorstellungen, Interpretationen des Evangeliums und Glaubenspraxis durchgeführt werden können.

3.2 Liberal-intellektuell / Sozial-ökologisch Milieuspezifische Vorlieben

Während das Milieu der Liberal-intellektuellen den sozial gehobenen Milieus entstammt, zählt das sozial-ökologische Milieu zu den Milieus der Mitte. Es gibt jedoch Gemeinsamkeiten, die je nach Milieu unterschiedlich stark ausgeprägt sind. Das LIB teilt mit dem SÖK das Ideal einer nachhaltigen, umwelt- und gesundheitsbewussten Lebensführung. Das LIB hat ein hohes Qualitätsbewusstsein und ist dabei aufgeschlossen für Genuss und Luxus. Das SÖK bringt eine deutlich konsumkritischere Haltung mit. Beide teilen ein globales Denken und haben ein Bedürfnis nach intellektueller Auseinandersetzung mit Themen aus Kunst, Musik und Kultur (LIB), wobei Mitglieder des LIB nicht selten selbst künstlerisch aktiv sind. Traditionelle Rollenklischees werden kritisch gesehen und insbesondere das SÖK hat eine Affinität zu Spiritualität und Esoterik. Das Motto »Weniger ist mehr« teilen beide Milieus. Milieusensible Kommunikation im Kirchenraum

Ein schlichter, aber künstlerisch gestalteter Kirchenraum kann dem Anliegen der Beschäftigung mit intellektuell anspruchsvollen Themen gerecht werden. Moderne Kunst schafft hier eher Zugänge zu einer liberalen Auseinandersetzung mit ethischen, gesellschaftlichen und spirituellen Themen als traditionelle Kirchenkunst. Insbesondere Kulturkirchen mit der Möglichkeit auch wechselnde Ausstellungen oder Kunstwerke zu präsentieren, haben hier besonderes Potenzial für das LIB. Zu denken wäre auch an Kirchen, die zu »spirituellen Zen-

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Tobias Fritsche

tren« ausgebaut wurden. Verschiedene Meditationstechniken verlangen nach einem beheizbaren Kirchenraum ohne Bänke mit flexibler Bestuhlung und der Möglichkeit, sich im freien Raum zu bewegen. Mitglieder des SÖK dürften Orte bevorzugen, in denen ihre priorisierten Themen wie ökologisches Handeln oder gerechter Konsum in der einen Welt sichtbaren Ausdruck erhalten. Bilder und Infotafeln von Partnerschaften oder unterstützten Entwicklungsprojekten unterstreichen das persönliche Engagement für eine bessere Welt und laden zur Partizipation ein. Kirchliche Symbole entstammen nicht selten aus Partnerschaftsländern (»Die Krippe aus dem Kongo«, »das Lateinamerika-Kreuz«). Milieusensible Kommunikation außerhalb des Kirchenraums

Vor allem in urbanen Zentren werden jenseits klassischer Gemeinderäume kirchliche Bildungsorte wie evangelische Stadtakademien als Orte der Kommunikation des Evangeliums neben den Kirchen aufgebaut. Anders als bei Kirchengebäuden bestehen hier in der Regel mehr Möglichkeiten, passende Räumlichkeiten für unterschiedliche Veranstaltungsformen wie Kunstausstellungen, Lesungen oder Meditationen zu schaffen. Communities aus den SÖKs finden sich nicht selten rund um »Eine-WeltLäden«. Nebenräume von »Fair-Trade-Geschäften« können dann für Gesprächsgruppen oder kleinere Gottesdienstformen genutzt werden. Darüber hinaus gibt es v. a. in urbanen Zentren immer mehr Trading-Zones für nachhaltigen Konsum wie »Bio-Fachmessen«, »Kleider-Tauschbörsen« oder »Fair-Trade Nightmarkets«. Kirchliche Mitarbeiter könnten hier als Anbieter oder Co-Veranstalter auftreten und dabei auf die evangeliumsgemäße Wertegrundlage ihres Handelns aufmerksam machen.

3.4 Moderne Performer Milieuspezifische Vorlieben

Das Milieu der modernen Performer hat eine hohe Affinität zu Design und Stil. Dabei unterscheiden sie jedoch auch scharf zwischen echter Qualität und »gewollter« Modernität oder Stylishness, die am Ende jedoch verkrampft und unauthentisch auf sie wirken kann. Durch eine hohe IT- und Multimedia-Kompetenz ist ihre Alltagsästhetik oft auch von technischen Geräten und deren Design geprägt. Mit ihrer leistungs- und effizienzorientierten Grundorientierung haben sie Interesse an funktionalem Design z. B. im Bereich von Sportbekleidung. Spezielle Wohlfühl-Orte gibt es kaum, aber insbesondere »kalte« oder öde Orte werden gemieden, z. B. unbelebte Räume, in denen keine Atmosphäre herrscht oder keine interessanten Menschen zu erwarten sind. Schlüsselwörter, die das Milieu sehr gut beschreiben sind: mobil, kreativ, flexibel und innovativ.

Der Raum der Kommunikation

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Milieusensible Kommunikation im Kirchenraum

Architektonisch interessante Bauwerke mit einflussreicher Kulturgeschichte können für PER durchaus attraktiv sein. Jedoch weniger im Rahmen von gottesdienstlichen Veranstaltungen, sondern eher als Teil einer Urlaubsreise. Durch professionelle Präsentation, auch unter Zuhilfenahme von moderner Technik kann sich Kirche die Aufmerksamkeit von PER verdienen. Professionalität und Service wird auch im Zusammenhang mit Kasualien geschätzt. Insbesondere »die weiße Hochzeit« in einem klassischen, stilvollen Kirchenraum kann hohe Wertschätzung erfahren. Möglichkeiten einer professionellen Inszenierung z. B. durch Lichtilluminationen und die Begleitung der Hochzeit durch eine Hochzeitsagentur können für moderne Performer ein Grund sein, sich für einen speziellen Kirchenraum als Hochzeitsort zu entscheiden. Will Kirche einen modernen, design- oder technikorientierten Gottesdienstraum mit Licht- Video- und Tontechnik schaffen (z. B. Jugendkirchen oder Event-Kirchen wie ICF), dann muss dies professionell und v. a. durch die Protagonisten vor Ort überzeugend durchgeführt werden, da sonst Kirche schnell als anbiedernd erlebt wird. Wenn dies jedoch gelingt, wird Kirche durchaus als modern und zeitgemäß erlebt. Milieusensible Kommunikation außerhalb des Kirchenraums

Besonders im freikirchlichen Bereich werden immer wieder Orte für gottesdienstliche Veranstaltungen gewählt, die der Technik- und Designaffinität von PER entgegenkommen. Zu denken ist dabei an die Miete von Hotel-Räumen (»Maritim« oder »Hilton«), die allein schon in ihrer Funktion Mobilität und Beweglichkeit ausstrahlen. Darüber hinaus ist an Clubs, Szenekneipen oder Eventlocations zu denken. Das »Bühnen-Ambiente« orientiert sich an AppleDesign, in dem moderne Technik professionell eingesetzt wird. Dass diese nicht-dauerhafte und flexible Raumgestaltung mit hohem personellem Aufwand verbunden ist, erklärt sich von selbst. Der Erfolg von jungen Gemeinden zeigt jedoch immer wieder, dass sich der Einsatz lohnen kann und zum Teil viele Menschen aus dem PER ansprechen lassen.

3.5 Expeditives/Experimentelles Milieu Milieuspezifische Vorlieben

Das expeditive Milieu versteht sich selbst als kreativ-intellektuelle Avantgarde, die immer auf der Suche nach neuen Grenzen und Lösungen ist. Gut vernetzt führen Menschen aus dem EPE ein mental und geografisch mobiles Leben mit einem großen Interesse an Musik, Kunst und Kultur. Von Mainstream und dogmatischen Haltungen grenzen sie sich gerne ab, das Unkonventionelle und Innovative zieht sie an. In Konsum und Lebensstil halten sie immer wieder Ausschau nach alternativen Modellen.

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Tobias Fritsche

Milieusensible Kommunikation im Kirchenraum

Für das EPE bekommen Orte einerseits durch Menschen Bedeutung, die ihnen wichtig sind (Partner, Freund, Großmutter). Zugleich gewinnen Orte an Attraktivität, wenn sie Bewegung, Innovation und Inspiration versprechen. Dazu gehören nicht nur Clubs, Event- oder Szenelocations, sondern auch die Natur, die ihrerseits mit Ruhe, Weite und dem Gefühl von Endlosigkeit Inspiration schaffen kann. Beengende Räume, die evtl. sogar von (Verhaltens-)Konventionen bestimmt sind, werden genauso abgelehnt wie übertrieben gepflegte, makellose Orte. Entsprechend wirken Kirchen auf das EPE nicht selten düster und kalt, vor allem dann, wenn wenige Zeichen menschlicher Lebendigkeit in ihnen sichtbar werden. Im Umkehrschluss helfen dem EPE Symbole, Bilder oder auch Installationen im Kirchenraum, die kreativ und inspirierend wirken. Mitglieder des EPE sind bereit, über »Gott und die Welt« zu diskutieren, und offen für neue Eindrücke und Erlebnisse. Entsprechend kann auch kirchliche Architektonik ihr Interesse wecken, wenn dadurch Kreativität und (Grenz-)Erfahrungen zum Ausdruck kommen. Milieusensible Kommunikation außerhalb des Kirchenraums

Kreative, unkonventionelle Orte tragen zum Wohlbefinden des EPE bei. Beispielsweise bieten (Klein-)Kunst-Festivals unter offenem Himmel mit Musik, Kunst und Kultur einen Rahmen für die Auseinandersetzung mit anderen (Glaubens-)Kulturen und Weltanschauungen. Die Sinnhaftigkeit des Evangeliums wird nicht durch Definitionen oder Formulierungen erfasst, sondern will am eigenen Leib mit allen Sinnen erfahren werden. Auch Künstler-Cafés und andere vergleichbare Einrichtungen können dem EPE helfen, in offener Atmosphäre existenziellen und spirituellen Fragen nachzugehen. Wichtig ist Ihnen dabei, dass Räume Toleranz im Umgang mit vielfältigen Lebensformen ausstrahlen und ihnen dabei nicht ein »allgemeingültiges Wertekorsett« aufgezwungen wird. Räume sollten daher auch in ihrem Mobiliar ein dialogisches Grundsetting widerspiegeln.

3.3 Traditionell / bürgerliche Mitte Milieuspezifische Vorlieben

Das TRA und das BÜM legen Wert auf geordnete Verhältnisse. Sie schätzen Verlässlichkeit und haben nicht selten ein Unbehagen gegenüber Wandel und Veränderung. Dabei bringen sie wenig Bereitschaft auf, sich auf Neues oder Fremdes einzulassen. Als Lebensmittelpunkt gilt die bürgerliche Kernfamilie mit eigenem Haus und Garten. Das Heim soll gut ausgestattet und gemütlich sein. Eigenen Hobbys und familiären Verpflichtungen kommen besondere Bedeutung zu. Insgesamt haben die beiden Milieus eine Tendenz zum Rückzug in die eigenen vier Wände als vertrauten Raum.

Der Raum der Kommunikation

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Milieusensible Kommunikation im Kirchenraum

Eine Kommunikation des Evangeliums, die die Vorlieben des traditionellen und bürgerlichen Milieus ernst nimmt, wird sich insbesondere auf volkstümliche, heimatorientierte Elemente beziehen. Dazu bieten klassische Kasualien wie Tauffeste, Hochzeiten oder auch Jubelkonfirmationen mit ihrer Fokussierung auf das Familienfest großen Raum. Der Kirchenraum kann genutzt werden, um Familien- und Heimatverbundenheit auszudrücken. Dazu können selbst gemalte Kinderbilder oder andere Kinderbasteleien beitragen. Zu denken wäre bei besonderen Festen auch die Einbeziehung von Heimatsymbolen wie z. B. Fahnen oder Wappen von Ortsvereinen, insbesondere im ländlichen Raum (Sportverein, Gartenbauverein, Feuerwehr u. a.). Heimatorientierte Feste wie das Kirchweihfest könnten auch im Kirchenraum z. B. durch Fotos und Bildertafeln das traditionelle (Dorf-)leben widerspiegeln und Heimatverbundenheit vermitteln. Der Kirchenraum wird als Ort der traditionellen Stabilität insbesondere bei Festgottesdiensten von großem Wert sein. Milieusensible Kommunikation außerhalb des Kirchenraums

Besonders im ländlichen Bereich bieten sich für die Kommunikation des Evangeliums außerhalb des Kirchenraums häufig noch zahlreiche Möglichkeiten an. Frühschoppen-Andacht beim Feuerwehrfest, Himmelfahrtsgottesdienst unter freiem Himmel (z. B. im Hof des örtlichen Schlosses o. Ä.), Kirchweihgottesdienst im Bierzelt, Andachten bei Vereinsfesten etc. Auch Hausbesuche erfahren im traditionellen und bürgerlichen Milieu häufig eine besondere Wertschätzung. Der Gemeindebrief kann zu einer Stimme von volkskirchlicher Heimatverbundenheit werden, wenn er auf Ereignisse des öffentlichen Lebens Bezug nimmt. Kirche kann dabei immer wieder an der volkskirchlichen Durchdringung des traditionellen (Dorf-)Lebens anknüpfen und die Verbindung zu traditionellen Werten wie Familie, Heimat oder Verlässlichkeit vom Evangelium her deutlich werden lassen.

3.6 Prekäres Milieu Milieuspezifische Vorlieben

Aufgrund der zum Teil prekären Lebenssituation fühlen sich Menschen aus dem PRE dann am wohlsten, wenn es ihnen gelingt, genau diese auszublenden. Wo Alltagssorgen »draußen« bleiben, entstehen Wohlfühlorte. Dazu gehören neben dem eigenen Zuhause auch Orte, wo man sich mit Seinesgleichen treffen kann, ohne sich verstellen zu müssen. Nicht selten wird eine nahezu perfekte Idylle gesucht, ein kleines Paradies, das man sich manchmal auch nur vorstellt, wenn man es in der realen Umgebung nicht finden oder erreichen kann. Neben dem häuslichen Umfeld haben Menschen des PRE oft eine starke Präferenz für die Berge und andere beschauliche Orte in der Natur, die durch Lichtwirkung, Farben und Geräusche Wohlbefinden und Frieden vermitteln.

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Milieusensible Kommunikation im Kirchenraum

Kirchenräume können als Orte einer »heilen Welt« zur Ruhe und Besinnung führen. Kirchen werden jedoch vom PRE außer im Rahmen von Kasualien kaum besucht. Hochkulturelle Architektonik oder künstlerische Ausgestaltung wird schnell als überaltert und irrelevant erlebt. Für die Kommunikation des Evangeliums im Kirchenraum kann deshalb alles helfen, wo Kirche von ihren Besuchern »auf Augenhöhe« erlebt wird und deshalb bewusst auf ein »abgehobenes« Setting verzichtet wird. Dies kann im wörtlichen Sinne auf einen Verzicht von liturgischen Orten »oberhalb« der Besucher geschehen. Milieusensible Kommunikation außerhalb des Kirchenraums

Berührung zur Kirche haben Menschen des PRE am ehesten an Orten und Räumen, die von diakonischem Einsatz gekennzeichnet sind. Orte der Begegnung, die von Anerkennung, Förderung und Respekt gekennzeichnet sind, eignen sich für eine niederschwellige, wertschätzende Kommunikation des Evangeliums. Eine liebevolle Gestaltung des Raumes, die den Besuchern nicht ihre Hilfsbedürftigkeit vor Augen führt, kann diese Wertschätzung unterstreichen.

5 Die performative Dimension

Performative Religions- und Gemeindepädagogik Florian Karcher Viele Menschen haben heute geringe oder keine Vorerfahrung mit Religion im Allgemeinen und dem christlichen Glauben im Besonderen. Sie erleben diesen weder im familiären Kontext, noch in ihren Alltagsbezügen. Auch religiöse Bildungsangebote, wie Religions- oder Konfirmandenunterricht, wenn denn daran überhaupt teilgenommen wurde, geraten schnell in Vergessenheit, weil diese in vielen Fällen keine Relevanz für die eigene Religiosität hatten. Trotzdem kommt es im Leben vieler Menschen zu Berührungspunkten mit Religion und ihren Formen, z. B. beim Traugottesdienst eines befreundeten Paares, bei der Beerdigung eines Angehörigen oder beim Besuch eines Geistlichen am Krankenbett. In der Begegnung mit Formen von Religion erleben Menschen ohne religiöse Sozialisation nun Religion als etwas Fremdartiges und Exklusives, in deren Geheimisse sie scheinbar nicht eingeweiht sind: Der Stil der Lieder, die gesungen werden, für Kirchengänger selbstverständlich im Wechsel und auswendig gesprochene liturgische Passagen im Gottesdienst und selbst das Vaterunser sind für diese Menschen unbekannt. Solche Situationen überfordern sie und manchmal lösen sie auch das Gefühl von Peinlichkeit aus. Dies gilt dann auch für Menschen, die aus einem solchen Hintergrund zum Glauben gekommen sind. Sie haben vielleicht bei einer Evangelisationsveranstaltung in einem ihrer Lebenswelt entsprechenden Stil den Glauben kennengelernt und sich möglicherweise sogar bekehrt. Der Wechsel in den Gemeindealltag stellt dann eine kulturelle Hürde dar, die es oft nur mit viel Aufwand zu überwinden gilt. Und letztlich gilt das auch für junge Menschen die in Jugendarbeit mit auf sie ausgerichtet Formen religiöser Praxis geprägt wurde und jetzt auf die religiöse-hochkulturelle »Erwachsenenwelt« treffen oder auch für Menschen die aus verschiedenen Gründen die Gemeinde wechseln. Diese kulturellen Hürden verhindern, dass Menschen geistlich und emotional ankommen können in Gemeinde und Kirche und verhindern so auch eine inhaltliche Auseinandersetzung.1 1

Dieser Beitrag basiert in weiten Teilen auf: Florian Karcher, Performative Religionspädagogik, in: ders. / Petra Freudenberger-Lötz / Germo Zimmermann (Hg.), Selbst glauben. 50

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1 Glauben performativ erfahrbar machen Für die religions- und gemeindepädagogische Arbeit hat dies zur Konsequenz, dass es immer weniger Anknüpfungspunkte in der Biografie von Menschen für religiöse Vollzüge gibt. Daraus ergeben sich zwei Handlungsmöglichkeiten: Religionspädagogik kann nun im Sinne einer Wissensvermittlung die Inhalte und Hintergründe von Religion erarbeiten, etwa in die Bibel einführen, eine inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Credo anleiten oder ethische Leitlinien entwickeln. Der performative Ansatz geht jedoch einen (nicht ausschließlichen, sondern ergänzenden) anderen Weg, denn eine inhaltliche Auseinandersetzung über den Glauben ersetzt nicht die persönliche Erfahrung mit dem Glauben, die viele Menschen in früheren Jahrzehnten mitbrachten. Diese Erfahrungen waren Dinge wie das Lesen der Kinderbibel mit der Großmutter, das Tischgebet der Familie, die sonntäglichen (Kinder-) Gottesdienstbesuche, teilweise auch im Familienverbund, oder der regelmäßige Vollzug religiöser Praktiken bei Feiertagen. Was Menschen früher mitbrachten, waren Erfahrungen und ihre teilweise naiven Deutungen, waren Gefühle, Wahrnehmungen, Unter- und Vorbewusstes. Diese subjektive Vorerfahrung ist etwas völlig anderes als die Kenntnis einer Gottesdienstliturgie oder das Auswendigsprechen des Glaubensbekenntnisses. Der performative Ansatz »ist überzeugt davon, dass Religion in erster Linie nicht aus (kognitiv zu erfassenden) Inhalten besteht, sondern vorranging religiöse Praxis ist«2. Das Anliegen performativer Religions- und Gemeindepädagogik besteht darin, den christlichen Glauben erfahr- und erlebbar zu machen, Menschen die Möglichkeit zu bieten, dem Glauben auf persönlicher Ebene zu begegnen und auf diesem Weg etwas über ihn zu lernen. Eine solche Religions- und Gemeindepädagogik geht davon aus, dass sich der Glaube auf diese Weise erschließt, weil das Proprium des Glaubens selbst eine Begegnung auf persönlicher Ebene ist und sich in konkreter Glaubenspraxis vollzieht. Religion kann daher über ihre Vollzüge, Umgangsformen und Ästhetik angemessen erschlossen werden.3 Das Kennenlernen der Religion geschieht hier also nicht vornehmlich über Inhalte, sondern durch das Praktizieren und Ausüben des Glaubens »auf Probe«. »Bevor man sich mit dem christlichen Glauben auseinandersetzen kann, muss man ihn als gelebten Glauben, als religiöse Praxis erfahren haben«4. Eine große Rolle spielt dieses Konzept in der Arbeit mit jungen Menschen. Dabei werden religiöse Ausdrucksformen vorgestellt und dazu ermutigt, diese entweder mit zu vollziehen oder eigenständig zu inszenieren. Im Zentrum steht also die »Perreligionspädagogische Methoden und Konzepte für Gemeinde, Jugendarbeit und Schule. Beiträge zur missionarischen Jugendarbeit, Band 2, Neukirchen-Vluyn 22017, 80–94. 2 Uta Pohl-Patalong, Religionspädagogik. Ansätze für die Praxis, Göttingen 2013, 88. 3 Vgl. Thomas Klie / Silke Leonhard, Performatives Lernen und Lehren von Religion, in: Bernhard Grümme / Hartmut Lenhard / Manfred L. Pirner (Hg.), Religionsunterricht neu denken. Innovative Ansätze und Perspektiven der Religionsdidaktik, Stuttgart 2012, 90–104, 90. 4 Pohl-Patalong, Religionspädagogik, 88.

Performative Religions- und Gemeindepädagogik

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formance« des Glaubens. Seine Vollzüge und Praktiken werden auf die Bühne gebracht und inszeniert. Sie probieren selbst aus, wie es ist, zu beten, Segen zu empfangen oder Abendmahl zu feiern. Gegenstand des Lernens können dabei liturgische Elemente, aber auch alle anderen Formen – auch alltäglicher- religiöser Praxis, wie z. B. persönliches Gebet – sein. Genauso können Sakramente, Formen christlicher Gemeinschaften, biblische Überlieferungen oder kontemplative Praktiken (z. B. Schweigen oder Exerzitien) aufgenommen werden. So entstehen Erfahrungsräume mit dem christlichen Glauben und seinen Ausdrucksformen. Nicht nur Kinder und Jugendliche bekommen dann die Chance, Glauben nicht nur kognitiv zu erfassen, sondern ganzheitlich auszuprobieren. Die performative Religions- und Gemeindepädagogik liefert aber nicht nur geeignete didaktisches Konzepte und Methoden, sondern ist ein Plädoyer für erfahrungsbezogene Zugänge zu Glaube und Religion. Ohne solche wäre es so – bezogen auf die Schule –, »als wenn man im Musikunterricht nicht singt und sich im Sportunterricht nicht bewegt«5.

2 Auf Probe glauben Der Begriff des »Probehandelns« spielt dabei eine zentrale Rolle. Es geht nämlich nicht darum, echte religiöse Erfahrungen didaktisch einzuleiten oder gar erzwingen zu wollen, sondern stets um ein Handeln auf Probe im Modus eines »als ob«. Ob für den Einzelnen dieses Probehandeln eine echte religiöse Erfahrung wird, entzieht sich einer didaktischen Operationalisierung. Gleichzeitig kann – je nach Setting – den Teilnehmenden auch überlassen werden, ob sie in einer konkreten Situation auf Probe oder sozusagen »echt« handeln wollen.6 Das Konzept des Probehandelns muss sich dabei der Kritik stellen, ob ein »Spielen von Religion« dem ernsthaften Charakter von Glaube und Religion widerspreche. Friedrich Schweitzer wendet z. B. ein, dass man an Gott nicht auf Probe glauben könne.7 Hier darf eingewandt und gefragt werden, ob sich der Glaube nicht in den meisten Fällen ohnehin im Modus des Ausprobierens erschließt. Menschen wenden sich z. B. im Gebet an Gott, ohne von seiner Existenz überzeugt zu sein und versehen dieses Handeln erst im Nachhinein und auf dem Hintergrund ihrer Erfahrung mit sinngebender (Be-)Deutung. Performative Methoden in der Religions- und Gemeindepädagogik können daher auch als Experiment verstanden werden. Zu den Eigenschaften eines Experiments gehört, dass sowohl die Teilnahme, als auch die Beobachtung wesentliche Be5

Pohl-Patalong, Religionspädagogik, 88. Hier ist beispielsweise die Situation einer Thomas-Messe zu nennen, bei der an verschiedenen Stationen bestimmte Handlungen vollzogen oder unterschiedliche Erfahrungen eigenverantwortlich gemacht werden können. 7 Vgl. Bernhard Dressler, Performative Religionsdidaktik. Theologisch reflektierte Erschließung von Religion, in: Thomas Klie / Rainer Merkel / Dietmar Peter (Hg.), Performative Religionsdidaktik und biblische Textwelten (Loccumer Impulse 3), Loccum 2012, 7–15. 6

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standteile sind und dass sich auch je auf eine dieser Positionen zurückgezogen werden kann. Das Experiment entspricht dabei nicht einer realen Situation, ist also konstruiert, kann aber unter bestimmen Voraussetzungen durchaus reale Ergebnisse hervorbringen. Zudem kann das Experiment abgebrochen, aber auch in die Realität bzw. den Alltag transferiert werden. In der performativen Religions- und Gemeindepädagogik können die Teilnehmenden also mit Glauben experimentieren, werden dabei begleitet und in einen erweiterten Reflexionsprozess darüber geführt. Es geht dabei nicht nur um Reproduktion überlieferter religiöser Praktiken. Dort wo Menschen Glauben inszenieren, bringen sie ihre eigenen Erfahrungen und Interpretationen ein, sodass das Ergebnis nicht nur eine Aneignung, sondern immer auch eine Weiterentwicklung ist. Daher ist religiöses Lernen auch als Transformationsprozess zu verstehen. Um diesen Prozess theologisch verantworten zu können, bedarf es einer pneumatologischen Perspektive: In der individuellen Auseinandersetzung mit und der Inszenierung von Religion darf damit gerechnet werden, dass Menschen auch auf den Bezugspunkt des Glaubens stoßen, Gott sich durch den Heiligen Geist offenbart und so eine Gotteserfahrung möglich ist. Wo dies geschieht, stößt performative Religions- und Gemeindepädagogik einen emergenten Prozess an: Die Performance ist dann mehr als die Summe aus religiöser Tradition und individueller Erfahrung, vielmehr entsteht ein neuer individueller und vielleicht sinnstiftender Zugang zum Glauben. Berechtigterweise kann hier danach gefragt werden, ob auf diese Art und Weise Religion nicht völlig dem Subjektivismus überlassen wird und theologisch nicht verantwortbare Ansichten, Interpretationen und Handlungen unreflektiert stehen gelassen werden. Daher muss betont werden, dass – anders als z. B. in der Kunst – die Performance8 Ausgangspunkt eines andauernden Lernprozesses ist. Die Performance ist jener Teil im Prozess, der nicht mit dieser abgeschlossen ist, sondern davon ausgehend unter einem theologischen Paradigma fortgeführt wird. Konkret: Performative Religions- und Gemeindepädagogik endet nicht mit der Inszenierung, sondern nimmt diese zum Anlass, die individuellen Wahrnehmungen Einzelner zu reflektieren und in das Gespräch einer Gruppe mit hineinzunehmen. In diesem geschieht ein Reflexionsprozess, bei dem die eigene Erfahrung mit der anderer in Bezug gesetzt wird, sodass die Anleitenden in dieser Phase auch biblische und tradierte Erfahrungen und Interpretationen miteinbringen:

8

Unter kunstpädagogischen Aspekten muss unter Performance etwas Vergängliches verstanden werden, das im Moment der Darbietung abgeschlossen wird und ihren Wert in sich selbst hat. Sie ist daher eher der Abschluss eines pädagogischen Prozesses (vgl. www.hatjecantz.de/ die-kunst-der-performance-6352-0.html [zuletzt geprüft am 18.02.2019]), wenngleich sich auch Reflexionsprozesse an eine Performance anschließen können.

Performative Religions- und Gemeindepädagogik

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Abb.1: Prozess der performativen Religions- und Gemeindepädagogik (eigene Darstellung)

Diese Reflexion ist unverzichtbar und muss auch die Möglichkeit zur Distanzierung für die Teilnehmenden beinhalten.

3 Bildung, Liturgie und Mission Neben dem Kennenlernen von Religion bietet sich auch die Möglichkeit, hier eine Verbindung zur eigenen Biografie und Alltagsrealität zu ermöglichen und christlichen Glauben auf seine subjektive Relevanz hin zu überprüfen. »Erst dargestellte, d. h. räumlich wahrnehmbare und leiblich vermittelte Inhalte können überhaupt als bedeutsam erkannt und moduliert werden. Inhalte, auch und gerade religiöse Inhalte, gibt es nicht ohne die sie bergenden Formen.«9

Menschen können dann prüfen, ob Glaube nicht nur argumentativ Sinn ergibt (was der Begriff »Glaube« ja an sich schon in Frage stellt), sondern ob er sich hinsichtlich der eigenen Persönlichkeit bewährt und kohärent zur eigenen Lebenswirklichkeit ist. »Soll Religion zu denken und zu handeln geben, muss sie erfahren, wahrgenommen und gedeutet werden«10. Mit solchen performativen Vermittlungsansätzen besteht die Möglichkeit, in den Glauben hinein zu wachsen und ihn sich durch den Vollzug auch inhaltlich und innerlich zu erschließen. Eine bewusste Glaubensentscheidung ist hier keine Voraussetzung, son9

Thomas Klie / Silke Leonhard, Schauplatz Religion. Grundzüge einer Performativen Religionspädagogik, Leipzig 2003, 10. 10 Thomas Klie / Silke Leonhard, Ästhetik – Bildung – Performance. Grundlinien performativer Religionsdidaktik, in: dies. (Hg.), Performative Religionsdidaktik. Religionsästhetik – Lernorte – Unterrichtspraxis, Stuttgart 2008, 9–25, 9.

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dern Ziel einer Religionspädagogik und Gemeindearbeit mit missionarischer Perspektive. Die Ziele der performativen Religions- und Gemeindepädagogik müssen jedoch auf mehreren Ebenen betrachtet werden: Zunächst geht es darum, Religion kennenzulernen. Menschen, die heute immer weniger religiöse Sozialisation erfahren und so nicht mit den Ausdrucksformen und Inhalten von Religion vertraut sind, sollen die Möglichkeit bekommen, sich Religion über ihre Vollzüge zu erschließen und zu verstehen (Bildungsdimension). In diesem Prozess erwerben sie die Fähigkeit, an religiösen, insbesondere liturgischen Praktiken aktiv teilnehmen zu können und sich sicher in religiösen Bezügen bewegen zu können,11 aber auch die Fähigkeit, sich dazu in Beziehung zu setzen (partizipative Dimension bzw. Partizipationskompetenz). Darüber hinaus besteht die Hoffnung, dass in der aktiven Auseinandersetzung mit und dem Ausprobieren von Religion auch Glaube entstehen kann. Auch wenn sich dieser Aspekte einer religionspädagogischen Verfügbarkeit gänzlich entzieht, darf er doch erhofft und tendiert werden (missionarische Dimension). Durch den offenen Reflexionsprozess und klare Schutzräume für das Probehandeln kann sich diese Dimension selbstbestimmt und ergebnisoffen entfalten. Performative Religionspädagogik kann daher in den Dimensionen von Bildung, von Liturgie und von Mission verstanden werden:

Abb. 2: Dimensionen performativer Religions- und Gemeindepädagogik (eigene Darstellung)

Dabei müssen nicht immer alle drei Dimensionen in den Blick genommen werden, sondern je nach Setting und Kontext kann sich religions- und gemeinde11

Vgl. Bärbel Husmann, Liturgisches Lernen. Zum Erwerb von Partizipationskompetenzen im Religionsunterricht, Theo-Web. Zeitschrift für Religionspädagogik 5 (2006), 108–111.

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pädagogisches Handeln lediglich auf eine konkrete Dimension fokussieren. So wird sich der schulische Religionsunterricht vor allem an der Bildungsdimension orientieren, während der Konfirmandenunterricht vor allem die liturgische Dimension in den Blick nimmt. Bei letzterem, aber auch in anderen religionspädagogischen Zusammenhängen (z. B. Glaubenskurse, Angebote der Erwachsenenbildung), kann gleichzeitig auch die missionarische Dimension relevant sein.

4 Hintergründe und Begründungen performativen Handelns 4.1 Religionspädagogische Einordnung

Performative Ansätze finden sich in der Religionspädagogik erstmals um die Jahrtausendwende, insbesondere im Kontext des schulischen Religionsunterrichts. Silke Leonhard und Thomas Klie veröffentlichten 2003 einen Sammelband mit dem Titel »Schauplatz Religion: Aspekte einer performativen Religionspädagogik«12, der die ersten wissenschaftlichen Auseinandersetzungen und Praxisformen reflektiert. Der Ansatz spielte zunächst im Religionsunterricht eine Rolle, wurde später auch auf andere religionspädagogische Handlungsfelder angewandt und sowohl im evangelischen, wie auch im katholischen Bereich aufgenommen.13 Die Entstehung und Entwicklung dieses Ansatzes kann in Zusammenhang mit einem generellen performative turn in den Kulturwissenschaften in Zusammenhang gebracht werden, der sich auf verschiedene Bereiche der Praktischen Theologie ausgewirkt hat.14 Dabei wurde der Fokus nun stärker auf die Prozesse des Entstehens, des Austauschs und der Darstellung von Kulturinhalten und nicht mehr so sehr auf den Inhalt selbst gelegt. In diesem Zusammenhang wird unter Performativität der Ereignis-, Aufführungs- und Vollzugscharakter von Kulturinhalten verstanden. Performative Handlungen beeinflussen demnach soziale, kulturelle, aber auch individuelle Realitäten und stoßen Transformationsprozesse an.15 Performative Ansätze finden sich im Anschluss daran in verschiedenen Disziplinen wieder und wurden auch für den Bildungsbereich fruchtbar gemacht. Dabei rückt der Bildungsprozess selbst in den Mittelpunkt des Interesses. Während Klaus Mollenhauer u. a. Ende der 80er Jahre noch hervorhebt, dass man von ästhetischer Bildung erst dann sprechen könne, wenn ästhetische Erfahrungen an theoretisches Denken gebunden sind,16 beto12

Klie/Leonhard, Schauplatz Religion. Vgl. Pohl-Patalong, Religionspädagogik, 91. 14 Vgl. Klaus Raschzok, Gottesdienst und Dramaturgie. Eine Einführung, in: Irene Mildenberger / Klaus Raschzok / Wolfgang Ratzmann (Hg.), Gottesdienst und Dramaturgie. Literaturwissenschaft und Theaterwissenschaft im Gespräch, Leipzig 2010, 15–46, 15. 15 Vgl. Erika Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, Frankfurt am Main 2004, 12. 16 Klaus Mollenhauer, Umwege. Über Bildung, Kunst und Interaktion, Weinheim/München 1986. 13

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nen performative Ansätze stärker das reflexive Moment einer Handlung und die dadurch angestoßene Transformation in der Wahrnehmung von Kultur und rücken so die Handlungs- und Veränderungsprozesse in der Bildung in den Fokus.17 In diesem Gesamtzusammenhang kann auch die performative Religionspädagogik eingeordnet werden, die nicht nur als ein didaktischer Ansatz zur Vermittlung religiöser Inhalte gesehen werden darf, sondern eben ein verändertes Verständnis von religiöser Bildung generell impliziert. Eingebettet in diesen Kontext der Entwicklung in den Geistes-, Kultur-, und Sozialwissenschaften nimmt performative Religionspädagogik verschiedene gesellschaftliche Entwicklungen auf, nutzt pädagogische Konzepte und lässt sich ebenfalls gleichwohl theologisch verorten. Wichtige Bezugspunkte innerhalb der Religionspädagogik bzw. der Praktischen Theologie stellen die Konzepte der Symbol- und der Korrelationsdidaktik dar. Hubertus Halbfas, als Begründer der Symboldidaktik, plädiert für ein konstantes Einüben religiöser Symbolsprache durch den Umgang damit im Erzählen, Spielen, Präsentieren und Handeln und bezieht sich im Wesentlichen auf den schulischen Religionsunterricht. »Entscheidend ist nicht die rationale Auseinandersetzung, sondern ein emotionaler Bezug, die Entwicklung einer Intuition für das Symbol oder – symbolisch gesagt – das dritte Auge.«18

Hier ist eine gewisse Nähe zur Korrelationsdidaktik in der Religionspädagogik gegeben. Korrelation meint, knapp zusammengefasst, das Herstellen von Bezügen zwischen der Lebenswelt der Zielgruppe und religiösen Symbolen und Inhalten.19 Beides geschieht in der performativen Religionspädagogik. Menschen setzen sich mit religiösen (Sprach-)Symbolen auseinander und bringen sie durch die Inszenierung in Verbindung mit ihrer Lebenswelt. Insofern baut performative Religions- und Gemeindepädagogik auf den beiden Konzepten auf. 4.2 Gesellschaftliche Hintergründe

Die Notwendigkeit des performativen Ansatzes in der Religions- und Gemeindepädagogik wird vor allem vor dem Hintergrund von Pluralisierung und Individualisierung deutlich. Religion vollzieht sich zunehmend jenseits religiöser Institutionen, wie den Kirchen und anderen tradierten Formen, sondern ist in vielen Fällen hoch individualisiert.20 Damit einher geht ein Traditionsabbruch. 17

Vgl. Christoph Wulf / Jörg Zirfas, Performative Pädagogik und performative Bildungstheorien, in: Christoph Wulf / Jörg Zirfas (Hg.), Pädagogik des Performativen. Theorien. Methoden, Perspektiven, Weinheim/Basel 2007, 7–40, 18. 18 Hubertus Halbfas, Das dritte Auge, Düsseldorf 51992, 128f. 19 Hans Mendl, Korrelation und Bibeldidaktik, in: Mirjam Zimmermann / Ruben Zimmermann (Hg.), Handbuch Bibeldidaktik, Tübingen 2013, 404–408. 20 Florian Karcher, Jugendkultur und Religionspädagogik am Beispiel evangelischer Jugendkirchen in Deutschland, Bielefeld 2013, 72ff.

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Viele Menschen wachsen immer weniger in die Vollzüge von Religion hinein. Kirche fungiert in vielen Biografien nicht mehr als Sozialisationsinstanz und auch Familiensysteme leisten – zumindest mehrheitlich – kaum religiöse Sozialisation. Daraus ergeben sich für die Religionspädagogik deutlich weniger Anknüpfungspunkte sowohl an religiöses Wissen (z. B. um biblische Zentraltexte) als auch an religiösen Erfahrungen (z. B. Gebetspraxis). Dort, wo Menschen dann mit traditionellen Formen von Religion konfrontiert werden (sei es im Konfirmandenunterricht oder Gottesdienst zu bestimmten Anlässen), erleben sie diese Praxis oft als lebensfern und teilweise unverständlich. Sie sehen meist keine oder nur geringe Relevanz zwischen den Themen von Religion bzw. Kirche und ihrer Alltagsrealität. Dies gilt insbesondere auch für junge Menschen.21 Insofern kann von der o. g. kulturellen Hürde gesprochen werden. Der performative Ansatz möchte daher die Möglichkeit geben, religiöse Erfahrungen in ihrem Alltagserleben nachzuvollziehen und sie damit in punkto religiöser Erfahrung sprachfähig zu machen. Die Performance bietet ihnen die Möglichkeit, sich religiöse Vollzüge im Dialog mit der eigenen Lebenswelt anzueignen. Gleichzeitig wird so eine Brücke zu einem gesteigerten Bedürfnis nach Erlebnis und Erfahrung geschlagen. Viele Menschen erschließen sich die Welt sinnlich und erfahrungsbezogen. Sie lassen sich nicht nur durch Argumente und Logik überzeugen, sondern vor allem das, was sich »richtig anfühlt« und konkret erfahren werden kann, ergibt für sie Sinn. Dies gilt auch für Religion. Sie wird heute weniger als ein abstraktes, ideologisches Gebilde gewünscht, sondern als ein auf ihre Bedürfnisse und auf Erfahrbarkeit ausgerichtetes Angebot.22 4.3 Theorie und Theologie des Sprechaktes

Wesentlich beeinflusst sind performative Ansätze in der Religionspädagogik von der Sprechakttheorie. Sie macht deutlich, dass Worte in vielen Fällen nicht nur einen Informationsgehalt besitzen, sondern auch eine Handlung implizieren. John Austin, der Begründer der Sprechakttheorie, sagt, dass Worte oder Sätze Veränderungen der Realität darstellen (»how to do things with words«). Der Satz »Ich bitte dich um Verzeihung« gibt nicht nur eine Information preis, sondern verändert etwas in der Beziehung zweier Personen und schafft somit eine veränderte Realität. Die Sprechakttheorie bezeichnet solche Sätze als performativ und unterscheidet sie von solchen, die tatsächlich nur einen Informationsgehalt haben (z. B. Aussagen, Behauptungen) und als konstatierend bezeichnet werden.23 Religiöse Sprache besteht vor allem aus performativen Sätzen: Der Satz »Der HERR segne dich und behüte dich« ist zuallererst nicht eine Sachinformation (konstatierend), sondern vor allem performativ zu verstehen, 21

Vgl. Shell Deutschland Holding (Hg.), 17. Shell Jugendstudie. Jugend 2015, Frankfurt am Main 2015, 259. 22 Karcher, Jugendkultur, 78. 23 John L. Austin, Zur Theorie der Sprechakte (How to do things with words), Stuttgart 22002.

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da er eine Handlung, nämlich die des Segnens, darstellt, die teilweise sogar mit entsprechenden Gesten vollzogen wird. Beim Lesen eines Psalms geht es nicht vordergründig darum, welche Sachinformationen über die Situation des Beters gewonnen werden können, sondern in ihm vollzieht sich die Handlung des Betens und nur darüber erschließt sich seine wahre Bedeutung. »Mit einem performativen Sprechakt wird nicht nur etwas gesagt, sondern zugleich etwas getan, z. B. etwas versprochen, etwas zugesagt, jemand gesegnet«.24 Durch den performativen Ansatz soll Menschen geholfen werden, die hinter den Worten liegende Handlungen nachzuvollziehen, sie zu deuten und sich so Religion der Sache gemäß zu erschließen. Bei der Inszenierung von Religiösem deuten sie religiöse Sprache und begeben sich auf die Suche nach passenden Ausdrucksformen und Handlungen. So kann eine eigene Position entwickelt werden, die nicht nur in Zustimmung oder Ablehnung von Aussagen besteht, sondern die Möglichkeit gibt, den Glauben auf individuelle Sinnhaftigkeit und Relevanz zu prüfen. Um es an einem weiteren Beispiel deutlich zu machen: Den Aussagen Jesu in der Bergpredigt kann und wird auf der Ebene der Information schnell zugestimmt. Erst in der performativen Vermittlung wird jedoch der Aufforderungscharakter stärker deutlich, sodass die Teilnehmenden individuell prüfen können, ob sie die Aufforderung auch als an sie gerichtet verstehen möchten und danach handeln. 4.4 Biblisch-theologische Verortung

In das Zentrum einer theologischen Begründung performativer Religions- und Gemeindepädagogik muss die Christologie gerückt werden. Schließlich ist christliche Religion kein »gedankliches Lehrsystem noch ein System moralischer Regeln, sondern sie gründet in einem Ereignis – dem Christusereignis – und lebt religionspraktisch durch dessen Erinnerung und Vergegenwärtigung in religiösen Vollzügen.«25

Christus selbst gibt den Auftrag, dieses Ereignis im Vollzug zur erinnern und zu verinnerlichen, wenn er im Kontext des Abendmahles auffordert: »das tut zu meinem Gedächtnis« (Lk 22,19; 1Kor 11,24). Aber auch aus exegetischer Perspektive kann festgehalten werden, dass die allermeisten biblischen Texte ursprünglich inszeniert wurden, da sie vor ihrer Verschriftlichung und Verbreitung vorgelesen, erzählt oder in irgendeiner anderen Art und Weise präsentiert – also »performt« – worden sind. Viele dieser Texte hatten ihren Sitz im Leben auf der Bühne, nämlich auf Podesten in und 24

Gabriele Obst, Religion zeigen – eine Aufgabe des evangelischen Religionsunterrichts? Zwischenruf zu einem aktuellen religionspädagogischen Paradigma, Theo-Web. Zeitschrift für Religionspädagogik 6 (2007), 102–123, 108. 25 Bernhard Dressler, Art. Performativer Religionsunterricht, in: Das wissenschaftlich-religionspädagogische Lexikon (2015). Online unter: www.bibelwissenschaft.de/de/stichwort/100017 (zuletzt geprüft am 18.02.2019).

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vor dem Tempel und später den Synagogen und Kirchen, am Lagerfeuer oder am Tisch der Familie. Die Performance war im Grunde bis in die Neuzeit hinein der wesentliche Zugang zu biblischen Texten. Insbesondere im Alten Testament sind Elemente dieser Performance Teil des heutigen biblischen Kanons geworden. So könnte man sagen, dass die Traditionsgeschichte vieler biblischen Texte die Performance derer selbst nahelegt.26 Für liturgische Vollzüge oder Rituale gilt dies allemal. Luther erkennt in der Reformationstheologie die performative Wirksamkeit des gesprochenen Wortes als das verbum efficax (wirksame Wort). Bestimmte religiöse Sätze entfalten für ihn erst ihre Wirksamkeit im Akt des Aussprechens. So ist für ihn der Satz »Ich spreche dich los von deinen Sünden«27 keine bloße Feststellung, sondern ein Sprachakt, der im Moment der Performation, also des Sprechens ggf. unter symbolischer Handauflegung, tatsächlich wirksam wird und ein Beziehungsgeschehen ist zwischen dem, in dessen Namen gesprochen wird und dem, der diesen Zuspruch glaubt und annimmt.28 Ohne diese Performance kann sich die Wirksamkeit dieses Satzes nicht entfalten, »selber kann ich ihn mir nicht sagen«.29 Dies gilt auch für andere Sätze, die Luther als promissiones (göttliche Versprechen) bezeichnet. Als weiteres Beispiel nennt er den Segen. Hier wird deutlich, welchen Weg eine performative Religions- und Gemeindepädagogik gehen kann. Sie hilft nicht nur Religion kennenzulernen und befähigt zur Teilnahme an religiöser Praxis, sondern in der religiösen Performance kann sich Glaube ereignen. Aus einem »performten« Gebet kann ein persönliches Gebet werden, in einem theatralisch inszenierten Segen kann sich eine echte Segnung ereignen und in der methodischen Begegnung mit einem Bibelwort kann eine Beziehung zum Urheber dieses Wortes erwachsen.

5 Praxis performativer Religions- und Gemeindepädagogik 5.1 Aufgaben der Leitung

Das Gestalten performativer Settings stellt die Verantwortlichen vor einige Herausforderungen und erfordert ein multiperspektivisches Verständnis der eigenen Rolle. Leonhard und Klie beschreiben diese Rolle als »Fremdenführer/in; Detektiv/in; Regisseur/in (!) und Lernbegleiter/in« (Herv. i. O.).30 Die unterschiedlichen Aufgaben und Kompetenzen von Leitungspersonen können gut am pädagogischen Prozess festgemacht werden:

26

Roland E. Fischer, Predigtperformance und Performanz im Neuen Testament, Praktische Theologie. Zeitschrift für Praxis in Kirche, Gesellschaft und Kultur 48 (2013), 110–116, 110ff. 27 Luther hat sich hier insbesondere mit der Bußpraxis der Kirche befasst. 28 Oswald Bayer, Theologie (Handbuch Systematischer Theologie 1), Gütersloh 1994, 443f. 29 Bayer, Theologie, 444. 30 Klie/Leonhard, Performatives Lernen, 91.

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Abb. 3: Aufgaben und Anforderung an Leitung (eigene Darstellung)

Wichtige Voraussetzungen für die Gestaltung eines performativen Settings sind zum einem die eigenen Erfahrungen mit, aber auch die theoretische Reflexion über den Lerngegenstand. Wer performativ zum Thema Segen arbeiten möchte, sollte selbst erfahren haben, was es bedeutet, Segen zu empfangen oder zu spenden und gleichzeitig diesen Akt, auch mit seinen Sprechhandlungen, theologisch einordnen können. So können im Prozess gemachte Erfahrungen besser erschlossen werden und gleichzeitig die Verantwortung für den Lerngegenstand übernommen werden. Eine grundlegende theologische Kompetenz zum Thema ist Voraussetzung, um Bezüge zu Erfahrungen und Erkenntnissen anderer herstellen zu können und eine Verantwortung gegenüber der biblischen Überlieferung dazu wahrnehmen zu können. Damit performative Lernprozesse »erfolgreich« verlaufen können, ist es Aufgabe der Leitung, zwei wichtige Vorrausetzungen zu schaffen. Zum einen muss bei den Teilnehmenden eine Offenheit gegenüber dem Gegenstand und der Gruppe geweckt werden und die damit verbundene Bereitschaft, sich auf eine performative Arbeitsweise, also eine Art der Inszenierung, einzulassen. Zum anderen ist dazu notwendig, dass die Teilnehmenden das Setting als einen Schutzraum erfahren, um sich angstfrei auszuprobieren und Erfahrungen reflektieren zu können. Dazu gehört auch, dass diese religiösen Proberäume, auch wenn es das Medium der Inszenierung nahelegen könnte, nicht für die Öffentlichkeit bestimmt sind.31 31 Gleichzeitig können Ergebnisse nach Absprache mit den Teilnehmenden der Öffentlich-

keit, z. B. in einem Gottesdienst, präsentiert werden.

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Letztlich ist es zentrale Aufgabe der Leitung, die Reflexionsprozesse in einer wertschätzenden und annehmenden Gesprächsatmosphäre zu befeuern und ggf. auch methodisch anzuleiten. Folgender Ablauf kann dabei hilfreich sein:32 1. Diskursive Einführung: Einführung in das Thema und die Arbeitsweise, zeitliche und räumliche Begrenzungen aufzeigen, Teilnehmenden die Möglichkeit geben, Vorerfahrungen und Bedenken einzubringen 2. Performatives Erleben: Methoden und Materialien zum eigenständigen Erarbeiten zur Verfügung stellen, Anleitungen und Hilfestellung anbieten, Distanzierungsmöglichkeiten eröffnen 3. Diskursive Reflexion: Subjektives Positionieren, Austausch subjektiver Erfahrungen, Erarbeitung individueller und gemeinsamer Deutungsmuster 4. Persönliche Ergebnissicherung: Abschließende persönliche Sicherung der Erfahrung und Reflexion 5.2 Methoden

Die Methoden des performativen Ansatzes zeichnen sich allesamt dadurch aus, dass sie eine Einladung dazu aussprechen, Formen religiöser Praxis auszuprobieren und zwar mit dem Angebot des »so tun als ob«. Menschen werden aufgefordert zu beten, zu segnen und gesegnet zu werden oder andere religiöse Elemente zu inszenieren. Die im Folgenden exemplarisch skizzierten Methoden sollen einen Einblick in das performative Handeln geben: − Die Teilnehmenden sprechen einander Segensworte zu und nehmen dabei verschiedene Haltungen des Segenspendens, als auch des Segenempfangens ein. − Die Teilnehmenden erschließen sich das Setting von vorformulierten Gebeten (z. B. Psalmen) und inszenieren diese mit einer Gebetshaltung, die ihrer Wahrnehmung nach dem Inhalt des Gebetes entspricht. − Durch das wiederkehrende innerliche Sprechen eines einfachen Gebetssatzes (Herzensgebet) nähern sich die Teilnehmenden Formen meditativen Betens und Stille. Allen Methoden schließt sich eine Reflexion an, die sich in aller Regel im Gespräch vollzieht und vor allem die Erfahrungen der Teilnehmenden in den Vordergrund stellt.

32

Vgl. Hans Mendl, Religion erleben, in: Klie/Merkel/Peter (Hg.), Performative Religionsdidaktik, 16–25, 23.

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5.3 Einsatzmöglichkeiten

Das Konzept des Performativen lässt sich in nahezu allen religions- und gemeindepädagogischen Handlungsfeldern anwenden. Es eignet sich sowohl für den Einsatz im Religionsunterricht, aber eben auch in katechetischen Kontexten, wie der Konfirmandenarbeit. In anderen Formen und Angeboten der Gemeindearbeit lässt sich überall dort arbeiten, wo junge und erwachsene Menschen eine Offenheit mitbringen, sich mit religiösen Themen und Glauben auf performative Art und Weise auseinanderzusetzen. Dies kann sowohl ein alternativer Gottesdienst, z. B. mit Stationen, oder Angebote der Jugendarbeit und Erwachsenenbildung sein. Sicherzustellen ist stets, dass es einen angemessenen Rahmen für den Reflexionsprozess gibt, was bei größeren Gruppen eine Schwierigkeit darstellen könnte. Der Einsatz in missionarischen Settings ist zwar wenig erprobt, aber grundsätzlich gut denkbar. Gerade Glaubenskurse könnten einen angemessenen und geschützten Rahmen bieten, um jungen Menschen eine Möglichkeit zu geben, Glauben kennenzulernen und im Sinne eines Probehandelns zu erfahren, um dann über die individuelle Relevanz mit ihnen zu reflektieren. Hier bietet der performative Ansatz einen subjektiven und selbstbestimmten Zugang zum Glauben und stellt eine gute Ergänzung zu den eher induktiven Lernprozessen in diesem Bereich dar.

»Sprich nur ein Wort ...« Die performative Dimension der Kommunikation Fabian Vogt Was sich hinter dem Begriff »Performanz« verbirgt, wird manchmal erst deutlich, wenn man sich ein konkretes Beispiel vor Augen führt. Etwa dieses hier: Herbst 2016. Auf einer Kleinkunstbühne im Rhein-Main-Gebiet wird eine neue Produktion uraufgeführt, ein Musical über Dietrich Bonhoeffer. In dem EinPerson-Stück1 erzählt und singt die Darstellerin als Maria von Wedemeyer, die Verlobte Bonhoeffers, wie sie den großen Theologen kennen und lieben gelernt hat – und wie diese Liebe ausschließlich in Briefen und durch wenige Besuche im Gefängnis in Berlin-Tegel Gestalt annehmen konnte. Ein abendfüllendes Musical voller unerfüllter Sehnsüchte, großer Hoffnungen und schmerzvoller Enttäuschungen. Aber auch ein bewegendes Stück über die Kraft der Liebe, die Schönheit des Glaubens und eine junge Frau, die nach der Hinrichtung ihres Verlobten in Amerika studiert, als Mathematikerin Karriere macht und auf ihre Weise ihren Frieden findet. Schwere Kost. Zugegeben. Doch das Anliegen der Hauptdarstellerin ist es, die Lebenslust der Maria von Wedemeyer deutlich werden zu lassen. Das »Trotzdem« in der ungewöhnlichen Geschichte dieser Frau. Am Ende der Uraufführung aber passiert etwas Irritierendes: Das Publikum ist vom Schicksal der beiden Liebenden, die zueinander nicht kommen konnten, so ergriffen, ja, so belastet, dass bei allem überschwänglichen Lob für die Aufführung, die Darstellung, den Gesang und das Stück, die Menschen das Theater bedrückt verlassen. Markantestes Kennzeichen dieser Last: Nicht ein Gast besucht die noch geöffnete Gastronomie der Kleinkunstbühne. Verwundert überlegt die Schauspielerin, woran es liegen mag, dass ihr eigentliches Anliegen, die Kraft und die Stärke von Maria von Wedemeyer zu vermitteln, unter der Last des tragischen Todes von Bonhoeffer offensichtlich untergegangen ist. Und dann kommt ein Verdacht auf: Könnte es daran liegen, dass sie als Darstellerin beim Schlussapplaus bewusst in der Rolle Marias geblieben ist und es den Zuschauenden dadurch erschwert hat, den Schritt zurück in ihre eigene Welt und damit in eine bewusste Beobachterposition zu tun? So, dass diese im Leid Marias gefangen bleiben und darüber vergessen, wie erfolgreich diese starke Persönlichkeit dennoch ihren weiteren Lebensweg gestaltet hat? Bei der zweiten Aufführung probiert es die Schauspielerin. Sie spielt 90 Minuten lang exakt das gleiche Stück. Wort für Wort. Note für Note. Geste für Geste. Aber diesmal durchbricht sie beim Schlussapplaus die Erzählebene. Jetzt steht da nicht mehr Maria von Wedemeyer im Rampenlicht. Jetzt steht da die 1

»Bonhoeffers große Liebe – die unerhörte Geschichte der Maria von Wedemeyer«, www.theater-zauberwort.de (zuletzt geprüft am 18.02.2019).

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lächelnde Schauspielerin, die gerade eben Maria von Wedemeyer gespielt hat. Die Frau, die das Publikum in eine eindrückliche Geschichte mit hineingenommen hat – und die Menschen als Veränderte wieder in ihr Leben zurückführen möchte. Und tatsächlich: Diesmal verlassen die Menschen den Saal nicht bedrückt, sondern bewegt. Nicht beschwert, sondern befreit. Nicht verloren, sondern inspiriert. Markantestes Kennzeichen dieser Freude: Diesmal gehen fast alle Besucherinnen und Besucher in die Gastronomie, um noch etwas zu trinken und den Abend bei angeregten Gesprächen ausklingen zu lassen. Ein kleines Lächeln verändert die Rezeption eines ganzen Kulturabends. Ein kleines Lächeln entscheidet über die Gefühlslage zweier Auditorien, die jeweils einen identischen Abend hinter sich haben. Ein kleines Lächeln ist dafür verantwortlich, dass die Botschaft, die die Künstlerin transportieren will, auch ankommt – während sein Fehlen dafür sorgt, dass ganz andere, ungewollte Wahrnehmungen in den Vordergrund treten. Sage bitte niemand mehr, ein kleines Lächeln hätte nicht die Macht, die Welt zu verändern. Ein Lächeln kann – wie dieses Beispiel zeigt – Teil dessen sein, was John Austin in den 60er-Jahren bei Sprechakten als performative Äußerungen bezeichnet hat.2 Darin beschreibt Austin, dass diese – im Gegensatz zu ›konstativen‹, also sachlichen Beschreibungen von Zuständen, die entweder wahr oder falsch sind – durch die Tatsache, dass sie geäußert wurden, Zustände in der sozialen Welt verändern.3 Das heißt: Bei der Performanz geht es um die Wirkmächtigkeit von Kommunikation und die Frage, ob die Absicht der Sprechenden und die »Reaktion« der Rezipienten übereinstimmen. Austin ist nämlich der Überzeugung, dass es gar kein absichtsloses Sprechen gibt, sodass man sagen kann: Ob ein Sprechakt oder ob Kommunikation an sich gelingt, lässt sich überhaupt erst im performativen Akt erkennen – daran, ob die Absicht des gesprochenen Wortes erkannt und umgesetzt wird. Das Gelingen jedoch hängt – wie es das Beispiel vom Lächeln der Musicaldarstellerin zeigt – oftmals überhaupt nicht vom Manuskript ab, sondern von völlig anderen Faktoren. Zum Beispiel von der Präsentation, der Erkennbarkeit der Intention und – damit sind wir beim Thema – natürlich davon, wie eine Absicht für ein bestimmtes Milieu erfolgreich kommuniziert werden kann. Weil nun mal jedes Milieu mit seinen jeweiligen »Regeln«, Wertvorstellungen, Verhaltenskodizes und Vorlieben anders angesprochen werden muss, damit es überhaupt zu einer Aufmerksamkeit und damit auch zu einem möglichen performativen Akt kommen kann. Einige der Faktoren, die für das Gelingen von Sprechakten jenseits der rein inhaltlichen Aspekte von Verkündigung wesentlich sind, werden hier im Weiteren betrachtet. Um die Brisanz der »Performanz« für die Homiletik zu verdeut2

John L. Austin, Zur Theorie der Sprechakte (How to do things with Words), Stuttgart

22002.

3

Siehe dazu auch Uwe Wirth (Hg.), Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main 2002.

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lichen, sei aber vorher noch ein etwas vertrauteres Beispiel aus der kirchlichen Arbeit angedeutet: Vor einigen Jahren wurden beim Hessischen Rundfunk bestimmte Traditionen der Radio-Verkündigung überdacht. Dabei wurde von den Verantwortlichen des Senders klar kommuniziert: »Die Zuhörerinnen und Zuhörer schalten oftmals weg, wenn ein kirchlicher Beitrag kommt.« Der eigentlich beunruhigende Zusatz aber lautete: »Das hat weniger mit den Inhalten eurer Beiträge zu tun als mit der Art, wie die Verkündigenden reden. Inhaltlich ist das meist in Ordnung. Leider hört man sofort: Hier spricht jemand von der Kirche. Und diese Identifikation ist für die meisten Hörenden nicht positiv belegt. Ja, allein die Art des Sprechens sorgt dafür, dass unsere Zielgruppe den Sender wechselt.« Ergebnis: Die gut gedachte und oftmals auch gut gemachte Botschaft erreicht die Menschen nicht. Jedenfalls nicht die Zielgruppen, bzw. Mediatypen der jeweiligen Wellen. Was aber – wie gesagt – nichts mit den Inhalten, sondern überwiegend mit der Darbietung zu tun hatte. Und tatsächlich gab es dann in einem der Programme eine Art Casting unter dem Motto: »Wir suchen jemanden, der wie ein Pfarrer denkt, aber nicht wie ein Pfarrer klingt.« Kann es sein, dass das Gelingen von Kommunikation in der Verkündigung doch viel mehr mit der Präsentation zu tun hat, als sich das Kirchenleute gerne eingestehen? Wie gesagt: Viele Radiohörende lassen sich gar nicht erst auf die kirchliche Botschaft ein, weil sie von Stimmen und einer Sprachmelodie abgeschreckt werden, die in ihrem Milieu negativ belegt sind. Was sich übrigens durch MediaAnalysen sehr genau nachweisen lässt. Die so oft beschriene Milieuverengung des klassischen Gottesdienstes zeigt auf ähnliche Weise, dass die Kunst der Kommunikation des Evangeliums eben nicht nur eine Frage der Exegese und der Anfertigung eines in sich stimmigen Predigtmanuskripts besteht, sondern dass sich erst im performativen Akt entscheidet, ob eine Botschaft im wahrsten Sinne des Wortes »ankommt« oder nicht. Schauen wir uns das einmal an.

Performativ 1 – Jedem Sprechen wohnt eine Absicht inne Wenn jedes Sprechen (also auch das auf der Kanzel) nach den Erkenntnissen der Sprechakt-Theorie ein absichtsvolles Handeln ist, dann stellt sich natürlich als erstes die Frage: »Welche Absicht hat eine Predigt überhaupt?« Mit welcher Intention wird sie gehalten? Bei welcher Zielgruppe möchte sie was erreichen? Und was ist das erklärte, erhoffte und erwartete Ziel dieses sonntäglichen Kommunikationsgeschehens? Wissensvermittlung? Lebensveränderung? Horizonterweiterung? Anregung zum Diskurs? Ermahnung? Predigende, die sich über die Absicht ihrer Predigt nicht im Klaren sind, werden nach Austin niemals erfolgreich kommunizieren können. Das aber sollte eigentlich alle Predigenden zutiefst bewegen: Erreicht meine Predigt überhaupt ihr Ziel? Kommt es zum performativen Akt – also zur Konkretion der in meinen Worten angelegten Intention? Die Fragen »Was

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wünsche ich mir, was meine Predigt erreichen soll?« und »Was ist die damit verbundene Absicht?« müsste daher die Grundlage jeder Predigtvorbereitung sein. Vor allem, wenn wir bedenken, dass Predigten für verschiedene Milieus möglicherweise ganz unterschiedliche Sprechakte darstellen, weil damit eben ganz unterschiedliche Ziele verbunden sind: Kirchennahe Menschen wollen geistliche Vertiefung, während sich Kirchenferne eine vorsichtige Annäherung an den Glauben wünschen. Kulturinteressierte sehnen sich nach anregenden Informationen über biblische Texte, während die trauernde Dame, die gerade ihren Mann verloren hat, vor allem Trost erfahren möchte. Und diese Frage, was ihr Trost gibt, wird vermutlich je nach Milieu auch noch einmal unterschiedlich zu beantworten sein. So wird jede Absicht auch von den Zielgruppen geprägt.

Performativ 2 – Verstehen braucht passende Handlungsbedingungen Inspiriert von Austin hat J. R. Searle in der Sprechakttheorie gefragt, welche Handlungsbedingungen vorliegen müssen, damit es überhaupt zu einem performativen Akt kommen kann.4 Also: Gibt es für die an der Kommunikation Beteiligten überhaupt ein Verständigungsfundamt? So schreibt Götz Hindelang: »Für jeden illokutionären Akt gelten ganz bestimmte Handlungsbedingungen, die vorliegen müssen, damit Sp1 [= Sprechende Person] die entsprechende sprachliche Handlung überhaupt vollziehen kann.«5 Weil es nun mal sinnlos ist, jemandem zum Geburtstag zu gratulieren, der gar nicht Geburtstag hat. Genauso kann es eben auch für Menschen sinnlos sein, zu hören, dass Gott sie liebt, wenn sie gar nicht glauben, dass es einen Gott gibt. Oder wenn man ihnen die Vergebung einer Schuld zusagt, die sie überhaupt nicht empfinden. Oder wenn man ihnen übergriffig sagt: »Wir wollen beten!«, obwohl das dann ja doch nur eine oder einer explizit tut. Und wieder ahnen wir: Zur Gestaltung passender Handlungsbedingungen gehört immer auch die Frage, ob die Verkündigung an die milieuspezifischen Fragen, Sehnsüchte und Ängste der Menschen anknüpfen kann oder nicht. Darüber hinaus sind unsere Gottesdienste ohnehin voller Sprechakte, über die in der Gesellschaft überhaupt kein Konsens mehr besteht, die kirchlicherseits aber weiter postuliert werden. Dazu gehört etwa die Annahme, es sei lohnenswert, einen Bibeltext ausgelegt zu bekommen. Das aber ist für die meisten Milieus schon lange nicht mehr nachvollziehbar und auch nicht einsichtig. Somit ist schon die Bezugnahme auf einen Bibeltext ein exklusives Kommunikationsgeschehen, dessen Sinnhaftigkeit sich für die meisten Milieus nicht mehr erschließt. 4 5

John R. Searle, Sprechakte, Frankfurt am Main 1971. Götz Hindelang, Einführung in die Sprechakttheorie, Tübingen 42004, 9.

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Das aber bedeutet: Predigende sind heute herausgefordert, erst einmal passende Handlungsbedingungen zu schaffen – etwa, indem sie den Gästen in einem Gottesdienst erläutern, warum sie es für relevant halten, sich mit einem uralten, irgendwie »heiligen« Text zu beschäftigen. Und natürlich wird bei dem Versuch, den Sprechakt »Predigt« für die Rezipienten nachvollziehbar zu machen, das jeweilige Milieu der Anwesenden wesentlich darüber entscheiden, wie ich kommuniziere.

Performativ 3 – Kein Sprechakt ohne Beziehung Kommunikation ist immer ein dialogisches Geschehen. Warum? Weil performative Sprechakte nur dann funktionieren, wenn aus einer »Einwegkommunikation« ein Miteinander wird. Wenn die Sprechenden die Hörenden mit auf einen Weg nehmen, an dessen Ende der hehre Anspruch, Zustände in der sozialen Welt zu verändern, im Sinne einer »Reaktion« des Rezipienten, auch tatsächlich geschieht. Gibt es keine »Reaktion« der Hörenden, dann hat der »perlokutionäre Akt«, wie John Austin die Vollendung des Sprechaktes bezeichnet, gar nicht stattgefunden. Insofern stellt sich in der Homiletik immer die Frage, welche Rolle der Aufbau einer Beziehung zwischen Predigenden und Hörenden beim Predigen spielt. Erleben sich die Gottesdienstbesucherinnen und -besucher als ernsthafte »Gesprächspartner« im Predigtgeschehen, die durch das Gesprochene in einen imaginären »Dialog« verstrickt werden und in dem sie mit ihren eigenen Subsinnwelten an das Gehörte andocken können – oder bleibt die Predigt ein noch so kluges Postulat, zu dem ich immer nur ein Gegenüber bin? Wie und ob es gelingt, dass Menschen sich wirklich »angesprochen« fühlen, im Sinne eines Erreicht-Werdens, stellt deshalb eine zentrale Aufgabe der performativen Homiletik dar. Denn während die Traditionsverwurzelten schon durch das Amt des Pfarrers eine Beziehung definiert sehen, werden die Modernen Performer fragen, in welcher Weise die Pfarrperson zu ihrer beruflichen Entwicklung beitragen kann, während die Hedonisten überlegen, inwiefern dieser Kontakt wohl ihren persönlichen Glücksindex heben könnte. Insofern begegnen Predigende durch die Milieus auch ganz unterschiedlichen Rollenerwartungen. Die müssen sie nicht immer erfüllen, aber sie sollten sich darüber im Klaren sein, welches Milieu sie tatsächlich mit einer bestimmten »Performance« erreichen.

Performativ 4 – Zur Sprache gehört das Reden Dass Radiohörende die Inhalte einer Verkündigungsendung wegen des Tonfalls nicht rezipieren wollen oder sich ein ganzes Auditorium durch ein kleines Lächeln dafür gewinnen lässt, eine neue Perspektive auf das Rezipierte zu bekommen, macht deutlich, dass zu einem gelingenden Sprechakt stimmige Aus-

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drucksformen gehören. Natürlich gibt es liturgisch geprägte Momente, die eine ganz eigene Sprachform kennen und brauchen (etwa der Segen, eine Taufe oder eine Hochzeit), trotzdem bleibt der sogenannte »Kanzelton« besonders für Kirchendistanzierte fremd. Sie hören nicht mehr zu, weil sie in ihrer Alltagswirklichkeit kein kommunikatives Geschehen kennen, in dem ihnen jemand von einer erhöhten Position aus etwas über Gott und die Welt erzählt. Nun hat ja Gerd Otto gezeigt, dass Predigt als öffentliche Rede immer rhetorisch gestaltet ist6 – und Manfred Josuttis weist zurecht darauf hin, dass im Akt öffentlicher Rede das Ineinander von Form und Inhalt niemals getrennt werden kann.7 Das gilt sowohl für die Art des Sprechens, als auch für Gestik und Mimik. Insofern geht es bei der Präsentation von Predigten nicht nur darum, eine dem jeweiligen Milieu und der Zielgruppe angemessene Sprache zu finden, sondern auch darum, diese Sprache in einer dazu passenden Form zu artikulieren. Man kann sich dabei zurecht über bestimmte Formen medialer Kommunikation aufregen, aber es gibt nun mal Milieus, die sich eher von einem Florian Silbereisen als von Caren Miosga angesprochen fühlen. Und während die einen Eckart von Hirschhausen brillant finden, sind andere von seinem MilchbubiCharme nur genervt. Jede und jeder erfolgreiche Moderator hat ein milieuspezifisches Publikum – sodass es nicht verwundern muss, wenn die schwarzgewandeten Pfarrpersonen von der Kanzel auch nur ausgewählte Zielgruppen erreichen.

Performativ 5 – Kommunikation lebt von der Person Fragt man Menschen, die regelmäßig Predigten hören, welche Predigten ihnen im Gedächtnis geblieben sind und woran das liegen mag, dann erhält man oftmals die Antwort: »Weil ich der Person abgenommen habe, wovon sie gesprochen hat.« Das heißt: Anders als früher ist es für viele Menschen nicht mehr das Pfarramt an sich, das eine Legitimation zur Verkündigung darstellt, sondern die Glaubwürdigkeit. Je mehr die traditionelle Rolle von Pfarrpersonen an Einfluss verliert, desto mehr gewinnt die Wahrnehmung der Authentizität an Bedeutung. Was natürlich bedeutet, dass die Person des Predigenden in der Predigt auch erkennbar werden muss. Henning Luther zeigt in seinem Aufsatz »Predigt als Handlung«8, dass Sprechakte, die die Subjektivität des Predigenden zum Ausdruck bringen, unverzichtbar zur Predigt dazugehören. Erst darin unterscheide sich eine Predigt überhaupt von einem Vortrag. Es geht also darum, dass Predigerinnen und Prediger nur dann, wenn sie als Handelnde erkannt werden, einladen können, sich zu einem Sprechakt zu verhalten – und somit eine performative Reaktion herbeiführen. Albrecht Grözinger schreibt deshalb: 6

Gerd Otto, Predigt als Rede, Stuttgart 1979. Manfred Josuttis, Rhetorik und Theologie in der Predigtarbeit. Homiletische Studien, München 1985. 8 Henning Luther, Predigt als Handlung. Überlegungen zur Pragmatik des Predigens, Zeitschrift für Theologie und Kirche 80 (1983), 223–243. 7

»Sprich nur ein Wort ...«

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»Die Menschen der Postmoderne suchen im Pfarrer, in der Pfarrerin nicht den großen Kommunikator, sondern den Interpreten, die Interpretin der biblisch-christlichen Tradition in jeweils bestimmten lebensgeschichtlichen Kontexten.«9

Und diese Zuspitzung wiederum zeigt, warum Predigten auch unter performativer Perspektive immer milieuspezifisch sein müssen: Wenn es den Verkündigenden gelingen soll, in »bestimmte lebensgeschichtliche Kontexte« hinein zu sprechen, dann müssen sie mit diesen vertraut sein und den Rezipienten für ihre Fragestellungen milieugerechte Aufarbeitungen liefern, die dann wiederum zu einer adäquaten »Reaktion« der Hörenden führen können.

Performativ 6 – Konkretionen gehören in Situationen Viel mehr als wir ahnen, wird ein Sprechakt auch von äußeren Umständen bestimmt. So erklärt Wolfgang Iser: »Sprechakte sind nicht bloße Sätze, sondern sind als sprachliche Äußerung immer schon situierte Sätze; das heißt, solche, die in Situationen, bzw. bestimmten Kontexten fallen.«10

Natürlich predigen wir in einem Karnevalsgottesdienst anders als bei einer Beerdigung, in einem Festzelt anders als in einer gotischen Hallenkirche, und am Totensonntag anders als an Ostern. Zumindest sollte es so sein. Und wir müssen uns der Umstände bewusst sein. Vor allem aber werden unterschiedliche Lokationen auch unterschiedliche Milieus ansprechen. Raum, Anlass, Umgebung, Atmosphäre, aber auch Kleidung, liturgische Umrahmung, Musik, Gerüche, Beleuchtung oder einfach die Qualität der Mikrofontechnik beeinflussen die Sprechsituation massiv. Je nach Zielgruppe erleichtern oder erschweren sie das Verhältnis zwischen Sprechenden und Rezipienten. Wer sich in einer Kirche ohnehin fremd fühlt, der wird auch zu einem Menschen im schwarzen Talar vor ihm unverständlichen Symbolen nicht leicht Vertrauen fassen, geschweige denn sich auf einen Sprechakt einlassen, der auf eine Reaktion wartet. Das bedeutet: Eine Predigt, die von einer Hardrock-Band umrahmt ist, wird eine völlig andere sein, als eine, bei der ein barockes Streichquintett spielt. Auch wenn die Texte im Wortlaut identisch wären. Tatsache ist nämlich auch: Bei diesen doch recht unterschiedlichen Gottesdienstformaten kämen vermutlich sehr unterschiedliche Milieus, beziehungsweise blieben nur bestimmte Leute bis zur Predigt sitzen. Noch bevor also ein homiletisches Wort gesprochen wurde, hat die Situation längst eine Milieuorientierung herbeigeführt. 9

Albrecht Grözinger, Die Kirche – ist sie noch zu retten? Anstiftungen für das Christentum in postmoderner Zeit, Gütersloh 1998, 139. 10 Wolfgang Iser, Die Wirklichkeit der Fiktion. Elemente eines funktionsgeschichtlichen Textmodells, in: Rainer Warning (Hg.), Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis, München 1975, 277–324, 279.

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Performativ 7 – Perlokutionäre Akte brauchen Evaluation Wenn performatives Sprechen ein absichtsvolles Handeln meint und erst dort erfolgreich abgeschlossen wurde, wo diese Absicht vom Gegenüber erkannt und realisiert wurde, dann gilt es selbstverständlich, Formen zu entwickeln, um das Gelingen des Sprechaktes auch zu evaluieren. Anders ausgedrückt: Wie kann es eigentlich sein, dass die öffentlich-rechtlichen und die privaten Sendeanstalten regelmäßig Mediatypen-Analysen machen, um festzustellen, ob und welche Milieus sie mit ihren Inhalten noch erreichen, und ob und wie sie ihre Kommunikation möglicherweise ändern müssen, damit die im Leitbild der Sender angestrebten Kommunikationsvorhaben umgesetzt werden können – wir aber in der Kirche nicht einmal die alle 10 Jahre stattfindenden EKD-Erhebungen zur Kirchenmitgliedschaft in ihrer Dramatik wahrnehmen? Dazu kommt im Reformationsjahr die Erkenntnis, dass Martin Luther ja gar nicht unbedingt wollte, dass eine Predigt den Menschen die Bibel »erklärt«. Er träumte viel mehr davon, dass eine Predigt den Menschen beibringt, wie sie selbst die Bibel auslegen können. Was übrigens einen absolut messbaren Sprechakt beinhaltet. Denn natürlich kann man überprüfen, wie sich die Fähigkeit eines Menschen, mit der Bibel selbständig zu arbeiten und zu leben, entwickelt. Je klarer die Intention formuliert wird, umso leichter kann sie gemessen werden. Natürlich geht spirituelle Kommunikation über messbare »Ergebnisse« hinaus – dieses Argument darf aber nicht dazu dienen, sich jeglicher Evaluation zu verschließen. Denn das Horrorszenario einer kommunikativen Homiletik wäre ja allemal, feststellen zu müssen, dass Predigten möglicherweise allzu oft einfach nichts bewirken, geschweige denn zu echter Lebensveränderung ermutigen. Und schließlich wird es kaum Predigende geben, die nicht hoffen, dass ihre Predigten etwas bewirken. Schließlich geht es dabei um Gottes Wort, das voller Wirkmacht steckt. Dann ist es nur legitim zu fragen, woran man diese Wirkung erkennen kann. Jede dieser sieben Kategorien für das Gelingen performativer homiletischer Akte ließe sich nun an den bekannten Milieus durchbuchstabieren. Eine wahrhaft wegweisende Herausforderung. Als Inspiration sei hier zum Ausklang noch eine kleine historische Anekdote berichtet: 1828 fand angeblich ein interessantes Experiment statt. In Nürnberg wollte man wissen, ob die These von Jean-Jaques Rousseau stimmt, dass jeder Mensch eine natürliche Gottesfurcht besitzt. Also brachte man das Findelkind Kaspar Hauser in einen Gottesdienst. Ein frühes Experiment am lebenden Menschen. Berichtet wird, dass sich der Junge die ganze Zeit verängstigt an die Bank klammert, weil er nichts, aber auch gar nichts von dem Geschehen um ihn herum versteht. Als die Predigt beginnt, ruft er – kurz bevor er in Ohnmacht fällt – laut aus: »Warum schimpft der Mann da oben so?« Nun vielleicht hätte damals schon eines geholfen: ein kleines Lächeln.

6 Die personale Dimension

Kultursensible Kompetenz in der personalen Kommunikation des Evangeliums Nahamm Kim »Alles wirkliche Leben ist Begegnung.«1 Das persönliche Du als Gegenüber zum eigenen Ich bildet eine anthropologische Grundkonstante. Wir sind auf Begegnungen angewiesen, weil sie über die Qualität unseres Lebens als Menschen entscheiden. Die Art einer Begegnung hängt von den jahrelang erlernten Umgangsweisen ab. Daher kann es auch zu Missverständnissen kommen: Wenn jemand auf mich mit einem Habitus zukommt, den ich nicht gewohnt bin, dann kann mich das irritieren. Schon innerhalb einer Kultur gibt es durch die milieubedingte Unterschiedlichkeit solche Begegnungsbarrieren. Noch deutlicher wird das Problem aber an einem Spezialfall von zwischenmenschlicher Begegnung – nämlich der interkulturellen. Ethnologie und Milieuforschung funktionieren in gewisser Weise analog: Milieuforschung ist die Ethnologie westlicher Kulturen. Daher soll der Blick auf die Frage nach der kultursensiblen Kompetenz gerichtet werden. Die gemeinsame Suche von Milieuforschung und interkultureller Theologie ist die nach dem Verständnis des Fremden.

1 Einleitung: Gegenwärtige Lage und gesellschaftliche Herausforderungen in Deutschland Im Zeitalter der Globalisierung mit der steigenden Ausländerzahl in Deutschland2 wird die Herausforderung, wie wir mit dem Fremden3 umzugehen haben, zunehmend zu einer Aufgabe, die direkt vor unserer Haustür beginnt. 1

Martin Buber, Ich und Du, Heidelberg 1974, 18. Die Anzahl der Ausländer in Deutschland erhöht sich durch Migration und Geburten jedes Jahr ca. um 280.000, ohne Berücksichtigung der Aussiedler, vgl. Christoph Schneider2

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Im Jahr 1998 wurde offiziell von der damaligen rot-grünen Bundesregierung bekannt gegeben, dass Deutschland bereits ein Einwanderungsland4 sei und nach OECD-Angaben ist und bleibt es auch weiterhin das zweitwichtigste Einwanderungsland nach den USA.5 Von den ca. bald 83 Millionen Menschen, die in Deutschland6 leben, haben ca. 16,4 Millionen Menschen einen Migrationshintergrund.7 Die kulturelle Diversität in Deutschland wurde explosionsartig erhöht, als mit der sogenannten Flüchtlingskrise im Jahr 2015 ca. 890.000 Asylsuchende ins Land kamen.8 Die Flüchtlingskrise gilt inzwischen als überwunden.9 Nichtsdestotrotz wird für die Zukunft die Frage dringender, inwieweit wir diese Vielfalt von verschiedenen kulturellen, religiösen Prägungen und Lebenswelten in die bestehende Dominanzkultur Deutschlands integrieren können. In diesem Artikel soll es nun darum gehen, wie wir es lernen können, grundlegend kultursensibel miteinander umzugehen. Denn das ist in unserer Gegenwart unverzichtbar geworden ist, um gerade als Christen10 in den Begegnungen mit dem Anderen und Fremden das Evangelium zu kommunizieren. Schließlich soll das Evangelium vom Gegenüber als eine gute Nachricht wahrgenommen werden. Dabei ist es wichtig, wachsam zu bleiben, dass wir unsere Botschaft dem Anderen nicht »überstülpen« oder gar aufdrängen, ohne es selbst zu bemerken, weil wir gefangen sind in unserer eigenen Sprachwelt, Weltsicht und unseren Glaubensüberzeugungen. Unser Ziel muss es sein, dass wir den Anderen in seinem Anderssein wahrnehmen und ihn nach der goldenen Regel11 so würdigen, wie es ihm gebührt mit allem Respekt vor dessen Andersartigkeit und seinem So-Sein, wie wir es auch für uns selbst von Anderen erwarten und einHarpprecht, Was ist Interkulturelle Seelsorge?, in: Karl Federschmidt u. a. (Hg.), Handbuch Interkultureller Seelsorge, Neukirchen-Vluyn 2002, 38–62, 39. 3 Aus Vereinfachungs- und Lesbarkeitsgründen wird auf die Nennung der unterschiedlichen Geschlechter verzichtet. Selbstverständlich schließt aber die männliche Bezeichnung auch immer die feminine Form mit ein. 4 Vgl. Karl-Heinz Meier-Braun / Reinhold Weber (Hg.), Deutschland Einwanderungsland, Stuttgart 32017, 16. 5 Vgl. www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2017-06/integration-fluechtlinge-deutschlandoecd?print (zuletzt geprüft am 18.02.2019) 6 Vgl. www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2017-01/einwohnerzahl-steigt-deutschlandstatistisches-bundesamt-rekord-einwanderung?print (zuletzt geprüft am 18.02.2019) 7 Vgl. Meier-Braun / Weber, Deutschland, 13. 8 Vgl. Meier-Braun / Weber, Deutschland, 12. 9 Vgl. Meier-Braun / Weber, Deutschland, 12. 10 Die oft ausgesprochene Hervorhebung des christlichen Glaubens an einen Gott der Liebe, der diese Welt (mit allen Menschen darinnen ohne irgendwelche Voraussetzungen oder Bedingungen) so sehr geliebt hat, dass er selbst einer unten ihnen geworden ist, um mit ihnen ihre Sprache, ihr Leben, ihre Kultur zu teilen (vgl. Joh 3,16) verpflichtet all diejenigen, die sich als Christusnachfolger verstehen, dass sie durch ihr Reden und Handeln »[d]er Spur des heruntergekommenen Gottes folgen« (Heinzpeter Hempelmann, Gott im Milieu, Gießen 22013, 21). 11 Vgl. Lk 6,31; Mt 7,12.

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fordern würden. Das führt zu der unabdingbaren Notwendigkeit der Aneignung einer kultursensiblen Kompetenz in der Begegnung mit dem Fremden. Kultursensible Kompetenz ist nicht nur in den interkulturellen Interaktionen eine notwendige Aufgabe, sondern auch im Umgang mit dem Nächsten. In meiner Nachbarschaft bleibt die Aufgabe einer achtsamen Haltung gegenüber dem Anderen und seiner (Sub-)Kultur bestehen. Denn jeder Mensch wird mit seiner ganz eigenen Prägung in der Begegnung mit dem Anderen immer wieder an Grenzen des Verständnisses stoßen. Durch die SINUS-Milieu-Studien und deren Ergebnisse wurden wir neu darauf aufmerksam gemacht, wie viele unterschiedliche Subkulturen innerhalb Deutschlands existieren und dass die Kirchen mit den bisherigen Gottesdienstformen und -gestaltungen hauptsächlich nur einzelne Milieus erreichen können.12

2 Begriffsdefinition und hermeneutische Voraussetzung 2.1 Begriffsdefinition

Der Begriff der Kommunikation des Evangeliums, den Ernst Lange in den sechziger Jahren in Deutschland zum ersten Mal eingeführt hatte,13 hat einen Paradigmenwechsel eingeleitet, der eine kommunikationswissenschaftliche Bewegung kennzeichnet, die weniger hierarchisch und einseitig ist, sondern eher das Dialogische an der Evangeliumweitergabe betont und auf die Möglichkeit hinweist, sie auf vielfältige Art und Weise zu praktizieren.14 12

Vgl. Heinzpeter Hempelmann / Karen Hinrichs / Ulrich Heckel / Dan Peter (Hg.), Auf dem Weg zu einer milieusensiblen Kirche (Kirche & Milieu 2), Neukirchen-Vluyn 2015, 64f.; vgl. www.mdg-online.de/fileadmin/Redaktion/PDF-Dateien/MDG-Milieuhandbuch_Religiöse_ und_kirchliche_Orientierungen_in_den_Sinus-Milieus_2005.pdf, 16. (zuletzt geprüft am 18.02.2019) und www.kirchenreform-zh.ch/dokumente/milieu-studie, 34 (zuletzt geprüft am 18.02.2019). 13 Über die Entstehungsgeschichte des Begriffes in der ökumenischen Bewegung Ende der fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts, vgl. Christian Grethlein, Praktische Theologie, Berlin 2012, 139ff. Nach der Einführung des Begriffes in den deutschen Kontext durch Lange wurde er z. T. variiert von verschiedenen Theologen aufgenommen, in den achtziger Jahren von Adam/Lachmann das erste Mal als wichtiger theologischer Leitbegriff rezipiert, aber v. a. zu Beginn des 21. Jahrhunderts hauptsächlich von Christian Grethlein wieder bekannt gemacht in seiner Praktischen Theologie, wo er ihn als einen theologischen Zentralbegriff der Praktischen Theologie hervorgehoben hat, vgl. dazu die kurze, aber übersichtliche Rezeptionsgeschichte des Begriffes in Michael Domsgen / Bernd Schröder, Vorwort, in: dies. (Hg.), Kommunikation des Evangeliums. Leitbegriff der Praktischen Theologie (Arbeiten zur Praktischen Theologie 57), Leipzig 2014, 7–11; Grethlein, Praktische Theologie. Zu den wichtigsten Aspekten des Begriffsverständnisses von Ernst Lange s. die Zusammenfassung in Wilfried Engemann, Art. Kommunikation des Evangeliums, in: Domsgen/Schröder (Hg.), Kommunikation des Evangeliums 15–32, 17–21. 14 Vgl. Domsgen/Schröder, Vorwort, 8f; vgl. Ernst Lange, Versuch einer Bilanz (1964), in: ders., Kirche für die Welt. Aufsätze zur Theorie kirchlichen Handelns (hg. von Rüdiger Schloz), München 1981, 101–129, 101.

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Nach Christian Grethleins Verständnis wird der Inhalt des Evangeliums15 durch den und in dem Prozess des Kommunizierens mit dem Gesprächsgegenüber erst kreiert und wird somit nicht als festgelegte statische Größe verstanden, sondern als etwas, das sich im Laufe des Gesprächsvorgangs entwickelt.16 Damit soll jedoch nicht gesagt werden, dass der Inhalt des Evangeliums beliebig gefüllt werden kann, sondern Grethlein möchte vielmehr den »innovativen und personenbezogenen Charakter des Evangeliums« hervorheben, weil das Evangelium sich immer an den Kommunikationsvorgang und der Beziehung zwischen den Personen in den jeweiligen konkreten Situationen anpasst und darauf Bezug nimmt.17 Auch Adam/Lachmann betonen, dass der Auftrag zur Kommunikation des Evangeliums im »Blick auf die Fragen der Menschen und der Gegenwart wahrzunehmen«18 ist und definieren das Evangelium als die Botschaft von der Menschenfreundlichkeit Gottes. Sie begründen die Notwendigkeit der Kommunikation des Evangeliums mit den folgenden Worten: »Die Menschenfreundlichkeit Gottes (Joh 1,14) zielt nicht auf die Vergottung des Menschen, sondern auf seine Menschwerdung. Dabei ist deutlich, dass die Menschwerdung des Menschen nicht einfach ein naturgegebener, dem Menschen immanenter Prozess des Wachsens ist, der sich von selber einstellt, sondern dass die Kommunikation des Evangeliums erforderlich ist.«19

Ebenso versteht Wilfried Engemann unter dem Begriff Kommunikation des Evangeliums eine »spezifisch evangelische Art und Weise des Umgangs mit Menschen«, die »das Menschsein des Menschen fördernde religiöse Praxis des Christentums«20 zum Ausdruck bringt. Das ist aber nach seinem Verständnis nur möglich wenn der Glaube auf welche Art und Weise auch immer dem Gegenüber nahegebracht wird.21 Durch die Milieustudien22 entstand in den letzten Jahren zunehmend die Erkenntnis, dass nicht nur für die Evangeliumsweitergabe in anderen Kulturen, 15

Grethlein grenzt sich in seinen Ausführungen zum Begriff des Evangeliums gegenüber den Definitionen u. a. von Josuttis, Gräb und Karle in dem Punkt ab, dass sie kaum Bezug nehmen auf die biblischen Überlieferungen, und versucht seinerseits in seiner Begriffsdefinition die theologischen Zentralbegriffe der biblischen Tradition mit zu berücksichtigen und in Zusammenhang zu bringen, vgl. Grethlein, Praktische Theologie, 157ff. 16 Vgl. Grethlein, Praktische Theologie, 156f.; vgl. Domsgen/Schröder, Vorwort, 9. 17 Das heißt aber zugleich, dass dieser in Bewegung bleibende Charakter des Evangeliums mit dem offenen Ende auch immer zugleich anfällig bleibt und gefährdet ist von gewissen asymmetrischen Gesprächskonstellationen mit Machtgefällen, vgl. Grethlein, Praktische Theologie, 157. 18 Gottfried Adam / Rainer Lachmann, Was ist Gemeindepädagogik, in: dies. (Hg.), Neues Gemeindepädagogisches Kompendium, Göttingen 2008, 15–39, 30. 19 Adam/Lachmann, Gemeindepädagogik, 31. 20 Engemann, Art. Kommunikation, 16. 21 Vgl. Engemann, Art. Kommunikation, 17. 22 Zur Entwicklungsgeschichte von verschiedenen Milieustudien gut übersichtlich und komprimiert dargestellt bei Michael Meyer-Blanck, Die Kirchenmitglieder – Milieus in der Kirche, in: Hempelmann u. a. (Hg.), Weg, 23–33, 25ff. sowie Hempelmann, Gott, 31–37.

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sondern ebenso für die unterschiedlichen Subkulturen Deutschlands mit ihren jeweiligen Sinn- und Kommunikationszusamenhängen das Evangelium neue Inkulturationsformen benötigt.23 In der Kommunikation des Evangeliums wäre deswegen besonders darauf zu achten, dass nicht ein verengtes (sub)kulturelles Verständnis und eine kulturell sehr eingegrenzte Sprachfähigkeit Menschen von anderen (Sub-)Kulturen hindern, sich dem Evangelium zu öffnen oder ihnen den Zugang zum Evangelium gar zu versperren.24 Etymologisch kommen in dem Wort communicare die Bedeutungen von Teilen, Gemeinschaft haben wie das Mitteilen von Informationen zusammen, sodass in dem Begriff Kommunikation immer auch die zwischenmenschliche Beziehungsgestaltung zentral mit inbegriffen ist.25 Somit wird eine Kommunikationsfähigkeit vorausgesetzt, die sich an die Zeitgenossen und an deren Sprachund Lebenswelt soweit anpassen kann, dass das Ziel einer »Gemeinschaft im Sinne von Kommunikationsgemeinschaft oder Handlungsgemeinschaft«26 erreicht werden kann.27 Bevor wir der Frage nachgehen, wie und auf welche Weise wir heute das Evangelium inkulturieren bzw. kontextualisieren können, brauchen wir einen kulturhermeneutischen Denkrahmen, wofür im Folgenden Impulse aus der Missionswissenschaft und der Interkulturellen Seelsorge mit einbezogen werden, da hier meines Erachtens eine gute Verständnisgrundlage besteht, um das Verhältnis zwischen der Kommunikation des Evangeliums zu ihrem (sub)kulturellen Kontext besser zu erfassen.28 Hierbei werde ich mich vor allem auf die Hermeneutik des Fremden bei Sundermeier beziehen, da sie in direkten Zusammenhang gebracht werden kann mit den Impulsen aus der Interkulturellen Seelsorge. 2.2 Hermeneutik des Fremden

Die Frage nach der Inkulturation bzw. Kontextualisierung des Evangeliums in die Kultur und somit auch die nach der Verhältnisbestimmung der Kommunikation des Evangeliums zu den jeweiligen Kulturen wurde hauptsächlich seit Mitte des 19. Jahrhunderts von der Missionswissenschaft aufgegriffen und bearbeitet.29 Nach Martin Reppenhagen ist es wesentlich Theo Sundermeier und 23

Vgl. Hempelmann, Gott, 15. Vgl. Hempelmann, Gott, 17. 25 Vgl. Adam/Lachmann, Gemeindepädagogik, 28. Zur sehr viel ausführlicheren Darstellung der unterschiedlichen kommunikationstheoretischen Modelle s. Grethlein, Praktische Theologie, 145–157. 26 Adam/Lachmann, Gemeindepädagogik, 29. 27 Vgl. dazu die Definition aus der psychologischen Kommunikationstheorie. Nach Röhner und Schütz ist Kommunikationskompetenz zu verstehen als »[d]ie Fähigkeit von Kommunizierenden angemessenes Verhalten auszuwählen und so interpersonale Ziele zu erreichen, ohne Interessen des Gegenübers massiv zu verletzen« (Jessica Röhner / Astrid Schütz, Psychologie der Kommunikation, Wiesbaden 22016, 31f.). 28 Vgl. Grethlein, Praktische Theologie, 187ff. 29 Vgl. Grethlein, Praktische Theologie, 191.

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seiner Hermeneutik zu verdanken, dass die Missionswissenschaft sich entwickeln konnte zu einer »hermeneutischen Wissenschaft«30, die aber eingebettet war in die Entwicklungsgeschichte der Missionswissenschaft zur Interkulturellen Theologie.31 Besonders in der Interkulturellen Seelsorge wurde Sundermeiers Ansatz aufgenommen. Nach dem Verständnis von H. Weiß findet interkulturelle Seelsorge nicht nur im Gespräch statt, sondern Seelsorge ist Gespräch, d. h., dass es eine umso größere Herausforderung wird in der interkulturellen Begegnung, eine solche »Übersetzungsarbeit« zu leisten, dass Verständigung über kulturelle Grenzen hinweg möglich gemacht werden kann.32 Für die dafür notwendige Frage nach einer neuen Hermeneutik wird von Theo Sundermeier beantwortet mit einer Hermeneutik des Fremden. Nach dem Missionswissenschaftlicher Klaus Hock basiert Sundermeiers Entwurf einer Hermeneutik des Fremden auf der erkenntnistheoretischen Grundlage einer Hermeneutik der Differenz, die davon ausgeht, dass die »Inkompatibilität zwischen dem eigenen und fremden Glauben«33 anerkannt werden muss und sich daher bemüht, sie in den Reflexionsprozess mit zu integrieren.34 Sundermeier grenzt sich ab von der klassischen Hermeneutik sowie von Gadamers Hermeneutikverständnis, das das Verstehen von Texten bzw. von Menschen zum Ziel hat und betont dagegen die Notwendigkeit einer »Differenzhermeneutik, die das Differente verstehen lehrt, ohne es zu vereinnahmen, die praktische Hilfe bietet, die Nähe des Zusammenlebens einzuüben, und zugleich die richtige Distanz bewahrt, die die Identität des Fremden respektiert und die uns allen gemeinsame Menschenwürde achtet.«35

Das Verstehen liegt möglicherweise erst am Ende eines langen Entwicklungsprozesses und das Erreichen des Ziels ist nicht gewährleistet, sodass dieses hermeneutische Verständnis die Spannung eines offenen Endes in sich trägt.36 Für Sundermeier gibt es vier verschiedene hermeneutische Entwicklungsstufen im Verstehen, die man in der Begegnung mit dem Fremden durchlaufen kann. Von der distanzierten Wahrnehmung des Fremden ausgehend, über sympathisie30

Martin Reppenhagen, Das jüngste theologische Fach im Umbruch. Von der Missionswissenschaft zur Interkulturellen Theologie, Theologische Beiträge 45 (2014), 85–98, 88. 31 Klaus Hock beschreibt sie als einen Transformationsprozess, vgl. Klaus Hock, Einführung in die Interkulturelle Theologie, Darmstadt 2011, 13. Ein wenig kritischer zur Verhältnisbestimmung zwischen Missionswissenschaft und Interkultureller Theologie, vgl. Reppenhagen, Umbruch, 98. Einen weiteren kurzen Überblick zur missionswissenschaftlichen Entwicklungsgeschichte auch in Grethlein, Praktische Theologie, 187–192. 32 Helmut Weiß, Die Entdeckung interkultureller Seelsorge. Entwicklung interkultureller Kompetenz in Seelsorge und Beratung durch internationale Begegnungen, in: Federschmidt, u. a. (Hg.), Handbuch Interkultureller Seelsorge, 17–37, 19f. 33 Hock, Interkulturelle Theologie, 24. 34 Vgl. Hock, Interkulturelle Theologie, 24. 35 Theo Sundermeier, Den Fremden verstehen. Eine praktische Hermeneutik, Göttingen 1996, 13. 36 Vgl. Sundermeier, Den Fremden verstehen, 13.

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rende teilnehmende Beobachtung und empathische Teilidentifikation mit dem Fremden entwickelt sich Verstehen schließlich hin zu einer Konvivenz-Haltung, die dem Anderen mit Respekt und Anerkennung begegnet.37 Sich des Fremden erst einmal in seiner Fremdheit gewahr werden ist demnach der Anfangspunkt des Verständnisprozesses38, der aber nur in direkten Begegnungen mit dem Fremden zur stufenweise erfolgenden und gegenseitigen Annährungen führen kann.39 Erst in den Begegnungen mit dem Anderen wird das Handeln und Verhalten angeregt, woran geprüft werden kann, inwieweit sie ein besseres Verstehen ermöglichen oder nicht. So ist es für Sundermeiers hermeneutisches Verständnis wichtig, die Handlungsebene mit in die Methodik einzubeziehen.40 Im Begriff der Konvivenz führt Sundermeier dann im Konkreten aus, was die praktische Dimension seiner Hermeneutik beinhaltet. Im folgenden dritten Teil des Artikels soll nun eine Ausführung über die kultursensible Kompetenz erfolgen und in diesem Zusammenhang auch überlegt werden, was an innerer Einstellung, Fähigkeiten und praktischen Umsetzungsmethoden benötigt wird, wenn durch zwischenmenschliche Begegnungen das Evangelium auf eine konstruktive Art und Weise kommuniziert werden soll.

3 Kultursensible Kompetenz in der personalen Kommunikation des Evangeliums 3.1 Kultursensible Einstellung

Bevor wir auf das Wie der Ausübungen von kultursensibler Kompetenz zu sprechen kommen, ist es unbedingt nötig, hervorzuheben, dass eine bestimmte innere Grundeinstellung dem vorangehen muss. Diese besteht auf dem Hintergrund des schon genannten hermeneutischen Vorverständnisses und bildet die Grundlage für alle weiteren konkreten Handlungen in der praktischen Umsetzung. Sundermeier definiert sie als eine innere Einstellung der »Phantasie und Neugier«, die dem Fremden »mit Offenheit und Vorsicht, mit Zugewandtheit und Umsicht« begegnet um »Unbekanntes zu entdecken und verstehend zu erleben.«41 Im Vergleich dazu hebt Schneider-Harpprecht den Aspekt des »Unverständnisses« noch stärker hervor und die Wichtigkeit, nicht in einer vermeintlich wissenden, sondern in einer nicht-wissenden Haltung dem Fremden zu begegnen.42 Da das Fremde nicht direkt zugänglich ist, ist es absolut nötig, 37

Vgl. Sundermeier, Den Fremden verstehen, 153ff. Vgl. Sundermeier, Den Fremden verstehen, 11. 39 Vgl. Sundermeier, Den Fremden verstehen, 70. 40 Vgl. Sundermeier, Den Fremden verstehen, 76. 41 Sundermeier, Den Fremden verstehen, 191. 42 Schneider-Harpprecht vertritt eine ähnliche Position wie Sundermeier, gewichtet aber mehr den Aspekt des bleibenden Unverständnisses zwischen dem Eigenen und dem Fremden, indem er in Anlehnung an den phänomenologischen Ansatz Husserls und B. Waldenfels’, dem hermeneutischen Konzept von U. Körtner und der konstruktivistischen Kommu38

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die Haltung eines Lernenden beizubehalten in allen Begegnungen mit dem Fremden, in dem Bewusstsein der eigenen begrenzten und selektiven Wahrnehmungsfähigkeit sich auf das Gespräch mit dem Anderen einzulassen. Dies beugt der Gefahr vor, den Anderen nur durch die eigene kulturelle Brille zu sehen und mit dem eigenen kulturell vorgeprägten Interpretationsmuster einzuordnen.43 Damit man nicht an den Anderen vorbeiredet und -hört, ist es wichtig, insbesondere im interkulturellen Gespräch immer wieder gegenseitig zu prüfen und sich neu zu vergewissern, inwieweit das vermeintlich Verstandene sich mit der intendierten Aussage des Anderen in dessen kulturellen Deutungsrahmen überlappt und in dialogischer Zusammenarbeit »eine neue kulturelle Wirklichkeit [zu konstruieren], in der die Herkunftskulturen der Gesprächspartner aufeinandertreffen und in der eine Selektion von zugelassenen und nicht zugelassenen Elementen der Sinndeutung stattfindet.«44

Nach Sundermeiers Verständnis ist es der Geist Gottes, den er in Anlehnung an J. V. Taylors Formulierung als einen »Go-Between-God« beschreibt, der erst ermöglicht, dass Menschen sich wirklich begegnen können und im gegenseitigen Erkennen »dem anderen zum Mitmenschen«45 werden kann. Verstehen kann erst dort möglich werden, wo Nähe zugelassen wird gegenüber der anderen Identität und im gegenseitigen Anerkennen der eigenen und der fremden Identität.46 3.2 Kultursensible Fähigkeiten

Im vierstufigen Entwicklungsmodell von Sundermeiers Ansatz, in dem er den Prozess des Verstehens ausführt, wird als erste Stufe die Wahrnehmung genannt. Um in der Begegnung richtig wahrnehmen zu können, muss der Wahrnehmende erst einmal von den vorherrschenden Bildern frei werden bzw. in Wachsamkeit darauf achten, dass sie nicht die eigene Wahrnehmungsfähigkeit zu sehr einschränken und für neue Erkenntnisse unfähig machen.47 Erst dann wäre es ggf. möglich, in einer Haltung der ἐποχή (epochē), sich eines Urteils zu enthalten in allem, was als fremd wahrgenommen wird.48 Um soweit wie möglich wertneutral das Fremde beschreiben und analysieren zu können, braucht man eine gewisse Distanz, nicht nur zur fremden Kultur, sondern auch zu der nikationstheorie H. Maturanas und F. Varelas folgend davon ausgeht, dass es nicht möglich ist, den Fremden in seiner Fremdheit letztendlich zu verstehen. Nach seinem Auffassung ist es aus diesem Grund umso mehr zu betonen, dass wir abhängig bleiben vom Wirken des Heiligen Geistes für den interkulturellen Gesprächsvorgang und das gegenseitige Verständnis, vgl. Christoph Schneider-Harpprecht, Interkulturelle Seelsorge, Göttingen 2001, 138ff. 43 Vgl. Schneider-Harpprecht, Interkulturelle Seelsorge, 151. 44 Schneider-Harpprecht, Interkulturelle Seelsorge, 51. 45 Sundermeier, Den Fremden verstehen, 212. 46 Vgl. Sundermeier, Den Fremden verstehen, 212. 47 Vgl. Sundermeier, Den Fremden verstehen, 223f. 48 Vgl. Sundermeier, Den Fremden verstehen, 158.

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eigenen Vorprägung, d. h. eine gewisse Reflexions- und Analysefähigkeit über die eigene Identität sollte vorausgesetzt werden. Gerade für die interkulturelle Begegnung (auch im Umgang mit den verschiedenen anderen Subkulturen und Milieus einer Gesellschaft) ist es wichtig, eine multisystemische Wahrnehmungsfähigkeit zu schulen, die das Gegenüber nicht nur als Individuum, sondern kontextuell mit seinem kulturellen Hintergrund ernst nimmt.49 Zur zweiten Verstehensstufe nach Sundermeier gehört die offene Bereitschaft zum Lernen, »den anderen in seinem Kontext zu verstehen, seine Identitätszeichen in seinem Kontext zu belassen und sie nicht vorschnell von den eigenen Gewohnheiten her zu deuten, geschweige die eigenen Erfahrungen zu universalisieren.«50

Nur mit einem gewissen kulturellen Hintergrundwissen kann eine vertiefte Differenzierfähigkeit angeeignet werden zwischen der eigenen und fremden Kultur, die wiederum notwendig ist, um eine der fremden Kultur (oder dem Milieu) besser verständliche Kommunikationsform und Sprachfähigkeit zu finden. So kann dann eine Kommunikation zwischen mir und dem Fremden Brücken bauen statt Mauern zu erhöhen. »Wer den Fremden verstehen will, muß sich auf die andere Kultur und Religion einlassen, um zu lernen, was ihre Zeichen für den anderen bedeuten und was sie dem Außenstehenden sagen wollen.«51

Das führt zur dritten Verstehensstufe, in der die empathische Fähigkeit wächst teilweise mit einzelnen Aspekten der fremden Kultur sich identifizieren zu können.52 Diese Teilidentifikationsfähigkeit ermöglicht, die eigene Kultur im Vergleich interpretieren zu lernen, Differenzen klar wahrzunehmen und zugleich aber die unterschiedlichen kulturellen Perspektiven in ihrem So-Sein anzunehmen und wertzuschätzen.53 In diesem Zusammenhang ist es daher unverzichtbar so viel wie möglich an Wissen über die andere Kultur sich anzueignen und dabei auch verschiedene Perspektiven zu berücksichtigen wie z. B. Umgang mit Macht, Familiensysteme, Geschlechterrollen und wie Beziehungen miteinander in der Kultur gelebt werden. Dabei spielen auch vorhandene kulturelle/ethische 49

Vgl. Schneider-Harpprecht, Was ist Interkulturelle Seelsorge?, 56ff. Dabei besteht aber nach Hauschildt die Herausforderung einerseits mit kulturellen Mustern zu arbeiten, andererseits aber zugleich die Prägung des Einzelnen mit zu berücksichtigen und beide Aspekte beisammen zu halten, sodass die Lösungsideen nicht zu eingeschränkt werden, vgl. Eberhard Hauschildt, Seelsorgelehre, in: Federschmidt u. a. (Hg.), Handbuch Interkultureller Seelsorge, 241–261, 258. 50 Sundermeier, Den Fremden verstehen, 161. 51 Sundermeier, Den Fremden verstehen, 162. 52 Nach dem Verständnis von Weiß bedeutet es nicht nur Informationen und kognitives Wissen über den Fremden zu sammeln, sondern mit dem Fremden in Beziehung zu gehen und in seine »›Welt‹ von Bezügen, Gefühlen, Einstellungen und Werten« hineinzubegeben, Helmut Weiß, Seelsorgeausbildung, in: Federschmidt u. a. (Hg.), Handbuch Interkultureller Seelsorge, 262–274, 263. 53 Sundermeier, Den Fremden verstehen, 173.

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wie religiöse/spirituelle Werte, die sich in Leitsätzen oder Aussagen manifestieren etc., eine wichtige Rolle für das Verstehen des Anderen. In diesem Unterfangen ist der Fremde selbst der Fachspezialist und die wichtigste Ressource, der das meiste Wissen über seine eigene Kultur in sich trägt und vermitteln kann.54 Für die hier notwendige Hörfähigkeit55 und das authentische Interesse am Anderen sind u. a. theologisch verankert in dem Wesen des christlichen Gottes, der sich selbst entäußert hat (nach Phil 2,6ff.)56 und in unsere Welt gekommen ist um als ein Mensch unter Menschen zu leben, als Einer von ihnen. Und doch wurde er wie ein Fremder in der Fremde behandelt, weil die Seinen ihn nicht erkannten (nach Joh 1).57 So ist auch die ganze Geschichte der Israeliten eine Nomadengeschichte, die sich im Neuen Testament fortsetzt in Form von Diasporagemeinden, die sich unter Verfolgungen immer mehr in der Fremde ausgebreitet und somit letztendlich das Evangelium in alle Welt hinein gebracht hat.58 Letztendlich beruht der christliche Glaube auf der Hoffnung eines Lebens nach dem Tod, auf die Zuversicht einer Heimat, die am Ende unserer sichtbaren Wirklichkeit auf uns wartet.59 Was nach Sundermeier für das alte Israel galt, gilt ebenso für uns: »Fremdsein als Existential meint […] sich Gott als Bürgen des Lebens anzuvertrauen und auf ihn als Schutzherrn angewiesen zu sein, heißt aber auch, zum Fremden in der eigenen Gemeinschaft ein besonderes Verhältnis zu haben.«60

Das verpflichtet uns als Christen insbesondere uns nicht nur um die Fremden zu bemühen, sondern auf um die Aneignung einer interkulturellen Kompetenz zu ringen, sodass wir lernen als Brückenbauer die Menschen dort abzuholen, wo sie sich befinden mit ihrer Kultur und Lebensgeschichte.

54

Poling stellt eine dreistufige soziokulturelle Analyse vor, mit der wir in den interkulturellen Begegnungen mehr auf die verschiedenen Ebenen achten lernen. Diese wären 1. die Anerkennung kultureller Unterschiede, 2. die Wahrnehmung von Machtunterschieden und 3. die Wahrnehmung von kultureller Dominanz in der direkten Begegnung, vgl. James Poling, Wahrnehmung kultureller Differenz und die Machtfrage, in: Federschmidt, u. a. (Hg.), Handbuch Interkultureller Seelsorge, 63–78, 63ff. 55 Zur Hörfähigkeit im interkulturellen Kontext, z. B. mit unterschiedlichem Zeitverständnis: »Wer sich auf ein anderes Zeitverständnis einläßt, nimmt sich zurück, lernt zuzuhören – wieder eine fast vergessene Kunst. Zuhören und sich zurücknehmen schließt zwei Eigenschaften ein, die sich auszuschließen scheinen: Präzision und Sensibilität. Man muß sehr präzise in der Wahrnehmung sein und zugleich höchst einfühlsam in der Interpretation dessen, was man sieht und hört.« Sundermeier, Den Fremden verstehen, 166. 56 Vgl. Hempelmann, Gott, 21f. 57 Vgl. Sundermeier, Den Fremden verstehen, 208f. 58 Vgl. Sundermeier, Den Fremden verstehen, 198ff. 59 Vgl. Joh 14,1ff.; Hebr 11,16; 13,14. 60 Sundermeier, Den Fremden verstehen, 203.

Kultursensible Kompetenz in der personalen Kommunikation

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3.3 Kultursensible Methoden

In der vierten und letzten Verstehensstufe nach Sundermeier wird die Konvivenz genannt, die er aus dem lateinischen Wort convivere, zusammenleben, herleitet. Dieser Begriff ist nach Reppenhagen der Leitbegriff für dessen Hermeneutik des Fremden und in dem gemeinsamen Leben, Arbeiten und Feiern wird die praktische Dimension seiner Hermeneutik entfaltet.61 Der Kontext der Konvivenz ist nach Sundermeier »die Kleingruppe, die Nachbarschaft, die Hilfe nach innen und Schutz nach außen bietet, die ihre Identität durch ein bestimmtes Lebensmuster und eine flexible Lebensform findet und darin den Zusammenhalt fördert.«62

Als die drei Grundpfeiler der Konvivenz63 nennt Sundermeier als Erstes die Hilfsgemeinschaft, in der die Nachbarn einander »in den alltäglichen Dingen des Lebens und bei den besonderen Anlässen, bei Hochzeiten und Beerdigungen«64 helfend zur Seite stehen und einfach das Leben miteinander teilen. Jeder kann und soll nur in dem Maße helfen, wozu er fähig ist, in aller Freiheit und ohne sich nach irgendwelchen, von außen festgelegten Erwartungsmaßstäben orientieren zu müssen. Es geht dabei nicht darum, dass man viel haben muss, um dann aus der Fülle heraus etwas abzugeben oder beitragen zu können, sondern mit dem Anderen das zu teilen, was man gerade so hat. Sundermeier hebt hierbei die Bedeutung der kleinen Gesten hervor, weil dadurch »Zuwendung und Teilnahme«65 zum Ausdruck gebracht werden. Zweitens wird Konvivenz als eine Lerngemeinschaft beschrieben, in der Rat gegeben und empfangen wird. Erkenntnisse und Wissen werden ausgetauscht, wo alle gleichwertig als Lehrender und Lernender zur Geltung kommen und keiner über den Anderen stehen kann, weil Erfahrung gleich gewichtet wird wie kognitives Wissen.66 Jeder hat in seinem Lebenslauf das Leben fördernde und gefährdende Erfahrungen gesammelt, die dem anderen weitergegeben werden können als Lebensweisheiten. Diese Tatsache gilt es, hervorzuheben und einen Gesprächsraum zu schaffen, in dem man dieses Erfahrungswissen wertschätzt und anerkennend gewichtet, sodass letztendlich der Fremde in seinem Subjektsein gestärkt wird und auf gleicher Augenhöhe zum Anderen sich wahrnehmen kann.67 Als dritten Pfeiler 61

Vgl. Reppenhagen, Umbruch, 88. Sundermeier, Den Fremden verstehen, 190. 63 Grethlein gebraucht in seinen Ausführungen zur Kommunikation des Evangeliums interessanterweise dieselbe Aufteilung der Begriffe vom Lehren und Lernen, das gemeinsame Feiern und die Hilfe zum Leben als deren drei grundlegende Modi und zeigt durch exemplarische kirchengeschichtliche Rekonstruktion, auf welche Art und Weise die Kommunikation des Evangeliums erfolgt ist, vgl. Grethlein, Praktische Theologie, 253–332. 64 Sundermeier, Den Fremden verstehen, 190. 65 Theo Sundermeier, Konvivenz. Ein Modell für Europa?, International Journal of Orthodox Theology, 3 (2012), 33–51, 36. 66 Vgl. Sundermeier, Den Fremden verstehen, 190. 67 Vgl. Sundermeier, Konvivenz, 36. 62

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der Konvivenz nennt Sundermeier die Festgemeinschaft, die alles mit integriert was zum menschlichen Dasein gehört wie »Weinen und Lachen, Trauern und Freude, Armut und überschäumendes Gelage, Trauer- und Festprozessionen« und als »Protest gegen Resignation«68 zum Ausdruck kommt. Damit soll die alltägliche Arbeitslast nicht verdrängt, sondern dessen monotone Schwere kurz aufgehoben werden, sodass ein Raum entsteht, in dem durch das Überschwängliche des Festcharakters »befreiende Freude aufkommen, Befreiung von Zwängen, Befreiung einengender Form«69 geschehen kann. Diese erfahrene Fülle des gemeinsamen Feierns ermöglicht das Leben in seiner leuchtenden Schönheit neu wahrzunehmen und in dem miteinander Genießen zu einer Gemeinschaft zusammenzuwachsen, wo der Fremde »zu einem der ihren«70 wird.

4 Zusammenfassung und Fazit Nach Sundermeiers Verständnis haben langfristige Veränderungen das Charakteristikum, dass sie sehr oft von ganz unten bei einer einzelnen Person beginnen, im kleinsten Kreis, in der eigenen Nachbarschaft.71 Ein Nachteil von Sundermeiers Konzept liegt darin, dass eine dem Fremden gegenüber positive Einstellung einer offenen, respektvollen Lernwilligkeit und eine hohe differenzierte Wahrnehmungsfähigkeit vorausgesetzt wird bei den Einzelnen, die dem Fremden begegnen. Das ist m. E. nicht immer voraussetzbar, sondern wird wohl bei Vielen erst durch und in den konkreten Begegnungen, nach wiederholten gescheiterten oder halbwegs gelungenen Kommunikationsversuchen mühsam angeeignet werden müssen als eine innere Einstellung und Fähigkeit. Entscheidend wird sein, von was für einem Menschen- und Gottesverständnis aus die/der Einzelne sich auf die Begegnungen mit dem Fremden einlässt und mit was für einem Selbst- und Fremdbild sie/er sich in den Kommunikationsprozess begibt. Letztendlich wird Fremdheit nur dann überwunden werden und zu einem vertieften gegenseitigen Verstehen hinführen können, wenn in einzelnen kleinen Schritten beständig der Dialog, Klärung von Missverständnissen, Korrektur von Wahrnehmung (nach dem Prinzip learning by doing) die Begegnung zum Anderen gesucht wird.72 Gerade in den Begegnungen mit dem Fremden, der in meiner Nähe als mein Nächster lebt, ist nach Sundermeier besonders darauf zu achten, dass eine gewisse respektvolle Distanz vor der Fremdheit des Anderen und seiner kulturell anders geprägten Identität beibehalten bleibt und diese notwendige und gesunde Distanz nicht mit einer vorschnellen, scheinbaren Vertrautheit übertüncht und somit eher verdrängt wird.73 68 69 70 71 72 73

Sundermeier, Den Fremden verstehen, 191. Sundermeier, Konvivenz, 37. Sundermeier, Konvivenz, 38. Vgl. Sundermeier, Konvivenz, 39. Vgl. Sundermeier, Konvivenz, 39. Vgl. Sundermeier, Art. Konvivenz, 39.

Kultursensible Kompetenz in der personalen Kommunikation

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Zusammenfassend beschreibt Sundermeier sein Konzept der Konvivenz mit den folgenden Worten: »Im Zusammenleben mit Fremden muß man beides im Auge behalten, das Verstehen und die Differenz, die Distanz und das Zusammenleben, Divergenz und Konvergenz. Um das möglich zu machen, muß es Schritte der Annährung, muß es Stufen des Verstehens geben. […] Sie wird nur durch das Handeln mit dem anderen erreicht.«74

Nach ihm ist es nur durch gegenseitige Bereitschaft zur Teilnahme am Leben des Anderen möglich, dass wir lernen »für eine Weile die Schuhe der eigenen Kultur auszuziehen und sich ›barfuß‹ unter den anderen zu bewegen.«75 So wird glaubwürdig das umgesetzt, was Christen schöpfungstheologisch bekennen, nämlich, dass jeder Mensch nach dem Bilde Gottes – und nicht nach meinem eigenen Bilde – geschaffen ist, unabhängig von der Hautfarbe, Geschlecht, Religiosität und Kultur und mit derselben Würde als Mensch und Geschöpf Gottes ausgestattet ist. Diese gilt es im Umgang mit dem Fremden mehr wahrzunehmen, vor Augen zu behalten und ernst zu nehmen, wenn ein gegenseitiges Verstehen gelingen und das Evangelium auf eine kultursensible Art und Weise weitergegeben werden soll, die den Anderen nicht dominiert und kontrolliert, sondern wertschätzt und fördert in seinem Geschöpf- und Geliebtsein Gottes.

74 75

Sundermeier, Fremden, 70f, im Original kursiv hervorgehoben. Sundermeier, Fremden, 34.

Lebensweltsensible Kommunikation des Evangeliums Matthias Kreplin Auf Kommunikation des Evangeliums zielt die Arbeit in allen kirchlichen Handlungsfeldern: im Feiern von Gottesdiensten, im missionarisch-evangelistischen Handeln, in der Bildungsarbeit, im gesellschaftspolitischen Engagement der Kirche, in der Diakonie, in der Seelsorge. Ohne in die Fachdiskussionen der einzelnen Handlungsfelder tiefer einsteigen zu können, sollen hier einige grundlegende Überlegungen zur lebensweltlichen Dimension in der Kommunikation des Evangeliums erörtert werden. Kommunikation des Evangeliums zielt darauf, dass bei den beteiligten Personen Gottvertrauen und Glaube an Jesus Christus begründet und gestärkt werden, Hoffnung gestiftet und erneuert wird, Menschen zur Liebe ermutigt und befähigt werden und Gemeinschaft gestiftet wird. Kommunikation des Evangeliums zielt also auf eine Wirkung, auf eine heilsame, befreiende, bestärkende, wohltuende Veränderung der Beteiligten. Damit in einer Kommunikation auch Kommunikation des Evangeliums geschieht, braucht es – in den allermeisten Fällen – zumindest eine Person, die für diese Ausrichtung der Kommunikation einsteht, die also intentional darauf ausgerichtet ist, dass Kommunikation des Evangeliums gelingt und also Glaube, Liebe und Hoffnung gestärkt werden, es braucht also Agentinnen und Agenten des Evangeliums. Dass Kommunikation des Evangeliums gelingt, bleibt immer ein unverfügbares Geschenk des Heiligen Geistes. Dennoch ist zu fragen, wie Agentinnen und Agenten des Evangeliums zu agieren haben, um dem Heiligen Geist Räume zu öffnen und sie ihm nicht zu verschließen. Kommunikation des Evangeliums ist ein Spezialfall von Kommunikation. Die Bedingungen für gelingende Kommunikation sind damit auch Bedingungen für gelingende Kommunikation des Evangeliums. Nach Friedemann Schulz von Thun1 sind vier Dimensionen bei der Kommunikation zu unterscheiden: die Dimensionen von Inhalt, Beziehung, Selbstoffenbarung und Appell. Ich möchte diese vier Dimensionen der Kommunikation in Hinblick auf lebensweltliche Fragen näher betrachten und so die personale Dimension in der Kommunikation des Evangeliums in den Blick nehmen.

1

Friedemann Schulz von Thun, Miteinander reden 1 – Störungen und Klärungen. Allgemeine Psychologie der Kommunikation, Hamburg 1981.

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1 Beziehung Kommunikation geschieht immer auf der Basis einer Beziehung zwischen den an der Kommunikation beteiligten Personen. Und zugleich entwickelt sich diese Beziehung durch die Kommunikation weiter. Wie bedeutsam die Beziehung für das Gelingen von Kommunikation und damit auch von Kommunikation des Evangeliums ist, hat die Seelsorge-Forschung der letzten Jahrzehnte deutlich gemacht. Beziehungen gestalten sich dabei in dreifacher Perspektive: Einerseits werden in Beziehungen jeweils Anerkennung und Ablehnung, Aufwertung und Abwertung der beteiligten Personen vermittelt. Zum zweiten sind Beziehungen geprägt von Rollen, welche die Einzelnen einnehmen bzw. bei anderen erwarten. Und schließlich werden Beziehungen geprägt von Zuschreibungen, vom Image der beteiligten Personen. Wie insbesondere die Reflexion der SeelsorgePraxis zeigt, können dabei gerade unterschwellige und nicht ausgesprochene Aspekte sehr wirksam sein. Damit Kommunikation des Evangeliums gelingt, müssen Menschen sich öffnen und sich ansprechen lassen. Dies setzt einerseits voraus, dass sich die Beteiligten in einer positiv erlebten Beziehung zueinanderstehen. Wo Ablehnung und Nichtannahme mitschwingen, wo Menschen nicht die Rollen annehmen, in denen sie stehen oder die von ihnen erwartet werden, oder wo negative Zuschreibungen im Raum stehen, herrschen Spannungen auf der Beziehungsebene und Menschen gehen in Abwehrhaltungen. Dies erschwert die Kommunikation und besonders auch die Kommunikation des Evangeliums. Umgekehrt kann eine Kommunikation, in der keine religiösen Inhalte explizit werden, in der aber die Beteiligten sich angenommen und gewürdigt erleben und sie eine bestärkende und ermutigende Wirkung erfahren, bereits von diesen als Kommunikation des Evangeliums wahrgenommen werden. Wie die Seelsorge-Theorie seit langem lehrt, gibt es also auch eine implizite Kommunikation des Evangeliums. Welche Perspektive wirft die Lebensweltforschung auf diese drei in Beziehungen wirksamen Aspekte? 1.1 Anerkennung und Ablehnung

Die Milieu-Forschung lehrt uns, dass niemand jenseits der Milieus steht, sondern alle einem Milieu oder zumindest einem Milieu-Bereich verhaftet sind2 und dass Anerkennung und Annahme der eigenen wie anderer Personen umso weniger selbstverständlich gelingen, je größer die Milieu-Gegensätze sind. Denn Milieugegensätze gehen mit gegenseitigen Abwertungen einher; manchmal auch mit Unter- und Überlegenheitsgefühlen. An manchen Stellen spielen sogar so genannte Ekelschranken eine Rolle. Die Lebensweltforschung kann zunächst 2

Vgl. Heinzpeter Hempelmann / Ulrich Heckel / Karen Hinrichs / Dan Peter (Hg), Auf dem Weg zu einer milieusensiblen Kirche (Kirche & Milieu 2), Neukirchen-Vluyn 2015, 160.

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einmal helfen, diese – oft nur unterschwellig wirkenden – Kräfte bewusst wahrzunehmen und so sensibler dafür zu werden, wie die eigene Person selbst in Abwertungs- und Beurteilungsmechanismen verfällt. Nur dort, wo diese Prozesse bewusstwerden, ist es auch möglich, sich ihnen Stück für Stück zu entziehen. Bei Begegnungen zwischen Menschen aus Milieus, die sich in vertikaler Richtung auf der Milieu-Landkarte stark unterscheiden, können solche Unterlegenheits- und Überlegenheitsgefühle eine starke Rolle spielen und zu Rückzug, aber auch zu Aggression und Arroganz führen. Da kirchliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Regel aus gebildeten Milieus stammen, besteht in Begegnungen mit bildungsferneren Milieus hier eine Spannung, die bewusst bearbeitet werden muss. Anders als mit Menschen aus dem eigenen Milieu ist hier viel mehr Zeit in den Aufbau des Kontaktes zu investieren.3 Ohne eine Anbiederung versuchen zu wollen, braucht es eine Anpassung der eigenen Redeweise (Wortwahl, Satzbau). Hilfreich kann es sein – wenn dies authentisch möglich ist – Dialekt oder dialektgefärbte Sprache zu verwenden. Wo Mitarbeitende der Kirche (zum Beispiel aufgrund ihrer Bildung) in überlegenen Positionen sind, sollten sie anbieten, den Gesprächspartnern den »Heimvorteil« zu lassen, also zum Beispiel Kasualgespräche – außer es wird anders gewünscht – nicht im Pfarramt, sondern bei der jeweiligen Familie zu Hause zu vollziehen. Bei Begegnung zwischen Menschen aus Milieus, die in horizontaler oder vertikaler Richtung auf der Milieu-Landkarte weiter voneinander entfernt sind, werden vor allem unterschiedliche Grundhaltungen in Fragen der Ästhetik und der Lebensgestaltung eine Rolle spielen. Die Kommunikationspartner werden immer wieder aneinander Erfahrungen des Befremdens machen – bei der Gesprächspartnerin und dem Gesprächspartner erstaunt sein darüber, wie gesprochen wird, welche Lebenseinstellungen unhinterfragt gelten, welche ästhetischen Vorlieben bei der Einrichtung, bei der Kleidung, bei Musik oder bei diversen Gestaltungsfragen vorliegen. Wichtig ist, dass sich kirchliche Amtsträger bewusst sind, dass die eigenen Fremdheitserfahrungen unter umgekehrtem Vorzeichen auch das Gegenüber macht. Und wichtig ist außerdem, die eigenen ästhetischen Vorlieben und Grundeinstellungen nicht sofort und unmittelbar mit dem vom Evangelium her gebotenen zu identifizieren. Andernfalls gerät der Versuch der Kommunikation des Evangeliums schnell zu einer unevangelischen Abwertung des Gegenübers. 1.2 Rollen und Kommunikations-Settings

Beziehungen sind stark geprägt durch die Settings, in denen Kommunikation verläuft. Verbunden mit verschiedenen Settings sind auch verschiedene Rollenerwartungen. Menschen agieren jeweils in anderen Settings und Rollen, wenn Kommunikation des Evangeliums durch die Predigt in einem Gottesdienst ge3

So kann es zum Beispiel bei einem Taufgespräch wichtig sein, erst einige Zeit über ein gemeinsames, unverfängliches Thema ins Gespräch zu kommen (und sei es Fußball oder das Wetter), bevor man sich dem eigentlichen Anlass des Gesprächs nähert.

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schieht, wenn sie sich in einem Gespräch unter Freunden über berufliche Probleme vollzieht oder wenn sie im Fernsehen das Wort zum Sonntag sehen und hören. Damit Kommunikation des Evangeliums gelingen kann, braucht es bei allen beteiligten Personen eine Anerkennung des jeweiligen Settings und der damit verbundenen Rollen. Die Milieu-Forschung lehrt uns auch, dass verschiedenen Milieus auch verschiedene Kommunikations-Settings und Rollenmuster bevorzugen.4 In stärker traditionsorientierten Milieus erfahren Kommunikations-Settings, die sehr einseitig ausgerichtet sind und eine Tendenz zum Monologischen haben, eine viel höhere Akzeptanz als in postmodern geprägten Milieus. Da viele der überkommenen kirchlichen Kommunikationssettings eine solch stark einseitige Rollenverteilung kennen – zum Beispiel oben der predigende Pfarrer und unten die zuhörende Gemeinde – tun sich Menschen aus modernen und postmodernen Milieus oft schwer mit Kirche. Hier braucht es stärker dialogisch und egalitär ausgerichtete Kommunikations-Settings, in denen Menschen sich äußern können und auch Autoritäten inhaltlich in Frage stellen können, ohne dass diese beleidigt, sondern inhaltlich argumentativ plausibel reagieren. Autorität kann in solchen Settings nicht kraft Amtes beansprucht werden, sondern muss im Laufe des Kontakts erworben werden. Das stellt höhere Anforderungen an kirchliche Amtsträgerinnen als dies in traditionellen Kommunikations-Settings der kirchlichen Arbeit geschieht. Kommunikation des Evangeliums gerät in einen besonderen Kontext, wenn das Kommunikations-Setting durch ein Machtgefälle geprägt ist – zum Beispiel weil kirchliche Amtsträgerinnen darüber entscheiden können, ob sie eine Kasualie gewähren oder nicht, oder wenn sich die Kommunikation zwischen Menschen auf verschiedenen Hierarchiestufen innerhalb der Kirche vollzieht. Häufig entstehen auch durch Milieu-Gegensätze solche ungleichen Machtpositionen (z. B. zwischen Gebildeten und weniger Gebildeten, zwischen Einkommensstarken und –schwachen, zwischen Jungen und Alten, zwischen Zeitgemäßen und Abgehängten). Milieusensible Kommunikation des Evangeliums besteht dann darin, dieses Machtgefälle bewusst wahrzunehmen und im Sinne des Evangeliums positiv zu gestalten. Wie auch immer eine herausgehobene Position verursacht sein kann, so kann sie zunächst dazu eingesetzt werden, Menschen auf besondere Weise Unterstützung und Anerkennung ihres Engagements erfahren zu lassen, also die bestätigende und bekräftigende Dimension des Evangeliums erfahrbar zu machen. Dies setzt voraus, dass es ein echtes Interesse am Gegenüber und eine wertschätzende Grundhaltung gibt, die den anderen als Gesprächspartner auf Augenhöhe mit besonderen Gaben betrachtet, von dem etwas zu lernen ist – auch wenn das Setting des Gesprächs ungleiche Machtpositionen vorsieht. Wo 4

Vgl. zu den verschiedenen Rollenerwartungen an Pfarrerinnen und Pfarrer die Aufstellung in Heinzpeter Hempelmann / Benjamin Schließer / Corinna Schubert / Markus Weimer, Handbuch Taufe. Impulse für eine milieusensible Taufpraxis (Kirche & Milieu 1), Neukirchen-Vluyn 2013, 21–32.

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Menschen in einer Machtposition in Konflikt geraten mit Wünschen und Anliegen ihrer Kommunikationspartner, ist es wichtig, die eigenen handlungsleitenden Motive und ggf. auch Zwänge transparent zu machen und für Verständnis auch für unangenehme Entscheidungen zu werben. So wird zumindest versucht, den Konflikt nicht einfach durch Machtmittel, sondern durch Einverständnis zu lösen. Wo Menschen in einer unterlegenen Position versuchen, Agentinnen und Agenten des Evangeliums zu sein, werden sie darauf achten müssen, dem Evangelium treu zu bleiben und sich selbst wie auch das Gegenüber als grundsätzlich vor Gott gleichwertige Personen zu verstehen – also weder in eine unterwürfige noch in eine aggressive Haltung zu verfallen, sondern ebenfalls eine Position auf Augenhöhe einzunehmen – unter Anerkennung der besonderen Rolle des Gegenübers. Auf diese Weise kann auch in Kommunikations-Settings mit ungleichen Machtverhältnissen auch ohne explizit religiöse Kommunikation eine implizite Kommunikation des Evangeliums gelingen. 1.3 Image

Ein besonderes Phänomen in diesem Zusammenhang stellt das Image dar, das eine Person hat oder das einer Person zugeschrieben wird. Hat eine Person ein positives Image oder ist sie sogar Identifikationsfigur, dann wird ihrem Wort eine höhere Glaubwürdigkeit und eine höhere Autorität zugeschrieben. Hat eine Person ein schlechtes Image, dann geschieht das Gegenteil – auch wenn inhaltlich dasselbe gesagt wird. Welchen Personen ein positives Image zugeschrieben wird, ist stark milieuabhängig – hat doch jedes Milieu seine eigenen Helden und Anti-Helden. Dies kann es kirchlichen Amtsträgern, die aus ihren binnenkirchlichen Erfahrungen gewohnt sind, dass man ihnen mit großem Respekt und großer Achtung begegnet, schwermachen, mit Menschen aus kirchenfernen Milieus zu kommunizieren, die ihnen zunächst einmal reserviert oder gar mit offener Ablehnung entgegentreten. Ab und zu gelingt es öffentlichen Personen, ein Stück weit milieuübergreifend ein besonderes Image zu erwerben (dies zeigt sich zum Beispiel in der Begeisterung postmoderner Jugendlicher, mit der sie die traditionsbehaftete Figur des Papstes begrüßen). Dazu sind oft Symbolhandlungen wichtig, die über das Erwartbare hinausgehen und einem Milieu besonders entgegenkommen (z. B. die gemeinsame Geburtstagsfeier des Papstes mit Nichtsesshaften). Gerade in Settings, in denen eine Person einem großen Kreis gegenübersteht (Vortrag vor Publikum, Predigt im Gottesdienst) kann es der Kommunikation des Evangeliums dienen, das Image einer Person aufzubauen, um so die Bereitschaft zu steigern, dieser Person zuzuhören und sich von dieser Person etwas sagen zu lassen. Dies kann dadurch geschehen, dass die Person nicht nur mit dürren Worten vorgestellt, sondern lobend eingeführt wird. Eine solche lobende Einführung ist umso wirksamer, wenn sie authentisch von einer im Auditorium anerkannten Person vorgetragen wird und diese von positiven und intensiven Begegnung mit der einzuführenden Person berichtet, die für das aktuell anzusprechende Milieu gut nachvollziehbar ist. Im eher sozial-ökologisch ausgerich-

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teten Protestantismus gibt es dagegen eher die Tendenz, um der vermeintlichen Gleichheit willen potenzielle Stars eher zu demontieren, statt sie bewusst aufzubauen. Auch die Elitenschelte, die gegenwärtig in rechtspopulistischen Kreisen gerne gepflegt wird, stärkt diese Tendenz zur Demontage von Führungspersönlichkeiten.

2 Inhalt Kommunikation des Evangeliums zielt auf Weckung und Stärkung von Glaube, Hoffnung, Liebe und Gemeinschaft und damit auf heilsame und wohltuende Erfahrungen. Kommunikation des Evangeliums führt deshalb von einer Unheils- zu einer Heilserfahrung. Dies hat dabei eine explorativ-analytische Komponente – ich verstehe mein Unheil besser als bisher und kann es besser in Worte fassen – wie auch eine in die Zukunft gerichtete Komponente – ich habe ein Bild davon, wie ich selbst und wie die Welt auch sein kann, worauf ich hoffen kann und was ich tun kann. Schon ein Blick in die biblische Tradition zeigt, dass es verschiedene Unheilserfahrungen gibt und auch das Evangelium mit verschiedenen Motiven auf diese Vielgestaltigkeit reagiert: Auf die Erfahrung von Schuld und Ungenügen reagiert das Evangelium mit dem Zuspruch von Vergebung; der Erfahrung von Vergänglichkeit und Sterblichkeit wird die Verheißung von Auferstehung und ewigem Leben gegenübergestellt; die Erfahrung von Ausgrenzung und Verlassenheit wird durch die Integration in die Gemeinschaft des Leibes Christi bearbeitet; Beschämung und Schamgefühlen wird Gottes Annahme des Sünders gegenübergestellt; in der Erfahrung von Leistungsdruck und Versagen wird die Rechtfertigung allein aus Gnade verkündigt; der Erfahrung von Wert- und Sinnlosigkeit wird die Zusage entgegengestellt, dass Gott jedem Leben Sinn und Wert verleiht; auf die Erfahrung von Überforderung wird mit Entlastung und Hinweis auf Gottes Wirken eingegangen und u. v. a. m. Dieser Vielfalt entspricht auch eine vielfältige Deutung der Person Jesu Christi und seines Heilswerkes, das sich eben keinesfalls auf das Opfer für unsere Sünde reduzieren lässt, das die Vergebung unserer Schuld begründet.5 Insbesondere für die Seelsorge, aber auch für alle Formen der Kommunikation des Evangeliums ist von zentraler Bedeutung die Einsicht, dass meine eigenen Unheilserfahrungen und die damit verbundenen Heilserfahrungen mit dem Evangelium nicht unbedingt die Erfahrungen meiner Gesprächspartner sein müssen oder sein können: Was mir geholfen hat, muss anderen noch lange nicht helfen. Vielmehr gilt es, sehr genau wahrzunehmen, welche Unheilserfahrungen die Menschen prägen und danach Ausschau zu halten und – am besten mit den Menschen zusammen – zu entdecken, wie die biblische Tradition Mo5

Vgl. Matthias Kreplin, Die Deutung des Todes Jesu, 2015 – nur online zugänglich unter www.godiorg.de/Theol_Mat/index.php?user=gastzugang&schluessel=0&thema=OF_8&fe_0 =481142396735 (zuletzt geprüft am 18.02.2019).

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mente zur Bewältigung und Überwindung dieser Unheilserfahrungen bietet. Denn Kommunikation des Evangeliums gelingt am ehesten, wo die befreienden, bestärkenden, erlösenden Zusagen des Evangeliums passgenau zu den konkreten Unheilserfahrungen von Menschen laut werden. Dazu braucht es ein genaues Verständnis der jeweiligen Unheilserfahrungen wie auch eine breite Kenntnis biblischer Traditionen und ein umfassendes Verständnis von Evangelium. Diese grundsätzliche Einsicht der Seelsorge ist nun mit der lebensweltlichen Perspektive zu verbinden. Unbeschadet der Tatsache, dass auch in einem noch so homogenen Milieu die verschiedenen Individuen doch auch verschiedene Lebensgeschichten und verschiedene Unheilserfahrungen erleben und erleiden, lassen sich für die verschiedenen Milieus auch typische Lebensfragen identifizieren, auf die in der Kommunikation des Evangeliums einzugehen ist. So dürften Menschen im prekären Milieu eher mit Problemen der Ausgrenzung konfrontiert sein, während Menschen im liberal-intellektuellen Milieu vielleicht eher Sinnfragen stellen. Die bisherigen Versuche, zu einer milieusensiblen Kasualpraxis zu finden, weisen Wege in diese Richtung.6 Dass Kirche in einigen Milieus so wenig Relevanz besitzt, könnte auch daran liegen, dass die dort vorherrschenden Lebensfragen nicht beantwortet werden und Kirche aus der Sicht dieser Milieus Antworten gibt auf Fragen, die keinen bewegen. So wäre es ein spannendes Unterfangen, einmal – am besten mit Menschen aus den verschiedenen Milieus – Lebensfragen und Unheilserfahrungen, aber auch biblische Motive zu identifizieren, die für die einzelnen Milieus ganz besonders wichtig sind.

3 Selbstoffenbarung In jeder Kommunikation präsentieren alle Beteiligten auch ein Stück von sich selbst, sie offenbaren sich ein Stück weit voreinander und geben sich gegenseitig zu erkennen. Der Aspekt der Selbstoffenbarung muss in der Kommunikation des Evangeliums eine eigentümliche Brechung erfahren. Einerseits muss eine Agentin oder ein Agent des Evangeliums mit seiner eigenen Person und seiner eigenen Erfahrung für das Evangelium einstehen, um glaubwürdig das Evangelium zu bezeugen. Zugleich darf sie oder er nicht primär auf seine eigene Person und die eigenen Erfahrungen verweisen, sondern muss über sich selbst hinausweisen auf Gott. Damit erweist er sich als ein Mensch, der nicht über den Inhalt des Kommunizierten und seine Wirkung verfügt. Diese Brechung in der Selbstoffenbarung wird traditionell stark über das kirchliche Amt ausagiert. Der Mensch, der als Pfarrperson agiert, wird durch 6

Vgl. Heinzpeter Hempelmann / Benjamin Schließer / Corinna Schubert / Markus Weimer (Hg.), Handbuch Taufe. Impulse für eine milieusensible Taufpraxis (Kirche & Milieu 1), Neukirchen-Vluyn 2013; dies. (Hg.), Handbuch Bestattung. Impulse für eine milieusensible kirchliche Praxis (Kirche & Milieu 3), Göttingen 22019.

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äußere Kennzeichen (Talar) und durch seine Amtsrolle als derjenige gekennzeichnet, der zwar persönlicher Zeuge ist, aber im Namen eines anderen handelt. Wo in postmodernen Milieus ein solches Amtsverständnis weniger Plausibilität findet und allein die authentische Person zählt, gibt es zwei Gefahren: Entweder die Person genügt nicht den Anforderungen an Authentizität und Originalität und dadurch wird ihr Verweis auf Gott gar nicht mehr wahrgenommen. Oder die Person ist so authentisch und originell, dass sie zum Star und Gegenstand der Kommunikation wird und auch so der Verweis auf Gott auch nicht mehr wahrgenommen wird. Unter Umständen gelingt dieser Verweis auf Gott in der Selbstoffenbarung gerade im Scheitern – wie zum Beispiel bei Margot Käsmanns Rücktritt, den sie selbst kommentierte mit dem Satz »Ich kann nicht tiefer fallen als in Gottes Hand«.

4 Appell Jede Kommunikation hat immer einen mehr oder weniger ausgeprägten appellativen Charakter. Appelle, insbesondere implizit in der Kommunikation vermittelte und nicht offen ausgesprochene Appelle, haben oft einen kränkenden Charakter: Sie signalisieren den Angesprochenen: »Ihr macht es nicht richtig! Ihr müsst euch ändern! Ihr seid nicht richtig!« Damit werden Abwertungen vorgenommen, welche die Beziehung zwischen den Kommunikationspartnern belasten. Kommunikation des Evangeliums zielt zunächst auf eine heilsame und befreiende Erfahrung und traut den Menschen zu, dass sie selbst zu den daraus folgenden Handlungen finden. Deshalb sind Appelle nicht das primäre Medium in der Kommunikation des Evangeliums. Öffentliche kirchliche Stellungnahmen zu ethischen Fragen, die dem sozialökologischen Milieu in der Kirche, das teilweise den innerkirchlichen Diskurs dominiert, ganz besonders wichtig sind, werden jedoch häufig als Appell gehört. Je nach Milieu-Hintergrund wird dies begrüßt, selbstbewusst gekontert oder gekränkt reagiert. Gegenwärtig erleben wir in der Debatte um den Umgang mit Flüchtlingen, wie solche Kränkungen in Aggression umschlagen können. Die Kirchen als öffentliche Großorganisationen stecken dabei in einem Dilemma: Wollen sie im Lichte des Evangeliums Einfluss auf gesellschaftliche Entwicklungen nehmen, dann müssen sie sich auch mit Stellungnahmen und ethischen Urteilen zu Wort melden. Tun sie dies, dann wird es von vielen als kränkender Appell gehört, der die Beziehungsebene stört und die Kommunikation des Evangeliums erschwert. Gerade in Hinblick auf Menschen mit anderen Kränkungserfahrungen – und diese sind in Milieus der Unterschicht häufiger vorhanden als in anderen – gelingt es so den Kirchen immer weniger, in einer positiven Beziehung zu bleiben. Hier braucht es neue Anstrengungen, damit diese Menschen das Gefühl haben, von der Kirche in ihren Ängsten und Sorgen wahrgenommen und akzeptiert zu werden.

Milieusensible personale Kommunikation: Grundlagen für ein Modell individueller und gruppenbezogener Kommunikation auf der Basis der SINUS-Milieus Peter Martin Thomas

1 SINUS-Milieus als Grundlage für die personale Kommunikation Die Lebensweltforschung hat das ganzheitliche Verstehen konkreter, einzelner Menschen zum Ziel. Sie befasst sich intensiv mit ihnen und ihrer Lebenswelt. Entsprechend kann auch die personale Kommunikation an der Lebenswelt eines Menschen ausgerichtet werden. In den SINUS-Milieus steht jedoch nicht nur die einzelne Person im Mittelpunkt, sondern es werden – etwas vereinfacht ausgedrückt – Gruppen Gleichgesinnter mit ähnlicher Grundorientierung, ähnlichen Werten und ähnlichem Lebensstil zusammengefasst. Als ZielgruppenModell finden die SINUS-Milieus im kirchlichen Kontext – aber auch in anderen Gebieten, beispielsweise der Erwachsenenbildung, Gastronomie oder Unterhaltungsbranche – Anwendung, wenn es darum geht, überschaubare – dauerhafte oder vorübergehende – Gemeinschaften anzusprechen.1 Bei der kommunikativen Ansprache solcher Gemeinschaften handelt es sich nicht mehr um Massenkommunikation, aber auch noch nicht um personale Kommunikation im engeren Sinne, wenngleich es bereits Schnittmengen dazu gibt. Bei der personalen Kommunikation sind noch kleinere Einheiten gemeint, d. h. es geht um die direkte, persönliche Kommunikation mit Einzelpersonen oder überschaubaren sozialen Gruppen mit ca. zwanzig Personen. Bis zu zwanzig Personen sind noch direkte Interaktionen zwischen allen Beteiligten möglich.2 Bei mehr als zwanzig Personen spricht man bereits von einer Großgruppe. Als Einzelpersonen können das alle Menschen sein, die kirchlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in ihrem beruflichen Kontext begegnen. Als Gruppen können dies beispielsweise eine Vorbereitungsgruppe für die Konfirmation, eine Seniorengruppe oder die Teilnehmerinnen und Teilnehmer eines Glaubenskurses sein.

1

Für den kirchlichen Kontext hat insbesondere Heinzpeter Hempelmann zusammen mit weiteren Autorinnen und Autoren hierzu verschiedene, sehr praxisorientierte Bücher veröffentlicht: Heinzpeter Hempelmann / Benjamin Schließer / Corinna Schubert / Markus Weimer (Hg.), Handbuch Bestattung. Impulse für eine milieusensible kirchliche Praxis (Kirche & Milieu 3), Göttingen 22019; dies. (Hg.), Handbuch Taufe. Impulse für eine milieusensible Taufpraxis (Kirche & Milieu 1), Neukirchen-Vluyn 2013. Weitere Literatur: Virginia Satir, Selbstwert und Kommunikation, München 1975; Friedemann Schulz von Thun, Miteinander reden 1 – Störungen und Klärungen. Allgemeine Psychologie der Kommunikation, Hamburg 1981. 2 Oliver König / Karl Schattenhofer, Einführung in die Gruppendynamik, Heidelberg 2008.

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Mit personaler Kommunikation ist entsprechend auch nicht die auf längeren schriftlichen Texten basierende Kommunikation gemeint – z. B. im Gemeindebrief oder auf der Internetseite – sondern es geht um die individuelle, meist mündliche Kommunikation mit einzelnen oder wenigen Personen. Zeitschriftenartikel, Blogbeiträge u. ä. Texte können relativ einfach – vor allem wenn sie sich an ein großes Publikum wenden – an sozialen Milieus orientiert werden. Ein einzelner Text kann gezielt für die gedachten Vertreterinnen und Vertreter eines ausgewählten Milieus formuliert werden. Über die Auswahl der geeigneten Kanäle hat der Text gute Chancen, die gewünschten Adressatinnen und Adressaten zu erreichen. Bei der persönlichen Kommunikation mit einzelnen oder wenigen Personen stehen mir jedoch nicht nur imaginierte Vertreterinnen und Vertreter eines Milieus gegenüber, sondern ein konkreter Mensch bzw. eine konkrete Gruppe, deren Milieu(s) ich zunächst herausfinden bzw. deren Lebenswelt(en) ich kennenlernen muss, wenn ich diese nicht durch entsprechende vorbereitende Maßnahmen bereits kenne. In konkreten sozialen Gruppen kann die Milieuverteilung dabei homogen oder heterogen sein. Es kann ein einzelnes Milieu besonders häufig vertreten sein und trotzdem ein weniger häufig vertretenes Milieu in der Gruppe »den Ton angeben«, die Stimmung und das Meinungsbild prägen. Diese Unterschiede zur Massenkommunikation und zur schriftlichen Kommunikation machen die Anwendung der SINUS-Milieus in der personalen Kommunikation herausfordernd. Dabei ist es auch nicht ganz richtig, dass – spätestens seit der Erfindung des Telefons und vor allem des mobilen Internets – personale Kommunikation nur in der Form mündlicher Kommunikation in der persönlichen Begegnung im physischen Raum stattfindet. Vielfach findet personale Kommunikation heute per Telefon, mit anderen Mitteln der Sprachübertragung (Skype, Sprachnachrichten auf unterschiedlichen Kanälen), per E-Mail und vor allem per Kurznachrichtendienst (SMS, WhatsApp, Facebook Messenger, Twitter) statt. Diese Sonderfälle – beziehungsweise heute oftmals Regelfälle – der Kommunikation müssen bei den folgenden Überlegungen daher mitgedacht werden, ohne dass sie ausdrücklich immer wieder erwähnt werden. Dabei wäre die Online-Kommunikation grundsätzlich einen eigenen Beitrag wert. Denn eine Kommunikation, der bestimmte Übertragungskanäle fehlen – beispielsweise die Mimik und Gestik – ist in mancher Hinsicht herausfordernder als die direkte Kommunikation im gemeinsamen Raum, und damit ist auch eine milieusensible personale Kommunikation erschwert. Auf der anderen Seite entstehen mit der Online-Kommunikation Zugänge zu anderen Milieus und Freiheiten in der Kommunikation, die gerade für die personale Kommunikation besonders interessant sein können. Das Wissen um und die Aufmerksamkeit für allgemeine Grundlagen der Kommunikation, unterschiedliche Kommunikationsstile und andere Typologien ist notwendig und hilfreich, um Kommunikationsprozesse nicht allein auf der Basis der SINUS-Milieus »überzuinterpretieren«. Die SINUS-Milieus können ein wertvolles Hilfsmittel für die personale Kommunikation sein, setzen

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jedoch grundlegende Kommunikationskompetenz voraus. Gegebenenfalls werden sich in der Zukunft einzelne Typologien mit den Milieus verknüpfen lassen, aktuell besteht die Herausforderung darin, verschiedene Ansätze parallel im Blick zu behalten.

2 Notwendiger Kontext einer milieusensiblen personalen Kommunikation Unterschieden werden muss zunächst danach, ob eine milieusensible Kommunikation in einem formellen Setting – zum Beispiel im Rahmen eines offiziellen Trauergesprächs –, in einem informellen Setting – zum Beispiel beim Abendessen als Seelsorger in einer Familie – oder in einem privaten Setting stattfinden soll: Sehr gut vorstellbar ist milieusensible Kommunikation in einem formellen Setting, in dem sich die Kommunikation stark an Rollen und Rollenerwartungen, Funktionen, Hierarchien, vorgegebenen Abläufen und Themen orientiert und darüber hinaus an die kirchlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zurecht die Erwartung einer professionellen Gesprächsführung gestellt wird. Auch für informelle Settings ist eine milieusensible personale Kommunikation – verstanden als professionelles Prozedere – denkbar; vielleicht gerade dann, wenn es darum geht, sich auf neue Gegenüber einzustellen und gut in Kontakt zu kommen. Bleiben wir also im Bereich der formellen und informellen Settings, müssen wir – ausgehend von Watzlawicks Axiom, dass jede Kommunikation eine Sachund Beziehungsebene hat – auch die milieusensible personale Kommunikation immer auf beide Ebenen beziehen, wenn sie gelingen soll. Damit wird zugleich eine erste Stärke der SINUS-Milieus als ganzheitliches Modell für die personale Kommunikation sichtbar. Denn die Milieus heben nicht nur auf die Art und Weise der Kommunikation ab, sondern ebenso auf die Werte, den Lebensstil und die inhaltlichen Interessen des Gegenübers und können diese beschreiben. Fragen wir nun weiter nach dem Kontext für eine gelingende milieusensible personale Kommunikation, wäre es optimal, wenn man schon vorab einiges über die Menschen, denen man begegnen wird, und ihre Lebenswelt weiß. Wünschenswert wäre es auch, wenn es zu wiederholten Begegnungen kommt. Die wiederholte Begegnung und langfristige Beziehung mit Menschen erlaubt ein besseres Kennenlernen und damit auch ein tieferes Verstehen der Lebenswelt des Gegenübers. Milieusensible personale Kommunikation ist aber auch für einmalige und kurzfristige Begegnungen möglich, wenn die Gesprächsführenden über entsprechende Kompetenzen und Erfahrungen verfügen. Denn unabhängig davon, ob es um eine einmalige oder wiederholte Begegnung geht, stellt sich vor allem und ganz zentral die Frage, auf welcher Grundlage die angestrebte Milieusensibilität entwickelt werden soll: Wie kann ich einschätzen, welchem Milieu mein Gegenüber angehört? Nur in sehr seltenen Ausnahmefällen wird man die genaue Milieu-Zuordnung des Gegenübers kennen, weil zuvor eine Milieu-Expertin oder ein Milieu-

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Experte die Person einem Milieu zugeordnet hat oder die entsprechende Person zumindest den SINUS-Milieuindikator3 ausgefüllt hat. Im Alltag des kirchlichen Handelns und der personalen Kommunikation im kirchlichen Kontext wird man stattdessen auf Hypothesen zum Milieu der Gesprächspartnerinnen und -partner zurückgreifen müssen. Eine solche Hypothese kann sich ergeben aus dem Vorwissen über bekannte Haltungen, Werte und den Lebensstil sowie den soziodemografischen Merkmalen des Gegenübers – beispielsweise Alter, Geschlecht, Bildung, Sprache, Religion, Beruf, Wohnort. Eine Milieu-Hypothese kann sich des Weiteren ergeben aus dem Kontext, in dem den Einzelnen oder der Gruppe begegnet wird: Eine Gruppe im Seniorenheim hat andere »Milieuwahrscheinlichkeiten« als eine Konfirmandengruppe, Taufeltern aus dem besten Wohnviertel der Stadt haben eine andere Milieuwahrscheinlichkeit als Eltern, die ihr Zuhause im günstige(re)n Mietwohnungsbau gefunden haben. Auch in der konkreten Begegnung können aus dem ersten Eindruck – insbesondere aufgrund von Kleidung, Sprache und Auftreten – und dem folgenden Verhalten und Kommunizieren Hypothesen zum Milieu des Gegenübers entstehen. Dies alles setzt in jedem Fall eine intensive Auseinandersetzung mit den Milieus und nach Möglichkeit eine qualifizierte Schulung für die Praxis voraus. Und auch auf dieser Basis werden die Annahmen zu den möglichen Milieus des Gegenübers in den meisten Fällen Hypothesen – also Arbeitsannahmen – bleiben und müssen entsprechend als solche gehandhabt werden. In einem zirkulären Lernprozess zwischen Wahrnehmen, Bewerten, Probe-Kommunikation und Reaktion kann und muss die Milieu-Hypothese immer wieder angepasst und gegebenenfalls verfeinert werden. So bleibt hoffentlich auch das Bewusstsein gewahrt, dass man nicht »weiß«, welches Milieu das Gegenüber hat, sondern dass man es lediglich (gut begründet) »vermutet«. Generell geht es ja nicht um eine Schubladisierung von Menschen, sondern um ein Prozedere, das hilft, Menschen nicht nach Schema x zu behandeln, sondern in ihrer individuellen Prägung ernst zu nehmen. Dies ist auch der Grund, warum in diesem Artikel keine »milieuorientierte« personale Kommunikation, sondern eine »milieusensible« Kommunikation beschrieben wird. Personale Kommunikation orientiert sich in der Regel nicht an einem einzelnen Milieu, sondern die Kommunikation bleibt »sensibel« für die möglichen Milieus der Gegenüber. Gelingt es, eine tragfähige und ausreichend flexible Hypothese zu den möglichen Milieuzugehörigkeiten des Gegenübers bzw. innerhalb einer Gruppe zu entwickeln, darf eine zweite, ebenso bedeutsame Komponente nicht vergessen werden: Auch wir sind Repräsentantinnen und Repräsentanten eines bestimmten sozialen Milieus. Dieses gilt es realistisch einzuschätzen, was ebenfalls nicht ganz einfach ist. (Es zeigt sich, dass viele Menschen sich bei der Grundorientie3

Der SINUS-Milieuindikator ist ein standardisiertes Instrument zur Diagnose der Milieuzugehörigkeit von Befragten, das vorzugsweise in Breitenerhebungen eingesetzt wird.

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rung zu modern und bei der sozialen Lage zu hoch einschätzen. Sie folgen bei der Selbsteinschätzung eher dem Wunsch als der Wirklichkeit.) Auch unser eigenes soziales Milieu beeinflusst die Art und Weise, in der wir kommunizieren. Unser soziales Milieu löst beim Gegenüber – die oder der gegebenenfalls eine große Nähe zu einem völlig anderen Milieu hat – sehr unterschiedliche Reaktionen aus. Eine milieusensible personale Kommunikation ist in diesem Sinne also kein einseitiger Prozess, sondern ein zweiseitiger zirkulärer Prozess: Von unserer Seite versuchen wir, sensibel für die möglichen Milieuzugehörigkeiten der Gegenüber zu sein und uns mit unserer Kommunikation darauf einzustellen. Zugleich müssen wir jedoch Ideen entwickeln, welche Reaktionen, Emotionen und (Kommunikations-) Erwartungen unser eigenes soziales Milieu bei den Kommunikationspartnerinnen und -partnern auslösen kann und was wir von unserer Seite tun und lassen können, um eine gelungene Kommunikation zu ermöglichen.

3 Möglichkeiten einer milieusensiblen personalen Kommunikation Wenn es unter den genannten Voraussetzungen gelingt, einen guten Rahmen für eine milieusensible personale Kommunikation zu gestalten, sind die vorliegenden Erkenntnisse zur Kommunikation in den einzelnen SINUS-Milieus ausgesprochen hilfreich für einen gelingenden Dialog. Dies beginnt bei der Kommunikationsverfassung des jeweiligen Milieus, also der Art und Weise, wie an Kommunikation herangegangen wird. Steht man beispielsweise den Informationen aus den Massenmedien eher positiv oder mit Skepsis gegenüber? Nimmt man sich selbst als Teil der intellektuellen Elite wahr oder als jemand, der durch die aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen abgehängt ist? Es lässt sich genau beschreiben, welchen Benefit – welchen »Gewinn« – die Menschen in den einzelnen Milieus aus der Kommunikation erwarten. Möchte man sich auf anspruchsvolle Weise mit dem Gegenüber und komplexen Themen auseinandersetzen? Ist man eher an einer praktischen und alltagsnahen Perspektive interessiert oder sucht man in der Kommunikation mit anderen vor allem die Ablenkung von den schwierigen Themen des Alltags, will sich also gerade nicht über Arbeit, Wirtschaft, Politik u. ä. unterhalten? Jedes SINUS-Milieu hat zentrale Erwartungen an die Kommunikation. Die einen suchen eher die authentischen und originellen Gegenüber, die anderen haben es lieber bodenständig und ungekünstelt. Dies verknüpft sich mit weiteren Stilpräferenzen. In manchen Milieus wird bevorzugt, wenn man auch schwierige Themen direkt anspricht und dabei nicht »moralisiert«. In anderen Milieus bevorzugt man eher einen elaborierten, reflektierten Sprachstil. Schließlich unterscheiden sich die Milieus nach ihrem aktiven und passiven Wortschatz und natürlich auch nach ihren thematischen Interessen.

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Für einige dieser Aspekte und ausgewählte Milieus findet sich untenstehend eine tabellarische Gegenüberstellung, um die Möglichkeiten der SINUS-Milieus für die personale Kommunikation zu verdeutlichen. Kommunikationsbenefit und Kommunikationsverfassung

Kommunikationbenefit/Gratifika tion für die Zielgruppe

Kommunikationsverfassung

KonservativEtablierte − Bestätigung des Selbstbildes als gesellschaftliche Elite − Umfassende und tiefgründige Information − Kontemplative Angebote − Führungs- und Exklusivitätsanspruch − Hohe Abstraktionsfähigkeit

LiberalIntellektuelle − Authentische Erfahrungen, neue Erkenntnisse und Perspektiven − Inspiration − Auseinandersetzung mit niveauvollen Menschen − Aktive Suche nach Hintergrundwissen − Komplexitätsund Ambiguitätstoleranz

Expeditive − Wunsch nach Inspiration und Erkenntnisgewinn − Erweiterung des Horizonts − Intellektueller und ästhetischer Genuss − Starkes Bedürfnis nach Kommunikation und Vernetzung − Hoher Anspruch an Abstraktion und Komplexität

© SINUS 2018

Die Tabelle zeigt nur einige Aspekte des Kommunikationsbenefits und der Kommunikationsverfassung für Milieus mit unterschiedlicher Grundorientierung und vergleichbarer sozialer Lage. Dabei wird deutlich, dass es sowohl Gemeinsamkeiten gibt, an die man in der Kommunikation anknüpfen kann, als auch Unterschiede, die es zu beachten gilt. Kommunikationserwartungen Sozial-Ökologische

Bürgerliche Mitte

Zentrale Erwartungen an Kommunikation

− vielschichtig − authentisch − anspruchsvoll

− nutzenorientiert − lebendig − bodenständig

Vermittlungsund Stilpräferenzen

− elaborierte Sprache − freundliche, höf− zur Reflexion liche Ansprache einladend − Vermittlung von − Authentizität Nähe vermitteln − Menschliche Wärme

© SINUS 2018

AdaptivPragmatische − nützlich − präzise − schnell − partnerschaftliche Ansprache − lässig ausgedrückte Wertschätzung − optimistische Tonalität

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Die ausgewählten Aspekte der Kommunikationserwartungen und der Stilpräferenzen für die drei Milieus der gesellschaftlichen Mitte zeigen zahlreiche Gemeinsamkeiten zwischen Bürgerlicher Mitte und Adaptiv-Pragmatischen. Weniger Übereinstimmung besteht mit den Sozial-Ökologischen. Aber auch zwischen alter (Bürgerliche Mitte) und neuer Mitte (Adaptiv-Pragmatische) sind Unterschiede erkennbar. Themen und Interessen

Themen

Konsuminteressen

Prekäre

Bürgerliche Mitte

LiberalIntellektuelle

− Sicherheit im täglichen Leben − Familie und Kinder − Gemeinschaft und Solidarität − Unterhaltungselektronik − Materialien zum Heimwerken − Gesundheitsprodukte

− Arbeitsplatzsicherung − Familie, Ehe und Kinder − Haus und Garten − Altersvorsorge und Versicherungen − Materialien zum Heimwerken − Rezeptfreie Medikamente

− Selbstverwirklichung im Beruf − kulturelles Leben − politisches Geschehen − Reisen − Gutes Essen − Möbel und Einrichtung

© SINUS 2018

Vergleicht man Themen und Konsuminteressen der drei ausgewählten Milieus, kann man erkennen, dass gleiche Themen – beispielsweise das wohnliche Zuhause– auf ganz unterschiedliche Weise angesprochen werden müssen. Sprache4 Expeditive Sprachprofil

− facettenreicher, lockerer Stil − unaufdringlich − lockere, stilbewusste Wortwahl

− Sprachliche Fallen

− keine Dogmen − keine Konventionalismen − kein moralischer Druck

AdaptivPragmatische − moderner, lockerer Stil − freundlich, inkludierend − junge, moderne Wortwahl − nicht provozierend − nicht altbacken − nicht pessimistisch

Hedonisten − unkonventioneller, authentischer Stil − direkte Ansprache − klare, auch überraschende Wortwahl − nicht von oben herab − nicht mit Nützlichkeit argumentieren − nicht milieutypische Sprache imitieren

© SINUS 2018 4

Vgl. hierzu auch die Beiträge zur verbalen Dimension und die entsprechende Tabelle in diesem Buch.

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Das Sprachprofil der drei postmodernen Milieus scheint im Vergleich der ausgewählten Aspekte relativ ähnlich. Die Unterschiede zeigen sich in den sprachlichen Feinheiten: Was den einen als freundlich inkludierend erscheint, ist für andere schon aufdringlich. Der unkonventionelle Stil des einen Milieus kann auf das andere Milieu schon leicht provozierend wirken.5

4 Konkrete Gestaltung milieusensibler personaler Kommunikation Wie kann nun eine milieusensible personale Kommunikation konkret gelingen? Dazu bedarf es – im Rahmen des oben beschriebenen Kontextes – einer entsprechenden Grundhaltung und kann eine Orientierung an einer systemischorientierten Gesprächsführung hilfreich sein. Weil wir davon ausgehen können, dass wir es auch im kirchlichen Kontext oftmals mit asymmetrischen Begegnungen zu tun haben (z. B. Pfarrerin und Konfirmand, Erzieherin und Vater), in denen die am Gespräch beteiligten Personen wahrscheinlich unterschiedlichen Milieus angehören, ist folgende Grundhaltung eine wichtige Voraussetzung für die milieusensible personale Kommunikation: − Respekt für den oder die Menschen gegenüber und Verständnis für ihre Sinnkonstruktionen − Aufmerksamkeit für die Möglichkeit bzw. Wahrscheinlichkeit unterschiedlicher Kommunikationsverfassungen, Gratifikationserwartungen und Kommunikationsziele − Hilfestellung für den Versuch einer gemeinsamen Zielerreichung Auf dieser Basis gelingt der Beginn einer systemisch-orientierten Gesprächsführung mit dem sogenannten »Joining«. Dies ist mehr als Small Talk, sondern ein sprachliches und atmosphärisches »aufeinander Einschwingen«, die Suche nach der »gleichen Frequenz«. Es ist die aktive, gezielte Suche danach, mit welcher Sprache, mit welchem Auftreten, in welcher Atmosphäre, mit welchem Tempo und welchen Themen ich gut mit dem Gegenüber in Kontakt komme. So wie sich gute systemische Beraterinnen und Berater ausreichend Zeit lassen für das Joining, um sich auf ihre Klientinnen und Klienten einzustellen, wäre ein solches Joining auch die Grundlage, um in formellen und informellen Gesprächssituationen Hypothesen zum sozialen Milieu des Gegenübers zu entwickeln. Si5

Ein weiterführender und vor allem systematischer Überblick zu allen Milieus kann man sich im Rahmen von entsprechenden Schulungen aneignen. Wichtige Grundlagen vermitteln darüber hinaus das Buch »Praxis der SINUS-Milieus« (Bertram Barth / Berthold Bodo Flaig / Norbert Schäuble / Manfred Tautscher [Hg.], Praxis der Sinus-Milieus. Gegenwart und Zukunft eines modernen Gesellschafts- und Zielgruppenmodells. Wiesbaden 2018), die Evangelische Kirchenstudie für die Landeskirchen in Württemberg und Baden, vielfältige Publikationen zur evangelischen und katholischen Kirche, weitere Publikationen, die in diesem Artikel erwähnt werden, sowie die Milieu-Info-Pakete des SINUS-Instituts.

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cher bevorzugen es manche Menschen, »schnell zur Sache« zu kommen. Für die milieusensible Kommunikation sollte aber ebenso in die Beziehungsebene investiert werden. Im weiteren Verlauf des Gespräches muss es darum gehen, möglichst viel über den Alltag, den aktuellen Kontext und die Anliegen des Gegenübers zu erfahren. Das ist wichtig nicht nur im Hinblick auf den Wunsch, die Lebenswelt bzw. die Milieuzugehörigkeit des Gegenübers kennenzulernen, sondern generell, um ein gutes Gespräch führen zu können. Eine zentrale Rolle spielt dabei das zu selten praktizierte »aktive Zuhören«, also das Paraphrasieren des Gehörten in eigenen Worten. So kann man dem Gegenüber signalisieren, dass man verstanden hat und sich dafür interessiert, was gesagt wurde. Zugleich gibt man dem Gegenüber die Gelegenheit, diese Rückmeldung wiederum zu korrigieren und zu ergänzen. Vor allem solche zirkulären Prozesse werden viel dazu beitragen, sich der Lebenswelt des Gegenübers anzunähern. Auf dieser Grundlage lassen sich nach und nach Hypothesen zur möglichen Milieuzugehörigkeit des Gegenübers bilden, im Gesprächsverlauf prüfen und gegebenenfalls auch wieder verwerfen. Dabei ist es eine gewisse Herausforderung, das Gespräch nicht zu einem »Milieu-Quiz« verkommen zu lassen, sondern trotz des Wunschs, das Milieu des Gegenübers einschätzen zu können, authentisch, situations- und personengerecht zu kommunizieren. Hier dürfte es helfen, sich immer wieder in Erinnerung zu rufen, dass das Milieu bzw. die möglichen Milieus des Gegenübers nur einer von mehreren Orientierungspunkten für das Gespräch sein können. Der einzelne Mensch ist immer komplexer als das, was wir in einem oder mehreren Gesprächen über ihn und seine Lebenswelt erfahren können. Ziel unserer Gespräche ist nicht die »richtige« MilieuZuordnung, sondern gelungene Kommunikation – wobei auch hier das Oscar Wilde zugeschriebene Zitat gilt: »Das größte Problem mit der Kommunikation ist die Illusion, sie sei gelungen.«

5 Beispiele milieusensibler personaler Kommunikation Es muss nicht der Anspruch milieusensibler personaler Kommunikation sein, das gesamte Gespräch durchgängig und in jeder Einzelheit an der möglichen Milieuzugehörigkeit des Gegenübers auszurichten, sondern es ist bereits hilfreich und ausreichend, einzelne Kommunikationselemente bzw. ausgewählte Settings milieusensibel zu gestalten. In der tabellarischen Gegenüberstellung im vorletzten Abschnitt sind schon verschiedene praktische Anwendungsmöglichkeiten erkennbar geworden. Einige Beispiele sollen dies weiter verdeutlichen. Bei der Gestaltung der Kommunikationselemente kann es zum Beispiel um die Frage der passenden Begrüßung und Verabschiedung aus der Perspektive verschiedener Milieus gehen. Wer grüßt wen und in welcher Form zuerst? Werden Hände geschüttelt oder nicht? Spielen Geschlecht, Hierarchie oder Alter eine Rolle bei der Begrüßung? Während sich die Erwartungen der Konservativ-

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Etablierten und Traditionellen eher an überkommenen Regeln orientieren – beispielsweise wird die Jüngere zuerst dem Älteren vorgestellt – sind Expeditive und Hedonisten deutlich weniger an solchen Traditionen orientiert (haben dafür aber vielleicht andere Rituale entwickelt). In der Bürgerlichen Mitte wird in der Regel darauf Wert gelegt, dass Kinder den Erwachsenen zur Begrüßung und Verabschiedung die Hand schütteln. Jüngere Milieus messen dem teilweise weniger Bedeutung zu. Sehr interessant ist auch die Frage der angemessenen Anrede. Rund um die Frage, ob man sich generell mit »Du« oder »Sie« anspricht, finden in vielen Gemeinschaften wahre »Kultur-Kämpfe« statt, bei denen die Vorlieben der einzelnen Milieus sichtbar werden. Ist in den traditionellen und bürgerlichen Milieus – vor allem in höherer sozialer Lage – das »Sie« der Regelfall und hat das »Du« eher die Funktion einer Auszeichnung für besondere Nähe, wird das »Du« in den postmodernen Milieus – und teilweise auch in den Milieus in niedriger sozialer Lage – zum Regelfall. Gesiezt wird nur dort, wo man muss. Je nach Milieu darf man das »Du« nicht zu früh anbieten oder sollte das »Sie« nicht zu lange beibehalten. Ein wichtiges non-verbales Element der Kommunikation ist ganz sicher die Kleidung. In den verschiedenen Milieus wird Frage, welche Kleidung zu welchem Anlass als (nicht) angemessen gilt, sehr unterschiedlich beantwortet. Da gerade durch die Kleidung – ergänzt durch Frisuren, Schuhe, Accessoires und gegebenenfalls Schminke – der erste Eindruck stark geprägt wird, kann dies die mehr oder weniger gelingende Kommunikation zwischen verschiedenen sozialen Milieus fördern oder behindern. Als »typischer« Sozialpädagogik-Student seiner Zeit hat der Autor dieses Artikels durch sein Auftreten – barfuß in Birkenstock, Stoffhose, kariertes offenes Hemd, lange Haare, Ohrringe, DreitageBart, selbstgedrehte Zigaretten – sowohl den Jugendlichen als auch den Entscheidungsträgern, mit denen er zu tun hatte, seine Zugehörigkeit zum damaligen postmateriellen Milieu eindeutig signalisiert. Dies hat sowohl das sozialpädagogische Handeln als auch die politische Interessenvertretung nicht immer einfacher gemacht. Mit einer gewissen, kontext-bezogenen Anpassungsbereitschaft – im Hinblick auf das Auftreten, nicht die Haltung – ist mancher Dialog später wesentlich einfacher verlaufen. Insgesamt sind die »Benimmregeln« und Kommunikations-Rituale in den unterschiedlichen Milieus ein weites und interessantes Feld. Dabei geht es nicht nur um den berühmten Knigge, sondern in gleicher Weise um Regeln und Verhaltenscodes in den sozialen Milieus, die Herrn Knigge eher fernstehen. In bürgerlichen Haushalten galt zumindest in der Vergangenheit, dass man nicht zu früh, nicht zu spät und nicht in der Mittagszeit telefoniert. In nicht wenigen traditionellen und bürgerlichen Haushalten werden diese Regeln auch heute noch befolgt. Bei Adaptiv-Pragmatischen Jugendlichen und jungen Erwachsenen scheint Telefonieren generell als störend zu gelten, weil es zur direkten Kommunikation zwingt. Stattdessen werden Audiodateien per WhatsApp hinund hergeschickt, die zeitversetzt beantwortet werden können. Zugleich scheint

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es weder morgens, mittags oder in der Nacht Pausenzeiten für diese Kommunikation zu geben. Das Thema der Kommunikationsregeln in einzelnen Milieus führt schließlich zur Gestaltung passender milieusensibler Settings, die eine gelingende personale Kommunikation fördern. Während sich der bisherige Artikel auf das individuelle Kommunikationshandeln konzentriert hat, soll zum Schluss ein kurzer Blick auf die Gestaltung eines kommunikations-fördernden Umfeldes gerichtet werden. Milieusensible personale Kommunikation gelingt, indem wir uns bei der verbalen und non-verbalen Kommunikation an den möglichen Milieus der Gegenüber und dem eigenen Milieu orientieren. Milieusensible personale Kommunikation kann zusätzlich dadurch gefördert werden, dass wir einen Rahmen schaffen, der die Kommunikationsbereitschaft und -fähigkeit der Menschen aus anderen Milieus fördert. Damit bewegen wir uns thematisch in der Schnittmenge zwischen der personalen Kommunikation und der einleitend erwähnten Kommunikation in größeren Gemeinschaften. Zum Thema Taufe und Beerdigung wurde bereits einleitend Heinzpeter Hempelmann u. a. mit seinen zahlreichen praktischen Hinweisen erwähnt. Bei diesen Anlässen haben wir es – bezogen auf die Menschen, die im Mittelpunkt des Geschehens stehen – in der Regel mit einer überschaubaren, nicht selten auch relativ milieu-homogenen Gruppe zu tun. Insofern greifen hier einerseits die beschriebenen Hinweise zur personalen Kommunikation. Andererseits kann das gesamte Setting – vom Ort über die Raumgestaltung, die Zeit, die Musik, die Texte, die Beteiligung der Familie usw. – so gestaltet werden, dass es dem Milieu der Teilnehmerinnen und Teilnehmer entspricht. Kommunikation – und Teilhabe – gelingt dort besonders gut, wo ich mich sicher und willkommen fühle. Detaillierte Hinweise für die einzelnen Milieus finden sich in den bereits erwähnten Büchern. In ähnlicher Weise hat vor einigen Jahren bereits Heiner Barz über Weiterbildung geforscht und ein umfassendes Handbuch zum Thema »Weiterbildung und soziale Milieus« veröffentlicht.6 Auch hier war die Frage, wie der Rahmen von Weiterbildungen – die Räume, Medien, Methoden, Themen, Dozentinnen und Dozenten, die Gruppe usw. – so gestaltet werden kann, dass er verschiedene Milieus anspricht. Schon die einfache Frage, ob der Seminarraum (wenn es denn überhaupt ein Seminarraum sein muss) an ein Klassenzimmer mit Tischreihen erinnert, mit Tischgruppen ausgestattet ist oder ein Stuhlkreis – ohne schützende Tische – zur Verfügung steht, verändert die Kommunikation und stößt auf unterschiedliche Zustimmung in den verschiedenen Milieus. Im ungünstigsten Fall kommt es kaum zu personaler Kommunikation, weil die Teilnehmerinnen und Teilnehmer »den Mund nicht aufbekommen«. Läuft es gut, kann die passende Raumgestaltung der Ausgangspunkt intensiver Kommunikation sein. Heiner Barz hat in seiner Publikation die verschiedenen Weiterbil6

Heiner Barz / Rudolf Tippelt (Hg.), Weiterbildung und soziale Milieus in Deutschland – Praxishandbuch Milieumarketing, Bielefeld 2007.

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dungssettings für die einzelnen Milieus sehr detailliert beschrieben. Eine solche Gestaltung ist die Voraussetzung dafür, dass es überhaupt zu einer persönlichen Begegnung und zu individueller Kommunikation mit verschiedenen Milieus im Rahmen von Weiterbildungsangeboten kommen kann. Leider wurde die Studie in den vergangenen Jahren nicht erneuert, sodass nicht mehr alle Erkenntnisse dem aktuellen Stand der Weiterbildungs- und vor allem der veränderten MilieuLandschaft entsprechen. Ohne an dieser Stelle tiefer darauf einzugehen, sei schließlich noch auf den Artikel »Milieu: eine neue Kategorie im Coaching!« von Uwe Böning hingewiesen, der beschreibt, wie soziale Milieus für dieses Arbeits-Setting fruchtbar gemacht werden können.7

6 Essenz In der Massenkommunikation, im Marketing, der Öffentlichkeitsarbeit, der politischen Kommunikation und vielen anderen Feldern sind die SINUSMilieus seit Jahrzehnten bewährt. Die Anwendung dieses Ansatzes für die personale Kommunikation ist in der Praxis nicht gleichermaßen im Blick, obwohl die SINUS-Milieus als ein Modell aus der Lebensweltforschung dafür ebenfalls gut geeignet sind. Allerdings müssen für dieses Anwendungsfeld andere Rahmenbedingungen beachtet werden, beispielsweise allgemeine Grundlagen der Kommunikation, der Kontext des Geschehens, die konkrete Situation und die Persönlichkeitsmerkmale des Gegenübers. Dies setzt wiederum ein fundiertes Grundwissen zur Kommunikation, zur Gesprächsführung, zu den SINUS-Milieus und entsprechende praktische Kompetenzen voraus, die in den meisten Fällen erst durch entsprechende Schulungen erworben werden müssen. Die SINUS-Milieus müssen in der personalen Kommunikation mit anderen Modellen und Methoden kombiniert werden, damit sie erfolgreich angewendet werden können. Darüber hinaus umfasst milieusensible personale Kommunikation nicht nur meine Kommunikation hin zu einem oder mehreren anderen Milieus (wobei einseitige Kommunikation sowieso nur theoretisch vorstellbar ist), sondern auch die Kommunikation der Menschen aus den anderen Milieus mit mir als Repräsentantin oder Repräsentanten meines sozialen Milieus und ist damit ein komplexer zirkulärer Prozess. Milieusensible personale Kommunikation wird im Hinblick auf das Milieu der Gegenüber im Regelfall im Status einer Hypothese bleiben. Wir können nur in den seltenen Fällen auf der Basis einer entsprechenden Expertise wissen, welchen konkreten sozialen Milieus die Kommunikationspartner zugeordnet werden können. 7

Der Artikel steht im Internet kostenlos zur Verfügung: www.dgsv.de/wp-content/uploads/ 2017/09/positionen_2_2015.pdf

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Zielgruppenmodelle sind von ihrem Ursprung her eher Modelle für die Kommunikation mit vielen und weniger für die individuelle Kommunikation gedacht, auch wenn die Lebensweltforschung sehr wohl Hinweise für die individuelle Kommunikation gibt. Entsprechend sind Persönlichkeits- und Kommunikationstypologien in der Regel dafür ausgelegt, einzelne Personen zu beschreiben und weniger dazu geeignet, große Gruppen als KommunikationsZielgruppen anzusprechen. Sehr wohl kann jedoch sowohl das eine als auch das andere interessante Impulse für verschiedene Anwendungsfelder geben. In diesem Sinne ist milieusensible personale Kommunikation auf der Basis der SINUS-Milieus möglich und sinnvoll. Die SINUS-Milieus können eine wichtige, ergänzende Grundlage für gelungene Kommunikation und erfolgreiche professionelle Gesprächsführung darstellen. Ihre Relevanz werden sie vor allem dann entfalten, wenn wir in der direkten, professionellen Kommunikation Menschen aus »fremden« Milieus ansprechen, beraten und begleiten wollen.

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7 Grafik zum Modell einer milieusensiblen personalen Kommunikation

© SINUS / Peter Martin Thomas

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7 Die diakonische Dimension

Kommunikation des Evangeliums im Kontext der Diakonie Joachim Rückle

1 Einleitung Um es gleich vorweg zu sagen: In der Diakonie ist sehr wenig von Kommunikation des Evangeliums die Rede. Und auch die Milieuperspektive taucht nur hier und da am Rande auf. Gerade deshalb könnte es lohnend sein, einen etwas genaueren Blick auf die diakonische Praxis zu werfen. Ich mache das aus einer ganz bestimmten Perspektive heraus. Als Pfarrer der evangelischen Landeskirche in Württemberg leite ich seit über fünf Jahren die Abteilung Theologie und Bildung im Diakonischen Werk Württemberg. Die Existenz dieser Abteilung zeigt den hohen Stellenwert der Theologie für die diakonische Arbeit in Württemberg. Als Verband verstehen wir uns als wichtiges Bindeglied zwischen Landeskirche und diakonischen Trägern, aber auch als Bindeglied zu Politik und Gesellschaft. In meiner Funktion habe ich einen guten Überblick über die verschiedenen Aktivitäten der diakonischen Unternehmen im Sinne einer diakonischen Kultur oder eines diakonischen Profils. Vor allem aber bin ich selbst in unterschiedlicher Weise verantwortlich für die theologisch-ethische Reflexion und für diakonische Bildungsarbeit. Damit sind bereits wesentliche Begriffe benannt, die von der Sache her eng mit der Kommunikation des Evangeliums verbunden sind. Das Evangelium und damit der christliche Glaube sind Ausgangspunkt und Bezugsrahmen der diakonischen Praxis. Nächstenliebe ist damit Zeugnis des Glaubens und Kommunikation des Evangeliums oder mit den Worten des württembergischen Diakoniegesetzes: »Diakonie ist gelebter Glaube der christlichen Gemeinde in Wort und Tat.«

Kommunikation des Evangeliums im Kontext der Diakonie

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Gerade dieser innere Zusammenhang von Wort und Tat ist elementar für diakonische Arbeit und elementar für die Kommunikation des Evangeliums in einer spätmodernen Gesellschaft.1 Dieses Selbstverständnis diakonischer Arbeit ist heute allerdings in vielfacher Weise fraglich geworden. Je mehr die diakonische Arbeit nicht mehr durch die Kirche selbst finanziert wird, desto weniger deutlich wird die Kirche oder die Gemeinde als Subjekt der Nächstenliebe wahrgenommen.2 Und je weniger Mitarbeitende der Diakonie erkennbar aus einer christlichen Motivation heraus handeln, desto unklarer ist für die begleiteten Menschen in der Diakonie dieser Zusammenhang. Gesamtgesellschaftlich wird auch im Zusammenhang der Ausweitung und Professionalisierung die Tätigkeit im sozialen Bereich als mehr oder weniger normaler Beruf und nicht mehr als Berufung wahrgenommen. Die Hilfeleistung ist zu einem Rechtsanspruch geworden. Oder sie ist eine Dienstleistung, für die ich mich versichern kann oder für die ich bezahle. Die damit verbundene Ökonomisierung des Sozialen verstellt den Blick noch mehr für die Wahrnehmung der helfenden Tat als Praxis des Glaubens. Auf diesem Hintergrund ist die Diskussion um die Frage nach dem diakonischen Profil zu sehen. Der Kostendruck sorgt überall dafür, dass es immer weniger erkennbare Unterschiede in der praktischen Gestalt sozialer Arbeit gibt und damit ein christliches Profil oft kaum noch erkennbar ist oder aufgesetzt wirkt. Das helfende Handeln allein ist deshalb noch keine Kommunikation des Evangeliums. Es wird zur Kommunikation des Evangeliums, wenn es entsprechend reflektiert und in den Zusammenhang des Glaubens gestellt wird. Deshalb soll im Folgenden zunächst die Reflexion der diakonischen Praxis näher beleuchtet werden. Sie ist ebenso eine Form der Kommunikation des Evangeli1

Die Diastase von Verkündigung und helfendem Handeln ist in einer sich immer weiter ausdifferenzierenden Gesellschaft eine naheliegende wie problematische Entwicklung. Bereits die Wirkungsgeschichte des lukanischen Berichtes von der Einsetzung der sieben Diakone in Apg 6 stellte das diakonische Handeln unter eine Art Generalverdacht: Dass durch das helfende Handeln die Verkündigung des Evangeliums zu kurz kommen könnte. Doch gerade die eingesetzten Diakone zeigen, wie wichtig ihnen die Verkündigung war. Die neueren Forschungen zur Bedeutung des Wortstammes διακονεῖν (diakonein) zeigen sehr deutlich, dass es jeweils darum geht, als Bote im Auftrag eines anderen zu handeln. Die Einheit von Wort und Tat ist dadurch evident. Vgl. Anni Hentschel, Diakonia im Neuen Testament. Studien zur Semantik unter besonderer Berücksichtigung der Rolle von Frauen (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament II/226), Tübingen 2007. Entscheidend für das Selbstverständnis der Christen ist die Praxis Jesu selbst, die neben seiner Predigttätigkeit stets Krankenheilungen beinhaltet hat. Das Matthäusevangelium, das wie kein anderes neutestamentliches Buch den Missionsgedanken betont, betont nicht weniger den diakonischen Auftrag. Am prägnantesten wohl in der Bergpredigt mit den Bildworten vom Salz und vom Licht (Mt 5) und im Gleichnis vom Endgericht mit den sieben Werken der Barmherzigkeit (Mt 25). 2 Vgl. Gerhard Wegner / Anja Schädel, Diakonische Potenziale, in: Evangelische Kirche in Deutschland (Hg.), Engagement und Indifferenz. Kirchenmitgliedschaft als soziale Praxis. V. EKD Erhebung über Kirchenmitgliedschaft, Hannover 2014, 93–95 (www.ekd.de/down load/ekd_v_kmu2014.pdf [zuletzt geprüft am 18.02.2019]).

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ums wie der in Wort und Tat erfolgende Einsatz für den Nächsten. In einem letzten Abschnitt geht es schließlich um die Relevanz der Milieuperspektive für die diakonische Arbeit.

2 Die Kommunikation des Evangeliums in der Diakonie Zweifellos spielte die explizite Wortverkündigung für die Pioniere der Inneren Mission eine herausragende Rolle. Doch aus der Inneren Mission wurde die Diakonie und das volksmissionarische Anliegen spielte spätestens seit den 70erJahren des letzten Jahrhunderts nur noch eine Nebenrolle oder war im Zuge der Professionalisierung der sozialen Arbeit völlig aufgegeben worden.3 Gleichzeitig gab und gibt es gravierende Veränderungen in der Zusammensetzung des Personals. Bis in die 50er- und 60er-Jahre des letzten Jahrhunderts prägten Diakone und Diakonissen die Arbeit in der Alten- und Krankenpflege. Mittlerweile gehen Schätzungen davon aus, dass lediglich eine Minderheit von 10–25 Prozent der Beschäftigten in der Diakonie ihre Arbeit ganz bewusst als Praxis ihres christlichen Glaubens verstehen. Auf diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass in der gegenwärtigen Diskussion die interne Kommunikation des Evangeliums erheblich an Bedeutung gewonnen hat. Die aktuelle Neufassung der Loyalitätsrichtlinie der EKD ist ebenfalls in diesem Kontext zu sehen.4 Sie versucht zwei Dinge miteinander zu verbinden: Eine behutsame Öffnung für Mitarbeitende ohne Kirchenmitgliedschaft und eine Intensivierung der Aktivitäten zur Stärkung der diakonischen Identität. Gerade weil der interne Fokus seit einiger Zeit im Vordergrund steht, muss umso mehr darauf geachtet werden, dass dies nicht zu Lasten der Kommunikation in Richtung Klienten, (Zivil)gesellschaft und Politik gehen darf. Die interne Kommunikation des Evangeliums muss vielmehr als wesentliche Voraussetzung für die externe Kommunikation geltend gemacht werden. 2.1 Die interne Kommunikation des Evangeliums Zur Situation der Mitarbeitenden

Die bewusste Öffnung des Sozialen für marktwirtschaftliche Elemente Mitte der 90er-Jahre bei zunehmender Abhängigkeit von staatlichen Vorgaben hat erhebliche Folgen für die diakonische Arbeit. Sie steht seither unter deutlich erhöhtem Kosten- und Anpassungsdruck. Dies zeigt die Diskussion um den 3. Weg und die Kritik am Outsourcing etwa im Bereich der Hauswirtschaft. Hinzu kommt eine wachsende Arbeitsverdichtung und eine auch im Blick auf die Arbeitszeiten sinkende Attraktivität der sozialen Berufe. Eine Folge dieser schwie3

Dennoch ist bis heute das Amt für missionarische Dienste auf Bundesebene Teil des Evangelischen Werks für Diakonie und Entwicklung. 4 www.kirchenrecht-bremen.de/pdf/13928.pdf (zuletzt geprüft am 18.02.2019).

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riger werdenden Bedingungen ist, dass für gelebte Spiritualität und die diakonisch-ethische Reflexion der eigenen Arbeit immer weniger Zeit bleibt. Und die Bereitschaft, dies in der eigenen Freizeit, bzw. im Rahmen unbezahlter Überstunden, zu tun, ist angesichts einer weiter schwindenden Identifikation mit dem christlichen Glauben ziemlich gering. Gleichzeitig werden der etwa im Leitbild formulierte diakonische Anspruch und der erlebte Arbeitsalltag häufig als widersprüchlich wahrgenommen. Diese Entwicklungen werden in der Diakonie aufmerksam und mit einiger Sorge verfolgt. Die Einsicht und die Bereitschaft wachsen, etwas gegen diesen Trend zu tun. Entsprechende Anstrengungen zielen deshalb darauf, intensiver darüber nachzudenken, was denn der diakonische Anspruch ist und wie man diesem unter den heutigen Bedingungen gerecht werden kann. Dazu gehören die elementare Vermittlung der Grundlagen des christlichen Glaubens und der diakonischen Praxis und die bewusste Gestaltung einer diakonischen Kultur. Konzepte und Formate

Um einen Eindruck von den vielfältigen Aktivitäten zur Entwicklung einer diakonischen Kultur zu vermitteln, möchte ich zunächst auf vier Beiträge der Diakonie Deutschland hinweisen: 1. Bereits 2008 erscheint der vom Diakonischen Werk der EKD herausgegebene 72-seitige Text »Charakteristika einer diakonischen Kultur«.5 2. 2011 folgte ein ökumenischer Versuch Elemente einer diakonischen Kultur im Rahmen des Qualitätsmanagements zu verankern.6 3. 2013 folgt ein ebenfalls von der Diakonie Deutschland herausgegebenes Handbuch »Kurse zu Themen des Glaubens für Mitarbeitende in der Diakonie«7. 4. Seit einigen Jahren etabliert sich ein internetbasiertes Netzwerk Diakonisches Profil, das von Annette Hohnwald von der AMD verantwortet wird. Sehr aktuell und bestens aufbereitet findet sich dort eine Fülle an Material und Texten rund um das Thema Diakonische Kultur / Diakonisches Profil.8 Allein die 5

www.diakonie.de/fileadmin/user_upload/Texte-2008-01-Charakteristika-diakonische-Kul tur.pdf (zuletzt geprüft am 18.02.2019) Zum selben Thema sei auf die Veröffentlichungen von Beate Hofmann, Diakonische Unternehmenskultur. Handbuch für Führungskräfte (Diakonie. Bildung – Gestaltung – Organisation 2), Stuttgart 22010, und Thorsten Moos, Diakonische Kultur. Begriff, Forschungsperspektiven, Praxis (Diakonie. Bildung – Gestaltung – Organisation 16), Stuttgart 2018, hingewiesen. 6 Diakonisches Werk der Evangelischen Kirche in Deutschland e.V., Rahmenbedingungen einer christlichen Unternehmenskultur in Caritas und Diakonie, Freiburg/Berlin 2018: www.caritas.de/cms/contents/caritas.de/medien/dokumente/zentrale-dokumente/rahmenbe dingungen-ei/rahmenbedingungen_einer_christlichen_unternehmenskultur_180726_edited. pdf? d=a&f=pdf (zuletzt geprüft am 18.02.2019). 7 www.a-m-d.de/fileadmin/user_upload/Diakonie/Horizonte_des_Glaubens/Horizonte_des_ Glaubens_erkunden.pdf (zuletzt geprüft am 18.02.2019). 8 www.a-m-d.de/themen/diakonie/themen/diakonische-profilentwicklung-in-einrichtungen (zuletzt geprüft am 18.02.2019).

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Vielfalt des Materials zeigt, wie intensiv und vielfältig die Kommunikation des Evangeliums im Bereich der Diakonie praktiziert wird. Wie gut die Angebote angenommen werden und welche Wirkung sie entfalten, ist freilich eine andere Frage und auch nur ansatzweise untersucht.9 Weit verbreitet sind die meist ein- oder zweitägigen Basiskurse zu den Grundlagen diakonischer Arbeit. In Württemberg war dies ursprünglich ein knapp dreitägiger Kurs für Mitarbeitende, die keiner ACK-Kirche angehören. Mittlerweile hat er sich als zweitägiges Angebot für alle Mitarbeitende etabliert und wird sehr gut nachgefragt. Das Angebot gibt es sowohl als Inhouse-Schulung als auch in Form eines Kursangebotes in einem Tagungshaus. Insgesamt nehmen Zahl und Vielfalt der Angebote zu. Verbindliche Regelungen sind im Trend und werden von Mitarbeitenden deutlich positiver gesehen als in der Vergangenheit. Dies hat sicher auch mit dem methodischen Ansatz zu tun, der sich meist an den Grundregeln der Erwachsenenbildung orientiert.10 Dies impliziert vor allem, dass hier die Arbeits- und Lebenswirklichkeit der Teilnehmenden viel Raum bekommt. Ebenso wichtig ist die Beziehungsebene. In unseren Kursen ist meist am zweiten Tag eine Vertrauensbasis gewachsen, die es ermöglicht, offen über den eigenen Glauben oder die eigenen Zweifel zu sprechen. 2017 ist in Württemberg der fünftägige und modularisierte Kurs »Diakonie kompakt« als Kooperation mehrerer großer diakonischer Träger neu gestartet worden. Als spezifisches Angebot für diakonische Führungskräfte stieß er von Beginn an auf große Resonanz.11 Auch bei anderen Fortbildungen für Führungskräfte wird intensiv über die Gestaltung einer diakonischen Unternehmenskultur nachgedacht. Thematische Schwerpunkte

Die unterschiedlichen diakonischen Bildungsangebote legen inhaltliche Schwerpunkte auf das christliche Menschenbild, die biblischen Grundlagen diakonischer Arbeit, Geschichte und aktuelle Herausforderungen der Diakonie, das Kirchenjahr und Fragen der eigenen (spirituellen) Kraftquellen. Deutlich ist, dass Anthropologie und Ethik besonders stark gewichtet sind. Das hat auch damit zu tun, dass hier der Bezug zur eigenen Arbeit besonders evident ist. Das heißt freilich nicht, dass christologische, soteriologische oder ekklesiologische Fragen außen vor bleiben. Sie fließen häufig dann ein, wenn es um ein vertieftes Verstehen des christlichen Glaubens oder um existenzielle Fragen und das Kir9

Das Forschungsprojekt des Instituts für Diakoniewissenschaft und Diakoniemanagement in Bielefeld »Merkmale diakonischer Unternehmenskultur in einer pluralen Gesellschaft« geht aktuell diesen Fragen nach. Mehr unter: www.diakoniewissenschaft-idm.de/forschung/ projekte/prof-dr-beate-hofmann/forschungsprojekt-unternehmenskultur (zuletzt geprüft am 18.02.2019). 10 Vgl. dazu Martin Horstmann, Das Diakonische entdecken. Didaktische Zugänge zur Diakonie, Heidelberg 2011. 11 www.karlshoehe.de/diakonat-studium/diakonie-kompakt (zuletzt geprüft am 18.02.2019).

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chenjahr geht. Wo immer das möglich ist, bringen wir biblische Texte mit ins Spiel.12 Von wachsender Bedeutung ist der interreligiöse Dialog. Insbesondere in der Pflege nimmt die Zahl muslimischer Mitarbeitenden kontinuierlich zu. Gerade weil Muslime meist selbstbewusst und selbstverständlich von ihrem Glauben reden, kommen auch die Unterschiede der Religionen zur Sprache. An Relevanz gewinnen unterschiedliche Maßnahmen zur Stärkung der ethischen Kompetenz. Ethische Fachtage oder Kurse zur Qualifizierung für ethische Fallbesprechungen beinhalten regelmäßig eine theologisch-ethische Reflexion. Auch beim Thema Inklusion haben wir unter Einbeziehung biblischer Texte intensiv an einer diakonisch-theologischen Grundlegung gearbeitet.13 Alle Bildungsangebote müssen transparent sein im Blick auf ihre Bedeutung für die diakonische Arbeit. Von Mitarbeitenden der Diakonie wird zumindest erwartet, dass sie den diakonischen Auftrag bejahen und mittragen.14 Diese Loyalitätsverpflichtungen setzen voraus, dass Mitarbeitende eine Vorstellung davon haben, was dieser diakonische Auftrag, oder noch weitergehender eine diakonische Dienstgemeinschaft, beinhaltet. Plausibel ist auch, dass Mitarbeitende die christliche Prägung und diakonische Unternehmenskultur kennen sollten. In manchen Arbeitsfeldern wie der Pflege oder der frühkindlichen Bildung ist außerdem klar, dass die Arbeit religiöse Kommunikation beinhaltet. Personenorientierung schließt immer auch die religiösen Bedürfnisse eines Menschen ein. Wir haben deshalb vor einigen Jahren in Württemberg ein »Gebetsbüchle« herausgegeben, das überwiegend auf Gebete von Mitarbeitenden der Diakonie zurückgreift. Dieses in einer Gesamtauflage von gut 60 000 erschienene Büchlein bietet eine Auswahl an Gebeten, die man mit Patienten oder in einer ruhigen Minute beten kann.15 Auch Mitarbeitende, die sich selbst als nicht gläubig bezeichnen, greifen gerne auf das Buch zurück, um z. B. mit schwer kranken Menschen beten zu können. Eine wichtige Rolle als Gesprächspartner mit Zeit spielen Ehrenamtliche. Es gehört mittlerweile zum Standard diakonischer Einrichtungen, das ehrenamtliche Engagement in seiner ganzen Vielfalt zu fördern. Qualifizierungsmaßnahmen für Ehrenamtliche beinhalten in aller Regel auch Fragen zum Thema existenzielle Kommunikation. Wichtig sind in diesem Zusammenhang unterschied12

Einen Eindruck davon vermittelt folgende Broschüre: www.diakonie-wuerttemberg.de/ fileadmin/Diakonie/Themen/Debora/Deb_Leitfaden-Theologie-Personalgewinnung.pdf (zuletzt geprüft am 18.02.2019). 13 www.aktionsplan-inklusion-leben.de/aktionsplan/grundlegung/aktionsplan-grundlegungtheologie (zuletzt geprüft am 18.02.2019). 14 Landeskirche und Diakonie Württemberg, Arbeitsvertragsrichtlinien in der Fassung der Arbeitsrechtlichen Kommission, § 1, www.avr-württemberg.de/webx/apps/wb/?webbook (zuletzt geprüft am 18.02.2019). 15 Mit einer Erstauflage von 63 000 Exemplaren ist das Nachfolgebuch »Mein Mutmachbuch« nicht weniger erfolgreich. Die darin versammelten Texte zielen stärker noch auf die Mitarbeitenden selbst.

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liche Formen der Kooperation mit Kirchengemeinden, etwa im Bereich der Besuchsdienstarbeit oder durch Beteiligung am Gemeindegottesdienst.16 2.2 Im Blick auf Klienten

Eine besondere Rolle spielt die Kommunikation des Evangeliums im Kontext der Pflege. Hier vor allem im Bereich der stationären Pflege und im Zusammenhang der Sterbebegleitung. Andachten, Gottesdienste und das Angebot von Seelsorge gehören nach wie vor zu jedem diakonischen Pflegeheim. Verantwortet wird dieses geistliche Angebot meist von den Ortsgeistlichen, aber auch von (Pflege)diakon_innen oder Ehrenamtlichen. Es gibt einige Ansätze, um auch die Mitarbeitenden in der Pflege für unterschiedliche Formen der existenziellen Kommunikation, bzw. der Seelsorge zu schulen.17 Allerdings zeigen diese Ansätze, dass die Rahmenbedingungen der Pflege in dieser Hinsicht wenig förderlich sind. In anderen Hilfebereichen ist die explizite religiöse Kommunikation deutlich eingeschränkter. Im stationären Kontext sind z. B. Tischgebete oder religiöse Lieder in den letzten Jahrzehnten seltener geworden. Hinzu kommt die im Zusammenhang von Ambulantisierung und Inklusion zunehmende Auflösung großer Einrichtungen. Entsprechend kleiner werden die gottesdienstlichen Feiern in den noch existenten »Anstaltskirchen«. Und schließlich wächst der Anteil der Adressaten diakonischer Hilfen stetig, die keiner christlichen Kirche oder einer anderen Religionsgemeinschaft angehören. Grundsätzlich gelten aber der Anspruch und die Bereitschaft, auf die religiösen Bedürfnisse und Fragen von Klienten einzugehen. Wie sehr dies dann auch realisiert wird, hängt freilich davon ab, ob Mitarbeitende ein Gespür für diese religiösen Bedürfnisse haben und selbst bereit sind sich auf religiöse Kommunikation einzulassen. Insgesamt macht sich auch in der Diakonie der seit Jahrzehnten schleichende Prozess der Säkularisierung bemerkbar. 2.3 Sozialpolitisch und gesellschaftsdiakonisch

Zum Selbstverständnis der Diakonie gehört es, öffentlich für benachteiligte Menschen Partei zu ergreifen und auf gesellschaftliche Missstände hinzuweisen. Besonders deutlich und nötig war dies in jüngster Vergangenheit angesichts der Diskussion um die Flüchtlingspolitik und angesichts rechtspopulistischer Tendenzen. In den entsprechenden Stellungnahmen, aber auch im Gespräch mit der Politik, wird die eigene Position auf Basis des christlichen Menschenbildes begründet. Eine zentrale Rolle spielt dabei der Begriff der Menschenwürde. Hier 16

Vergleiche dazu das Projekt Seelsorge im Alter unter www.seelsorge-im-alter.de (zuletzt geprüft am 18.02.2019). 17 Etwa im Rahmen des bundesweiten Projektes »Existenzielle Kommunikation« oder dem württembergischen Projekt »Seelsorge im Alter«. Vgl. dazu Diakonisches Werk der EKD Johannes Stockmeier / Astrid Giebel / Heike Lubatsch (Hg.), Geistesgegenwärtig pflegen, Band 1, Neukirchen-Vluyn 2012 und Band 2, Neukirchen-Vluyn 2013.

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wenden wir uns als Diakonie gegen gesellschaftliche Tendenzen, die Würde eines Menschen von bestimmten Fähigkeiten abhängig zu machen. Dies zeigte sich in besonderer Weise bei der Diskussion um die aktive Sterbehilfe. Der theologische Ausschuss des Verbandsrates hat in der württembergischen Diakonie dazu ein Diskussionspapier vorgelegt, das bewusst theologisch argumentiert, z. B. im Blick auf ein christliches Verständnis menschlichen Leidens.18 Ähnlich wird argumentiert, wenn es um die Forderung nach einer menschenwürdigen Pflege und um entsprechende gesetzliche Rahmenbedingungen geht. Entsprechend vertritt die Diakonie ein weites Inklusionsverständnis, das auf gesellschaftliche Teilhabe aller Menschen zielt, die an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden.19 Regelmäßig bietet die Woche der Diakonie und die Woche für das Leben zahlreiche Gelegenheiten zur öffentlichen Positionierung bei aktuellen gesellschaftlichen Fragestellungen.20 Dies geschieht in enger Kooperation mit Landeskirche, Kirchenbezirken und Gemeinden und beinhaltet deshalb auch entsprechende Gottesdienste. Auch im Rahmen des Reformationsjubiläums engagieren wir uns als Diakonie, weil dadurch nach innen und außen die Grundlage der eigenen diakonischen Praxis deutlich wird.21

3 Chancen und Grenzen der Milieuperspektive für die Kommunikation des Evangeliums in der Diakonie 3.1 Zur Rezeption der Milieuperspektive in der Diakonie

Wichtige Anregungen zum Mehrwert der Milieuperspektive für die diakonische Arbeit haben Claudia Schulz, Eberhard Hauschildt und Eike Kohler 2010 in einem Sammelband vorgelegt.22 Hier wird die Milieuperspektive sehr behutsam und differenziert für die unterschiedlichen Themen und Arbeitsfelder der Diakonie fruchtbar gemacht. Vereinfachende Zuschreibungen werden bewusst vermieden. Die Milieuperspektive dient vielmehr der Wahrnehmung und Reflexion der Interaktion von Mitarbeitenden und Klienten. Wie sehr dieser Sammelband im Bereich der Ausbildung und der diakonischen Fort- und Weiterbildung rezipiert wird, lässt sich nur schwer beurteilen.

18

p105796.mittwaldserver.info/fileadmin/Medien/Pdf/Vor2015_Diskussionsbeitrag_assistier ter_Suizid.pdf (zuletzt geprüft am 18.02.2019). 19 www.aktionsplan-inklusion-leben.de/kshfjqu/wp-content/uploads/2017/01/Ink_02-Kontu renpapier-schwere-Sprache.pdf (zuletzt geprüft am 18.02.2019). 20 www.diakonie-wuerttemberg.de/aktionen-spenden/woche-der-diakonie und www.wochefuer-das-leben.de (zuletzt geprüft am 18.02.19). 21 Vgl. www.reformation-wuerttemberg.de/fileadmin/mediapool/gemeinden/E_reformation_ wuertt/PDFs/Banzhaf_Reformation_Diakonische_Impulse.pdf (zuletzt geprüft am 18.02.2019). 22 Claudia Schulz / Eberhard Hauschildt / Eike Kohler, Milieus Praktisch 2. Konkretionen für helfendes Handeln in Kirche und Diakonie, Göttingen 2010.

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Die SINUS-Milieu-Studien werden vor allem im Bereich der Nachwuchsgewinnung und in der Jugendhilfe aufgegriffen. Auf die große SINUS-Studie der württembergischen Landeskirche im Jahr 2012 hat die Diakonie mit einer Stellungnahme reagiert.23 Hingewiesen wurde auf die milieuübergreifende Wertschätzung diakonischer Arbeit, dass Diakonie gerade auch kirchenfremde Milieus erreiche und bewusst das Miteinander der unterschiedlichen Milieus fördere. 3.2 Das Potenzial der Milieuperspektive für die diakonische Arbeit

Neben den vielen Hinweisen und Anregungen im genannten Sammelband von Schulz/Hauschildt/Kohler möchte ich fünf Felder skizzieren, in denen ich eine stärkere Einbeziehung der Milieuperspektive für sinnvoll erachte: 1. Im Kontext der Pflege: Um alten und pflegebedürftigen Menschen angemessen zu begegnen, ist die Kenntnis ihrer Prägung, ihres Lebensstils, ihrer Gewohnheiten usw. überaus hilfreich. Insbesondere gilt dies im Bereich der Demenz und der damit verbundenen Biografiearbeit. Generell ist davon auszugehen, dass der eigene Umgang mit dem Älterwerden und zunehmenden gesundheitlichen Problemen in den jeweiligen Milieus sehr unterschiedlich aussieht. Die arrivierten Milieus können dabei auf deutlich mehr Ressourcen zurückgreifen, um ihren Lebensabend aktiv zu gestalten. Im 7. Altenbericht der Bundesregierung wird wie schon in früheren Berichten auf die großen sozioökonomischen Unterschiede bei alten Menschen hingewiesen. Dabei ist von unterschiedlichen Lebenslagen, sozialen Schichten und kulturellen Milieus die Rede. Bei alten Menschen gibt es große milieuspezifische Unterschiede was die eigene gesundheitliche Situation und die damit verbundene Lebenserwartung betrifft, aber auch hinsichtlich der Fähigkeit und Bereitschaft, zur eigenen Gesunderhaltung beizutragen. Gerade weil Quartiersentwicklung und neue Formen einer geteilten Sorgeverantwortung an Bedeutung gewinnen, könnte eine stärkere Einbeziehung der Milieuperspektive hilfreich sein, um die sozialen Ressourcen und Potenziale vor Ort besser zu erkennen und spezifische Handlungsstrategien zu entwickeln. Auch hier muss es im Kern darum gehen, die Teilhabemöglichkeiten alter und hilfebedürftiger Menschen zu verbessern. Dies wird nur gelingen, wenn generationen- und milieuübergreifende Ansätze konsequent verfolgt werden. 2. Im Kontext der aufsuchenden Hilfen: Menschen in ihrer Häuslichkeit zu begegnen, eröffnet einen ganz besonderen Zugang zu ihnen und hilft, ihre jeweiligen Besonderheiten zu verstehen. Mit der »Milieubrille« lassen sich allein anhand der Wohnungseinrichtung wichtige Hinweise auf die spezifische Le-

23

www.diakonissenring.de/news/28-11-2012-diakonie-findet-breite-unterstuetzung-bei-evan gelischen-christen (zuletzt geprüft am 18.02.2019). Die Diakonie war weder bei der Konzipierung noch bei der Auswertung der Ergebnisse beteiligt und hat sich zu einigen der Schlussfolgerungen der Studie kritisch geäußert.

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benssituation und das Lebensgefühl eines Menschen gewinnen. Auch die Wahrnehmung religiöser Symbole kann hier sehr aufschlussreich sein.24 3. Im Kontext der Gemeindediakonie: Eine auf dem Hintergrund des demografischen Wandels zentrale Frage ist, welche Rolle die Kirchengemeinden bei Prozessen der Quartiersentwicklung, bzw. im Sozialraum, spielen können und wollen. Auf Basis des christlichen Menschenbildes setzen sich eine wachsende Zahl von Gemeinden für möglichst viele Teilhabechancen für alle Menschen ein, sie wenden sich in besonderer Weise denen zu, die am Rande stehen, und sie bieten im Zusammenhang von Gemeinschaftsangeboten existenzielle Kommunikation und Seelsorge an. Angesichts der faktischen Milieuverengung in vielen Gemeinden verbinden sich gemeindediakonische Aktivitäten auch mit einer wachsenden Milieusensibilität und Bereitschaft, sich auf Menschen aus anderen Milieus einzulassen. 4. Im Blick auf das ehrenamtliche Engagement: Schon länger wird die Milieuperspektive für die Forschung und Förderung des bürgerschaftlichen Engagements fruchtbar gemacht.25 Das Interesse am Engagement, die Art und der Umfang des Engagements sind milieuspezifisch ausgeprägt. Ein hoher Anteil des Engagements geschieht innerhalb des eigenen Milieus und dient der Geselligkeit oder der Organisation von Freizeitaktivitäten. Gleichzeitig zeigt das Engagement im Bereich der Flüchtlingsarbeit die große Bereitschaft vieler Menschen aus den bürgerlichen Milieus, die eigenen Milieugrenzen zu überschreiten und den eigenen Horizont zu weiten. Gerade weil bei der Gewinnung und Begleitung ehrenamtlich Engagierter die Frage nach dem Wozu und Wie des eigenen Engagements eine große Rolle spielt, kommen dabei auch die weltanschaulichen Voraussetzungen zur Sprache. Bei der notwendigen Reflexion der eigenen Erfahrungen insbesondere im sozialen Bereich hilft die Milieuperspektive zu einem verständnisvollen Umgang mit anders geprägten Menschen. 5. Im Blick auf die zunehmende Vielfalt der Mitarbeitenden: Hier kann die Milieuperspektive helfen, die Schwierigkeiten im Umgang miteinander besser zu verstehen. Gerade im Blick auf eine Stärkung der diakonischen Identität und Kultur hilft die Milieuperspektive dabei, angemessene Formen zu entwickeln, die niemanden überfordern. Diskutiert werden kann z. B. die Frage, was es bedeutet, wenn Leitungskräfte, die mehrheitlich dem sozial-ökologischen Milieu zugeordnet werden können, für immer mehr Mitarbeitende aus tendenziell bildungsärmeren Milieus zuständig sind. Insgesamt kann das Zusammenspiel verschiedener Milieus in der Diakonie gesellschaftlich wirksamen Selbstabschließungstendenzen der unterschiedlichen Milieus entgegenwirken. 24

Eine Klasse von Auszubildenden der Altenpflege hat sich im Rahmen eines Projektes mit verschiedenen Kreuzen beschäftigt, die sie in ihrem jeweiligen Pflegeheim entdeckt haben. Daraus ergaben sich zahlreiche intensive und persönliche Gespräche, die gerade für die religiös mitunter sehr unmusikalischen Auszubildenden sehr eindrücklich waren. 25 Jörg Ueltzhöffer, Lebenswelt und bürgerschaftliches Engagement. Soziale Milieus in der Bürgergesellschaft; Ergebnisse einer sozialempirischen Repräsentativerhebung in der Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart 2000.

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3.3 Grenzen der Milieuperspektive

Insbesondere bei den SINUS-Milieu-Studien muss man um deren Ursprung im Bereich des Marketings wissen. Es geht dabei um eine optimierte Kundenorientierung und darum, ein bestimmtes Produkt, eine Botschaft oder eine Dienstleistung optimal an den Mann oder die Frau zu bringen. Das ist legitim und deshalb auch für diakonische Träger, die sich am Markt behaupten müssen, eine Option. Die Gefahr ist allerdings, dass sich dadurch vorgenommene Zuschreibungen verfestigen. Die Milieuperspektive hilft dabei, zu verstehen, warum bestimmte Menschen so sind wie sie sind. Sie kann insbesondere durch die Fortschreibung der SINUS-Milieus auch sehr gut gesellschaftliche Veränderungen beschreiben. Sie kann aber nicht die Frage beantworten, wie sich die Lebenssituation von Menschen verbessern lässt und wie gesellschaftliche Teilhabe für möglichst viele Menschen realisiert werden kann. Sie beschreibt das, was Menschen unterschiedlicher Milieus voneinander trennt und Menschen aus demselben Milieu miteinander verbindet. Sie hilft aber wenig dabei, dass Menschen milieuübergreifend Ideen entwickeln und umsetzen, um ihren Sozialraum lebensfreundlicher zu machen. Claudia Schulz, Eberhard Hauschildt und Eike Kohler weisen nicht umsonst in ihrem Sammelband darauf hin, dass die Milieuperspektive dabei helfen muss, den anderen nicht als Objekt einer Dienstleistung, sondern im Sinne des Empowerment als Subjekt seiner Lebensgeschichte zu sehen und zu unterstützen. Große Schwierigkeiten haben wir in der Diakonie mit dem Konstrukt eines prekären Milieus. Wie etwa lässt sich ein Professor zuordnen, der an Demenz leidet? Oder wie ein ehemaliger Manager, der durch Scheidung, Sucht oder chronische Erkrankung nicht mehr am Arbeitsleben teilhaben kann? Die Frage ist deshalb, ob die Milieuperspektive tatsächlich hilft die Besonderheit eines Menschen in seiner spezifischen Lebenssituation zu erfassen. Aus demselben Grund muss die Milieuperspektive dringend durch eine interkulturelle und interreligiöse Perspektive ergänzt werden. Glaubwürdige Kommunikation des Evangeliums lebt davon, dass sie dem anderen respektvoll in seiner Lebenswelt und in seiner spezifischen Lebenssituation begegnet. Diese Offenheit und Unvoreingenommenheit ist Voraussetzung für eine vertrauensvolle Beziehung, in der dann auch der eigene Glaube zur Sprache kommen kann. Deshalb gilt es, die Milieuperspektive so einzubeziehen, dass sie die Besonderheit des anderen in seiner Geschöpflichkeit und individuellen Lebensgeschichte sichtbar macht.

Die diakonische Kommunikation des Evangeliums Heinzpeter Hempelmann Wenn wir hier von diakonischer Kommunikation des Evangeliums sprechen, verstehen wir »diakonisch« in einem semantisch weiteren Sinn als jede Art von Zuwendung, Hilfe, Beratung individueller und institutioneller Art im Auftrag des dreieinigen Gottes. Diakonie als dienende Zuwendung ist exemplarischer Ausdruck des christlichen Liebesethos, wie es in der Inkarnation Jesu Christi sein Vorbild und seine Grundlage hat. Gerade diese konkrete Zuwendung Gottes und Adressierung an uns Menschen gebietet es aber, sich konkret zu verhalten. Das bedeutet: in den Blick zu nehmen, mit wem ich es zu tun habe; zu fragen, wie ich in einer bestimmten lebensweltlichen Lage konkret helfen kann; es heißt im Extrem: mit dieser Lebenslage – wenigstens ein Stück weit – zusammenzuwachsen (lat. concresci). Sonst besteht die Gefahr, ein diakonisches Konzept überzustülpen; auf Herausforderungen zu reagieren, die wohl wir sehen, die aber nicht den Kern des Problems treffen; Fragen zu beantworten, die wohl wir haben, aber nicht die, denen wir helfen wollen. Insofern ist Milieusensibilisierung und Milieudifferenzierung geradezu ein Ausdruck und Implikat von diakonischer Zuwendung. Sie gelingt nur in der Zu-wendung zu den Menschen in ihren spezifischen Lebenslagen. Den verschiedenen Milieus dienen wir dann in sehr unterschiedlicher Weise. Diakonische Kommunikation kommt unter einem Doppelaspekt zur Sprache: Schwerpunktmäßig gehen wir (a) darauf ein, wie Menschen im jeweiligen Milieu es empfinden, zum Gegenstand diakonischen Handelns zu werden. Unter diesem ersten Aspekt geht es also um die Erfahrung diakonischen Handelns. Mehr am Rande berücksichtigen wir die Frage, ob und wie Menschen, die wir den jeweiligen Lebenswelten zuordnen, bereit sind, diakonisch aktiv zu werden. Der zweite Aspekt behandelt also (b) die Frage, in welchem Umfang und in welcher Weise wir aus der lebensweltlichen Perspektive mit diakonischem Engagement rechnen können; inwiefern Menschen darauf ansprechbar sind. KET: (a) Erfahrung der Hilflosigkeit hat etwas tief Demütigendes, vor allem für Angehörige des Konservativ-Etablierten Milieus. Die eigene Lebensweltlogik wird dadurch in Frage gestellt und die eigene Identität tangiert. Das Selbstbewusstsein war ein Leben lang: Ich bin etwas Besonderes, Herausgehobenes; man kann, darf und soll mich sehen. Nun bin ich jemand, der sich in seiner Hilflosigkeit und Bedürftigkeit am liebsten verstecken möchte. Daraus resultiert – etwa im Krankheitsfall – eine besondere Verletzlichkeit, auch Sensibilität. Ich möchte meine Schwäche, meine Krankheit, meine Behinderung am liebsten verstecken. Ich schäme mich dieser Einschränkungen und der Hilfsbedürftigkeit, die sich daraus ergibt.

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Diakonisches Handeln wird auf dieses Selbstverständnis mit Respekt und Achtung reagieren. Man wird sich mental auf Verzerrungen beim Klienten einstellen, etwa mit einer Abwehrhaltung, die aber letztlich nicht dem gilt, der hilft, sondern dem Sachverhalt, dass man überhaupt hilflos ist. Die Zuwendung wird deutlich machen, dass Hilfsbedürftigkeit nicht Würdelosigkeit bedeutet, und sie wird bereit sein, Kompensationsleistungen, mit denen sich Personen aus dem Konservativ-Etablierten Milieu zu entlasten suchen, richtig einzuschätzen. Wie der ( ) PRE will der KET etwas »zurückgeben«. (b) Diakonisches Engagement zeigen Angehörige des Konservativ-Etablierten Milieus, indem sie als Mäzene für bestimmte Projekte auftreten oder diakonische Einrichtungen sponsern. Sie sind es gewohnt und rechnen damit, sich auf ein entsprechendes monetäres oder repräsentatives Engagement ansprechen zu lassen, vorzugsweise im Bereich alter, kranker und behinderter Menschen. LIB/SÖK: (a) LIB und SÖK sind besonders gut informiert; sie wissen sich zu helfen, – im Normalfall, nur eben jetzt nicht. Diakonisches Handeln wird die kognitive Ebene ernst nehmen. Liberal-Intellektuelle und Sozial-Ökologische wollen verstehen, begreifen und auf dieser Basis mitbestimmen. Wichtig ist es hier in besonderer Weise, zu erklären, was man tut und warum man es tut. Diakonisches Handeln gibt so die Möglichkeit, kognitiv teilzuhaben und vermittelt in einer hilfsbedürftigen Lage das Gefühl weitestgehender Mitbestimmung. Zuwendung hat es mit Menschen zu tun, für die es der höchste Wert ist, sich selbst zu bestimmen. Jetzt sind sie in einer Situation, in der das – etwa durch Krankheit – nicht mehr (so) möglich ist. Das verunsichert stark. Das Sozial-Ökologische Milieu hat eine besondere Sensibilität für Behinderung und ist für andere wie für sich bestrebt um Teilhabe und Inklusion. Christliche Diakonie kann aber diesen Selbstbestimmungswillen in mehrfacher Weise ernstnehmen und achten: etwa durch gründliche Informationen, die Bereitschaft zur Diskussion und das Anbieten von – wenn auch nur beschränkten – Optionen, zwischen denen der/die Betroffene wählen kann. Diakonische Zuwendung wird helfen wollen, Scheitern und Zerbruch (gesundheitlich, materiell, beziehungsmäßig) mit Gottes Hilfe als Teil der eigenen Identität annehmen. Personen, die wir diesen beiden Milieus zuordnen, stellen leicht und schnell infrage. Ihre »Kritik« ist nicht destruktiv gemeint, sondern dient der Klärung und ist Mittel eigener Selbstbestimmung. Kirchliche Diakonie wird darum diese Kritik richtig »verstehen« und nicht als Abwehr missverstehen. (b) Soziales Engagement und die Förderung von Autonomie und Selbstverwirklichung gehören zum Selbstbild der Liberal-Intellektuellen und den von ihnen aktiv verfolgten Anliegen. Sie werden dann bereit sein, sich trotz knapper Zeitressourcen diakonisch zu engagieren, wenn sie ihre spezifischen Kompetenzen einbringen können. Dazu gehört das Netzwerken, Initiativ-Werden, Projektieren bei diakonischen Herausforderungen, aber auch die eigene Fachkompetenz. KET und SÖK lassen sich durch Fundraising auf die Unterstützung von diakonischer Hilfeleistung ansprechen, erwarten aber vor allem Informationen, Gründe und Transparenz.

Die diakonische Kommunikation des Evangeliums

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Sozial-Ökologische zeigen mit die größte Bereitschaft zum Engagement. Man muss sie nicht zum Jagen tragen. Sie werden eher erwarten, dass sich Kirche und Diakonie für die von ihnen formulierten Herausforderungen einsetzt. Diakonisches Engagement ist da naheliegend, wo es den Anliegen des Milieus entspricht. PER: (a) Die ihnen angeborene »Bewegungsenergie« kann synergetisch in den diakonischen Prozess eingebaut werden. Sie werden alles tun, um aus ihrer sie einschränkenden Lage heraus zu kommen, etwa bei einer Reha oder bei Privatinsolvenzen etc. Für Angehörige des Performer-Milieus gilt in herausgehobener Weise, dass sie selbst Subjekte sein wollen und ihr Leben selbst bestimmen und gestalten möchten. Die momentane Hilflosigkeit bedeutet eine besonders massive Infragestellung ihres Selbstbildes. Schwach, kraftlos, behindert sind höchstens die anderen. Die Diskrepanz zwischen Realität und Selbstbild kann überfordern, aggressiv machen und verstören. Es kann darum auch sein, dass Kommunikation des Evangeliums in diesem Milieu bedeutet, den Zerbruch des eigenen Bildes vom alles meisternden Menschen von der Zusage der Liebe Gottes und ihrer Wertschöpfung her zu begleiten und in einem mühsamen Prozess ein Umdenken zu ermöglichen. Der dreieinige Gott ist den Armen/Schwachen/Hilflosen: denen, die nicht aus eigener Kraft leben können, besonders nahe. Wir sind nicht immer stark, und wir müssen es auch nicht sein. Das zu lernen, konkret zu realisieren und anzunehmen, kann freilich einen längeren Prozess bedeuten, für den Performer womöglich mehr Zeit brauchen als die meisten anderen. Kommunikation des Evangeliums kann bedeuten, zu helfen, die neue Lage als Herausforderung zu begreifen und das eigene Leben auch unter veränderten Bedingungen neu zu gestalten. Ich sitze im Rollstuhl, aber mit Gottes Hilfe hindert mich das nicht daran, erfolgreich zu sein. Die besondere Leistung (!) wäre es dann, unter diesen besonders schwierigen Bedingungen zu performen und zu zeigen, was mit Gottes Hilfe möglich ist. (b) Performer wollen die Welt gestalten; viele sind bereit, sich dafür einzusetzen, sie zu einem besseren Ort zu machen. Dafür müssen aber die Rahmenbedingungen stimmen. Sie sind bereit zu Engagement für die Diakonie, wo sie verantwortlich und mit den entsprechenden Freiräumen an Projekten mitarbeiten können. Prozessmoderation und Beratung sind zusätzliche mögliche Aufgabenfelder. EPE: (a) Auf Zuwendung und Hilfe anderer angewiesen zu sein, ist für sie ungewohnt und im Regelfall unangenehm. Von ihrer Lebensweltlogik her ergibt sich aber auch hier ein Schlüssel. Für sie kann Hilfsbedürftigkeit eine neue Grenzerfahrung sein. Sich nicht bewegen zu können, an einen Ort gebunden zu sein, Verantwortung zu delegieren, von anderen abhängig zu sein, sich auf Regeln einlassen zu müssen – all das sind neue Erfahrungen für Hyperindividualisten. Sie können sich ihrer Lebensweltlogik entsprechend herausgefordert sehen, ihre Ich-Bildung weiter zu treiben und ihre Identität zu verändern, indem sie – etwa auch bei längerfristigen Einschränkungen – diese als Teil ihrer Persönlich-

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keit integrieren und sich auf sie einzustellen lernen. Der Schlüssel ergibt sich hier über das Angebot einer Horizonterweiterung. Diakonische Zuwendung kann zu einem vertieften Begriff von Erfahrung, zu einer Erfahrung mit Erfahrung helfen. Kommunikation des Evangeliums hilft dann dazu, die Beeinträchtigungen und Schwierigkeiten als etwas zu verstehen, durch das hindurch sich mit Gottes Hilfe ganz neue Seiten von Persönlichkeit ausbilden können und die eigene Identität überschritten werden kann. (b) Expeditive sind Meister der Selbstbeobachtung. Krisen können – natürlich sensibel – angesprochen werden; Probleme müssen nicht versteckt werden. Diakonische Zuwendung ist dann hilfreich, wenn sie deren Bewältigung als Momente des Selbstdesigns zu begreifen hilft. Ehrenamtliche Mitarbeit ist grundsätzlich vorstellbar, auch im diakonischen Bereich, aber nicht in verkrusteten, einengenden, wenig effizienten Strukturen. Diakonisches Engagement ist für Expeditive da interessant, wo sie sich mit sich selbst auseinandersetzen, ihren Horizont erweitern und sich womöglich weiterbilden können. BÜM: (a) Für BÜM sind familiäre Fragen von zentraler Bedeutung. Diakonisches Handeln setzt hier den Schwerpunkt auf das Ansprechen, Klären und Regeln von Beziehungsfragen und konkreter Versorgung anderer, etwa der Angehörigen. Diakonisches Handeln ist in dieser Lebenswelt ganz ausgesprochen Beziehungshandeln. Es nimmt die relationale Dimension, das Eingebundensein des Betroffenen in ein Netz von Beziehungen, ernst und versucht, hier einen besonderen Akzent zu setzen. (b) Helfen gehört für die BÜM zum Alltag in Familie und vielfach auch Beruf. Grenzen setzen nur die eigenen Zeit- und Kraftressourcen. Angehörige des Milieus sind primär ansprechbar auf familiennahe diakonische Dienstleistungen. Dabei wollen sie konkret tätig werden und sind weniger interessiert an Leitungsaufgaben. BÜM benötigen insofern Hilfe beim Helfen, als sie in Gefahr stehen, sich durch Zuwendung, oft intensiv und über längere Zeit, zu überfordern. ADA: (a) Sie erwarten eine unkomplizierte, unideologische, nicht weltanschaulich aufgeblasene direkte Hilfe. Da sie wenig gewachsene oder tradierte Überzeugungen haben, wie mit Leid, Hilflosigkeit und Verlust umzugehen ist, kann die diakonische Zuwendung diesen Bereich umfassen und gezielt Unsicherheiten aufzufangen suchen. Die Frage, »wie es jetzt weiter geht«, ist für Angehörige des Milieus (wie für die BÜM) typisch. Erwartet und gewünscht sind in erster Linie aber praktische Hilfen. Die christliche Identität dessen, der hilft, muss bei alledem nicht verborgen bleiben, sondern darf deutlich werden. Aus der Gewissheit heraus, dass Christus uns aus der Zukunft entgegenkommt, kann Kommunikation des Evangeliums Hoffnung weitergeben, mit Gewissheiten infizieren, dass es – mit Gottes Hilfe – gut werden kann und dann handfest selbst dazu beitragen. (b) Im Milieuvergleich findet sich unter den Adaptiv-Pragmatischen die geringste Bereitschaft zu einem ehrenamtlichen Engagement, zu sehr ist man

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durch Beruf und Familie in Anspruch genommen. Wer Adaptiv-Pragmatische gewinnen will, muss ihnen diakonische Tätigkeiten anbieten, die ihnen ganz konkret etwas bringen. Schlüssel sind feelgood-Tätigkeiten, am besten im Lebensumfeld. Wichtige Voraussetzungen für diakonisches Engagement sind Optionalität, also wählen können, und Teilhabe, also mitbestimmen können und einbezogen werden. Für Angehörige der Adaptiv-Pragmatischen Lebenswelt gilt es, zu entdecken, welche Bereicherung durch eine Zuwendung und Hilfeleistung zum Nächsten entsteht, die nicht von unmittelbarem persönlichem Nutzen ist. TRA: (a) Sie wollen so lange wie möglich eigenständig bleiben, sind aber alters- und umständebedingt auf Hilfe angewiesen. Sie wollen Beratung, Hilfe, aber eben gerade nicht auf Augenhöhe. Sie denken und empfinden in Hierarchien. Sie kommen zum Fachmann, um Weisung, Trost und Hilfe durch die Autorität zu bekommen, die ihnen natürlicherweise überlegen ist. Mitdenken und Mitbestimmung empfinden sie schnell als Überforderung. Sie erwarten in einem überdurchschnittlichen Maße Tröstung, Vergewisserung, ggf. auch körperlich akzentuierte Zuwendung (die Angehörige des Konservativ-Etablierten oder Liberal-Intellektuellen Milieus schnell als respektlose Distanzlosigkeit empfinden können). Man gehört zu den »einfachen Leuten«, die zwar gerne den gut Gebildeten vertrauen, aber in ihren Fragen und Ängsten auch ernst genommen werden wollen. Gerade weil sich Personen aus dem Traditionellen Milieu eher weniger als andere trauen, Befürchtungen, Ängste, Sorgen, Fragen zu artikulieren, ist es wichtig, sie zu befragen und ihre Äußerungen sensibel zu registrieren. Sie freuen sich in herausgehobener Weise, wenn diakonisches Handeln eine persönliche Beziehung begründet und ein Vertrauensverhältnis ermöglicht. Ständig wechselnde Personen, Orte und Zeiten laufen ihrem Bedürfnis nach Beständigkeit zuwider. Traditionelle werden mehr als alle anderen Milieus erwarten, dass eine kirchliche Diakonie ihnen sich ganzheitlich zuwendet, also nicht nur ihren Körper oder ihre materiellen oder sozialen Verhältnisse betrifft. Es gibt ein ausgesprochenes geistliches Bedürfnis. Wird es durch das Losungsbüchlein, durch Gesangbuchverse und ein Vater Unser angesprochen, ist das für Angehörige des Milieus eine ausgesprochene Hilfe zum Leben, die sie eigentlich von Kirche erwarten. (b) Traditionelle sind grundsätzlich bereit, sich im Rahmen der ihnen gegebenen Möglichkeiten einzusetzen. Dabei kennt man seine Grenzen, möchte nicht »vorne stehen« und auch keine Leitungsaufgaben übernehmen. Diakonisches Engagement werden sie auf Anfrage und Nachfrage zeigen, dabei erwarten, dass man sie konkret einweist. Wichtig sind für die Angehörigen dieses Milieus – mehr noch als für andere – als feed-back Wertschätzung und Anerkennung. PRE: (a) Die prekäre Lebenslage lässt die Angehörigen des Milieus in mehrfacher Weise angewiesen sein auf Hilfeleistungen. Die übliche Zuwendungsund Barmherzigkeitsdiakonie mit ihrem Gefälle vom Helfer zum Objekt des

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diakonischen Handelns widerspricht aber der Lebensweltlogik der Menschen, die wir dem Prekären Milieu zuordnen. Wie die SINUS-Studie Evangelisch in Baden und Württemberg zeigt, kommt sie erstaunlicherweise nicht gut an und hat einen schlechten Ruf.1 In der Kirche herrscht das Selbstverständnis vor, dass man ja genau für das PRE besonders viel tue. Und der Hinweis etwa auf all die Tafel-Institutionen, die es in Deutschland, vor allem in kirchlicher Trägerschaft gibt, ist in der Tat imponierend. Dazu kommen all die anderen Tätigkeiten, mit denen man sich der sozial Schwachen in unserer Gesellschaft annimmt. Das Selbstverständnis der Menschen, die wir dem Prekären Milieu zuordnen, ist aber anders: Sie wissen sich als eigentlich stark. PRE wollen eigentlich stark sein und etwas schaffen; sie wollen etwas gelten und darstellen; sie wollen etwas sein und das auch zeigen; sie wollen »dazu gehören«, darum aufsteigen. Sie wollen eigentlich keine Schwäche zeigen. Eine Top-Down-Diakonie verurteilt sie zu bloß passiven Objekten des zuwendenden Tuns kirchlicher Subjekte. Es hält sie in gewisser Weise sogar in ihrer prekären Lage fest. Wichtig sind darum Formen der Zuwendung, die am Selbstverständnis des PRE anknüpfen: Ich bin stark, ich kann was, ich kann mit-arbeiten. Ein Beispiel ist Mithilfe in den Tafel-Läden und -institutionen. Wichtig wäre es, Waren und Güter nicht einfach kostenlos abzugeben, sondern bezahlen zu lassen (wenn auch natürlich zu einem stark reduzierten Preis). PRE wollen nicht (nur) Gegenstand der Fürsorge anderer sein, sondern selbst etwas sein. Sie wollen nicht nur Objekt sein, sondern in dem ihnen möglichen Maß auch Subjekt, Mit-Arbeiter. Sie wollen nicht nur danken müssen, sondern auch selbst etwas beitragen. (b) Grundsätzlich hilft man gerne. Hilfe für andere ist für Angehörige des Prekären Milieus selbstverständlich. Aber es muss passen und den eigenen, begrenzten, Kompetenzen entsprechen. Angehörige dieser Lebenswelt sind gerne dabei, wenn sie Stärke zeigen können und beweisen können, was in ihnen steckt. Sie legen gerne Hand an und setzen sich gerne da ein, wo es auf Körperkraft oder handwerkliche Geschicklichkeit ankommt. Ein geselliges Umfeld ist für diakonisches Engagement eine Hilfe und wichtiger Motor. HED: (a) Hilfsbedürftigkeit geht hier oft einher mit nicht den Konventionen der bürgerlichen Gesellschaft entsprechenden Verhaltensweisen (Rauchen, Drogen-Konsum, starker Alkoholkonsum). Lebenslagen, in denen man auf die Hilfe anderer angewiesen ist, werden als besonders unangenehm erfahren. Sie machen keinen Spaß und stressen. Krankheit, Behinderung, Armut, kaputte Beziehungen stressen und verhindern den Spaß am Leben. Hier gilt es, als Hilfsperson auf alle Arten moralischer Besserwisserei zu verzichten und sich mit dem Leiden solidarisch zu zeigen. Es ist nicht hilfreich, die eigene bürgerliche Latte anzulegen und zu moralischen Bewertungen zu kommen. Konkrete Hilfestellungen bei den Bedürfnissen und Abhängigkeiten sind 1

Heinzpeter Hempelmann / Karen Hinrichs / Ulrich Heckel / Dan Peter (Hg.), Auf dem Weg zu einer milieusensiblen Kirche. Die SINUS-Studie »Evangelisch in Baden und Württemberg« und ihre Konsequenzen für kirchliche Handlungsfelder (Kirche und Milieu 2), Göttingen 22019.

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eine der wenigen Möglichkeiten der Kommunikation des Evangeliums in dieses Milieu hinein. Zuwendung ist bedingungslos. Sie sollte nicht aufgedrängt, sondern sensibel angeboten werden. Sie hängt nicht davon ab, dass der Betroffene sich auf mein Lebenskonzept einlässt, »damit ich dir helfen kann«. Sie kann aber erwägen, im Konsens Vereinbarungen zu formulieren, die für die Personen der hedonistischen Lebenswelt zu einer Stütze, Leitplanke, Hilfe werden können. (b) Diakonisches Engagement ist eher weniger motiviert durch Interesse an einem abstrakten »Gemeinwohl«. Es ist aber grundsätzlich denkbar, wenn es Spaß macht und Gemeinschaft bietet, darüber hinaus zeitlich begrenzt oder auf ein definiertes Projekt bezogen ist. Hilfestellung und Begleitung, damit man nicht scheitert, sind dann erwünscht. Zuwendung zu anderen Menschen kann eine soziokulturelle Brücke bauen und helfen, Distinktionsschranken abzubauen.

8 Die sinnliche Dimension

Die sinnliche Kommunikation des Evangeliums Martin Reppenhagen Als ich 1996 meine erste Pfarrstelle antrat, brachte ich zur ersten Taufe eine Taufkerze mit. Als ich die Kirche betrat, fing mich einer der Ältesten ab und meinte: »Wir sind hier evangelisch!« Im Laufe des Gesprächs wurde deutlich, dass er die Taufkerze als katholisch und damit als »nicht evangelisch« identifiziert hatte. Sein Widerspruch blieb eine Einzelstimme, sodass recht schnell und gern Taufkerzen in dieser evangelischen Kirchengemeinde eingeführt wurden. Heute käme wohl niemand mehr auf die Idee, bei Taufkerzen die »evangelisch/nicht-katholisch Karte« zu ziehen. Im opus magnum des kanadischen Philosophen Charles Taylor über das säkulare Zeitalter lese ich von »Exkarnation«. Mit »Exkarnation« beschreibt der Katholik Taylor die »stetige Entkörperlichung des spirituellen Lebens, das deshalb immer weniger in bedeutsamen körperlichen Formen vollzogen wird und immer mehr ›im Kopf‹ stattfindet.« Und er fährt fort, »dass das Christentum als Glaube an den fleischgewordenen Gott etwas ihm selbst Wesentliches verleugnet, solange es an exkarnierenden Formen festhält.«1 Im Gegensatz zu einer reinen Verstandesreligion, die den Glauben exkarniert, verweist Taylor auf die leiblichen Praktiken – Zeremonien und Rituale – katholischer Frömmigkeit. Und er verweist auf die »drei Ebenen des sprachlich-kommunikativen Handelns des Menschen«, die da wären: der körperliche Habitus und der Mimikry als erste Ebene, der symbolische Ausdruck in Kunst, Musik, Tanz und Dichtung sowie die Prosa und deskriptive Sprache als dritte Ebene. Nach der cartesianischen Wende haben die ersten beiden Ebenen fast völlig an Bedeutung verloren, während sie gerade in den Frühzeiten der Religion die Hauptausdrucksformen

1

Charles Taylor, Ein säkulares Zeitalter, Frankfurt am Main 2009, 1277.

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von Religion waren. Die Vernunft wurde zum Leitkriterium für religiöses Handeln in Dogma und Ethik.2 So entfaltet Taylor die Geschichte der christlichen Religion als eine Art Drama von Stationen der »Exkarnation«. Die christliche Religion wird »körperlos« und verliert an Tiefe. Religion findet schließlich nur noch im Kopf statt. Das Christentum wird zur Verstandesreligion. »Subtraktionsgeschichte« nennt Taylor das. Die Welt ist entzaubert und ohne Transzendenzbezug – und wenn man so will, die Kirche auch. Die Vernunft regiert die Religion. Leiblichkeit und Gefühl sind dem untergeordnet. »Das Gefühl der Hingabe an eine heilige Pflicht«, wie sie zum Beispiel Ernest Hemingway in Wem die Stunde schlägt benennt, steht unter Verdacht. Dabei fragt man sich schon, ob wir nicht doch Hemingway folgen können und wollen, wenn er schreibt: »[…] das Gefühl der Hingabe an eine heilige Pflicht gegenüber all den Unterdrückten der Welt, ein Gefühl, über das man ebenso ungern redet wie über ein religiöses Erlebnis und das doch genauso echt ist wie das Gefühl, das einen überkommt, wenn man Bach hört oder in der Kathedrale von Chartres oder Léon steht und das Licht durch die großen Fenster hereinfallen sieht.«3

Ich frage mich, welche Bedeutung das Gefühl für den Glauben hat. Als Gemeindepfarrer in einer frommen Gegend war es nicht überraschend, dass etwa drei Viertel der Grundschüler im evangelischen Religionsunterricht das Vaterunser auswendig konnten. zwei Drittel davon hatten es von der Großmutter gelernt; sie hatten es als »Gute-Nacht-Gebet« kennengelernt. Sie haben es als Brücke der Gewissheit zwischen Tag und Nacht kennengelernt; in einer Beziehung der Geborgenheit und Liebe zur Großmutter. Die leibliche Präsenz der Großmutter und das Übergangsritual machten das Gebet zu einem besonderen sinnlichen Erleben. Kommunikation des Evangeliums hatte für diese Grundschüler einen bedeutsamen Ort und war mit positiven Erlebnissen verbunden. Das Gebet war ihnen – wenn man so will – in Fleisch und Blut übergegangen. Das vergisst man so schnell nicht! Man sagt, dass in einer postmodernen Gesellschaft alles auf das Erlebnis hinausläuft. Das »vollkommene Erlebnis« soll zum Schlüsselbegriff des »postmodernen Gottesdienstes« geworden sein. Und wer Videoclips postmoderner Predigten ansieht, wird einer Mischung aus Rede mit künstlerischen Elementen begegnen. Der postmoderne Prediger schreibt keine Predigten, sondern schafft »vollkommene Erlebnisse«.4 Im Gegensatz zur Moderne muss nicht mehr alles erklärt werden, vielmehr geht es um ein mystisches Gotteserlebnis im Gottes-

2

Taylor, Zeitalter, 1277. Ernest Hemingway, Wem die Stunde schlägt, Frankfurt am Main 1993, 276. 4 Vgl. Leonard Sweet, Postmodern Pilgrims. First Century Passion for the 21st Century World, Nashville 2000, 43: »Total Experience is the new watchword in postmodern worship. New World preachers don’t ›write sermons‹. They create total experiences.« 3

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dienst. Die Thomasmessen nehmen u. a. dies auf, wo das Salben mit Öl wichtiges gottesdienstliches Element ist. Ein Blick in die Evangelien zeigt uns, wie Jesus mit den Menschen unterwegs war, wie er mit ihnen aß, sie auf sehr unterschiedliche Weise berührte – man denke nur an sein Speichelwunder – und selbst eine Peitsche flocht – durchaus auch eine sinnliche Erfahrung. Die Apostelgeschichte sowie die Briefe benennen das Brotbrechen als ein wichtiges Merkmal urchristlicher Praxis. Dabei ging es auch um das gemeinsame Essen. Im Folgenden möchte ich aber den Fokus nicht auf Rituale oder Zeremonien legen. Ich möchte versuchen, die Vorstellungen des Katholiken Taylor ins Evangelische zu übersetzen. In diesem Sinne will ich von der congregatio sanctorum als Schlüssel für die Kommunikation des Evangeliums sprechen. Die Versammlung der Gläubigen als einem Ort »leiblich-physische(r) Interaktion«1 kommuniziert sozusagen das Evangelium. Hier wird gemeinsam geglaubt, gelebt, gearbeitet und gefeiert. Hier geschieht mit dem Leitwort Theo Sundermeiers »Konvivenz«. Nicht ohne Grund sind das »Brotbrechen« und die communio wichtige Merkmale christlicher Existenz. Ohne den sichtbaren Ort von Gemeinde, die mit allen Sinnen erlebt wird, ohne eine gemeindliche Sozialform will die Kommunikation des Evangeliums, wenn überhaupt, nur schwerlich gelingen. Mit den Worten des britischen Missionswissenschaftlers Lesslie Newbigin ist die Ortsgemeinde2 die Hermeneutik des Evangeliums. Ohne die Gemeinde kommt es zu keinem Verstehen des Evangeliums und damit auch zu keiner Kommunikation des Evangeliums. Dies will ich mit dem Begriff des Theaters fortführen. So hat Johannes Calvin von der Schöpfung als Theater der Herrlichkeit Gottes gesprochen und nannte den Gottesdienst »das großartige Theater«, in dem Gott herabkommt, um vor den Augen der Welt zu handeln. Mehrfach schreibt er in seiner grundlegenden Institutio vom theatrum gloriae dei. »Die Kirche ist dann auch vor allem durch Gott auserwählt als ›das Theater seiner väterlichen Fürsorge‹. Die Kirche ist ein Theater, wo man Gottes Glorie sehen kann.«3 So verstanden wird die Gemeinde zur Theatergruppe des Evangeliums, indem sie sich vom Evangelium bestimmen lässt und dieses in ihrem Gemeinschaftsleben darstellt. Die Gemeinde wird zum Theater, wo die Welt sieht und erfährt, wie Gottes Liebe immer wieder gespielt wird. Die in der Gemeinde versammelten Christen sind »Nachahmer Gottes« – Imitatoren Gottes (Eph 5,1). Sie feiern Gottes Gegenwart, kommunizieren die Wirklichkeit Gottes und durchkreuzen – wo nötig – falsche Lebensentwürfe.

1

Günter Thomas, 10 Klippen auf dem Reformkurs der Evangelischen Kirche in Deutschland. Oder: Warum die Lösungen die Probleme vergrößern, Evangelische Theologie 67 (2007), 361–387. 2 Gegen Isolde Karle nicht mit der Parochie gleichgesetzt. 3 Peter Opitz, Calvin im Kontext der Schweizer Reformation. Historische und theologische Beiträge zur Calvinforschung, Zürich 2003, 197.

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So sehnt sich Fulbert Steffensky nach »Gemeinschaften mit.«4 Ich paraphrasiere Steffensky: In Aufnahme des missionstheologisch so wichtigen Movens der Inkulturation hat sie ihren bedeutenden und bleibenden Ort für die Kommunikation des Evangeliums. Gleichzeitig gehört zur Inkulturation die Konterkulturation. Eine reine Ausrichtung an der Orientierung der Menschen wird m. E. dem auch Lebensentwürfe durchkreuzenden Charakter des Evangeliums nur bedingt gerecht. »Es wird zu einer rein affirmativen und nichts mehr verändernden Kraft gemacht, die mit einer transformierenden Liebe, wie sie uns von Gott berichtet wird, nichts mehr zu tun hat.«5

Wäre dem so, hätten wir letztlich resigniert. Vielmehr geht es um ein Mehr, das durchaus zuvor gar nicht ge- oder erfragt war. Als Beispiel kann die Frage nach Vergemeinschaftung und Sozialdistanz der modernen Gesellschaft dienen. Eine reine Inkulturation würde auf eine Vergemeinschaftung verzichten. Diesen Ansatz vertritt z. B. Gerald Kretzschmar mit seiner »Theorie der mediatisierten Kommunikation«6. Seines Erachtens darf Kirchenbindung nicht »mit sozialer Nähe und Vergemeinschaftung identifiziert« werden,7 sodass sich Kretzschmar für ein kirchliches »Angebot unaufdringlicher Begleitung« ausspricht.8 Ich sage nicht, dass man die Sozialdistanz moderner Gesellschaften ignorieren solle, da sie sehr wohl vorhanden ist. Eine sich als milieuorientiert und missionarisch verstehende Kirche wird diese Erkenntnis also aufnehmen und berücksichtigen. Dennoch frage ich, ob Gemeinschaft nicht unabdingbar zum Evangelium dazu gehört und hier eine evangelische Provokation in postmodernen Milieus angebracht ist. Meines Erachtens kommt es einer Resignation gleich, wenn in und mit der Kirche nicht mehr »Gemeinschaften entstehen, die etwas wollen«.9 Die empirische Untersuchung des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD zur Taufpraxis kommt u. a. zum Schluss, dass gerade Alleinerziehende über mehr Vergemeinschaftung froh gewesen wären, diese allerdings in aller Regel ausblieb. Von »bedeutungsvoller Indifferenz« in der Taufpraxis ist die Rede. Denn

4

Vgl. Fulbert Steffensky, Gemeinschaften sind die Stärke der Kirche, in: Volker Herrmann (Hg.), Diakonische Existenz im Wandel. »Hephata – öffne dich«, Diakoniewissenschaftliches Institut-Info 39, Heidelberg 2007, 280–293, 286. 5 Gerhard Wegner, Religiöse Kommunikation und Kirchenbindung. Ende des liberalen Paradigmas?, Leipzig 2014, 64. 6 Mit dem aus der Pädagogik stammenden Ansatz wird hier Mittelbarkeit, geringe wechselseitige Rückkopplung, Anonymität und Distanz, hochgradige Selektion und Deutung auf Rezipientenseite verbunden. Vgl. Gerald Kretzschmar, Kirchenbindung. Praktische Theologie der mediatisierten Kommunikation, Göttingen 2007, 91ff. 7 Kretzschmar, Kirchenbindung, 41. 8 Vgl. Kretzschmar, Kirchenbindung, 332. 9 Wegner, Religiöse Kommunikation, 70.

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»je mehr die Kirche den Leuten auf die Pelle rückt, desto eher distanzieren sie sich. Die Stabilität der Volkskirche beruht auf einer Taufpraxis, wie sie ist, und wird durch das tatsächliche Verhalten der Pastoren und Pastorinnen gesichert.«10

Wenn hier also mit Fulbert Steffensky von »Gemeinschaften mit spiritueller Deutlichkeit« oder mit Günter Thomas von »leiblich-physische(r) Interaktion« die Rede ist, hat dies mit sinnlichen Wahrnehmungen und Interaktionen zu tun. Als ein Beispiel dafür kann der Alphakurs benannt werden, bei dem das gemeinsame Essen ein wesentlicher Bestandteil und Ausdruck christliche Gastfreundschaft ist. So hat David Plüss im Rahmen von Konversionsstudien aufgezeigt, wie hier vertikale Konversionen geschehen.11 Eine missionarische und milieuorientierte Kirche wird dies für die Kommunikation des Evangeliums aufnehmen. Ich schließe meinen Beitrag mit einem mir wichtig erscheinenden Punkt. Hendrik Kraemer, auf den die Rede von der Kommunikation des Evangeliums zurückgeführt werden kann, hat ihn betont.12 Er hat den Fokus weg von Kommunikation als traditio (Weitergabe, Vermittlung) hin zu einer Kommunikation zwischen Subjekten gelegt hat. Und gerade hier gilt es, die verschiedenen Ebenen der Kommunikation aufzunehmen. Hier hilft m. E. der Verweis auf die drei Modi der Kommunikation des Evangeliums im Lehren, Feiern und Helfen. Damit kommt der Gemeinde als Resonanzort des Evangeliums sowie in ihrer Leiblichkeit eine oder gar die zentrale Bedeutung für die Kommunikation des Evangeliums zu. Hier ist der Ort, wo Menschen »das Wirken des Geistes in Atmosphären spüren und leiblich erfahren« können, »etwa in Achtsamkeit, Zugewandtheit, Uneigennützigkeit«, wie es Henning Wrogemann in seiner Entfaltung einer missio amoris Dei beschreibt.13

10

Sozialwissenschaftliches Institut der EKD, Ungebrochene Akzeptanz der Taufe bei verheirateten Eltern – Erhebliche Taufunterlassungen bei Alleinerziehenden –Verbesserungsmöglichkeiten beim Taufvollzug. Analysen zum Taufverhalten der evangelischen Bevölkerung in Deutschland, 10–11 (www.siekd.de/wp-content/uploads/2018/06/Ungebrochene_Akzeptanz_ der_Taufe.pdf [zuletzt geprüft am 18.02.2019]). 11 David Plüss, Vertikale Konversion am Beispiel des Alpha-Kurses, in: Christine Lienemann-Perrin / Wolfgang Lienemann (Hg.), Religiöse Grenzüberschreitungen. Studien zu Bekehrung, Konfessions- und Religionswechsel (Studien zur Außereuropäischen Christentumsgeschichte [Asien, Afrika, Lateinamerika] 20), Wiesbaden 2012, 150–165, 151ff. 12 Bei ihm hieß es allerdings »Kommunikation des Glaubens«. Hendrik Kraemer, The Communication of the Christian Faith, Philadelphia 1956. »To speak of ›the communication of the gospel‹ seems to be more appropriate. To distinguish between gospel and faith is important here, because it is the good news of the gospel which is communicated not the Christian faith as such.« 13 Henning Wrogemann, Wie kann ein christliches Glaubenszeugnis gegenüber Muslimen begründet werden? – Missio amoris Dei und die Frage der Anerkennung, Theologische Beiträge 47 (2016), 305–323, 315ff.

Milieus und Musik Marc Calmbach / Heinzpeter Hempelmann Dem Sachverhalt entsprechend unterscheiden sich die Zugangsweisen zu Musik von Lebenswelt zu Lebenswelt. Sie spielt – als Medium (vgl. mediale Dimension) – eine völlig unterschiedliche Rolle: als Mittel der Distinktion, oder als Anlass der Vergemeinschaftung; als Gegenstand der Reflexion; als Tool für das mood management; als Medium sozialer Inklusion oder als Marker von Individualität/Individuation und um neue Wirklichkeiten zu erschließen. Diese verschiedenen Zugangsweisen müssen sich dabei natürlich nicht ausschließen. Sie gelten auch nicht exklusiv für bestimmte Milieus. So kann es sein, dass wir sowohl in prämodern-konservativen Einstellungen wie in postmodern-pluralistischen Einstellungen auf ein ausgeprägtes Abgrenzungsbedürfnis stoßen, oder umgekehrt Menschen in modernen und postmodernen Milieus Musik als Mittel der Vergemeinschaftung erfahren bzw. strategisch einsetzen. Die Musikpräferenzen lassen sich dagegen nicht so eindeutig zuordnen. Wo Musik Mittel der Distinktion ist, also etwa klassische Musik oder (Free) Jazz geliebt wird, ist eine Vorliebe einfacher zuzuordnen. Anders steht es, wenn es zur Mentalität gehört, gerade nicht borniert sein und sich programmatisch offen halten zu wollen (Stichwort: cultural omnivores) und dann tatsächlich mehrere, auch unterschiedliche Formate von Musik zu mögen und zu erschließen. Hier grenzt man sich durch Öffnung ab. Im Folgenden werden lebensweltspezifische Zugangsweisen zu Musik sowie Genrepräferenzen inkl. typischer Beispiele in Form kompakter Milieuprofile dargestellt. KET Zugangsweisen: Der eigene Musikgeschmack ist für viele Ausdruck eines distinguierten Lebensstils. Angestrebt wird dabei eine deutliche Abgrenzung zur Trivialkultur, d. h. zu allem »Kitschigen«, »Schnulzigen« und »Gefühlsduseligen«. KET zählen eher zu den Genre-Puristen, man hält nicht viel von postmodernen Stilfusionen und -brüchen, solange diese nicht von konservativen Legitimationsinstanzen (Feuilletons, Museen etc.) »geadelt« werden. Es herrscht eine große Affinität zu kontemplativem Musikerleben, etwa wenn die Konzerthalle zur Kirche oder das Opernhaus zum Tempel wird.

Musikpräferenzen: Die Hochkulturaffinität ist ausgeprägt, musikalische Vorlieben liegen im Bereich dessen, was sich als »schöngeistig«, »gepflegt« und »bildungsbürgerlich« bezeichnen lässt (ästhetischer Elitarismus). KET finden Gefallen an vokaler und instrumentaler klassischer Musik (Oper, Orchester- und Kammer-Musik), auch Jazz wird gerne gehört, v. a. Jazz-Standards; mit improvisierter Musik (z. B. Free Jazz) tut man sich eher schwer. Aktuelle populäre

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Musik (v. a. Rap/Hip-Hop, Heavy Metal und elektronische Dance-Musik) ist den Milieuangehörigen in der Regel fremd, »Oldies und Goldies« aus der eigenen Jugend hört man aber immer noch gerne. Beispiele − Oper von Richard Wagner – Das Rheingold − Anne-Sophie Mutter – Air aus der Suite Nr. 3 von Johann Sebastian Bach 2008 − Bing Crosby, Louis Armstrong, Frank Sinatra, High Society – Now you have Jazz − Andrea Bocelli – Con te Partiro − Das Phantom der Oper – Ouvertüre − Abba – Waterloo LIB Zugangsweisen: Im Milieu finden sich viele kulturelle Grenzgänger. Ästhetischer Konventionalismus läuft den meisten zuwider, – es darf gerne etwas schräger und experimenteller sein. Musikhören ist eine gleichermaßen wertund anspruchsvolle wie auch unterhaltsame Freizeitbeschäftigung. Musik war bei vielen in der Jugend identitätsstiftend, manche blicken gerne sozialromantisch und nostalgisch auf ihre »wildere Phase« zurück. Der Soundtrack der eigenen Jugend begleitet viele noch immer.

Musikpräferenzen: Man ist offen für ein breites Spektrum an Genres (Rock, Pop, Jazz, Blues, Soul, Funk, Klassik etc.), solange die Musik »Anspruch und Niveau« hat. Man lehnt zwar die Trivialkultur (»Ballermann«, Volksmusik, Schlager) deutlich ab, distanziert sich aber auch vom klassischen HochkulturElitarismus. Selbst die älteren Milieuangehörigen sind immer noch interessiert an aktueller (Live-)Musik. Musik ist generell ein beliebtes Gesprächsthema im Freundeskreis. Man besucht auch noch recht regelmäßig Musikveranstaltungen. Beispiele − Tom Jobim – Girl from Ipanema − George Gershwin – Rhapsody in Blue − Patti Smith –Horses & Hey Joe − Gustav Mahler – Symphony Nº 1 − Bon Iver – 33 »God« − The National – Mistaken for Strangers − Captain Beefheart – Frownland PER Zugangsweisen: Für nicht wenige ist ein kalkuliertes, strategisch-instrumentelles Interesse an Musik charakteristisch: Man möchte in verschiedenen soziokulturellen Kontexten handlungsfähig sein (ernst genommen werden, mitreden können). Der breite Geschmack bietet genau jene Wendigkeit, die für das Bestehen in einer Netzwerkökonomie unerlässlich sind. Viele interessieren sich

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darum auch für von den Feuilletons geadelte Musik – auch als Zeichen der Zugehörigkeit zur kulturellen Elite, meist ist man in dem Bereich zwischen Hochund Breitenkultur zu Hause. Man erhofft sich durch die kulturelle Breite Distinktionsgewinne sowohl gegenüber jenen, die allein auf die Hochkultur fixiert sind, als auch gegenüber den reinen Pop-Konsumenten. Musikpräferenzen: Mit Ausnahme der als belanglos und peinlich verdammten Volksmusik und Schlager gibt es kaum ein Genre, dem man sich verschließt. Der Musikgeschmack ist in der Regel breit gefächert. Performer sind oft kulturelle »Allesfresser«; man ist in der Welt der Sinfonie und Sonate ebenso zu Hause wie der Beats und Breaks. Die Beispiele können dementsprechend keine Musik benennen, die ausgesprochen und exklusiv für PER kennzeichnend wäre. Beispiele − Oliver Koletzki & Fran – Echoes − The Cardigans – I Need Some Fine Wine And You, You Need To Be Nicer − Michael Bublé – Feeling Good − ELBJAZZ Festival im Hamburger Hafen − Paul Kalkbrenner – Sky and Sand EPE Zugangsweisen: Musik ist Soundtrack des urbanen Lebensstils, Taktgeber im Alltag. Wichtig ist die demonstrative Distanz zum Massengeschmack, Musik ist für viele neben Kleidung als zentraler Individualitätsmarker wichtig. Man hört nach eigenem Verständnis v. a. den »guten, seriösen Pop« und nicht den »belanglosen Mainstream« (hier bestenfalls als ironisches »Trash-Statement«). Man bezeichnet darum gern den eigenen Musikgeschmack als progressiv, subkulturell, avantgardistisch. Milieutypisch ist die selbstbewusste Haltung, Teil der Popkulturelite/Pop-Bohemians zu sein. Musikwissen ist ein wichtiges Mittel des Signalisierens kultureller Überlegenheit. Konzertbesuche gehören zu den bevorzugten Freizeitbeschäftigungen, v. a. Festivals (wie. z. B. Fusion, Melt, Haldern, Immergut).

Musikpräferenzen: Besonders ausgeprägt ist das Interesse an subkultureller Musik jeglicher Sparte, man ist immer auf der Suche nach »dem heißen Scheiß«. Man liebt Musik, die sich dem postmodernen »anything goes« verpflichtet (StilMixe, Abkehr von tradierten Genre-Grenzen). Beispiele − Die Antwoord – I fink u freeky − CocoRosie – Gallows − Metronomy – The Look − Tame Impala – Feels like we only go backwards − Pantha Du Prince – You What? Euphoria!

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BÜM Zugangsweisen: In der Bürgerlichen Mitte sucht man keine kulturellen Herausforderungen. Man hält entsprechend großen »Sicherheitsabstand« zu jeglicher Form randständiger Musik. Provozierenden oder gar schockierenden kulturellen Ausdrucksformen steht man verständnislos gegenüber. Man orientiert sich vielmehr am populären Massengeschmack, hat nichts gegen etwas Pathos und gefühliges Angesprochenwerden: Man mag daher insbesondere Stimmungsund Unterhaltungslieder. Musik dient im Wesentlichen der Entspannung. Vielfach wird sie zu Hause »nebenbei« gehört. In Teilen des Milieus gibt es eine Nähe zur popularisierten Hochkultur (z. B. Vanessa Mae), wenngleich kontemplative Rezeption eher selten ist.

Musikpräferenzen: Es besteht eine Vorliebe für deutsche Texte und wohltemperierte Musik. Man mag fröhliche, melodiöse und mitsingbare Popsongs und Schlager der letzten Jahrzehnte bis heute. Typisch ist das Faible für »gehobenen Kitsch« und Liebesschlager à la PUR. Im Milieuvergleich fällt daher die Präferenz für Volksmusik, Schlager, Oldies und Country-Musik am stärksten aus. Beispiele − Sugar Sugar – The Archies − Reinhard Mey – Über den Wolken − Andrea Berg – Du hast mich 1000 Mal belogen − Helene Fischer – Atemlos durch die Nacht − Henry Valentino & Daffi Cramer – Im Wagen vor mir − Pur – Abenteuerland − Der König der Löwen – Der ewige Kreis SÖK Zugangsweisen: Für das sozial-ökologische Milieu typisch ist eine doppelte Abgrenzung: von einem elitären großbürgerlichen Kulturverständnis einerseits und (kleinbürgerlichem) Massengeschmack andererseits. Musik ist Medium der Veränderung und der Emanzipation. Im Milieuvergleich legt man den größten Wert auf sozialkritische Texte. Umgekehrt lehnt man vielfach Musik ohne politische Anliegen als zu flach ab. Viele verabscheuen regelrecht »gleichgeschaltete Chart-Musik ohne Aussage«. Musik wird gerne in der Gemeinschaft gehört, v. a. an Orten, wo steife bürgerliche Konventionen durchbrochen werden (auf alternativen Stadtfesten, im intimen Ambiente von Kulturcafés, kleinen Theatern etc.). Ein Anliegen ist vielfach der Kauf von Musik als Zeichen der Wertschätzung der Künstler, die so unterstützt werden. Für viele gilt, auch als Zeichen des Protestes gegen eine kommerzialisierte Musikindustrie: analog statt digital.

Musikpräferenzen: Man ist sich sicher, einen besonderen Geschmack zu haben. Man sympathisiert mit Kleinkunst, dem Charme des Amateurhaften und Spontanen, ist dabei aber empfindlich gegenüber »Trash« und Kitsch. Eine gewisse

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»Highbrow-Attitüde« ist daher nicht untypisch für viele Milieuvertreter. Es ist vielen wichtig, dass die Musik »handgemacht« ist und die Musiker authentisch sind. Eine allgemeine Aussage über die typische Musik für SÖK ist daher schwierig. Die »Sternchen aus Castingshows« findet man schrecklich. Besonders groß ist das Faible für »alte« und kultige Rockmusik. Auch klassischer Musik und Weltmusik kann man viel abgewinnen. Mit volkstümlicher und elektronischer Musik fangen hingegen nur die wenigsten etwas an. Beispiele − John Lennon – Imagine − Bob Marley – Is this Love − Joy Denalane – Im Ghetto von Soweto − Metallica & San Francisco Symphony Orchestra – Nothing Else Matters − Buena Vista Social Club – Chan Chan − Bob Dylan – Blowin’ in the wind − Joan Baez – We shall overcome ADA Zugangsweisen: Man fühlt sich nicht in der musikalischen Nische zu Hause, sondern besonders dort wohl, wo viele den gleichen Geschmack teilen (Contemporary Hit Radio). Man orientiert sich am breiten Geschmack der Masse – und findet überhaupt nichts Negatives daran. Nichts anfangen kann man mit anstrengender Musik, die entweder nur über ein intellektuelles Musikverstehen zugänglich ist; oder – weil sehr laut – physisch beansprucht oder die einen speziellen lebensweltlichen Zugang benötigt.

Musikpräferenzen: Man steht auf einen Musikmix aus Pop und Rock orientierter Musik der letzten zwei bis drei Jahrzehnte bis zur Gegenwart (»die Hits der 80er und 90er und das Beste der Gegenwart«). Beispiele − Katy Perry – Firework − Die Toten Hosen – Tage wie diese − Carly Rae Jepsen – Call me maybe − Jay Z feat. Alicia Keys – Empire State of Mind − Bon Jovi – Living on a Prayer − Madonna – La Isla Bonita − Die Fantastischen Vier – mfg − Cro – Easy − Taylor Swift – Shake it off TRA Zugangsweisen: Musik hört man in der Regel nebenbei. Sie dient der Entspannung. Musik ist Medium der Erinnerung an vergangene Zeiten. Besonders hoch ist die Affinität zu deutschsprachigen, weniger anspruchsvollen, oftmals auch

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sentimentalen Texten, die an das Harmonie- und Glücksverlangen des Zuhörers appellieren. Musikpräferenzen: Die Affinität für leichte Unterhaltungsmusik (Volksmusik, Schlager, Oldies etc.) ist hier im Milieuvergleich mit Abstand am größten und die Nähe zur zeitgemäßen Popmusik am geringsten. Die hochkulturelle (»klassische«) Musik ist ihnen zu intellektuell. Beispiele − Kastelruther Spatzen – Immer noch − Jürgen Marcus – Eine neue Liebe ist wie ein neues Leben − Stefanie Hertel – So a Stückerl heile Welt − Der Zigeunerbaron – Werberlied − Helene Fischer – Und morgen früh küss ich dich wach PRE Zugangsweisen: Man stößt meist über das Fernsehen auf Musik, eine tiefere Auseinandersetzung mit Musik im Besonderen und Kultur im Allgemeinen findet kaum statt. Musik hat in dieser Lebenswelt am wenigsten Bedeutung als Medium zur Erschließung oder Konstitution einer eigenen Lebenswelt (vielleicht noch am ehesten im Bereich des Rechts-Rocks).

Musikpräferenzen: Besonders deutlich ist die Affinität zur Unterhaltungsmusik (Volksmusik, Schlager), insbesondere wenn sie mit eingängigen und teils bekannten Songstrukturen sofortiges Mitsingen ermöglicht. Beispiele − Jürgen Drews – Wieder alles im Griff − Scooter – Maria − Wencke Myhre – Er hat ein knallrotes Gummiboot − DJ Ötzi – Sweet Caroline − Beatrice Egli – Mein Herz HED − Zugangsweisen: Mit der Hochkultur (den »Schönen Künsten«) fängt man im Hedonistischen Milieus nichts an (zu langweilig, spießig und anstrengend). Sie steht für die verhasste (groß-)bürgerliche Welt und deren Werte und Normen. Folgerichtig ist ihnen auch der kontemplative Rezeptionsmodus äußerst fremd. Musik ist Ventil für die Langeweile des beruflichen Alltags. Über die Musik und in der Musik wird gelebt. Musik ist Medium, das den HED mit den eigenen Leuten (der eigenen Szene) verbindet. Sie ist Sprache und Ausdruck einer eigenen Lebenswelt, die anders als der Mainstream sein will.

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Musikpräferenzen: Sinnvoll ist hier die Unterscheidung der beiden Submilieus: Die HED mit einer konsum-materialistischen Orientierung stehen v. a. auf Musik der aktuellen Charts. Viele – v. a. experimentalistische – HED haben ein deutliches Faible für provokante Künstler und eine schrille Ästhetik. Ihr musikalischer Kosmos fokussiert fast ausschließlich populärkulturelle Genres: Rap / Hip-Hop, Rock, Hardcore/Punk, Pop, Heavy-Metal, Dance & Electronic etc. Dabei stehen die eigenen Interpreten, Gruppen, Künstler im Vordergrund. Textlich behandeln die Songs oft das Leben im Hier und Jetzt, aber auch sozialkritische Themen. Beispiele − Marteria – Kids (2 Finger an den Kopf) − Nirvana – Smells Like Teen Spirit − Casper – Im Ascheregen − Public Enemy feat. Brother Ali – Get Up Stand Up − Broilers – Meine Sache − Napalm Death – Scum

Kommunikation des Evangeliums Eine Schneise durch den Wald Zacharias Shoukry Der Topos »Kommunikation des Evangeliums« (KdE) spielt in der gegenwärtigen Praktischen Theologie eine bedeutende Rolle. Im Folgenden soll anhand einzelner Beispiele die Entwicklung und Bedeutung der Rede von der KdE skizziert werden.

Ursprünge und Wurzeln In der Confessio Augustana (1530) wird im 7. Artikel das Thema in die evangelische Theologie eingepflanzt: »Die kirch aber ist ein versammlung der heiligen, darin das evangelium gepredigt und die sacrament gereicht werden.«1 Diese Idee von der Verkündigung oder Predigt des Evangeliums wurde immer wieder und zunehmend als Engführung wahrgenommen. Friedrich D. E. Schleiermacher (1768–1834) hebt die Wichtigkeit dialogischer Prozesse zwischen Gemeinde und Prediger hervor,2 und Friedrich Niebergall (1866–1932) hält Predigten für defizitär, die an der Lebenswirklichkeit der Menschen vorbeirauschen: »Wir müssen menschlicher reden lernen.«3 Hendrik Kraemer setzt 1956 mit seiner Monografie »The Communication of Christian Faith« einen Akzent auf Kommunikation als die große Aufgabe der christlichen Kirche, wobei für ihn die Verkündigung doch noch im Vordergrund steht.4 Als Klassiker gilt dann das Werk von Ernst Lange. Er bestimmt den Kommunikationsprozess in seiner »Bilanz« 1965 als »prinzipiell dialogisch« und reduziert die KdE nicht auf den sonntäglichen Gottesdienst, sondern bezieht sie auf »das Ganze des Lebens und Arbeitens einer Gemeinde« (z. B. Kasualien samt Vor- und Nacharbeiten, Unterricht, Seelsorge usw.).5 Aus diesen Überlegungen zur KdE ergibt sich eine erste Abgrenzung, nämlich die gegenüber der monologischen Frontal-Verkündigung. Daraus erwächst 1

Irene Dingel u. a. (Hg.), Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche. Quellen und Materialien Band 1: Von den altkirchlichen Symbolen bis zu den Katechismen Martin Luthers, Göttingen 2014, 55. 2 Vgl. z. B.: Friedrich D. E. Schleiermacher, Die praktische Theologie nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche, Berlin 1850, 248. 3 Friedrich Niebergall, Die moderne Predigt. Kulturgeschichtliche und theologische Grundlage. Geschichte und Ertrag, Tübingen 1929, 233. 4 Vgl. Hendrik Kraemer, Die Kommunikation des christlichen Glaubens, Zürich 1958, 21. 5 Ernst Lange, Kirche für die Welt. Aufsätze zur Theorie kirchlichen Handelns, München 1981, 101–102.

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für die Gegenwart eine zweite Abgrenzung, nämlich die gegenüber der Engführung auf die Verbreitung des Evangeliums durch Worte. Diese verbale Dimension der KdE gilt nunmehr als eine von vielen (z. B. die KdE durch Medien, Räume, Taten der Nächstenliebe, persönliche Beziehungen, sinnliche Erfahrungen etwa durch Kunst, Musik usw., die alle im vorliegenden Band reflektiert werden). Während im 20. Jahrhundert eher vereinzelt von der KdE gesprochen wurde,6 ist ab dem 21. Jh. eine Art Boom der Rede über die KdE festzustellen.7 Im Folgenden soll eine Schneise durch den Wald der Publikationen zur KdE geschlagen werden, die im Idealfall weitere Abzweigungen und Wege andeutet, auf denen weitergegangen werden kann.

Papst Johannes Paul II.: »Internet – ein neues Forum zur Verkündigung des Evangeliums« (2002) Papst Johannes Paul II. diskutiert 2002 das Internet als Forum zur Verkündigung des Evangeliums.8 Er verweist auf die Anfänge der Evangeliumsverkündigung, die in den Pfingstereignissen (Apg 2,5–11) und im Missionsbefehl (Mt 28,18–19) zu finden sind. Gesellschaftliche, wirtschaftliche und kulturelle Umbrüche (z. B. Erfindung des Buchdrucks) fordern die Kirche immer wieder dazu heraus, neue Formen der KdE zu entwickeln: In der heutigen Zeit geht es um die Entwicklungen in den Bereichen Kommunikation und Information. Das (damalige) Neuland »Cyberspace« bietet für die Kirche das Abenteuer, das Potenzial des Internets zur KdE zu entdecken. Die Chancen des Internets liegen für ihn u. a. in der Möglichkeit zur Evangeliumsverkündigung, Interessensweckung und Erstbegegnung mit dem Evangelium, Katechese in nicht-christlichen Regionen, Quellensammlung und -aufbereitung der christlichen Tradition und in der Betreuung neuer Gläubigen. Gefahren sieht er u. a. in einem Werteverfall, in der Kurzlebigkeit und in der Aufspaltung der Gesellschaft in besser und schlechter Informierte. Virtuelle KdE sei auch nicht die »wirkliche Welt der christlichen Gemeinschaft«. Gottes6

Vgl. – neben der Spurensuche in Michael Domsgen / Bernd Schröder (Hg.), Kommunikation des Evangeliums. Leitbegriff der Praktischen Theologie, Arbeiten zur Praktischen Theologie 57, Leipzig 2014, 7 – z. B.: Karl F. Müller, Gottesdienst und Öffentlichkeit. Zur Frage der Kommunikation des Evangeliums heute, Lutherische Monatshefte 10. Jahrgang (1971) Nr. 12, 648–654; Karl-Heinrich Bieritz, Kommunikation des Evangeliums oder Reproduktion von Religion?, Verkündigung und Forschung 32. Jahrgang (1987) Heft 2, 48–62. 7 Vgl. neben der im Folgenden aufgeführten Beiträge die exemplarische Auswahl weiter unten bei der weiteren Literatur. 8 Vgl. Papst Johannes Paul II., Internet: ein neues Forum zur Verkündigung des Evangeliums. Botschaft von Papst Johannes Paul II. zum 36. Welttag der sozialen Kommunikationsmittel, Communicatio socialis 35 (2002), 1, 90–93.

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erfahrungen, die allein das liturgisch-sakramentale kirchliche Handeln bieten könne, seien durch das Internet nicht zu ersetzen. Aus meiner Sicht wird hier dem Internet ein bisschen zu wenig zugetraut. Der teilweise anonyme Austausch in den Social Media (z. B. youtube) ermöglicht unbefangeneren Dialog auch über heiklere Themen. Ob seine starke Unterscheidung zwischen »virtuell« und »wirklich« sich immer noch im gegenwärtigen Umgang mit Medien aufrechterhalten lässt, ist zu hinterfragen, weil die vermeintlich virtuelle Welt für viele so alltäglich ist, dass sie nicht von einer vermeintlich wirklichen Welt zu trennen ist. Positiv fällt seine prinzipielle Ermutigung zur Teilnahme an den Social Media auf. Weitsichtig ist sein Hinweis auf die Gefahr, dass durch Reizüberflutung die innere Ruhe verloren gehen kann.

Hans M. Dober: »›Kommunikation des Evangeliums‹. Die verantwortliche Gestaltung des Gottesdienstes nach Ernst Lange (2005) Hans M. Dober thematisiert die KdE in gottesdienstlichen Zusammenhängen.9 Die Spannung der Gottesdienstgestaltung liegt zwischen zwei Extrempolen: Auf der einen Seite kann ein Gottesdienst eine gegenweltliche Situation ohne Alltagsbezüge sein. Auf der anderen Seite kann ein Gottesdienst so stark auf den Alltag bezogen sein, dass er keine gegenweltliche Situation mehr darstellt. Ein ausgewogener Gottesdienst hingegen berücksichtigt die Lebenswelt der Besucher/-innen, ohne die Treue zum Wesen des Gottesdienstes aufzugeben. Alle bringen ihre »Vorvertrautheiten« in den Gottesdienst mit: Was für die einen gewöhnlich ist, kann andere befremden. Die Vorvertrautheiten unterscheiden sich je nach lebensweltlichem Umfeld, also je nach Milieu. Liturgische Gottesdienstgestaltung gilt immer weniger als selbstverständlich, weil die Gesellschaft sich immer weiter ausdifferenziert, pluralisiert und individualisiert. Die Gottesdienstgestaltung muss sich also ebenso ausdifferenzieren, um den Bezug zu den Menschen nicht zu verlieren. Dabei sollen die verschiedenen »Vorvertrautheiten« unterschiedlicher Milieus miteinander ins Gespräch gebracht werden. Der Artikel zeigt, dass eine Gestaltung von Gottesdiensten ohne die Perspektive phänomenologischer Lebensweltanalysen in der Gefahr steht, sich von der Lebenswirklichkeit der zu erreichenden Menschen abzukoppeln. Dieser Verweis bleibt hier aber auf einer eher theoretischen Ebene und es wird nicht deutlich, wie diese Erkenntnis konkret umgesetzt werden kann.

9

Vgl. Hans M. Dober, »Kommunikation des Evangeliums«. Die verantwortliche Gestaltung des Gottesdienstes nach Ernst Lange, in: International journal of practical theology 9 (2005), 2, 252–272.

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Heinzpeter Hempelmann: »Kommunikation des Evangeliums in postmodernen Zeiten« (2007) Heinzpeter Hempelmann diskutiert die weltanschaulich-philosophischen Bedingungen und Herausforderungen, die mit der Aufgabe der KdE im Spannungsfeld zwischen Wahrheitsanspruch und postmodernem Wahrheitspluralismus zusammenhängen.10 Dabei sucht er nach Wegen, das Evangelium nicht in viele Individualwahrheiten aufzulösen, sondern es als eine Wahrheit zur Geltung zu bringen – im Bewusstsein, dass alle solche Versuche hinter der Wahrheit zurückbleiben. Besonders hervorheben möchte ich die Beobachtung der Herausforderung gegenwärtiger KdE, dass verschiedene Denk-Typen parallel zueinander vorzufinden sind. Es ist nicht so, dass die Kirche sich in ihrer Kommunikation und ihrem Wahrheitsverständnis der Postmoderne einfach angleichen müsste, um alle zu erreichen. Denn die Postmoderne zeichnet sich dadurch aus, dass in ihr nicht nur eine postmoderne Basismentalität repräsentiert ist mit einem Wahrheitsverständnis, in dem Wahrheit nur als individuell gültig beurteilt wird, sondern parallel dazu auch noch andere Basismentalitäten vorhanden sind, nämlich die moderne und die prämoderne. Für die moderne Basismentalität gibt es eine Wahrheit, um die es zu ringen gilt. Für die prämoderne gibt es nur eine Wahrheit, die prinzipiell zugänglich und auch gültig ist, ohne hinterfragt zu werden.11 Man könnte nun auf eine Inkompatibilität von Postmoderne (für die Wahrheitsbehauptungen nur Geltungsansprüche sind) und Christentum (das zumindest in seiner (prä-)modernen Form für eine Wahrheit steht) verweisen und daher auf Bemühungen verzichten, postmodern geprägte Menschen mit dem Evangelium zu erreichen. Der Vorteil wäre, sich der Herausforderungen zu entledigen, die KdE unter Postmodernen mit sich bringt. Die Nachteile wiegen für Hempelmann aber schwerer:12 Da prämoderne Anteile in Gesellschaft und Kirche abnehmen und postmoderne zunehmen, würde die Kirche ihre volkskirchliche Dimension noch stärker verlieren, als es ohnehin schon der Fall ist. Ein Verzicht auf KdE unter Postmodernen kann dann nicht mehr dem Anspruch von Mission genügen, die im besten Fall die exklusivierenden, milieuverengenden Tendenzen aufsprengt, um auch diejenigen zu integrieren, die 10

Vgl. Heinzpeter Hempelmann, Kommunikation des Evangeliums in postmodernen Zeiten. Zwischen Fanatismus und Wahrheitsanspruch, Gleichgültigkeit und Toleranz, in: Rechenschaft des Glaubens (2007), 5–38. 11 Vgl. auch Heinzpeter Hempelmann, Prämodern – Modern – Postmodern. Warum ›ticken‹ Menschen so unterschiedlich? Basismentalitäten und ihre Bedeutung für Mission, Gemeindearbeit und Kirchenleitung, Neukirchen-Vluyn 2013. 12 Vgl. zu diesen Punkten und auch zur allgemeinen Vertiefung von KdE in postmodernen Kontexten Heinzpeter Hempelmann, Das Kriterium der Milieusensibilität in Prozessen postmoderner Glaubenskommunikation. Religionsphilosophische, ekklesiologische und institutionelle Gesichtspunkte, in: Matthias Sellmann / Gabriele Wolanski (Hg.), Milieusensible Pastoral. Praxiserfahrungen aus kirchlichen Organisationen, Würzburg 2013, 13–52.

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immer weniger mit herkömmlichen kulturellen kirchlichen Formen etwas anfangen können. Eine Hinwendung zum Glauben, die eine doppelte Bekehrung impliziert – nämlich erst in die Kultur der (Prä-)Moderne, dann in das Christentum –, ist soteriologisch nicht haltbar, da das Evangelium »un-bedingt« zukommen und gelten soll. Wenn also der Verzicht auf KdE in postmodernen Milieus theologisch fatal ist, was wären dann Ansätze, es zumindest zu versuchen? Für postmoderne Kontexte wäre z. B. darauf zu achten, Wahrheit nicht in propositionaler Form einfach zu behaupten, sondern zunächst überhaupt Hoffnung darauf zu machen, dass es Wahrheit geben kann. Postmodernen müsste zuerst aufgezeigt werden, dass und warum es sich überhaupt lohnt, eine Wahrheit anzunehmen. Die bevorzugte Art von Kommunikation wäre nicht die Setzung von Normen, sondern eher die Erzählung von Geschichten, die weniger autoritativ sein und Räume zur Identifikation eröffnen kann. KdE in der heutigen Zeit darf sich also nicht auf eine der drei Basismentalitäten (prämodern, modern, postmodern) beschränken, sondern es muss versucht werden, Menschen jeder Mentalität das Evangelium so zu kommunizieren, dass sie es aufnehmen können.

Uta Pohl-Patalong: »Zwischen Unendlichkeit und klarer Entscheidung. Die Kommunikation des Evangeliums als Ausgangspunkt des Nachdenkens über den Pfarrberuf« (2011) Uta Pohl-Patalong versteht die KdE als Hauptaufgabe des Pfarramts.13 Demnach muss bei allen Tätigkeiten gefragt werden, inwiefern sie Evangelium kommunizieren, andere dazu befähigen oder Rahmenbedingungen dafür schaffen. Hierfür ist eine aufmerksame Wahrnehmung der gemeindlichen und übergemeindlichen Kontexte notwendig. Als Instrumente dieser Wahrnehmung dienen Milieutheorien, deren Ergebnisse aber nicht unreflektiert-hektisch umgesetzt werden sollen, sondern als Hilfe zur Wahrnehmung gedacht sind. Dabei können sowohl Einseitigkeiten als auch Differenzierungsmöglichkeiten der KdE aufgedeckt werden. Milieuanalysen verhelfen zu einem Perspektivwechsel, durch den die Pfarrpersonen ihre Tätigkeit »von außen« reflektieren und neu konzeptionieren können. In diesem Artikel wird auf das Potenzial der Milieutheorien für das Pfarramt verwiesen. Auch hier ist dieser Verweis aber nur beiläufig und wird nicht weiter erläutert.

13

Vgl. Uta Pohl-Patalong, Zwischen Unendlichkeit und klarer Entscheidung. Die Kommunikation des Evangeliums als Ausgangspunkt des Nachdenkens über den Pfarrberuf, Deutsches Pfarrerblatt 111 (2011), 9, 460–465.

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Christian Grethlein: »Kommunikation des Evangeliums« als Leitbegriff für die Praktische Theologie (2015)14 Zum Abschluss soll ein Blick auf denjenigen gerichtet werden, der die zweite Welle der Rede der KdE initiierte.15 Zunächst hat er E. Langes Rede von der KdE kritisiert, weil sie der gegenwärtigen Situation der Gemeinde nicht gerecht werde (1994).16 Ab 2000 ist dann bei ihm eine Wende zur positiven Verwendung von »KdE« festzustellen, auch mit Rückbezügen auf Lange:17 Der theologische Charakter der Praktischen Theologie liegt für ihn darin, dass sie eine Theorie gegenwärtiger Religionspraxis ist, die die KdE fördert.18 Seither prägt die Formel »KdE« auch einige Titel seiner Publikationen, sowohl von Monografien19 als auch von Artikeln20. Grethlein stellt seinen Ansatz explizit in den Kontext der Arbeiten von Wilfried Engemann, Norbert Mette, Richard Osmer und Fritz Lienhard, für die »KdE« als Gegenstand oder Schlüssel der Praktischen Theologie gilt.21 Grethlein definiert Praktische Theologie als Erarbeitung von »Theorien zum Verständnis der gegenwärtigen Kommunikation des Evangeliums.«22 Die Vorteile liegen in diesem Ansatz seiner Meinung nach u. a. darin, dass »Evangelium« präziser ist als »Religion« und »KdE« die praktisch-theologische Forschung nicht auf Kirche als Institution einengt. Der Fokus habe nur in der deutschen Praktischen Theologie auf »Religion« als Leitbegriff gelegen, wäh14

Entlehnt ist dieser Titel aus dem folgenden Aufsatz, der nur ein Beispiel für die Vielfalt von Grethleins Publikationen zum Thema ist: Christian Grethlein, »Religion« oder »Kommunikation des Evangeliums« als Leitbegriff für die Praktische Theologie?, Zeitschrift für Theologie und Kirche 112 (4/2015), 468–489. 15 Als erste Welle gilt die von Ernst Lange in den 60ern angestoßene Phase, die v. a. in den 80ern die Rede von Kommunikation im Zusammenhang mit Praktischer Theologie nach sich zog. Vgl. Michael Domsgen u. a. (Hg.), KdE. 7. 16 Vgl. Christian Grethlein, Gemeindepädagogik, Berlin u. a. 1994, 1. 17 Domsgen/Schröder finden die erste positive Bezugnahme erst 2001 in Grethleins »Grundlagen der Liturgik«; vgl. Michael Domsgen u. a. (Hg.), Kommunikation des Evangeliums, 8. 18 Vgl. Christian Grethlein, Praktische Theologie – eine Standortbestimmung, Theologische Literaturzeitung 125 (Februar/2000), 127–142, hier: 140. 19 Ders., Die Kommunikation des Evangeliums in der Mediengesellschaft, Leipzig 2003; ders., Grundinformation Kasualien. Kommunikation des Evangeliums an Übergängen des Lebens, Göttingen 2007; ders., Kirchentheorie. Kommunikation des Evangeliums im Kontext, Berlin 2018. 20 Ders., Ist die »Messe« der Haupt-, der Predigtgottesdienst ein Nebengottesdienst? Evangelisches Plädoyer für die situationsgemäße liturgische Gestaltung der Kommunikation des Evangeliums, Pastoraltheologie 94 (2005), 480–491; ders., Praktische Theologie als Theorie der Kommunikation des Evangeliums in der Gegenwart, Theologische Literaturzeitung 137 (2012), 623–639; ders., Kommunikation des Evangeliums in »Europa«. Eine praktisch-theologische Bestandsaufnahme, Zeitschrift für Theologie und Kirche 110 (2013), 234–262; ders., Praktische Theologie als Theorie der Kommunikation des Evangeliums in der Gegenwart. Grundlagen und Konsequenzen, International Journal of Practical Theology 18 (2014), 287–304. 21 Vgl. ders., Praktische Theologie, Berlin u. a. 22016, 141. 22 Vgl. ders., Praktische Theologie, 11.

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rend »KdE« von der englisch- und französischsprachigen sowie von der katholischen Praktischen Theologie aufgenommen wurden.23 Der primäre Grund dafür liege darin, dass »Kommunikation« interdisziplinäre Anschlussmöglichkeiten bietet: Seit dem Ende des 20. Jahrhunderts dominiere die Kommunikationsthematik in den wissenschaftlichen Fächern Pädagogik, Soziologie, Medienund Ingenieurswissenschaften und mache darüber hinaus anschlussfähig an die Forschungszweige Nachrichtentechnik, Psychologie, Semiotik, Soziolinguistik, Ritualtheorie usw. Durch den Kommunikationsbegriff gebe es auch Überschneidungen zu jüdischer und islamischer Theologie. Und auch innerhalb der Theologie ergeben sich Anknüpfungspunkte zu anderen Teildisziplinen: Grethlein verweist auf Ingolf Dalferth, der KdE als Leitbegriff der gesamten Theologie in systematisch-theologischer Perspektive fruchtbar machen will (Evangelische Theologie als Interpretationspraxis). Auch zusammen mit der Kirchengeschichte könne die Wirkungsgeschichte der KdE erforscht werden. Als Leistungen des Kommunikationsbegriffs können die folgenden angeführt werden: »Hinwendung zu einer Vielfalt der Kommunikationsmodi; Aufnahme empirischer Einsichten aus nichttheologischen Fächern bis hin zu Technik und Naturwissenschaften (was wohl erstmalig für Praktische Theologie erfolgt); Überwindung der pastoraltheologischen Engführung; Einsichten in die Konstitution von Evangelium durch Kommunikation: Überschreiten des verbalen Bereichs; Distanzierung gegenüber einer religionstheoretischen Grundlegung. Dazu könnte noch treten, dass die bisherige Fokussierung auf das ›Subjekt‹ bzw. das ›Individuum‹, und damit auf empirisch wegen der sozialen Vernetzung nicht vorfindliche Konstrukte, durch die Konzentration auf Beziehungen (›relationship‹) abgelöst wird.«24

Insgesamt lässt sich resümieren: Grethleins Veröffentlichungen – insbesondere seine »Praktische Theologie« – haben maßgeblich dazu beigetragen, dass sich »KdE« zu einem Leitbegriff der gegenwärtigen praktischen Theologie entwickelt hat.25

Fazit Der hier vorgestellte Durchgang deutet die Vielfältigkeit der Themen an, die mit der KdE verbunden werden können. Im Hinblick auf den vorliegenden Band 23 Vgl. hierfür und auch für das Folgende: ders., »Religion« oder »Kommunikation des Evangeliums« als Leitbegriff für die Praktische Theologie?, 477ff. 24 Vgl. ders., »Religion« oder »Kommunikation des Evangeliums« als Leitbegriff für die Praktische Theologie?, 483. 25 Vgl. exemplarisch Michael Domsgen / Bernd Schröder (Hg.), Kommunikation des Evangeliums. Leitbegriff der Praktischen Theologie, Arbeiten zur Praktischen Theologie 57, Leipzig 2014 und Lars Charbonnier, »Der Sinn des Lebens? Ja, das frag ich mich oft ...«. Empirische Einsichten in Dimensionen und Inhalte religiöser Sinndeutungen im Alter und ihre Anschlussfähigkeit an die Kommunikation des Evangeliums, International Journal of Practical Theology 18 (2014), 211–233, hier: 212.

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liegt ein Fokus auf der Frage, ob und inwiefern die Rede von der KdE mit Milieutheorien verknüpft ist. Als Ergebnis lässt sich festhalten, dass höchstens am Rande die Milieuproblematik gestreift wird. Nichtsdestotrotz bietet die Formel »KdE« eine Offenheit für die Milieuthematik. Sie deutet an, dass die Herausforderung darin besteht, das Evangelium in verschiedenen Kommunikationskulturen zu vermitteln. Bestimmte Ansätze, Angebote und Kommunikationsstrategien funktionieren nur in bestimmten Milieus. Kommunikationskompetenz muss also für jedes Milieu neu erlernt werden, um sich einer gelingende KdE anzunähern. Im besten Fall leistet dieser Band einen Beitrag zu diesem Auftrag christlicher Existenz.

Weitere Literatur Jochen Arnold, Das Amt der Kirchenmusik als prophetischer Dienst im Konzert der Ämter bei der Kommunikation des Evangeliums, Pastoraltheologie 104 (2015), 10, 431–446 Karl Baus, Kinder- und Bildungsarmut in Deutschland. Eine Herausforderung an Religionslehrerinnen und Religionslehrer, in: Tobias Kläden / Judith Könemann / Dagmar Stoltmann (Hg.), Kommunikation des Evangeliums. Festschrift für Udo F. Schmälzle, Berlin u. a. 2008 (Theologie und Praxis 35), 159–172. Albrecht Beutel, Kommunikation des Evangeliums. Die Predigt als zentrales theologisches Vermittlungsmedium in der Frühen Neuzeit, in: Irene Dingel (Hg.), Kommunikation und Transfer im Christentum der Frühen Neuzeit, Mainz: von Zabern, 2007 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte, Mainz 74), 3–15. Bernward Bickmann, Schulpastoral – Antrieb zur Weiterentwicklung von Schule, in: Tobias Kläden u. a. (Hg.), Kommunikation des Evangeliums, Berlin 2008, 101–116. Martina Blasberg-Kuhnke, Kommunikation des Evangeliums in der entfalteten Moderne. Pluralität und Profilbildung in der kirchlichen Erwachsenenbildung, in: Tobias Kläden u. a. (Hg.), Kommunikation des Evangeliums, Berlin 2008, 117–126. Giancarlo Collet, Zum christlichen Glaubenszeugnis. Zwischen Unverbindlichkeit und Rechthaberei, in: Tobias Kläden u. a. (Hg.), Kommunikation des Evangeliums, Berlin 2008, 219–230. Michael Domsgen, Kommunikation des Evangeliums – Perspektiven der Lebensbegleitung, in: Bernd Schröder / Michael Domsgen (Hg.), Kommunikation des Evangeliums. Leitbegriff der Praktischen Theologie, Leipzig 2014, 75–86. Wilfried Engemann, Kommunikation des Evangeliums. Anmerkungen zum Stellenwert einer Formel im Diskurs der Praktischen Theologie, in: Schröder/Domsgen (Hg.), Kommunikation des Evangeliums, Leipzig 2014, 15–32. Reinhard Feiter, Franzsikus und sein Gefährte. Eine ekklesiogenetische Überlegung im Anschluss an das elfte Kapitel der Fioretti, in: Tobias Kläden u. a. (Hg.), Kommunikation des Evangeliums, Berlin 2008, 29–48. Lutz Friedrichs, Ein Amt für andere und mit anderen. Pastoraltheologische Impulse der Praktischen Theologie Christian Grethleins, in: Schröder/Domsgen (Hg.), Kommunikation des Evangeliums, Leipzig 2014, 111–126.

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Zacharias Shoukry

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Kommunikation des Evangeliums

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Zacharias Shoukry

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Teil III: Praxis

Tabellen zu den acht Dimensionen entlang der zehn SINUS-Milieus (Heinzpeter Hempelmann, Benjamin Schließer, Corinna Schubert, Patrick Todjeras, Markus Weimar, Zacharias Shoukry) 1 Verbal Milieu KET

Verhältnis zur Sprache/ zum Sprechen • Sprache als Mittel der Selbst-

präsentation • Freude an gewählter Sprache • Sprache als Zeichen und Beleg für hohe Bildung

Merkmale von verbaler Kommunikation • lange, komplizierte, gerne mit Lust ohne Fehler zu Ende gebrachte Satzkonstruktionen • Gebrauch von Wörtern der »Gossensprache« ist tabu, wenig Anglizismen (Denglisch) • Gepflegte Sprache • großer Wortschatz Sprachgestus: distinguiert

LIB

• Das Weltverhältnis wird bewusst, reflektiert und kritisch über Sprache gestaltet • Diskussionen und Diskurse als Mittel der Leitung, der Vertretung eigener Interessen, der Konfliktbereinigung • Sprache als Mittel der Orientierung

• Sprache als zentrales Mittel der Kommunikation • zentrales Kennzeichen: Bemühen um Differenzierung und Kritik an pauschalen Urteilen • sehr großer Wortschatz • Rezeption von neuen Fremdwörtern, wo sie etwas »bedeuten« Sprachgestus: unterscheidend

PER

• instrumentelles Verhältnis zur Sprache • Sprache als Mittel der Weltgestaltung

• Dominanz der Wortfelder Leistung, Effizienz, Technik, Design, Wirtschaft • Designsprache Sprachgestus: aktivitätsorientiert

EPE

• expressives Verhältnis zur Sprache • Sprache als Medium der IchErfahrung

• gezielter Gebrauch von Begriffen aus der eigenen, favorisierten Lebenswelt • größter Anteil von urspr. englischen Begriffen • Schwerpunkt auf Wortfeldern der digitalen Welt, Ich-Erfahrung, Sprachgestus: selbstbezogen/egotaktisch

BÜM

• Sprache als Medium von Bezie- • beziehungsorientierte Sprache mit hung Schwerpunkt auf Familie, Gemeinschaft, Miteinander • Reden wollen wie alle reden und darin nicht auffallen • Aversion gegen abgehobene Sprache Sprachgestus: beziehungsorientiert

284

1 Verbal

SÖK

• kritisches, reflektiertes Verhältnis zur Sprache; »politisch korrekt« • Sprache als Medium von Kritik, Protest, Emanzipation • Kampf um – gerechte – Sprache (»Sprachpolizei«)

• auffallender Gebrauch gegenderter Sprache • Projekt: »Bibel in gerechter Sprache« • Aversion gegen Begriffe aus der Welt der »Ökonomie« Sprachgestus: engagiert-emanzipativ

ADA

• Bemühen um »moderne« Spra- • Dominanz auf Wortfeldern Nutzen, che als Ausdruck einer moderLeistung, Professionalität, Kompenen, nicht altbackenen, praktenz, Beratung, Karriere, Familie tisch orientierten, nicht abge• unkomplizierte, lebensnahe, offene hobenen Lebensweise Redeweise • Aversion gegen als hochkulturell empfundene Ausdrucksweisen Sprachgestus: sachlich-pragmatisch

TRA

• unsere Sprache als unsere Welt • Gerne umgangssprachlich, Dialekt • bewusstes, auch artikuliertes • Hochdeutsch als »fremde Welt«, in »Fremdeln« mit aktuellem der man sich auch, aber weniger Sprachgebrauch gern bewegt • teilw. »veraltete« Redeweisen Sprachgestus: diszipliniert-schlicht

PRE

• Minderwertigkeitsempfinden hinsichtlich verbaler Sprache als Kommunikationsmittel • Körpersprache und verbale Sprache sind wichtig • unbefangenes Reden in der eigenen Gruppe • Unbehagen, wenn die Milieugrenzen überschritten und man vor anderen (»Gebildeten«) reden soll

HED

• Sprache als Kennzeichen der • (mit Absicht) krasse Sprache Zugehörigkeit zu einer Szene • starke Betonung der Beziehungsdimension (»Bruder« für Freund) • Sprache als Mittel der Provokation und als Mittel bewusster • Slang, Szenensprachen, die gar nicht Abgrenzung von anderen verstanden werden sollen Sprachgestus: locker-drastisch

• Unbeholfen, hölzern, wenig selbstbewusster Auftritt • umgangssprachlich, Dialekt • wenig Differenzierungen; schlichte, in Hierarchien denkende Redeweisen (»Chef«, »die da oben«) • wenig Fremdwörter, die, wenn sie vorkommen, manchmal falsch gebraucht werden Erwartung klarer Kommunikation • • Aversion gegen alles, was »nicht deutsch« ist Sprachgestus: deutlich-polarisierend

2 Medial Milieu

Verhältnis zu Medien

Merkmale medialer Kommunikation

KET

• Medien dienen der Selbst-

• Prävalenz der Schriftform und von Print (FAZ und DIE ZEIT, aber nicht Boulevard-Blätter) Telefon für die direkte Kommunikation • Briefverkehr • • Instrumenteller Gebrauch der digitalen Medien (inzwischen durchschnittlicher Gebrauch des WWW und entsprechender Geräte); E-Mail-Account • favorisiert: verbindlich, seriös, dauerhaft, etabliert, bewährt • TV, ausgewählt

darstellung und der Abgrenzung Liebe zu hochkulturellen • Medien: Bücher (am liebsten gebunden), Bibliotheken

LIB

• Medien sind Instrumente

der Information, Orientierung, Leitung und Erziehung • kritisches Verhältnis zu Medien: ideologiekritische Rückfragen nach Interessen, Selektiver Vermittlung, Manipulation

PER

• Medien sind Instrumente,

um zu gestalten und Leistungen zu erstellen wie zu präsentieren

EPE

• Ausdehnung und Erweite-

rung der eigenen Leiblichkeit • Selbstverständlicher, integrierter Umgang mit digitalen Medien • always on

• Das Schriftliche als das Normative • Rede und Gegenrede: Dialog, Diskurs • Zurückhaltender, kritischer Gebrauch des Internets und von Social Media (entsprechender E-mail-Adresse und ggf. FaceBook-Account) • TV, ausgewählt • Radio • favorisiert: aussagekräftig; kritisch, differenziert; mit Diskussion/FeedbackMöglichkeit (Leserbriefe; Diskussionsforen) • Homepage • professioneller Umgang mit dem Internet • Smartphone als zentraler Zugang zur sozialen Wirklichkeit und Arbeitswelt • Zeitungen: digitale newspaper • favorisiert: zugänglich, handhabbar, leistungsfähig, funktional • Schwerpunkt auf digitalen Medien / entsprechenden Geräten • Social Media: Instagram • Blogs/Tagebücher • YouTube-Filme erstellen und hochladen • nahezu kein TV • favorisiert: mobil, leistungsfähig, digital, innovativ, neu, selten

286 BÜM

2 Medial • Medien dienen der Unter-

haltung und Information

SÖK

• • • •

• Medien dienen der eigenen • Agitation und der Kritik • gesellschaftlicher Verhält- • nisse • • Sie werden kritisch auf die • hinter ihnen stehenden In- • teressen und auf Ressour- •

cenverbrauch hin angeschaut ADA

• Medien dienen der Infor-

mation; sie sind vorwiegend analoger Natur • der digital gap trennt TRA weitgehend von den virtuellen Wirklichkeiten

PRE

Flugblätter Unterschriftlisten Papiervermeidung Blogs, Homepages Social Media TV-Konsum zur Information favorisiert: ressourcenschonend; informativ; profiliert; kritisch

• (V. a. digitale) Medien sind • Streamen

selbstverständliche Hilfsmittel bei der Arbeit und Zugänge zu Entertainment

TRA

Tageszeitung TV: Mainstream, Spielfilme Facebook favorisiert: beziehungsbezogen; verständlich; harmonisch; unterhaltsam

• Medien sind teuer: Down-

• • • • •

Downloads Social Media, WhatsApp, Twitter YouTube wenig oder kein TV favorisiert: praktisch, nützlich, günstig, funktionierend

• • • • • • •

Tageszeitung Wochenblatt Gemeindebote Yellow Press Telefon: Festnetz Brief favorisiert: persönlich, lokal, auch berührend

• • • • •

Wochenblatt Prospekte der Supermärkte load- und StreamingDienste kosten regelmäßig Bildzeitung und Boulevardblätter genauso wie Tageszeitunhoher TV-Konsum, v. a. freier Sender gen und Festnetzanschlüshohe Abdeckung mit – vielfach (Prese; Smartphones als Statuspaid-) – Handys symbole sind begehrter • favorisiert: konkret, lokal, emotional, Luxus griffig und greifbar

287

2 Medial

HED

• digitale Medien als Mittel

der Zerstreuung und des Entertainments und als Medium der andauernden Vernetzung mit der eigenen Gruppe

• YouTube als Main-Medium • Smartphone als Medium für das digitale Netzwerk • kaum TV; fast keine Zeitungen; dafür • graphic novels, Comics etc. • Streamen (auch illegal) • favorisiert: zugänglich, brauchbar, mobil, bunt, krass und schrill, provokativ, günstig, bildhaft, nicht wortlastig

Zum Thema Medien vergleiche parallel die Dimension »verbal« (Sprache, S. 283f.).

3 Temporal Milieu

Verständnis/Erlebnis von Zeit

Kennzeichen in der Zeitgestaltung

KET

• strukturiert ablaufende Zeit Höhepunkte: gefüllte Zeit •

• Kirchbesuch zu Gottesdienstzeiten • Veranstaltungen mit exklusivem Ambiente (klassische Konzerte, Oper, Theater, …)

LIB

• geordnete Zeit: strukturiert, geplant • Zeit haben und gewinnen als Zeichen von Selbstbestimmung

• hohe Zeitsouveränität (Delegation von Tätigkeiten, Zeitersparnisse durch höhere finanzielle und weitere Mittel) • Work-Life-Balance • Freizeitgestaltung: Kultur, Bildung, Literaturabende, Ausstellungen, Sport (z. B. Golf, Segeln, Skifahren, Tennis, …), Urlaub zur bewussten Horizonterweiterung

PER

• effizient gefüllte Zeit

• 24/7-Erreichbarkeit • Zeitdruck • Konkurrenz von Karriere, Beziehung und Freizeit • keine Zeit vertrödeln • Distanz zu immer gleichmäßiger Zeitgestaltung

EPE

• erlebnisreiche Zeit

• viele konkurrierende Freizeitinteressen • keine Trennung von Freizeit und Arbeitszeit • alles ist erfüllte Zeit • spontanes Ergreifen von Gelegenheiten • Freizeitgestaltung pendelt zwischen Wunsch nach Ruhe ohne Verantwortung im Hier und Jetzt und Rausch der Sinne • Zeitstrukturen der Ordnung, Bindung, Verpflichtung, Routine und Planung sind unbeliebt (z. B. ungern langfristige Gremienarbeit)

BÜM

• ritualisierte religiöse Praxis (z. B. regel• kontinuierlich, regelmäßig und geordnet ablaumäßige Gottesdienstbesuche, Abendgefende Zeit: Dauer als posibete, regelmäßig stattfindende Haustives Gut kreise, …) • Vormittags- und Nachmittagsangebote, die mit der klassischen Kleinfamilie vereinbar sind

289

3 Temporal

SÖK

• entschleunigte Zeit • (be-)drängende Zeit

• Achtsamkeit • begrenzte Lebenszeit soll zur Verbesserung der Welt eingesetzt werden • bewusste Zeitinvestition für das, was man selbst hoch priorisiert • Abwertung von Beschleunigung: Ausstieg aus dem Hamsterrad

ADA

• genutzte Zeit • betriebsame Zeit • knappe Zeit

• Zeitmanagement soll Familie, Karriere und Freizeit unter einen Hut bringen (z. B. Spielenachmittag mit Familie, Discoabend mit Freunden) • als Ausgleich zur Arbeitszeit dient unterhaltungsorientierte Freizeit • Trubel: es ist immer etwas los • Abwertung von Entschleunigungsidealen

TRA

• stetige Zeit • (von Gott) geordnete Zeit • übersichtliche Zeit

• Religion als Orientierungsgrundlage: bestimmte Praktiken können an bestimmte Tageszeitpunkte geknüpft sein (z. B. Gebete, Lesungen, …) • sonntäglicher Gottesdienst als Normalfall und Bestandteil wöchentlicher Routine • regelmäßige und dauerhafte Angebote

PRE

• unsouveräne Zeit, oder: • zu viel Zeit

• höherer Zeitaufwand durch mehrere Jobs • bei Arbeitslosigkeit weniger hohe Termindichte • höhere Termindichte anderer kann frustrieren und Minderwertigkeitsgefühle stärken

HED

• abwechslungsreiche Zeit • durch Höhepunkte (»events«) strukturierte Zeit • Angst vor Langeweile, Monotonie

• Zeit soll möglichst ungebunden, frei, turbulent sein • Aversion gegen kirchliche Rituale, feste Ordnungen, Zeiten

4 Lokal Milieu

Wahrnehmung des Raumes

Brücken für die Kommunikation des Evangeliums

KET

• ästhetischer Blick auf Raum • Raumgestaltung als Gelegenheit zur Selbstgestaltung und Distinktion mit Orten wird Qualitäts• und Standesbewusstsein, auch Überlegenheitsstreben inszeniert • Orte und Räume müssen »vorzeigbar« sein, geräumig und stilvoll eingerichtet • ein Ort hat Kultur, Kultur hat einen Ort

• Raumästhetik als Brücke • ein Ort, seine Geschichte und seine Elemente haben etwas zu sagen Verflechtung von Glaubens- bzw. • Theologie- und Kunstgeschichte • Vorliebe für Orte und Räume der Hochkultur (Theater, Opern oder Museen): das kulturelle Erbe der Menschheit und unserer Gesellschaft • Wahrnehmung und Deutung der Architektur und der handwerklichen und bildnerischen Kunst (Altäre, Heiligenfiguren, Kreuze, Kirchenfenster, Gemälde) • hohe künstlerische Qualität als Spiegel theologischer Reflexion • kirchenpädagogische Führungen • vom musealen Charakter eines Kirchenraums zur Reflexion gegenwärtiger, existenzieller (Glaubens-)Fragen

LIB

• intellektueller Blick auf den • ein schlichter, edler Kirchenraum mit Raum zeitgenössischer Kunst schafft Offenheit zur dogmatisch ungebundenen Ausei• Raum als strukturierter, intelligent geordneter Raum nandersetzung mit ethischen, gesellschaftlichen und spirituellen Themen • überlegte Raumgestaltung fördert Gleichgewicht von • Kirche als Resonanzraum für Kunst und Körper, Seele und Geist Kultur • Kulturkirchen mit wechselnden Ausstellungen • flexibel nutzbarer Kirchenraum (»spirituelles Zentrum«) • Bildungsorte (z. B. Stadtakademien mit Kunstausstellungen, Lesungen oder Meditationen)

PER

• der designte Raum • Distinktion durch anspruchsvoll und reduziert gestaltete Räume

• ästhetischer oder architektonischer Reiz eines Kirchengebäudes (Städtereise, Hochzeitsfeier) • Jugendkirchen/Eventkirchen mit modernem, design- oder technikorientiertem Gottesdienstraum • Es gibt Unorte, die dem eigenen Anspruch nicht entsprechen

291

4 Lokal

EPE

• der unbegrenzte Raum • der zu überwindende Raum • der zu erkundende und entdeckende Raum von daher: • Grenzen überschreiten, Unabhängigkeit, Flexibilität, Translokalität • Natur als Weite, Freiheit, Ruhe, Verwurzelung • Leben im virtuellen Raum, im Netz • überaus hohe Mobilität, um Individualität zu inszenieren (Reisen, Sport)

• kein Bezug zu Kirche und Kirchengebäuden, allenfalls als spiritueller Raum (nicht mehr und nicht anders als eine Moschee oder ein Dojo) • Anziehungskraft ausgefallener, spirituell aufgeladener Orte (Kloster, Krypta) • Kirche als – potenzieller – Erfahrungsraum • Kirche als fremder, interessanter, darin inspirierender Raum • flexible Räume und Orte

BÜM

• das eigene Zuhause und der soziale Nahraum sind Orte der Heimat und der Geborgenheit • Sehnsucht nach kleinen Refugien in einer schnelllebigen Welt • Natur (Berge, Seen) als Ort der Ruhe, gepflegter Garten als kleines Paradies • Räume mit warmer, heller, ruhiger Atmosphäre • der geschützte Raum • »klein, aber mein«

• »unsere« (Dorf-)Kirche ist ein Stück Heimat, sie gehört zur sozialen Struktur, auch wenn sie nicht regelmäßig aufgesucht wird • niedrigschwellige Kirchenführungen • Bevorzugung »heimeliger« Kirchenräume mit maßvoller technischer Ausstattung • Kirche als Ort der Erinnerung und der Begegnung (generationenübergreifend), evtl. auch des ehrenamtlichen Engagements • Abneigung gegen düstere, kalte, volle oder modernistische Kirchengebäude und -räume

SÖK

• »Weniger ist mehr«, auch in der individuellen Raumgestaltung • der (Privat-)Raum als Bewährungsort für Nachhaltigkeit • kosmopolitische Perspektive (Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung) • Faszination für fremde Welten, hohe Mobilität • Bedürfnis nach Rückzugsorten, nach Entschleunigung

• der Kirchenraum als sichtbarer Ausdruck ökologischen Handelns und gerechten Konsums • Kirche als spiritueller Ort der Meditation und Entschleunigung • ungewöhnliche Orte für kleine Rituale, Segnungen und Feiern (Kapelle, Kloster, Krypta) • Bilder und Infotafeln von Partnerschaften oder Entwicklungsprojekten • Symbole und Einrichtungsgegenstände aus anderen Kulturen

292

4 Lokal

ADA

• Bedürfnis nach Verankerung und Zugehörigkeit • Ortsbindung und -wechsel nach pragmatischen Gesichtspunkten • Multilokalität

• Kirche hat keine Alltagsrelevanz, kommt nur »bei Bedarf« und punktuell in den Blick (Lebensübergänge) • Kirche als Dienstleistungsort für die Bearbeitung religiöser Belange • Orte, an denen individuelle spirituelle Erfahrung ermöglicht wird (Waldkapelle, Taufe am Fluss) • Chance einer »offenen Kirche«, die auch wochentags zugänglich ist

TRA

• starke Verwurzelung im Hier und Jetzt • Orte der Ruhe (»Natur«, Wald, Wasser), Orte der Kindheitserinnerungen • Rückzugsorte (Terrasse, Balkon, Garten, Sitzecke, Bank) • ein Ortswechsel etwa der Karriere wegen kommt nicht in Frage • »fremde Welten« wirken bedrohlich, Urlaub wird über Jahre am selben Ort gemacht • kalte und kahle Orte werden gemieden, ebenso überlaufene, laute Orte • Vereinsheime

• Kirche gehört ins Dorf • Kirche als Heimat, samt Bildertafeln, Taufstein, Kanzel • Würdigung der traditionellen, gewohnten Orte (neben Kirche etwa auch Friedhof) • heimatorientierte Feste wie z. B. Kirchweihfest, Frühschoppen-Andacht beim Feuerwehrfest, Himmelfahrtsgottesdienst unter freiem Himmel

PRE

• Bemühen, den Nahraum, • Kirche als Ort der Fremdheit, des Undas Zuhause, als kleines Pawohlseins, der Unbeholfenheit radies einzurichten • in die Kirche geht »man« nicht, allenfalls im Rahmen von Kasualien. Hier • Dorf/Stadtteil wird nicht als Unterstützungsstruktur erbieten sich Chancen z. B. durch überlebt regionale Tauffeste • fremde Orte als Herausfor- • kein Interesse an Architektur, Kulturgederung (Ämter, kirchliche schichte einer Kirche, aber an BegegOrte, Bildungsorte: Schule, nung »auf Augenhöhe« (auch im wörtli…) chen Sinn: Verzicht auf liturgische Orte • Präferenz für friedvolle Orte »oberhalb« der Besucher) in der Natur • Fokus auf das Diesseits, das alle Kräfte absorbiert

293

4 Lokal

HED

• maximale Ungebundenheit, keine Ortsbedeutung • Leben im Hier und Jetzt, von Tag zu Tag, hier und dort • virtuelle Existenz im Internet (z. B. Gaming) • Tendenz auszubrechen und sich abzugrenzen • Ortswechsel sind wichtig • Zuhause ist da, wo wichtige Menschen, Erinnerungen, positive Gefühle sind

• ein Ort wird nur bedeutsam, wenn sich damit Erlebnisse verbinden, d. h. Kirche hat wie auch andere Orte per se keine Bedeutung • Aufspüren von und Anknüpfen an positiven Erinnerungen an einen Ort (z. B. Konfi-Freizeit; Feste) • Feiern mit »mystischem« Touch an Heterotopien • hat Gott einen Ort, dann in der Weite, Ferne • nicht der Ort als solcher ist wichtig oder was passiert, sondern mit wem

5 Performativ Milieu

Verhältnis zum Performativen

Performative Brücken für die Kommunikation des Evangeliums

KET

• Performanz • muss mit eigenem Exklusivitätsbewusstsein korrelieren wertig sein • künstlerisch hochstehend • schöngeistig • • muss mit Wertekanon übereinstimmen • keine Show • keine Ego-Inszenierung • keine Provokationen, keine Extreme • Wichtig sind • Leistungsbereitschaft, exklusives Ambiente, Standesbewusstsein, z. B.: kunstgeschichtliche, barocke, gotische, künstlerische Qualität

• Einsatz von Hochkultur, etwa klassische Musikstücke, Literatur, bildende Kunst Gepflegte Sprache, durchdachte • Akte, intellektuell herausfordernd • Inszenierung eines hochkirchlichen Ambientes, gesungene Liturgie, Chor, Streicher, • großer Wortschatz, literarische Zitate, Bildung • biblische Lesungen inszenieren (besser eine Chagall-Bibel als Hoffnung für Alle) • Hochkultur, Theater, Oper, Museen • Kirchenkonzerte, Passionsmusik, Ausstellungen

LIB

• das Weltverhältnis wird bewusst, reflektiert und kritisch über das Performative gestaltet • intellektuelle Auseinandersetzung mit Themen aus Kunst, Musik und Kultur. Oft selbst künstlerisch aktiv • selbstbestimmte und subjektiv regulierte Vollzüge als Mittel der Vertretung eigener Interessen • selbstbestimmte Gestaltung • schöngeistig, wohltuend, anspruchsvoll, angenehm

• Performanz als Mittel von Welt- und Eigenverantwortung • zentrales Kennzeichen: Bemühen um Differenzierung und Kritik an pauschalen Urteilen • verschiedene Deutungen zulassen und provozieren • partizipative und dialogische Formate • ethisch reflektiert

PER

• Effizienz • Professionalität • Technik-Präferenz (digital, nicht analog) • Avantgarde-Anspruch • alltagsästhetische Gestaltung • Koinzidenz von Form und Funktion • Vorliebe für minimalistische Formensprache

• • • •

Kreativität Multioptionalität Leistung (herausragend, innovativ) Kirche kann reüssieren, wo sie selbst professionelles Niveau hat (Diakonie, Bildung, Kunst etc.)

295

5 Performativ

EPE

• Egotaktische Performanz als Mittel der Expressivität • das Performative als Medium der Ich-Erfahrung und -Darstellung • Das Leben ist Performanz • Grenzen austesten und eigene Grenzen überschreiten

• • • • • • •

BÜM

• Aufgreifen des »Alltäglichen« – sein wie andere • Familie als Zentrum der Lebensgestaltung • Mainstream-Orientierung • nicht auffallen wollen • Aversion gegen alles Extravagante und Ausgefallene • »Mitschwimmen«, »dabei sein« • harmonie- und beziehungsbezogen • Tendenz zum Rückzug in die vier Wände als vertrautem Raum • Volkstümliche, heimatorientierte Elemente

• beziehungsorientierte Vollzüge mit Schwerpunkt auf Familie, Gemeinschaft, Miteinander • emotionale Bezüge zum performativen Geschehen wichtig • Familienangehörige werden integriert, tragen vor/bei • Familie/Familienangehörige/Kinder/Enkelkinder werden gefördert (Aufführungen, Kurse, Schulungen) • Klassische Kasualien wie Taufe, Hochzeit, Jubelkonfirmation mit ihrer Fokussierung auf das Familienfest

SÖK

• kritisches, reflektiertes Verhältnis zum Dargebrachten • Performanz als Medium von Kritik, Protest, Emanzipation • Akzente auf Konsumkritik, political correctness und diversity, Gerechtigkeit und Gewissen • auffallender Gebrauch von gegenderter Sprache • Sprachgestus: engagiert-emanzipativ

• Kirche als Verbündete bei Anliegen wie Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung • Protest gegen Benachteiligung • Kritik an Rassismus, (Rechts-)Extremismus, Antisemitismus • Projekt »Bibel in gerechter Sprache« • Aversion gegen Begriffe aus der Welt der Ökonomie

ADA

• • • •

• die »für mich/uns« nützliche Gestaltung des Lebens • Beratung • Wellness und Vergnügen • Aversion gegen »Hochkultur«

Mainstream-Orientierung leisten, aber nicht auffallen modern, aber nicht progressiv frei, aber nicht ungebunden/ libertinär • Aversion gegen alles Exzessive und Ungeordnete • unkomplizierte, lebensnahe, praxisbezogene Gestaltung des Lebens karriereund leistungsbezogen •

Innovation online und offline vernetzt digital präsent multimedialer Auftritt unkonventionelle Angebote neue spirituelle Erfahrungen Ichstärkung, Ichfindung, Ichüberschreitung

296

5 Performativ

TRA

• • • • •

keine Experimente nichts Extravagantes nicht auffallen wollen nicht im Mittelpunkt stehen sparsamer Umgang mit begrenzten Ressourcen • Sehnsuchtsblick • kein Interesse an Veränderung

• an die Erfahrungsräume des Altbekannten und Gewohnten anschließen • Bezug zu Vollzügen von »früher« • das Gewohnte (Liturgie, Sitzordnung, Zeiten) nicht verändern • bekannte Formen wie Glaubensbekenntnis und Vaterunser aufgreifen • Hierarchien wichtig: z. B. Begrüßung mit Händedruck vor einem Gottesdienst oder einer Feier • bekannte Traditionen integrieren

PRE

• Minderwertigkeitsempfinden hinsichtlich komplexer performativer Akte • Unbehagen bei intellektuell oder kognitiv anspruchsvoller Performanz • Körpersprache und verbale Sprache sind wichtig • Alltagsrituale in bekannten, überschaubaren Gruppen, geben Sicherheit • Hierarchien und Ordnungen geben Halt • Unbehagen, wenn die Milieugrenzen überschritten und man vor anderen (»Gebildeten«) etwas machen soll, etwa aufstehen etc. • Hoher Grad an Body-Betonung (Tattoos)

• Weniger Worte, mehr Handlungen (Kerze, Bewegung, Singen) • sparsame Differenzierungen; Anerkennung von hierarchischem Denken • Erwartung klarer Kommunikation • Keine interpretationsoffenen Akte, sondern klare Vollzüge • das Sinnliche, körperlich Erfahrbare ist wichtig (Licht, Wasser, Papier)

HED

• Auftritt als Mittel bewusster • Eventformatierung Abgrenzung gegen bürgerliche • Ort, Zeit, Themen, Personen, abWelt wechselnde Inszenierungen • Spaß an Provokation und • Flashmobs Tabuverletzungen • Spontaneität, Mobilität, Kreativität, Unkonventionalität als Werte • krasse Sprache • starke Betonung der Beziehungsdimension im Sprechakt

6 Personal Milieu

Verhältnis zum Personalen

Personale Brücken für die Kommunikation des Evangeliums

KET

• Das Persönliche als geschützter, für Fremde nicht zugänglicher Ort Entre-nous-Bewusstsein • • Aversion gegen »Zudringlichkeit«, zu große Nähe Aversion gegen das »Formlose« • Ordnungen, Verhaltensnormen, • Manieren sind wichtig und erschließen bzw. verschließen Zugänge

• Akzeptanz über Distanz • Zugang über Zusammenarbeit und gemeinsame Erfahrungen

LIB

• selbstbestimmtes und emanzipier- • Gewünscht ist ein zu Kritik und tes Verhältnis zum Nächsten Selbstkritik fähiges Gegenüber • weltoffen, neugierig auf neue • Person als selbstbestimmtes IndiBeziehungen viduum, deren Freiheit zu achten ist • verantwortungsorientiert • Das Weltverhältnis wird bewusst, • Anspruch auf tolerante, unverstellreflektiert und kritisch über Bete Perspektive auf das Andere und ziehungen gestaltet den Anderen • selbstbewusster, kompetenter Auftritt

PER

• Beziehungen sollen »dienen« • Online- und Offline-Grenzen mobile und schnell wechselnde überschreiten (Facebook etc.) • Messenger-Kommunikation als Beziehungsgeflechte • Personen als Mittel der AbwechsSignal der Nähe und des Persön• lung lichen Beziehungen als ästhetischer • Ausdruck Online-Kommunikation als Be• ziehungsgenerator

EPE

• vernetzte, hyperlokale Beziehungen • das Personale als Medium der Ich-Erfahrung • hyperindividualistisch: an Gemeinschaft, kontinuierlicher Verbundenheit nicht interessiert

• als Individuum unverwechselbar und einzigartig wahrgenommen werden • nicht »über einen allgemeinen Leisten geschlagen werden«

298

6 Personal

BÜM

• die exklusive, dauerhafte Beziehung (»Freundschaft«, Familie ist zentral) • Harmonie ist wichtig • persönliche Beziehungen konstituieren Gemeinschaft • Beziehungen sind auf »Dauer« gestellt • personale Kommunikation findet neben der Familie in interessensgeleiteten Strukturen statt (Vereine etc.). • Aussagen werden auf dem Beziehungs-Ohr (Thun) gehört. • erwartbares Setting der Kommunikation wichtig

• die Personale Ebene wird angesprochen, wenn das Gefühl entsteht: er/sie ist eine/r von uns • traditionelle Feste und Anlässe werden als persönlich empfunden (Volksfest, Ortsvereinsjubiläen etc.) • familiäre Formatierung • Frieden, Vergebung, Beziehungspflege

SÖK

• personales Engagement als Medium von Kritik, Protest, Emanzipation • persönliches Engagement macht den Unterschied

• Programmatische Wertschätzung des Anderen, Fremden, (politisch korrekt) Abweichenden • Engagement für verfolgte Personen mit hohem persönlichen Einsatz

ADA

• Beziehungen zu Freunden und • sympathische Anteilnahme der Familienmitgliedern sind wichtig Doppelbelastung Familie und Karriere kann auf dem Selbstoffen• Aversion gegenüber Beziehungsformen, die als konventionellbarungs-Ohr (Thun) positiv überbürgerlich angesehen werden raschen (»Vereinsmeierei«) Gespräche und Begegnungen an • Bedeutung persönlicher Ver»dritten Orten« (Bar, Café) • bindlichkeit

TRA

• hohe Bedeutung der Beziehung zu langjährig Bekannten und Freunden • Wertschätzung von Kontinuität und Konventionalität (höflich sein) • Distanz zu distanzlosen Kommunikationsversuchen und Annäherungen • Anerkennung von Autorität und Hierarchie

• Wertschätzung durch »gehobene Personen« ist wichtig • Anrede »Sie« ist wichtig • personale Kommunikation in »kirchlichen Räumen« natürlich • Beziehungskontinuitäten ermöglichen • gibt es Vorerfahrungen mit Familienangehörigen • traditionelles Beziehungsgeflecht zwischen Gemeinde und Geistlichem beibehalten • »Früher« ist wichtig, Bezug zu früheren Personen (vorheriger Pfarrer, Konfirmationsgruppe, Hochzeitskirche, goldene Konfirmation) • Zurückhaltung gegenüber Körperlichkeit (z. B. Umarmen)

299

6 Personal

PRE

• Beziehungen zu Kumpels (auf • direkte Kommunikation; klare Augenhöhe) und zu FamilienAnsagen werden nicht übelgemitgliedern (vertraut) sind konnommen. stitutiv • sehr direkte Übertragung von Verkündigung auf persönliche • Beziehungen werden unterschieden und Personen gewertet (»die Verhältnisse da oben, wir hier unten«) • Zusage: »Du bist wertvoll. Gott liebt und schätzt dich.« • wenig Erfahrung mit formalen Strukturen und Differenzierungen auf personaler Ebene • häufig irritierte und verunsicherte Nähe-Distanz-Bestimmungen • Unbehagen bei undefinierter Nähe • wenig Erfahrung mit formalen Strukturen und Differenzierungen personaler Ebenen Körpersprache und materielle • Medien wichtig

HED

• Höchstschätzung der Gruppe • »nicht ohne meine Freunde (Gruppe)« • Freunde als Familie (»Bruder«Anrede) • hohe emotionale Beziehungsqualität

• Beziehungen als Medium • gemeinsame Erfahrungen verbinden • Teilhabe an Szene, Gruppe ist wichtig persönliche Betroffenheit und Relevanz des Evangeliums deutlich machen

7 Diakonisch Milieu KET

Verhältnis zum diakonischen Handeln

Merkmale diakonischer Kommunikation des Evangeliums

• Hilflosigkeit und Bedürftigkeit

• Hilflosigkeit bedeutet nicht Würdehat etwas Demütigendes an sich losigkeit man lässt sich nicht gerne helfen Verständnis für Abwehrhaltungen • • man schämt sich und will Hilfsangemessene Reaktion auf Kompen• • bedürftigkeit nicht gerne wahrsationsversuche für die empfangene haben Hilfeleistung

Ansprechbarkeit Motivation ansprechbar auf Mäzenatentum • • Dankbarkeit und Anerkennung für und Sponsoring großzügige Unterstützung von Hilfsprojekten LIB

• die eigene Lage verstehen und begreifen, auch diskutieren wollen • möglichst viel Selbstbestimmung erhalten

• Selbstbestimmungswillen respektieren • Optionen darstellen und diskutieren • das Gegenüber in seinem Wunsch nach maximaler Autonomie ernstnehmen auf Kritik und kritische Rückfragen • Ansprechbarkeit nicht empfindlich, sondern kon• Informationen, Begründungen, struktiv reagieren Transparenz sind für die MotiScheitern und Zerbruch (gesundheit• vation zur Unterstützung wichlich, materiell, beziehungsmäßig) mit tig Gottes Hilfe als Teil der eigenen • ansprechbar auf die eigenen Identität annehmen Kompetenzen (Netzwerke, Projekte initiieren, kritisch beglei- Motivation ten) • Rechenschaft ablegen über Verwendung der Ressourcen • Anerkennung von Engagement

PER

• diakonische Zuwendung als das • die neue Lage als Herausforderung für mich Fremde, Uneigentliche: begreifen, die es zu bewältigen gilt Hilfe brauchen die Anderen • beim Zerbruch des alten Selbstbildes begleiten und zu einer neuen Identi• handelnde Subjekte bleiben wollen, auch unter einschräntät helfen kenden Bedingungen • Ermutigung zu erfahren, was es bedeutet: Gottes Kraft wird in • hilflose und hilfsbedürftige Lagen gestalten wollen Schwachheit / Hilflosigkeit / unter einschränkenden Bedingungen vollAnsprechbarkeit bracht • ansprechbar auf Engagement, wenn Freiräume, VerantworMotivation tung, Effizienz gewährleistet • Anerkennung: Nächstenliebe ist ein sind wesentliches Element christlichen Ethos

301

7 Diakonisch

EPE

• Einschränkung der »Bewegungs«-Freiheit als – unangenehme – Grenzerfahrung

Ansprechbarkeit • ansprechbar auf diakonisches Engagement als Erweiterung des Horizontes

BÜM

• Helfen ist eine der zentralen

Lebensdimensionen • Hilfe für andere, vor allem in der Familie, und GeholfenBekommen sind Selbstverständlichkeiten Ansprechbarkeit • ansprechbar vor allem auf Hilfeleistungen im familialen Nahbereich SÖK

• Inklusion, Teilhabe ermöglichen (und erhalten), auch bei Behinderung

• Krisen als Chancen • Behinderungen (gleich welcher Art) als Herausforderung zur SelbstTranszendenz • zur Erfahrung mit der neuen Erfahrung anleiten

Motivation • Zur Entdeckung anleiten: Helfen macht Freude, befriedigt und erweitert das eigene Ich • Nächstenhilfe ist Kern des christli-

chen Glaubens und bezieht aus ihm seine Kraft und Dauer Motivation • Hilfen vor Überforderung: Gott will nicht, dass wir ausbrennen; wir müssen selbst bereit sein, uns helfen zu lassen, auch beim Helfen

• Hilfe zur Selbstbestimmung auch unter schwierigen Verhältnissen ist ein Kernmoment christlicher Ethik, zu der uns Jesus anleitet

Ansprechbarkeit Motivation • Diakonische Hilfeleistung in einem umfassenden Sinne ist • Bereitschaft zur Kooperation bei selbstverständlich sozial-ökologischen Projekten • größte Bereitschaft zum diakonischen Engagement; Erwartung der Unterstützung eigener Projekte ADA

• Hilfen zur Alltagsbewältigung • diakonische Beziehungsdimension durch die Kirche als Dienstleiszu anderen nahebringen als feelgoodterin sind willkommen Tätigkeit mit Optionalität und Mitbestimmungsmöglichkeiten Ansprechbarkeit Motivation • Aus Mangel an Ressourcen wenig Bereitschaft, sich für an- • Bereicherung durch Zuwendung, die dere einzusetzen nicht unmittelbaren Nutzen bringt, entdecken

302

7 Diakonisch

TRA

• Erwartung von tatkräftiger, • Willen zur Selbständigkeit achten, professioneller Hilfe von Fachaber leuten, denen man gerne ver• nicht durch Mitbestimmungszumutraut tungen überfordern • Erwartung von persönlicher • ganzheitliche, auch geistliche BegleiZuwendung, die das Seelische tung und Geistliche umfasst Motivation Ansprechbarkeit • auch die begrenzte, »kleine« Hilfe ist wertvoll und willkommen • Selbstverständliche Bereitschaft, im Rahmen der eigenen engen Grenzen zu helfen

PRE

• Hilfeleistungen sind nötig aufgrund der in mehrfacher Weise prekären Lebenslage • empfangene Hilfeleistungen widersprechen dem eigenen Selbstverständnis als (leistungs-)stark

• nicht zum Objekt bloßer Zuwendung machen • Würde und Selbstachtung ermöglichen beim Empfang von Hilfe

Motivation • mithelfen lassen und Gegenleistung ermöglichen

Ansprechbarkeit • Hilfe ist selbstverständlich • sie darf nicht überfordern und muss den eigenen Kompetenzen entsprechen HED

• Stress durch Krankheit, Behinderung, Armut, kaputte Beziehungen • Spaß am Leben verloren

Ansprechbarkeit • Hilfe für seinesgleichen ist selbstverständlich • Spaß haben und Gemeinschaft erleben motivieren besonders

• Bedingungslose Zuwendung • Verzicht auf moralisierende Besserwisserei

Motivation • Zuwendung zu anderen entdecken als soziokulturelle Brücke

8 Sinnlich Milieu

Verhältnis zu den Sinnen

Merkmale und Ausdrucksformen von sinnlicher Kommunikation

KET

• distinguierter Genuss, exquisiter Geschmack • Vorliebe für hochkulturelle Erlebnisse (klassische Konzerte, Oper, Museen, Kulturreisen) • nicht sinnliche Unmittelbarkeit, sondern kontrollierte Distanz • Aversion gegen unkontrollierte Emotion

• Hochschätzung der Kirchenmusik und hochkultureller Ästhetik • Kirche unterhält nicht, sondern bildet • Erwartung einer exzellenten Performance • Extravaganzen und Showeinlagen werden nicht goutiert • der Geist als Rezeptionsorgan für Glaubensinhalte

LIB

• Streben nach Ausgeglichenheit und nach work-life-balance • stilvoller Lebensgenuss mit allen Sinnen • Abscheu gegenüber jeder Form von Oberflächlichkeit (intellektuell wie ästhetisch) • hohes Maß an Selbstreflexion und Selbstkontrolle

• Rezeptionshaltung geprägt durch Vielfalt und Offenheit, auch gegenüber sinnlichen Erfahrungen • der primäre Zugang zu religiösen Gehalten erfolgt kognitiv, kann aber auch ästhetisch gelingen • geschätzt wird Zusammenklang von Performance und Ästhetik • Zurückhaltung gegenüber und Abwehr von als »manipulativ« empfundenen Zügen (z. B. charismatische Elemente)

PER

• Selbstsicherheit und Souveränität in der Alltagsbewältigung • »work hard, play hard« • Freude an Anstrengung auch körperlicher Art, gerne in Konkurrenz mit anderen • Abenteuerlust, Sehnsucht nach Weite, Ungezähmtheit • Stillstand schafft Unwohlsein • outdoor-Sportarten sind beliebt

• Vielfach ästhetische Distanz zu Kirchengebäuden, kirchlichem Leben und der Performanz kirchlicher Angebote • Abneigung gegenüber Frömmelei • Gott als (nicht-personale) Kraft erfahrbar – in mir • hohe Qualitätsansprüche an eingesetzte Medien (Licht-, Bild-, Tontechnik), wider »gewollte« Modernität

304

8 Sinnlich

EPE

• expressive und kreative Avantgarde, Suche nach intensiven Erlebnissen • Ich-Bewusstsein und Ich-Erweiterung • höchste Leistungsbereitschaft, wenn etwas im Innern brennt • Streben nach seelischer Balance (in Familie, Beziehungsnetzwerk) trotz hohem Lebenstempo • Wohlfühlmomente in intensiven Naturerlebnissen, auf Reisen oder an einer Grillparty

• Sinn für das »Mehr«, das »Höhere«, auch für Fügungen • Sinn wird nicht (kirchlich) definiert, sondern (individuell) erlebt • sinnliche, mystische Erfahrungen durch unkonventionelle Rituale und Gottesdienstformen (Thomasmesse, Osternacht, Taufe in der Krypta) • mystagogische Funktion der Kirche • Musik als spiritueller Erfahrungsraum • »Expedition zum Ich« • Attraktivität von Kontrasterlebnissen in »alten« Ritualen (wie der Taufe) oder in Musik (Choräle, Orgel)

BÜM

• Harmonie- und Sicherheitsbedürfnis, Beziehungsorientierung • Glücksgefühle gründen in den kleinen, alltäglichen Dingen (Essen mit Freunden, Ausflug mit der Familie) • Glück ist Arbeit • Arbeiten(-Dürfen) ist Glück

• Kirche kann »Heimatgefühl« und Stabilität vermitteln • Sinn für das Unendliche, Unbegreifliche (z. B. das Wunder der Geburt) • Gottesdienste mit familiärer und fröhlicher Grundstimmung (»Wohlfühlatmosphäre«) • Gemeindefeste, kirchliche Festtage mit persönlicher Note • dosierte Sinnlichkeit, nicht exzentrisch oder experimentell, aber auch nicht spießig • emotional berührt werden

SÖK

• Konsumverhalten und »Lebensgenuss« erfolgen unter dem kritischen Vorbehalt der Verantwortbarkeit • Mitgefühl mit Anderen, wacher Sinn für Ungerechtigkeit • Erweiterung der Sinneswahrnehmungen ist erstrebenswert • Appell an Gefühle der Mitmenschlichkeit und Nächstenliebe • Notwendigkeit von Verzicht

• rituelle Flexibilität und Experimentierfreudigkeit, »esoterische« Elemente • Kostbarkeit des Lebens mit allen Sinnen erfassen, Glauben erlebbar machen • Mitleiden am Seufzen der Schöpfung • Einsicht in den Sinn von Askese

305

8 Sinnlich

ADA

• Streben nach (nichtbürgerlicher) Geborgenheit • Lebenspragmatismus und Nutzenkalkül sind dem Sinnesgenuss vorgeordnet (idealerweise fällt beides zusammen) • Sensorium für »Work-LifeBalance« • Suche nach Harmonie im Freundes- und Familienkreis

• unprätentiöse Ansprache auf allen sinnlichen Ebenen, Hochkulturelles wird als abgehoben verschmäht • Erfahrungsdimension des Glaubens transparent werden lassen • weg von der abgehoben-kognitiven Ebene der Glaubensinformation hin zur Alltagsrelevanz der Glaubenserfahrung • spirituelle Wellness-Angebote • Professionalität im Umgang mit Medien

TRA

• Heimat und Geborgenheit, Beschaulichkeit und Harmonie • ausgeprägter Sinn für Sicherheit, Ordnung • Pflichtgefühl, Wert der Autorität • keine Gefühlsduselei, gewitterte Gefahr der Manipulation • Schwelgen in Erinnerungen • über Gefühle spricht man nicht • Gegenstände, die Sehnsucht nach dem Besseren und Früheren anschaulich machen

• Glaube und Gottesdienste vermitteln ein Gemeinschaftsgefühl • das Innere sträubt sich gegen Experimente und Nonkonformistisches • laute Musik, technische Trends, aber auch kritische Auseinandersetzung mit gewohnten Glaubensinhalten wirken abstoßend • Schlagergottesdienst, Volksmusik, Volkslieder, Veranstaltungen mit Musikverein, Theateraufführungen (»schöne« Musik, »schöne« Geschichten)

PRE

• Zukunftsängste und Versagensängste, Gefühl sozialer Deklassierung • Ressentiments und Minderwertigkeitsempfinden gegenüber »Anderen« • mal auf den Putz hauen (Beiz, Silvesterfeier) • das kleine Glück: Fernseher, Sofa, Bier, Freunde

• Gesten der Zuwendung und Wertschätzung, auch sinnlich-körperlich (Segnungsritual, Taufkerze) • kein »Heile Welt«-Getue (etwa im Weihnachtsgottesdienst) • künstlerisch Anspruchsvolles und intellektuell Herausforderndes wirkt abstoßend, beklemmend oder ausgrenzend • Einsatz von Medien, die nicht nur den »Kopf« ansprechen • liebevolle Gestaltung des Raumes und der Liturgie • Kommunikation auf Augenhöhe, gemeinsames Erleben, nicht Dozieren

306 HED

8 Sinnlich

• Lebensgenuss mit allen Sinnen • »Lustprinzip«, Spaß- und Erlebnisorientierung • stets auf der Suche nach intensivem sinnlichem Erleben, nach Neuem • Grenzüberschreitungen, Inszenierung von Widersprüchen • Wohlfühlmomente sind Situationen ohne Sorgen, Nöte und Erwartungen, in denen man sich im eigenen Erleben treiben lässt

• Gefühl für etwas Höheres kann vorhanden sein und wird bei Gelegenheit aktiviert (z. B. Hochzeit) • der Weg zu den Köpfen und Herzen erfolgt über persönliche Sympathie, ehrliche Wertschätzung, Authentizität • Spontaneität, Nonkonformität (auch im Musikgeschmack) • Formate, in denen man sich ausklinken und von den Stimmungen mitreißen lassen kann • symbolische Handlungen, mystischsinnliche Erfahrungen • Einsatz von Video-Clips und Lichtinstallationen • es muss etwas los sein, im Fluss sein, wider die Langeweile und Eintönigkeit

Illustrationen und Kurzübersichten entlang der zehn SINUS-Milieus – alle Dimensionen auf einen Blick (Illustrationen: Corinna Schubert)

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Konservativ-etabliert

Illustrationen und Kurzübersichten

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Konservativ-etabliert

Illustrationen und Kurzübersichten

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Liberal-intellektuell

Illustrationen und Kurzübersichten

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Liberal-intellektuell

Illustrationen und Kurzübersichten

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Performer

Illustrationen und Kurzübersichten

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Performer

Illustrationen und Kurzübersichten

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Expeditive

Illustrationen und Kurzübersichten

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Expeditive

Illustrationen und Kurzübersichten

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Bürgerliche Mitte

Illustrationen und Kurzübersichten

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Bürgerliche Mitte

Illustrationen und Kurzübersichten

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Sozial-ökologisch

Illustrationen und Kurzübersichten

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Sozial-ökologisch

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Adaptiv-pragmatisch

Illustrationen und Kurzübersichten

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Adaptiv-pragmatisch

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Traditionell

Illustrationen und Kurzübersichten

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Traditionell

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Prekär

Illustrationen und Kurzübersichten

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Prekär

Illustrationen und Kurzübersichten

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Hedonistisches Milieu

Illustrationen und Kurzübersichten

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Hedonistisches Milieu

Illustrationen und Kurzübersichten

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Fazit: Rückblick und Ausblick Heinzpeter Hempelmann Am Ende dieses Bandes möchte ich an ausgewählten Stellen in die Diskussion eintreten. Dazu nehme ich sowohl Bezug auf einzelne Beiträge und Fragestellungen, die in ihnen deutlich werden. Ich möchte aber auch die Diskussion zu einzelnen – nicht allen hier verhandelten – Dimensionen weiterführen, die uns für die Kommunikation des Evangeliums relevant erscheinen.

Zu Teil I: Grundsätzliche Reflexionen a) Christian Grethlein und der Mittelpunktbegriff »Kommunikation«

Aus der Sicht der Mindset-Theorie mit ihrer Unterscheidung von prämoderntraditionsorientierten, modern-kritischen und postmodern-pluralistischen Orientierungen1 ergibt sich eine grundsätzliche Anfrage zu Begriff und Sache der »Kommunikation« des Evangeliums. Der Terminus »Kommunikation« tritt ja bewusst an die Stelle des überkommenen Begriffs der »Verkündigung«. Während Verkündigung ein hierarchisches Verhältnis impliziert (ich habe dir etwas zu sagen, was du nicht weisst), zielt Kommunikation von vornherein auf ein Verhältnis auf Augenhöhe ab. Der Begriff der Kommunikation erweist sich darin als spezifisch modern-kritisch, dialogisch. Das Evangelium wird nicht einfach top-down, sondern horizontal weitergegeben. Gerade kirchliche Milieuforschung deckt auf, dass Kommunikation des Evangeliums nicht einfach eine Einbahnstraße ist. In dem Sich-Einlassen auf das andere, Fremde, vom Evangelium noch nicht Durchdrungene und Erreichte erschließt sich dieses selbst neu; wird Kirche und Verkündigung angeregt und reicher; ergeben sich Perspektiven, die die bisherige Inkulturation noch nicht eröffnet hat. Insofern ist der Schritt vom Begriff der Verkündigung zu dem der – wechselseitigen – Kommunikation ein Fortschritt. Aber auch der moderne Begriff der Kommunikation kommt aus der Sicht der Mindset-Theorie an Grenzen, die es für eine milieusensible »Kommunikation« in Lebenswelten der A- und C-Säule hinein zu bedenken gilt. Diese spezifisch moderne Fassung versteht sich nicht nur prämodern nicht von selbst, sondern bedeutet auch für postmoderne Empfindung noch eine Provokation, insofern von dem einen Evangelium geredet wird, das dem anderen zukommen soll. 1 Vgl. grundsätzlich Heinzpeter Hempelmann, Prämodern, Modern, Postmodern. Warum »ticken« Menschen so unterschiedlich? Basismentalitäten und ihre Bedeutung für Mission, Gemeindearbeit und Kirchenleitung, Neukirchen-Vluyn 2013. Die Mentalitäten entsprechen der horizontalen Ebene des SINUS-Modells mit seiner Achse der Grundorientierungen.

Fazit: Rückblick und Ausblick

349

Prämodern-traditionsorientiert ist eben zu fragen, ob es nicht zur Kernsemantik von Evangelium gehört, das mir hier etwas begegnet, was ich mir nicht selbst sagen kann und ob und inwieweit das verhandelbar ist. Postmodern-pluralistisch behält auch die Redeweise von der Kommunikation des Evangeliums etwas Autoritäres: Gibt es das – eine – Evangelium, das ich mir sagen lassen muss? Ist das nicht der alte autoritäre Anspruch, in einem bloß rhetorisch erneuerten Gewand? Positiv formuliert: Wie kann das Evangelium in einem pluralistischen Kontext so kommuniziert werden, dass es in seiner Erscheinungsweise auf einen exklusiven Absolutheitsanspruch verzichtet, der in einem postmodernen Kontext gar nicht mehr verstanden, der nur noch als Selbstbehauptungsversuch missverstanden werden kann? Die Frage zielt nicht ab auf eine Preisgabe des – modern gesprochen – Wahrheitsanspruches des christlichen Glaubens. Sie fokussiert das zentrale, eine religionsphilosophische Dimension besitzende Problem der Kontextualisierung christlicher Wahrheit in einem programmatisch pluralistischen Kontext. Hier bedarf es weiterer Reflexionen. Anstöße gewinnen wir aus der narrativen Kommunikation des Evangeliums im Neuen Testament, dessen Botschaft ja nicht als Hegel’sche Weltvernunft daherkommt, sondern in Form von Geschichten, die keinerlei Zwangscharakter besitzen, die Hörerin zur Identifikation einladen, das Reich Gottes erschließen und zu einer Form von Verbindlichkeit und Überzeugung helfen, die dann zum Schluss auch zu Bekenntnissen in propositionaler Form helfen mag.2 b) Ralph Kunz: »Da kann ja jeder kommen!« Zum Spannungsfeld Mission und Inklusion

Nach dem ersten, sehr runden, inklusiven, orientierenden und Perspektiven integrierenden Beitrag von Grethlein folgt ein Aufsatz, der provoziert, ja streckenweise verstört, weil er vieles fruchtbar in Frage stellt, was sich auch im Kreis derer, die milieusensibel Gemeinde bauen und Evangelium kommunizieren wollen, (zu sehr?) von selbst versteht. Ralph Kunz’ Überlegungen kommt die konter-kulturelle Rolle in diesem Band zu. Nach Kunz ist das Anliegen »kontextueller Kirchenarbeit« (S. 25) heute allgemein akzeptiert und fast selbstverständlich geworden, – so selbstverständlich, dass man schon wieder bremsen, verlangsamen muss, um zu verhindern, dass Anstrengungen milieusensibler KdE nicht »über das Ziel hinausschießen« (S. 26). Eine wirksame Bremse, die Kunz mit seinen Reflexionen »reinhaut«, ist der Gesichtspunkt der Inklusion. Das Inklusionsanliegen soll das Kontextualisierungsanliegen in Schach halten.

2

Ich habe diesen Sachverhalt in verschiedenen Veröffentlichungen immer wieder erläutert und entsprechende Vorschläge gemacht. Vgl. v. a. Heinzpeter Hempelmann, »Stürzen wir nicht fortwährend?« Diskurse über Wahrheit, Dialog und Toleranz, Witten 2015 (»Wie die wahre Welt zur Fabel wurde«, Band 2), Kap. 5, speziell 552–569.

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Heinzpeter Hempelmann

In einem zweiten Teil differenziert Kunz die ekklesiologische Basis für den nun zu entfaltenden Begriff der Inklusion noch weiter aus. Er unterscheidet Gemeindetypen danach, wie ihre Inklusionschancen und -ansprüche aussehen. Nicht legitim sind die Gemeinden, die »Clubs« sind. Von diesen UntereinanderGemeinden unterscheiden sich grundsätzlich die Miteinander-Gemeinden. Eigentlich kann es keine Wahl sein zwischen Gemeinde als Stilgruppe oder als Zielgruppe, als Wahlheimat oder als Schicksalsgemeinschaft. Von Jesus her gilt ja: Kirche ist »ihrem Wesen nach inklusiv, oder sie ist nicht Kirche«. Solch inklusive Praxis hat dann auch milieuüberschreitende und milieuintegrierende Wirkung. Zum Schluss nimmt Kunz den missionstheologischen Begriff der Konvivenz auf, um seinen Ansatz zu verdeutlichen: »unterschiedliche Kulturen, aber ein Evangelium«. Das gilt es ekklesiologisch zu realisieren. Auch wenn er abschließend versöhnliche Töne gegenüber den Untereinander-Gemeinden anschlägt, bleibt er dabei, dass es »nicht der Wille Gottes ist, dass wir die Gemeinde in Untereinander-Gemeinden aufspalten« (S. 39). Nur in den Miteinandergemeinden komme die konterkulturelle Kraft des Evangeliums, seine Widerständigkeit »gegen das Gängige und Geläufige« (S. 39) zum Tragen. Sicherlich gibt es eine Reihe von wichtigen Konsensen, auf denen jede weitere Debatte aufbauen kann: − Es ist nicht sinnvoll, einen letzten Gegensatz zwischen dem Ziel der Inklusion und dem milieusensibler Gemeindearbeit aufzumachen. Milieuüberschreitendes kirchliches Handeln hat ja gerade zum Ziel, die einzubeziehen, die durch bisheriges kirchliches Handeln mit seinen Barrieren ausgeschlossen wurden. − Konsensfähig ist ebenso, dass Kontextualisierung nicht einfach Affirmation bedeutet, oder umgekehrt formuliert: Das Evangelium hat eine konterkulturelle Funktion. Entscheidend ist aber nun die Frage, wie diese Einsichten eine konkrete praktische Umsetzung erfahren. Und hier führt der Beitrag von Kunz nicht nur zu Fragen, sondern gibt auch Anlass zu einigen Rückfragen: − So hilfreich die Unterscheidung von gelungener und misslingender Kontextualisierung ist, so sehr muss um die entsprechende Kriteriologie gerungen werden. Könnte ein Ziel gelingender Kontextualisierung nicht gerade sein, die Barrieren und Distinktionsgrenzen zu beseitigen, die nicht wirklich, sondern nur scheinbar trennen, etwa sprachliche oder ästhetische Hindernisse, damit die wirklichen Gegensätze erst sichtbar werden und zum Tragen kommen können? Man muss sich an Kirche ärgern können dürfen, aber doch bitte nicht an ihrem Musikgeschmack und ihrer altertümlichen Sprache, sondern am Wort vom Kreuz (1Kor 1,18). Damit das Wort vom Kreuz zum Ärgernis werden kann, muss es überhaupt einmal erst verstanden und lebensweltbezogen sichtbar sein.

Fazit: Rückblick und Ausblick

351

− Kunz polemisiert gegen die Club-Gemeinden und fragt, ob mit ihnen überhaupt »etwas Christliches zustande« kommen könne (S. 28). Rückfrage: Wer will bestreiten, dass Gemeinden als christliche Gemeinschaften genau entlang solcher sozialen, ästhetischen, soziokulturellen Gemeinsamkeiten entstehen? Wer wollte bestreiten, dass mit Gottes Hilfe dabei durchaus etwas Christliches, eine Gemeinde herauskommt? Wenn Kunz den »gefährlichen Traum« in Frage stellt, dass »Gemeinden aufgrund gemeinsamer Vorlieben entstehen« (S. 30), dann wäre im Sinne einer milieusensibilisierten kritischen Kirchentheorie zurückzufragen, ob dann nicht nur die Jazz- und Bach-Kirchen, sondern eben auch die normalen Orgel-Kirchengemeinden, die in ihrer Ästhetik durch TRA und KET geprägten und dominierten Kirchengemeinden diesem Verdikt erliegen. Sind sie allesamt keine Kirchen? Grundsätzlicher gefragt: Gibt es andere als Milieugemeinden, Milieukirchen? Und haben diese neben inkludierenden nicht immer auch exkludierenden Charakter,- auch die, die sich als inkludierend verstehen? Ist es sinnvoll, diesen empirisch belegbaren Sachverhalt zu bestreiten, oder käme es nicht vielmehr im Sinne einer milieusensibilisierten (selbst-)kritischen Kirchentheorie darauf an, aus diesen ebenso evidenten wie unangenehmen Einsichten Konsequenzen zu ziehen? − Kunz wendet Bonhoeffers Wort aus »Gemeinsames Leben« kritisch auch gegen den Bau von lebensweltorientierten Gemeinden: »Wer seinen Traum von einer christlichen Gemeinschaft mehr liebt als die christliche Gemeinschaft selbst, der wird zum Zerstörer jeder christlichen Gemeinschaft.« (S. 28) Aber haben wir nicht alle einen Traum von der christlichen Gemeinschaft, den wir mit der Kirche, »der christlichen Gemeinschaft selbst« identifizieren und den wir dann natürlich gegen die in Stellung bringen, die nicht die wahre, christliche Gemeinde bauen, sondern natürlich nur ihrem Traum davon nachjagen? Ist dieser Vorwurf – m. a. W. – nicht umkehrbar? Wird hier nicht im Namen einer nirgendwo real existierenden idealen Gemeinde gegen alle real existierenden Gemeinden argumentiert und ihnen ihr milieubezogenes Existenzrecht abgesprochen? Macht man es sich mit diesem ekklesiologischen Gottesstandpunkt nicht doch etwas einfach? Gemeinden sind faktisch immer auch exklusiv. Wenn dann gilt: Kirche ist ihrem Wesen nach inklusiv »oder sie ist nicht Kirche« – gibt es dann überhaupt Kirche, christliche Gemeinde? − Droht hier nicht eine ziemlich weitgehende Diskriminierung bestehender Gemeinden? In welchen der vielen und doch wohl meist anzutreffenden Mittelschichtgemeinden ist Gemeinde für ihre Mitglieder im angegebenen Sinne lebensnotwendig; keine soziokulturelle Veranstaltung, ohne die man zur Not auch ganz gut leben könnte? Sind nur sozialmissionarisch orientierte Gemeinden die wirklichen Gemeinden? Muss man also zum PRE gehören, um letzten Endes Christ in einer wirklichen Gemeinde zu sein? Oder umgekehrt, von der Milieulogik her gedacht: Ist nicht vielleicht die Form von mentaler Beheimatung, die viele Gemeinschaften bieten, für deren Mitglieder etwas, was sie zum Leben nötig brauchen?

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Heinzpeter Hempelmann

− Aber nun gibt es ja vielleicht doch die Gemeinden, die mindestens auf dem Weg zur umfassenden Inklusion sind, die Miteinandergemeinden. Oder? Sie erheben einen inklusiven Anspruch und wirken exkludierend. Der Chor einer Stadtgemeinde – überwindet er wirklich Milieugrenzen? Wie ist das mit der HED-Aversion gegen kirchliche Orte; wie mit der Art von Musik, die hier gepflegt wird. Nirgends sind heute die Distinktionsgrenzen schärfer und höher als beim Musikgeschmack. Inklusive Konfirmandenarbeit? Als wenn nicht schon die Bildungsdimension PRE (und HED) abstoßen und dauerhaft zur Abneigung gegen Kirche als Bildungsinstitution führen würde! Offenherzigere und gastfreundlichere Gottesdienste? Scheitert nicht dieses schon von Willow Creek vertretene Modell daran, dass schon der Ort, vom Namen der Veranstaltung ganz abgesehen, abschrecken und von der Partizipation abhalten? Die von Kunz angeführten Beispiele für auf Inklusion mindestens abzielende Beispiele besitzen sämtlich einen selektiven Charakter. Das macht sie schwierig. − Wenn Kunz Konvivenz definiert als »Anstoß, die eigene Lebenswelt zu verlassen, um das Evangelium bei anderen zu entdecken« (S. 39), dann ist das eine Basis. Der Dissens beginnt dort, wo die Gestaltung des »Kontaktraumes« (S. 39) für die Gemeinde als milieuübergreifende Begegnungsstätte zur Diskussion steht. Hier fällt Kunz wie selbstverständlich in die überkommene »Komm«-Struktur zurück. Die Gemeinde geht nicht hin, sie ist aber »offen« für alle, die kommen wollen. Was ist aber mit denen, die nicht kommen wollen, weil die ästhetischen Barrieren der bestehenden Gemeinde mit ihrer Milieuprägung sie hindern? Wenn hier nicht gelten soll: Wer nicht will, der hat schon; wir sind doch inklusiv; wer sich selbst ausschließt, ist selbst schuld! – muss das Vorhaben eines milieusensiblen und inklusiven Gemeindebaus noch entscheidend weitergedacht werden. Diese Fragen sollen die Anfragen von Kunz nicht zurückweisen; sie sollen dazu provozieren, deren notwendiges kritisches Potenzial noch zu schärfen, auf der Basis eines sehr weitgehenden ekklesiologischen und missionstheologischen Konsenses. Milieusensibilisierung braucht diese Debatte, für die ich mir eine Fortsetzung wünsche. c) Jürgen Schuster: Kontextualisierung des Evangeliums. Grundzüge eines an der Inkarnation Christi orientierten Verständnisses

Schuster nimmt mit »Kontextualisierung« den nächsten zentralen Begriff für eine Theorie milieusensibler Kommunikation des Evangeliums auf. Er resümiert nach seinem ersten einleitenden Teil: Phänomenologisch »dominieren Unterschiede das Bild« (S. 44). Er folgert: »Glaube, Kirche und Theologie waren […] von Anfang an ›kontextuell‹« (S. 44). Dass »sich die christliche Kirche auf unterschiedlichste Weise eine empirische Gestalt gegeben« (S. 44) hat, zeigt, wie plastisch sie kulturell und theologisch ist.

Fazit: Rückblick und Ausblick

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Entscheidende Voraussetzung dieser Argumentation ist es natürlich, dass es sich sowohl bei Nicäa als auch beim AIC um »Christentum« handelt, oder präziser: um christlichen Glauben, also die letztlich essenzialistische Position, dass sich bei allen Unterschieden an der Oberfläche doch Wesenselemente feststellen lassen, die sich durchhalten. Man kann diese Position in mindestens dreifacher Weise hinterfragen: (a) durch die Rückfrage nach der Möglichkeit, solche Wesensbestimmungen vorzunehmen. Sind diese nicht allenfalls Gott möglich? Wir Menschen können einen solchen god’s point of view ja nicht einnehmen; – (b) durch die Rückfrage, ob nicht alle Versuche, den Kern des Christentums zu bestimmen, die ja in Menge versucht worden sind, selbst kontextuell, also zeitbedingt sind und eine Wesensdefinition schon deshalb nicht hergeben; – (c) ob denn tatsächlich alle geschilderten Formen von »Christentum« eine – legitime und als solche anzuerkennende – Gestalt von christlicher Kirche sind. So könnte man ja den Standpunkt vertreten, dass ein charismatisch geprägtes Christentum, das auf die metaphysischen Unterscheidungen der altkirchlichen Christologie »pfeift«, gar nicht christlich sein kann. Wie soll dann freilich, so die Rückfrage traditioneller Kirchen, abgesichert vom Heil gesprochen werden können, das allein der stellvertretende Sühnetod des Sohnes Gottes bewirken kann? Schuster konzipiert – theologisch absolut zentral! – Kontextualisierung nach dem Vorbild der Inkarnation und als deren Fortsetzung durch drei wesentliche Elemente: Die jeweilige Weltsicht von Menschen inklusive ihrer Plausibilitätsstrukturen wird (1) zum Bezugsrahmen von Kommunikation; in ihm wird (2) der Logos Jesus Christus so heimisch, dass (3) das Evangelium ebenda zu einer guten Nachricht werden kann und die Fähigkeit zu einer Antwort auf das Evangelium entstehen kann. So sehr der Ansatzpunkt bei der Inkarnation überzeugt und so wichtig es ist, den bloßen Kommunikationsbegriff durch die lebensweltliche und die rezeptive Dimension (Befähigung zur Antwort) zu erweitern, so sehr bedrängen die Fragen, (a) inwieweit das nicht nur Zielbestimmungen sind, aber offenbleibt, wie Kontextualisierung operativ aussieht und gelingen kann, (b) worin denn das Kriterium gelingender Kontextualisierung besteht. Heimischwerdung/Inkulturation und Rezeptivität reichen da nicht. Sie könnten ja auch zu einer bloßen Anpassung führen. Wie kann eruiert werden, dass wirklich das Wort, Jesus Christus, angekommen ist und vom Gegenüber »beantwortet« wird? Diese Frage stellt sich umso mehr, als die Antwort auf die Frage nach dem kulturübergreifend Christlichen vor den schon genannten Schwierigkeiten essenzieller Bestimmungen des Christlichen steht. M. a. W., wie kann man sicher sein, dass eine Lebenswelt nach erfolgter Kontextualisierung wirklich »christlich« ist? Schuster schildert Kontextualisierung im Anschluss an Henning Wrogemann und Gilliland als einen dynamischen, offenen Prozess. Dessen Ergebnis kann nicht vorher festliegen, weil es Resultat einer »vielschichtigen Austauschbeziehung« ist. (S. 49) An dieser nehmen die verschiedenen Akteure und das Evangelium teil, aber nun doch nicht so, dass die Identität dessen, was das Evangelium wäre, von vornherein feststünde, genauso wenig wie die Identität

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der menschlichen Subjekte oder des kulturellen Rahmens. Die traditionellen Rollenzuweisungen in einem Kommunikationsprozess – wer ist Sender; was ist die Botschaft, wer sind die Empfänger? – werden zugunsten eines offenen, dynamischen, alle Beteiligten einbeziehenden Transformationsgeschehens durchbrochen. Wenn Schuster die Unkontrollierbarkeit und Ergebnisoffenheit des Kontextualisierungsprozesses so ausdrücklich artikuliert, gibt das die Gelegenheit, die sich stellenden erkenntnistheoretischen und hermeneutischen Fragen noch einmal zuzuspitzen: (1) Ist der Inhalt »des Evangeliums« beliebig? (2) Gibt es nicht bestimmte Minimalbedingungen, die für eine kulturelle Transformation eingehalten werden müssen, wenn diese als »gelungen« qualifiziert werden soll? (3) Wo bleibt in diesem Prozess das inhaltliche Profil des Evangeliums? Wie kann gewährleistet werden, dass es seine kontra-kulturelle Wirkung entfalten kann? Wie kann umgekehrt verhindert werden, dass es total affirmiert wird, seinen Charakter als Gegenüber verliert, vielmehr instrumentalisiert wird im Sinne kultureller, nun auch divinitorisch überhöhter Selbstbestätigung, durch religiöse Weihen vorgegebener Denkstrukturen und Orientierungsweisen? Es versteht sich von selbst, dass das nicht nur Anfragen an das missionswissenschaftliche Konzept der Kontextualisierung und entsprechende Praktiken sind, sondern auch selbstkritische Fragen an eine kirchliche Milieuforschung und ihr ethnografisch orientiertes Kommunikationsmodell. Unterstellt Schuster nicht etwas, was er theoretisch gar nicht mehr voraussetzen darf, wenn er passim von »dem Evangelium« ohne jede Näherbestimmung redet? So sehr das Anliegen zu würdigen ist; so sehr der Ansatz überzeugt, so sehr brauchen diese Fragen eine Antwort, wenn das Modell tragfähig sein soll.3 3

Für eine weitere Diskussion möchte ich drei Impulse geben: (a) Kann es eine Möglichkeit geben, von einem god’s point of view eine quasi platonische Schau auf das Wesen und den Inhalt des Evangeliums vorzunehmen und »das« Evangelium zeitübergreifend und kulturunabhängig zu bestimmen, wenn es seinem Charakter nach inkarnatorisch ist, in die Geschichte eingeht, sich mit Kulturen, diese verändernd, verbindet? Müßte nicht diese theologische Bestimmung zum Ausgangspunkt der Reflexionen werden? Wenn Sprache mit J. G. Hamann und L. Wittgenstein Ausdruck einer Lage ist; wenn sich – vor allem – wiederkehrende Erfahrung in Struktur, Grammatik und Semantik einer Sprache niederschlagen, dann kann die hebräisch-biblische, sich auch im Griechisch neutestamentlicher Schriften niederschlagende Sprachgestalt als Ausdruck und sprachlicher Eindruck kontingenter Kondeszendenz verstanden werden. Wir stoßen dann in den biblischen Sprachen auf Merkmale, die über sich hinausweisen auf Erfahrungen, die sie bewirkt haben, aber auch für spätere Generationen ermöglichen und erschließen. Die zu eruierende Sprachgestalt bedeutet keine ausgeformte Theologie, aber sie enthält in gewisser Weise Rahmenbedingungen und Leitplanken für eine Theologie, die als »biblisch«-orientiert anerkannt werden will. Eines der Elemente ist eben der für das Evangelium konstitutive Geschichtsbezug mit seiner inkarnatorischen Spitze. Evangelium ist kein abstraktes Konzept, keine Idee, keine zeitlose Weisheit. Ein zweites Element besteht in einer mehr als individuellen und nicht nur persönlichen, sondern sich über Generationen perpetuierenden, darum als heilige Überlieferung weitergegebenen und jeweils neu aktualisierten Gottesbegegnung. Christsein beginnt und endet nicht mit mir. Zu den theoretischen, mit Freunden zusammen entwickelten Ansätzen sprachwissenschaftli-

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Im zweiten Teil seines Beitrages exemplifiziert Schuster seine Aussagen an missionstheologischen Fragen, wie sie sich im japanischen Kontext ergeben. Wenn ich ihn recht verstehe, plädiert er hier dafür, sich nicht auf die traditionell westlichen Inhalte von Evangelium zu fokussieren, sondern inhaltliche Äquivalente aufzusuchen, und über die für westliches Christentum zentralen juristischen Kategorien (Schuld, Strafe, Sühne) hinaus eine ganze Reihe von Metaphern aufzugreifen, die sowohl biblische Bezüge aufwiesen als auch für die japanische Kultur von zentraler Bedeutung seien. Schuster nennt als Beispiel »Sünde als zerbrochene Beziehung« (S. 51). »Kontextualisierung fordert […] heraus, die eigene theologische Perspektive zu erweitern und die biblischen Texte in einer größeren Breite in den Blick zu nehmen«. (S. 51–52) Die Vergrößerung der Begegnungsflächen zwischen dem Evangelium und einer speziellen Kultur führt so nicht nur zu einer Bereicherung in der Erschließung der biblischen Texte, sondern ist selbst ein »inkarnatorisches Geschehen« (S. 52). Wir führen schon gestellte Fragen weiter, wenn wir präzisieren: Sind die Kategorien Schuld, Sühne, Strafe verzichtbar? Sind sie kulturelle Phänomene eben des abendländischen Christentums, die ein Kontextualisierungsprozess – etwa im ostasiatischen Raum – hinter sich lassen kann, wenn er andere Anknüpfungspunkte findet? Übertragen auf die Milieuthematik: Wenn Kirche im HED cher und -philosophischer Art sowie zum biblisch-theologischen Hintergrund vgl. Klaus Haacker / Heinzpeter Hempelmann, Hebraica Veritas. Die hebräische Grundlage der biblischen Theologie als exegetische und systematische Aufgabe, Wuppertal/Zürich 1989; darin: Veritas hebraica als Grundlage christlicher Theologie. Zur systematisch-theologischen Relevanz der biblisch-hebräischen Sprachgestalt (39–78; Thomas Pola / Heinzpeter Hempelmann, Art. Hebräische Sprache / hebräisches Denken, in: Evangelisches Lexikon für Theologie und Gemeinde 2, 2019 [im Druck]). – (2) Auch wenn der Kommunikations- als Transformationsprozess ergebnisoffen und nicht kontrollierbar ist, gibt es eine mögliche Flankierung von Kontextualisierungsversuchen. Sie besteht in der consolatio derer, die solche Verfahren bereits hinter sich haben, mit solchen, die sie projektieren und auf dem Weg sind. Letztlich ist Kontextualisierung nur dann gelungen, wenn sie – womöglich über einen längeren Prozess von Auseinandersetzungen und Klärungen – zur Anerkennung durch schon bestehende Kirchen führt. Dieser Anerkennungsprozess hat ein doppeltes Ergebnis: Er legitimiert und vergewissert nicht nur junge Kirchen, die sich auf der Basis des »neuen« Evangeliums bilden; er erweitert auch die Perspektiven der bestehenden Kirchen und bereichert sie durch neue, noch einmal andere Erschließungen des Evangeliums. (3) Ekklesiologisch nimmt eine solche Flankierung von Kontextualisierungs- als Transformationsprozessen die pneumatologische Dimension der Kommunikation des Evangeliums in doppelter Weise ernst. Das Ergebnis ist einerseits offen. Es verdankt sich dem Wirken des kreativen, Verstehensgrenzen und kulturelle Barrieren überwindenden lebendigen creator spiritus. Es ist andererseits nicht beliebig. Es bedarf der Zustimmung derer, die sich als Kirche als solche verstehen, die unter der Wirkung des Geistes Gottes stehen, freilich selbst immer wieder der Erneuerung bedürfen und Kritik benötigen. Der Kreis der an Kontextualisierung Beteiligten, auf sie einwirkenden und von ihr selbst Betroffenen wäre darum noch einmal zu erweitern: um die hergebrachten Kirchen und ihre Theologien (den hier nur angedeuteten ekklesiologischen Hintergrund habe ich entfaltet in: Die Kraft des Con. Konkurrenz von Kirchen und in der Kirche als Herausforderung. Grundzüge einer alternativen Ekklesiologie, Theologische Beiträge 50 [2019], 151–168).

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durchweg als Spaßverderber gilt, müsste dann nicht in dieser Lebenswelt auf Größen wie Sünde und Schuld, auch Strafe verzichtet werden? Die Suche nach alternativen Begegnungsflächen als Zugängen zu anderen Kulturen ist von zentraler Bedeutung (im Beispiel: etwa die Frage nach einem christlichen Hedonismus). Diese Suche ist nicht unwichtig. Es ist auch sensibel danach zu fragen, was die Einstiegs-Tore für eine Kultur sind. Unabhängig davon stellt sich aber die Frage, ob wir bei Sühne, Schuld, Sünde, Stellvertretung etc. nicht auf einen Sachzusammenhang treffen, ohne den Evangelium nicht gedacht werden kann und der darum über kurz oder lang im Zuge fortschreitender Kontextualisierung und Inkulturation bei der Kommunikation des Evangeliums zur Geltung gebracht werden muss, kritisch und Horizont erweiternd. Es ist ja nicht auszuschließen, vielmehr damit zu rechnen, dass das Evangelium den Menschen auf Fragen bringt, die er vielleicht bisher noch nicht hatte, die aber gerade darum schon Evangelium sind, weil sie die wesentlichen, bisher nicht gesehenen sind. Wie man zu diesen Fragen steht, wird auch davon abhängen, wie man die Bandbreite soteriologischer Bestimmungen im AT und NT einschätzt, theologisch gewichtet und ob man etwa der Existenzstellvertretung eine Mittelpunktstellung einräumt, weil sie für Jesus selbst zu einer zentralen Deutekategorie seines Handelns, Wirkens und Geschicks geworden ist (vgl. Mk 10,45).4 Umgekehrt wird natürlich die Einschätzung des Gewichtes des biblisch-theologischen Befundes wiederum von hermeneutischen Grundentscheidungen im Kontextualisierungsbegriff abhängen. Je nachdem könnte dann selbst das Selbstverständnis Jesu keine uns heute bindende Größe sein.

Zu Teil II: Dimensionen der Kommunikation Ich möchte jetzt zwei ausgesuchte Dimensionen noch einmal fokussieren und dabei sowohl weiterführende, wie teilweise auch kritische Akzente setzen. a) Die verbale Dimension

Im Hinblick auf die Bedeutung des Verbalen für Theologie, Kirche und speziell Verkündigung scheint es aus der Sicht kirchlicher Milieuforschung immer noch einen blinden Fleck zu geben. Es scheint mir nicht wirklich bewusst zu sein, welche Bedeutung das Verbale für – vor allem protestantische – Kirchen hat und wie sich diese scheinbar selbstverständliche Mittelpunktstellung auswirkt, inkludierend wie exkludierend. Unterbelichtet scheint auch die (sprach-)philosophische Kritik an der okzidentalen Mittelpunktstellung von verbum/logos zu sein. Beides möchte ich im Folgenden in der gebotenen Kürze wenigstens andeuten und – sicher auch provozierend – zum produktiven Widerspruch reizen. 4

Vgl. zum Hintergrund der Sache: Heinzpeter Hempelmann / Michael Herbst, Vom gekreuzigten Gott reden. Wie wir Passion, Sühne und Opfer heute verständlich machen können, Gießen 2011.

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Wer die Praxisprobe aufs Exempel machen möchte, muss nur fragen, welche Bedeutung der Predigt als dem verbalen Geschehen in Ausbildung, Studium und pfarramtlicher Praxis, speziell dem Gottesdienst in Theorie und Praxis, zukommt, und welche Relevanz sie für die allermeisten Kirchenmitglieder empirisch nachweisbar hat oder besser: nicht hat. Dennoch gilt nach wie vor: Das Evangelium kognitiv fassen; es geschliffen begrifflich ausdrücken können; die Distinktionen beherrschen und natürlich kommunizieren, weitergeben können; den alles beherrschenden Verkündigungsauftrag umsetzen – homiletisch, religionspädagogisch, seelsorgerlich, poimenisch: Gilt das nicht als die eigentliche theologische Kompetenz? Braucht es darum nicht auch ein akademisches Studium der Theologie als Voraussetzung und Zugang zum geistlichen Dienst? »Verbal« und »kognitiv«/»reflektiert« sind für viele semantisch fast deckungsgleich. Und wird diese noch für viele gegebene Evidenz der notwendigen Dominanz des Kognitiven nicht noch durch die abendländisch beherrschende LogosChristologie (vgl. als zentralen biblisch-theologischen Bezugspunkt v. a. Joh 1,1–18) abgestützt? Hat Gott sich nicht selbst greifbar und aussagbar gemacht in dem Logos/Verbum/Wort Jesus Christus? Ist Gott nicht λόγος (logos)? Und bahnt die ebenso geniale wie wirkmächtige Synthese von hebräischem Gottesglauben und griechisch-antiker Philosophie nicht genau die Überzeugung an, dass der Kosmos durch ein mit dem Schöpferwort identischen intellektuellen Prinzip, dem Logos, der Vernunft bestimmt ist, fassbar in Begriffen, Distinktionen, Sätzen, Urteilen? Und käme von daher nicht alles darauf an, diesen λόγος (logos) zu greifen, sowohl theologisch als auch philosophisch und eben auch – jedenfalls in (neo-realistischen) Positionen bis heute – auch wissenschaftstheoretisch? Und sind die sprachlichen Unterscheidungen in den heutigen Kulturund Sozialwissenschaften nicht noch übermächtiger geworden, seit die konstruktivistische Überzeugung herrscht: Wirklichkeit heißt, Bilder machen; wir begegnen von der Gesellschaft bis zum Geschlecht nur unseren eigenen Hervorbringungen, aber nicht einem vermeintlichen Wesen der Dinge? Das Wort macht’s; das Wort schafft’s? Und arbeiten nicht selbst die emanzipativen Schlüsselbewegungen mit der dem Wort zugetrauten Kraft? Geschieht nicht selbst die Aufhebung falscher, unethischer Distinktionen in der Regel im Okzident über oft sehr anspruchsvolle Unterscheidungen und Theoriebildungen? Ist das Verbale aber dann nur eine Dimension von Kommunikation? Ist es nicht das Ganze, das Eigentliche, das Wesentliche? So überzeugend und dominant diese Perspektive ist, so kräftig sind die Relativierungen oder – postmodern gesprochen –: Dekonstruktionen, denen dieses Basis-Modell abendländischen Weltverstehens ausgesetzt ist. Einige wenige Hinweise mögen und müssen an dieser Stelle genügen: − Es ist vor allem Martin Heidegger, der die Seinsvergessenheit abendländischer Philosophie rügt. Anders als unterstellt, kommt das Sein eben nicht in den begrifflichen Distinktionen zu Wort. Anders als unterstellt, zeigt sich der Sinn von Sein nicht einfach in den sprachlichen Unterscheidungen, die wir

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treffen; durch die Worte, die wir gebrauchen, um die Welt und uns selbst zu erfassen. Heidegger akzentuiert: Dieser Sinn ist verhüllt; er muss mühsam aufgedeckt werden, und der von vielen kritisierte philosophische Jargon seiner Werke, angefangen von Sein und Zeit, signalisiert vor allem das eine: Wir brauchen eine neue Sprache, um dem Sein auf die Spur zu kommen. Am ehesten entdeckt es sich noch in der Dichtung. Friedrich Hölderlin wird für Heidegger zum Kronzeugen. Eine Sprache, die die Welt zum Objekt macht, ist in ihrem Weltumgang korrumpiert.5 − Im Anschluss an Heidegger hat Jacques Derrida den Logozentrismus abendländischer Philosophie verdeutlicht und entlarvt. Anders als unterstellt, lassen uns die Worte nicht die Sachen selbst fassen; begegnen wir in ihnen nicht der Sache selbst. Wie Derrida in zahlreichen Analysen zeigt, ist die Sprache ein einziger unendlicher Verweisungszusammenhang. − Es ist vor allem Friedrich Nietzsche, der mithilfe sprachphilosophischer Analysen zeigt: Die Sprache verführt uns. Sie »necessitiert uns zum Irrtum«6. Ludwig Wittgenstein nimmt den Faden auf, wenn er der Philosophie vor allem die Aufgabe zuweist, »Kampf gegen die Verhexung unseres Verstandes durch die Mittel unserer Sprache« zu sein.7 Dem eingebauten Logozentrismus hält er entgegen: »Man glaubt, wieder und wieder der Natur nachzufahren, und fährt nur der Form entlang, durch die wir sie betrachten. Ein Bild hielt uns gefangen [!]. Und heraus konnten wir nicht, denn es lag in unserer Sprache.«8 Die Sprache, nein: unsere Sprache verführt uns, weil sie uns die Möglichkeit einer sprachunabhängigen Vernunft suggeriert, die Illusion eben der Vernunft, der einen Vernunft nährt. An dieser Stelle ist an Johann Georg Hamann zu erinnern, den Zeitgenossen Kants, der dem Freund seine Sprachvergessenheit vorhielt. Kant will die Vernunft reinigen, aber das Reinigungsmittel ist nicht sauber, es ist selbst schmutzig. »Vernunft ist Sprache«, deine Vernunft ist Sprache, ist sprachgebunden. Sprache aber hat kein »ander Creditiv als Ueberlieferung und Usum«9, belehrt er den Freund, genialisch die Sprachspieltheorie Ludwig Wittgensteins vorwegnehmend. Sie ist 5

An dieser Stelle ist die grundsätzliche, philosophische Technik-Kritik Martin Heideggers als Verfehlung des Menschen bemerkenswert: Heidegger sieht weniger technische Bedrohungen als Gefährdung. Die Technik führt vielmehr – verstanden als »Gestell« – dazu, dass der Mensch das Sein als zu Berechnendes auffasst und damit verfehlt (vgl. ders., Der Satz vom Grund, Pfullingen 1957). Zur Sache vgl. neben dem Überblick im Art. Technik, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie 10, 1998, 940–952, 948) die Monografie von Wolfgang Schirmacher, Technik und Gelassenheit. Zeitkritik nach Heidegger, Freiburg/München 1983. Schirmacher bettet, ebd. 205–213, die Kritik Heideggers in einen weiteren philosophischen Horizont ein. 6 Götzen-Dämmerung, in: Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, hg. von Giorgio Celli / Mazzino Montinari, Band 6, München u. a. 1980, 55–161, 77,10. 7 Philosophische Untersuchungen §109. 8 Philosophische Untersuchungen §114f. 9 Johann Georg Hamann, Sämtliche Werke, hg. von Josef Nadler, Band 3, Wien 1951, 281– 289, 284. Im Original ist das Unterstrichene gesperrt gesetzt.

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eine geschichtliche, damit kontingente, damit keineswegs – wie unterstellt – notwendige Größe. Es gibt so viele Vernünfte wie es – immer sprachlich gefasste – Begriffe von Vernunft gibt. Und gibt es nicht sehr viele Sprachen und Sprachwelten? Hat nicht jedes Individuum seine Sprache/Sprachwelt, so schon Wilhelm von Humboldt? − Der amerikanische postmoderne Philosoph Richard Rorty drückt den Sachverhalt in seinem Non-Fundamentalismus drastisch aus: »Die Welt spricht überhaupt nicht, nur wir sprechen.«10 Wir treffen nicht auf die Dinge selbst, sondern immer nur auf unsere sprachlichen Setzungen oder – etwas weniger radikal – Vermittlungen. − Vielleicht am bedeutendsten ist die Einsicht von Willard van Orman Quine, dass wir nie genau wissen können, was der andere denkt, wenn er unsere Worte hört, oder umgekehrt: Wir können dem, was wir hören und vom anderen wahrnehmen, immer nur einen Sinn unterstellen, von dem wir aber nie hundertprozentig wissen können, ob er wirklich zutreffend ist.11 Wir stehen vor einer umfassenden, sich als Dekonstruktion vollziehenden sprachphilosophischen Destruktion der als Logos gedachten Vernunft. Ihre überraschende Pointe lautet freilich: Worte sind das einzige, was zählt. Worte machen wird immer wichtiger. Wirklichkeit schaffen heißt: Worte machen. Ist dieser konstruktivistische Ansatz durchschaut, zeigt der Nihilismus freilich seine hässliche Fratze. Es kommt ja dann nicht mehr auf die Wahrheit an. Die können ja alle beanspruchen und schaffen, wenn sie die Macht haben, ihre Interpretation von Welt durchzusetzen. Es gilt dann ja offenbar: Die Wahrheit = das Recht des Stärkeren. Versicherungen, man sage – natürlich als einziger – die Wahrheit, sind wohlfeil und können von jedermann und jeder Frau wiederholt und in Anspruch genommen werden. Sie sind aus ideologiekritischer Perspektive nichts anderes als ein besonders raffiniertes Manöver, sich auf dem Markt der Wahrheiten durchsetzen zu wollen. Diese dekonstruktivistische Perspektive lässt sich unschwer ergänzen um weitere kritische Theorieansätze: − Sprache als Manipulationsinstrument in den Händen einer jede Position plausibilisieren könnenden Rhetorik; − Sprache als Herrschaftsinstrument: Wer den Diskurs beherrscht und die Leitworte setzt, hat die Macht; − Sprache als Mittel effektiver Exklusion: Zugänge zu Bildung und damit zu Leitung und Herrschaft gibt es nur über die Beherrschung von Sprache. Dementsprechend gibt es in den unterschiedlichen Lebenswelten sehr unterschiedliche Haltungen zum Verbalen, zum Kognitiven, zur Sprache und der von 10

Richard Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt a. M. 1992, 25. Vgl. Dimitrios Markis, Quine und das Problem der Übersetzung, Freiburg/München 1979; dazu die Rezension von Josef Simon, in: Philosophisches Jahrbuch Band 90 (1983), 208–211.

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ihr ermöglichten Reflexion. Theologie und Verkündigung haben im Licht der genannten kritischen Perspektiven auf die verbale Dimension allen Grund, diese zu berücksichtigen und nicht einseitig und unkritisch die zentrale Stellung der verbalen Dimension für selbstverständlich zu halten. Was bedeutet dieser Befund für eine Kirche, die in ihrer Ausbildung und ihrem Selbstverständnis noch ganz in der abendländischen, ihr scheinbar nach wie vor Identität gebenden Tradition steht? Einerseits eine absolut selbstverständliche Schlüsselstellung des Verbums und des Verbalen, selbstverständlich kognitiv und reflexiv begriffen; andererseits eine philosophische Dekonstruktion und Destruktion, die – verbunden mit einer lebensweltlich gegebenen Pluralisierung des Verbalen – genau diesem Selbstverständnis die Füße und das Fundament wegzieht? Lebensweltlich bildet sich der beschriebene Vorgang in sehr heterogener Weise ab. Für LIB ist das Verbale nach wie vor selbstverständliches Mittel der Weltbeherrschung; es ist geradezu Lebens-Mittel. Distinktionen, ihre Pflege und Tradition wie Durchsetzung, im Bildungswesen, in der Rechtsprechung, in der Verwaltung und im »öffentlichen Leben« stiften, ermöglichen und bewahren das soziale Leben. Kirche hat eine orientierende Funktion. Ihre normativen, verbal artikulierten Ansprüche haben eine soziale Bedeutung. Kirche verliert aber gerade dadurch an Glaubwürdigkeit, dass es einen tiefen Hiatus zwischen den Proklamationen des Evangelischen und den gelingenden Realisierungen des Evangeliums gibt. PRE erfahren dagegen das Verbale als Mittel der Exklusion und Diskriminierung, zumal das von ihnen vielfach favorisierte Medium des Körpersprachlichen weithin als minderwertig abqualifiziert wird. Je wichtiger die verbale Kompetenz wird, je größer die Bedeutung von Bildung, Fort- und Weiterbildung wird, umso mehr wissen sie sich effektiv und dauerhaft abgehängt. Für PRE ist Kirche verbal operierende Bildungskirche, darin Repräsentantin der Mitte der Gesellschaft wie auch Exklusionsinstanz: angefangen vom Religionsund Konfirmandenunterricht über die verballastigen Gottesdienste bis hin zu den kommunikativen Begegnungen mit hauptamtlichen Vertretern, in denen die eigene kognitive Minderwertigkeit mannigfach durch mindere sprachliche Kompetenz erfahrbar wird. Religionskritisch wird immer wieder die Differenz zwischen dem sozialen Anspruch von Kirche und ihrer tatsächlichen Hilfsbereitschaft artikuliert. Kirche macht dann vor allem Worte. PER beherrschen die verbale Dimension, empfinden sie aber als verengt und verkopft. Design- und Formensprache sind Mittel der Artikulation des eigenen Lebensgefühls und des In-der-Welt-Seins. Worte machen, reden hilft – allein – nicht weiter. Im Gegenteil: die verbal artikulierten, sich in Gesetzen, Normen, Institutionen niederschlagenden und eingefahrenen Leitdistinktionen stehen den notwendigen Veränderungen für eine zukunftsfähige Gesellschaft viel zu oft entgegen. Nicht reden, sondern machen; nicht Worte machen, sondern handeln; nicht theoretisieren, sondern gestalten! Auch Kirche macht viel zu viele Worte; bleibt meilen- und weltenweit hinter ihrem verbal artikulierten An-

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spruch zurück. Es ist geradezu ihr Problem, dass sie eine Institution des Wortes, der vielen Worte ist. Sie interpretiert, statt zu gestalten. Für KET ist das verbale Medium nicht nur Distinktionsmittel (etwa gegenüber der Gossensprache). Die verbale Kommunikation ist darüber hinaus Ausdruck eines kulturellen Grundkonsenses über legitime Verständigung. Kirche ist im Prinzip Verbündete im Anliegen der hochkulturellen Leitwährung für diese Gesellschaft. Kritisch sieht man eher die auch sprachliche Anbiederung von kirchlichen Vertretern an die Mittel- und Unterschicht. Für HED ist das Verbale einerseits Medium der Abgrenzung: An der Sprache erkennt man, wer dazu gehört und wer sich vom Sprachgebrauch abschrecken lässt; das Verbale ist aber auch Ausdruck des direkten, unkomplizierten Lebensgefühls. Durch meine Sprache, durch die in unserer Szene/Gruppe, im Kreis der Freunde gepflegte spezielle verbale Ausdrucksweise beweisen wir ebenso unsere Zusammengehörigkeit wie wir uns von anderen abgrenzen. Für TRA ist das Verbale, gerade in seiner ritualisierten Form, etwa als Lied, Gedicht, Merkspruch, ein Sehnsuchtsort, über den erinnert und vergegenwärtigt wird. Die verbale Artikulationskraft der akademisch gebildeten Vertreterinnen der Kirche ist ebenso achtungheischend wie uneinholbar, vertrauenseinflößend wie nicht nachvollziehbar. Bedrängend ist der auch im Raum der Kirche fortschreitende Verlust an traditionsorientierten Artikulationsmöglichkeiten. Das Neue, Moderne, Englische beheimatet nicht. In ihm ist der TRA nicht zu Hause. Für die BÜM ist das Verbale ein Haus. Die Sprache, in der man sich bewegt, ist Heimat und Mittel der Beheimatung. Mithilfe des Verbalen grenzt man sich nicht ab, sondern will man so sein, wie – unterstellt – alle. Die verbale Artikulation der kirchlichen Vertreter ist da willkommen und kommt an, wo sie familiär geschieht, nicht auffällt, weder durch besonderen Gebrauch von Fremdwörtern noch durch anbiedernde Aufnahme von hedonistischem Trash. Für SÖK ist das Verbale Medium der Weltveränderung. Als ethisches Instrument ist das Verbale ein anstrengendes, mühsames, allerdings der Mühe wertes Medium. Über Sprache steuern wir unser Verhalten. Verbale Artikulation ist nicht nur bloße Formsache. Hier zeigt sich rechtes, richtiges Bewusstsein und der Wille zur Veränderung von Welt und Bewusstsein. Kirche wird erwartet als der natürliche Bundesgenosse in emanzipativen, sich sprachlich artikulierenden und sprachlich betriebenen Prozessen. Für EPE ist das Verbale eine Engführung. Aber dieses Medium kann in Verein mit anderen, etwa der Bildsprache, dazu dienen, Erfahrungen zu teilen. Kirche ist – in der Regel – eine unendlich langweilige Interpretationsgemeinschaft, die schon lange nichts Neues, darin Innovativ-Vorwärtsweisendes zu sagen hat. Ihre Sprache zeigt sie als Traditionsverein oder als verkrustete Institution, bis hin zur verbal funktionierenden Festlegung in Regeln, Normen, Gesetzen. Für ADA kommt dem Verbalen als solchen keine eigene, besondere Bedeutung zu. Es ist interessant, soweit es nützlich ist. Das Verbale ist Mittel der Anpassung und nicht mehr als ein Instrument, um die eigenen Ziele zu erreichen. Verbale Artikulationen der Wahrheit, des besonderen Anspruchs von Kirche,

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stoßen ins Leere. Worte machen ist einfach. Kann das nicht jeder? Worte allein eröffnen keinen Horizont und geben keine Orientierung, wo ein allgemein anerkannter – metaphysischer – Horizont nicht mehr denkbar ist. Kirche ist da relevant, wo sie gerade nicht mehr nur Worte macht, sondern konkret hilfreich ist und für das eigene Leben etwas bedeutet. Für Kirche bedeutet dieser Befund, a) sich nicht nur auf die verschiedenen Sprachspiele der verschiedenen Lebenswelten einzulassen; das ist selbstverständlich. Sie sollte vielmehr berücksichtigen, welche Bedeutung das Verbale für ein Milieu hat und sich darauf einstellen. b) Frech und provokativ formuliert, können die angedeuteten kritischen Perspektiven für eine im Licht des Evangeliums selbstkritische Kirche auch Anlass sein, die in ihr gepflegte Hochschätzung des Verbalen einer kritischen Überprüfung zu unterziehen und nach exkludierenden Wirkungen zu fragen. c) Hilfreich ist das schon in der hebräisch-biblischen Semantik von ‫( דָּ בָר‬dāvār) sich abbildende Profil von Wort: Wort und Wirklichkeit gehören zusammen und lassen sich nicht trennen. Das Wort stiftet Wirklichkeit; es ereignet sich. Es kommt nicht leer zu dem zurück, der es spricht. Es ist – biblisch-theologisch – nie nur »Schall und Rauch«. Auch wenn eine Kerygma-Theologie es noch spiritualisieren konnte, gilt: das Wort-Geschehen spricht mehr als 1000 Worte. d) Auf eine weitere, für die Kommunikation des Evangeliums in postmoderne Lebenswelten hinein wichtige Spur könnte auch die sprachphilosophische, vor allem dekonstruktivistische Einsicht in den Verweischarakter von Sprache setzen. Sprache ist nicht in sich befriedigend. Wir stoßen im Wort nicht auf die Sache. Wenn Sprache angemessen ist, weist sie über sich hinaus auf das, wovon die Rede ist. Das ist eine linguistische Spur, die der ZeugnisStruktur, wie wir sie aus dem Neuen Testament und der Systematischen Theologie, speziell reformierter Prägung, kennen, recht nahekommt. Sie kann Kirche und Christen daran erinnern, dass es nicht nur darauf ankommt, Worte zu machen, angemessene Begriffe und Formulierungen zu finden, die richtige Sprache zu sprechen, sondern auf den hinzuweisen, auf dessen Präsenz letztlich alles ankommt; die wir freilich nicht erzwingen können, auch nicht durch theologische und homiletische Brillanz, auf die wir nur hoffen können und um die wir beten dürfen. Mit dieser gleichermaßen theologisch wie sprachphilosophisch plausiblen Figur ist nicht nur eine ungeheure Entlastung des Verkündigers/Zeugen/Kommunikators verbunden: gelingende Kommunikation ist gerade evangelisch nicht machbar; sie bedeutet auch eine apologetische »Abrüstung«. So sehr der, von dem wir reden und den wir vermitteln wollen, »die Wahrheit« ist, so wenig steht es in unserer Hand, das auszuweisen. Er muss sich und seine Wahrheit selbst im-

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ponieren, postmodern gesprochen: in einer individuellen Lebenswirklichkeit inszenieren. b) Die mediale Dimension

Auch der Erörterung der medialen Dimension dienen in unterschiedlicher Weise in diesem Band drei verschiedene Beiträge. Die mediale Dimension dürfte – nicht zuletzt vor dem Hintergrund der sich durchsetzenden Vorherrschaft digitaler Medien – zu der zentralen Herausforderung für die Kommunikation des Evangeliums werden, Veränderungen in der Ekklesiologie eingeschlossen. Wenn wir über die mediale Dimension, also von Medien, sprechen, müssen wir uns zunächst darüber verständigen, was wir denn mit »Medien« meinen. Wie schon der Grundsatzbeitrag von Norbert Schmidt deutlich macht, gibt es verschiedene Begriffe von Medien. Dabei lohnt es nicht nur, verschiedene technische Medien zu unterscheiden: primäre wie Print, elektronische wie Radio und TV, oder digitale, die internetbasiert mobile und dialogische Kommunikation ermöglichen. Neben diesem mehr technischen Begriff von Medien gibt es eine sehr viel weitergehende, fundamentale Bedeutung von Medien: Sie zeigen, wie sich (und ob sich) uns die Welt erschließt und – noch weitergehend – sie konstituieren auch ein Stück weit die Welt, in der wir jeweils leben. Sie sind das Mittelding, zwischen uns und der Welt, das uns die Welt in einer bestimmten Weise erschließt (oder auch nicht), mit dem wir unseren Radius erweitern (oder auch nicht), mit dem wir Welt selektieren, mit dem wir aber auch auf diese Weisen selbst bestimmen, was unsere Welt ist, also selbst unsere Alltagswirklichkeit ein Stück weit konstituieren. Nicht umsonst spielt der viel behandelte digital gap eine entscheidende Rolle für die berechtigte Wahrnehmung vieler Menschen, dass sie von der Realität abgehängt sind, weil sie nicht den Zugang haben zu und über digitale Medien. Nicht umsonst leben Menschen in einer Printwelt anders als in einer digitalen Welt. Print bedeutet als solches schon Reduktion auf der Basis von Selektion. Natürlich selektiert auch die Suchmaschine, aber was sie bietet, ist immer noch »unendlich« und in der Sache eine nicht zu bewältigende Informationsüberforderung, die zum qualitativen Kurzschluss geradezu verführt. Gut ist nicht, was in Büchern qualifizierter Fachverlage zu finden ist, sondern was bei Google »oben« steht. Dem elitären Zugang des Prints steht umgekehrt der egalitäre Zugang über die sozialen Medien gegenüber. Hier kann sich jede Frau äußern und jede sich präsentieren. Der wohl organisierten »Öffentlichkeit« mit ihrer wohldosierten Meinungsvielfalt und Grenzen, die definieren, was sagbar und diskutierbar ist, steht jedenfalls das Netz als im Prinzip anarchistisches Medium gegenüber. Sage mir, welche Medien du gebrauchst, und ich sage dir, wie du lebst und wie deine Welt strukturiert ist. Wie das Festnetztelefon Einsamkeit und Hilflosigkeit durchbrechen kann, so stellt das Smartphone in eine – auch Möglichkeiten der Kontrolle und Überwachung bietende – Dauervergemeinschaftung hinein, die vielen Nachwachsenden

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schon wieder viel zu weit geht. Über Medien regeln und bestimmen wir unsere sozialen Kontakte, ihre Quantität aber auch ihre Qualität. Philosophisch gesprochen: Die von uns gebrauchten Medien zeigen (und bestimmen) jeweils, wie wir in der Welt sind. Das ist eine der entscheidenden Einsichten des erweiterten Medienbegriffes, den wir bei McLuhan finden. Medien sind insofern sehr viel mehr als bloße technische, austauschbare Objekte, über die wir beliebig verfügen, ohne dass das unser Leben essenziell tangieren würde. Mediengebrauch konstituiert Lebensentwürfe. Viel zu selten haben umgekehrt Lebensentwürfe Konsequenzen für den Mediengebrauch und deren Selektion. Mit Schmidt formuliert: »Die Botschaft eines Mediums ist damit das, was es mit den Menschen macht, aber nicht sein Inhalt.« Diese »Botschaft« ist weitaus relevanter als die Inhalte, die das jeweilige Medium dann transportiert. Auch wenn man bei den Kommunikationskanälen im engeren Sinne bleibt und davon absieht, dass nach der McLuhan’schen Definition quasi alles zum Medium werden kann, sind die Folgen dieser Einsichten für Theologie und Kirche atemberaubend und kaum diskutiert. Wir vergegenwärtigen uns nur die Relevanz von vier Schlüsselmedien: Wort, Schrift, Buchdruck und Internet. Wie Medien die Welt bedeuten: eine SWOT-Analyse (Strengths, Weaknesses, Opportunities, Threats) Vorbemerkungen (1) Es gibt nicht das digitale Medium. Es müssen verschiedene unterschieden werden. (2) Internet einerseits und Social Media andererseits sind zweierlei.

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Fazit: Rückblick und Ausblick

Medium/ Milieus Wort

TRA PRE HED BÜM

Schrift

LIB KET SÖK ADA

Stärken

Schwächen

Möglichkeiten

Bedrohungen

• Oral Tradition: • Möglichkeit des große LebenVerlustes digkeit • Bindung des Wissens an Per• Anpassung durch Weitersonen erzählen • kaum kritische Rationalität • Weiterentwicklung und Verlebendigung des »Traditionsstoffes« • Bindung des Wissens an Autoritäten

• charismatische Präsentation • personale Dimension als zentral • überzeugende Weitergabe autoritäten• gestützt • plurale Gestalt (nicht kodifizierte Vereinheitlichung)

• Akkumulation von Wissen • Tradierbarkeit von Wissen • große Informationsfülle • Vielfalt von Meinungen und Positionen wird abbildbar • Professionelle Schrift-Gelehrte sichern den Umgang mit Wissen ab • Möglichkeit der Vereinheitlichung

• Loslösung aus • Die Botschaft dem Ursprungskann ihre urkontext; größere sprüngliche, Fruchtbarkeit mündlich gegeund Wirkung bene Bedeutung verlieren • kritische Rationalität wird • Sie kann mehrmöglich, durch deutig sein und Distanz zwiihre Verbindschen Person lichkeit verlieund Position ren • Entlastung des • Sie kann falsch Gedächtnisses; interpretiert neue Kapazitäwerden ten für neue Erkenntnisse • neue Präsenz des Alten durch interpretierende Vergegenwärtigung • Durch Erlernen der Schrift kann Wissen an viele weitergegeben werden

• Abstraktheit: herausgerissen aus dem ursprünglich Sinn gebenden Zusammenhang • die Schrift als stummer Text • Sie muss interpretiert werden • Die Schrift schwächt das Gedächtnis i. S. persönlicher Aneignung des Wichtigen • Die ursprüngliche Autorität fehlt • mögliche Uniformierung und Zensur

• Aussterben von Traditionen • Traditionsverlust • Weltverlust • Unsicherheit

366 Medium/ Milieus Buch

LIB KET SÖK ADA PER

Digital

EPE PER HED ADA LIB SÖK

Heinzpeter Hempelmann

Stärken

Schwächen

Möglichkeiten

Bedrohungen

• durch Buchdruck exponentielle Steigerung der Stärken und Möglichkeiten der Schriftkultur • Wissen wird für eine breitere Masse zugänglich (»Demokratisierung des Wissens«) • Bibliotheken für viele (Gebildete) • Flugschriften/ Zeitungen für die breite Masse

• Es verbreitet Irrtümer • Es konserviert Irrtümer • Es statuiert durch seine physische Dauerhaftigkeit eine Autorität, die ihm an sich nicht zukommt • Bildung notwendig; Exklusion der Nichtgebildeten

• Demokratisierung der Information: Wissen wird für sehr viele zugänglich • Buch wird zum Massenprodukt; Wissen für die Masse zugänglich • Aufklärung und Selbstbestimmung wird für viele möglich • allgemeine Schulbildung • Standardisierung des Wissens

• Es trifft auf Menschen, die es nicht verstehen; die es missbrauchen können Interpretierbar• keit • Zensur • exklusive Zugänge zu den Publikationsorganen • Manipulation durch die, die auswählen, was es zu wissen geben soll • Bücherverbrennung als Verlust wesentlicher Tradition

• Steigerung der Schrift ins Unendliche • unendliche Informationsfülle Information • wird der Möglichkeit nach zur Kommunikation • Unabhängigkeit von Autoritäten und Instanzen • Artikulationsmöglichkeiten für alle • Selbständigkeit: sich selbst ohne Hilfe anderer und ohne deren Zustimmung artikulieren können

• Unüberschaubarkeit des Wissens • formale Ununterscheidbarkeit von wesentlichem und unwesentlichem Wissen • keine Vorselektion durch Kundige • Zu viele Information • keine zuverlässige Information • Verringerung der face-to-faceKommunikation • hohe Erwartung an schnelle Reaktion • Regelerwartung: always on

• keine exklusive Herrschaft mehr der Fachleute • Demokratisierung von Kommunikation und Präsentation eigener Meinung • keine exklusiven Kommunikationskanäle für die Eliten • Kommunikation mit im Prinzip unzählbar vielen Menschen; weltweite Reichweite • kein physischer Kontakt mehr nötig • virtuell mitten dabei sein können • schnelle und vielfältige Kommunikation

• Wesentliches Wissen geht verloren oder geht unter • Vereinsamung im analogen Leben • Zerstörung und Gefährdung der Konzentration; Kurzfristigkeit von Denken und Arbeiten • Quantität geht vor Qualität • Manipulierbarkeit • Verlust an Kommunikationskultur

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Fazit: Rückblick und Ausblick

Medium/ Milieus

Stärken

Schwächen

Möglichkeiten

• niedrige Arti- • Splittung der • Ergänzung von kulationsAufmerksamkeit digital vermittelschwelle ten durch physi• Rückzugsräume Fortwerden schwer sofortige Reaksche Kontakte • setzung zu erreichen tion möglich können bereichern • emotionale Empfindungen werden für jedermann ausdrückbar • Vernetzung im Alltag; zahlreiche, andauernde Kontakte • Vervielfältigung der Begegnungsmöglichkeit: unüberschaubar viele »Freunde« • Andere Menschen auch in anderen Ländern kennen lernen • Anonymität • digital bedingte Veränderung und Erleichterung des Alltags • Kommunizieren können, wann man mag

Digital

Bedrohungen • Blasenbildung: sich bewegen in der eigenen, kleinen Subkultur; sich dort bestätigen lassen; den Blick für anderes verlieren • ohne kundige Selektion: Ertrinken in Information oder Verführbarkeit durch mangelndes Wissen • Verunglimpfung • nicht rückgängig zu machende Informationen, die schaden können • Zusammenführung von Einzelinformationen und Zusammenfügung zu einem nicht mehr beherrschbaren Bild einer Person • Oberflächlichkeit von »Beziehungen«, Banalisierung von »Freundschaft« • physischer Kontakt nicht mehr möglich • Verlust der Kontrollierbarkeit • Informationen können gehackt werden

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Heinzpeter Hempelmann

Was bedeutet das für Kirche? (1) Wenn Kirche Menschen erreichen will, muss sie berücksichtigen, in welcher Welt sie leben, medientheoretisch: welche Medien für sie und ihren Weltbezug wie ihre Wirklichkeitskonstitution charakteristisch sind. (2) Wenn sie Menschen adressiert, wird sie zu berücksichtigen haben, welcher Medien diese sich vorzugsweise bedienen. Wenn wir hier in der ersten Spalte Zuordnungen vorgenommen haben, sind diese natürlich nur ganz grob als Schwerpunkte zu verstehen. Natürlich gibt es in jedem Milieu Menschen, die sich auch anderer als der für sie angegebenen Medien bedienen. Ganz grob wird man aber sagen können, dass die mündliche Kommunikation für TRA, PRE, HED und auch für BÜM eine herausragende Bedeutung hat; dass Buch (und Schrift) zentrale Medien für LIB, KET, SÖK und auch für ADA und PER haben, und dass digitale Medien für EPE, PER, HED und ADA eine Schlüsselfunktion besitzen. (3) Es hat wenig Sinn, bestimmte Medien abzuwerten. Es gilt vielmehr, von dem, was ist, seinen Ausgangspunkt zu nehmen, die vorhandenen medialen Weltzugänge und Wirklichkeitskonstitutionen anzuerkennen und dabei wahrzunehmen, welche Stärken und Möglichkeiten sie für die Kommunikation des Evangeliums bieten (hier gibt auch das Interview mit Dan Peter weiterhelfende Hinweise), dabei aber die Schwächen und Bedrohungen im Blick zu behalten. Dem dient die SWOT-Analyse (Strengths, Weaknesses, Opportunities, Threats). (4) Schon Karsten Kopjar betont: Die Nutzer der neuen Medien in einer veränderten Kirche verlieren etwas, wenn sie sich vom Alten abschneiden. Kopjars Beitrag ist wichtig, weil er dazu ermutigt, alte und neue Medien zu verbinden und damit Kirche zu bereichern. Kirche kommt weiter und profitiert von den neuen Herausforderungen, wenn sie nicht alternativ denkt, sondern als eine Kirche darüber nachdenkt, wie sie die verschiedenen Medien bereichern können. (5) Kirche steht den verschiedenen Medien nicht einfach als abstrakte Größe gegenüber. Wenn sie die Medientheorie auf sich selbst anwendet, kann sie erkennen, wie die von ihr jeweils angewandten Leitmedien ihre Gestalt mitbestimmen. Es ist reizvoll, die vier Leitmedien darauf hin zu untersuchen, welche Gestalten von Kirche sie generieren. Das Folgende kann nur eine Skizze sein, die zu Widerspruch, Verfeinerung und Weiterentwicklung reizen soll. Bei aller Vorsicht lassen sich – zugegebenermaßen holzschnittartig – folgende Gestalten charakterisieren: Orale Kirche lebt von den erzählenden Vergegenwärtigungen und Verlebendigungen der Jesus-Gestalt, den konkreten, aktuellen Stellungnahmen von Autoritäten zu Herausforderungen der charismatischen, hochdynamischen schnell wachsenden Gruppen. Diese sind bedroht durch den Verlust der ersten Zeugen als Autoritäten und den Verlust der Traditionszentren.

Fazit: Rückblick und Ausblick

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Heinzpeter Hempelmann

Die durch die Schriftform naheliegende Sammlung von Briefen, die dann von überregionaler Bedeutung wird; die Herauslösung der Texte aus dem Ursprungskontext; die Notwendigkeit der Interpretation von Schreiben, die schwer verständlich sind (vgl. 2Petr 3,16); die Herausbildung von Lehrformen und kritische theologische Reflexion; die Weitergabe von Wissen an die nachfolgenden Generationen (»gesunde Lehre«); die Ausbildung von Predigt als Versuch einer Vergegenwärtigung und Rückgewinnung der ursprünglich gegebenen charismatischen Unmittelbarkeit – all das ist einerseits naheliegend; andererseits bedingt dieser Medienwechsel auch eine ganz andere, etablierte, formatierte Gestalt von Kirche. Die Ausgrenzung und Ausscheidung von charismatischen Gruppierungen, die die orale Gestalt von Kirche weiter zu leben suchen, durch die Schriftkirche ist die andere, nicht selbstverständliche Seite. Diese Gestalt von Kirche dauert bis heute an und ist begründet in einer Fokussierung auf Schrift und Tradition, sprich: weitgehend verschriftlichte Tradition. Formen oraler Kirche, wie pietistische und neupietistische, heute evangelikale und charismatische Aufbrüche haben es schwer in der Schriftkirche, ganz gleich ob landeskirchlicher oder freikirchlicher Konvenienz, Anerkennung zu finden. Umgekehrt stellen sie die traditionsverhafteten Gestalten von Kirche als erstarrt in Frage und pochen auf mehr Lebendigkeit und Unmittelbarkeit. Ihre teilweise nur kurze »Halbwertszeit«, ihre womöglich nur mangelhafte Konsistenz als »Bewegung« sind für orale Kirchen genausowenig ein Gegenargument, wie sie für die Schriftkirche massive Einwände gegen das Kirche-Sein dieser oralen Formate darstellen. Die Buch-Kirche verstärkt die Prägung der Schriftkirche. Reformation wäre nicht denkbar gewesen ohne den die Flugschriften ermöglichenden Druck mit beweglichen Lettern. Konsequente Hervorbringungen dieses Formats von Kirche sind die enorme, v. a. protestantische Gelehrsamkeit, theologisch ebenso begründet wie gefordert als Schriftprinzip; die Bildungsanstrengungen, die eine gelehrte Elite unternimmt; der exklusive Status, der der Theologie als Instrument des Schriftprinzips, das im Protestantismus an die Stelle des katholischen Lehramtes tritt, zukommt; die Schlüsselbedeutung, die die Hermeneutik bis heute besitzt. Unter Bezug auf die theologische, speziell hermeneutische Kompetenz werden bis in die Gegenwart Gestalten von unmittelbarer (Bibel-)Frömmigkeit und direktem Bezug auf »Gottes Wort« zurückgewiesen, ausgehebelt und als theologisch wie kirchlich illegitim deklariert, maximal am Rande geduldet. Der emanzipatorische Anspruch einer direkten, nicht erst über theologische Kompetenz erschlossenen und über theologische Fachleute vermittelten Gottesbeziehung ist hier ebenso mit Händen zu greifen, wie dieser umgekehrt als ungesichert, gefährlich, potenziell häretisch und sektiererisch gilt. In den independenten Gemeindebildungen stehen plurale und bunte Formen der Realisierung der oralen Kirche dem Einheitsdenken der durch die Tradition und ihre Reflexion ermöglichten Schrift- und Buch-Kirche gegenüber. Es ist reizvoll und anregend, gegenwärtige Auseinandersetzungen um »Kirche« und zwischen Kirchen, die dabei um ihre wechselseitige Anerkennung ja erst ringen, unter dieser medialen Perspektive zu sehen und zu prüfen, ob von der medialen Dimension her auch neues Licht auf die ekklesiologische Frage fällt.

Fazit: Rückblick und Ausblick

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Das digitale Medium bricht die Macht der Schrift und des Buches. Ganz praktisch holen sich Menschen, die sich theologisch orientieren wollen, ihre Infos vorwiegend nicht (mehr) in Bibliotheken oder aus Büchern. Beides gilt als überholt und schon vom Medium her als verdächtig, weil ja notwendig »alt«, damit veraltet, damit nicht aktuell. Zudem steht der mit der Schrift verbundene normative Anspruch (hier steht, wie es ist und was gelten soll,– warum sonst wäre es schriftlich fixiert?) unter Verdacht. Warum sollte man seine eigenen Meinungen verallgemeinern wollen, wenn man nicht andere beeinflussen, mit Nietzsche: seine eigenen subjektiven, aber immer individuellen Interpretationen von Gott, Mensch, Welt durchsetzen wollte? Die digitale Kirche schließt an die orale Kirche an, radikalisiert sie aber noch. Sie geht nicht hinter die Schrift- oder Buch-Kirche zurück, sondern überwindet sie, indem sie das »Schrift-Prinzip« pluralisiert. Anarchisch gilt: Jeder hat Zugang zu Gott, nicht nur die Gelehrten und Geweihten, und nicht nur auf den Wegen, die sie weisen, bahnen und legitimieren. Es müssen nicht alle in dieselbe Richtung denken und leben. Der Drang zu Uniformität im Namen der Einheit ist verdächtig; Pluralität ist legitim, gerade auch, weil sie den individuellen Anspruch ermöglicht und Artikulationsraum schafft. Jeder und jede darf seine Erfahrungen mit Gott artikulieren und kommunizieren. Gottesdienste und Events sind möglich ohne die Bedingung oder gar den Druck körperlicher Anwesenheit. Nicht nur ein Medium: das schriftbasierte Kanzelwort in einem Kirchengebäude, sondern ganz viele geben die Möglichkeit zur Partizipation, auch digital, über analoge Grenzen hinweg. Interessanterweise ist es durchaus möglich, die verschiedenen, aus dem Leitmedium heraus gestalteten Typen von Kirche den unterschiedlichen Milieus wenigstens schwerpunktmäßig zuzuordnen. Die Schriftkirche finden wir v. a. im TRA, in Teilen der BÜM; hier sind beheimatende Traditionen wichtig. Gelehrte und gebildete Gestalten von Christentum werden toleriert und respektiert, für den eigenen Glauben aber nicht als essenziell empfunden. Die Buch-Kirche finden wir v. a. im LIB, KET und im SÖK. Glaube in seiner Traditionsgestalt, seiner intellektuellen Gestalt und in seiner emanzipativen Gestalt findet sein zentrales Verständigungsmedium über Buch (und Schrift). Die digitale Kirche ist da Realität und kann sich da manifestieren, wo Menschen in Netzwerken, Blasen/Bubbles unterwegs sind (HED; ADA) und/oder die Möglichkeiten nutzen, an Events live zu partizipieren, ohne physisch anwesend zu sein (EPE; HED). Im ADA ergänzt die digitale Kirche womöglich die Buch-Kirche oder die Schriftkirche. Das macht die spezielle Spannung und den besonderen Reiz dieses Milieus aus. HED und ADA realisieren in »charismatischen« Formaten von Kirche zudem auch ganz spezielle Formen der oralen Kirche. Wird es den herkömmlichen Gestalten von Kirche möglich sein, zu respektieren, zu integrieren und zu profitieren von dem, was hier neu oder wieder begegnet? Der Geist weht, wo er will. Hören wir sein Sausen? (Joh 3,8) Hoffen wir miteinander auf ein neues Brausen (Apg 2)!

Abkürzungsverzeichnis ADA BÜM EG EPE HED KET KdE KuM LIB PER PRE TRA SÖK

Adaptiv-pragmatisches Milieu Milieu der Bürgerlichen Mitte Evangelisches Gesangbuch Expeditives Milieu Hedonistisches Milieu Konservativ-etabliertes Milieu Kommunikation des Evangeliums Kirche und Milieu (Reihe, zu der auch dieser Band gehört) Liberal-intellektuelles Milieu Milieu der Performer Prekäres Milieu Traditionelles Milieu Sozial-ökologisches Milieu

Beteiligte Marc Calmbach Dr., Direktor der Abteilung Sozialforschung am SINUS-Institut, Co-Leiter der SINUS:akademie Matthias Clausen Dr. theol., Professor für Systematische Theologie und Praktische Theologie an der Ev. Hochschule TABOR in Marburg, Theologischer Referent des Instituts für Glaube und Wissenschaft. Henning Freund Dr. phil., Professor für Religionspsychologie an der Evangelischen Hochschule TABOR, dort wissenschaftlicher Geschäftsführer des Marburger Instituts für Religion und Psychotherapie und Studienleiter des M.A. Religion und Psychotherapie Tobias Fritsche Landesjugendpfarrer der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, Doktorand an der Universität Erlangen Günther Frosch Sprachwissenschaftler, TextCoach und Ko-Autor des SINUS-Kommunikationspakets. Seit 2006 führt er milieuspezifische TextWerkstätten für Bildungseinrichtungen durch. www.frosch.biz Christian Grethlein Dr. theol., Pfarrer, Professor für Praktische Theologie mit Schwerpunkt Religionspädagogik, an der Evangelisch-Theologische Fakultät Münster, Westfälische-Wilhelms-Universität Münster, Herausgeber der Theologischen Literaturzeitung, Zeitschrift für Theologie und Kirche, der Theologischen Realenzyklopädie u. a. m. Heinzpeter Hempelmann MA, Dr. theol., Pfarrer, wissenschaftlicher Referent für Fragen der Religionssoziologie und Lebensweltforschung im Oberkirchenrat der Ev. Landeskirche in Württemberg, Professor für Systematische Theologie und Religionsphilosophie an der Evangelischen Hochschule Tabor, Marburg, sowie Wissenschaftlicher Direktor des Tangens-Instituts für Kulturhermeneutik und Lebensweltforschung Florian Karcher Dr., Dipl. Sozial- und Religionspädagoge, Professor für Religions- und Gemeindepädagogik an der CVJM-Hochschule in Kassel und Leiter des Instituts für missionarische Jugendarbeit

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Beteiligte

Dirk Kellner Dr. theol., Pfarrer in Steinen (Ev. Landeskirche Baden) Karsten Kopjar Dr. theol., Dissertation zur »Kommunikation des Evangeliums für die Web 2.0 Generation – Virtuelle Realität als Reale Virtualität«, studierter Medienwissenschaftler, Informatiker und Theologe. Social-Media-Koordinator der Ev. Kirche in Mitteldeutschland Nahamm Kim Dr. theol., Professorin für Praktische Theologie an der Evangelischen Hochschule Tabor, Marburg, Forschungsinteressen im Bereich der Interkulturellen Seelsorge / Ethnopsychologie, Christliche Spiritualität Matthias Kreplin Dr. theol., Oberkirchenrat der Evangelischen Landeskirche in Baden und Leiter des Referats Verkündigung in Gemeinde und Gesellschaft im Ev. Oberkirchenrat Karlsruhe Ralph Kunz Dr. theol., Pfarrer, Professor für Praktische Theologie an der Universität Zürich mit den Schwerpunkten Homiletik, Liturgik und Poimenik Dan Peter Kirchenrat, Referatsleiter des Referats Publizistik und Gemeinde in der Ev. Landeskirche Württemberg Martin Reppenhagen Dr. theol., Dekan im Dekanat Karlsruhe-Land (Ev. Landeskirche Baden), Missionstheologe Joachim Rückle Dr. theol., Pfarrer, bis 2018 Leiter der Abteilung Theologie und Bildung im Diakonischen Werk Württemberg. Seit 2019 Geschäftsführer des Diakonieverbands Reutlingen Benjamin Schliesser M. Th., Ph.D., außerordentlicher Professor für Neues Testament am Institut für Neues Testament an der Universität Bern, Mitglied im Leitungsteam von churchconvention Norbert Schmidt Dr. theol., Rektor, Professor für Praktische Theologie und Missionswissenschaft an der Evangelischen Hochschule TABOR

Beteiligte

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Corinna Schubert Dipl.-Theol., Doktorandin an der Universität Tübingen, Mitglied im Leitungsteam von churchconvention Jürgen Schuster Ph.D., Professor für Interkulturelle Theologie an der Internationalen Hochschule Liebenzell Zacharias Shoukry Magister in Evangelischer Theologie, Assistent am Tangens-Institut für Kulturhermeneutik und Lebensweltforschung, Doktorand und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Mainz Sebastian Steinbach Pfarrer in Hirsau (Ev. Landeskirche in Württemberg) Peter Martin Thomas Diplompädagoge, Speaker (Professional Speaker GSA), Coach, Supervisor und Organisationsentwickler (DGSF), Trainer für systemische Beratung, Co-Autor der SINUS-Jugendstudien 2012 und 2016, Lehraufträge an mehreren Hochschulen Patrick Todjeras MA, Pfarrer, Dr. theol., wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Greifswald Fabian Vogt MA, Dr. theol., Schriftsteller, Künstler und Theologe, Pfarrer der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) Markus Weimer M. Th., Pfarrer in Böhringen (Ev. Landeskirche in Baden), Doktorand an der Universität Greifswald am Institut zur Erforschung von Evangelisation und Gemeindeentwicklung, Mitglied im Leitungsteam von churchconvention Matthias D. Wüthrich Dr. theol., Pfarrer, Assistenzprofessor für Systematische Theologie an der Universität Zürich am Institut für Hermeneutik und Religionsphilosophie

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