Distanz durch Nähe: Animistische Praktiken für kritisches Design 9783035626391, 9783035626360

Critical design is frequently based on irony, disruption or alienation and creates a sense of distance. In this book, Ju

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German Pages 304 [296] Year 2022

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Distanz durch Nähe: Animistische Praktiken für kritisches Design
 9783035626391, 9783035626360

Table of contents :
INHALT
VORWORT BIRD
EINLEITUNG
1 Widerständige Objekte für kritische Subjekte und kritisches Design
1.1 EINE ANNÄHERUNG AN DIE BEGRIFFE OBJEKT, SUBJEKT UND KRITIK
1.2 GRENZRÄUME ZWISCHEN SUBJEKT UND OBJEKT ALS GESTALTUNGSAUFGABE
1.3 DISTANZIERENDES KRITISCHES DESIGN
2 Wandel der Objektwelt und der Neue Materialismus als nicht-anthropozentrische Neuorientierung für Design
2 Wandel der Objektwelt und der Neue Materialismus als nicht-anthropozentrische Neuorientierung für Desig
2.1 UNDINGE, HALB-DINGE, NICHT-DINGE. DINGPHÄNOMENE DES 21. JAHRHUNDERTS
2.2 SUBJEKTIVITÄT UNTER TECHNOLOGISCHER BEDINGUNG AUS MEDIENWISSENSCHAFTLICHER PERSPEKTIVE
2.3 DER NEUE MATERIALISMUS ALS NICHT-ANTHROPOZENTRISCHE NEUORIENTIERUNG
2.4 NICHT-ANTHROPOZENTRISCHES DENKEN ALS CHANCE UND PROBLEM FÜR DAS DESIGN
2.4 NICHT-ANTHROPOZENTRISCHES DENKEN ALS CHANCE UND PROBLEM FÜR DAS DESIGN
3 Über den Animismus
3.1 ALTER ANIMISMUS
3.2 NEUER ANIMISMUS
3.3 TECHNO-ANIMISMUS
3.4 DISTANZ DURCH NÄHE: DAS PARADOXE ANIMISTISCHER PRAKTIKEN
4 Animistische Praktiken im Design
4.1 DIVIDUIEREN IM DESIGN – SICH IN RELATION SETZEN
4.2 SUBJEKTIVIEREN IM DESIGN – ANDEREN SUBJEKTSTATUS ZUSPRECHEN
4.3 IMITIEREN IM DESIGN – SICH KÖRPERLICH IN ANDERE VERWANDELN
4.4 HUMORISIEREN IM DESIGN – ETWAS „NICHT ERNST“ UND „NICHT NICHT-ERNST“ NEHMEN
4.5 DAS POTENZIAL ANIMISTISCHER PRAKTIKEN IM DESIGN
4.6 OSZILLIERENDES KRITISCHES DESIGN
5 Distanz durch Nähe. Eine Zusammenfassung der Arbeit
Introduction
DANKSAGUNG
LITERATURVERZEICHNIS
URL-VERZEICHNIS
ABBILDUNGSVERZEICHNIS
ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS

Citation preview

Distanz durch Nähe

Board of International Research in Design, BIRD

Members: Tom Bieling Uta Brandes Michelle Christensen Sandra Groll Wolfgang Jonas Ralf Michel Marc Pfaff

Advisory Board: Alireza Ajdari Lena Berglin Elena Caratti Doaa El Aidi Orit Halpern Denisa Kera Michael Wolf

Judith Dörrenbächer

Distanz durch Nähe Animistische Praktiken für kritisches Design

Birkhäuser Basel

INHALT Vorwort BIRD

009

Einleitung 011

1  Widerstän­dige Objekte für kritische Subjekte und kritisches D ­ esign 1.1 Eine Annäherung an die Begriffe ­Objekt, Subjekt und Kritik 1.1.1 1.1.2 1.1.3 1.1.4

023

026

Das widerständige Objekt 026 Das bedingte Subjekt 029 Das kritische Subjekt 033 Die Auflösung von Grenzen zwischen Subjekt und Objekt als ­Bedrohung 034

1.2 Grenzräume zwischen Subjekt und Objekt als Gestaltungsaufgabe

037

1.2.1 Widerständigkeit minimieren – über die „Tücke der Dinge“ und Usability 037 1.2.2 Widerständigkeit gestalten – von Anti-Design bis Critical Design 038 1.2.3 Critical Design in der HCI- und Designforschung 043

1.3 Distanzierendes Kritisches Design

048

2  Wandel der Objektwelt und der Neue Materialismus als nicht-anthropozentrische Neuorientierung für Design 057 2.1 Undinge, Halb-Dinge, Nicht-Dinge. Dingphänomene des 21. Jahrhunderts

059

2.1.1 Miniaturisierte und unauffällige Dinge 059 2.1.2 Natürlich steuerbare Dinge 061

004 INHALT

2.1.3 Anthropomorphe und intelligente Dinge 067 2.1.4 Vernetzte und adressierbare Dinge 073 2.1.5 Verlust von Widerständigkeit 078

2.2 Subjektivität unter technologischer Bedingung aus medienwissenschaftlicher Perspektive

082

2.2.1 Das bedrohte autonome Subjekt 082 2.2.2 Kollektive Subjektivität 084 2.2.3 Zwei Forschungsperspektiven auf das Subjekt 087

2.3 Der Neue Materialismus als nicht-­ anthropozentrische Neuorientierung

088

2.3.1 Mischwesen und der Begriff der Kritik in der Akteur-Netzwerk-Theorie 088 2.3.2 Intra-aktion und der Begriff der Verantwortung im Agentiellen Realismus 096 2.3.3 Kritik und Verantwortung durch Entfalten, Hinzufügen, ­Verbrüdern, Sortieren und Intra-agieren 098

2.4 Nicht-anthropozentrisches Denken als Chance und Problem für das Design

100

Die Akteur-Netzwerk-Theorie im Design 100 Der Agentielle Realismus im Design 105 Das Potenzial nicht-anthropozentrischen Denkens 107 Die Herausforderung nicht-anthropozentrischen Denkens 110 2.4.5 Wertfreies Beobachten, kategorieloses Ordnen, aufmerksames Nachspüren und vorsichtiges Involvieren im Design 113 2.4.1 2.4.2 2.4.3 2.4.4

2.5 Kritisches Design auf Grundlage des Neuen Materialismus

116

3  Über den A ­ nimismus 133 3.1 Alter Animismus

136

3.1.1 Animismus als Irrglaube und das Magische Denken 136

INHALT 005

3.1.2 Magisches Denken als Teil des Animismus bei Freud 138 3.1.3 Magisches Denken als Vorstufe des Animismus bei Piaget 140 3.1.4 Exkurs – Dichotomien der Moderne 142 3.1.5 Abgrenzung vom und Glorifizierung des Animismus 143 3.1.6 Magie, Anthropozentrismus, Anthropomorphismus und ­Fetischismus 145

3.2 Neuer Animismus

148

3.2.1 Den Animismus „ernst nehmen“ 148 3.2.2 Relationale Epistemologie 150 3.2.3 Perspektivischer Multinaturalismus 152 3.2.4 Animismus als Grenzziehungspraxis 155 3.2.5 Dividuieren 161 3.2.6 Subjektivieren 163 3.2.7 Imitieren 164 3.2.8 Humorisieren 167 3.2.9 Die animistischen Praktiken im Vergleich 168

3.3 Techno-Animismus

172

3.3.1 Techno-Animismus als Verbundenheitsgefühl 172 3.3.2 Techno-Animismus als japanisches Phänomen 175 3.3.3 Techno-Animismus als Verschleierung und Täuschung 176 3.3.4 Exkurs: Animismus in Kompensationsräumen der Kunst 179 3.3.5 Techno-Animismus als Projektion der Nutzer*innen 182 3.3.6 Techno-Animismus als Geisteshaltung für Designer*innen 184 3.3.7 Techno-Animismus als techno-magische, techno-anthropozentrische und technofetischistische Phänomene 187

3.4 Distanz durch Nähe: Das Paradoxe animistischer Praktiken 192

4  Animistische Praktiken im Design 211 4.1 Dividuieren im Design – Sich in ­Relation setzen

006 INHALT

213

4.1.1 4.1.2 4.1.3 4.1.4

Object Dating 213 Acting Things II – Dialogue 215 Embodied Interviews 217 Dividuieren – Die drei Projekte im Vergleich 220

4.2 Subjektivieren im Design – Anderen Subjektstatus zusprechen 222 4.2.1 Object Personas 222 4.2.2 Object Character 227 4.2.3 Co-Performers 228 4.2.4 Subjektivieren – Die drei Projekte im Vergleich 231

4.3 Imitieren im Design – Sich körperlich in Andere verwandeln 234 4.3.1 4.3.2 4.3.3 4.3.4 4.3.5

Mars Exploration Rover Mission 234 Robot Empathy 237 Being the Machine 239 Theater of Negotiations 242 Imitieren – Die vier Projekte im Vergleich 245

4.4 Humorisieren im Design – Etwas „nicht ernst“ und „nicht nicht-ernst“ nehmen

248

4.5 Das Potenzial animistischer ­Praktiken im Design

252

4.6 Oszillierendes Kritisches Design

259

5  Distanz durch Nähe. Eine Zusam­men­fassung der ­Arbeit 269 Danksagung 279 Literaturverzeichnis 280 URL-Verzeichnis 290 Abbildungsverzeichnis 292 Abkürzungsverzeichnis 293

INHALT 007

VORWORT BIRD Dass Dinge aktiv in unsere Handlungsprozesse eingreifen und vieles von dem, was wir glauben zu sein, mit der Welt des Gegenständlichen verknüpft ist, gilt bereits seit Längerem als Dreh- und Angelpunkt kleinerer und größerer Überlegungen dies- und jenseits der Designforschung. Diskursfelder hierfür sind unter anderem der New Materialism, die Akteur-Netzwerk-Theorie, die Objektorientierte Ontologie oder der Agentielle Realismus. Traditionelle Beschreibungsversuche von Materie als inaktiv und träge werden dabei grundsätzlich infrage gestellt. Materielle Substanz stellt sich als nicht leblos, sondern mit allem lebendig verbunden dar. Dinge als statisch und passiv, Menschen hingegen als die aktiven Subjekte einzuordnen, wäre demnach zu kurz gedacht und würde die Vitalität der Materie negieren. Dinge tun etwas mit uns, zumal dann, wenn wir etwas mit ihnen tun. Die Lebendigkeit der Artefakte muss hierbei nicht im organischen Sinne verstanden werden, sondern drückt sich in ihrer Wirksamkeit aus; der grundsätzlichen Fähigkeit, Wirkungen zu erzeugen, Handlungen zu beeinflussen, den Lauf der Dinge zu verändern. Immerfort werden wir von einer Wirkmacht der Dinge beeinflusst und sind folglich gar nicht so autonom und souverän, wie wir es gern hätten. Eine Unterscheidung zwischen Artefaktischem und Sozialem scheint fortwährend schwierig, da beides sich stets auch gegenseitig bedingt. Judith Dörrenbächer geht in der vorliegenden Arbeit Fragestellungen des (­Alten, Neuen und Techno-)Animismus auf den Grund, um sie für die Wissens- und Handlungsfelder des Designs zu erschließen. In der Theorie und Praxis des Designs blieben diese bisher weitgehend unberücksichtigt. Dem hält Dörrenbächer Argumentationspotenziale auf gleich mehreren Ebenen entgegen. Mithilfe ihrer im Neuen Animismus identifizierten Praktiken offenbaren sich Wege, um nicht nur das Innenleben der Dinge oder Wechselwirkungen zwischen Entitäten, sondern um überhaupt erst die Unterschiede zwischen Mensch und Ding und somit letztlich uns selbst besser zu verstehen. Distanz durch Nähe zieht dessen Stärke aus einer intensiven Reflexion der Theorien über den Animismus und einer durchaus kritischen Betrachtung nebst Weiterentwicklung des kritischen Designs. Designforschung bietet sich hier als Werkzeug an, das die Verwobenheit des Menschen mit seiner Umwelt untersuchbar und die fortwährende Konfrontation mit vermeintlich Unbelebtem im besten Wortsinn begreifbar machen kann. Tom Bieling, Board of International Research in Design (BIRD), Juni 2022

VORWORT BIRD  009

EINLEITUNG Das Verständnis darüber, was ein Objekt ist, aber auch, wer der Mensch im Verhältnis zu den Objekten ist, wandelt sich durch technische Innovationen kontinuierlich. Seit dem späten 20. Jahrhundert sind es Phänomene wie die Vernetzung – wenn technische Artefakte1 selbstständig, etwa über das Internet, miteinander kommunizieren – oder die Vermenschlichung – wenn Artefakte beispielsweise die menschliche Sprache „sprechen“ –, die das bestehende Subjekt-Objekt-Konzept irritieren, da sie die Grenzen zwischen Objekten untereinander und insbesondere zwischen Mensch und Objekt verwischen. In der vorliegenden Arbeit werden vor dem Hintergrund dieser Grenzverwischung Möglichkeiten einer kritischen Haltung und Praxis für das Design gesucht. Kritisches Design verstanden als Designforschung und -praxis, die Reflexion zulassen und Grenzen und Unterschiede verständlich machen,2 sieht sich mit der Herausforderung konfrontiert, das sich wandelnde Mensch-Technik-Verhältnis zu verstehen und mitzugestalten. Hierfür müssen die Beziehungen vernetzter Objekte – vom intelligenten Turnschuh bis zum kommunizierenden Auto – greifbar gemacht und außerdem Unterschiede zwischen Menschen und anthropomorphen Objekten – vom lernenden Assistenzsystem bis zum Pflegeroboter – ausgehandelt werden. Auf der Suche nach einer entsprechenden kritischen Haltung für das Design werden Theorien analysiert, in denen weder der Mensch als zentral für Handlungen begriffen wird, noch Subjekt und Objekt im modernen Sinne kategorial unterschieden werden. Diese Arbeit befasst sich mit Theorien, die Objekte als Subjekte oder als handlungsfähig begreifen, die also aus nicht-anthropozentrischer Sicht argumentieren. Der Fokus liegt explizit auf Theorien des „Neuen Animismus“. Von diesen werden sowohl kritische Praktiken abgeleitet als auch eine neue kritische Haltung für das Design definiert.

Hintergrund: nicht-anthropozentrisches Denken, Ökotechnologie und Techno-Animismus Der Arbeit liegt die Beobachtung zugrunde, dass sich etwa seit der Jahrtausendwende interdisziplinär ein starkes Interesse an nicht-anthropozentrischem Denken entwickelt, in den Designwissenschaften etwas verzögert seit circa 2010. Geprägt wird der interdisziplinäre Diskurs durch Theorien, die den Humanismus zu überwinden versuchen und, etwa im Zusammenhang mit dem „Neuen Materialismus“, das menschliche Subjekt nicht mehr alleine ins Zentrum aller Handlungen rücken. Bruno Latour begründet die posthumanistische Neuausrichtung damit, dass anthropozentrisches Denken sich selbst ad absurdum führe.3 Anthropozentrisches Denken und Handeln setze auch als Fortschritt verstandene Prozesse in Gang, die

EINLEITUNG 011

wiederum Phänomene hervorbrächten, durch die dieses Denken selbst fragwürdig werde. Anders gesagt: Indem sich Menschen abgelöst von ihrer Umwelt als Herrschende oder autonom Gestaltende derselben verstehen, stoßen sie eine Entwicklung an, durch die diese Position in ihr Gegenteil verkehrt wird. Dass die Beherrschbarkeit der nicht-menschlichen Welt gerade infolge des Beherrschungsversuchs an Grenzen stößt, lässt sich beispielsweise anhand der ökologischen Krise verstehen. Aber auch technische Innovationen, die ebenfalls aus dem Fortschrittsstreben resultieren, irritieren das hierarchische, menschzentrierte Denken, das sie eigentlich hervorbrachte. Denn Technik weist zunehmend eine Komplexität auf, die rational für den einzelnen Menschen kaum noch beherrschbar oder greifbar ist. So werden Dinge, die miteinander vernetzt sind, nicht mehr (nur) vom Menschen gesteuert. Sie kommunizieren im „Internet der Dinge“ oder „Internet of Things“ (IoT) untereinander in einer für Nutzer*innen unsichtbaren oder unverständlichen Weise. Andere Technik konkurriert mit dem Menschen, da sie sein Verhalten, seine Kompetenzen oder sein Erscheinungsbild simuliert, beispielsweise Assistenzsysteme wie der sprachgesteuerte Assistent Alexa von Amazon oder Serviceroboter wie Pepper der SoftBank Mobile Corp. In diesem Zusammenhang verändert sich der Gegenstand von Design und Designforschung seit Beginn der Digitalisierung Mitte des 20. Jahrhunderts. Zum einen gestalten Designer*innen aufgrund der Vernetzung immer seltener in sich geschlossene Gegenstände. Statt Dingen an sich werden Beziehungen zwischen Dingen gestaltet. Gestaltetes ist damit oftmals nicht mehr sicht- oder greifbar. So zeichnen sich zum Beispiel vormals handfeste Möbelstücke bereits durch ein Innenleben aus – Tische werden zu kommunizierenden und vernetzten Smart Tables und wandeln so die Welt des Produktdesigns.4 Zum anderen werden Artefakte gestaltet, die sich nicht mehr wie passive Werkzeuge benutzen lassen, sondern mit denen man kooperieren, diskutieren oder reflektieren kann, wie beispielsweise mit dem persönlichen Chatbot Replika, zu dem sogar eine emotionale Bindung entstehen soll.5 Hier wird Technik beinahe ebenbürtig erlebt und in der Interaktion gar zum sozialen Gegenüber. Hierarchien und Kategorien, die für anthropozentrisches Denken selbstverständlich sind – passive beherrschbare Objekte, aktive und autonome Subjekte – werden durch derartige technische Innovationen infrage gestellt. Unterschiede zwischen Subjekt und Objekt verschwimmen, wenn Artefakte die menschliche Sprache sprechen, Arbeitsprozesse koordinieren oder Alltagstermine planen. Immer mehr Design-, Kunst- und Medienwissenschaftler*innen sprechen von einer technologischen Umwelt, in der ähnlich wie in einem Ökosystem alles mit allem verbunden sei.6 Der Medienwissenschaftler Erich Hörl etwa führt den Begriff „ökotechnologisch“ in den medienwissenschaftlichen Diskurs ein und postuliert eine „Allgemein Ökologie“.7 Andere sehen den Menschen bereits auf dem Weg zurück in vormoderne Verhältnisse, in denen alles Subjekt sei und ein sogenannter „Techno-Animismus“8 wirke, oder stellen mit Latour fest, der Mensch sei „nie modern gewesen“9.

012 EINLEITUNG

Herausforderung: kritisches Subjekt und kritisches Design unter technologischer und nicht-anthropozentrischer Bedingung Mit dem Wandel der Objekte geht eine Veränderung des Subjektkonzepts einher. Aus medienanthropologischer und technikphilosophischer Perspektive stellt sich die Frage, wer der Mensch in Relation zu den technischen Objekten ist, die zunehmend subjektähnliche Eigenschaften aufweisen oder sich durch ihre Umweltlichkeit schwer fassen lassen. Die Vermengung von Kategorien bzw. das Verschwimmen von Grenzen zwischen Subjekt und Objekt wird auch design- und medienwissenschaftlich problematisiert. Ein Zustand, in dem Grenzen nicht greifbar sind, so heißt es, erschwere ein Sich-ins-Verhältnis-Setzen und damit Reflexion und Selbstvergewisserung.10 Aus medienwissenschaftlicher Perspektive wird bereits der Frage nachgegangen, ob bewusste und kritische Subjektivität, so wie sie seit der Aufklärung verstanden wurde, unter „technologischer Bedingung“11 weiterhin haltbar ist oder welche Alternativen sich denken und praktizieren lassen.12 Diese Frage ist auch relevant für das Design, insbesondere für ein kritisches Design (z. B. Critical Design), das Reflexion zu provozieren sucht. Sie betrifft außerdem die Designforschung, deren Methoden oft – insbesondere wenn übernommen von den Kunst- und Kulturwissenschaften – auf kritischer Distanz zum Gegenstand beruhen. Diese Methoden scheinen für Artefakte wie vernetzte oder vermenschlichte Technik zum Erkenntnisgewinn oftmals allein nicht mehr tauglich.13 Gestaltetes, das sich nicht physisch greifen lässt und erst in der Interaktion mit dem Menschen seine Eigenschaften offenbart, lässt sich nicht sinnvoll von außen auf Distanz analysieren und bewerten.

Forschungsfragen In der vorliegenden Arbeit wird die designwissenschaftliche Auseinandersetzung mit nicht-anthropozentrischem Denken aufgegriffen und weiterentwickelt. Bislang sind derartige Theorien im Design meist entweder dafür kritisiert worden, die Freiheits- und Emanzipationsfähigkeit des Menschen zu negieren,14 oder positiv für ihr Potenzial hervorgehoben worden, die soziale Macht von gestalteten Dingen sichtbar zu machen.15 Der Fokus dieser Arbeit liegt hingegen auf der Frage, ob und, wenn ja, wie genau Kritik, Reflexion und Selbstbewusstsein aus nicht-anthropozentrischer Perspektive funktionieren können: Ist eine nicht-anthropozentrische und dennoch bewusste und reflexive Haltung möglich? Es stellt sich weiterhin die Frage, auf welche Weise in der Designforschung Wissen und Erkenntnis – insbesondere über eine durch Digitalisierung veränderte Gegenständlichkeit – erlangt werden können, wenn nicht Rationalität, Distanz zum Gegenstand und Autonomie des Subjekts Grundlagen der Forschung sind. Wie lassen sich Differenzen zwischen

EINLEITUNG 013

Menschen und einer neuen, dem Menschen ähnlichen technischen „Spezies“ verhandeln, wenn nicht kategorial zwischen Subjekt und Objekt unterschieden wird? Können etwa Unterschiede zwischen verschiedenen Ausformungen von Subjekten – menschlichen und technischen – ausgehandelt werden? Welchen Stellenwert hat Selbstreflexion in Theorien, in denen der Mensch als mit anderen Entitäten (u. a. Lebewesen, Naturdinge, Technik) verwandt gilt, anstatt kategorial von ihnen unterschieden und hierarchisch hervorgehoben zu werden? Kann aus nicht-anthropozentrischem Denken, in dem auch Nicht-Menschliches als Subjekt gilt, kritisches Design resultieren? Zur Beantwortung dieser Fragen werden nicht nur die im Design bereits vielfach diskutierte Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) und der Agentielle Realismus (AR) herangezogen, sondern auch Theorien zum Animismus, die aus designwissenschaftlicher Perspektive bisher kaum verhandelt wurden. Wie im Verlauf der Arbeit deutlich werden wird, bezeichnet der Begriff Animismus je nach disziplinärem und historischem Hintergrund unterschiedliche Phänomene. Er verweist jedoch immer auf eine Haltung, durch die Dingen ein grundsätzlich anderer Status zugesprochen wird als in der modernen Wissenschaft üblich. Dinge sind nach dieser Auffassung weder passiver Gegenstand eines Subjekts, noch werden sie vom Menschen kategorial unterschieden. Sie können sich hingegen durch Eigenschaften auszeichnen, die (aus moderner Perspektive) nur Subjekten zugeschrieben werden, etwa durch ein Bewusstsein oder Intentionen. In dieser Arbeit werden sowohl aus ethnologischer Perspektive der „Alte Animismus“ des 19. Jahrhunderts sowie der „Neue Animismus“ des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts als auch aus medien- und designwissenschaftlicher Perspektive die Diskurse um den „Techno-Animismus“ des 21. Jahrhunderts detailliert untersucht. Lassen sich in den aufgezeigten Theorien also Ansatzpunkte für die kritische Designforschung zum Umgang mit solchen Dingen, die nicht im anthropozentrischen Sinn vom Menschen begreifbar, beherrschbar oder leicht zu unterscheiden sind, finden?

Aufbau des Buchs Das vorliegende Buch ist in vier übergreifende Kapitel gegliedert. In den ersten drei Kapiteln werden immer in einem ersten Schritt Positionen von „Bezugswissen­ schaften“16 des Designs verhandelt. So liegt im ersten Kapitel der Fokus auf Inhalten der Forschung zur „Materiellen Kultur“, im zweiten Kapitel auf medienwissenschaftlichen Inhalten und auf Positionen des „Neuen Materialismus“ und im dritten K ­ apitel auf Theorien über den Animismus. Die Ergebnisse werden in diesen drei Kapiteln immer in einem zweiten Schritt aus designwissenschaftlicher Perspektive diskutiert: Inwiefern werden die Positionen – insbesondere die nichtanthro­pozentrische Argumentation des Neuen Materialismus und des Animismus –

014 EINLEITUNG

für kritisches Design bereits genutzt oder inwiefern lassen sie sich nutzbar machen? Im vierten Kapitel werden schließlich die Erkenntnisse der vorherigen Kapitel für die Analyse von konkreten Praxisbeispielen aus dem Design verwendet. Im ersten Kapitel findet eine Auseinandersetzung mit den in dieser Arbeit häufig wiederkehrenden Begriffen Objekt, Subjekt und Kritik statt. Dabei wird der Frage nachgegangen, in welchem Verhältnis widerständige Gegenständlichkeit und kritische Subjektivität stehen. Diese Auseinandersetzung erfolgt im ersten Teil des Kapitels aus Perspektive der Materiellen-Kultur-Forschung, aber insbesondere mithilfe der Positionen von Martin Heidegger, Bruno Latour, Sigmund Freud und Jean Piaget, die auch in eben jenem heterogenen Diskursfeld der Materiellen-Kultur-Forschung verhandelt werden. Es zeigt sich, welche Bedeutung den Objekten bei der Herausbildung kritischer Subjektivität interdisziplinär zugesprochen wird. Das Verschwimmen der Grenzen zwischen Subjekt und Objekt gilt hingegen vielfach als Gefahr für das Subjekt und dessen Kritikfähigkeit. Im zweiten Teil des Kapitels wird dargestellt, welche Designpraxis in der Designwissenschaft als kritisches Design bezeichnet wird und auf welche Weisen hier Kritik praktiziert wird. Es werden beispielhaft kritische Ansätze vorgestellt – vom Radical Design über das Neue Deutsche Design bis hin zum Critical Design – und anhand dieser diskutiert, welche Rolle die Widerständigkeit der Objektwelt spielt. Deutlich wird, dass in der nicht auf Kritik ausgerichteten Designpraxis, in der grundsätzlich immer auch die Grenzräume zwischen Subjekt und Objekt definiert werden – ob zwischen Mensch und Möbel oder zwischen Mensch und Computer – gewöhnlich Widerständigkeit minimiert wird. Kritische Designpraxis hingegen maximiert oftmals vorsätzlich Widerständigkeit von Objekten, um Distanz zwischen Objekt und Subjekt zu erzeugen. Zu diesem Zweck wird beispielsweise Ironie eingesetzt, die Funktionalität gestört oder das Gewohnte verfremdet. Die Distanz zwischen Subjekt und Objekt wird als grundlegend für Kritik, kritische Subjektivität und Erkenntnis verstanden. Das zweite Kapitel widmet sich sowohl technischen Phänomenen, durch die den Dingen aus design- und medienwissenschaftlicher Perspektive ein veränderter Status zukommt, als auch Theorien des Neuen Materialismus, in denen den Dingen eine dem Menschen ebenbürtige Wirk- und Handlungsmacht zugesprochen wird. So werden zu Beginn des Kapitels Artefakte diskutiert, die Medien- und Designwissenschaftler*innen dazu veranlassten, sie als Undinge, Halb-Dinge oder Nicht-Dinge zu bezeichnen. Es wird erörtert, warum technischen Innovationen, die seit dem späten 20. Jahrhundert entstanden, der Dingstatus ganz oder in Teilen aberkannt wird. Deutlich wird, dass das „Eigengewicht“17 der Dinge, ihre Begreifbarkeit und Andersartigkeit, gestört ist, da sich die Dinge nicht isoliert betrachten lassen oder weil sie in ihrer Gestalt und ihrem Verhalten dem Menschen zum Verwechseln ähnlich sind. Aus medienwissenschaftlicher Perspektive wandelt sich mit der Gegenständlichkeit auch das Konzept von Subjektivität. Während das menschliche Subjekt und dessen kritische Reflexion unter technologischer Voraussetzung von einigen Medienwissenschaftler*innen als bedroht erachtet werden,

EINLEITUNG 015

­argumentieren andere für eine „Kollektive Subjektivität“18, ein ganz neues Subjektverständnis, das auch Dinge einbezieht und nicht mehr nur den Menschen als Subjekt beschreibt. Dass die Zentralstellung des menschlichen Subjekts zu überwinden ist, ist auch eine grundlegende Argumentation innerhalb des Diskursfeldes des Neuen Materialismus, der im weiteren Verlauf des zweiten Kapitels zum Untersuchungsgegenstand wird. Vor Hintergrund der technischen Innovationen, der Undinge, Halb-Dinge oder Nicht-Dinge, werden explizit der AR und die ANT auf ihr Potenzial für kritisches Design untersucht. Es wird den Fragen nachgegangen, welche Vorstellungen von Verantwortung und Kritik in diesen beiden nicht-anthropozentrischen Theorien bestehen und ob Designer*innen und Designwissenschaftler*innen sich diese Kritik- und Verantwortungsbegriffe bereits theoretisch oder praktisch zunutze machen: Inwiefern sind diese beiden Theorien produktiv für den Umgang mit den zuvor besprochenen technischen Dingen, die sowohl das tradierte Objektverständnis als auch das Subjektverständnis irritieren? Was bedeutet kritisches Design auf Grundlage des Neuen Materialismus? Im dritten Kapitel werden Theorien über den Animismus auf ihr Potenzial für ein nicht-anthropozentrisches kritisches Design im Umgang mit technischen Dingen untersucht. Es stellt sich die Frage, ob und wenn ja auf welche Weise kritisches Unterscheiden und Reflexion im Animismus, also in einer Welt, die aus potenziell unzähligen nicht-menschlichen Subjekten besteht, existiert. Der Animismus, der in den ethnologischen und psychologischen Theorien des Alten Animismus als Gegenbild der modernen Wissenschaft verstanden wurde, erfuhr im späten 20. Jahrhundert durch die Theorien des Neuen Animismus eine Revision. Hier wird deutlich, dass im Animismus Praktiken existieren, durch die auf amoderne Weise Unterschiede zwischen Subjekten – unter Einbezug nicht-menschlicher Subjekte – ausgehandelt werden können. Kritisch ist man mit diesen Praktiken nicht, da man den Anderen von außen betrachtet oder den Abstand zum Anderen – im Sinne eines Gegenstandes, eines Untersuchungsgegenstandes – möglichst groß hält. Kritische Auseinandersetzung und Reflexion wird hingegen durch Beziehung und durch Involviertheit mit Anderen oder Anderem möglich, da ein Wechselspiel zwischen Nähe und Distanz eingegangen wird und man sich selbst und Andere sowohl als Subjekt als auch als Objekt erleben kann. Andere – auch Andere, die aus moderner, anthropozentrischer Perspektive als Objekte gelten – können Subjekte sein und man selbst kann – sich von außen betrachtend – Objekt werden. Ziel des Kapitels ist konkrete animistische Praktiken im Neuen Animismus zu identifizieren und voneinander abzugrenzen. Diese Praktiken – so die Annahme – könnten sich auch für die kritische Designforschung im Umgang mit technischen Dingen als anwendbar erweisen. Nach Erörterung des Alten und des Neuen Animismus in Psychologie, Ethnologie und Anthropologie wird an dieser Stelle der Arbeit außerdem der seit den 1990er Jahren bestehende Diskurs über Animismus aus Perspektive des Designs besprochen. Animismus wird hier auch als Techno-Animis-

016 EINLEITUNG

mus bezeichnet und mit der technologischen Entwicklung des 20. und 21. Jahrhunderts in Zusammenhang gebracht. Auf welchen Animismusbegriff stützt sich diese Auseinandersetzung? Findet in den designwissenschaftlichen Texten der Neue Animismus Beachtung? Im vierten und letzten Kapitel des Buchs wird schließlich untersucht, welches Potenzial die identifizierten animistischen Praktiken für das Design haben. Die Untersuchung zieht Praxisbeispiele aus dem Design heran, denn während in der Designtheorie der Animismus als Grenzziehungspraxis bisher keine Beachtung findet, lassen sich in der Designpraxis Projekte identifizieren, bei denen, ohne dass dies bisher so benannt wird, animistische Praktiken („Dividuieren“, „Subjektivieren“, „Imitieren“ oder „Humorisieren“) Anwendung finden. An den Beispielen – analysiert werden insgesamt zehn Projekte –, lässt sich diskutieren, inwiefern diese Praktiken, übertragen auf das Design, reflexive und erkenntnisstiftende Instrumente für den Umgang mit technischen Dingen darstellen können. Die zugrundeliegende Hypothese ist, dass animistische Praktiken, die dazu dienen, Grenzen zwischen unterschiedlichen Subjekten – inklusive menschlichen, animalischen, pflanzlichen oder unbelebten – zu verhandeln, sich auch in einer technisierten Realität „Kollektiver Subjektivität“ fruchtbar machen lassen, in einer Welt, in der die Grenzen zwischen Technik und Mensch unklar werden. In diesem Zusammenhang wird schließlich auch untersucht, inwiefern animistische Praktiken kritische Praktiken sind. Können die im Neuen Animismus identifizierten Praktiken kritisches Design und dessen Methoden ergänzen? Wie unterscheidet sich die kritische Haltung, die für kritisches Design im ersten Kapitel beschrieben wurde, von jener, die durch „Dividuieren“, „Subjektivieren“, „Imitieren“ oder „Humorisieren“ entsteht?

Eine Arbeit für und über Designforschung In der vorliegenden Arbeit wird für und über Design geforscht. Die Arbeit ist in einem transdisziplinären Forschungsfeld zu verorten, in dem grundsätzliche Begrifflichkeiten nicht einheitlich und trennscharf definiert sind: Der Begriff Design meint im allgemeinen Sprachgebrauch meist Entwurfs- und Gestaltungspraxis. In dieser Arbeit wird hier explizit von „Designpraxis“ gesprochen, während unter „Design“ neben der Tätigkeit des Gestaltens die Disziplin insgesamt mit ihren wissenschaftlichen und forschenden Herangehensweisen gemeint ist. Im deutschsprachigen Raum ist in diesem Zusammenhang insbesondere die Rede von Designwissenschaft, Designtheorie und Designforschung.19 Es existiert allerdings kein disziplinärer Konsens darüber, was diese Begriffe unterscheidet. Oft werden sie synonym oder ohne Definition verwendet. Auch in dieser Arbeit tauchen alle drei Begriffe auf. Designwissenschaft wird oft als das übergeordnete Konzept verstanden: „Designwissenschaft entwirft auch Theorien und forscht, um neues Wissen im Design

EINLEITUNG 017

zu schaffen.“20 Andere stören sich jedoch an dem akademisch etablierten Begriff Wissenschaft und dem Versuch, Design zu „disziplinieren“: Die Begriffe Theorie und Forschung seien offener und erlaubten freieres, fragendes Denken und Handeln innerhalb des interdisziplinären Felds.21 Außerdem sei der Begriff Designtheorie mehr als Wissenschaft, da er auf eine Reflexion verweise, die der Gestaltung inhärent sei und nicht getrennt von ihr funktioniere.22 Letztlich seien so viele Designtheorien zu verzeichnen, wie es Designer*innen gebe.23 Im internationalen Diskurs wird die Begriffsdiskussion bezüglich Wissenschaft, Theorie und Forschung hinfällig, man spricht meist einfach von Design Research. Dennoch werden auch hier Unterscheidungen in der Terminologie getroffen. Besonders prominent ist jene zwischen Forschung über Design (Research into Design), Forschung für Design (Research for Design) und Forschung durch Design (Research through Design), die von Christopher Frayling 1993 erstmalig formuliert wurde.24 Alain Findeli, der die Terminologie aufgreift, versteht unter Forschung über Design eine Forschung, die im akademischen Kontext mit standardisierten Methoden oft aus Bezugswissenschaften, etwa der Kunstgeschichte, über Phänomene des Designs entsteht. Forschung für Design kommt laut Findeli in der Designpraxis am häufigsten zum Einsatz. Hier werde allerdings kein Wissen im wissenschaftlichen Sinne generiert und publiziert. Die Erkenntnisse, die aus projektbezogenen Recherchen resultierten, etwa durch Marktforschung oder über die Ergonomie, flössen vielmehr direkt in die Gestaltung von Produkten ein. Forschung durch Design entstehe ebenfalls innerhalb eines praktischen Designprojekts, allerdings mit Methoden des Designs selbst und nicht mit dem Ziel der Produktentwicklung oder -optimierung, sondern mit dem Ziel, Wissen zu generieren, das grundsätzlich auch für andere Disziplinen nützlich werden könnte.25 Versucht man die Definitionen von Findeli auf die deutschen Begriffe zu übertragen, fällt auf, dass von Designwissenschaft und Designtheorie meist dann die Rede ist, wenn Forschung über Design passiert und mit ihr eine systematische, wissenschaftliche Betrachtung und Analyse von Designobjekten oder das Aufarbeiten der Designgeschichte. Während Designwissenschaft und Designtheorie vornehmlich text- und theoriebasiert funktionieren, meint der Begriff Designforschung insbesondere Forschung durch Design. Gemeint ist eine Forschung, bei der Erkenntnisse durch Designpraxis, also dezidiert mit gestalterischen Methoden, generiert werden. Die so verstandene Designforschung ist, anders als Designwissenschaft und Designtheorie, ausdrücklich auf die Zukunft ausgerichtet, also darauf, Erkenntnisse über das noch nicht Existierende zu schaffen. Zu einer praxisbasierten Designforschung zählt auch das Kreieren von Designobjekten, die Diskurse anregen (u. a. Critical Design, Speculative Design) und zahlreiche Ansätze der im Folgenden diskutierten Forschung der Human-Computer-Interaction (HCI). In dieser Arbeit wird keine praxisbasierte Forschung geleistet, also keine Forschung durch Design betrieben. Es findet vielmehr „Forschung über Forschung

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durch Design“ statt. Denn sowohl im ersten als auch im letzten Kapitel dieser Arbeit werden praktisch forschende, kritische Designprojekte untersucht.

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Eine Bestimmung der hier synonym verwendeten Begriffe „Objekt“, „Artefakt“ und „Ding“ findet sich in Kapitel 1.1 der vorliegenden Arbeit. Diese Definition bezieht sich u. a. auf Jeffrey Bardzell/Shaowen Bardzell: „What is ‚Critical‘ about Critical Design?“, in: Proceedings of the Conference on Human Factors in Computing Systems – CHI ’13 (2013), S. 3297–3306. Vgl. auch Kapitel 1.2.3 in dieser Arbeit. Vgl. Bruno Latour: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008. Andere Positionen des Neuen Materialismus argumentieren aus ökologischer oder philosophischer Perspektive gegen anthropozentrisches Denken. Vgl. Donna J. Haraway: Unruhig bleiben. Die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän, Frankfurt am Main, New York: Campus-Verlag 2018; Wolfgang Welsch: Homo mundanus. Jenseits der anthropischen Denkform der Moderne, Weilerswist: Velbrück 2012. Vgl. etwa das vom BMBF geförderte Forschungsprojekt der Bekanntmachung Vernetzte Gegenstände: „PraktikApp“, https://www.praktikapp.com (letzter Zugriff: 04.10.2020). Auf der Webseite des Unternehmens heißt es: „Replika was founded by Eugenia Kuyda with the idea to create a personal AI that would help you express and witness yourself by offering a helpful conversation. It’s a space where you can safely share your thoughts, feelings, beliefs, experiences, memories, dreams – your ‚private perceptual world.‘“ Vgl. „Replika“, https://replika.ai (letzter Zugriff: 16.07.2020). Vgl. Kapitel 2.1.4 und 2.2.2 in dieser Arbeit. Vgl. Erich Hörl: „Die technologische Bedingung. Zur Einführung“, in: Erich Hörl (Hg.), Die technologische Bedingung. Beiträge zur Beschreibung der technischen Welt, Berlin: Suhrkamp 2011, S. 7–53. Vgl. u. a. Erik Davis: TechGnosis. Myth, Magic, Mysticism in the Age of Information, New York: Harmony Books 1998; Betti Marenko: „Neo-Animism and Design. A New Paradigm in Object Theory“, in: Design and Culture 6 (2014), S. 219–242. B. Latour: 2008. Vgl. u. a. Christoph Hubig: „Ubiquitous Computing. Eine neue Herausforderung für die Medienethik“, in: International Review of Information Ethics 8 (2007), S. 28–35; Nicole Karafyllis: „Das technische Dasein. Eine phänomenologische Annäherung an technologische Welt- und Selbstverhältnisse in aufklärerischer Absicht“, in: Erich Hörl (Hg.), Die technologische Bedingung. Beiträge zur Beschreibung der technischen Welt, Berlin: Suhrkamp 2011, S. 229–266. Eine Begrifflichkeit, die Erich Hörl mit einem gleichnamigen Sammelband prägte. Vgl. E. Hörl: 2011. So machte sich etwa das Graduiertenkolleg Kulturen der Kritik unter der Leitung von Erich Hörl und Beate Söntgen seit 2016 u. a. zur Aufgabe, aus medienwissenschaftlicher Perspektive nach den Möglichkeiten von Kritik ohne kritisches Subjekt zu forschen. „Ausgangspunkt ist die brisante Frage, ob und wie Kritik ohne klassisch-kritisches Subjekt – ohne den Zentralakteur von Kritik seit Kant – überhaupt denkbar ist. Wenn das traditionelle kritische Subjekt ein Schreib-Lese-Subjekt war, was wird Schreiben und was wird Lesen unter digitalen Bedingungen heißen? Und können diese Kulturtechniken nach wie vor ein kritisches Subjekt konstituieren? Welche anderen Kulturtechniken supplementieren oder beerben unter digitalen Bedingungen die etablierten kritischen Kulturtechniken und bringen so möglicherweise neue bzw. erweiterte Formen kritischer Subjektivität hervor?“, Vgl. „Kulturen der Kritik“, https://www.leuphana.de/dfg-programme/kdk/forschungsprogramm/medienkritik.html (letzter Zugriff: 23.04.2020). Laut Designhistoriker Gert Selle erfasst die für die Designforschung gewohnte, von ihm als „Fassadenforschung“ von Artefakten bezeichnete Methodik nicht mehr das, was die technischen Dinge ausmacht. „Wir sind gewohnt, das Gestaltete ansehen und anfassen zu können, um es zu untersuchen. Mit fortschreitender Digitalisierung funktioniert unser ‚Begreifen‘ nicht mehr und beginnt das Unbegriffene uns zu irritieren.“ Gert Selle: „Design from the Cloud“, in: Form (2015), S. 86–98, hier S. 87. Vgl. u. a. Georg Kneer: „Beseelte Gegenstände oder intentionale Systeme? Ein Beitrag zur Handlungs­ fähigkeit der Dinge“, in: Judith Dörrenbächer/Kerstin Plüm (Hg.), Beseelte Dinge. Design aus Perspektive des Animismus, Bielefeld: transcript 2016, S. 135–151; Gehard Schweppenhäuser: „Ideologie und Utopie des Designs. Latours Designtheorie zwischen Aufklärungskritik und Gegenaufklärung“, in: Rüdiger

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Dannemann/Henry W. Pickford/Hans-Ernst Schiller (Hg.), Der aufrechte Gang im windschiefen Kapitalismus. Modelle kritischen Denkens, Wiesbaden: Springer VS 2018, S. 255–272. Vgl. u. a. Hubert Matt: „Design der Zukunft. Eine Sondierung der Lektüre Latours“, in: Cornelia Lund/­ Holger Lund (Hg.), Design der Zukunft, Stuttgart: avedition 2014, S. 34–61; Albena Yaneva: „Grenzüberschreitungen. Das Soziale greifbar machen: Auf dem Weg zu einer Akteur-Netzwerk-Theorie des Designs“, in: Stephan Moebius/Sophia Prinz (Hg.), Das Design der Gesellschaft. Zur Kultursoziologie des Designs, Bielefeld: transcript 2012, S. 71–89. Mit dem Begriff Bezugswissenschaft ist eine Disziplin gemeint, derer sich eine andere Disziplin für die eigene Forschung bedient. Designtheorie, als transdisziplinäres Forschungsfeld, basiert auf zahlreichen Bezugswissenschaften, auch „Nachbardisziplinen“ genannt vgl. Cordula Meier/Kerstin Plüm: „Die Theorie und die Praxis der Dekonstruktion“, in: Denken nach Derrida. Beiträge zu einem Kulturphänomen. Zeitschrift für Kunst- und Designwissenschaften (2005), S. 136–143. Vgl. Aida Bosch: „Identität und Dinge“, in: Stefanie Samida/Manfred K. H. Eggert/Hans P. Hahn (Hg.), Handbuch Materielle Kultur. Bedeutungen, Konzepte, Disziplinen, Stuttgart [u. a.]: Metzler 2014, S. 70–77. Vgl. Kapitel 2.2.2 in dieser Arbeit. Für einen Überblick vgl. Cordula Meier (Hg.): Design Theorie. Beiträge zu einer Disziplin, Frankfurt am Main: Anabas 2001; Felicidad Romero-Tejedor/Wolfgang Jonas/Holger van den Boom (Hg.): Positionen zur Designwissenschaft, Kassel: Kassel University Press 2010. Felicidad Romero-Tejedor/Wolfgang Jonas: „Vorwort“, in: Felicidad Romero-Tejedor/Wolfgang Jonas/ Holger van den Boom (Hg.), Positionen zur Designwissenschaft, Kassel: Kassel University Press 2010, S. 9–11, hier S. 9. Vgl. Michael Erlhoff: „Design als zuversichtlicher Widerspruch zu Wissenschaft. oder: Prolegomena zu ­einer Erörterung von Design als Qualität der Unschärfe“, in: Felicidad Romero-Tejedor/Wolfgang Jonas/ Holger van den Boom (Hg.), Positionen zur Designwissenschaft, Kassel: Kassel University Press 2010, S. 37–41. Vgl. Rainer Funke: „Design ist Bedeutungsarbeit. Neun Thesen zur Standortbestimmung von Design und Designtheorie: Design als Disziplin selbst ist keine Wissenschaft, Designtheorie ist mehr als ­Wissenschaft!“, in: Felicidad Romero-Tejedor/Wolfgang Jonas/Holger van den Boom (Hg.), Positionen zur Designwissenschaft, Kassel: Kassel University Press 2010, S. 47–52. Vgl. Felicidad Romero-Tejedor: „Für eine Designwissenschaft“, in: Felicidad Romero-Tejedor/Wolfgang Jonas/Holger van den Boom (Hg.), Positionen zur Designwissenschaft, Kassel: Kassel University Press 2010, S. 105–109. Vgl. Christopher Frayling: „Research in Art and Design“, in: Royal College of Art Research Papers 1 (1993), S. 1–5. Vgl. Alain Findeli: „Die projektgeleitete Forschung. Eine Methode der Designforschung“, in: Swiss Design Network (Hg.), Erstes Design Forschungssymposium, Basel: Swiss Design Network 2004, S. 40–51.

1 Widerstän­ dige Objekte für kritische Subjekte und kritisches ­Design

Nachfolgend werden die Begriffe Objekt und Subjekt und das Verhältnis zwischen Objekt und Subjekt aus Perspektive des kulturwissenschaftlichen Forschungsfelds der Materiellen Kultur und dessen Bezugstheorien diskutiert. Außerdem wird der Kritikbegriff eingeführt. Mit einer derartigen grundlegenden Auseinandersetzung wird ermöglicht, bestehende forschende und kritische Ansätze im Design (u. a. Critical Design) einzuordnen und die diesem kritischen Design zugrundeliegenden Motive und Vorgehensweise nachzuvollziehen. Dieses erste Kapitel dient damit als Basis für die anschließende Auseinandersetzung mit einem veränderten Objekt- und Subjektverständnis und als Bezugspunkt für eine in den Designwissenschaften noch kaum verhandelte nicht-anthropozentrische kritische Designpraxis. Besprochen werden in erster Linie die in der Forschung der Materiellen Kultur vielfach aufgegriffenen Argumentationslinien von Martin Heidegger, Bruno Latour, Sigmund Freud und Jean Piaget. Die diskutierten Teilaspekte ihres Denkens dienen auch im weiteren Verlauf der Arbeit immer wieder als Bezugspunkte. Sie entstammen zwar unterschiedlichen Disziplinen und unterschiedlichen Zeiten, zeigen jedoch alle auf, dass Objekte und Subjekte nicht an sich sind, sondern sich gegenseitig konstituieren oder durch Handlungen konstituiert werden. Basierend auf der Theoriebildung von Heidegger und den Beobachtungen von Latour wird erörtert, was ein Objekt ist und welche unterschiedlichen Seinszustände es haben kann. Was macht ein Objekt zu einem widerständigen Objekt? Der Dingbegriff von Heidegger und Latour wird später im Zusammenhang mit technischen Dingen im zweiten Kapitel nochmals aufgegriffen werden. Er hilft zu verstehen, inwiefern sich Subjekt-Objekt-Verhältnisse durch Technisierung und Digitalisierung verändern. Die wechselseitige Bedingung von Objekt und Subjekt wird aus Perspektive von Freud und Piaget besprochen1 und um Positionen der Materiellen-­ Kultur-Forschung des 21. Jahrhunderts ergänzt. Welche Rolle spielt Widerständigkeit für die Subjektbildung? Was lässt sich unter einem kritischen Subjekt verstehen? Nach der Klärung der Begriffe Objekt, Subjekt und Kritik und ihres Verhältnisses zueinander wird schließlich der Kritikbegriff im Design erörtert. Es stellt sich die Frage nach dem Zusammenhang zwischen widerständiger Gegenständlichkeit und kritischer Subjektivität. Dargestellt wird, wie Designer*innen seit den 1960er Jahren mit der Widerständigkeit des Objekts umgehen und welche Rolle das Design im Aushandeln des Verhältnisses von widerständigem Objekt und kritischem Subjekt spielt. Wann minimieren Designer*innen Widerständigkeit und aus welchem Grund? Wann setzen Designer*innen hingegen Objektwiderständigkeit bewusst ein? Es soll nicht nur herausgearbeitet werden, welche Rolle widerständige Objekte im Design spielen, sondern auch, inwiefern sie eine kritische Position möglich machen können. Wie wird und wurde durch Design Kritik geübt? Beispielhaft werden kritische Ansätze im Design vorgestellt. Welche Vorstellung über das Verhältnis von Subjekt und Objekt ist Grundlage für dieses Design? Außerdem wird in

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vorliegendem Kapitel erörtert, wie sich kritisches Design für die Forschung nutzen lässt. Welches Potenzial und welche Chancen sehen Designwissenschaftler*innen und -forscher*innen in kritischer Designpraxis? Eignet sich kritisches Design zum Wissensgewinn?

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1.1  EINE ANNÄHERUNG AN DIE BEGRIFFE ­OBJEKT, SUBJEKT UND KRITIK 1.1.1  Das widerständige Objekt In den Kultur- und Geisteswissenschaften wird den Dingen etwa seit Ende der 1990er Jahre verstärkte Aufmerksamkeit beigemessen. Während man die Forschung zum Dinghaften zugunsten von Text und Sprache lange Zeit vernachlässigte, wurde durch das wachsende Interesse am Materiellen sogar ein material turn ausgerufen.2 Letztlich ist allerdings schwer zu fassen, was ein Ding überhaupt ist. Die Begriffe Ding, Objekt oder Gegenstand werden im alltäglichen und sogar im wissenschaftlichen Sprachgebrauch meist synonym verwendet.3 Diese definitorische Unschärfe liegt unter anderem darin begründet, dass viele unterschiedliche akademische Disziplinen Gegenstände und das Materielle bzw. die Materielle Kultur aus sehr unterschiedlichen Perspektiven beleuchten. Auch in dieser interdisziplinär angelegten Arbeit werden die Begriffe synonym verwendet. Dennoch sollen an dieser Stelle zumindest skizzenhaft terminologische Differenzen zwischen den häufig verwendeten Dingbegriffen besprochen werden. Ding, Objekt und Gegenstand verweisen als übergeordnete Kategorien auf eine Vielzahl von weiteren Begriffen. So bezeichnen sie sowohl Naturdinge (sog. „Natur-fakte“ wie Steine oder Holz) als auch vom Menschen Geschaffenes (sog. „Sachen“ oder „Artefakte“). Viele Sachen und Artefakte wiederum gelten aus ökonomischer Perspektive als Waren oder Produkte, aus künstlerischer Perspektive als Werke oder aus nutzungsorientierter Perspektive als Werkzeuge, Geräte, Maschinen, Apparate oder Technik. Die Bezeichnungen „Technik“ oder „technische Dinge“ werden ab dem zweiten Kapitel aus medienwissenschaftlicher und technikphilosophischer Perspektive in den Fokus gerückt. Gemeint sind in diesen Ausführungen explizit Artefakte des 21. Jahrhunderts, deren Eigenschaften (etwa Vernetztheit, Automatismus oder Menschenähnlichkeit) Design- und Medienwissenschaftler*innen dazu veranlasste, sie als Undinge, Nicht-Dinge oder Halb-Dinge zu bezeichnen.4 Vieles lässt sich nicht eindeutig den unterschiedlichen Dingbegriffen zuordnen. Der Ast eines Baums kann je nach Kontext ein Naturding, ein Werkzeug oder auch eine Ware sein. Nicht nur die Unterscheidung zwischen den untergeordneten Begriffen fällt schwer, sondern auch die Bestimmung, was die übergeordnete Kategorie Ding/Objekt/Gegenstand bezeichnet. Ein Stuhl ist ein Objekt, ein Haus ist ein Objekt, allerdings bestehend aus vielen weiteren Objekten. Schwierig wird es bei Phänomenen wie Regen, Wind oder dem Meer. Ist jeder einzelne Regentropfen ein Objekt, jede Windböe, jede Welle? Der Begriff Objekt stammt von dem Lateinischen „obicere“ was so viel wie entgegenwerfen, entgegenstellen oder vorsetzen bedeutet.5 Auch „Gegenstand“ verweist darauf, dass ein Etwas als entgegenstehendes Gegenüber gemeint ist. Objekte

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scheinen sich durch ihren Widerstand und ihre klare Begrenztheit auszuzeichnen. Wie der Kulturwissenschaftler Hartmut Böhme feststellt, äußert sich schon in der Begrifflichkeit „Objekt“ das Charakteristikum widerständig zu sein: „Darin [in dem Begriff objectum, das Entgegengeworfene, Anm. d. Verf.] hallt etwas von der stets aktualisierbaren Erfahrung nach, dass die Dinge widerständig sind und der Anstrengung bedürfen, diesen Widerstand zu überwinden: Wir verrichten Arbeit, um die Dinge in Bewegung zu bringen.“6 In der Materiellen-Kultur-Forschung wird der Dingbegriff sowohl Heideggers Dingtheorie entlehnt als auch anhand Latours Akteur-Netzwerk-Theorie diskutiert. Die beiden Theorien weisen Parallelen auf und dies, obwohl sie zu unterschiedlichen Zeiten entstanden sind und Latour sich sogar explizit von Heidegger distanziert.7 Sie differenzieren beide zwischen dem isolierten Ding und Dingen in einem Relationsverhältnis. Dieses Relationsverhältnis bezeichnet Heidegger Anfang des 20. Jahrhunderts als „Zeugganzes“. Latour spricht Ende des 20. Jahrhunderts von einem „Kollektiv“.8 Beide stellen fest, dass Dinge in diesem Relationsverhältnis zwar wirken, aber nicht als Dinge sichtbar werden, und erst Brüche bzw. Widerständigkeiten das Ding mit seinen Auswirkungen zum wahrnehmbaren Ding machen. Heidegger beschreibt sein Verständnis von Widerständigkeit in Sein und Zeit (1927).9 Hier unterscheidet er zwischen „Zeug“ und „Ding“. Zeug meint bei Heidegger Werkzeug oder Gebrauchszeug – alles, womit Menschen agieren, um etwas zu erreichen. Zeug stehe in einem Verweisungs- und Praxiszusammenhang. Es sei in diesem Zustand des reibungslosen Handelns nicht auffällig und lasse sich nicht isolieren: „Ein Zeug ‚ist‘ strenggenommen nie. Zum Sein von Zeug gehört je immer ein Zeugganzes, darin es dieses Zeug sein kann, das es ist.“10 Heiddeggers Definition zufolge hat Zeug den Seinscharakter der „Zuhandenheit“. Das Ding hingegen sei Ding, da man es von anderen Dingen abgrenzen könne. Es ist also selbstständig und kann, wie Heidegger darstellt, als Entität wahrgenommen werden. Im Gegensatz zum Zeug habe das Ding den Seinscharakter der „Vorhandenheit“. Damit etwas überhaupt als Vorhandenes wahrnehmbar ist, muss es also aus dem Zeugganzen gelöst und so vom Zeug zum Ding werden. Laut Heidegger wird dieser Prozess durch die sogenannte „Unzuhandenheit“ möglich. Er identifiziert drei Arten der Unzuhandenheit: die „Auffälligkeit“ – etwas ist dysfunktional und unverwendbar, die „Aufdringlichkeit“ – etwas fehlt, und die „Aufsässigkeit“ – etwas liegt im Weg. Bei allen drei Arten tritt eine Störung des Handelns bzw. eine Störung des Verweisungszusammenhangs ein. „In der Auffälligkeit, Aufdringlichkeit und Aufsässigkeit geht das Zuhandene in gewisser Weise seiner Zuhandenheit verlustig.“ Die drei Modi haben „die Funktion, am Zuhandenen den Charakter der Vorhandenheit zum Vorschein zu bringen.“11 Die Widerständigkeit der Außenwelt ist also die Bedingung dafür, dass Zeug wahrgenommen und Ding thematisiert werden kann. In Der Ursprung des Kunstwerks (1935/36) verhandelt Heidegger die Verfasstheit von Kunst und identifiziert neben dem Zeug und dem Ding eine dritte Kategorie: das „Werk“. Ähnlich wie das Zeug ist auch das Werk etwas vom Menschen

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­ eschaffenes. Es sei allerdings dem Menschen nicht dienlich, sondern stehe, wie G das Ding, für sich: Je einsamer das Werk, festgestellt in der Gestalt, in sich steht, je reiner es alle Bezüge zu den Menschen zu lösen scheint, um so einfacher tritt der Stoß, daß solches Werk ist, ins Offene, um so wesentlicher ist das Ungeheure aufgestoßen und das bislang geheurer Scheinende umgestoßen. Aber dieses vielfältige Stoßen hat nichts Gewaltsames; denn je reiner das Werk selbst in die durch es selbst eröffnete Offenheit des Seienden entrückt ist, um so einfacher rückt es uns in diese Offenheit ein und so zugleich aus dem Gewöhnlichen heraus.12

Heidegger identifiziert im Werk also eine Form der dinghaften Widerständigkeit, die nicht auf Dysfunktionalität basiert, also nicht destruktiv die Handlung stört. Vielmehr basiere die Kraft des Werks auf der „Beständigkeit des Insichruhens“.13 Ähnlich wie die drei Arten der Störung mache das Werk Verweisungszusammenhänge explizit. Es habe die Macht zu erschüttern, Totalität verständlich zu machen, Wahrheiten zu entbergen. „Das Kunstwerk eröffnet auf seine Weise das Sein des Seienden.“14 Viel später verdeutlicht auch Latour, dass durch Störungen Objekte und ihre Verbindungen zu anderen Entitäten sichtbar werden. Latour geht davon aus, dass sich in jeder Aktion unterschiedliche Kräfte, sowohl von menschlichen und nichtmenschlichen Lebewesen als auch von Leblosem zu „kollektiven Handlungen“ versammeln. Die einzelnen Entitäten und ihre Beziehungen seien allerdings ohne „Krise“ unsichtbar. Erst bestimmte Umstände machten die Aktivität von Entitäten – er spricht nun von Objekten – sichtbar: Erstens der Ort der Entstehung, dort wo das Objekt als Innovation noch ungewohnt ist. Zweitens die Distanz, sowohl die räumliche als auch die zeitliche, beispielsweise der Blick auf ein Objekt vermittelt durch ein Benutzerhandbuch. Drittens – ähnlich wie bei Heidegger – Unfälle, Defekte und Pannen. Viertens Orte wie das Museum, die mithilfe historischer Zeugnisse Objekte in einen „Krisenzustand“ versetzten, der ihre Beziehungen offenbare. Fünftens die Fiktion, d. h. die Nutzung kontrafaktischer Geschichten und das Gedankenexperiment.15 Inwiefern Gedankenexperimente Krisenzustände erzeugen können und damit Objekte sichtbar machen, verdeutlicht wiederum Hartmut Böhme.16 Er spekuliert, was passieren würde, wenn die Dinge in einen Aufstand träten und sich weigerten, dem Menschen dienlich zu sein. Die Matratze etwa würde nicht mehr dem Gewicht des Liegenden nachgeben, der Wasserhahn ließe sich nicht mehr drehen. Die Dinge fügen sich in Böhmes Gedankenspiel nicht mehr dem Willen des Menschen, sie bilden kein Gefüge mehr – das Gefüge, das Heidegger als Zeugganzes und Latour als Kollektiv bezeichnet. Böhme überzeichnet also in der Fiktion den Zustand der Heidegger’schen Unzuhandenheit, der die Dinge und die Verweisungszusammenhänge sichtbar macht. Durch den imaginierten „passiven Generalstreik“,

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der für den Menschen eine Katastrophe bedeuten würde; schließlich vertrauen wir auf die Zuhandenheit der Dinge, werde allerdings der Stellenwert und die Aktivität der Dinge deutlich: Unsere anthropologische Sonderstellung wäre dahin. Denn diese schloss stillschweigend immer ein: Wir sind diejenigen, die Sätze so zu bilden verstehen, dass die Dinge getroffen sind und folglich sich fügen. Man braucht solche Gedankenexperimente, um zu verstehen, dass wir in einer dunklen, unbegriffenen Weise von den Dingen abhängig sind.17

Die für diese Arbeit relevanten Teilaspekte der Überlegungen Heideggers und Latours weisen auf die Bedeutung von Widerständigkeit für das Ding hin. Mit Heidegger lässt sich folgern, dass ein Ding erst durch dessen Eigenständigkeit als solches erkennbar wird. Es muss aus einer Ganzheit lösbar sein und scheint klare Konturen zu benötigen. So sind womöglich gerade Stuhl und Haus als Dinge identifizierbar (der Stuhl eher als das Haus), da sie isoliert betrachtet und aus der Distanz überblickt werden können. Auch bei Latour, der die Macht eines Objekts immer in den Relationen zu anderen Objekten und den Menschen sieht, werden diese Relationen gerade dann offensichtlich, wenn das Objekt isoliert wird, sich aus dem Kontext löst, sich entzieht. Die Dinge erscheinen paradoxerweise gerade durch ihre Schweigsamkeit, ihr passiv-widerständiges Dasein und ihre plötzliche Dysfunktionalität als aktive Gegenüber. Die Dinge erzeugen, wie auch Gert Selle feststellt, „stummen Lärm“18 und wirken oftmals eben durch ihr Zurückgezogensein so mächtig.19

1.1.2  Das bedingte Subjekt Widerständigkeit gilt nicht nur als Voraussetzung für die Objektwahrnehmung. Sie beeinflusst auch das Subjekt. Ausgehend von Freud wurde in der Psychologie vielfach beschrieben, dass das Subjektempfinden durch Widerständigkeit der Außenwelt sogar grundsätzlich erst entsteht: Ohne Widerständigkeit kein Subjekt. Die Theorien von Freud und Piaget bestimmen noch immer interdisziplinäre Diskurse, wie die Materielle-Kultur-Forschung, und können auch für das Verständnis von kritischem Design herangezogen werden. Laut Freud und Piaget konstituieren sich Gegenständlichkeits- und Selbstwahrnehmung in einem wechselseitigen Differenzierungsprozess. Grundlage für diese Argumentation ist bei beiden die Annahme, dass bei Kindern ein Entwicklungszustand existiert, in dem diese nicht zwischen eigenem Denken und äußerer Welt unterscheiden können.20 Piaget bezeichnet den Zustand aus entwicklungspsychologischer Perspektive als „kindliche Egozentrizität“.21 Freud spricht

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von „­primärem Narzissmus“.22 In diesem Zustand werde alles als „ganz ich“ oder „ganz Umwelt“ realisiert. Gemeint ist bei beiden eine geistige Verfassung, in der das Kind, auf sich zentriert, völlig im eigenen Standpunkt befangen ist.23 Es glaube, dass das eigene Tun mit allen anderen Geschehnissen zusammenhänge. So gehen laut ­Piagets Studien beispielsweise viele Kinder davon aus, dass sie selbst die Bewegung des Mondes durch die eigene Bewegung steuern könnten. Ausgangspunkt ist ein Partizipationsgefühl, das auf die Egozentrizität, also die Vermengung des Ich mit der Welt, zurückzuführen ist: Das Kind, das die Gestirne immer über oder neben sich sieht, nimmt dank dieser affektiven Vorverbindung, die die kindliche Egozentrizität bewirkt, sofort an, zwischen der Bewegung der Gestirne und seiner eigenen Bewegung bestehe eine dynamische Partizipation oder eine Gemeinsamkeit in den Absichten.24

Das Kind begreife sich als omnipotenten Mittelpunkt der Welt. Der Außenwelt werde keine Widerständigkeit zugesprochen. „Von der Kausalität her gesehen, wird das ganze Universum so betrachtet, als bilde es eine Gemeinschaft mit dem Ich und als gehorche es dem Ich.“25 Während Freud davon ausgeht, dass in einem Frühstadium das Kind seine eigenen Bedürfnisse und Wünsche als oberste Priorität setzt und ganz von sich eingenommen ist, stellt Piaget differenzierter fest, dass in diesem Stadium jedes Ich-Bewusstsein fehlt. Genau genommen lasse sich gar nicht von Narzissmus im Sinne von Selbstliebe oder von bewussten Wünschen sprechen. Schließlich existiere in Verbindung mit dem sogenannten Partizipationsgefühl gar kein Bewusstsein vom Eigenen. Das Kind sei „nicht deshalb ganz von sich eingenommen, weil es sein Ich kennt, sondern weil es alles, was seinen Träumen und seinen Wünschen fremd ist, nicht kennt.“26 Dass die Außenwelt nicht nur unabhängig, sondern auch völlig anders sein kann als das rezipierende Subjekt, müsse erst gelernt werden, so Piaget weiter. Aus Perspektive der Entwicklungspsychologie befinden sich Kinder ursprünglich auf einer Stufe der Objektlosigkeit.27 In dieser Entwicklungsphase würden Kinder mit der Mutter verschmelzen und könnten entsprechend nicht zwischen Ich und Du oder zwischen Subjekt und Objekt unterscheiden. Das pränatal geprägte, indifferente Kontinuum werde durch Widerständigkeit der Außenwelt aufgebrochen. Laut Sándor Ferenczi, einem Schüler Freuds, findet die erste Erfahrung von Objekthaftigkeit mit der Geburt statt. Sobald das Kind den Mutterleib verlässt, in dem seine Bedürfnisse kontinuierlich erfüllt wurden, erfahre es einen Mangel. „So kommt es allmählich zu einem schmerzlichen Zwiespalt seiner Erlebnisse. Es muß gewisse tückische Dinge, die seinem Willen nicht gehorchen, als Außenwelt vom Ich […] sondern.“28 Auch bei Freud ist die Erkenntnis fremder Objekte mit schmerzlichen, negativen Erfahrungen gekoppelt: „Mit Eintreten des Objekts in die Stufe des primären Narzißmus erreicht auch der zweite Gegensinn des Liebens, das Hassen, seine Ausbildung. […] Das Äußere, das Objekt, das Gehaßte wären zu allem Anfang identisch.“29

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Bei Freud ist die mütterliche Brust eine der ersten Objekterfahrungen überhaupt, da durch sie, anders als es noch im pränatalen Zustand möglich war, nicht kontinuierlich Bedürfnisse befriedigt werden können und so immer ein temporärer Mangel entsteht.30 Differenzierung zwischen Subjekt und Objekt scheint aus Perspektive der Psychologie des frühen 20. Jahrhunderts demnach zuallererst ein unbequemer Prozess zu sein, der von Ambivalenzen, Brüchen und Konflikten geprägt ist. Die Widerständigkeit der Außenwelt lässt allerdings nicht nur Objekte in das indifferente Kontinuum als Fremde treten, sondern konstituiert durch die neuartige Erfahrung der Getrenntheit überhaupt erst das Subjektempfinden. Objekterfahrung und Subjekterfahrung entstehen laut der frühen Psychologie interdependent innerhalb des Spaltungsprozesses. Piaget stellt fest, dass das „Ich-Bewusstsein keineswegs angeborenerweise mit den ersten Verhaltensweisen verbunden ist; es entwickelt sich erst schrittweise und aufgrund der Widerstände, die das Verhalten der anderen entgegensetzt.“31 Der Unterschied zwischen innen und außen sowie zwischen Ich und Ding werde durch Widerstandserfahrungen gelernt. Das Objekt hindere den Menschen an der zuvor kindlich wahrgenommenen Allmacht. Freud und Piaget meinen mit dem Begriff Objekt allerdings nicht nur dingliche, sondern vor allem menschliche Gegenüber, also etwa die Eltern oder die Mutter bzw. die mütterliche Brust. Friedrich Heubach stellt in den 1980er Jahren fest, dass in der Psychologie die Bedeutung der nicht-menschlichen Welt für das Subjekt grundsätzlich allenfalls eine untergeordnete Rolle spielt.32 Das Subjekt werde vorrangig als Ergebnis der Beziehungen zu anderen Menschen verstanden: Wie weit man innerhalb der Psychologie davon entfernt ist, die Dinge als Bedingungen menschlichen Verhaltens in dessen Erklärungen einzubeziehen, gibt jene blinde Fixigkeit zu erkennen, mit der Psychologen immer gleich eine Persönlichkeitsstörung konstruieren, wenn es um die Erklärung eines irgendwie auffälligen Umgangs mit Dingen geht; – als ob nicht auch von diesen eine Störung ausgehen könnte.33

Heubach zeigt in seiner Theorie der „psycho-logischen Gegenständlichkeit“ auf, dass die Dinge entscheidend in den Psychismus einwirken und dessen Organisation bedingen. Psyche und Gegenständliches seien Gegenspieler, die einander bewirkten. Er verdeutlicht, [d]aß der Psychismus nicht nur qua Verhalten auf die Dinge gerichtet ist oder qua Wahrnehmung von ihnen affiziert wird, sondern daß er an den handelnd und wahrnehmend angeeigneten Dingen – in ihnen eine anschauliche Modellierung erfahrend – sich selbst realisiert. Und zwar im doppelten Sinn dieses Wortes: sich an/in Gegenständen konstituierend und sich selbst dabei zugleich – als ein Differentes – kenntlich werdend.34

EINE ANNÄHERUNG AN DIE BEGRIFFE O ­ BJEKT, SUBJEKT UND KRITIK  031

Die widerständigen Dinge ermöglichen nach Heubach also Selbstreflexivität. Ähnlich wie bei Freud und Piaget bedeuten Subjektivieren und Objektivieren auch bei Heubach „Prozesse des Entzweiens und der Destruktion“.35 Es finde allerdings nicht nur einmalig ein Spaltungsprozess statt, sondern im Laufe des gesamten menschlichen Lebens eine andauernde Modellierung der Psyche durch die Dinge. Die Dinge bestimmen demnach immer wieder auf ein Neues die Verfasstheit des Subjekts. Heubachs Plädoyer, den Dingen im Zusammenhang mit Psyche und Identität Aufmerksamkeit zu schenken, erfuhr zu Beginn des 21. Jahrhunderts auch durch die interdisziplinäre Forschung zur Materiellen Kultur Gehör.36 In diesem Forschungszusammenhang fordert Böhme, die Dinge als wichtige Einflüsse auf Gesellschaft und auf Subjekte ernst zu nehmen: Es sind in krass unterschätzter Weise die Dinge, die nicht nur hilfreich, sondern notwendig sind, um menschliches Leben, Identität und Selbst zu verdichten und zu erstetigen. Ohne die Dinge außer uns würde unser Selbst zerflattern, es wäre grenzenlos und darum nichtig.37

Die Beständigkeit der materiellen Umwelt spielt darüber hinaus bei der Herausbildung eines Urvertrauens eine wichtige Rolle, wie Aida Bosch darstellt: „Unser Vertrauen in die Welt, in uns selbst und in unsere Handlungsfähigkeit gründet letztlich auch auf der Verlässlichkeit der Dinge.“38 Sie beschreibt, dass der Geheimdienst mancher Länder Oppositionelle einschüchtere, indem man persönliche Gegenstände aus deren Privatwohnungen heimlich verschiebe und vertausche. Auf diese Weise entstehe eine Unsicherheit, die sowohl das Selbstvertrauen als auch das Vertrauen in die alltägliche Realität zutiefst erschüttere. Die Zuhandenheit des Zeuges sichert also Stabilität, die für die Entwicklung menschlicher Identität essentiell ist. Wie Heidegger konstatiert: „Die Dienlichkeit des Zeuges ist jedoch nur die Wesensfolge der Verläßlichkeit“.39 Laut Bosch benötigen die Dinge allerdings „eine eigene Schwere im Gebrauch“40 bzw. ein Eigengewicht, damit sie die kulturelle Lebenswelt stabilisieren und sicher erscheinen lassen. Insbesondere Naturdinge, die nicht vom Menschen geschaffen wurden, besäßen ein derartiges Eigengewicht. Aber auch Kunstwerke seien schwer oder widerständig, was Heideggers Überlegungen über das Werk entspricht. Denn obwohl Kunstwerke vom Menschen geschaffen wurden, seien sie in der Lage, Identität nicht nur zu sichern, sondern außerdem zu irritieren und damit neue Wahrnehmungen und Erkenntnisse zu ermöglichen. Die Stofflichkeit der Dinge und ihr Eigengewicht seien außerdem essenziell für die Entwicklung von Intellekt: „Die Materialität der Objekte, ihre Eigengesetzlichkeit, die Regeln des Geschehens, die bei der Interaktion mit den Dingen beobachtet werden, bilden den Ansatzpunkt für die Entwicklung der Intelligenz.“41 Individuelles Denken und Kreativität benötigten explizit widerständige Dinge, was ja Piaget schon für die kognitive Entwicklung des Kindes beschrieb.

032  WIDERSTÄN­D IGE OBJEKTE FÜR KRITISCHE SUBJEKTE UND KRITISCHES ­D ESIGN 

Es lässt sich festhalten: Die Widerständigkeit der Dinge ist in vielfältiger Weise konstitutiv für das Selbst. Als Konflikt ermöglicht sie die Differenzierung von innen und außen, d. h. die Abgrenzung des Menschen von der Außenwelt und damit die Entwicklung eines selbstreflexiven Ich-Bewusstseins. Als Beständigkeit schafft sie Sicherheit zur Stabilisierung der Identität. Und als Eigenständigkeit, etwa im Kunstwerk, erzeugt sie Irritation für neue Einsichten zur Weiterentwicklung des kreativen, intelligenten Selbst. Die Widerständigkeit der Dinge ist damit, aus Perspektive der Materiellen-Kultur-Forschung, auch Grundlage für ein selbstreflexives, kritisches Subjekt.

1.1.3  Das kritische Subjekt Die philosophischen Grundbegriffe „Kritik“ und „Subjekt“ oder „Subjektivität“ haben eine lange Rezeptionsgeschichte. An dieser Stelle soll nur umrissen werden, was alltagssprachlich und philosophisch, etwa aus Perspektive der Frankfurter Schule, unter einem kritischen Subjekt verstanden wird. Die Grundbedeutung von Kritik ist „trennen“, „auseinander setzen“ oder „auseinander stellen“.42 Umgangssprachlich versteht man unter einer Kritik die negative Beurteilung von Menschen oder Menschgemachtem. Bäume, Sonnenuntergänge oder der Mond werden nicht kritisiert. Religionen, Möbel oder Wirtschaftssysteme können jedoch zum Gegenstand der Kritik werden. Das Adjektiv „kritisch“ wird alltagssprachlich beinahe synonym verwendet mit „wissenschaftlich“, „vernünftig“ oder „reflektiert“. Der Subjektstatus ist dem modernen Selbstverständnis nach dem Menschen vorbehalten. Daher ist das kritische Subjekt aus dieser Perspektive ein Mensch, der sich seiner selbst und seiner Umwelt bewusst ist. Kritische Subjekte sind aufgeklärt und in der Lage, zu unterscheiden. Nach der ursprünglichen Wortbedeutung von Kritik sind sie in der Lage, zu trennen – zwischen sich und der Außenwelt und zwischen möglichen Optionen. Die Fähigkeit sich abzugrenzen und Distanz zu wahren, ist Bedingung für die kritische Praxis. Das kritische Subjekt ist der aufklärerischen Vorstellung nach ein freies Subjekt, das sich sein Urteil frei bilden kann. Es blickt möglichst neutral auf seinen Gegenstand und kann sich von seiner subjektiven Perspektive befreien. Ein kritisches Subjekt ist im Sinne eines wissenschaftlichen Subjekts zur Erkenntnis fähig.43 Wie Wolfgang Welsch in Homo Mundanus (2012) historisch nachzeichnet, wird in den meisten philosophischen Theorien das die Welt erkennende Ich möglichst getrennt von dessen Außenwelt gedacht.44 Es wird davon ausgegangen, dass Subjekte nur wahrnehmen, untersuchen und beurteilen können, was sie als von ihnen getrennt verstehen.

EINE ANNÄHERUNG AN DIE BEGRIFFE O ­ BJEKT, SUBJEKT UND KRITIK  033

Die Kritische Theorie, auf die sich insbesondere auch kritische Positionen im Design beziehen, befasst sich mit Hindernissen, die der Emanzipation des Subjekts im Wege stehen. Sie geht als Gesellschaftstheorie der Frankfurter Schule hauptsächlich zurück auf Max Horkheimer, Theodor W. Adorno und Herbert Marcuse. Sie soll – sehr verkürzt gefasst – in die Lage versetzen, gesellschaftliche Unterdrückungsmechanismen aufzudecken, Ideologien zu entlarven und das Blendwerk kapitalistischer Kulturindustrie zu durchschauen. Die Ablehnung von Ideologien zielt darauf ab, eine Gesellschaft mündiger, urteils- und verantwortungsfähiger Subjekte zu ermöglichen.45 Relevant für diese Arbeit ist, dass das kritische Subjekt dem aufklärerischen Gedanken nach autonom ist und möglichst distanziert und ideologiebefreit über andere und die menschgemachte Umwelt urteilen kann. Ob dieser Gedanke in nicht-anthropozentrischen Theorien noch eine Rolle spielen kann, wird zu überprüfen sein.

1.1.4  Die Auflösung von Grenzen zwischen Subjekt und Objekt als ­Bedrohung Mit der Vorstellung, dass das Subjekt durch die Dinge und die Abgrenzung von Dingen existiert, geht die Sorge einher, dass sich die Grenzen zwischen Ding und Mensch (wieder) auflösen könnten und das Selbst sich verliert. Die Widerständigkeit der Dinge scheint nicht verlässlich gegeben, oder wie Bosch darlegt: „[D]ieses Eigengewicht der Dinge ist potentiell immer gefährdet. Denn Mensch und Ding sind auf ambivalente Weise miteinander verschränkt.“46 Insbesondere Gebrauchsdinge – das Heidegger’sche Zeug – verwischen Grenzen. In der Aktion wird schnell undeutlich, wo verschiedene Dinge untereinander oder Dinge und Nutzende anfangen und aufhören. So verschmelzen beispielsweise durch die Handlung des Kochens Hände mit Messern und Messer mit Lebensmitteln, der Herd verschmilzt sowohl mit dem stromerzeugenden Kraftwerk als auch mit dem Topf und der Hand, die den Topfdeckel hält. Hier hat sich ein Kollektiv (Latour) versammelt. Menschen, die kochen, sind erst durch die sie umgebenden Dinge Kochende. In solch einem Netzwerk ist die Idee von einem autonomen Subjekt schwer haltbar und womöglich kann es in der Handlung gar nicht existieren. Heidegger stellt mit Blick auf den Vollzug von Handlungen des Subjekts fest: „Um an die Zeugwelt ‚verloren‘ ‚wirklich‘ zu Werke gehen und hantieren zu können, muß sich das Selbst vergessen.“47 Hantierende müssen sich demnach in den Zusammenhängen verlieren und könnten nicht handeln, würden sie sich als getrennt wahrnehmen. Selbstverständlich dürfen sie nicht nur sich selbst nicht fokussieren, sondern auch das Zeug, mit dem sie umgehen. Nur so sei Zeug wirklich Zeug. Unbewusst Handelnde gehen also im Zeugganzen auf und nehmen weder sich selbst

034  WIDERSTÄN­D IGE OBJEKTE FÜR KRITISCHE SUBJEKTE UND KRITISCHES ­D ESIGN 

noch das Zeug wirklich wahr. Heidegger verdeutlicht sein Argument am Beispiel des Umgangs mit einem Paar Schuhe: Die Bäuerin auf dem Acker trägt die Schuhe. Hier erst sind sie, was sie sind. Sie sind dies um so echter, je weniger die Bäuerin bei der Arbeit an die Schuhe denkt oder sie gar anschaut oder auch nur spürt. Sie geht und steht in ihnen. So dienen die Schuhe wirklich. An diesem Vorgang des Zeuggebrauchs muß uns das Zeughafte wirklich begegnen.48

Die bewusste Wahrnehmung der Dinge kann hingegen ein Distanzgefühl erzeugen oder gar ein unheimliches Gefühl auslösen. Wie schwer es ist, die Dinge zu fassen zu bekommen, zeigen phänomenologische Annäherungen an das Ding, wie sie Villém Flusser 1993 anstellt. „Wie immer ich die Dinge zu betrachten versuche […], nie komme ich zur Ruhe.“49 Die Dinge stellen sich immer wieder anders dar, so Flusser, bilden dauernd neue Umstände und entziehen sich jeder logischen Kategorisierung: „Manche Dinge in meiner Umgebung sind mir nicht ganz geheuer.“50 Auch Roger-Pol Droit unternimmt 2003 den Versuch, sich durch phänomenologische Essays den Dingen anzunähern.51 Er untersucht als philosophisches Experiment insgesamt 50 Alltagsgegenstände, von einer Schale bis zu einer Fliegenklatsche. Ihm werden dabei allerdings nicht nur die Dinge, sondern auch das eigene Vorhaben nach und nach suspekt. Zu Beginn des Experiments stellt er noch fest, dass es beinahe unmöglich sei, über die Dinge zu reden, ohne dabei von sich selbst zu sprechen. Ihm wird eine grundsätzliche Verwobenheit deutlich: „Can it be that talking about things involves exhibiting the bits and pieces of self that adhere to their substance?“ Er schlussfolgert: „We need to imagine cloud-subjects […] interacting with clould-objects“.52 Nach und nach spürt er die Grenze zu den Dingen hingegen als unüberwindbar oder unantastbar – ein Paradox in Anbetracht seiner ersten Erkenntnis. Doch die Dinge entziehen sich, sobald er sich mit ihnen beschäftigt – was mit Heidegger gedacht nur logisch ist, denn das Zeug wird zum widerständigen Ding, wenn es für sich steht, und das tut es in der isolierten Betrachtung, die Droit anstellt.53 Droit bemerkt, um die Dinge wirklich zu verstehen, müsse er selbst in eine sprachlose, leblose Welt eintreten, die ihm als terra incognita erscheint. Mit dem Versuch, die Grenze zu überschreiten, verliert er allerdings Stück für Stück Souveränität und die Kontrolle über sein Experiment. Die Annäherung kommt einer Selbstaufgabe gleich: „[T]he dream of entering into silence, into brute matter, and seeing the world from the viewpoint of things, carries its dangers. To fall prey to this illusion is to become dust with the dust, with no possibility to return.“54 Sobald sich die Grenzen in der Annäherung tatsächlich aufzulösen beginnen, beispielsweise durch die meditative Betrachtung von Kunst, gerät er in Panik. Er erschöpft sich an seinem Vorhaben. Wie Droits Versuch zeigt, ist es einerseits unmöglich, die Dinge rein objektiv zu beschreiben, andererseits löst der Versuch einer Annäherung Ängste aus, die mit Kontroll- und Selbstverlust in Zusammenhang stehen. Böhme fasst das

EINE ANNÄHERUNG AN DIE BEGRIFFE O ­ BJEKT, SUBJEKT UND KRITIK  035

­ erhältnis zu den Dingen in diesem Zusammenhang treffend zusammen, wenn V er bemerkt: Jeder Versuch, die Dinglichkeit der Dinge in den Raum der Sprache zu translationieren, endet damit, dass der Mensch, in allen seinen Ängsten und Hoffnungen, Zweifeln und Einsichten, sich selbst begegnet. Die Dinge ragen so tief in unsere Existenz, dass sie, in ihrer Fremdheit, das Alphabet des Menschlichen austragen, wie umgekehrt der Mensch sie selbst alphabetisiert. Man kann sie so wenig von sich abhalten wie sich mit ihnen vereinigen.55

Droit folgert aus seinem Experiment, dass weder absolute Nähe noch totale Distanz, sondern ein ganz neues Verhältnis mit neuem Abstand zu den Dingen nötig sei: „Faced with this impasse, perhaps we need to create a new relationship, establish a new kind of distance. Neither indifference towards things, nor fascination. Neither language nor silence. Neither fear nor false expectation.“56 Droits Selbstversuch wirft die Frage auf, woher der Zustand aus Angst und Panik bei Annäherungsversuchen an die Dinge rührt. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang Freuds Auseinandersetzung mit dem „Unheimlichen“, bei der er eine Verbindung zu dem frühkindlichen Einheitszustand zwischen Subjekt und Objekt herstellt. Das Gefühl des Unheimlichen entstehe, sobald man sich an den Zustand der frühen Entwicklungsstufe erinnert fühlt, als man noch nicht klar zwischen Ich und Außenwelt unterscheiden konnte.57 Die panische Reaktion auf eine zunehmende Nähe zwischen Mensch und Ding, wie Droit sie erlebt, könnte mit Freud als Regressionsangst gedeutet werden – als Angst, das Ich-Bewusstsein wieder zu verlieren.58 Es bleibt festzuhalten, dass die klare Abgrenzung von den Dingen ein im Handeln unmögliches Bestreben darstellt. Wer mit Dingen handelt, geht immer eine Verbindung zu ihnen ein und hat zumindest temporär kein Bewusstsein für die eigenen Grenzen. Die bewusste Annäherung an die Dinge führt hingegen nicht unbedingt zu Nähe im Sinne von Verständnis. Annäherung kann entweder ungewollte Distanz und Befremden oder Angst vor Selbstaufgabe erzeugen. Der Umgang mit den Dingen ist also paradox. Annäherung schafft nicht zwingend Verbundenheit, sondern kann im Gegenteil Befremden auslösen. Gleichzeitig lässt sich das Wesen der Dinge auch nicht erfahren, wenn man sie auf Distanz hält und keine Handlungen mit ihnen vollzieht. Der Grat zwischen Unverständnis und Fremdheit durch Distanz zu den Dingen einerseits und Unverständnis und Fremdheit durch Nähe mit den Dingen andererseits ist schmal. Eine kritische Position, die Erkenntnis über die Dinge und über sich selbst ermöglicht, muss die beiden Seiten austarieren.

036  WIDERSTÄN­D IGE OBJEKTE FÜR KRITISCHE SUBJEKTE UND KRITISCHES ­D ESIGN 

1.2  GRENZRÄUME ZWISCHEN SUBJEKT UND OBJEKT ALS GESTALTUNGSAUFGABE 1.2.1  Widerständigkeit minimieren – über die „Tücke der Dinge“ und Usability Die Designpraxis spielt beim Aushandeln von Nähe und Distanz zwischen Subjekt und Objekt eine entscheidende Rolle. Designer*innen definieren die Schnittstellen zwischen Subjekt und Objekt in ihrem jeweiligen Wirkungsfeld, sowohl bei digitalen als auch bei analogen Artefakten. Es stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, wie Designer*innen mit der Widerständigkeit von Objekten umgehen und welche Perspektiven auf Kritik und kritische Subjektivität im Design existieren. Hartmut Böhme beschreibt mit Bezug auf Georg Simmels Etüde Der Henkel, inwiefern bei Gebrauchsdingen vermittelnde Brücken zwischen Mensch und Welt existieren: „Henkel und Ausguss sind die beiden Momente, die das Gefäß zum Vermittlungsraum von Handlungen macht, die den Weg von Flüssigkeiten dirigieren; sie bezeichnen am Objekt seine Funktionalität für zielgerichtetes Hantieren.“ 59 Simmel bemerkt: „Mit dem Henkel reicht die Welt an das Gefäß heran, mit dem Ausguß reicht das Gefäß in die Welt hinaus.“60 Design ist ganz wesentlich damit befasst, die vermittelnden Brücken zwischen den Dingen untereinander und zwischen Menschen und Dingen zu definieren. Designer*innen gestalten Grenzräume – also Schnittstellen, Interfaces – und tarieren zwischen Heidegger’schem Zeug oder widerständigen Dingen aus. Das Design scheint grundsätzlich von zwei Tendenzen getrieben: Einerseits vereinfachen Designer*innen Interaktionsprozesse zwischen Mensch und Ding, um so Reibung zu minimieren. Der Designwissenschaftler Hermann Sturm beschreibt die Minimierung von Widerständen als eine Hauptaufgabe des Designs. Design kämpfe und plane mit kontinuierlich neuen Entwürfen gegen die „Tücke des Objekts“ an.61 Schließlich wollen wir „uns nicht beherrschen lassen von den Dingen und schon gar nicht zu Knechten ihrer Tücke werden.“62 Seit den 1980er Jahren wird Widerstandsreduktion außerdem im Zusammenhang mit der zunehmenden Verbreitung von komplexen Alltagstechnologien wie dem Personal Computer unter den Bezeichnungen Usability Design, Human-­ Centered Design oder User-Centered Design propagiert, etwa von Don Norman und Jakob Nielsen, die erörtern, wie die Gebrauchstauglichkeit digitaler Produkte durch Design optimiert werden kann.63 Diese Ansätze rücken den Menschen ins Zentrum des Gestaltungsprozesses. Die Widerständigkeit von Dingen wird im Sinne der Nutzer­freundlichkeit möglichst reduziert. Entgegen dieser Haltung wird in der Designforschung andererseits argumentiert, dass Menschen auch Momente der Reibung und Anstrengung positiv erleben und diese positiven Momente durch Design verstärkt werden sollten.64 Vorbehalte

GRENZRÄUME ZWISCHEN SUBJEKT UND OBJEKT ALS GESTALTUNGSAUFGABE  037

gegenüber dem vorherrschenden Designprinzip der Widerstandsminimierung können auch in Anbetracht der in diesem Kapitel thematisierten Angst vor einem Grenzverlust zwischen Subjekt und Objekt verstanden werden. Wenn Widerstände, oder wenn man so will, die Tücken des Objekts, ganz essenziell für die Entwicklung von Identität und kritischem Selbstbewusstsein sind, ist die Minimierung von Widerstand problematisch für das Subjekt. Dinge können, wie Heubach unter Bezug auf Freud und Piaget feststellt, nicht nur als Widerständige einen Einheitszustand spalten, sondern diesen Zustand ebenso als „Widerstandslose“ (wieder) herstellen oder vortäuschen. Dinge, die keinen Widerstand bieten, werden aus dieser Perspektive gefährlich für das Subjekt – denn ohne widerständiges Objekt existiert kein Subjekt. Alle Dinge, die bequem und reibungslos erscheinen, Heubach nennt beispielsweise die „gemütliche“ Inneneinrichtung, simulierten den Zustand, noch ungeboren oder schon jenseits der Schwelle des Todes, jedenfalls frei von der SubjektObjekt-Spaltung, zu sein. Es finde dann eine (Re-)Totalisierung durch Dinge statt: Was dem Psychischen in der Gegenständlichkeit widerfährt, welche ihm die sogenannte gemütliche Einrichtung vermittelt, wäre also die imaginäre, materialsymbolische Aufhebung jener ursprünglichen Spaltung, in der sich das Ich und die Objekte konstituieren: Die Gemütlichkeit als eine retrograde Totalisierung des Psychismus, als die zur Idylle gewendete ‚primäre Konfusion‘.65

Bezeichnenderweise sind diese sogenannten gemütlichen Möbel für ihn gar keine Objekte mehr. Er bezeichnet sie als „Undinge“, da sie sich dem Menschen nicht als Gegenüber darstellten. Heubach spricht damit den Gestalter*innen von Objekten eine große Verantwortung zu. Durch die abgeschaffte Widerständigkeit würde die Spaltung zwischen Subjekt und Objekt rückgängig gemacht. Idylle, Einheit und Konfusion seien das Resultat. Unterscheidung werde unmöglich, was ein bedenklicher Zustand sei.

1.2.2  Widerständigkeit gestalten – von Anti-Design bis Critical Design Eine zweite gestalterische Haltung im Umgang mit den Grenzräumen zwischen Subjekt und Objekt äußert sich in der vorsätzlichen Erzeugung von Widerständigkeit. Designer*innen dekonstruieren hier das Heidegger’sche Zeugganze und schaffen Dinge, die befremden. Ein Blick in die Geschichte des Designs verdeutlicht, wie tief verankert das Bestreben im Design ist, Widerständigkeit bewusst zu konstruieren. Anti-Bewegungen wie das Anti-Design,66 das von der Pop-Art inspirierte R ­ adical ­Design67 der 1960er und 1970er Jahre oder postmoderne Gruppierungen wie das Studio Alchimia und die Gruppe Memphis gestalteten beispielsweise explizit widerständige Dinge. Ihr Design – meist Produktdesign – provozierte, da es i­ ronisch und

038  WIDERSTÄN­D IGE OBJEKTE FÜR KRITISCHE SUBJEKTE UND KRITISCHES ­D ESIGN 

antifunktional wirkte. Gestaltet wurde hauptsächlich als Gegenreaktion auf den Funktionalismus. Das Carlton-Regal von Memphis beispielsweise zeichnet sich durch einen spielerischen, aus funktionalistischer Perspektive beliebigen Umgang mit geometrischen Formen aus. Das Prinzip „form follows function“ wurde durch eine sperrige, irrationale, wenig ergonomische oder sogar – folgt man Heubach – „ungemütliche“ Ästhetik irritiert. Insbesondere die sogenannte Gemütlichkeit wurde durch Designer*innen immer wieder bewusst gestört. Dies, wie Gert Selle darlegt, bereits seit der Industrialisierung – so könne bereits der Thonet Stuhl Nr. 14 aus dem Jahr 1859 als Ende der Gemütlichkeit interpretiert werden.68 Auch das Neue Deutsche Design der 1980er Jahre lehnte sich ganz explizit gegen das Konzept der „Deutschen Gemütlichkeit“ auf.69 Designer*innen brachen hier bewusst mit dem, was Heubach als „Idylle“ bezeichnet. Besonders plakative Beispiele sind die von STILETTO gestalteten Objekte aus Stachel- oder Aluminium-Fliegendraht, teils gefüllt mit Topfkratzern, die Namen wie Dornröschen, Heimweh oder Neue Deutsche Gemütlichkeit tragen und sich auf das Gebrauchsobjekt Kissen beziehen. Diese Dinge sind nicht nur symbolisch irritierend, sondern auch durch das eingesetzte Material widerständig und entziehen sich jedem Gebrauch. Die Artefakte erscheinen eher als Werk denn als Zeug und zeichnen sich durch Eigengewicht aus. Sie fügen sich nur schwer in den Alltag ihrer Zeit und in Handlungszusammenhänge bzw. in Zeugganzes ein. Teils simulieren sie Gebrauchstauglichkeit, ohne brauchbar zu sein. Teils brechen sie mit einer ästhetischen Tradition, sind bunt, laut und schrill und werden daher erst nach langer Gewöhnung in der Interaktion „unsichtbar“. Die Grenzen zur Kunst sind bei diesem widerständigen Design fließend. Dies gilt insbesondere, da die meisten Produkte dieser antifunktionalistischen Bewegungen als Unikate angefertigt wurden und sich nicht zur Serienproduktion eignen.70 Entsprechend lösten die widerständigen Artefakte Diskussionen darüber aus, ob es noch angemessen sei, hier von Design zu sprechen.71 Insbesondere Anti-Design und Radical Design, aber auch das Neue Deutsche Design waren politisch und gesellschaftskritisch motiviert. Die Funktionalismuskritik dieser Designbewegungen stand in engem Zusammenhang mit den theoretischen Ansätzen der Frankfurter Schule.72 So sind die Entwürfe als antikommerzielle Kommentare gegen ideologisches Gestalten und gegen die Optimierung des kapitalistischen Wirtschaftssystems zu verstehen. Das Neue Deutsche Design wandte sich darüber hinaus als antibürgerliche Bewegung explizit gegen das Kleinbürgeridyll der Nachkriegsgeneration.73 Die Antibewegungen nutzten für ihre Kritik oftmals Methoden wie die Parodie und Ironie, was am Beispiel der dem groben Material widersprechenden Produktbezeichnungen (Dornröschen) der Kissen von STILETTO offensichtlich wird.74 Auch bei Arbeiten des Studio Alchimia wird der Einsatz von Ironie eindeutig. Der Sessel Proust von Alessandro Mendini ironisiert und trivialisiert sowohl das großbürgerliche Umfeld Marcel Prousts als auch den zu dessen Lebzeit populären Impressionismus. Mendini bemalte einen barocken Sessel mit üppigen Schnitzereien

GRENZRÄUME ZWISCHEN SUBJEKT UND OBJEKT ALS GESTALTUNGSAUFGABE  039

vom Holz bis zum Bezug mit dem vergrößerten Ausschnitt eines ­pointillistischen Gemäldes von Paul Signac. Das bunte Spiel mit den Zitaten stellt den Funktionalismus infrage. Die Funktionalismuskritik wird bei seinen verfremdeten Bauhausmöbeln der Kollektion Bau.Haus 1 und Bau.Haus 2 noch deutlicher. Hier re-designte er beispielsweise den Wassily Chair von Marcel Breuer aus dem Jahr 1925, indem er ihn mit Kunstleder in Form von Wölkchen bestückte. Mit diesen dysfunktionalen Applikationen ironisierte er die Sachlichkeit des Bauhauses. Diese Designbewegungen können als Distanzbewegungen verstanden werden. Man gestaltete widerständige Dinge, um sich ironisch gegen etwas zu wenden, seien es Designideologien, das kapitalistische System oder die Elterngeneration. Die Ansätze bezweckten Provokation und Spaltung oder, mit Heidegger gesprochen, Aufsässigkeit statt Zuhandenheit. Ende der 1990er Jahre stellten Anthony Dunne und Fiona Raby eine Designpraxis mit dem Namen „Critical Design“ vor. Critical Design ist verwandt mit den auf Widerständigkeit basierenden Designansätzen der 1960er bis 1980er Jahre. Ähnlich wie Radical Design oder Anti-Design löste sich auch Critical Design von kommerziellen, utilitaristischen und funktionalistischen Erwartungshaltungen an das Design. Im Unterschied zu den früheren kritischen Ansätzen beschäftigte sich Critical Design allerdings stärker mit medientechnologischen und soziopsychologischen Entwicklungen. Dunne und Raby teilten Design in zwei Kategorien ein: ­Affirmative Design und Critical Design. Von affirmativem Design grenzten sie sich deutlich ab. Critical Design hingegen bot aus ihrer Perspektive das Potenzial, Alternativen zu denken. „The latter rejects how things are now as being the only possiblity, it provides a critique of the prevailing situation through design that embody alternative social, cultural, technical or economic values.“75 Damit bewegte sich ihr Design, ähnlich wie bei den Antibewegungen in den 1960er, 1970er und 1980er Jahren, nahe an der Grenze zur Kunst. Gestaltetes von Dunne, Raby und ihren Studierenden76 wurde weder vermarktet noch funktionierte es als Massenware im Alltag. Die Artefakte optimieren keine Zustände, lösen keine Probleme und lassen sich oft nicht gebrauchen. Zwar wurden Dinge gestaltet, die wie ein Tisch anmuten oder die Dunne und Raby als Robots (Abbildung 1) bezeichneten, zwar wurde die Ästhetik von Alltagsobjekten und die Sprache des Designs imitiert, doch letztlich hatten diese Dinge ein anderes Ziel, als es gewöhnliche Gebrauchsdinge haben. Sie sollten irritieren, befremden und die Ima­ ritical Design aufgrund dessen Nähe zur gination anregen. Dunne und Raby sahen C Konsumkultur dennoch nicht als Kunst-, sondern als Designpraxis. Mit Mitteln des Designs werde provoziert, um im Umfeld des Designs Diskussionen zu ermöglichen: Critical design is related to haute couture, concept cars, design propaganda, and visions of the future, but its purpose is not to present the dreams of industry, attract new business, anticipate new trends or test the market. Its purpose is to stimulate discussion and debate amongst designers, industry and the public about the aesthetic quality of our electronically mediated existence.77

040  WIDERSTÄN­D IGE OBJEKTE FÜR KRITISCHE SUBJEKTE UND KRITISCHES ­D ESIGN 

Dunne und Raby argumentierten sogar explizit gegen die Verwandtschaft mit der Kunst: Kunst habe im Gegensatz zu Critical Design keine Nähe zum Alltag und wolle, anders als Critical Design, hauptsächlich schockieren. Diese Argumentation wurde von HCI-Forschenden als uneindeutig und irreführend kritisiert. Jeffrey Bardzell und Shaowen Bardzell, die Critical Design für die HCI fruchtbar machten, argumentieren, dass auch Kunst Teil des Alltags sei und Critical Design von der Öffentlichkeit, wenn schon nicht als Kunst, dann als „strange university stuff“78 abgetan werden könne. Statt sich von der Kunst abzugrenzen, solle sich Critical Design vom Kunstsystem distanzieren: „A better strategy would have been to say that critical design and art may or may not overlap, but that critical design, tactically speaking, should not be absorbed into the social practices of the artworld, with their institutional structures of exhibitions, museums, and funding.“79 Critical Design von Dunne und Raby ist jedoch auch vom Kunstsystem nicht weit entfernt. Ihre Arbeiten werden in Ausstellungen abgelöst von jeglichem Alltagskontext gezeigt und oftmals sogar nur für diese Präsentation entwickelt, beispielsweise eines ihrer bekanntesten Objekte, der Huggable Atomic Mushroom von 2004/05, eine Art Stofftier in Form eines Atompilzes, das irrationale, aber reale Ängste vor einer atomaren Vernichtung thematisiert (Abbildung 2).80 Gezeigt wird er in der Dauerausstellung des MoMA in New York. Ein weiteres Beispiel ist das Projekt Not Here, Not Now, das über Interfaces der Zukunft spekuliert.81 Es wurde von der Kuratorin Karen Verschooren beauftragt und extra für die Ausstellung Future Fictions am Z33 in Hasselt im Jahr 2014 angefertigt.82 Ältere Arbeiten von Dunne und Raby sind den Alltagsräumen und der realen Nutzung näher. Ein Beispiel sind die Park Interactives aus dem Jahr 2000, eine Serie von ungewöhnlichem Parkmobiliar, zum Beispiel eine Bank, die, mit einer Rolle Hygienepapier ausgestattet, ungewohnte Nutzung provozierte (Abbildung 3). Hier waren Dunne und Raby daran interessiert, „whether the public can be encouraged to misbehave when confronted with furniture designed to support illicit activities.“83 Ob diese Möbel tatsächlich als Möbel gebraucht wurden, bleibt fraglich. Zwar wurden sie im Park der Villa Medici in Rom tatsächlich aufgestellt, jedoch als Teil einer von Hans Ulrich Obrist kuratierten Ausstellung. Vieles, was unter der Bezeichnung Critical Design produziert wurde, funktioniert rein ästhetisch als Anschauungsobjekt und eignet sich daher besonders gut als Exponat in Ausstellungen. Das gilt auch für die Arbeit Technological Dreams Series: No 1, Robots, bei der Dunne und Raby skulpturale Objekte entwarfen, denen sie menschliche Eigenschaften und Bedürfnisse, etwa ein neurotisches Verhalten oder eine eifersüchtige Persönlichkeit, zuschrieben (Abbildung 1). Ihre im musealen Raum ausgestellten Objekte sollten eine Diskussion darüber auslösen, wie Menschen mit Robotern in Zukunft zusammenleben und interagieren wollen. Sollen Roboter in gleichberechtigter, intimer, unterwürfiger oder abhängiger Beziehung zum Menschen stehen? Obwohl mit der Kunst verwandt, kommunizieren diese Artefakte, anders als bei Kunstwerken üblich, eine Funktion – was Critical Design für manche Designfor-

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Abb. 1: A. Dunne, F. Raby, Technological Dreams ­Series: No.1, Robots, 2007

Abb. 2: A. Dunne, F. Raby, Huggable Atomic Mushroom, 2004–2005

Abb. 3: A. Dunne, F. Raby, Park Interactives, 2000

schende zu einem „new genre of design avant-garde“84 macht. So stellen Netta ­Iivari und Kari Kuutii fest: „[I]nstead of aiming to provoke through bending and violating culturally established visual norms and rules, the provocation in these designs is based on computerenabled functionality, which helps the audience to envision yet non-existing practices where artefacts might be used.“85 Obwohl die Artefakte auf eine mögliche Nutzung verweisen, bleibt die Zielgruppe ein Publikum (the audience), das sich mithilfe der Artefakte andere Funktions- und Alltagskontexte sowie utopische und dystopische Zukünfte ausmalt. Critical Design wurde nach der Jahrtausendwende unter den Bezeichnungen „Design Fiction“86 oder auch „Speculative Design“87 weiterentwickelt. Bei diesen verwandten Designansätzen liegt der Fokus verstärkt auf der Gestaltung von befremdlichen, fiktiven Zukunftsszenarien und alternativen Gegenwartsentwürfen.

042  WIDERSTÄN­D IGE OBJEKTE FÜR KRITISCHE SUBJEKTE UND KRITISCHES ­D ESIGN 

1.2.3  Critical Design in der HCI- und Designforschung Seit ungefähr 2009 beschäftigen sich HCI- und Designforscher*innen, die Forschung durch Design praktizieren, vermehrt mit Critical Design, Speculative Design und Design Fiction. Widerständiges Design, vom Radical Design bis zum Critical Design wird zur Inspiration für die empirische Forschung. In diesen neuen Zusammenhängen verschiebt sich das gestalterische Ziel von der Gesellschaftskritik zum Wissensgewinn. Hier stellt sich die Frage, welches Potenzial kritische Designpraxis für die Forschung bietet. Auf welche Weise können widerständige Objekte zum Wissensgewinn beitragen? Wie werden die Stärken und Schwächen von Critical Design in der HCI- und Designforschung diskutiert und welches Verständnis von Kritik besteht? Simon Grand und Martin Wiedermer systematisieren schon 2009 kritische Designpraxis für die Designforschung und leiten, basierend auf Critical Design und Design Fiction, eine Method Toolbox for Design Research ab.88 Zeitgleich verhandeln Ramia Mazé und Johan Redström kritische Praxis im Design, zu der sie neben den historischen Vorgängern der 1960er bis 1980er Jahre auch Critical Design zählen. Sie plädieren dafür, diese als eine entscheidende Grundlage für die Designforschung zu berücksichtigen, und stellen Designforschung und kritische Designpraxis in einen direkten Bezug: „Perhaps a shared aim of critical design and design research is not simplification but diversification of the ways in which we might understand design problems, ideas, and boundaries.“89 Sie stellen fest, dass es bei kritischer Praxis im Design weniger um das Objekt selbst und die Formfindung gehe, sondern vielmehr um Ideen und Konzepte, die durch das Objekt ausgedrückt würden. Damit sei kritische Designpraxis in der Lage, Inhalte intern über Gestaltung zu transportieren und nicht extern durch beschreibende Texte.90 Versteht man Critical Design wie Mazé und Redström als Forschungsansatz, dann betreibt diese Designforschung in Alain Findelis Sinne Forschung durch Design.91 Folgende Kontroversen zeichnen sich im Diskurs über kritische Designpraxis als Forschung durch Design ab: •

Objekte der Anschauung vs. Objekte der Nutzung: Koskinen et al. unterscheiden in der Forschung durch Design zwischen drei Kategorien: „Lab“, „Field“ und „Showroom“.92 Das Critical Design von Dunne und Raby ist für sie der einflussreichste Forschungsansatz für die Showroom-Forschung. In Forschungsprojekten der Kategorie Showroom sollen laut Koskinen et al. nicht Fakten, sondern Geschichten generiert werden, und zwar in Ausstellungen durch gestaltete Artefakte, die befremden. „Showroom relies on debate rather than statistics, like Lab, or precedents and replication, like Field.“93 Objekte des Critical Design sind aus dieser Perspektive Anschauungsobjekte. Gerade hier weichen die Erwar-

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tungen anderer Autor*innen an kritisches Design ab. Mazé und Redström weisen etwa darauf hin, dass kritische Designobjekte erst in der Nutzung tatsächlich Wirkung entfalten. „Just as design moves beyond commentary through material transformation, critical designs must be put to use in order to effect behavioral transformation.“94 Tatsächlich werden von Designforscher*innen bereits widerständige Artefakte vom sogenannten Showroom ins Field getragen. Raptis et al. entwickelten beispielsweise 2017 ein Objekt namens The Box – eine Art Messgerät, das in Haushalten Informationen über die zur Verfügung stehende Energie bereitstellt und in die Energiezufuhr eingreift. Das Gerät provoziert eine Veränderung im alltäglichen Umgang mit elektronischen Geräten. Raptis et al. verfolgen das Ziel herauszufinden, „how provocation is experienced in the real world (provocation in use), and how it may challenge existing practices.“95 In ihrer ­Feldforschung beziehen sie sich bewusst auf Critical Design. Sie unterbrechen gewohnte Handlungszusammenhänge in Haushalten, um so über Aktivitäten Erkenntnisse zu erlangen.96 Erkenntnis entsteht hier also durch Dekonstruktion des Zeugganzen und die Widerständigkeit der Dinge. Autorenkult vs. Partizipation: Den Erfolg von Critical Design in der HCI-Forschung erklären sich Pierce et al. unter anderem damit, dass Critical Design eine notwendige Alternative zu dem in der HCI-Forschung etablierten User-Centered ­Design darstelle.97 Was Critical Design von User-Centered Design unterscheide, sei die starke Autorenschaft der Desi­ gner*innen. Sie schlagen daher vor „to articulate the broad range of design practices that convey an authorial voice with critical dimensions as an alternative to (but not a replacement of) user-centered design.“98 Kritische Designpraxis, die bewusst Designautorschaft ausübe, könne auch die Rolle von Nutzer*innen produktiv verändern. Diese hätten nicht mehr nur die Rolle von Konsument*innen, sondern würden zu Kollaborierenden.99 Auch Iivari und Kuutti nehmen die Nutzer*innen in den Blick. Sie schlagen allerdings keine stärkere Autorenschaft der Designer*innen vor, sondern im Gegenteil ein „Critical Participatory Design“.100 Sie sprechen sich in Abgrenzung zu Critical Design für eine kritische Designpraxis aus, in der Nutzer*innen selbst zu Gestaltenden kritischer Artefakte werden, etwa innerhalb der Maker- und Hacker-Kultur.101

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Erkunden vs. Belehren: Dunne selbst begreift Critical Design als „a form of social research“.102 Dunne und Raby wollen durch ihre Gestaltung Fragen stellen oder Probleme finden und nicht Probleme lösen. Es geht ihnen um einen Prozess, der durch Dinge angestoßen wird und dessen Ausgang nicht in den Händen der Designer*innen liegt. Die Provokation soll Irritation und bestenfalls Debatten innerhalb einer Szene auslösen. Probleme und ihre Bedingungen sollen durch die gestalteten Dinge reflektiert werden. Critical Design scheint für die Designforschung insbesondere interessant, da durch die fragende Haltung, anders als etwa bei Usability Design, die Komplexität von Problemen nicht reduziert, sondern potenziell zugänglich wird. Zugleich wird allerdings vielfach bemängelt, dass Critical Design tatsächlich gar nicht offen sei für unterschiedliche Interpretationen. Designer*innen würden mit ihren widerständigen Artefakten sehr eindeutige Botschaften senden, ihre Perspektive für die richtige halten und letztlich keinen offenen Dialog suchen. Dies sei elitär.103 Critical Design sei ein Unterfangen mit moralischem Anspruch: „critical designers are described as moral agents who seek to change society for the better“.104 Durch Critical Design entsteht der Eindruck, dass Geblendete und Unterdrückte von der Konsumkultur, an der das Design (als affirmatives Design) Teil hat, emanzipiert werden sollen. Diese Haltung erscheint vielen zu pädagogisch oder gar anmaßend – beispielsweise Iivari und Kuutti, die den Anspruch auf einen privilegierten Standpunkt von Designer*innen im Critical Design mit großer Skepsis betrachten.105 Bardzell und Bardzell sehen in dieser aufklärerisch kritischen Haltung hingegen auch Potenzial. Critical Design könne Subjekte hervorbringen, die der Analyse fähig sind, und damit als eine kritische Praxis Reflexionsfähigkeit schulen.106 Dekonstruieren vs. Konstruieren: Für Dunne ist Ziel des Critical Design explizit das Erzeugen einer „poetischen Distanz“ zwischen Mensch und Ding.107 Das Poetische als das nicht direkt Eingängige, das vorerst Unverständliche, kreiere produktive Irritation. Es sollten Zustände der Entfremdung geschafft werden. Dunne spricht in diesem Zusammenhang von „post-optimalen“ Produkten, die sich nicht dem designtypischen Bestreben nach Optimierung beugen. Diese Produkte sollten befremdend, wie Aliens, erscheinen oder sogar nutzerunfreundlich wirken: „If user-friendliness character-

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izes the relationship between the user and the optimal object, user-unfriendliness then, a form of gentle provocation, could characterize the post-optimal object.“108 Um Wider­ ständigkeit zu erzeugen, gestalten Dunne und Raby dys­ funktionale, sperrige oder sogar beängstigende Objekte. ­Außerdem verfremden sie gewohnte Gegenstände oder nutzen – wie beim Huggable Atomic Mushroom – die Ironie als methodischen Ansatz. Dunne und Raby nehmen allerdings zunehmend selbst Abstand von einem Critical Design, das als Anti-Haltung die Gegenwart bemängelt oder infrage stellt, indem sie sich vermehrt mit Speculative Design beschäftigen.109 Speculative Design solle das Mögliche erweitern, statt das Existierende zu brechen – also eine andere Offenheit implizieren. Doch nach wie vor fehlt rezipierenden Designforschenden auch hier die Mehrdeutigkeit. Cameron Tonkinwise stellt beispielsweise fest, dass die negative Antihaltung in den spekulativen Gesellschaftsenwürfen weiterhin überwiege. „Everything they make real is concerning at best and often just horrifying.“110 Er bemängelt das Dystopische und Ironische an der Arbeit von Dunne and Raby. Ihm fehlen die positiven Visionen: „DnR [Dunne and Raby] might be wanting to move beyond ‚critical‘ toward propositions that are more ambiguous, but there is very little in their designs that looks strongly positive, that builds an argument for certain kinds of ­futures.“111 Critical Design, das durch widerständige Objekte provoziert und irritiert, wird von Designforschenden für empirische Studien aufgegriffen und kontrovers diskutiert. Während teils Potenzial darin gesehen wird, durch Anschauungsobjekte mit starker Autorenschaft Diskurse anzuregen und Fragen aufzuwerfen, wird zugleich bemängelt, dass Critical Design zu belehrend und destruktiv sei, um eine produktiv forschende Position zu inspirieren. Critical Design scheint, trotz des Ziels einen Dialog zu provozieren und so neues Wissen zu ermöglichen, oft eher zu ­kommentieren. Viele Designwissenschaftler*innen vermissen eine Klärung des verwendeten Kritikbegriffs im Critical Design. Bardzell und Bardzell sehen Parallelen zu den Theorien der Frankfurter Schule. Zwar hätten sich Dunne und Raby von der Frankfurter Schule ursprünglich distanziert, doch gingen sie in ähnlicher Weise davon aus, dass Konsumkultur Nutzer*innen verblende und kritische Subjektivität verunmögliche. Demnach würden Dunne und Raby viele Argumentationen und Begrifflichkeiten, die von der Kritischen Theorie bekannt seien, aufgreifen: „Critical design, like Frankfurt School critical theory before it, is a research strategy dedicated

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to transgressing and undermining social conformity, passivity, and similar values of capitalist ideology, in hopes of bringing about social emancipation.“112 Bardzell und Bardzell bemängeln außerdem, dass Dunne und Raby die Designpraxis in nur zwei Kategorien einteilen. Die binäre Aufteilung zwischen „affirmativ“ und „kritisch“ sei in der gegenwärtigen kapitalistischen Konsumkultur zu einfach gedacht und nicht haltbar: „Without a richer vocabulary for making judgments in a rational and consensus-driven way, critical design risks being a cult of personality and a stick to hit people with, rather than a self- and critically-reflexive professional stance.“113 Wenngleich die Praxis von Dunne und Raby in den 2010er Jahren noch vielfach theoretisch und praktisch aufgegriffen wurde, versuchen HCI- und Designforschende die etablierte Marke Critical Design zunehmend zu überwinden. Pierce et al. räumen ein, dass Critical Design nur eine kritische Designpraxis von vielen sei, die für die HCI interessant sein können. „[W]e argue for abandoning ‚critical design‘, both the term and the Design practice, as the primary touchpoint for discussions in HCI of design practices that embody, or could be read as embodying, some form of critical stance.“114 Auch der Designforscher Tonkinwise resümmiert: „Speculative and Critical Designs can and must be more than things a designer made; they must make people be speculative and critical.“115 Um kritische Designpraxis neu zu verstehen, werden Versuche unternommen, sich dem Begriff der Kritik unabhängig von Dunne und Raby mithilfe geisteswissenschaftlicher Grundlagen theoretisch zu nähern. Bardzell und Bardzell erarbeiten so eine neue Definition von kritischer Praxis im Design: [A] design research project may be judged ‚critical‘ to the extents that it proposes a perspective-changing holistic account of a given phenomenon, and that this account is grounded in speculative theory, reflects a dialogical methodology, improves the public’s cultural competence, and is reflexively aware of itself as an actor – with both power and constraints – within the social world it is seeking to change.116

Diese Definition eröffnet die Möglichkeit, über das Critical Design von Dunne and Raby hinaus andere Designprojekte als kritisches Design zu verstehen. Vorliegende Arbeit knüpft an die in der HCI- und Designforschung formulierten Forderungen nach einer Prüfung, Öffnung und Neubestimmung des Kritikbegriffs im Design an. Kritisches Design wird in Anlehnung an Bardzell und Bardzell als Designpraxis verstanden, die Reflexion inklusive Selbstreflexion, Einsicht und Erkenntnis sowie Urteils- und Entscheidungsfähigkeit erlaubt. Was unter dem Begriff kritisches Design in der HCI- und Designforschung bereits verhandelt wurde, ist daher nur eine mögliche kritische Praxis unter anderen.

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1.3  DISTANZIERENDES KRITISCHES DESIGN Im ersten Teil des vorliegenden Kapitels wurden mit Heidegger und Latour Zustände erörtert, durch die unsichtbar Gewordenes bzw. Zeug als widerständiges Ding wahrnehmbar wird. Parallelen zwischen diesen Zuständen und dem designwissenschaftlich bereits verhandelten kritischen Design zeichnen sich ab. Zum einen thematisieren Heidegger und Latour Zustände der Dysfunktionalität. Heidegger unterscheidet drei Arten der Unzuhandenheit: Auffälligkeit, Aufdringlichkeit und Aufsässigkeit – bzw. etwas ist unverwendbar, etwas fehlt und etwas liegt im Weg. Hingegen spricht Latour von Unfällen, Defekten und Pannen. Zum anderen nennen beide Zustände, die nicht destruktiv, sondern konstruktiv sind. Bei Heidegger sind es Kunstwerke; Latour erwähnt die noch ungewohnten Innovationen, thematisiert Dinge, die durch räumliche oder zeitliche Distanz exotisch geworden sind, verweist auf Museen und Archive, also neutrale, vom Alltag getrennte Räume, und erwähnt die Fiktion und das Gedankenspiel mit dem Hinweis, dass von Künstler*innen viel gelernt werden könne. Diese Zustände der Unzuhandenheit, in denen die Dinge nicht oder nicht mehr funktionieren und in denen Handlungszusammenhänge nicht existieren oder gestört werden, lassen sich auch in dem dargestellten kritischen Design wiederfinden. So existieren in kritischem Design – vom Anti-Design bis zum Critical Design – Objekte, die nicht genutzt werden können, ungewohnt und exotisch wirken oder beängstigen und befremden. Sie werden, insbesondere beim Critical Design, isoliert vom Nutzungskontext in Ausstellungshäusern gezeigt. Außerdem nimmt im Speculative Design und im Design Fiction, die beide mit dem Critical Design verwandt sind, das Gedankenexperiment eine zentrale Rolle ein. Durch dieses kritische Design wird Interaktion zwar thematisiert, denn die Objekte erscheinen als Gebrauchsdinge und sehen aus wie nutzbares Werkzeug, doch sie werden meist bewusst nicht zur alltäglichen Nutzung entworfen und stören teils sogar gewohnte Handlungszusammenhänge. Mit Heidegger gesprochen: Die unbrauchbaren Stacheldrahtkissen von STILETTO sind auffällig und der ironisch re-designte Wassily Chair von Mendini erscheint aufsässig. Die Objekte der Ausstellung Not Here, Not Now von Dunne und Raby provozieren darüber hinaus Gedankenexperimente über die Zukunft und dies an einem von der Nutzung fernen neutralen Ort, dem Museum. Designer*innen loten hier, so lässt sich am Ende dieses ersten Kapitels feststellen, den Unterschied zwischen Zeug und Ding bzw. Werk aus. Wenn Designer*innen durch Gestaltetes Handlungszusammenhänge verunmöglichen oder stören, kreieren sie Distanz zwischen Subjekt und Objekt. Das hier verhandelte kritische Design kann auch als eine Reaktion auf die zu Beginn des Kapitels beschriebenen Ängste vor einer Auflösung der Grenzen zwischen Subjekt und Objekt verstanden werden. Wenn, wie in der Materiellen-Kultur-Forschung und bei Freud, Piaget und Heubach deutlich wurde, widerständige Objekte kritische

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­ ubjekte herausbilden, ist Design, das Handlungszusammenhänge stört, an dieS sem Prozess beteiligt. Ein derartiges Design lässt sich außerdem mit der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule erklären. Einige der Designer*innen, deren Arbeiten in diesem Kapitel skizziert wurden, verweisen sogar selbst auf die Kritische Theorie. Andere verfolgen bewusst das Ziel zu enttarnen. Im Neuen Deutschen Design beispielsweise wurde – hier explizit durch Ironie und Parodie – die deutsche Gemütlichkeit dekonstruiert oder im Anti-Design durch das Aufbrechen der Guten Form der Konsumismus entlarvt. Kritisches Design richtet sich hier bewusst gegen etwas und ist bestrebt, ideologische Motive oder ein falsches Bewusstsein aufzudecken. Verschmelzungszustände wie jene, die Heidegger in der Interaktion mit Zeug beschreibt, werden bewusst unterbrochen, um im aufklärerischen Sinne unsichtbar Gewordenes sichtbar zu machen und eine Diskussion über etwas zu ermöglichen. Von dem in diesem Kapitel erörterten kritischen Design lassen sich Muster ableiten. Eine Kategorie wird deutlich, die in dieser Arbeit als „Distanzierendes Kritisches Design“ (DKD) bezeichnet wird. DKD ist eine Generalisierung. Jedes bislang erwähnte kritische Design weist Merkmale von DKD auf. Dessen ungeachtet ist weder der Schluss zulässig, dass grundsätzlich alle Projekte, die im designwissenschaftlichen Diskurs als kritisches Design bezeichnet werden, diese Merkmale aufweisen, noch der Umkehrschluss, dass nur DKD kritisches Design ist. Durch das Definieren dieser Kategorie soll ermöglicht werden, Gemeinsamkeiten einer bestimmten, designwissenschaftlich bereits verhandelten kritischen Designpraxis hervorzuheben, um im späteren Verlauf der Arbeit alternative kritische Designpraktiken abgrenzen zu können. Kritisches Design dieser Kategorie ist in zweierlei Hinsicht distanzierend. Es stellt Distanz zwischen Subjekt und Objekt her und es distanziert sich von etwas bzw. richtet sich gegen etwas – etwa gegen eine als falsch oder schädlich erachtete politische, gestalterische oder moralische Geisteshaltung. Abstand zwischen Subjekt und Objekt entsteht bei DKD, indem Artefakte so gestaltet werden, dass sie sich der Nutzung widersetzen. Handlungszusammenhänge, die eine Nähe zwischen Subjekt und Objekt erfordern würden, werden verunmöglicht oder unterbrochen. Hierfür werden Methoden eingesetzt wie die Verfremdung einer gewohnten Ästhetik, die Störung der Funktion oder die Präsentation des Gestalteten an Orten, die Interaktion nicht erlauben. Um außerdem Abstand zu etwas Bestimmtem – einer Problematik, Person, Haltung – herzustellen, werden Methoden wie die Ironie oder die Parodie verwendet. Die Kritik richtet sich meist nach außen. Selbstkritik und Selbstreflexion spielen keine zentrale Rolle bei DKD. Bei diesem kritischen Design gestalten Designer*innen aus einer vermeintlich privilegierten Position. Sie sind aufklärerische Provokateur*innen, die Reflexion bei anderen anregen. Ihre Rolle ist aktiv. Die anderen wiederum, die im Umgang mit Gestaltetem gewöhnlich die Nutzer*innen sind, nehmen die passivere Rolle von Betrachter*innen ein. Es findet ein Kommunikationsprozess statt, bei dem Desi­

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gner*innen sich gegen etwas richten, etwas infrage stellen oder gar eine aufklärerische Botschaft senden. Bei DKD wird nicht mit Objekten gehandelt, sondern durch Objekte kommuniziert. Die Materialität des Objekts spielt dabei eine untergeordnete Rolle. Sie ist eher Mittel zum Zweck als wirklich beteiligt am Dialog. Schließlich findet meist keine körperliche Auseinandersetzung statt mit den Objekten, die beispielsweise in Vitrinen präsentiert werden. Das dysfunktionale, irritierende oder ironische Objekt funktioniert wie ein Zeichenträger und repräsentiert eine kritische Botschaft oder Frage. Es kann von Betrachter*innen „gelesen“ und interpretiert werden ähnlich wie ein Text. Reflexion wird bei DKD durch den Abstand zum Objekt möglich. Widerständige Objekte, die sich deutlich Subjekten entgegenstellen, einen Bruch im Handeln erzeugen und damit auch dem Subjekt Grenzen aufzeigen, sind hier Voraussetzung für kritische Subjektivität. Der Abstand erlaubt es, etwas von außen, uninvolviert, klar und deutlich zu sehen, zu denken und zu reflektieren. Die Auseinandersetzung findet eher rational als emotional involviert statt. Bei DKD werden Heidegger’sche Dinge gestaltet, die auf etwas außerhalb des Dings verweisen. Angestrebt wird nicht in erster Linie die Urteilsfähigkeit über Zeug, sondern Gesellschaftskritik oder die Erkenntnis über gesellschaftliche Herausforderungen. Zusammenfassend und vereinfachend lässt sich für DKD festhalten: •

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Gestalter*innen agieren ironisch als Provokateur*innen. Sie nehmen eine möglichst autonome und distanzierte Position ein – anderen (Subjekten und Objekten) gegenüber. Sie intendieren, andere aufzuklären oder Debatten über etwas auszulösen. Hierfür gestalten sie Objekte als Anschauungsobjekte und präsentieren diese möglichst neutral. Das Objekt wird widerständig konzipiert und repräsentiert als Kommunikationsmedium eine Idee. Kritik, Reflexion und Erkenntnis werden durch Distanz möglich.

Im weiteren Verlauf der Arbeit soll geklärt werden, ob über DKD hinaus eine kritische Designpraxis existiert, die auf einem anderen, einem nicht-anthropozentrischen Subjekt-Objekt-Verständnis basiert. Denn insbesondere im kritischen Umgang mit Dingen, denen der Dingstatus bereits aberkannt wurde (Unding, NichtDing) – die also nicht mehr eindeutig als von Subjekten zu unterscheidende Objekte erscheinen – könnte, so die These der Arbeit, ein nicht-anthropozentrisches Kritikverständnis sich für das Design als furchtbar erweisen.

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Die Perspektive von Freud und Piaget wird an dieser Stelle besonders hervorgehoben, da sie für das dritte Kapitel dieser Arbeit einen Bezugspunkt darstellt. Der Alte Animismus wurde unter anderem durch Freud und Piaget und deren Blick auf das Verhältnis von Subjekt und Objekt geprägt. Es existieren zahlreiche Tagungen, Publikationen und Forschungsverbünde, die sich der sogenannten Materiellen Kultur annehmen. Für einen interdisziplinären Überblick vgl. Stefanie Samida/Manfred K. H. Eggert/Hans P. Hahn (Hg.): Handbuch Materielle Kultur. Bedeutungen, Konzepte, Disziplinen, Stuttgart [u. a.]: Metzler 2014. Vgl. Stefanie Samida/Manfred K. H. Eggert/Hans P. Hahn: „Einleitung. Materielle Kultur in den Kulturund Sozialwissenschaften“, in: Stefanie Samida/Manfred K. H. Eggert/Hans P. Hahn (Hg.), Handbuch Materielle Kultur. Bedeutungen, Konzepte, Disziplinen, Stuttgart [u. a.]: Metzler 2014, S. 1–12, hier S. 2. Vgl. Gert Selle: „Ding, HalbDing, NichtDing, InDing, ÜberDing. Über sichtbares und unsichtbares Design“, in: Jörg H. Gleiter (Hg.), Symptom Design. Vom Zeigen und Sich-Zeigen der Dinge, Bielefeld: transcript 2014, S. 39–68; Vilém Flusser: Dinge und Undinge. Phänomenologische Skizzen, München: C. Hanser 1993. Vgl. S. Samida/M. K. H. Eggert/H. P. Hahn: 2014, S. 2. Hartmut Böhme: Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 2006, S. 55. Latour unterstellt Heidegger technikdeterministisch zu argumentieren. Vgl. B. Latour: 2008, S. 88; Bruno Latour: Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002, 213 ff. Seine Distanzierung gilt allerdings als Fehlinterpretation Heideggers. Vgl. Jeff Kochan: „Latour’s Heidegger“, in: Social Studies of Science 40 (2010), S. 579–598. Für eine Definition des Begriffs Kollektiv vgl. B. Latour: 2002, S. 376; Bruno Latour: Das Parlament der Dinge. Für eine politische Ökologie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2010, S. 291. Martin Heidegger: Sein und Zeit, Tübingen: Niemeyer 2006 (orig. 1927). Ebd., S. 68. Ebd., S. 74. Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerkes, Stuttgart: Reclam 1960 (orig. 1935/1936), S. 67. Ebd., S. 66. Ebd., S. 34. Vgl. Bruno Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-NetzwerkTheorie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2007a, 136 ff. Hartmut Böhme stellt seine Überlegungen am Beispiel literarischer Fiktion an. Er nimmt etwa Bezug auf Bartleby the Scrivener von Herman Melville und auf das Konvolut 1920 von Franz Kafka. Bei Melville verweigert sich ein Kopist in einem Rechtsantwaltsbüro seine Aufgaben zu erledigen bis er wie ein Ding leblos aufgefunden wird. Beim Kafka entwickelt ein Laib Brot ungeahnte materielle Widerstandskraft und lässt sich nicht in Scheiben schneiden. Vgl. Hartmut Böhme: „Agency, Performativität und Magie der Dinge“, in: Judith Dörrenbächer/Kerstin Plüm (Hg.), Beseelte Dinge. Design aus Perspektive des Animismus, Bielefeld: transcript 2016, S. 25–49; H. Böhme: 2006, 41 ff. Ebd., S. 42. Gert Selle: „Wie man ein Ding ansieht, so schaut es zurück“, in: Stephan Moebius/Sophia Prinz (Hg.), Das Design der Gesellschaft. Zur Kultursoziologie des Designs, Bielefeld: transcript 2012, S. 131–140, hier S. 132. Vgl. auch Böhme, der die letzte Zurückgezogenheit der Dinge dafür verantwortlich sieht, dass Dinge beinahe lebendig erscheinen: „wie könnte Totes sich unserem Zugriff entziehen“ H. Böhme: 2006, S. 53. Einen derartigen Zustand thematisieren auch Sándor Ferenci, Melanie Klein, Margaret Mahler, Réne Spitz, Donald Winnicott. Vgl. hierzu Friedrich W. Heubach: Das bedingte Leben. Entwurf zu einer Theorie der psycho-logischen Gegenständlichkeit der Dinge ein Beitrag zur Psychologie des Alltags, München: W. Fink 1987, S. 55–63; Ulrich Gebhard: Kind und Natur. Die Bedeutung der Natur für die psychische Entwicklung, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2001, S. 19–32. Jean Piaget: Das Weltbild des Kindes, Stuttgart: Klett-Cotta 2015 (orig. 1926), S. 256. In seinem Aufsatz Zur Einführung des Narzißmus unterscheidet Freud zwischen dem kindlichen primären und dem erwachsenen sekundären Narzissmus. Vgl. Sigmund Freud: Gesammelte Werke, Frankfurt am Main: S. Fischer 1991 (orig. 1913–1917), S. 137–170. Jüngere Studien in Pädagogik und Psychologie relativieren die Argumentation einer symbiotischen, autistischen oder egozentrischen frühkindliche Phase. Ein vollständiger Einheitszustand wird nur noch als Ausgangspunkt begriffen, der schon im Säuglingsalter Differenzierung erfährt. Vgl. Daniel N. Stern: Die Lebenserfahrung des Säuglings, Stuttgart: Klett-Cotta 2010. Gebhard spricht unter Berücksichtigung

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späterer Untersuchungen nur noch von einer „relativen Einheit“ zwischen Kind und Umwelt. Vgl. U. Gebhard: 2001, S. 23–24. J. Piaget: 2015 (orig. 1926), S. 256. Ebd., S. 199. Ebd., 183 f. Die Formulierung „objektlose Stufe“ stammt von Réne Spitz und bezieht sich insbesondere auf menschliche Objekte. Vgl. U. Gebhard: 2001, S. 22. Ferenci nach F. W. Heubach: 1987, S. 59. S. Freud: 1991 (orig. 1913–1917), S. 229. Vgl. F. W. Heubach: 1987, S. 73. J. Piaget: 2015 (orig. 1926), S. 271–272. „Überblickt man die psychologische Literatur, so scheint dort […] die Auffassung vorzuherrschen, daß die Dinge für den Psychologen insofern eine zu vernachlässigende Größe darstellen, als sie zwar durchaus das Produkt oder das intentionale Objekt (Motiv) von Verhalten bilden und auch als Medium menschlicher Beziehungen fungieren könnten, dabei aber nicht in bedingender Weise auf deren Struktur einwirken würden.“ F. W. Heubach: 1987, S. 10, vgl. auch U. Gebhard: 2001, S. 15. F. W. Heubach: 1987, S. 10. Ebd., S. 12. Ebd., S. 93. Laut Heubach schafft das Objektivieren von Gegenständlichkeit allerdings nicht, wie Piaget es darstellt, Einsicht über eine reale Wirklichkeit. Heubach kritisiert Piaget dafür, den Dingen Eigenschaften an sich zuzusprechen, die in späten Entwicklungsstufen rational erfasst werden könnten. Er argumentiert hingegen, dass die Gegenständlichkeit der Dinge aus psychologischer Perspektive immer nur als konventionale Konstruktion in ihrem kulturellen Zusammenhang verstanden werden kann. Nicht die Wirklichkeit als solche, sondern ein Konsens über sie sei das, was ein Kind realisiert. So wurde prognostiziert, dass die Materielle-Kultur-Forschung die Psychologie verändern könnte. „Die Konstitution eines interdisziplinären Forschungsgegenstandes ‚Materielle Kultur‘ könnte einen ­Anlass bieten, dass auch die akademische Psychologie ihre Suggestion einer reinen Zwischenmenschlichkeit korrigiert.“ Rolf Haubl: „Psychologie“, in: Stefanie Samida/Manfred K. H. Eggert/Hans P. Hahn (Hg.), Handbuch Materielle Kultur. Bedeutungen, Konzepte, Disziplinen, Stuttgart [u. a.]: Metzler 2014, S. 328–332, hier S. 331. H. Böhme: 2006, S. 95. A. Bosch: 2014, S. 70. M. Heidegger: 1960 (orig. 1935/1936), S. 28. Vgl. A. Bosch: 2014, S. 73–74. Sie bezieht sich dabei auf Helmuth Plessner: „Der Mensch will heraus aus der unerträglichen Exzentrizität seines Wesens, er will die Hälftenhaftigkeit der eigenen Lebensform kompensieren und das kann er nur mit Dingen erreichen, die schwer genug sind, um dem Gewicht seiner Existenz die Waage zu halten“ Plessner nach ebd., S. 72. Aida Bosch: „Sinnlichkeit, Materialität, Symbolik. Die Beziehung zwischen Mensch und Objekt und ihre soziologische Relevanz.“, in: Stephan Moebius/Sophia Prinz (Hg.), Das Design der Gesellschaft. Zur Kultursoziologie des Designs, Bielefeld: transcript 2012, S. 49–70. Vgl. Kurt Röttgers: „Kritik“, in: Hans J. Sandkühler (Hg.), Enzyklopädie Philosophie. Band 2, Hamburg: Meiner 2010, S. 1317–1323; Rüdiger Bittner: „Kritik, und wie es besser wäre“, in: Rahel Jaeggi/Tilo Wesche (Hg.), Was ist Kritik?, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2009, S. 134–149, hier S. 134. In der Philosophie wird im Zusammenhang mit Kritik und spezifisch mit Erkenntniskritik meist auf Immanuel Kant Bezug genommen. Kritik bedeutet bei Kant eine Prüfung und stellt eine Gegeninstanz dar zu bestehenden Normen oder Glaubensvorstellungen. Vgl. Martin Fontius: „Kritisch/Kritik“, in: Karlheinz Barck/Martin Fontius/Dieter Schlenstedt et al. (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe. Band 3, Stuttgart: Metzler 2001, S. 450–489. Vgl. W. Welsch: 2012. Vgl. M. Fontius: 2001. A. Bosch: 2014, S. 72. M. Heidegger: 2006 (orig. 1927), S. 354. M. Heidegger: 1960 (orig. 1935/1936), 26 f. V. Flusser: 1993, S. 10. Ebd., S. 7. Vgl. auch Böhme über Droit in: H. Böhme: 2006, 56 ff. Roger-Pol Droit: How are Things? A Philosophical Experience, London: Faber 2005, S. 67–70.

052  WIDERSTÄN­D IGE OBJEKTE FÜR KRITISCHE SUBJEKTE UND KRITISCHES ­D ESIGN 

53 Auch laut Gert Selle entsteht eine Distanz, die im Gebrauch nicht war, sobald man ein Ding wissenschaftlich untersucht. „Je näher man sich ein Ding anschaut, desto ferner schaut es zurück.“ G. Selle: 2012, S. 135. 54 R.-P. Droit: 2005, S. 185. 55 H. Böhme: 2006, S. 58. 56 R.-P. Droit: 2005, S. 185. 57 Vgl. Sigmund Freud: Gesammelte Werke. XII, Frankfurt am Main: S. Fischer 1972 (orig. 1917–1920), S. 229–268. Eine ausführlichere Erklärung zum Unheimlichen bei Freud findet sich in dieser Arbeit im Zusammenhang mit dem Alten Animismus. Vgl. Kapitel 3.1.2. 58 Freud thematisiert neben dem Unheimlichen weitere Formen des Rückschritts. Beim „sekundären ­Narzissmus“ würde sich das Selbst nicht verlieren, sondern seine Macht überschätzten S. Freud: 1991 (orig. 1913–1917), S. 137–170. Das „ozeanische Gefühl“, bei dem das Selbst sich innig mit der Außenwelt verbunden fühle, werde positiv erlebt und finde sich in der Religion, der Liebe oder der Pathologie. Vgl. W. Welsch: 2012, S. 571–573. 59 H. Böhme: 2006, S. 55. 60 Simmel nach Böhme ebd. 61 Zu dieser Tücke gehören laut Sturm „Zufall, Überraschung und deren Folgen: Verdruss, Ärger, Zorn, die Vermutung feindlicher Absicht.“ Hermann Sturm: Die Tücke der Funktion, Essen: Klartext-Verlag 2005, S. 42. Für Sturm ist der Kampf gegen die „Tücke des Objekts“ allerdings ein unendlicher, der nicht zu gewinnen ist. Aus der Minimierung bestimmter Widerstände ergeben sich sogleich neue: „[D]as ist Antrieb für immer neue Objekte.“ Weil wir uns nicht von der Tücke der Dinge beherrschen lassen wollen, „erfinden wir Versicherungen dagegen, wobei sich zeigt, dass die Schutzvorrichtungen vor der Tücke dann die Tücke der Schutzvorrichtungen enthalten.“ Ebd. 62 Ebd. 63 Vgl. Donald A. Norman: The Design of Everyday Things, New York: Basic Books 1988; Jakob Nielsen: ­Usability Engineering, Boston: Academic Press 1993. 64 Vgl. Marc Hassenzahl/Matthias Laschke: „Pleasurable Troublemakers“, in: Steffen P. Walz/Sebastian Detering (Hg.), The gameful world. Approaches, issues, applications, Cambridge: MIT Press 2015, S. 167–195; Matthias Laschke/Sarah Diefenbach/Marc Hassenzahl: „‚Annoying, but in a Nice Way‘. An Inquiry into the Experience of Frictional Feedback“, in: International Journal of Design 9 (2015). 65 F. W. Heubach: 1987, S. 122. 66 u. a. Archizoom. 67 u. a. Superstudio. 68 Vgl. Gert Selle: Geschichte des Design in Deutschland, Frankfurt am Main, New York: Campus-Verlag 2007, S. 52–57. 69 Vgl. Volker Albus/Christian Borngräber: Design Bilanz. Neues deutsches Design der 80er Jahre in ­Objekten, Bildern, Daten, und Texten, Köln: DuMont 1992; Volker Albus: „In subversiver Zuneigung“, in: Kunstforum International (2011), S. 142–153. 70 Memphis ist eine Ausnahme. Sie lehnten jeden kunsthandwerklichen Charakter bewusst ab und gingen konsumbejahend in Serie. 71 Vgl. V. Albus/C. Borngräber: 1992, S. 32–33. Vgl. auch Bürdek, der rückblickend von einer Entwicklung hin zu einer Designkunst spricht: Bernhard E. Bürdek: Design. Geschichte, Theorie und Praxis der ­Produktgestaltung, Basel: Birkhäuser 2015, S. 57–66. 72 Vgl. ebd., 58, 130; Beat Schneider: Design – eine Einführung. Entwurf im sozialen, kulturellen und ­wirtschaftlichen Kontext, Basel, Boston: Birkhäuser 2005, S. 140. 73 Vgl. V. Albus/C. Borngräber: 1992. 74 Vgl. V. Albus: 2011. 75 Anthony Dunne/Fiona Raby: Design Noir. The Secret Life of Electronic Objects, London, Basel: ­ Birk­häuser 2001, S. 58. 76 Seit den 1990er Jahren und bis 2015 lehrten Dunne und Raby am Royal College of Art in London. Critical Design entsteht auch seither hauptsächlich im Hochschulkontext. 77 Ebd. 78 J. Bardzell/S. Bardzell: 2013, S. 3300. 79 Ebd., S. 3304. 80 „Designs for Fragile Personalities in Anxious Times“, http://www.dunneandraby.co.uk/content/projects/71/0 (letzter Zugriff 01.08.2020).

ANMERKUNGEN 053

81 Gezeigt wurden Modellskizzen möglicher, zukünftiger Bedienschnittstellen. Die Visualisierungen sollten zur Imagination ganz anderer Gesellschaften mit ungewohnten Normen und Werten anregen. 82 „Not Here, Not Now“, http://www.dunneandraby.co.uk/content/projects/744/0 (letzter Zugriff: 01.08.2020). 83 „Park Interactives“, http://www.dunneandraby.co.uk/content/projects/277/0 (letzter Zugriff: 01.08.2020). 84 Netta Iivari/Kari Kuutti: „Critical Design Research and Information Technology“, in: Proceedings of the Conference on Designing Interactive Systems – DIS’17 (2017), S. 983–993. 85 Ebd., S. 985. 86 Bruce Sterling: Shaping Things, Cambridge, Massachusetts: MIT Press 2005; Julian Bleeker: Design Fiction. A Short Essay on Design, Science, Fact and Fiction, http://blog.nearfuturelaboratory. com/2009/03/17/ 2009 vom 25.07.2018. 87 James Auger: „Speculative Design. Crafting the Speculation“, in: Digital Creativity 24, S. 11–35; Anthony Dunne/Fiona Raby: Speculative Everything. Design, Fiction, and Social Dreaming, Cambridge, Massachusetts: MIT Press 2014. 88 Ramia Mazé/Johan Redström: „Difficult Forms. Critical Practices of Design and Research“, in: Research Design Journal (2009), S. 28–39. 89 Ebd., S. 35. 90 „Critical practice seems to point to the possibility of an internal evolution – rather than external construction – of design theory. This opens up for a design practice that is not only an operational, but also an intellectual basis, for design research.“ Ebd., S. 32. 91 Vgl. „Eine Arbeit für und über Designforschung“ in der Einleitung vorliegender Arbeit. 92 Ilpo Koskinen/John Zimmermann/Thomas Binder/Johan Redström/Stephan Wensveen: Design ­Research Through Practice. From the Lab, Field, and Showroom, Waltham: Morgan Kaufmann 2011. 93 Ebd., S. 94. 94 R. Mazé/J. Redström: 2009, S. 34. 95 Dimitrios Raptis/Rikke H. Jensen/Jesper Kjeldskov/Mikael B. Skov: „Aesthetic, Functional and Conceptual Provocation in Research Through Design“, in: Proceedings of the Conference on Designing Interactive Systems – DIS ’17 (2017), S. 29–41, hier S. 31. 96 „When an activity becomes an established practice then the involved artifacts in use, become ‚invisible‘, or taken for granted. Provocation can be used to make them ‚visible‘, thus questioned.“ Ebd., S. 30. 97 James Pierce/Phoebe Sengers/Tad Hirsch/Tom Jenkins/William Gaver/Carl DiSalvo: „Expanding and Refining Design and Criticality in HCI“, in: Proceedings of the Conference on Human Factors in Computing Systems – CHI ’15 (2015), S. 2083–2092. 98 Ebd., S. 2091. 99 „The authorial voice opens the possibility of new relationships with ‚users‘, not as potential consumers of utilitarian products to solve their needs, but as collaborators in discovering new meanings and values in the things they design.“ Ebd., S. 2088. ­ ritical 100 „We argue for the emergence of critical design research in HCI. Particularly we would like to see c design research to better integrate empowerment of the masses and to take the critical component ­seriously in this sense“ N. Iivari/K. Kuutti: 2017, S. 989. 101 Ebd., S. 988. 102 Anthony Dunne: Hertzian Tales. Electronic Products, Aesthetic Experience, and Critical Design, ­Cambridge, Massachusetts: 2005, S. 147. 103 „[I]t relies on the elitist designer, who knows the best and is able to critically scrutinize the current situation, identify false consciousness, open up taken for granted assumptions and provoke the audience to adopt a more critical stance and to see alternatives. It is about elitist designer creating something that mainly another elitist designer can truly value – be that a designer, critic, designer-as-critic or critic-­asdesigner.“ N. Iivari/K. Kuutti: 2017, S. 988. 104 J. Bardzell/S. Bardzell: 2013, S. 3299. 105 Vgl. N. Iivari/K. Kuutti: 2017. 106 „We know of no practice that theorizes about or, in a very everyday sense creates such subjects, more than criticism. Medium-specific analytic skills are the stock and trade of criticism, and it seems obvious to us that critical design can avail itself of and contribute to them“ J. Bardzell/S. Bardzell: 2013, S. 3303. 107 Vgl. A. Dunne: 2005, S. 22. 108 Ebd., S. 35. 109 Vgl. A. Dunne/F. Raby: 2014.

054  WIDERSTÄN­D IGE OBJEKTE FÜR KRITISCHE SUBJEKTE UND KRITISCHES ­D ESIGN 

110 Cameron Tonkinwise: „How We Intend to Future. Review of Anthony Dunne and Fiona Raby, Speculative Everything: Design, Fiction, and Social Dreaming“, in: Design Philosophy Papers 12 (2014), S. 169–187, hier S. 187. 111 Ebd., S. 186. 112 J. Bardzell/S. Bardzell: 2013, S. 3298. 113 Ebd., S. 3299. Hier lässt sich hinzufügen, dass es Dunne und Raby nicht zuletzt durch ein p ­ lakatives Image geschafft haben, Critical Design als mit ihren Personen verbundene Marke zu etablieren und ­tatsächlich einen Kult zu schaffen. 114 J. Pierce/P. Sengers/T. Hirsch/T. Jenkins/W. Gaver/C. DiSalvo: 2015, S. 2087. 115 Cameron Tonkinwise: „Just Design. Being Dogmatic about Defining Speculative Critical Design F ­ uture Fiction“, 2015, https://medium.com/@camerontw/just-design-b1f97cb3996f (letzter Zugriff: 05.05.2019). 116 J. Bardzell/S. Bardzell: 2013, S. 3304.

ANMERKUNGEN 055

2  Wandel der Objektwelt und der Neue Materialismus als nicht-anthropozentrische Neuorientierung für Design

Wie insbesondere in den Medienwissenschaften diskutiert, verändert sich durch technische Innovationen das Verhältnis von menschlichem Subjekt und widerständigem Ding. Im Folgenden wird dieses veränderte Verhältnis beleuchtet. Hierzu werden vier Phänomene thematisiert, die Einfluss auf den Status des Gegenstands haben. Jedes Phänomen wird historisch eingeordnet, an Beispielen erläutert und aus Perspektive der Medien- und Designwissenschaften diskutiert. Die Phänomene werden außerdem daraufhin untersucht, inwiefern sie Selbstreflexion zulassen oder einschränken. Im Anschluss liegt das veränderte Konzept von Subjektivität unter „technologischer Bedingung“ im Fokus. Hierzu werden medienwissenschaftliche Perspektiven diskutiert: Wie genau verändert sich das Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt und wie wird diese Veränderung gewertet? Ist es nötig oder sinnvoll, sich vor dem Hintergrund der neuen „technologischen Objektkultur“1 von einem autonomen, kritischen Subjekt zu verabschieden? Auf der Suche nach Möglichkeiten, durch die Subjektivität und Kritik unter technologischer Bedingung neu gedacht werden können, wird in vorliegendem Kapitel der Neue Materialismus als nicht-anthropozentrisches Diskursfeld diskutiert. Inwiefern bietet der Neue Materialismus ein alternatives Konzept von Subjektivität? Zwei Theorien werden ausführlich bearbeitet: die Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT), die von Bruno Latour mitbegründet wurde, und der von Karen Barad begründete Agentielle Realismus (AR). Diese beiden nicht-anthropozentrischen Ansätze sind für vorliegende Arbeit, die sich auf die Suche nach einer vom DKD abweichenden, kritischen Haltung für das Design begibt, relevant, da in ihnen die Begriffe „Kritik“ und „Verantwortung“ neu formuliert werden. Nach einer Einführung in die Terminologie und Argumentationslinien von AR und ANT wird der Neue Materialismus auf produktive Anschlussmöglichkeiten für das Design untersucht. Hierfür werden designwissenschaftliche Ansätze, die sich den Neuen Materialismus bereits zunutze machen, vorgestellt. Der Fokus liegt auf der Frage, ob auch das neue, von Barad und Latour geprägte Verständnis von Kritik und Verantwortung bereits designwissenschaftlich besprochen wird und ob es sogar bereits in praktisch forschenden Designprojekten Anwendung findet. Ist auf Grundlage von ANT und AR ein neues kritisches Design denkbar, das womöglich in der Lage ist, neue kritische Subjektivität unter technologischer Bedingung zu verhandeln? Mithilfe von Bezugswissenschaften, die eine Auseinandersetzung mit dem Potenzial, aber auch mit den Schwächen von ANT und AR ermöglichen, wird schließlich diskutiert, wie Designer*innen im Umgang mit dem Neuen Materialismus sinnvoll ansetzen können und wo die Grenzen von ANT und AR für kritisches Design liegen.

058  WANDEL DER OBJEKTWELT UND DER NEUE MATERIALISMUS 

2.1  UNDINGE, HALB-DINGE, NICHT-DINGE. DINGPHÄNOMENE DES 21. JAHRHUNDERTS 2.1.1  Miniaturisierte und unauffällige Dinge Die Miniaturisierung von Computertechnik wird in den Technik- und Medienwissenschaften bereits seit den 1970er Jahren als ein fortschreitender Prozess thematisiert. Die Entwicklung von der mechanischen über die elektromechanische bis hin zur elektronischen Technik machte eine Verkleinerung von technischen Dingen möglich.2 Die Entmaterialisierung und Digitalisierung der Dingwelt provozierte die Angst vor einem Realitätsverlust. In der Folge entstanden zahlreiche medienwissenschaftliche und philosophische Theorien zur virtuellen Realität, Hyperrealität oder Simulation.3 Villém Flusser, der sich in den 1980er Jahren mit elektronischen Bildern und Daten befasste, stellt fest, diese seien nicht mehr begreiflich, sondern nur noch dekodierbar. Er bezeichnet sie folglich als Undinge: Undinge dringen gegenwärtig von allen Seiten in unsere Umwelt, und sie verdrängen die Dinge. Man nennt diese Undinge ‚Information‘. […] Die Umwelt wird immer weicher, nebelhafter, gespenstischer, und wer sich in ihr orientieren will, muß von diesem ihrem spektralen Charakter ausgehen.4

In den 1990er Jahren wurden parallel zu dieser medienkritischen Perspektive Positionen populär, die zwar ebenfalls die Miniaturisierung von Technik reflektierten, aber keine Entmaterialisierung und keinen Schwund der analogen Welt, sondern die Verschmelzung von analog und virtuell prognostizierten. Es entstand die Vision des Ubiquitous Computing.5 Ubiquitous Computing bedeutet die Überwindung des Personal Computer mittels unterschiedlich ausgestalteter computerisierter Objekte, die von vielen Menschen genutzt werden können. Technik überlagert gemäß dieser Vorstellung nicht die analoge Welt und bringt sie nicht zum Verschwinden, sondern wird unsichtbar in eine weiterhin bestehende materielle Umgebung eingebunden. Die ständige Verkleinerung von Technik führt, so die Vision, zu deren Einbettung. „The most profound technologies are those that disappear. They weave themselves into the fabric of everyday life until they are indistinguishable from it.“6 So lauten die ersten Sätze in Mark Weisers populärem Text The Computer for the 21st Century. Die Technik selbst müsse sich unauffällig verhalten oder ruhig („calm“) sein. Weiser und sein Kollege John Seely Brown entwickelten nicht nur eine Technikvision, sondern propagierten außerdem ein spezifisches Verhältnis zwischen Technik und Mensch und hiermit verbunden ein Wahrnehmungsmodell und Designrichtlinien. Informationen sollten bei der sogenannten Calm Technology unbewusst und intuitiv verarbeitet werden, keine volle Aufmerksamkeit benötigen und

UNDINGE, HALB-DINGE, NICHT-DINGE. DINGPHÄNOMENE DES 21. JAHRHUNDERTS  059

somit in der Peripherie bzw. peripher funktionieren. Die Begriffe „peripher“ und „zentriert“ (Peripherie und Zentrum) verweisen darauf, dass die technischen Abläufe nicht völlig außerhalb der menschlichen Wahrnehmung ablaufen, aber auch nicht im Fokus der Aufmerksamkeit stehen sollten. Anders als bei bildschirmbasierten Computern, die auf Schreibtischen im Weg stünden, solle Technik in die Abläufe des Alltags eingebunden sein. Während man arbeite, solle man sich nicht mit dem Computer als Gegenüber beschäftigen müssen, sondern mit der Arbeit selbst, so Weiser und Brown. Die Schnittstellen zwischen Mensch und Computer sollten entsprechend umgestaltet oder so weit wie möglich sogar aufgehoben werden. Computer sollten im Verborgenen operieren und auf möglichst natürliche und selbstverständliche Weise Teil des Alltags werden: „Our computers should be like our childhood: an invisible foundation that is quickly forgotten but always with us, and effortlessly used throughout our lives.“7 Weiser und Brown verknüpften mit der Vision einer Calm Technology die Vorstellung von Autonomie, Freiheit und Humanität: „Wenn wir lernen Calm Technology zu designen, werden wir nicht nur die Sphären unserer Artefakte erweitern, sondern auch unsere Möglichkeiten des Zusammenseins. Wenn unsere Welt mit vernetzten, eingebetteten Computern ausgestattet ist, wird Calm Technology eine zentrale Rolle in einem humaneren, selbstgestalteten 21. Jahrhundert spielen.“8 Weisers Texte propagieren eine positive Utopie. Sie müssen, wie Florian Sprenger darstellt, vor dem Hintergrund kalifornischer, kapitalistischer Ideologien verstanden werden.9 „Calmness ist eine fundamentale Herausforderung für jedwedes technologisches Design in den nächsten fünfzig Jahren“10, so Weisers Prognose aus dem Jahr 1997. Bei der Betrachtung technischer Dinge des 21. Jahrhunderts wird deutlich, dass Weisers Vision zwar nicht vollständig, aber doch zu großen Teilen Realität geworden ist. Seit der Jahrtausendwende wurden Computer immer unauffälliger in die physikalische Außenwelt integriert. Alltagsdinge, die als analoge Dinge schon lange gebräuchlich waren, wurden mit unsichtbarer Technik ausgestattet – beispielsweise Sportschuhe, die der Sportartikelhersteller Adidas AG bereits 2013 mit NFC-Technologie versah und so zu einer Calm Technology wandelte.11 Dabei ist für die Nutzer*innen das Innenleben dieser Dinge von außen kaum oder gar nicht ersichtlich. Die Fähigkeiten und Funktionen der Dinge erschließen sich erst in der Nutzung. Diese Unsichtbarkeit des Innenlebens existiert nicht nur bei nachträglich technisierten Dingen, sondern auch bei Dingen wie dem Personal Computer und mobilen Geräten, deren Funktionen in sogenannten Black Boxes verborgen bleiben. Auch hier können äußerlich identische Geräte durch divergierende Software völlig unterschiedliches Verhalten aufweisen. Selle bezeichnet in einer designtheoretischen Publikation von 2014 Dinge mit unsichtbarem „Primär-Design“ (also Dinge, die sich neben ihrer materiellen Gestalt durch eine dominantere immaterielle Gestalt auszeichnen) als „Nicht-Dinge“ oder „Halb-Dinge“.12 Diese würden

060  WANDEL DER OBJEKTWELT UND DER NEUE MATERIALISMUS 

sich oftmals nur oberflächlich als dinghaft darstellen. Eigentlich seien sie als Dinge gar nicht mehr zu fassen. Die materielle Seite der Dinge sei nur noch „Sekundär-­ Design“,13 das zwar weiterhin Beachtung finde, aber die tiefen Beziehungen zu den Dingen nicht mehr primär bestimme: Zu dem, was man an Design zu sehen bekommt, also zu seinen Zeichen-Funktionen im semiotischen Raum des Alltags, tritt eine weitgehend unerforschte Reihe unsichtbarer Eigenschaften hinzu – womöglich ist das Vibrieren des iPhone als Anzeige des Lebendig-Seins vielsagender als seine Form im Gewand einer Retro-Sachlichkeit, die rein gar nichts von dem verrät, was dieses Handy, das man unter dem Herzen trägt, zum Liebesobjekt macht.14

Neben dem oft als Beispiel herangezogenen iPhone, das sich durch einen Touchscreen auszeichnet, existieren Dinge, bei denen visuelle Schnittstellen zwischen Mensch und Technik, wie etwa Displays, völlig fehlen oder ausgelagert werden. Der NFC-Sportschuh ist dafür ein Beispiel. Hier verwirklicht sich Weisers Vision einer Technik, die in den Hintergrund entschwindet.

2.1.2  Natürlich steuerbare Dinge Der Wandel von einer mechanischen Welt zu digitalen technischen Umwelten ändert die Steuerungs- und Interaktionsformen zwischen Mensch und Technik radikal. Die Entwicklung geht von Hebeln und Kurbeln über Tasten und Knöpfe, etwa auf Schalttafeln, bis hin zu rein gestenbasierter Steuerung. Flusser beobachtet in den 1980er Jahren, dass die unbegreiflichen Undinge die Interaktionsmöglichkeiten verändern: Dieser neue Mensch, der da um uns herum und in unserem eigenen Inneren geboren wird, ist eigentlich handlos. Er behandelt keine Dinge mehr, und darum kann man bei ihm nicht mehr von Handlungen sprechen. Nicht mehr von Praxis, nicht mehr von Arbeit. Was ihm von der Hand übrig bleibt, sind die Fingerspitzen, mit denen er auf Tasten drückt, um mit Symbolen zu spielen.15

Menschen werde durch die Möglichkeit, Undinge über Tasten zu steuern, eine Wahlfreiheit eröffnet: „Fingerspitzen sind Organe der Wahl, der Entscheidung.“16 Diese Freiheit bestehe jedoch immer nur in einem durch die spezifische Technik vorgegebenen Rahmen, denn: „Die Entscheidungsfreiheit des Fingerspitzendrucks erweist sich als programmierte Freiheit. Als eine Wahl vorgeschriebener Möglichkeiten.“17 Ein programmierter Totalitarismus entstehe, der zunehmend unsichtbar werde. Man habe den Eindruck, frei zu entscheiden, da die Anzahl der Tasten

UNDINGE, HALB-DINGE, NICHT-DINGE. DINGPHÄNOMENE DES 21. JAHRHUNDERTS  061

­ nendlich scheine, doch letztlich handelten sowohl die Programmierenden als u auch die Programmierten (so Flussers Bezeichnungen) nach Vorgabe der Technik. Mit der Miniaturisierung der Dinge geht eine Miniaturisierung der Steuerung und der Geste einher,18 der allerdings laut Selle physiognomische Grenzen gesetzt sind. Selle beobachtet im Jahr 2015: In der vierten Moderne, also unserer Gegenwart, die gerade Geschichte wird, ist neben der Entgrenzung technischer Leistungsfähigkeiten eine Miniaturisierung der Apparate, ein Schrumpfdesign restlicher Hüllen zu beobachten, das in Gebraucherhand, die ja nicht mitschrumpft, an eine Grenze zu stoßen scheint.19

Die voranschreitende Miniaturisierung und das von Weiser propagierte Paradigma der Embeddedness und Calmness verlangten neue Interaktionskonzepte. Einen ersten Schritt hin zu einer Verschmelzung von digitaler und analoger Welt ermöglichte der Touchscreen. Er ließ eine Techniksteuerung zu, die ohne Tasten, Keyboards und Computermaus auskam, und erlaubte durch diverse Fingerbewegungen wie Ziehen, Schnippen, Tippen und Streichen, Inhalte auf Displays anzuwählen, zu zoomen, zu verschieben, zu drehen oder wegzuwischen. Nutzer*innenreaktion und Systemreaktion sind bei Touchscreens, ähnlich wie in der analogen Welt, kurzgeschlossen – ohne die Eingabe von Befehlen. Jede technische Vermittlung ist hier scheinbar abwesend. Schnittstellen dieser Art werden unter den Bezeichnungen Natural User Interface (NUI) oder Reality Based User Interface (RBI) verhandelt.20 Hierbei werden Interaktionsformen, die für Nutzer*innen auf den ersten Blick natürlich erscheinen – wie etwa die Sprache oder die Geste – aus der analogen Welt auf digitale Technik übertragen.21 Obwohl das Interesse an sprach- und gestenbasierter Steuerung nicht neu war,22 kam erst um das Jahr 2000 entsprechende marktfähige Technik in Umlauf. Die sprachbasierte Steuerung – Spracheingabe und Sprachausgabe – findet bei internetbasierten persönlichen Assistenten Anwendung, etwa bei dem Sprachassistenten Alexa mit Amazon Echo (2015/16) von Amazon, Google Home (2016/2017) von Google oder dem HomePod (2018) von Apple, der auf der Software Siri basiert (Abbildung 6). Gestenbasierte Steuerung wurde bereits zuvor etabliert, etwa bei Smartphones wie dem iPhone (2007) und Tablet-Computern wie dem iPad (2010), oder bei kameragestützten Bewegungssensoren, etwa bei Kinect (2010) zur Steuerung von Videospielen. Während die gestenbasierten Dinge gestreichelt und gewischt werden, entsteht eine für die Interaktion mit Dingen eigenartige, beinahe emotionale Nähe zwischen Mensch und Ding. Das Interface des Smartphones erscheint wie eine sensible Haut des Geräts und reagiert ähnlich wie die Haut eines Lebewesens auf minimalste Berührungen. Gleichzeitig schwindet die Beziehung zur physischen Welt. Selle stellt bezogen auf Touchscreens fest: „Wo man einst beide Hände brauchte, genügt heute eine Wischbewegung über das Halb-Ding. Wir müssen vom Schrumpfen des leiblichen Kontakts mit Zeug sprechen.“23 Diese Kontaktreduzierung spitzt sich bei ­sogenannten

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Eye-Tracking-Systemen weiter zu, die seit den 1980ern erprobt werden. Die 2012 von Google vorgestellte Google Glass ist nicht nur durch Berührungen mit der Hand, sondern auch über Augenbewegungen steuerbar und ermöglicht beispielsweise durch ein Zwinkern die Umgebung zu fotografieren.24 Die intelligente Kontaktlinse, die sich Samsung 2014 patentieren ließ, strebt eine Steuerung rein über Augenbewegungen an.25 Seit den 1970er Jahren wird außerdem an einer direkten Kopplung von Gehirn und Computer geforscht, an sogenannten Brain-Computer-Interfaces (BCI).26 Techniksteuerung soll hier allein durch die Hirnaktivität möglich sein. Bei BCI ist der leibliche Kontakt zur Außenwelt, dessen „Schrumpfung“ Selle beobachtete, vollständig aufgelöst. Die Nutzer*innen sind von jeder Behandlungs- bzw. Interaktionsarbeit, die Flusser bereits in den 1980er Jahren schwinden sah, komplett befreit. Auch durch sogenannte Wearables sollten Interaktionsanstrengungen und der körperliche Kontakt zur Außenwelt minimiert werden. Beispiele sind Reemo und Myo27 (Abbildung 4), die um das Jahr 2015 entwickelt und beworben wurden, sich allerdings nicht umfassend durchsetzten. Die beiden Armbänder bieten gestenbasierte Steuerungsmöglichkeiten nicht nur für ein einzelnes Gerät, sondern für die gesamte von Technik durchdrungene häusliche Umgebung. Wer Reemo oder Myo am Handgelenk trägt, kann mit minimalen Hand- und Armbewegungen aus der Distanz Türen öffnen, die Heizung einstellen oder das Licht ausschalten. Es soll ermöglicht werden, spielend leicht mit vermeintlich natürlichen Gesten die Umwelt zu dirigieren – durch das Heben des Arms geht die Jalousie nach oben. Was bei dem Smartphone der Touchscreen ist, ist bei Reemo und Myo die bewohnte Umgebung selbst. Sie wird zum dreidimensionalen Interface bzw. zum NUI. Mit dieser Interaktion realisiert sich eine 1999 formulierte und mit Weisers Ubiquitous Computing verwandte Vision des Informatikers Neil Gershenfeld: „Die Welt selbst ist die Schnittstelle der Zukunft.“28 Nutzer*innen werden, wie Timo Kaerlein feststellt, durch derartige Wearables allerdings auch selbst Teil des Interface-Arrangements. Ihre Körper werden zu einer Art Cursor.29 Diese Logik vervollständigt sich mit der Entwicklung von Implantaten: NFC-Chips, in die Hand zwischen Daumen und Zeigefinger implantiert, durch die sich die häusliche Umgebung steuern lässt.30 Steuerungstechniken wie Wearables und Implantate minimieren allerdings nicht unbedingt die Steuerungsgesten. Es kommen nicht immer nur noch die Fingerspitzen zum Einsatz, sondern zunehmend wieder der ganze menschliche Körper. Doch ist Gestikulieren in diesen Fällen grundsätzlich anders zu verstehen als bei der Interaktion mit nicht-digitalisierten Dingen, denn die Gesten kommen ohne körperlichen Kontakt mit der physischen Realität aus. Damit lassen sie sich beliebig und unabhängig von der materiellen Realität gestalten. Die spezifische Geste wird also nicht mehr durch den Körper des Dings oder die technischen Bedingungen bestimmt. Die damit verbundene neue Zukunftsmarkt äußert sich auch darin, dass zunehmend Patente auf Gesten angemeldet werden. Statt einer Miniaturisierung lässt sich eine Theatralisierung der Geste beobachten, wie Kaerlein konstatiert. Er diskutiert in einem Aufsatz die beiden

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­Wearables Reemo und Myo und erkennt in der gestenbasierten Steuerung „Blendwerk, Augenwischerei und Ablenkung vom Wesentlichen“31. Die Geste täusche nur ein Gefühl der Steuerung und Kontrolle vor. Werbeslogans wie „The Wrist Worn Mouse to Control Your World“ oder „It’s an armband that gives you superpowers“ verweisen laut Kaerlein auf Technikmythen, die letztlich nicht Realität würden. In Imagefilmen der Armbänder werde beispielsweise der Mythos der Automatisierung aufgerufen und damit die vermeintliche Befreiung von der sperrigen analogen Welt und dem als Arbeit verstandenen Umgang mit ihr versprochen.32 Kaerlein identifiziert zwei Modelle als Archetypen der gestischen Interaktion: Als Dirigent oder Dirigentin leiten Nutzer*innen, ohne selbst tätig werden zu müssen, „ein Ensemble technischer Akteure“.33 Dieses emanzipative Verständnis der Mensch-Technik-­ Relation führe, gekoppelt mit dem Marketingversprechen von Omnipotenz, zu dem Bild eines Magiers, der in der Lage sei, die Welt nach seinem Willen zu formen. Allerdings sei die Rolle des allmächtigen dirigierenden Menschen in einem beinahe autonom agierenden, automatisierten Internet der Dinge nicht mehr nötig. Das Ensemble bräuchte keine menschliche Leitung. Er kommt zu dem Schluss, dass nicht der*die Magier*in, sondern der*die Bühnenmagier*in oder Illusionist*in das tatsächliche zweite Modell darstelle. Denn die menschliche Geste stehe nicht mehr in einem Zusammenhang mit den Auswirkungen. „Hier wird die Geste zum Schwindeln, zur Vortäuschung von agency, die oberflächliche Beobachter in die Irre zu führen vermag.“34 Kaerlein interpretiert das gestenbasierte Interagieren als Versuch der Rückaneignung von Handlungsmacht durch die Rückaneignung der menschlichen Geste – allerdings sei diese Geste nur noch Show. Während Selle von einem möglichen Verschwinden der Geste ausgeht, lässt sich mit Kaerlein folgern: Die Gesten lösen sich von den Dingen und ihrer Materialität. Kaerleins Schlussfolgerung über die zum Schwindel gewordenen Gesten lässt sich auch auf andere Interaktionsmodi übertragen, beispielsweise auf die sprachbasierte Steuerung. Sobald Dinge mit anderen Dingen vernetzt sind und außerdem intelligenter und lernfähig werden, werden Interaktionsmodi überflüssig. Wenn also Dinge ihre Nutzer*innen interpretieren, auswerten und identifizieren können – etwa durch Gesichtserkennung – ist keine Initiative der Nutzer*innen mehr vonnöten. Die Dinge reagieren dann ohne bewusste Steuerung. Quasi-natürliche Interaktion mittels Spracheingabe, Eye-Tracking, Hirnaktivität oder Gesten minimiert also oft den physischen Kontakt zur Umwelt. Die Hände sollen frei bleiben – eine Steigerung der Flusser’schen „Handlosigkeit“. Bei NUI sind allerdings auch Trends beobachtbar, die vordergründig gegenläufig sind. So tauchten seit Mitte der 1990er Jahre sogenannte Tangible User Interfaces (TUI) als Entwicklungs- und Forschungsfelder auf, durch die Interfaces haptisch-taktil erfahrbar wurden.35 Im Unterschied zu Interfaces wie Touchscreens sind bei TUI Informationen dreidimensional fassbar. Digitale Informationen lassen sich in der Hand halten oder im dreidimensionalen Raum verschieben.36 Es werden bewusst alle Sinne in die Interaktion einbezogen und die Informationen werden ­haptisch

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spürbar. Dreidimensionale Interfaces kommunizieren Informationen, indem sie Form, Größe oder Struktur ihrer Bestandteile variieren.37 Statt beispielsweise Zeit bei einer Uhr über ein zweidimensionales Ziffernblatt oder ein LC-Display darzustellen, wird bei TUI über displaylose Objekte kommuniziert, die beispielsweise wachsen, wenn Zeit verstreicht. Gewohnte, wenig komplexe Alltagsdinge werden in diese Interfacegestaltung einbezogen. Die materiellen Körper der Dinge selbst werden zum Interface, so etwa bei Haushaltsgeräten, die durch Oberflächenverformung mit ihren Nutzer*innen kommunizieren.38 Kleidungsstücke und textile Wohnaccessoires, die technisch erweitert wurden, werden ebenfalls zum TUI, zum Beispiel die von der Designerin Katharina Bredies entwickelte Picknickdecke Undercover (Abbildung 5), die Audionachrichten nur dann abspielt, wenn sie nach einem bestimmten Muster gefaltet wurde,39 oder die von Matthias Laschke gestalteten Kissen linked (Abbildung 7), die als Kommunikationsmedien zwischen zwei Personen funktionieren und bei denen Interaktion und Kommunikation durch physische Manipulation eines der Kissen funktioniert.40 Bei TUI finden Rückmeldungen über haptische und thermische Signale oder über Vibration statt. Laut Eva Hornecker lässt sich der Trend zu TUI „als Schwingen des Pendels vom Abstrakten und Vergeistigten zurück zum Dinghaft-Konkreten und zur Anerkennung des menschlichen Körpers“ interpretieren.41 Tangible Computing, also die Interfacewerdung der materiellen Umwelt, ermöglicht zwar leiblichen Kontakt mit Dingen, allerdings nur mit deren Hüllen. Das für die Objekte und das Verhältnis zu ihnen entscheidende Innenleben bleibt meist ungreifbar.42 Während bei gestenbasierter Steuerung, etwa bei dem Armband Myo kein physischer Kontakt in der Interaktion stattfindet und damit die physische Widerständigkeit minimiert wird, findet bei TUI bewusst physischer Kontakt statt, jedoch meist, ohne dass die technische Komplexität sichtbar wird. Die Interaktion soll in beiden Fällen möglichst intuitiv und reibungslos verlaufen. Mit der Aufgabe grafischer und visuell erfahrbarer Interfaces verschwinden auch die Handbücher zur Bedienbarkeit der Dinge. Schließlich sollen die NUI ähnlich selbsterklärend funktionieren wie analoge Dinge und die Interaktion ähnlich anleitungsfrei vonstatten gehen wie die Kommunikation von Mensch zu Mensch. Donald Norman argumentiert hingegen, dass auch Interaktionsformen der NUI erst erlernt werden müssten, denn: „Most gestures are neither natural nor easy to learn or remember.“43 Sie basieren ähnlich wie Symbole auf sozialen und kulturellen Konventionen. Nutzer*innen müssen Gesten üben und Gesten können je nach Kontext Missverständnisse auslösen; sie funktionieren nicht intuitiv und von alleine. Norman macht außerdem darauf aufmerksam, dass Gesten flüchtig und daher schwer nachzuvollziehen sind. Oft sei Nutzer*innen nicht klar, warum bestimmte Gesten bestimmte Reaktionen auslösen. „[A] pure gestural system makes it difficult to discover the set of possibilities and the precise dynamics of execution.“44 Diese Undurchsichtigkeit ist eine der größten Herausforderungen einer im Hintergrund operierenden Technik, wie sie Mark Weiser propagiert. Wenn Nutzer*innen nicht mehr zwischen a­ nalogen und technischen Gegenständen unter-

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Abb. 4: Das Armband Myo zur Gestensteuerung

Abb. 5: Das TUI Uncover zur Wiedergabe von Musik

scheiden können, weil sich beide auf den ersten Blick gleichen, entstehen sinnlose Verhaltensweisen, zum Beispiel der Versuch kleiner Kinder, in analogen Bilderbüchern mittels Fingerbewegungen zu zoomen, oder die missglückte Steuerungsgeste des Wedelns mit den Händen bei einem gewöhnlichen Wasserhahn in einer öffentlichen Toilette. Auch Nutzer*innen von Reemo wären womöglich versucht, nicht vernetzte Türen durch theatrale Armbewegungen zu öffnen. Das Eingebettetsein der Technik schafft kein aufgeklärtes Verhalten. Die Interaktion verläuft unbewusst und verursacht schnell Missverständnisse und Unsicherheiten. NUI provozieren Fragen nach Entscheidungsfreiheit und emanzipatorischen Möglichkeiten. Gestenbasierte Technik bedeutet, wie Selle darstellt, immer auch ein Design an Nutzer*innen. Führt die Interaktion mit intransparenter Technik zu Fremdbestimmtheit? Selle zumindest sieht die Freiheit durch gestenbasierte Steuerung infrage gestellt: „Sind Gesten Ausdruck des freien Willens dessen, der sie ausführt, oder sind sie vom Werkzeug erzwungene Reflexe?“45 An dieser Stelle lässt die Unterscheidung zwischen dem Tastending Schreibmaschine und dem analogen Füllfederhalter, die Flusser vornimmt, Schlüsse für NUI zu. So beschreibt Flusser den weniger komplexen, flexibel einsetzbaren Füller als ein Ding, das sogar stärker Freiheiten einschränkt als die Schreibmaschine: Man ist freier, wenn man tippt, als wenn man mit einem Füller schreibt […], weil die Maschine besser als der Füller das Überschreiten der Regeln der Geste gestattet, und zwar genau deshalb, weil sie die Regeln augenfällig macht. […] Die Freiheit liegt nicht in der (auch mit einer Füllfeder möglichen) Mißachtung der Regeln, sondern in deren (mit einer Maschine möglichen) Veränderung.46

Nur wer die Regeln kennt, kann sie überschreiten und sich von ihnen emanzipieren. Aus dieser Überlegung lässt sich schlussfolgern: NUI, die an den analogen Alltagsdingen orientiert sind und wie unprogrammierte Objekte wirken, könnten gerade deshalb eine unfreie Situation erzeugen, da sie grenzenlose Optionen suggerieren, ohne die zugrundeliegenden eingeschränkten Optionen sichtbar zu machen. Wäh-

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Abb. 6: Im Dialog mit dem HomePod von Apple

Abb. 7: Das Kommunikationskissen linked für das Erleben von Nähe auf Distanz

rend Tasten noch offensichtlich Regeln und damit eine Wahlfreiheit eröffnen, nähern sich NUI der von Flusser beschriebenen Undurchsichtigkeit eines programmierenden Totalitarismus. „Der programmierende Totalitarismus, wenn er sich einmal verwirklicht haben wird, wird den an ihm Beteiligten nie mehr feststellbar sein: er wird für sie unsichtbar werden.“47 Anders als der Füllfederhalter wäre ein zum NUI gewordener Füller ein programmiertes Gerät, das auf einer binären Logik basiert. Es eröffnet, ähnlich wie die Schreibmaschine, nur eine programmierte Freiheit, macht diese aber ebenso wenig sichtbar wie der nicht programmierte Füll­ federhalter. Die auf Intuition basierenden NUI legen ihre Regeln nicht offen und stellen die Nutzer*innen nicht vor eine Wahl.

2.1.3  Anthropomorphe und intelligente Dinge Das Vermenschlichen von Dingen hat eine lange Geschichte. Hiervon zeugen Artefakte wie Puppen, Wachsfiguren oder Marionetten.48 Zu den Vorläufern der humanoiden Technik des 21. Jahrhunderts zählen außerdem die Automaten des 18. Jahrhunderts.49 Ausgestattet mit einer Mechanik ähnlich eines Uhrwerks waren diese Artefakte zur Eigenbewegung fähig. Das Hauptmotiv für die Konstruktion von Automaten war, Leben durch die Simulation von Lebendigkeit zu ergründen. Diesem Ansatz lag die Vorstellung zugrunde, dass biologische Körper und Maschinen grundsätzlich gleich aufgebaut seien. Neben René Descartes, der alle natürlichen Körper als mechanische Konstrukte begriff,50 vertrat 100 Jahre später der Arzt und Philosoph Julien Offray de La Mettrie provokant die These, dass der menschliche Körper nichts anderes sei als ein sehr kompliziertes Uhrwerk.51 Da man nicht nur Lebewesen als Maschinen, sondern im Umkehrschluss auch Maschinen als eine Art Lebewesen betrachtete, wurden bewusst quasi-lebendige Maschinen konstruiert, um damit der Frage nachzugehen, was Lebendigkeit ausmacht. Die Automaten des 18. Jahrhunderts simulierten meist Kulturtechniken wie das Schreiben, das Musizieren oder gar

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das Sprechen mit sogenannten Sprechmaschinen.52 Parallelen zu technischen Artefakten des 21. Jahrhunderts sind offensichtlich, denn auch die weiter oben erörterten sprachbasierten NUI simulieren kognitive Fähigkeiten des Menschen. Auf die Androiden des 18. Jahrhunderts folgten im 20. Jahrhundert humanoide Roboter.53 Sie sollten den Menschen nicht mehr nur abbilden, sondern ihn ersetzen oder sogar sein humanes Potenzial übersteigen. Roboter erfüllen die Funktion eines Gehilfen, der den Menschen entlastet. Der Roboter muss nicht bedient werden, sondern arbeitet selbstständig. Er ist, vergleichbar mit den Automaten des 18. Jahrhunderts, eine Maschine, die auf Menschen lebendig wirkt – und ein weiteres Mal sind diese Interpretationen auf Gestalt und Eigenbewegungen der Technik zurückzuführen. Ursprünglich als rein industrielle Arbeitsmaschinen gedacht, werden Roboter seit Beginn des 21. Jahrhunderts zunehmend auch für das private, soziale oder kommerzielle Umfeld konzipiert. Serviceroboter werden meist anthropomorph oder zoomorph gestaltet, so beispielsweise der humanoide Roboter Pepper von 2014 (Abbildung 8),54 der als Personal Robot konzipiert wurde, aber schließlich in Showrooms, hinter Empfangstischen und in den Bereichen Erziehung und Pflege eingesetzt wird. Service- und Assistenzroboter übernehmen die Rollen von Bediensteten, Lehrkräften oder Haustieren. Roboter werden bei der Altenpflege oder zu therapeutischen Zwecken eingesetzt, etwa die künstliche Robbe Paro (2001),55 die auf menschliche Berührungen reagiert und bei der Betreuung von demenzkranken Menschen helfen soll, oder der Robear (2009),56 eine Robotergestalt zwischen Mensch und Bär, die bettlägerige Personen tragen oder aus einem Rollstuhl heben kann. Die beiden letztgenannten, aber auch viele weitere Roboter, stammen aus Japan.57 An der Osaka University werden Roboter entwickelt, die ihren menschlichen Vorbildern zum Verwechseln ähnlich sehen, so etwa Actroid (2003), eine Messehostess und Kodomoroid (2014), eine Nachrichtensprecherin. Hiroshi Ishiguro, Robotiker an der Osaka University, entwickelte sein eigenes Double mit dem Namen Geminoid HI-4 (2006) (Abbildung 10). Ishiguros Roboter atmen oder blinzeln und erinnern daher stark an die Androiden des 18. Jahrhunderts, die ebenfalls minimale Körperbewegungen ausführen – etwa beim Musizieren seufzen, um so möglich lebensecht zu wirken. Nicht nur das Streben nach Ununterscheidbarkeit zwischen Mensch und Maschine erinnert an den Bau von Androiden, sondern auch die scheinbar immer noch bestehende Vermutung, dass Leben, Geist, Seele oder Intelligenz mit der Physiologie in Zusammenhang stehen, man also dem Leben näher kommt, wenn man den Körper des Lebewesens simuliert. Bei dem Roboter Eccerobot (2009), Ergebnis eines von Owen Holland geleiteten EU-Forschungsprojekts, wurde sogar explizit der innere Aufbau eines menschlichen Körpers reproduziert (Abbildung 9). Eccerobot hat ein menschenähnliches Skelett sowie Muskeln und Sehnen. Sein Äußeres ist weit davon entfernt, mit einem Menschen verwechselt zu werden, doch seine Erfinder*innen erachten ihn wegen seiner menschenähnlichen Mechanik zu menschlicher Interaktion fähig und bezeichnen ihn als „anthropomimetic“.58

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Rodney Brooks, bis 2007 Leiter des Computer Science and Artificial Intelligence Laboratory am MIT, vertrat schon in den 1990er Jahren die These, dass (künstliche) Intelligenz59 einen Körper brauche. Unter dem Stichwort „Embodiment“ konstruierte er dem Menschen nachempfundene Roboter, die mit Sensoren und Rückkoppelungsschlaufen ausgestattet waren.60 Er begreift beispielsweise das menschliche Sehen als mechanischen Prozess, der sich nachbauen lässt.61 Sein Ansatz basiert auf der Vorstellung, dass nur Körper mit menschenähnlichen Sinnen ein ähnliches Verständnis von Welt hervorbringen können wie der Mensch. Künstliche Intelligenz lasse sich nicht einfach programmieren, sondern entstehe, wenn humanoide Roboter durch soziale Interaktion mit Menschen lernen, was an ein ­Eltern-Kind-Verhältnis erinnert. Jessica Riskin, die sich 2005 mit „Wetware“62 beschäftigt, identifiziert in den Versuchen, der Lebendigkeit und der Intelligenz durch mechanische Konstruktion näher zu kommen, eine Ambivalenz: Einerseits glauben wir, dass die Prozesse des Lebens und des Bewusstsein im Wesentlichen mechanistisch erklärbar und damit simulierbar sind. Andererseits sind wir gleichermassen davon überzeugt, dass die Essenz des Lebens und des Bewusstseins jenseits der Möglichkeiten mechanischer Reproduktion liegt.63

Maschinen, die menschliche geistige Möglichkeiten simulieren, werfen jedoch grundsätzliche Fragen auf, etwa nach dem Unterschied zwischen Leben und Tod. Durch die Simulation werden auch die Konzepte von Denken und Beseeltheit zur Diskussion gestellt. Was bedeutet es eine Seele zu haben? Können Maschinen denken? Was ist mit Denken grundsätzlich gemeint? Simulation von Leben dient dann als Mittel, sowohl über Maschinen als auch über Lebewesen Erkenntnisse zu erlangen.64 Die Beantwortung der aufgeworfenen Fragen, übersteigt, wie Käte MeyerDrawe argumentiert, jedoch die moderne rationale Wissenschaft: In bestimmter Hinsicht verweisen die Forschungen zur künstlichen Intelligenz und zum künstlichen Leben auf das Ende unseren rationalistischen Traums. Immer wieder stoßen wir auf Grenzen, die darin bestehen, daß wir nicht wissen, wie wir wissen. […] Androiden, Automaten, Spiegel sind eher Grenzen als Objekte. Sie bilden einen intermediären Raum (Tibon-Cornillot), einen Saum, dem traditionelle Dualismen von Subjekt und Objekt, real und fiktional nicht gerecht werden können.65

Bei der seit dem späten 20. Jahrhundert stattfindenden Simulation des Menschen steht neben dem philosophischen Erkenntnisinteresse meist allerdings ein anderes Ziel im Vordergrund: Technik wird anthropomorphisiert, um Interaktionsprozesse zwischen Mensch und Maschine zu optimieren. Anthropomorphismus ist auch eine Strategie im Interfacedesign.

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So werden beispielsweise Robotic User Interfaces (RUI) gestaltet, die physisch dem Menschen gleichen. Hierunter fallen auch anthropomorphe Serviceroboter wie jene von Ishiguro, die zwischen dem Mensch und einer Dienstleistung vermitteln. Unter RUI ist nicht das Interface eines Roboters zu verstehen, sondern der humanoide Roboter als Interface für ein anderes System, etwa ein Roboter als Kommunikationsschnittstelle für Smart Homes. Vermenschlichte Bedienformen, die oben im Zusammenhang mit NUI besprochen wurden, kommen zum Einsatz. Die Kommunikation via Geste und Sprache ist eigentlich eine Kommunikation von Mensch zu Mensch.66 Des Weiteren wird bereits seit den 1950er Jahren daran gearbeitet, für den Umgang mit Computern intelligente Assistenten zu entwickeln, sogenannte Software-Agents.67 Diese Agenten gleichen dem Menschen nicht unbedingt formal und physisch, sondern in ihrem quasi-intelligenten, autonomen Verhalten. Grundsätzlich sind Agenten als personalisierte Bedienschnittstellen zu verstehen, die den Umgang mit komplexer Technik vereinfachen sollen.68 Beispiele für Agenten, die früh bekannt wurden, aber nach wenigen Jahren wieder zurückgezogen wurden, sind Clippy bzw. Karl Klammer (1997), eine animierte Cartoon-Büroklammer, die im Umgang mit der Technik unterstützen sollte, und der anthropomorphe ChaotBot Anna (2004) des Einrichtungskonzerns IKEA, der auf der Unternehmenswebseite Fragen beantwortete. Die Kommunikation zwischen Mensch und Agent soll in den meisten Anwendungen ebenbürtig vonstatten gehen. Technisch fortgeschrittene Agenten erfassen sogar Mimik und Emotionen. Sie interpretieren ihre Nutzer*innen und agieren für sie. Einige Agenten arbeiten auch unabhängig von Eingaben und sind lernfähig. Die anthropomorphen Programme werden der Vorstellung nach zu einem guten Freund, einem Sekretär, einer Butlerin, einer Maklerin oder einem Tutor.69 Seit den 1990er Jahren, so Hans Dieter Hellige, entsteht „eine breite Skala anthropomorpher Interface-Agenten, denen aufgrund ihrer laiengerechten, intuitiven Bedienbarkeit, emotionalen Ansprache und Vertrauen schaffenden Wirkung in Zukunft ein großes Feld persönlicher Dienstleistungen zugewiesen wird“.70 Software-Agenten werden beispielsweise immer häufiger in der Finanzwirtschaft eingesetzt. Als Autopiloten sind sie in der Luftfahrt längst bekannt und sollen zukünftig im Straßenverkehr Verwendung finden.71 Sie übernehmen organisatorische Aufgaben und verwalten Termine und E-Mails,72 so beispielsweise Ross, eine 2015 vorgestellte Anwendung für Anwaltskanzleien, die auf juristische Fragen reagiert und Dokumente und Gesetzestexte durchsucht, um Jurist*innen Recherchearbeit abzunehmen.73 Darüber hinaus existieren sogar Agenten, die eine soziale Beziehung zu ihren Nutzer*innen herstellen. Die App Replika beispielsweise ist ein Chat-Bot, der sich nach dem Wohlbefinden erkundigt, empathische Rückfragen stellt und in der Lage sein soll, emotionalen Rückhalt zu bieten. Replika wird auf der entsprechenden Webseite wie folgt beworben: „The AI companion who cares. Always here to listen and talk. Always on your side.“74 Dieser Software-Agent simuliert empa-

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Abb. 8: Der Service-Roboter Pepper, entwickelt von Softbank Robotics Abb. 9: Der am mensch­ lichen ­Orga­­nismus ­orientierte Eccerobot, ent­wickelt in einem EU-Forschungsprojekt

Abb. 10: Der humanoide Roboter Geminoid™ HI-4 mit menschlichem Vorbild Dr. Ishiguro, ent­ wickelt von der Osaka University

thisches zwischenmenschliches Verhalten. Sein äußeres Erscheinungsbild ist das einer jungen Frau. Brenda Laurel plädiert in einer Publikation aus dem Jahr 1997 explizit für Anthropomorphismus bei der Gestaltung von Agenten. Gestaltete menschenähnliche Charaktere sind für sie Metaphern mit Potenzial. „Anthropomorphizing interface agents is appropriate for both psychological and functional reasons.“75 Anthropomorphismus wird sowohl bei Robotern als auch bei SoftwareAgenten als eine Lösungsstrategie für das Komplexitätsproblem von Technik begriffen. Interaktion soll so vereinfacht werden. Dass Anthropomorphismus diesen Anspruch erfüllen kann, ist laut Hellige allerdings fragwürdig. 76 Norman stellt ebenfalls fest, dass gerade bei anthropomorpher Technik Erwartungen an die Technik gestellt werden, die sie meist nicht erfüllen kann. Missverständnisse seien entsprechend vorprogrammiert.77 Humanoide Technik werde von vielen Personen als irreführend und daher als unmoralisch eingestuft. „Some believe that the more humanlike the appearance and interaction style

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of the agent, the more deceptive and misleading it becomes […].“ 78 Kaerlein begreift anthropomorphe Technik sogar als eine Form des Fetischs – also eine Verschleierung, die zwischenmenschliche Beziehungen verdinglicht: „[…] having people interact with animated robotic stand-ins that simulate interpersonal relationships is more akin to treating these people as objects and not as subjects.“79 Seine Kritik am technischen Fetischismus impliziert eine Warnung: Designers of social robots should continue to ask themselves if the results of their efforts contribute to enriching relationships and intensifying affective bonds or rather to the opposite – a severing of relational ties and thus a reduction of sociality to vestigial dyads between automated entities.80

Anthropomorphe Artefakte lösen hauptsächlich im westlichen Kulturkreis Unbehagen aus.81 Besonders auffällig wird dieses Unbehagen in der Literatur des 19. Jahrhunderts, die auf die im späten 18. Jahrhundert unternommenen Versuche der Simulation von Leben, auf die Automaten, reagiert. Der künstlich erzeugte Mensch wird als Bedrohung betrachtet und kann zum Scheitern seines Schöpfers oder seiner Schöpferin führen,82 etwa in E. T. A. Hoffmanns Erzählung Der Sandmann und deren Aktualisierung im Film Her von Spike Jonze aus dem Jahr 2013, in dem sich der Protagonist in sein anthropomorphes Betriebssystem (Software-Agent) verliebt. Auch kommt im 19. Jahrhundert das Motiv einer anthropomorphen Schöpfung auf, die sich gegen ihre Schöpfer*innen auflehnt und Verderben mit sich bringt. Dieses Motiv wird in Anlehnung an Mary Shelleys Roman als Frankenstein-Syndrom bezeichnet.83 Der Versuch, künstliches Leben zu erzeugen und ein menschenähnliches Wesen zu konstruieren, wurde im 19. Jahrhundert und wird zum Teil bis heute als grenzüberschreitender Schöpfungsakt und Beleidigung Gottes begriffen.84 Die dystopischen Erzählungen in Literatur und Film zeigen, wie diese Vorstellungen noch bis in das 21. Jahrhundert wirken. Dass anthropomorphe Artefakte unmittelbar Unbehagen auslösen, belegte 1970 auch der Robotiker Masahiro Mori. An seinem Modell, das unter dem Titel Uncanny Valley85 populär wurde, wird deutlich, dass die Sympathie zu Robotern nicht proportional mit wachsendem Anthropomorphismus ansteigt. Roboter, die beinahe menschengleich erscheinen, lösen eine Aversion aus, da sie zwar als menschlich, aber leicht abweichend und daher krankhaft empfunden werden. Neben dem Unbehagen im unmittelbaren Kontakt der Interaktion existiert auf einer Metaebene Angst vor anthropomorphen Robotern: Es wird befürchtet, von Robotern abgelöst und damit als Mensch entbehrlich zu werden. Die Kombination aus Ähnlichkeit und gleichzeitiger Überlegenheit macht den anthropomorphen Roboter zu einem gefährlichen Konkurrenten, vor allem auf dem Arbeitsmarkt.86 Es werden Zukunftsszenarien gezeichnet, in denen intelligente Roboter Aufgaben von Anwält*innen, Ärzt*innen oder Musiker*innen übernehmen und sich damit von assistierenden Werkzeugen zu Vorgesetzten wandeln.

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Es lässt sich schlussfolgern: Der Anthropomorphismus, der sich in RUI, Software-Agenten und humanoiden Interaktionsformen äußert, zielt auf Akzeptanz und Vereinfachung komplexer Technik und provoziert damit eine aufklärerisch motivierte Kritik. Wenn das technische Innenleben durch eine anthropomorphe, quasifreundliche Hülle verborgen wird, liegt die Interpretation nahe, die Technik täusche ihre Nutzer*innen. Anders als bei den Automaten des 18. Jahrhunderts wirken hinter den anthropomorphen Interfaces des 21. Jahrhunderts komplexe ökonomische Interessen, die durch Anthropomorphismus unsichtbar bleiben oder gar verniedlicht werden. Wenn Technik vermenschlicht wird, wird sie nicht automatisch menschlicher. Aus aufklärerischer Perspektive besteht die Gefahr, dass ihre tatsächliche Wirkmacht – die explizit nicht-menschlich ist – durch eine anthropomorphe Simulation verdeckt wird. Denn die Technik bleibt ein programmiertes Artefakt, das keineswegs autonom moralische Entscheidungen treffen kann, sondern von Menschen, die hinter den Kulissen agieren, mit bestimmten Optionen ausgestattet wurde. Entsprechend wird von Designer*innen gefordert Transparenz zu schaffen: „Hiding complexity while simultaneously revealing the underlying operations.“87 Anthropomorphismus verunklart allerdings nicht nur die Mechanismen der Technik, sondern birgt auch Erkenntnispotenzial. Wie mit Riskin und Meyer-Drawe gezeigt, ermöglicht der Versuch den Menschen zu simulieren, Einsichten über die Technik und das Wesen des Menschen selbst. Menschen spiegeln und doppeln sich mit dem Ziel der Selbsterkenntnis und Selbstreflexion. Die Simulation wirft die Frage auf, was das Unsimulierbare, das dem Menschen Eigene ist und schafft so Möglichkeiten zur Reflexion von Differenz, Begrenzung und Unterschieden. Noch im 21. Jahrhundert lässt sich ein menschliches Gehirn nicht nachbilden. Intelligente, autonome Technik veranlasst jedoch dazu, über menschliche Intelligenz und die Fähigkeit des Denkens zu reflektieren.

2.1.4  Vernetzte und adressierbare Dinge Mit dem Aufkommen der Vision des Internet der Dinge bzw. Internet of Things (IoT)88 um die Jahrtausendwende änderten sich die Seinsart und das Potenzial der Dinge auf eine weitere Weise. Dinge dieser Vision, an deren Realisierung gearbeitet wird, zeichnen sich nicht mehr nur durch ein unsichtbares Innenleben aus, wie bei Ubiquitous Computing, sondern werden Teil eines großen, flächendeckenden Netzwerks. Ubiquitous Computing, das eine in den Alltag eingebettete und auf unterschiedliche Gegenstände verteilte Rechenleistung meint, ist mit dem IoT verwandt, aber nicht mit ihm identisch. Denn während das Ubiquitous Computing von Mark Weiser noch lokal gedacht wurde, wird das IoT global und über große Distanzen hinweg umgesetzt. Rechenoperationen finden meist weit entfernt in Datencentern statt. Das IoT gründet außerdem, anders als Ubiquitous Computing, nicht grund-

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sätzlich auf versteckter Rechenleistung im Ding – Dinge werden nicht zwingend zu Computern. Basal für die Dinge im IoT ist hingegen ihre Vernetztheit.89 Hinzu kommt die Möglichkeit der Adressierbarkeit, denn die Dinge sind innerhalb des Netzes unter einer eindeutigen Adresse erreichbar – etwa durch RFID.90 Vernetzt, also an das Internet angeschlossen, sind nicht nur die seit 2007 allgegenwärtigen Smartphones, sondern auch Autos, Kühlschränke, Thermostate oder Maschinen der sogenannten Industrie 4.091 – also physische Dinge sehr unterschiedlicher Nutzungskontexte. Diese Dinge informieren über ihren eigenen Zustand oder erfassen fremde Daten und tauschen diese untereinander aus. Sie sind mit Mikrochips und Sensoren ausgestattete Knotenpunkte. Vernetzte Dinge werden zur Früherkennung von Wartungs- und Austauschbedarf oder zur Information über Füllstände eingesetzt. Sie sind insbesondere für die Logistikbranche produktiv, sollen Kosten reduzieren und Prozesse beschleunigen. Durch das IoT kann beispielsweise ein mit RFID ausgestattetes Tiefkühlprodukt darüber informieren, wenn die Kühlkette unterbrochen wurde. Ein vernetzter Drucker kann rechtzeitig und automatisch Druckerpatronen nachbestellen, sobald der Füllstand seiner Patrone eine bestimmte Grenze erreicht hat.92 An das Internet angebundene Herzschrittmacher informieren Ärzt*innen über den Zustand ihrer Patient*innen.93 Viele der ans Internet angeschlossenen Produkte, die um die Jahrtausendewende auf dem Markt kamen oder über Crowdfunding entwickelt wurden, galten allerdings bereits in den 2010er Jahren als Enttäuschung oder gar als alberne Gadgets. Ian Bogost spricht von einem „Internet der Dinge, die wir nicht brauchen“94. Laut Mercedes Bunz haben wir es zu tun mit einer zuvor „gehypten“ und nun ernüchternden Realität, die hätte „langweiliger gar nicht sein können“95. Die Kritik rührt daher, dass die meisten Konsumgegenstände ohne wirklichen Mehrwert an das Netz angeschlossen sind. Nach Bogosts Einschätzung lösen sogar die populärsten Anwendungen im IoT nur Probleme, die eigentlich schon seit Dekaden gelöst waren. Eine wirkliche Innovation erkennt er in einem Fahrradschloss, das sich über das Smartphone öffnen lässt, nicht. Es gehe vielmehr um ein Marketingversprechen. „Heute muss ein Konsumgegenstand mit überflüssigem Computer ausgestattet sein, um relevant zu werden.“96 Es besteht außerdem ein Unterschied zwischen an das Internet angeschlossen und tatsächlich vernetzten Dingen.97 Noch 20 Jahre nach der Ankündigung eines IoT sind die meisten angeschlossenen Dinge inkompatibel mit anderen angeschlossenen Dingen und kommunizieren uni- oder bidirektional, beispielsweise sehr oft einfach nur mit dem Smartphone. Laut Michael Seemann sprechen die Dinge „Privatsprachen“98 und entfalten im IoT erst dann ihre volle Macht, wenn sie zukünftig eine einzige Sprache verbindet. Womöglich würden die Unternehmen Apple oder Google diese Sprache vorgeben, warnt Seemann 2015. Es lässt sich folgern, dass erst, wenn die unterschiedlichen Dinge wirklich miteinander kommunizieren können – von smarten Türschlössern über Ampeln bis Wetterstationen und Stromtrassen –, Netzwerkeffekte entstehen, die über die gadgetartigen Konsumgegenstände, die Bogost

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kritisiert, hinausgehen. Dann erst realisieren sich Szenarien, in denen das Auto der Straßenverkehrsleitstelle und dem Smart Home ohne Zutun des Fahrers einen Stau meldet, woraufhin sich die Heizung zuhause erst später als gewöhnlich einschaltet. Verwirklicht sich die Vernetztheit und Adressierbarkeit, ändert sich der Status von Dingen jedoch radikal. Der Science-Fiction-Autor Bruce Sterling, dessen Überlegungen sich explizit an Designer*innen richten, stellt fest, dass die Dinge eines IoT eigentlich gar nicht mehr als Dinge bezeichnet werden können. Für das Ding, das keines mehr ist, schlägt er einen neuen Begriff vor: Spime.99 Wie die Verschmelzung von „space“ und „time“ deutlich macht, sind hier Dinge gemeint, die durch Zeit und Raum nachverfolgt werden können. „The SPIME is a set of relationships first and always, and an object now and then.“100 Mercedes Bunz bestätigt: „Wenn Dinge vernetzt werden, verändert sich ihre Dingheit. Sie bleiben nicht die gleichen.“101 Vernetzte Dinge sind nicht mehr nur sie selbst, sondern immer auch mehr als das. Sie sind keine einfachen Gebrauchsgegenstände mehr. Sie empfangen, kommunizieren oder übertragen Informationen. Mit Bezug auf Fritz Heider, aber auch auf Marshall McLuhan und Friedrich Kittler argumentiert Bunz, dass Dinge damit zu Medien werden. Seit Beginn des 21. Jahrhunderts äußere sich die immer unklarer werdende Grenze zwischen Medium und Ding auch deutlich in der Theoriebildung. Es bestehe in den Medienwissenschaften ein wachsendes Interesse an den Gemeinsamkeiten von Ding und Medium oder an der Dinghaftigkeit der Medien (material turn). Mit Gilbert Simondon argumentiert sie außerdem, dass vernetzte Dinge „offene Objekte“ seien.102 Je vernetzter, desto offener würden sie für Anpassungen – gemeint ist, dass sie sowohl von Nutzer*innen als auch von Hersteller*innen gleichermaßen bestimmt werden können. „Mehr als je zuvor ist der Benutzer eines vernetzten Dinges mit den Interessen und Intentionen von anderen konfrontiert, die sich vorher in der Phase der Benutzung der Dinge aus ihnen zurückgezogen hatten.“103 Erich Hörl bezieht sich ebenfalls auf Simondon, wenn er die vernetzte Dingwelt beschreibt, und identifiziert gleichermaßen einen Übergang vom geschlossenen zum offenen Objekt und damit eine neuartige „digitale, informations- und rechenintensive Umweltlichkeit neuer Medien“.104 Für Hörl bedeutet die emergente Dynamik zwischen den Dingen und ihre verteilte Wirkmacht eine „infrastrukturelle Revolution“105, die eine völlig neue Sinnkultur hervorbringe. „Die neue Sinnkultur des postsignifikativen technologischen Zeitalters, das auf die lange dauernde, durch die Technik der Schrift definierte Sinnkultur folgt, ist allgemein-ökologisch charakterisiert, ihre Beschreibung ist deshalb die Aufgabe einer allgemeinen Ökologie.“106 Hörls Begrifflichkeiten verweisen auf etwas, was in den Medienwissenschaften grundsätzlich seit der Jahrtausendwende beobachtet werden kann: Die technischen Ding-Netze werden mit Begriffen wie „environmental“, „ökologisch“ oder „umweltlich“ beschrieben.107 Die „Hyperkonnektivität und Komplexitätsexplosion“108, die Hörl zwischen Objekten identifiziert, ist anscheinend – darauf lässt die Terminologie in den Medienwissenschaften zumindest schließen – ebenso schwer zu fassen

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wie die komplexe biologische Umwelt. In den Medientheorien schlägt sich begrifflich die Erfahrung nieder, dass sich die Dinge nur noch schwer isolieren lassen. Für das Heidegger’sche Ding ist allerdings wesentlich, dass es isoliert erscheint; und so verliert ein offenes Objekt, dessen Grenzen nicht sichtbar und fassbar sind, Dingcharakteristika. Tatsächlich ist vernetzte Umwelt kein Gegenstand mehr, den man vor sich stellen, anschauen und aus Distanz begreifen könnte. Die Grenzen eines Dings im IoT sind, wie der medienwissenschaftliche Diskurs zeigt, nicht mehr sichtbar und fassbar, das Ding ist nicht mehr isolierbar. Ähnlich wie für „Anthropomorphe und intelligente Dinge“ gilt für „Vernetzte und adressierbare Dinge“, dass sie direkt mit dem Menschen und dessen Fähigkeiten verglichen werden und scheinbar mit ihm konkurrieren. Die Konkurrenz ergibt sich allerdings aus einem quantitativen Vergleich: 2011 wurde publik, dass bereits 2008 die Anzahl der vernetzten Dinge die Zahl an Menschen, die derzeit auf der Erde lebten, überstiegen habe, und 2020 bereits 26-mal so viele vernetzte Dinge auf der Erde existieren würden als Menschen.109 Bunz zeigt sich verwundert, dass quantitativ unterlegen zu sein Besorgnis errege, denn schließlich befänden sich auch Bäume, Quallen und Bleistifte dem Menschen gegenüber in der Überzahl, ohne dass dies bisher negativ aufgefallen wäre.110 Sie kommt zu dem Schluss, dass nicht die Quantität der Dinge selbst beunruhige. Vielmehr übe das Medien-Werden und die Offenheit der Dinge Unbehagen aus – also das „Wissen, dass immer noch jemand anderes dem eigenen Ding innewohnt“.111 Sobald die Dinge nicht mehr „Privatsprachen“ sprechen, sondern tatsächlich eigenständig miteinander kommunizieren, bilden sie eine autonome Dinggesellschaft, die aufgrund ihrer Umweltlichkeit kaum zu überblicken ist und sich damit der Kontrolle entzieht, oder, wie Natascha Adamowsky argumentiert: „Die Welt wird zu einem gigantischen transhumanen selbstreproduktiven System, das von Einzelwillen wie -körpern unabhängig funktioniert.“112 Es entsteht angesichts zunehmender Vernetztheit von autonom agierenden Dingen ein Gefühl der Machtlosigkeit. Aus der Konnektivität resultiert darüber hinaus eine neue Form der Intelligenz. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts wird an der Erschaffung komplexer Intelligenz durch vernetzte Systeme geforscht. Diese ist nicht mehr der Intelligenz eines einzelnen Menschen nachempfunden. Denn der Versuch der KI-Forschung, ein isoliertes, dem Menschen ähnlich intelligentes Wesen zu konstruieren, gilt bereits als gescheitert.113 Die Dinge im IoT sind nicht an sich intelligent oder auch nur quasiintelligent, sondern werden dies erst im Zusammensein mit anderen Dingen. „Ihre ‚smartness‘ beruht nicht auf der artifiziellen Intelligenz, die ihnen inhärent ist, sondern auf ihrer Konnektivität“114, so Bunz. Man hat es also nicht mit einer anthropomorphen, sondern mit einer explizit nicht-menschlichen, emergenten Intelligenz zu tun. Tatsächlich verwandelt sich ein smartes Ding schnell in einen einfachen Gegenstand, sobald es aus dem Netz gelöst wird – etwa das Smartphone, das unvernetzt gar nicht klug ist. Im Umkehrschluss gilt, dass vernetzte Dinge auf den ersten Blick vorgeben, weniger oder anderes zu sein, als sie es tatsächlich sind – ein ver-

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netztes Garagentor ist erst einmal einfach ein Garagentor. Hellige spricht von einer „Heimlichen Intelligenz“.115 Sprenger und Engemann stellen fest: „Einem vernetzten Ding kann man nicht ansehen, mit wem es vernetzt ist.“116 Die vernetzten Hybride aus Medium und Ding, die Bunz identifiziert, repräsentieren nicht mehr nur einfach Inhalte, wie es herkömmliche Medien taten. Sie sind vielmehr mit Sensoren ausgestattet und haben kognitive Fähigkeiten, die Mark Hansen als weltliches Empfindungsvermögen („worldly sensibility“) bezeichnet.117 Die Konkurrenz mit dem Menschen wird hier ein weiteres Mal offensichtlich. Die Dinge sammeln Daten, tauschen sie aus und treffen auf dieser Grundlage Entscheidungen. Ihre kognitiven Fähigkeiten beginnen denen des Menschen zu ähneln, ihre emergente Intelligenz jedoch übertrifft die eines einzelnen Menschen. Was bei jedem einfachen Computer schon der Fall war, nämlich dass seine Möglichkeiten die des Menschen übersteigen, gewinnt im vernetzten IoT eine neue Dimension. „Programmiert und konstruiert wird weiterhin von Menschen, doch unterlaufen die zeitlichen und operativen Prozesse im Internet der Dinge deren Kapazitäten“118, so Sprenger und Engemann. Durch das IoT gleichen Dinge dem Menschen nicht nur dadurch, dass sie vernetzte Gesellschaften bilden und mit kognitiven Fähigkeiten ausgestattet sind, sondern auch, da ihnen eine einzigartige Identität zugeschrieben wird. Sie haben ein individuelles Innenleben mit eigener, etwa durch RFID ermöglichten, nachvollziehbaren Historie. Während Menschen schon immer zeitlichen Prozessen unterlagen – sie sind nicht statisch, sondern immer in Veränderung begriffen – werden im IoT auch Dinge zu zeitgeprägten Individuen. Sterling argumentiert, dass Spimes in einer vernetzten Synchronic Society wandelbar seien und eine eigene dokumentierbare Geschichte entwickelten. Sie seien somit individuell. „The key to the SPIME is identity. A SPIME is, by definition, the protagonist of a documented process. It is an historical entity with an accessible, precise trajectory through space and time. A SPIME must therefore be a thing with a name. No name, no SPIME.“119 Katherine Hayles beschreibt, inwiefern RFID-Chips mit individuellen Adressen die Vorstellung von Individualität grundsätzlich verändern. Grenzen zwischen menschlicher und dinghafter Identität verschwimmen – und zwar in zwei Richtungen. „When each object has a unique identity, objects begin to seem more like individuals, and individual people become susceptible to being constituted as objects.“120 Das IoT besteht nicht nur aus leblosen Objekten. Es schließt den Menschen mit ein, der selbst Teil der vernetzten und adressierbaren Umwelt wird. Durch Wearables, ob smarte Kleidung, vernetzte Brillen, RFID-Implantate oder die smarten Telefone, mit denen Nutzer*innen regelrecht verschmelzen, wird der Mensch beinahe selbst zum dinghaften Werkzeug und quasi ebenbürtig mit anderen vernetzten Dingen. Er wird zur lokalisierbaren Datenquelle, seine Verhaltensmuster werden registriert und er wird ebenso wie die Dinge eine im Netz adressierbare Entität. Die Grenzen zwischen menschlicher und dinghafter Identität verschwimmen im IoT, weil die Dinge einerseits an Identität gewinnen und der Mensch a ­ ndererseits oft nur noch ebenbürtig

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mit den Dingen als Teil des Netzes registriert wird. Das IoT impliziert, wie Spenger und Engemann feststellen, „eine Ontologie, in der es nur das gibt, was vernetzt ist“.121 Zur Vision des IoT gehört die Vorstellung, dass die Realität ähnlich wie ein PDF-Dokument nach bestimmten Adressen durchsuchbar wird. Dabei bleibt zu bedenken, dass sich nicht alles durch Technik adressieren und individualisieren lässt. Vieles ist nur schwer in das IoT einbindbar. Was passiert beispielsweise mit Phänomenen wie Wasser oder Smog? Hier stellt sich nicht mehr nur die Frage, was überhaupt ein Ding ist, sondern außerdem, ob Dinge oder Phänomene, die nicht eingebunden sind, langfristig einfach nicht mehr als existent wahrgenommen werden.

2.1.5  Verlust von Widerständigkeit Der Status der Dinge ändert sich aus medien-, design- und kulturwissenschaft­licher Perspektive. Die Rede ist von Undingen, Halb-Dingen oder Nicht-Dingen. Zusammenfassend lassen sich aus den Diskursen um die neuen Dinge folgende Themenfelder extrahieren: •



Intransparenz: Dinge sind durch eine zunehmende technische Komplexität bestimmt. Zwei Trends zeichnen sich im gestalterischen Umgang mit der Komplexität ab: verbergen und vermenschlichen. Beide Umgangsweisen schaffen ein Innenleben der Dinge, das für Menschen kaum greifbar ist. Während das Innenleben der Dinge des Ubiquitous Computing und des IoT in einer möglichst niederkomplexen Dinghülle verborgen wird – eine smarte, vernetzte Uhr beispielsweise erscheint weiterhin unvernetzt als gewöhnliche Uhr –, wird bei anthropomorphen Dingen eine menschliche Hülle simuliert. Die Komplexität der Technik und damit deren tatsächliche Wirkmacht bleibt in beiden Fällen intransparent. Ununterscheidbarkeit: Besagte Intransparenz kann einerseits zu einer Ununterscheidbarkeit zwischen technisiertem und nicht-technisiertem Ding führen und andererseits Unterschiede zwischen Mensch und vermenschlichtem Ding irritieren. Beim Ubiquitous Computing und im IoT sollen die ­erweiterten Dinge, die als Medien funktionieren, wie gewöhnliche, analoge Dinge anmuten, obwohl sie es längst nicht mehr sind. Man hat es mit einer heimlichen Intelligenz oder zumindest einer heimlichen Wirkmacht zu tun. Bei vermenschlichten Dingen ist eine völlige Ununterscheidbarkeit (noch) nicht erreichbar und womöglich nicht das

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Ziel – sie wird hier sogar gefürchtet (Uncanny Valley). Robotiker*innen und Gestalter*innen von autonomen Systemen streben allerdings eine partielle Ununterscheidbarkeit an (Humanoide Interfaces, Humanoide Robotik). Diese neue Ähnlichkeit provoziert die Sorge, ein technisches Ding fälschlicherweise für einen Menschen zu halten oder von ihm ersetzt zu werden. Intuition: Die Interaktion mit den technisierten Dingen, soll intuitiv – oft über Gesten oder Sprache – passieren. Die eigene Aktion fällt den intuitiv handelnden Nutzer*innen dann allerdings kaum noch auf und findet womöglich unbewusst statt. Das Bestreben ist auf NUI gerichtet, durch die gewohnt gewordene Interaktionsformen genutzt werden, die normalerweise mit nicht-technisierten, gewöhnlichen Dingen und Menschen passieren. Das macht die Interaktionsformen allerdings noch lange nicht „natürlich“. Denn Gesten- und Sprachsteuerungen werden vom Menschen bewusst eingesetzt, adaptiert oder neu gestaltet. Sie haben menschliche Autor*innen und sind damit auch politische oder öko­ nomische Instrumente – darüber sollte der Begriff natural nicht hinwegtäuschen. Kontaktlosigkeit: Neben der intuitiven Interaktion, schwindet der physische Kontakt mit Dingen oftmals völlig. Identifiziert wurden eine Miniaturisierung der Geste, ein völliges Verschwinden der Geste und eine Theatralisierung der Geste. Bei der Interaktion mit technischen Dingen ist fast immer auch Kontakt- und Reibungslosigkeit das Ziel. Omnipotenz: Diese kontaktlose Interaktion erinnert an Allmachtsphantasien. Wunsch und Wunscherfüllung werden beinahe kurzgeschlossen – bei Handimplantaten oder Wearables erfüllt die intuitive Handbewegung den Wunsch, bei Brain-Computer Interfaces reicht allein der Gedanke an die Wunscherfüllung. Automatisierung: Darüber hinaus ist das IoT darauf ausgelegt, Wünsche zu erfüllen, noch bevor sie entstehen. Das Licht schaltet sich beispielsweise ein, sobald eine Person einen Raum betritt, ohne dass eine bewusste Aktion nötig wäre. Keine Eigeninitiative der Nutzer*innen ist vonnöten, sondern antizipierendes Erkennen und Auswerten durch die Technik. Die Vollautomatisierung wandelt das Technikverhältnis vom Kontrollieren durch den Menschen zu einem passiven Geschehenlassen.

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Bemächtigung: Sowohl bei Dingen des Ubiquitous Computing als auch bei anthropomorphen Dingen scheinen die Dinge vom Menschen neu annektiert zu werden. Menschen hauchen diesen technischen Dingen Leben ein. Es lässt sich diskutieren, ob diese Form der Bemächtigung nicht grundsätzlich alle Artefakte trifft, auch die analogen. Bei vermenschlichten Dingen gewinnt die Aneignung allerdings eine neue Dimension. Die Dinge sprechen plötzlich im wahrsten Sinne des Wortes die menschliche Sprache. Die menschliche Erscheinung der Dinge und die vermenschlichten Interaktionsmöglichkeiten erinnern – mit Blick auf die von Selle und Böhme beschriebene stumme Widerständigkeit der Dinge – an eine Art der „Zähmung“. Simulation: Die Vermenschlichung von Dingen kann allerdings auch als eine Strategie zur Selbstreflexion nützlich werden. Wer Menschen simuliert, lernt den Menschen kennen. Das Nichtsimulierbare und explizit Menschliche wird sichtbar. Hierarchielosigkeit: Es entstehen neue Konkurrenzverhältnisse zwischen Menschen und Dingen. Dies ist nicht nur bei anthropomorpher und intelligenter Technik der Fall – Mensch vs. Roboter, Mensch vs. Algorithmus –, sondern auch bei vernetzter Technik. Im IoT ist der Mensch plötzlich ähnlich wie das Ding nur noch ein Bestandteil von vielen in einer vernetzten Mensch-Ding-Gesellschaft. Eine gewohnte anthropozentrische Hierarchie steht damit zur Disposition. Umweltlichkeit: Die Dinge im IoT existieren nicht selbstständig, sondern sind vernetzt und offen und somit kaum handhabbar. Die komplexen Ding-Netzwerke übersteigen die menschliche Auffassungsfähigkeit. Es entsteht ein neues Unbehagen und das Gefühl von Kontrollverlust über die vernetzten Dinge.

Vor dem Hintergrund der Überlegungen zum widerständigen Objekt aus dem ersten Kapitel dieser Arbeit wird deutlich, warum von Dingen die Rede ist, die eigentlich keine mehr sein können. So sind aus Perspektive der Materiellen-Kultur-Forschung Dinge gerade durch ihre Passivität und Schweigsamkeit auffällig. Ihre Stofflichkeit und ihr Eigengewicht, kurz: ihre Widerständigkeit, machen sie zum Ding. Im Heidegger’schen Sprachgebrauch sind Dinge sogar nur dann Dinge, wenn sie sich aus dem Zeugganzen lösen. Die technisierten Dinge, von Design- und Medienwissenschaftler*innen auch als Undinge, Halb-Dinge, Nicht-Dinge, Spiegel oder Spimes bezeichnet, lassen sich dagegen kaum isolieren, ihre Grenzen sind

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unbestimmt, sie sind oftmals schwer von anderen Dingen und auch vom Menschen abgrenzbar, sie simulieren und imitieren Menschen oder passen sich an das Verhalten und die Bedürfnisse ihrer Nutzer*innen an. Sie sind offen, unsichtbar, flexibel, responsiv, dem Menschen ähnlich. Sie sind nicht durch die dinghafte Wider­ ständigkeit gekennzeichnet, die im ersten Kapitel diskutiert wurde. Sie sind keine dem Menschen entgegengesetzten Gegenüber. Wenn sich der Grad der Widerständigkeit, Fassbarkeit und Andersartigkeit der den Menschen umgebenen Artefakte wandelt, hat das direkte Auswirkungen auf das Konzept von Subjektivität, auf Selbstreflexion und Selbstbewusstsein; schließlich ist das Subjekt, wie deutlich wurde, ein bedingtes Subjekt. Mit den (entwicklungs-)psychologischen Überlegungen von Freud und Piaget lässt sich eine ReTotalisierung von Subjekt und Objekt durch Technik bzw. durch das Design von Technik herleiten und begründen. Tatsächlich wird die Feststellung von Piaget, dass das rezipierende Subjekt erst lernen müsse, anders als die Außenwelt und unabhängig von ihr zu sein, durch anthropomorphe und mit dem Subjekt verwobene Technik beinahe konterkariert. Technik, die die menschliche Sprache spricht, täuscht eine tatsächlich nicht vorhandene Ähnlichkeit zum Menschen vor und wandelt damit Grenzerfahrungen. Technik, die gestenbasiert steuerbar ist, schafft eine beinahe magische Verbindung zwischen Subjekt und Objektwelt. Das Äußere und das Innere, der Wille und die Reaktion in der Außenwelt verschmelzen. Diese Indifferenz von innen und außen und von Subjekt und Objekt erinnert deutlich an den von Freud und Piaget identifizierten frühkindlichen Einheitszustand – an das sogenannte „Magische Denken“122. Während das Kind die Augen schließt und so glaubt, die Welt zum Verschwinden gebracht zu haben, erlischt die technologischreaktive Umwelt, sobald Bewohner*innen ihr Smart Home verlassen. Sie glauben zwar nicht wie die von Piaget befragten Kinder, den Mond zu steuern, sind aber durch Technik wie Reemo tatsächlich in der Lage, ihre Umgebung, etwa die Raumtemperatur, die Beleuchtung oder die Musik allein durch berührungslose Gesten oder die eigenen Körperbewegungen zu manipulieren. Während das Kind fälschlicherweise davon ausgeht, die Welt durch die eigenen Augen verändern zu können, könnte eine derartige Steuerung durch weiterentwickelte, smarte Kontaktlinsen tatsächlich möglich werden. Die Parallelen zwischen dem frühkindlichen Einheitszustand bei Freud und Piaget und den durch Technik hervorgerufenen MenschUmwelt-Interaktionen sind offensichtlich. Neue technische Umwelten erzeugen einen neuartigen Differenzierungsprozess. Neue Dinge schaffen eine neue Bedingung des Subjekts.

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2.2  SUBJEKTIVITÄT UNTER TECHNOLOGISCHER BEDINGUNG AUS MEDIENWISSENSCHAFTLICHER PERSPEKTIVE 2.2.1  Das bedrohte autonome Subjekt In den Medienwissenschaften wird das kritische, selbstreflexive Subjekt vor dem Hintergrund der technischen Entwicklungen als im Wandel oder aus Perspektive einiger Medienwissenschaftler*innen gar als bedroht erachtet. Prozesse der Welt- und Selbsterkenntnis scheinen sich unter Voraussetzung der Technik des 21. Jahrhunderts zu verändern oder nur noch erschwert möglich. Im Folgenden werden technikphilosophische und medienwissenschaftliche Positionen vorgestellt, die aus emanzipationstheoretischem Interesse nach Freiheits- und Handlungsmöglichkeiten des technologisch bedingten menschlichen Subjekts fragen. Sie sehen das menschliche Subjekt durch Technik vor allem bedroht, da Widerstandserfahrungen schwinden. Diese Ansätze sind verwandt mit technikpessimistischen Perspektiven, die Technikdependenz, technologische Ökonomisierung, Technikpaternalismus, den Verlust von Privatsphäre und Datenschutz, den Verlust von Souveränität oder das prometheische Gefälle123 zwischen Mensch und Technik problematisieren.124 Christoph Hubig, der die technische Entwicklung durch Ubiquitous Computing aus ethischer Perspektive betrachtet, sieht eine schwindende Transparenz und Widerständigkeit als fundamentales Problem für die Handlungsmöglichkeiten des menschlichen Subjekts. Hubig argumentiert aus Perspektive der von ihm so genannten „Ermöglichungsethik“, die er als Kern der Technik- und Medienethik erachtet. Gemeint ist eine Ethik, die sich mit der Ermöglichung selbstbestimmten Handelns und der Autonomie des menschlichen Subjekts befasst. Hubig fragt, inwiefern Technikphänomene wie die des Ubiquitous Computing „basale Voraussetzungen des Handelns, nämlich die Identität der Subjekte und ihr bewusstes Entscheiden zu fördern oder einzuschränken vermögen“.125 Er sieht durch Ubiquitous Computing einen fundamentalen Wandel ausgelöst: Während der ‚klassisch‘ Handelnde – die holzschnittartige Unterscheidung sei erlaubt – sich mit jedem Vollzug seine eigene Wirklichkeit schaffte und durch Erlebnisse des Misserfolgs und der Enttäuschung an der Widerständigkeit dieser Wirklichkeit oder an sich selbst im Weiteren arbeitete, sieht sich der Akteur in ubiquitären Systemen bereits einer verfertigten ‚informierten‘ Wirklichkeit gegenüber.126

Diese informierte, an das Subjekt angepasste Wirklichkeit gilt in den Debatten um das IoT immer wieder als problematisch, sobald ethische und politische Fragen aufgeworfen werden. So vermutet auch Natascha Adamowsky, dass das IoT, in dem Dinge sich nicht als widerständig erweisen, sondern sich an menschliches Verhal-

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ten anpassen und den Menschen dadurch in eine Abhängigkeit bringen, ein Bewusstsein über das eigene Selbst verunmöglichen könnte: „An die Stelle der kulturpsychologischen Praxis, mit Hilfe von Dingen zentrale Aspekte des menschlichen Selbstbewusstseins und einer persönlichen Identität auszubilden, würden uns die Dinge passgenaue Persönlichkeitsportfolios erstellen und unsere digitalen Profile auf sozialen Plattformen automatisch verwalten.“127 Auch Michael Friedewald sieht die Antizipation von menschlichen Bedürfnissen durch Dinge und den darauffolgenden Abbau von Widerstandserfahrungen als ein neues Problem für die Subjektbildung. Zwar strebe jede neue Technik den Abbau von Widerstandserfahrungen an, doch bisher sei noch nie die komplexe Lebenswelt selbst von Widerständen bereinigt worden.128 Er diagnostiziert „den Wegfall produktiver Widerstandserfahrungen, die für die Herausbildung individueller Identität sowie die Entwicklung und Anpassung individueller Kompetenzen unverzichtbar sind“.129 Ganz ähnlich folgert Hubig, dass ein Sich-ins-Verhältnis-Setzen durch Ubiquitous Computing erschwert werde. Prozesse – Hubig spricht von Informationsaufnahme, -austausch und -nutzung – würden an die Technik delegiert. Der Mensch werde automatisiert und ohne sein bewusstes Zutun entlastet. Handlungsoptionen seien gar nicht erst sichtbar, entsprechend könnten Angebote der Systeme weder angenommen noch abgelehnt werden. Handeln werde zum reinen Agieren. Hubig problematisiert also nicht nur die an Nutzer*innen angepasste und bereinigte Wirklichkeit, sondern auch die Unklarheit über das Zustandekommen derselben. Die Intransparenz verunmögliche es, Konflikte auszutragen. „Das bringt zwangsläufig Kompetenzverluste sowohl der Entwickler als auch der Nutzer mit sich, da sich ein Medium nur über seine Widerständigkeit als solches zeigt.“130 Hubig macht deutlich, dass nicht nur die Nutzer*innen von einer Entscheidungsunfähigkeit betroffen seien, sondern die Entwickler*innen ebenso, die „zauberlehrlinghaft“ zunehmend selbst die Kontrolle verlieren würden. Aus ethischer Perspektive akzeptabel seien diese Systeme nur, „wenn die Anerkennung bestimmter Herrschaftsformen bewusst vollziehbar oder beendbar bleibt und so sowohl Gestalter wie Nutzer ihren Subjektstatus als gesichert erachten können.“131 Damit ubiquitäre Systeme in ihrer Funktion zu entlasten nicht den Optionswert des Handeln-Könnens verletzten, müssten die Medien Spuren hinterlassen. Diese Spuren müssten neben der Mensch-System-Kommunikation in einer Art Parallelkommunikation freigelegt werden, um Transparenz zu stiften.132 Widerständigkeit muss laut Hubig parallel hergestellt werden, damit kritischer Abstand zwischen Medium und Mensch und damit die Voraussetzung für selbstbestimmtes Handeln gegeben ist. An Hubigs Forderung nach Transparenz der Art der Vernetztheit und damit zusammenhängend die Forderung nach Wahlfreiheit über den Status der Dinge – ans Netz angeschlossen oder nicht, smart oder nicht – schließen sich auch weitere Medienwissenschaftler*innen an. Transparenz und Wahlfreiheit sind grundsätzlich Angelpunkte in den emanzipationstheoretischen Diskursen um Ubiquitous Computing bzw. um das IoT.133

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Nicole Karafyllis, die sich mit Verinnerlichungsprozessen des Technischen – etwa mit Neuro-, Nano- und Biotechniken – befasst, problematisiert ebenfalls Freiheits-, Gestaltungs- und Reflexionsverlust des menschlichen Subjekts. Technische Exteriorität wandele sich in eine technische Interiorität, die die Selbstvergewisserung des Menschen erschwere: Denn der Mensch bekommt erst eine eigene Wirklichkeit durch eine subjektive Widerstandserfahrung, und zwar wenn er an der Widerständigkeit der Umwelt für die Verfolgung seiner Zwecke zunächst scheitert – eine Erfahrung, die ihn zum individuellen Techniker und Gestalter seines Lebens werden lässt.134

Diese Selbstvergewisserung sei Fundament einer aufklärerischen Gesellschaft: „In aufklärerischen Gesellschaften ist es das Ziel der Freiheit, das mittels der Selbstbewusstwerdung angestrebt wird. Wichtig ist, dass dieser Prozess stets auch vergegenständlichter Korrelate bedarf, auf die er sich (formal äußerlich) beziehen kann.“135 Ähnlich wie in den zuvor in dieser Arbeit dargestellten Diskursen über unauffällige und vernetzte Technik sind bei Karafyllis das Problem der Nicht-Erfahrbarkeit des Technischen und der Verlust von Widerständigkeit der Außenwelt zentrale Argumente. Karafyllis erachtet Neuro-, Nano- und Biotechniken als Bedrohung. Sie argumentiert nach eigener Aussage „in aufklärerischer Absicht“136. Aus dieser Perspektive muss Technisches grundsätzlich etwas Äußeres, Unüberwindbares, Widerständiges bleiben, um kritische Subjekte zu ermöglichen. Hubig, Adamowsky, Friedewald und Karafyllis nehmen die unklaren Grenzen zwischen Mensch und Technik als Problem wahr. Ihrer Argumentation unterliegt unausgesprochen ein Plädoyer für einen Sonderstatus des menschlichen Subjekts. Ein kritisches Subjekt, das Abstand zu den es umgebenden Dingen bzw. zu der es umgebenden technischen Umwelt halten kann, soll, wie es scheint, bewahrt oder ermöglicht werden. Diese Argumentation steht in aufklärerischer Tradition. Der Abstand zwischen Subjekt und Objekt gilt als Bedingung für die Kritikfähigkeit des Subjekts.

2.2.2  Kollektive Subjektivität Neben den aufklärerischen medienwissenschaftlichen Positionen existiert außerdem ein medienwissenschaftlicher Diskurs, in dem die Frage nach Subjektivität ganz neu gestellt wird. Mit ontologischen Betrachtungen und dem Versuch einer grundsätzlichen Neuorientierung von Seinsweise verschiebt sich der Fragehorizont. Derartige Überlegungen zur Subjektivität stellen Erich Hörl, Mark B. N. Hansen und Katherine Hayles an. Hörl argumentiert, dass ein seit Ende des 19. Jahrhunderts einsetzender Prozess der Kybernetisierung eine grundsätzlich neue, nämlich eine „technologische

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Bedingung“ für das Subjekt mit sich bringe.137 So habe sich ein Wandel von technischen zu techno-logischen Weltzusammenhängen vollzogen, in denen Technik nicht mehr als Kompensation menschlichen Mangels gedacht werden könne. 138 Ein altes, prothetisches Technikverständnis, das Technik als Erweiterung des Menschen und den Menschen als ausstattungsarmes und unabgeschlossenes Lebewesen bestimmte, sei unter technologischer Bedingung nicht mehr haltbar. Diese werkzeughaften und instrumentellen Seinsverhältnisse „basierten auf einem grundsätzlich negativen Weltbezug des arbeitenden Subjekts, das aus einer unhintergehbaren Bedürftigkeit heraus die Gegebenheiten stets verneinen und transformieren muss.“139 Damit sei auch das Konzept von Arbeit, das ein aktives Subjekt impliziere, welches passive, zuvor sinnlose Materie in sinnvolle Objekte transformiere, überholt: In kybernetischen Verhältnissen in denen die Formung von Objekten als Kernaktivität menschlicher und nicht-menschlicher Akteure zurücktritt – und dies ist ein ganz entscheidendes Charakteristikum der technologischen Bedingung –, verschiebt sich zugleich auch der Status und Sinn von Objekten als solchen, also das, was Objekt überhaupt heißt, und zwar hin zu systemischen, aktiven, intelligenten und kommunizierenden Objekten. Diese Verschiebung bringt folgenreiche Neubestimmungen unserer gesamten objektiven Verfassung und des Platzes, den wir als Subjekte darin einnehmen, mit sich.140

Nicht mehr Arbeit, sondern technische Aktivität bestimme die technologische Sinnkultur. Diese Aktivität sei „verteilte Handlungsmacht, gar nicht mehr zurechenbar auf die Einheit eines Akteurs, eines Subjektes, eher Ausdruck einer zerstreuten […] ökotechnologischen Subjektivität.“141 Wie schon zuvor in Kapitel 2.1.4 dieser Arbeit gezeigt, veranlassen die Hyperkonnektivität und Komplexitätsexplosion der Technik seit den 1980er Jahren – Hörl verweist auf Nano- und Biotechnologien, RFID und das IoT, aber auch explizit auf Weisers Ubiquitous Computing und Calm Technology – dazu, die technischen Verhältnisse mit Begriffen der Ökologie zu beschreiben. Hörl identifiziert neben der „ökotechnologischen Subjektivität“ zunehmende „Environmentalität“ bzw. „Umweltlichkeit“142 als Grundzug der „technologischen Bedingung“ und postuliert eine „Allgemeine Ökologie“143. Schließlich zeichne sich die Wirklichkeit durch emergente, in die Umgebung verteilte, kollektive und technisch-mediale Subjektivierungsmilieus aus. „Im Kern der allgemein-ökologischen Frage geht es um die Beziehung von Subjektivität und ihrer Exterioriät, die auf technologischer Basis grundsätzlich neu zu verhandeln steht.“144 Auch Hansen sieht vor Hintergrund der technischen Entwicklungen die Notwendigkeit einer grundsätzlichen Neubestimmung. Um menschliche Subjektivität innerhalb einer vernetzten Realität zu fassen, müssten wir eine radikal umweltliche Perspektive einnehmen.145 Aus dieser Sichtweise folgert er eine radikale Verall­

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gemeinerung von Subjektivität. Der Mensch, der nicht mehr gesondert einer medialen Welt gegenüberstehe, könne auch nicht mehr autonom und alleinig als Subjekt begriffen werden. Menschen seien vielmehr Subjektivitäten höherer Ordnung, die auf Subjektivitäten niedriger Ordnung basierten. In Anschluss an den Philosophen Alfred North Whitehead, auf dessen spekulativen Empirismus sich Hansen in seinen Publikationen bezieht, bezeichnet er sowohl Menschen als auch Nicht-Menschen in medialen Umwelten als Teile einer verwobenen Gesellschaft: In our interactions with twenty-first-century atmospheric media, we can no longer conceive of ourselves as separate and quasi-autonomous subjects, facing off against distinct media objects; rather, we are ourselves composed as subjects through the operation of a host of multi-scalar processes, some of which seem more ‚embodied‘ (like neural processing), and others more ‚enworlded‘ (like rhythmic synchronizations with material events). In today’s media environments, that is, subjectivity is neither set off against a (media) object world, nor different in kind from the microprocesses that inform it. It is, rather a certain organization – what philosopher Alfred North Whitehead calls a ‚society‘ – of other, more elemental processes, all of which are subjective in their own right.146

Whitehead räume dem Menschen als Subjekt keinen Sonderstatus ein, denn sowohl Subjektivität als auch Objektivität bestimme sich relational, so Hansen. Bei Whitehead existierten nicht entweder objektive oder subjektive Erfahrungsereignisse, sondern für das Ereignis relevante Sichtweisen, die bestimmen, ob etwas als subjektiv oder objektiv gelte.147 Hansen distanziert sich von der medienphilosophischen Annahme, dass Medien subjektive Erfahrungen verunmöglichen und bezeichnet diese Anschauung als nostalgisch. Zwar würden die Medien des 21. Jahrhunderts – gemeint sind „atmosphärische“, vernetzte Medien, zu denen für ihn beispielsweise Smartphones und Bewegungssensoren gehören148 – eine gewaltige Ausdehnung des Empfindungsvermögens erzeugen und der Mensch habe damit nicht mehr das alleinige Vorrecht auf komplexes Empfinden – Hansen spricht von „worldly sensibility“ – doch damit stehe nicht das Empfinden des Menschen grundsätzlich auf dem Spiel. Hansen argumentiert, dass menschliches Empfinden dezentral verstanden werden müsse.149 Menschliche Subjektivität verliere durch nichtmenschliche Subjektivität nicht an Macht, sondern erlange Macht gerade durch die Mitteilhabe an der Handlungsmacht anderer Subjektivitäten.150 Hayles, die sich ebenfalls mit der technologischen Entwicklung und dem ontologischen Konzept von Subjektivität befasst, sieht in den neuen Objekten nicht nur eine politische Herausforderung, sondern auch die Chance „for shedding the burden of leng-held misconceptions about cognition and moving to a more processual, relational and accurate view of embodied human action in complex environments.“151 Ähnlich wie Hansen beschreibt Hayles die durch RFID geprägte Dingwelt als ein erweitertes kognitives System („distributed cognition“), in dem die mensch-

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liche Wahrnehmung und Aufmerksamkeit nur noch ein Bestandteil von vielen weiteren ist. Diese medienwissenschaftlichen Positionen, die bedingt durch technische Entwicklungen eine Neuverteilung von sensorischem Vermögen, Aktivität und Handlungsmacht identifizieren, weisen, wie sich im Verlauf der Arbeit zeigen wird, Parallelen zum Neuen Materialismus und der dort verhandelten Auflösung von Subjekt-Objekt-Dichotomien auf.

2.2.3  Zwei Forschungsperspektiven auf das Subjekt In den Medienwissenschaften und auch in der Technikphilosophie lassen sich zwei Perspektiven auf das menschliche Subjekt beobachten. Das Subjekt wird durch technische Innovationen entweder als bedroht erachtet oder aber Subjektivität wird völlig neu definiert. Im ersten Fall werden technische Phänomene wie das Ubiquitous Computing als problematisch gewertet, da durch diese Transparenz und damit Widerständigkeit – aus aufklärerischer Sicht Bedingungen für kritische Subjektivität – verloren scheinen. Hier wird an einem schützenswerten, dem Menschen vorbehaltenen Subjektbegriff festgehalten. Dabei wird auch technikdeterministisch argumentiert, denn es wird eine Macht der Technik über das Subjekt identifiziert, die reguliert werden soll. Die Sorge, dass der Mensch reiner Technik- oder Medieneffekt wird oder werden könnte, findet Beachtung. Dieser Argumentation scheint die Idee eines autonomen menschlichen Subjekts zugrunde zu liegen – nur das, was autonom existiert, kann in seiner Autonomie bedroht werden – und damit auch die Möglichkeit der Trennung von Subjekt und Technik. Die zweite medienwissenschaftliche Sicht auf das Subjekt impliziert ein neues Subjektverständnis. Hörl, Hansen und Hayles sehen den Subjektstatus nicht mehr nur an den Menschen gebunden. Durch technische Phänomene wie das Ubiquitous Computing bestehe eine Kollektive Subjektivität, die auch die Technik einschließe. Dieser Umstand wird allerdings nicht problematisiert. Der Mensch sei immer auch Technik- oder Medieneffekt. Technik wandele alle Bezüge und schaffe für den Menschen eine grundsätzlich neue Bedingung. Menschliche Subjektivität sei damit allerdings nicht grundsätzlich gefährdet, sie ändere sich nur. Die Unterschiede der beiden medienwissenschaftlichen Argumentationslinien resultieren aus ihren grundsätzlich anderen Forschungsperspektiven – während die Vertreter*innen der ersteren ethische Konsequenzen der Technik in direkter Mensch-Maschine-Interaktion befragen und praktisch nach Handlungsmöglichkeiten suchen, untersuchen Hörl, Hansen und Hayles ontologische Konsequenzen.

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2.3  DER NEUE MATERIALISMUS ALS NICHT-­ ANTHROPOZENTRISCHE NEUORIENTIERUNG Die medienwissenschaftliche Auseinandersetzung mit umweltlicher Subjektivität in technologischen Umwelten fügt sich ein in ein populäres Forschungsfeld unterschiedlicher Disziplinen.152 Gemeint sind Positionen, die nicht mehr nur dem Menschen Handlungsmacht oder gar Subjektstatus zuschreiben, sondern sämtliche Entitäten vor jeder Kategorisierung als wirkmächtig betrachten. Durch diese posthumanistischen und nicht-anthropozentrischen Perspektiven wird dem Materiellen und Dinghaften eine besondere Aufmerksamkeit für die Beteiligung an sozialen Prozessen geschenkt. Materie wird nicht als an sich gegeben und in sich geschlossen verstanden, sondern als selbstorganisierend, aktiv und emergent.153 Die neue Denkrichtung wird in Abgrenzung zu älteren Ausprägungen des Materialismus, in denen Materie als passiv und stabil gedacht wird, unter der Bezeichnung des Neuen Materialismus154 verhandelt. Zu den Vertreter*innen zählen unter anderen Manuel DeLanda, Rosi Braidotti, Tim Ingold und Brian Massumi. Bruno Latour, der als Vertreter der ANT bekannt ist, wird ebenfalls oft hinzugezählt.155 Zudem prägte die Physikerin und feministische Wissenschaftstheoretikerin Karen Barad den Neuen Materialismus. Der Neue Materialismus bedeutet eine Neuorientierung für die Sozial- und Kulturwissenschaften. Den heterogenen Positionen ist gemein, dass sie vor allem eine sozialkonstruktivistische Sozial- und Kulturtheorie ablehnen. Insbesondere der Repräsentationalismus und der linguistische Konstruktivismus stehen in Kritik.156 Der Neue Materialismus provoziert in den Kulturwissenschaften oftmals insofern, als er auf Naturwissenschaften und nicht auf Sozialtheorien basiert. Für die Vertreter*innen besteht die Welt aus sogenannten „Assemblagen“ oder „Geflechten“. Gemeint sind Netzwerke, die sich allerdings nicht aus isolierten Entitäten herausbilden. Entitäten existieren aufgrund der Netzwerke oder wie Barad feststellt: „Die Wirklichkeit besteht nicht aus Dingen-an-sich oder Dingen-hinter-den-Phänomenen, sondern aus Dingen-in-den-Phänomenen.“157 Im Folgenden werden die Perspektiven von Latour und von Barad vorgestellt. Sie sind besonders relevant für diese Arbeit, da sie nicht nur Subjektivität, sondern explizit Begrifflichkeiten wie „Kritik“ und „Verantwortung“ neu definieren.

2.3.1  Mischwesen und der Begriff der Kritik in der Akteur-NetzwerkTheorie Eine der bekanntesten Subjekt-Objekt-Revisionen ist die Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT), die maßgeblich von dem Wissenschafts- und Techniksoziologen Bruno ­Latour, aber auch von Michel Callon und John Law geprägt wurde. Die ANT ist eine

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Kritik158 der Moderne, genauer eine Kritik an der von Latour identifizierten „Verfassung der Moderne“. Diese trennt laut Latour Natur159 und Gesellschaft oder Objekt und Subjekt durch sogenannte „Reinigungsarbeit“ und ignoriert die eigentlich bestehenden – und sogar von den Modernen selbst konstruierten – Hybriden zwischen den letztlich fiktiven Kategorien. „Die Verbindung von Reinigungs- und Vermittlungs­ arbeit hat die Moderne hervorgebracht, aber nur in ersterer sehen sie die Ursache ihres Erfolges.“160 So werde durch das moderne Denken eine Vermischung der Kategorien geleugnet, während in der Praxis unaufhörlich „Mischwesen“ konstruiert würden. Hybride zwischen Natur und Gesellschaft oder Objekt und Subjekt hätten sich in der Moderne beinahe unbemerkt vermehrt. Die Verfassung trenne und annulliere die Trennung in einem Zuge. Sie erlaube damit eine Argumentation, die sich selbst widerspreche, da sie mal so, mal so ausgelegt werde und damit unbesiegbar sei.161 Die Dichotomien in der Verfassung seien nur möglich, da Reinigungsarbeit und die parallel stattfindende Vermittlungsarbeit nie zusammen betrachtet würden.162 Latour bezweckt allerdings nicht, die Moderne zu modernisieren, zu überwinden oder abzuschaffen. Er wendet sich explizit auch von der Post- oder Antimoderne ab, durch die das Denken der Moderne grundsätzlich anerkannt werde – schließlich könne man nur bekämpfen, was man als existent erachte. Antimodernes und postmodernes Denken sei ebenso Selbstbetrug oder Fiktion wie das moderne Denken selbst, da es genauso auf Basis der dualen Kategorien funktioniere. Statt also die Moderne zu bekämpfen, bestreitet Latour, dass eine Trennung stattgefunden habe. Wir seien nie modern gewesen. Er proklamiert eine Amoderne oder NichtModerne. „Ich behaupte nicht, daß wir in eine neue Ära eintreten. Im Gegenteil, wir müssen nicht länger die verzweifelte Flucht der Post-Post-Postmodernisten fortsetzen.“163 Statt nun die mechanistische Natur, zu der auch die Technik zählt, von der Gesellschaft, die dem modernen Denken nach aus autonomen Handlungssubjekten besteht, zu trennen, schlägt Latour vor, anzuerkennen, dass keine dichotomen Kategorien existieren. Probleme, ob ökologische oder technologische, können laut Latour nicht entweder seitens Gesellschaft/Politik/Subjekt oder seitens Natur/Technik/Objekt gelöst werden, sondern nur von beiden Seiten gemeinsam. Wir dürften die „Mischwesen“ nicht ignorieren: Wenn man aber von Embryonen im Reagenzglas, Expertensystemen, digitalen Maschinen, Robotern mit Sensoren, hybridem Mais, Datenbanken, Drogen auf Rezept, Walen mit Funksendern, synthetisierten Genen, Einschaltmeßgeräten, etc. überschwemmt wird, wenn unsere Tageszeitungen all diese Monstren seitenweise vor uns ausbreiten und wenn diese Chimären sich weder auf der Seite der Objekte, noch auf der Seite der Subjekte, noch in der Mitte zu Hause fühlen, muß wohl oder übel irgend etwas geschehen.164

Durch die ANT soll der Natur ihre Sozialität zurückgegeben werden. Gemeint ist, auch nicht-menschliche Entitäten als Beteiligte an sozialen Prozessen zu verstehen, etwa das Mobiliar eines Büros beteiligt am Arbeitsklima eines Unternehmens. Das

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Soziale ist im Sinne der ANT stets im Wandel und muss permanent vollzogen werden, damit es sich nicht auflöst. Es ist ein Prozess, eine stetige Aktion. Dabei sei die Frage, wie etwas ist und nicht, was etwas ist, relevant – und hier schließt Latour alles Nicht-Menschliche gleichberechtigt mit ein. Provokant stellt er fest, dass eine „Soziologie des Sozialen“ (gemeint ist die tradierte Soziologie seit Max Weber, ­Georg Simmel und Émile Durkheim) die das Nicht-Menschliche vernachlässige, eher für die Beschreibung von Pavianen geeignet sei als für die des Menschen.165 Schließlich sei für den Menschen charakteristisch, dass er im Gegensatz zu Primaten soziale Beziehungen und Interaktionen durch Dinge erhärte. Ohne diese Dinge – und seien es noch so unterschiedliche wie Geschenke, Mobiliar, Verkehrsschilder, Uhren oder Telefone – würde die gegenwärtige menschliche Gesellschaft schlicht zusammenbrechen. Latour führt für nicht-menschliche Entitäten zahlreiche Begrifflichkeiten ein, die zuvor nur zur Beschreibung von Menschen verwendet wurden: Dinge sind in der ANT „handlungsfähige“ Entitäten und werden ebenso wie Menschen als Akteure bzw. „Aktanten“166 begriffen. Akteure brauchen, anders als moderne Subjekte, bei Latour keinen freien Willen, kein Selbstbewusstsein und keine Intentionalität mehr, um als Subjekte zu gelten. Unter dem Begriff Skript versteht Latour das, was in ein Ding eingeschrieben ist und die spezifischen Handhabungen und Bewegungsabläufe mit Dingen bestimmt, und er verwendet den Begriff bezeichnenderweise synonym zu „Intention“ und „Wille“.167 Das Skript der Dinge sei für deren Eigenlogik verantwortlich. So kann man etwa mit einem Hammer Nägel in eine Wand schlagen oder einen Tisch zerstören, aber es ist nicht möglich, mit ihm Schrauben zu ziehen. Durch ihre Skripte seien Artefakten sogar Normen oder gar Moral eingeschrieben. „Jedes Artefakt hat sein Skript und das Potential, einen Passanten aufzuhalten und zu zwingen, in seiner Geschichte eine Rolle zu übernehmen.“168 In der ANT werden also alle Ursachen mit einer Wirkung als Akteure bezeichnet, denn sie besitzen alle, ob menschlich oder nicht-menschlich, Skript/ Wille/Intention. Damit legt die ANT klassische Handlungsmodelle ad acta. Alles, was als Widerstand Handlungen brechen oder beeinflussen kann und damit Handlungswege formt, ist laut ANT handlungsfähig.169 Für dieses Formen der Handlung verwendet Latour auch den Begriff Übersetzung.170 Die vielen unterschiedlichen Akteure, die an einer spezifischen Handlung beteiligt sind, betreiben Übersetzungsarbeit. Dabei entstehen Konflikte und Netzwerke zwischen den Akteuren. „Übersetzungsketten treten an die Stelle einer starren Opposition zwischen Kontext und Inhalt; sie verweisen auf die Arbeit, durch die Akteure ihre unterschiedlichen und widersprüchlichen Interessen gegenseitig verändern und verschieben und übersetzen.“171 Durch das Aufeinandertreffen von Akteuren entstehe etwas Neues, denn Übersetzung sei „Verschiebung, Driften, Erfindung, Vermittlung, die Erschaffung eines Bindeglieds, das zuvor nicht existiert hatte und das zu einem gewissen Grad zwei Elemente oder Agenten modifiziert.“172 Am Beispiel des Waffengebrauchs verdeutlicht Latour, wie Übersetzungsarbeit zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren abläuft. Hierzu karikiert er

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zwei Standpunkte zum Verhältnis von Mensch und Waffe, die für ihn typisch modern sind: Aus Perspektive der Materialisten töten Waffen Menschen. Die Waffe wird verantwortlich gemacht, wenn eine bislang völlig unauffällige Person Amok läuft. Folge man dieser Haltung, so Latour, müsse der freie Waffenverkauf verboten werden. Aus der zweiten Perspektive, die er der Soziologie zuschreibt, tötet nicht die Waffe, sondern der Mensch. Der Mensch mit böser Absicht hätte so oder so getötet, die Waffe ist nur sein an sich neutrales Werkzeug. Grundlage für dieses Denken sei die Vorstellung von einem autonomen Subjekt, das allein verantwortlich für Handlungen sei. Beide Vorstellungen seien auf gleiche Weise irreführend. „Die beiden Mythen vom neutralen Werkzeug unter vollständiger menschlicher Kontrolle und vom autonomen Geschick der Technik, ohne jede Chance menschlicher Beherrschbarkeit, sind symmetrisch.“173 Erst eine dritte Perspektive, nämlich die der Latour’schen Übersetzung, bezieht alle Beteiligten einer Handlung als Akteure ein und thematisiert, dass die Handelnden sich durch die Handlung selbst verändern: Die Übersetzung vollzieht sich ganz symmetrisch. Mit der Waffe in der Hand bist du jemand anderes, und auch die Waffe ist in deiner Hand nicht mehr dieselbe. Du bist ein anderes Subjekt, weil du die Waffe hältst; die Waffe ist ein anderes Objekt, weil sie eine Beziehung zu dir unterhält.174

Damit sind weder Subjekt noch Objekt noch deren Wille/Intention/Skript vorab – vor der Handlung – vollständig festgelegt. Im Aufeinandertreffen der Akteure entsteht etwas drittes, eine „Bürger-Waffe“ oder ein „Waffen-Bürger“, wie Latour diesen durch Übersetzung entstandenen dritten Akteur bezeichnet. Wer ursprünglich nur verletzten wollte, wird mit der Waffe in der Hand möglicherweise töten und damit zum Mörder. Die Waffe, die zuvor als Sportgerät in der Schublade lag, wird zum Mordinstrument. Laut Latour ergibt es keinen Sinn, an den Kategorien Subjekt und Objekt weiter festzuhalten.175 Wir müssten vielmehr „Hybrid-Akteure“176 in den Blick nehmen und Handlungen einer verteilten Handlungsmacht zuschreiben. Das heißt für Latour allerdings nicht, dass die beteiligten Akteure gleich oder gleichwertig sind: ANT ist nicht, ich wiederhole: ist nicht, die Behauptung irgendeiner absurden ‚Symmetrie zwischen Menschen und nicht-menschlichen Wesen‘. Symmetrisch zu sein bedeutet für uns einfach, nicht a priori irgendeine falsche Asymmetrie zwischen menschlichem und intentionalen Handeln und einer materiellen Welt kausaler Beziehungen anzunehmen.177

Latour plädiert also dafür, die moderne Asymmetrie zu ignorieren, um die tatsächlichen Verflechtungen zwischen Menschen und Dingen wahrnehmen zu können. Auch die Verantwortung für eine Handlung schreibt Latour nicht nur einem Akteur zu. „Weder Menschen noch Waffen töten. Vielmehr muß die Verantwortung für ein Handeln unter den verschiedenen Akteuren verteilt werden.“178

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Latour fordert Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft179, die er „Soziologie der Assoziationen“ nennt. Er meint damit eine Soziologie, die sich, anders als die „Soziologie des Sozialen“, einer Wirklichkeit annimmt, in der auch alles NichtMenschliche Sozialität und Gesellschaft erzeugt. Denn etwas müsse nicht selbst sozial sein, um soziale Beziehungen zu generieren – und kein Subjekt beherrsche und kontrolliere eine Handlung alleine. Heterogene Entitäten – menschliche und nicht-menschliche – müssten versammelt und Netze zwischen den Entitäten beobachtet werden.180 Seit Latour fordert, Das Parlament der Dinge181 einzuberufen, wird deutlich, dass die ANT nicht nur wissenschaftssoziologisch motiviert ist, sondern auch moralische, juristische und politische Fragen aufwirft. Latour spricht insbesondere in seinen Arbeiten seit 2000, in der sogenannten dritten Phase der ANT, in welcher der Gegenstandsbereich in die Politik ausgeweitet wird, nicht mehr nur von Netzwerken, sondern von Kollektiven, die als Versammlungen aufgefasst werden. Er unterscheidet seither auch zwischen Objekten und Dingen – Dinge sind für ihn Versammlungen, Objekte hingegen moderne Fiktionen – schließlich existiere nichts isoliert. Latour fordert, nicht-menschliche Akteure „sprechen“ zu lassen. Gleichzeitig wehrt er sich gegen den Vorwurf, dass er menschliche Eigenschaften auf Dinge übertrage oder rein metaphorisch und in Fabeln argumentiere. „Wir behaupten nicht, daß die Dinge ‚für sich selbst‘ sprechen, da niemand, nicht einmal die Menschen, nur für sich selbst, sondern immer auch für anderes spricht.“182 Er macht die Dinge hingegen als Beteiligte kenntlich, die nicht an sich, sondern erst in Relation mit anderen wirkmächtig sind: Das bedeutet keineswegs einen Anthropomorphismus, der uns in die vormoderne Vergangenheit zurückführte – die bekanntlich nur ein Exotismus der Modernen darstellt – , sondern das Ende eines zerstörerischen Anthropomorphismus: durch ihn konnten die Objekte, die dem Schicksal der Menschen gegenüber indifferent waren, von außen und ohne geregeltes Verfahren die Arbeit der Versammlungen vom Tisch fegen.183

Latour spricht sich grundsätzlich für sogenannte Morphismen aus, grenzt sich aber von einem „zerstörerischen Anthropomorphismus“ der Moderne ab. Wo liegt der Unterschied? Der zerstörerische Anthropomorphismus scheint im Zusammenhang zu stehen sowohl mit dem Anthropomorphismusvorwurf in der Philosophie184 als auch mit dem, was Latour als „Inanimismus“ bezeichnet. Beide Phänomene sind grundsätzlich anthropozentrisch. Mit Inanimismus ist die Vorstellung einer passiven, neutralen Objektwelt gemeint, die rational und wissenschaftlich erfasst werden kann. Diese Vorstellung sei Teil der „modernen Verfassung“, die Latour als Fiktion thematisiert: passive Objektwelt, aktive Subjekte. Der Inanimismus bestärkt also indirekt die Idee eines aktiven Subjekts. „Nichts ist anthropozentrischer als der Inanimismus der Natur.“185 Der Anthropomorphismus, der die modernen Trennungen überschreitet, wird aus moderner Perspektive und vor Hintergrund der modernen Verfassung als naive Projektion begriffen. Der Anthropomorphismusvorwurf

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bestärkt damit wiederum die Vorstellung des Inanimismus. Dieser Anthropomorphismus bzw. der Anthropomorphismusvorwurf ist also zerstörerisch. „Man hat aus rein anthropozentrischen Gründen den Vorwurf, anthropomorphisch zu sein, in eine tödliche Waffe verwandelt!“186 Latour begreift Anthropomorphismus hingegen grundsätzlich als lediglich einen möglichen Morphismus unter vielen. Morphismen sind für Latour keine Projektionen von vorab definierten Eigenschaften – etwa von jenen des Menschen auf Dinge – und daher prinzipiell anders zu verstehen als der anthropozentrische zerstörerische Anthropomorphismus. Sie sind so etwas wie Beziehung, Austausch oder Kreuzung.187 Durch Morphismen existierten Entitäten relational. Ähnlich wie am Beispiel des Waffengebrauchs macht Latour auch bezüglich der Morphismen deutlich, dass nichts unabhängig und vorab existiert – auch kein Eigenschaftenkatalog, den man projizieren könnte. „The human form is as unknown to us as the nonhuman.“188 Es gebe also keine rein menschlichen Eigenschaften. Der Mensch entstehe erst in Relation mit anderen und anderem. Bezogen auf das Wechselverhältnis Mensch–Technik bedeutet dies: „Technological mechanisms are not anthropomorphs any more than humans are technomorphs.“189 Latour verwirft nicht nur das tradierte Subjektkonzept,190 sondern auch das Konzept der Kritik, das er als kennzeichnend für die moderne Haltung beschreibt. „Entlarvung – darin sahen wir Modernen die geheiligte Aufgabe.“191 Andere zu denunzieren, Tatsachen zu enthüllen und grundsätzlich alles vorerst anzuzweifeln, sei grundsätzlich Antrieb der Aufklärung. Der Ursprung des zweifelnden Denkens liege in der Wissenschaft, es finde sich allerdings inflationär auch im Alltag, in Zeitungsartikeln oder bei den Nachbar*innen, die sich mit Verschwörungstheorien befassen. Alles stehe unter Verdacht, nur konstruiert zu sein. Er spricht von einem „reflexhaften Unglauben“192 und identifiziert – dabei selbst herablassend – bei den Massen „leichtgläubige Kritik“193. Überhaupt an irgendetwas zu glauben werde vorschnell als Naivität verpönt. Vormals selbst mit der Entlarvung wissenschaftlicher Tatsachen durch soziale Konstruktion befasst, distanziert er sich mittlerweile von seiner früheren Position, die er als eine von zwei konträren, gleichermaßen fehlgeleiteten kritischen Haltungen versteht. Kritik funktioniere durch zwei Operationen. So trennten die Modernen alles in Fakten, also in etwas, was niemand gemacht habe, und in Fetische, das heißt in etwas, das bloß Glaubensinhalt und innere Repräsentation sei. Ein weiteres Mal problematisiert Latour demnach einen Dualismus, eine Reinigungsarbeit und das Erzeugen von Distanz. Nach der Trennung in Fakten oder Fetische könne die kritische Frage gestellt werden, ob etwas wirklich oder konstruiert sei. Dabei könne sich die Frage auf so Unterschiedliches wie Gott, wissenschaftliche Fakten oder Popkultur beziehen. Latour beschreibt zwei Varianten der Kritik: die „fairy position“ und die „fact position“.194 Die erste gehe davon aus, dass Menschen bloß naiv Wünsche auf etwas projizierten. Was wirklich sei, sehe der Mensch nicht. Diese fairy position bezwecke Projektionen zu entlarven und den Menschen über seine Illusion

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­aufzuklären. „Schließlich macht der mutige Kritiker, der als einziger wach und aufmerksam bleibt, der niemals schläft, diese falschen Objekte zu Fetischen, die nichts sein sollen als leere weiße Schirme, auf die die Macht der Gesellschaft, der Herrschaft und was auch immer projiziert wird.“195 Diese Art der Kritik, die sich auch in der kritischen Theorie wiederfindet, verweist auf etwas Wirkliches, Unsichtbares hinter einer irreführenden Oberfläche. Die Unterscheidung zwischen Oberfläche und Tiefe lehnt Latour allerdings grundsätzlich ab.196 Die Kritik der zweiten Position, der fact position, erkläre das Verhalten naiver, von Illusionen getäuschter Personen. Sie mache Gene, Klassen, den Markt, Interessen oder Triebe dafür verantwortlich, dass der Mensch projiziert. Die fact position kläre also über die Kräfte auf, die auf Menschen einwirken, und denunziere damit ein weiteres Mal die anderen als naiv. Latour erklärt diese doppelte Kritik zu einem Trick, der die Kritik in Gang halte und unangreifbar mache. Ob Dinge konstruiert oder autonom sind, also ob man es mit Fetischen oder Fakten zu tun hat, ist für Latour eine „endlose, unfruchtbare und langweilige Frage“197. Latour nimmt Abstand sowohl von Realismus als auch von Konstruktivismus.198 Das Gegenüber „einer physischen Welt ‚dort draußen‘ versus vielen geistigen Welten ‚da drinnen‘“199 führe zu der Behauptung, dass andere fälschlicherweise an eine Illusion glaubten – ob an die Illusion der Ikone oder die des Warenfetischs. Bei den Anti-Fetischist*innen, ob bei Bilderstürmenden oder bei Karl Marx (Latour benennt oft Beispiele sehr unterschiedlicher Zusammenhänge und Hierarchien, was der Logik der ANT entspricht) sei jedes Mal „der Irrtum der gleiche und beruht auf dem naiven Glauben an den naiven Glauben der anderen.“200 Kritiker*innen würden immer aus einer vermeintlich privilegierten Außenperspektive sprechen: Das ist die peinlichste Seite des Anti-Fetischismus: Es handelt sich immer um eine Anklage. Eine Person oder Gruppe wird der Leichtgläubigkeit angeklagt – oder schlimmer noch, der zynischen Manipulation naiver Gläubiger –, und zwar angeklagt von jemandem, der sicher ist, daß er selbst nicht auf diese Illusion hereinfällt, und nun die anderen ebenfalls befreien will, sei es von ihrem naiven Glauben oder von ihrer zynischen Manipulation.201

Latour stellt sogar fest, dass letztlich die Kritiker*innen, Anti-Fetischist*innen, Bilderstürmer*innen, die einzigen seien, die projizierten und glaubten. Sie befänden sich in einer vermeintlich privilegierten Position, in der sie durch die zwei Operationen der Kritik (fact position und fairy position) immer Recht hätten, nie als naiv gelten könnten und damit unangreifbar blieben. Laut Latour zerschlägt die auf Abstand beruhende Kritik Achtsamkeit und Vorsicht, denn die Kritiker*innen seien nicht mehr durch Verantwortung gebunden, sondern fühlten sich frei in der Vorstellung, sich in „bloßer Praxis“ zu bewegen. „Was der Hammer zerschlagen hat, sind Achtsamkeit und Vorsicht.“202 Im postmodernen Denken sieht Latour nun die

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verzweifeltste und verlorenste Form der Kritik und Selbstkritik. Ein postmoderner Mensch „fühlt, daß mit der Kritik etwas nicht stimmt, aber ihm fällt nichts anderes ein, als die Kritik weiterzuführen, ohne noch an ihre Grundlagen zu glauben.“203 Das kritische Denken, das von einem – tatsächlich inexistenten – privilegierten Außen aus werte, führe letztlich zu gar nichts. „Denunziation wie Revolution sind heute schal geworden.“204 Denn „[d]er Kampf für oder gegen absolute Wahrheit, für oder gegen vielfältige Standpunkte für oder gegen soziale Konstruktion, für oder gegen Präsenz ist nie der wichtige gewesen.“205 Latour stellt dem Dualismus Fetisch versus Fakt ein drittes Konzept gegenüber, das er mit dem Neologismus „Faitiche“ bezeichnet. „Anstatt Fetische gegen Fakten ins Feld zu führen oder Fakten als Fetische zu denunzieren, soll so die Rolle der Akteure in allen Aktivitätstypen ernst genommen und damit der Begriff des Glaubens überflüssig werden.“206 Er bezeichnet den Faitiche als Handlungstypen. Er sei konstruiert, allerdings nicht allein vom Menschen oder gar nur von dessen Geist, sondern von unterschiedlichen Akteuren: Weil er konstruiert ist, ist er so außerordentlich wirklich, so autonom und unabhängig von unserem Zutun. […] Solange wir nicht verstanden haben, daß die Begriffe ‚Konstruktion‘ und ‚autonome Realität‘ Synonyme sind, werden wir den Faitiche als eine weitere Form von Konstruktivismus mißdeuten und nicht sehen, daß er die gesamte Theorie davon verändert was konstruieren bedeutet.207

Latour ergänzt außerdem die fact position und die fairy position um die „faire position“. Aus dieser Position werde deutlich, dass das, was jemandem am Herzen liege, das, womit er oder sie verbunden sei, weder als Fakt noch als Fetisch, noch als Kombination der beiden, sondern als etwas Drittes verstanden werden müsse. Beispiele, die für ihn die Unsinnigkeit einer Einteilung in Fakt und Fetisch verdeutlichen, sind „der Gott, zu dem ich bete, die Kunstwerke, die ich liebe, der Darmkrebs, gegen den ich kämpfte, das Gesetzbuch, das ich studiere, das Begehren, das ich fühle, ja […] sogar das Buch, das ich schreibe“208. Solche „Matters of Concern“, also Dinge, die uns angehen, illustrierten, dass die Dinge nie unabhängig von einem Subjekt und anderen Akteuren einfach an sich sind. Ebenso wenig könnten sie von einem gottgleichen Menschen einfach frei konstruiert werden. Der Mensch sei kein Konstrukteur mit voller Kontrolle, denn er werde von seiner Außenwelt selbst immer wieder überrascht.209 „Die Objekte sind viel zu stark, um als Fetische zu fungieren, und viel zu schwach, um als unstreitige kausale Erklärung irgendeiner unbewußten Handlung behandelt zu werden.“210 Letztlich definiert Latour Kritik um: „Der Kritiker ist nicht derjenige, der entlarvt, sondern der, der versammelt.“211 Diese Haltung bezweckt Handlungsmacht sichtbar zu machen und den Dingen Raum zu geben, um sich selbst zu artikulieren, statt Urteile von außen zu fällen. Es gehe bei Kritik darum, den Akteuren zu folgen, was im Grunde heiße, sie im Detail wahrzunehmen:

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Diese retrospektive Haltung, die entfaltet, statt zu entlarven; die hinzufügt, statt wegzulassen; die verbrüdert, statt zu denunzieren; die sortiert, statt zu demaskieren, charakterisiere ich als ‚nichtmodern‘ (oder ‚amodern‘). Nichtmodern ist, wer sowohl die Verfassung der Modernen berücksichtig als auch die Population von Hybriden, die sich unter dieser Verfassung ausbreiten, aber von ihr verleugnet werden.212

Zusammenfassend lässt sich festhalten: Das klassische Subjektmodell, bei dem ein menschliches Subjekt frei Entscheidungen treffen kann und alleinig Verantwortung übernehmen muss, steht durch die ANT grundsätzlich zur Disposition. Das menschliche Subjekt ist nicht mehr Zentrum des Sozialen, denn laut Latour können auch Artefakte mithilfe ihrer Skripte soziale Bindungen schaffen. Etwas muss nicht selbst sozial sein, um soziale Beziehungen zu generieren. Außerdem wendet sich Latour von dem tradierten, modernen Kritikbegriff ab. Kritisch zu sein bedeutet bei Latour sich einzulassen und einzubringen, statt Abstand zu nehmen und zu bewerten.

2.3.2  Intra-aktion und der Begriff der Verantwortung im Agentiellen Realismus Gemäß dem von Karen Barad begründeten Agentiellen Realismus (AR) existieren alle Entitäten, ihre Eigenschaften, ihre Grenzen und Ausschlüsse durch wechselseitige Praktiken und Handlungen. Alles entsteht relational. Barad schlägt eine „Neubearbeitung des traditionellen Begriffs der Kausalität“213 vor. Nichts ist für sie reine Ursache oder reine Wirkung. Als Beispiel zieht Barad physikalische Messungen heran, bei denen die Messung bestimmte Tatsachen über den Gegenstand erst hervorbringt.214 Sie führt den Begriff „Intra-aktion“ ein, mit dem sie die Existenz vorab isolierter Entitäten, sogenannter „Relata“, negiert. Sowohl Ursache als auch Wirkung gingen aus Intra-aktion hervor. Es interagierten keine unabhängigen Relata miteinander, sondern Relata resultieren erst durch die Intra-aktion: „Beziehungen hängen nicht von ihren Relata ab, sondern umgekehrt.“215 Das heiße nicht, dass es keine Unterschiede zwischen Entitäten gebe, doch Unterschiede existierten nur durch die Relationen. Barad spricht von einem fortlaufenden Fluss dynamischer Tätigkeit, in dem sich Wirklichkeit durch Intra-aktion materialisiere. Sie bezieht sich dabei auf Judith Butlers Konzept der „Performativität“, geht aber über Butlers anthropozentrisches Verständnis hinaus.216 „Alle Körper, und nicht nur ‚menschliche‘ Körper, materialisieren sich und gewinnen Relevanz durch die schrittweise Intraaktivität der Welt – ihre Performativität.“217 Tätigkeit ist demnach nicht an menschliche Subjektivität und Intentionalität gebunden. Barad negiert grundsätzlich den Sonderstatus des Menschen, denn menschliche Subjekte entstünden ebenso wie alle anderen Körper mit ihren Grenzen und ­Eigenschaften

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durch ­Intra-aktion und existierten nicht unabhängig und vor einem „Einbezogensein“ in natürlich-kulturelle Praktiken. „Menschen sind weder reine Ursachen noch reine Wirkungen, sondern ein Teil der Welt in ihrem unabgeschlossenen Werden.“218 Barad wendet sich außerdem gegen die humanistische Auffassung, dass Erkenntnis einen menschlichen, „geistig tätigen Akteur“ erfordere. Erkennen steht für sie nicht mit einer Perspektive von oben oder von außen in Zusammenhang, sondern passiert als Teil der Intra-aktion. „In meiner agentiell-­realistischen Sichtweise ist […] die Verstehbarkeit eine ontologische Leistung der Welt in ihrer fortlaufenden Artikulierung.“219 Das erkennende, unabhängige Subjekt hat also keine besondere Relevanz bei diesem Prozess und eine Außenperspektive existiert nicht. „Wir gewinnen keine Erkenntnis dadurch, daß wir außerhalb der Welt stehen; wir erkennen, weil wir zur Welt gehören.“220 Ihre Perspektive wirft allerdings die Frage auf, welche Art der Erkenntnis so überhaupt möglich ist, schließlich sind in intra-­aktiven Gefügen alle Beobachter*innen Teil von Phänomenen und jeweils relational konstituiert. Dieses nicht-anthropozentrische Konzept von Subjektivität irritiert das humanistische Verständnis von Ethik, Moral und Verantwortung. Barad selbst fragt rhetorisch, ob als Resultat ihrer Theorie der Mensch innerhalb eines relationalen Gefüges keine Verantwortung mehr für die Folgen des Intra-agierens trage.221 Sie kommt jedoch zu dem Schluss, dass der Mensch im Gegenteil gar nicht umhin könne, Verantwortung zu tragen, da er immer erst durch Andere er selbst sei. Wegen dieser grundsätzlichen Verbindung gingen jeden Menschen die Anderen immer etwas an. Er trage Verantwortung für die Zusammenhänge, genauer: Mitverantwortung, denn Verantwortung sei kein menschliches Exklusivrecht, sondern „rather an incarnate relation that precedes the intentionality of consciousness. Responsibility is not a calculation to be performed. It is a relation always already integral to the world’s ongoing intra-active becoming and not-becoming.“222 Verantwortung steht bei ­Barad also nicht im Zusammenhang mit Wahlfreiheit, denn das Subjekt hat gar nicht die Möglichkeit, sich frei zu verpflichten. Die Verantwortung geht der Intentionalität des Bewusstseins voraus. Dieses Konzept von Verantwortung geht aus Barads Neubearbeitung des Kausalbegriffs hervor, der „in den traditionellen Debatten zwischen Determinismus und Willensfreiheit keine Partei ergreift, sondern vielmehr eine ganz andere Art von Vorstellung der Zeitlichkeit, Räumlichkeit und Möglichkeit anbietet“.223 Die Vorstellung ist dadurch gekennzeichnet, dass Möglichkeiten durch Realisierung nicht nur eingeschränkt werden, sondern sich gleichzeitig neu eröffnen: „Möglichkeiten werden rekonfiguriert und rekonfigurieren sich.“224 Der Prozess ist weder komplett beliebig noch vollständig determiniert. Genau die sich eröffnenden Möglichkeiten gilt es laut Barad verantwortlich zu behandeln.225 Letztlich bestehe eine ethische Chance darin, die Möglichkeiten offen zu halten und somit einen Dialog mit Anderem oder Anderen zu ermöglichen, sich also nicht als autonom und alleinverantwortlich zu begreifen:

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According to agential realism, ‚responsibility‘ is not about right response, but rather a matter of inviting, welcoming, and enabling the response of the Other. That is, what is at issue is response-ability – the ability to respond. […] So the conditions of possibility of response-ability include accountability for the specific histories of particular practices of engagement.226

Barad schlägt außerdem vor, sich mit dem Nicht-Menschlichen („das Nichtwahrnehmbare/Empfindungslose [insensible], das Irrationale, das Unergründliche und das Unberechenbare“227), das in uns und durch uns ist, in Verbindung zu bringen. „Vielleicht braucht es die Konfrontation mit dem Nicht-Menschlichen in uns, bevor Mit-Gefühl – Mitleid, Mitmachen, Mitempfinden, Bewegt-Werden – gelebt werden kann. Wie würden wir uns fühlen, wenn es das Nicht-Menschliche wäre, mittels dessen wir fühlen, uns sorgen, antworten könnten?“228 Menschen werden bei Barad also nicht durch Rationalität, Vernunft und Autonomie zu verantwortlichen Subjekten, sondern durch Offenheit, Verbindungsfähigkeit oder gerade durch die Teilhabe am Bewusstseinslosen bzw. an materiellen Relationen. Intra-aktion ist demnach nicht nur ontologisch und epistemologisch relevant, sondern impliziert auch eine ethische Dimension. Barads Agentieller Realismus ist eine Verschränkung von Ontologie, Epistemologie und Ethik, die sich nicht getrennt voneinander betrachten lassen und selbst miteinander intra-agieren.229

2.3.3  Kritik und Verantwortung durch Entfalten, Hinzufügen, ­Verbrüdern, Sortieren und Intra-agieren Karen Barad und Bruno Latour verwerfen den tradierten modernen Subjektbegriff, was Konsequenzen sowohl für das Konzept von Verantwortung als auch für den Kritikbegriff hat. Im zusammenfassenden Vergleich beider Positionen lässt sich festhalten: Wenn Barad konstatiert, Menschen seien, „wie alle anderen Körper auch, keine Entitäten mit vorgegebenen Grenzen und Eigenschaften, sondern Phänomene, die spezifische Eigenschaften durch die erweiterbare Dynamik der Intraaktivität erwerben“230, dann scheint dem zum Phänomen gewordenen Menschen eine passive Rolle zuzukommen oder zumindest keine besondere – alle sind gleich aktiv. Mit dem Begriff response-ability verdeutlicht sie allerdings, dass die Negation der menschlichen Sonderstellung mit Verantwortung vereinbar oder für diese sogar notwendig ist. Im AR existiert kein überlegenes menschliches Subjekt, das alleine Verantwortung für sich oder für andere übernehmen könnte. Verantwortung im Sinne von response-ability impliziert hingegen, anderen, ebenfalls unabgeschlossenen Entitäten Antwortmöglichkeiten bereitzustellen. Es geht, wie sie selbst feststellt, nicht um richtige oder falsche Antworten auf ethische Fragen, sondern um

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das Erzeugen von Offenheit für Antworten. Barads Verantwortungsbegriff meint also sich gegenseitig zu berücksichtigen und Raum zu geben, um einander wechselseitig (intra-aktiv) zu erkennen. Verantwortung ist bei ihr weder etwas, wofür oder wogegen man sich bewusst entscheiden könnte, noch etwas, was nur der Mensch zu tragen hat. Verantwortung hat vielmehr mit Beziehung, mit Verbundenheit und mit Relation zu tun und gehört zur intra-aktiven Dynamik. So kann der Mensch sich ihr allerdings auch nicht entziehen oder ihrer entledigen. Sehr ähnlich argumentiert Latour mit seinem neuen Kritikbegriff, den er in Abgrenzung zu zwei herkömmlichen Varianten der Kritik – der fairy position und der fact position – entwickelt. Latours Kritikverständnis basiert auf einer dritten, der faire position. Demnach sei alles konstruiert – allerdings nicht nur vom Menschen und durch dessen Geist, sondern durch das Zusammenspiel vieler Entitäten. Hier weist Latours Denken offensichtlich Parallelen zu Barads Begriff der Intra-­ aktion auf. Konstruktionen und Fakten sind bei Latour ein und dasselbe, nämlich Dinge, die uns etwas angehen. Diese Matters of Concern existieren weder unabhängig von einem Subjekt als neutrale Fakten, noch sind sie reine Konstrukte. Ähnlich wie ­Barad beschreibt er, dass sich Menschen ihrer Umwelt gegenüber gerade dann verantwortlich fühlen müssten, wenn sie die Entitäten dieser Umwelt als Mitbeteiligte oder Mitkonstrukteure begriffen. Verantwortung ist auch bei Latour immer geteilte Verantwortung, was er am Beispiel der Bürger-Waffe bzw. des Waffen-Bürgers verdeutlichte. Der Mensch könne sich mit der faire position nicht frei und unverbunden fühlen und mit Distanz urteilen. Verbindung könne jedoch, wie auch von Barad beschrieben, das Verantwortungsempfinden verstärken. Latour plädiert entsprechend für eine Kritik durch Praktiken wie Entfalten, Hinzufügen, Verbrüdern und Sortieren. Sowohl Barads response-ability als auch Latours faire position beschreiben explizit kein destruktives, (ab)wertendes, rationales oder distanzierendes Verhalten der Umwelt (anderen Entitäten, Prozessen, Haltungen) gegenüber. Responseability und faire position scheinen im Vergleich zum tradierten (modernen) Verantwortungs- und Kritikverständnis absichtslose Unterfangen zu beschreiben, die ohne Kompass auskommen, der falsch und richtig anzeigt. Sie funktionieren eher beobachtend als bewertend. Gleichzeitig bedeutet kritisch und verantwortungsvoll zu sein sowohl bei Barad als auch bei Latour Verbindung zu suchen, sich konstruktiv zu involvieren und Mitbeteiligte zu versammeln. Wie anschlussfähig sind nun diese nicht-anthropozentrischen Kritik- und Verantwortungsbegriffe für das Design? Werden response-ability und faire position von Designwissenschaftler*innen bereits aufgegriffen? Inwiefern kann Intra-­ aktion, Entfalten, Hinzufügen, Verbrüdern oder Sortieren von Gestalter*innen in kritische Praxis übersetzt werden?

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2.4  NICHT-ANTHROPOZENTRISCHES DENKEN ALS CHANCE UND PROBLEM FÜR DAS DESIGN Nach einer Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie und in den Agentiellen Realismus mit Fokus auf „Kritik“ und „Verantwortung“ wird im folgenden Teil der Arbeit untersucht, wie die beiden Theorien im Design bereits verhandelt werden und welches Potenzial sie dem Design darüber hinaus bieten könnten. Wie wird die Argumentation von Barad und Latour in den Designwissenschaften gewertet? Findet das von ihnen eingeführte Verständnis der Begriffe Kritik und Verantwortung im Design bereits Beachtung? Im Anschluss wird außerdem der Diskurs anderer Disziplinen über die ANT und den AR skizziert. Mithilfe soziologischer, politikwissenschaftlicher und technikphilosophischer Positionen wird erörtert, inwiefern ANT und AR explizit vor dem Hintergrund der technischen Entwicklung produktiv gemacht werden können und außerdem, welche Probleme durch das Verständnis von Kritik und Verantwortung entstehen. Informiert durch die interdisziplinäre kritische Rezeption, wird auch für das Design deutlich, wo Chancen und Probleme im Umgang mit dem nicht-anthropozentrischen Zugang von ANT und AR liegen.

2.4.1  Die Akteur-Netzwerk-Theorie im Design Seit den 1990er Jahren findet die ANT nicht mehr nur in der Wissenschafts- und Technikforschung ihren Niederschlag, sondern ist auch in den Sozial- und Kulturwissenschaften populär. Diese Popularität ist unter anderem auf das provokante, gar polemische Auftreten und Argumentieren von Latour zurückzuführen.231 Die ANT tritt mal als soziologische Theorie, mal als Neuerung tradierter philosophischer Begriffe, mal als politische Schrift in Erscheinung und lässt sich als transdisziplinäres Unterfangen verstehen. Etwa seit der Jahrtausendwende findet sie auch in den Medienwissenschaf232 ten und in den Designwissenschaften Aufmerksamkeit. Spätestens mit dem 2009 erschienenen Aufsatz Ein vorsichtiger Prometheus,233 in dem Latour sich explizit an Designer*innen wendet, setzte ein immenses Interesse des Designs ein. In besagtem Text propagiert Latour Design als Tätigkeit, die behutsam transitorisch wirkt. Der Begriff Design habe das Wort Revolution ersetzt, denn Design schöpfe nie aus dem Nichts. Designen bedeutet bei Latour immer Redesignen. Damit wird Design zu einer Geste, die sich passgenau in seine Theorie der Amoderne fügt: „Je mehr wir uns selbst als Designer verstehen, desto weniger verstehen wir uns als Modernisierer.“234 Statt um Emanzipation, Befreiung und Entfesselung gehe es im Design um Bindung, Vorsicht und Behutsamkeit.

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Obwohl die Texte von Latour bei vielen Designer*innen und Designwissenschaftler*innen kaum Klarheit schaffen, sondern nur noch mehr Fragen aufwerfen,235 werden sie viel rezipiert. Zahlreiche designwissenschaftliche Publikation seit 2010 verweisen auf die ANT und es wurden viele Konferenzen organisiert, die sich auf Begrifflichkeiten von Latour beziehen.236 Der Erfolg liege, so kritische Stimmen, nicht in den innovativen oder logischen Argumenten der ANT begründet, sondern sei gerade wegen „all ihrer theoretischen Unklarheiten“ und „schillernden Vielschichtigkeit“ zu verzeichnen, die „akademisches Kopfzerbrechen“ verursachten.237 Latours Schriften gelten bisweilen als unklar, widersprüchlich und inkonsistent. Der Designwissenschaftler Georg Kneer beispielsweise kritisiert, die ANT sei geprägt von „[v]oreiligen Generalisierungen, diffus bleibenden Annahmen und einer vagen Begrifflichkeit“238. Laut Hubert Matt werden hingegen gerade durch die Begriffsveränderungen Diskurse und Problemstellungen produktiv verschoben – was sich auch das Design zunutze machen könne. „Im Design würde es [mit Bezug auf die ANT, Anm. d. Verf.] darum gehen, alle Begriffe in einen Zustand der Frage zu bringen und teilweise neue Begrifflichkeiten einzuführen.“239 Matt argumentiert dafür, mithilfe der ANT den Designdiskurs in Unruhe zu versetzen. Die ANT findet auch durch die Aufhebung tradierter Dichotomien, etwa Kultur vs. Natur oder Praxis vs. Theorie, Resonanz in der Designwissenschaft. Designwissenschaftler*innen, die interdisziplinär arbeiten, sich weder eindeutig als Geisteswissenschaftler*innen noch als Naturwissenschaftler*innen begreifen und oftmals Praxis mit Theorie verschränken (Forschung durch Design), fühlen sich anscheinend von der ANT besonders angesprochen. Besonders prominent wird die ANT in Diskursen zu Co-Design und Participatory Design verhandelt.240 Diese Verschränkung erscheint insbesondere deshalb konsequent, da Latour das Design als von Grund auf kollaborativ beschreibt: „alle Designs sind ‚kollaborative‘ Designs – selbst wenn in einigen Fällen die ‚Mitarbeiter‘ überhaupt nicht sichtbar, willkommen oder willens zur Beteiligung sind.“241 Durch die ANT können im Design nicht mehr nur Menschen als „Co-Gestaltende“ gelten, sondern ebenso nicht-menschliche Lebewesen oder gar Lebloses. Folgt man Latours Argumentation, so hat Design schon immer die Dinge als „Versammlungen“ betrachtet und alle/s mit einbezogen, was sie ausmacht. Design mache aus Objekten Dinge242, also Matters of Concern, Dinge, die uns etwas angehen. Aus Perspektive des Co-Designs ist die ANT eine Theorie, die darin bestärkt, das moderne Autorendesign zu überwinden und Design demokratisch als einen Prozess für andere zu öffnen – ein gemeinschaftliches Gestalten unter Berücksichtigung aller Akteure und des Kontexts. Das Latour’sche Thema der Agency oder Handlungsmacht der Dinge ist aus designwissenschaftlicher Perspektive ebenfalls relevant, wenngleich nicht ganz neu. Für Designer*innen ist selbstverständlich, dass nicht nur Nutzer*innen mit Dingen agieren, sondern die Dinge auch umgekehrt etwas mit ihren Nutzer*innen tun. Das Wissen, dass gestaltete Dinge sozial, politisch und ethisch wirken, hat viele

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Designbewegungen angetrieben, etwa den Funktionalismus, die Qualitätsdiskurse zur Guten Form oder die Bestrebungen des Social Designs und des Transformation Designs, um nur einige Beispiele zu nennen. Die Macht der Dinge im Kontext (also in Relation mit anderen Dingen und Menschen) wurde durch die intensive designtheoretische ANT-Rezeption erneut und mithilfe neuer Begriffe Gegenstand, so etwa durch Albena Yaneva, die in Making the Social Hold: Towards an Actor-Network Theory of Design veranschaulicht, wie die Skripte der Objekte soziale Bindungen bestimmen und welchen Einfluss das Design durch die Gestaltung der Skripte auf diesen Prozess hat.243 Yaneva beschreibt in den Worten Latours anhand von Alltagsszenarien (Lehrbetrieb an der Universität) und entsprechender Technik (Türen, Schließanlagen), wie Menschen ihre Handlungen teilweise an Dinge delegieren und wie die menschlichen Handlungen von Dingen vermittelt sind. Designentscheidungen, die sich in den Dingen spiegeln, könnten trennen und verbinden, Gemeinschaften bilden und auflösen, Zugänge ermöglichen oder verschließen. Die ANT zeige auf, „wie jedes einzelne technische Merkmal eines Objekts von einer sozialen, psychischen und ökonomischen Welt kündet“.244 Die ANT verschiebe den Fokus der Designwissenschaften: Nicht die Diskurse, Ideologien und Theorien der Designer*innen sollten exploriert werden, so Yaneva, sondern die Art und Weise, wie Design als Bindeglied funktioniert. Statt die symbolische Sprache des Designs zu untersuchen, nimmt sie mithilfe der ANT die von ihr so genannte „Grammatik der Handlungen“ in den Blick.245 Dabei gehe es nicht darum, verborgene symbolische Beziehungen und Bedeutungen des Designs zu enthüllen, sondern zu untersuchen, wie Design soziale Beziehungen konstituiere, verändere und variiere. „Gemeinsam mit legalen, technischen, künstlerischen und religiösen Bindungen trägt Design dazu bei, das Soziale zu stabilisieren, es auf Dauer zu setzen.“246 Explizit mit Latours Kritikbegriff beschäftigen sich verhältnismäßig wenige Designwissenschaftler*innen. Eine prüfende Haltung nimmt Gerhard Schweppenhäuser ein. Er argumentiert, „dass Latours Skizze des Paradigmenwechsels im Bereich von Gestaltung und Design wissenschafts- und sozialgeschichtlich auf tönernen Füßen steht.“247 In Latours ANT erkennt er einen Rückfall hinter die Errungenschaften der Moderne. Die ANT sei eine „Variante des Obskurantismus, bei dem das Konzept des Subjekts abstrakt negiert wird.“248 Er wirft Latour vor, zu ignorieren, „dass Menschen durch intersubjektive Verständigung und entsprechende Praxis zum Kollektiv-Subjekt ihrer selbstbestimmten gesellschaftlichen Beziehungen werden könnten“.249 Laut Schweppenhäuser argumentiert Latour für ein postmodernes Design250 – was Latour selbst wohl entschieden bestreiten würde – ein Redesign ohne utopisches Potenzial. Er stellt fest, „dass eine immanente Sozialkritik an Phänomenen der kulturellen Moderne [also etwa am Funktionalismus im Design, Anm. d. Verf.] weiter führt als die postmoderne Verabschiedung ihres normativen Potenzials.“251 Die mögliche Freiheitsfähigkeit des Subjekts zu negieren, sei für das Design keine produktive Haltung. „Denn das hieße, die soziale Geschäftsgrundlage von Design zu kündigen und seine immanente Ethik zu ignorieren.“252

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Design müsse hingegen „stellvertretend für das Interesse an einem freien, vernunftbestimmten und ästhetisch erfüllten Leben einstehen“253. Das Konzept der Emanzipation dürfe nicht durch die Latour’schen Konzepte der Bindung und Fürsorge ersetzt werden, sondern müsste durch diese ergänzt werden. In einer Publikation aus dem Jahr 2009 nutzen die Autoren Matt Ward und Alex Wilkie Latours Kritikbegriff als Grundlage für eine neue Version kritischer Designpraxis.254 Sie argumentieren primär aus designpädagogischer Perspektive und suchen nach neuen Ansätzen für die Designausbildung. Hierfür wenden sie bewusst den Blick von Theorien ab, die im Zusammenhang mit kritischem Design in der Lehre gewöhnlich als Grundlage besprochen werden.255 Es geht ihnen darum, eine neue Form kritischen Designs zu betrachten und in die Designlehre einzubinden. Dieses neue kritische Design definieren sie wie folgt: „[A] criticality that is oriented towards a non-reductive empirical realism tracing the complex messy entanglements of societies with all their strange, weird and wonderful hybrid objects.“256 Sie entwickeln eine Workshop-Serie für Studierende mit dem Titel Mapping Societies, bestehend aus vier Workshop-Typen. Jeder Workshop konzentriert sich auf eine eigene Forschungsmethode, die aus der ANT abgeleitet wurde. Ward und Wilkie gehen davon aus, dass im Design neben den Techniken des Zeichnens und des Modellbauens auch andere Fähigkeiten trainiert werden sollten, denn „societies, or assemblies, are another necessary material for design students.“257 Der Bericht über die Workshops geht allerdings nicht ins Detail, sodass nur vage verständlich wird, wie sie, um es in den Worten Latours zu sagen, „Kontroversen entfalten“, „Gesellschaften versammeln“ und „Akteure verfolgen“. Nur einen der Workshops beschreiben die Autoren genauer. Hier forderten sie Studierende auf, Zeitungsartikel als Grundlage zu nehmen, um komplexe Zusammenhänge zwischen unterschiedlichen Akteuren, Argumenten und Gegenargumenten zu entwirren. Es entstanden Pinnwände, die komplexe Inhalte relational darlegten.258 Matt und Wilkie interessieren Netzwerke, die sich noch nicht stabilisiert haben. Diese sollen Designer*innen als Gestaltungsgrundlage dienen. „After each mapping activity the students are asked to imaginatively interfere and intervene with the societies that they have mapped: to start making design decisions.“259 Die Studierenden entwickeln vor dem Hintergrund bestehender Komplexitäten und Relationen neue Akteure und neue Beziehungen. Ward und Wilkie sehen in dieser Praxis Potenzial, fiktive Welten zu ersinnen und damit dann einen neuen Beitrag für kritisches, spekulatives Design zu schaffen: „[D]esign students participate in the production of future, fictional networks.“260 Aufbauend auf die Mindmaps entwickeln Studierende also Zukunftsszenarien, die dann wieder befremden und zum Nachdenken anregen sollen, ähnlich wie es das Critical Design von Dunne und Raby tut, auf die sich Ward und Wilkie tatsächlich beziehen. Auch Sissel Olander macht Latours Kritikbegriff für das Design fruchtbar. Sie erarbeitet den Begriff „Post-Criticality“ aus der Perspektive des Co-Designs und unterscheidet hierfür zwischen „Kritik als Kommentar“ und „Kritik als

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­ ngagement“. Es geht ihr in ihrer Arbeit um eine angewandte Form der Kritik, in E der sich Personen kritisch involvieren, kollaborieren und praktisch aktiv werden.261 Sie wendet sich damit auch explizit gegen konventionelle Formate des kritischen Designs (Critical Design) wie die Ausstellung oder die Publikation. Sie diskutiert und definiert den Begriff der Post-Criticality am Beispiel eines Co-Designprojekts mit Jugendlichen, das sie selbst durchführt: Jugendliche, die den Keller einer Stadt­ bibliothek zum „Herumhängen“ nutzen und immer wieder in Konflikte mit den Mitarbeiter*innen der Stadtbibiliothek geraten, werden in ein stadtplanerisches Projekt einbezogen. Sie stellt während der Arbeit fest: [T]he idea of post-criticality emerges in a complex socio-material landscape that the researcher through her explorative efforts takes actively part in shaping. Yet this work is not located one step further into abstraction, instead it is a work that attempts to actively push knowing and critique out into the field encounter.262

Letztlich initiiert sie als postkritische Designerin in erster Linie Dialoge zwischen den Jugendlichen, den Mitarbeiter*innen der Stadtbibliothek und den Stadtplaner*innen. Es entstehen neue Konstellationen der Interaktion. Post-Criticality im Design bedeutet bei Olander demnach, sich explizit nicht gegen etwas zu wenden, sondern Dialoge zwischen Akteuren zu ermöglichen: Therefore, to develop modes of analyses and engagements that go beyond debunking or deconstruction, the design anthropological post-critical response is not to leave the world alone, rather, the starting point is the practical work of building a platform where actors and their differing cosmos can be rendered visible and distributed in time and space.263

Während also Schweppenhäuser die Freiheitsfähigkeit des Subjekts mit Latours neuem Kritikverständnis schwinden sieht und seine Haltung als problematisch für das Design wertet, schlagen sowohl Ward und Wilkie als auch Olander mithilfe der ANT ein neues Kritikverständnis für das Design vor. Kritik steht für sie nicht mehr im Zusammenhang mit Distanzierung von etwas, sondern vielmehr mit Einsicht und Involvierung in etwas. Während Matt und Ward Wechselwirkungen zwischen Akteuren nachvollziehen und sie an Pinnwänden visualisieren, geht es bei Olander darum, Wechselwirkungen zwischen Akteuren zu erlauben, indem sie Bühnen als Orte der Begegnung schafft. Kritisches Designverhalten heißt hier also nicht, etwas zu kommentieren und zu bewerten, sich abzugrenzen oder andere aufzuklären, sondern Komplexität zu verstehen und verhandelbar zu machen. Mit dieser kritischen Designhaltung wird weniger offensichtlich Stellung bezogen als etwa beim Critical Design. Die Haltung scheint auf den ersten Blick neu­ traler und beobachtender. Ward und Wilkie sowie Olander betonen allerdings, dass es darum gehe, selbst zu interagieren und innerhalb des Eingriffs eine Position ein-

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zunehmen. Wards und Wilkies Designstudierende greifen beispielsweise nach dem Visualisierungsprozess durch gestalterische Entwürfe in die dargelegte Komplexität ein, Olander selbst wird im Co-Designprozess Teil ihrer eigenen Feldforschung und übernimmt damit selbst eine Rolle auf ihrer Bühne. Kritik funktioniert in beiden Fällen nicht durch Distanz zum Gegenstand, sondern durch ein Beteiligtsein.

2.4.2  Der Agentielle Realismus im Design Karen Barads Agentieller Realismus wird seit der Veröffentlichung Meeting the Universe Halfway264 im Jahr 2007 in der Technik- und Wissenschaftsforschung und in der feministischen Theorie, aber im Anschluss auch disziplinübergreifend diskutiert. Viele erkennen im AR ein neues Paradigma. Auch in der Design- und HCI-Forschung findet Barads Ansatz Beachtung, allerdings meist nur als einer von vielen weiteren Ansätzen des Neuen Materialismus oder der Praxistheorie.265 Die Auseinandersetzung mit dem AR ist im Design nicht so ausgeprägt wie mit der ANT, Barads Kausalitätskonzept und der Begriff der Intra-aktion werden allerdings aufgegriffen. Hubert Matt beispielsweise erkennt in der Vorstellung von Relationen ohne Relata großes Potenzial für das Design: Hier eröffnen sich philosophisch und designtheoretisch völlig neue Perspektiven. In der Designtheorie gehen wir ständig von Relata aus – Zielgruppen, Typografie, Layout, Bild, Text, Sendegefäße etc. –, ohne zu berücksichtigen, dass diese erst das Ergebnis der Kommunikation der menschlichen und nicht-menschlichen Akteure sind.266

Es existieren zudem designtheoretische Auseinandersetzungen mit dem für diese Arbeit relevanten Begriff der response-ability. Lucy Suchman etwa übertrug schon 2007 Barads Theorie verteilter Verantwortung auf die HCI-Forschung. Suchman sieht im AR einen fruchtbaren Denkansatz für die Auseinandersetzung mit intelligenter Technologie und interaktiven Interfaces. „Barad’s agential realism reminds us that boundaries between humans and machines are not naturally given but constructed in particular historical ways and with particular social and material consequences.“267 Statt autonome Handlungsmacht als Identifikationsmerkmal des Menschen zu erachten und zu überlegen, ob Maschinen mittlerweile genau diese menschliche oder zumindest eine menschenähnliche Handlungsmacht erreichten, verschiebe Barads Theorie die Fragestellung. Wenn Grenzen zwischen Wesen nicht natürlich und final festgelegt sind, ist der Mensch kein Wesen mit unabhängigen und damit auf Maschinen übertragbaren Eigenschaften. Suchman folgert aus Barads Ansatz, dass man dem Menschen keine Agency aberkennen müsse, nur weil man Artefakten eine eben solche zuspreche. Die Agency und die mit ihr verbundene Verantwortung liege zwischen Menschen und Artefakten in der Intra-aktion.

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Suchman erachtet den AR als hilfreich, um Differenzen zwischen Mensch und Maschine zu identifizieren, aber nicht als vorab festgelegte Unterschiede, sondern als etwas, das durch Intra-aktion verhandelbar bleibt. Verantwortungsvolles Handeln lasse sich weder durch Kontrolle noch durch Ablehnung herstellen, sondern durch praktische und kritische Teilhabe. „The question, following Barad, is how to configure assemblages in such a way that we can intra-act responsibly and generatively with and through them.“268 Teilhabe an Intra-aktion wird zu einem ethischen oder politischen Akt, den Suchman im Kontext der Mensch-Maschine-Verhältnisse insbesondere im Designprozess verortet: The alternative perspective suggested here takes persons and machines as contingently stabilized through particular, more and less durable, arrangements whose reiteration and/or reconfiguration is the cultural and political project of design in which we are all continuously implicated.269

Auch die Designwissenschaftlerin Susanne Witzgall betrachtet Barads verteilte Verantwortung aus gestalterischer Perspektive. Aus dieser Betrachtung folgt für Witzgall ein „Relationales Design“, das sich verantwortungsvoll und experimentell auf Beziehungen zwischen allen Körpern und Phänomenen einlässt und nicht von außen, sondern immer involviert agiert: Relationales Design erkennt die relationalen Verschränkungen des Seins als ‚Beziehung der Verpflichtung‘ und lässt sich darauf ein, die transformativen ‚Intra-aktionen‘, die gemeinsame, eng miteinander verwobene Dynamik des Werdens von Dingen und Körpern, Materie und Gesellschaft, Menschlichem und Nichtmenschlichem in einem verantwortungsvollen offenen Experiment zu erkunden.270

Demnach soll Relationales Design nicht politisch entscheiden, sondern Zusammenhänge erforschen. Witzgall stellt fest, „dass das Bewusstsein für die ‚Intra-­aktionen‘ des Selbst und der Anderen, für das Relationale des Seins sich nicht unmittelbar in ethisches Handeln übersetzen lassen“271. Die Vertreter*innen des Neuen Materialismus klären laut Witzgall nicht, wie genau relationale, politisch-ethische Handlungsfähigkeit erzeugt werden kann. Nachdem man sich über die Intra-aktion bewusst wird und mit den wechselseitigen Dynamiken experimentiert, was, wie Barad feststellt, response-ability schafft, müssen nach wie vor in einem weiteren Schritt Entscheidungen von Menschen intentional getroffen und durchgesetzt werden. Nach Witzgall öffnet Relationales Design in erster Linie Möglichkeitsräume und definiert keine klaren Antworten und Richtlinien für das Design. Die ethischen Entscheidungen, also das politische Handeln, findet erst nachgelagert statt. Relationales Design „könne in Modellexperimenten eine geeignete Basis schaffen, auf der intentionale Designentscheidungen getroffen werden“272.

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Verantwortung wird in den designwissenschaftlichen Texten, die sich auf Barad berufen, als eine Grundhaltung beschrieben, die sich in „Offenen Experimenten“ im Dialog mit Material, anderen Menschen und Wesen trainieren lässt. Sich involvieren, sich als gemeinschaftliches Gefüge im Werden begreifen und im Intraagieren beobachten, die Wahrnehmung für Zusammenhänge schärfen – all dies ist für Designwissenschaftler*innen inspirierend und wird als Voraussetzung für verantwortliches Handeln und Gestalten erachtet.

2.4.3  Das Potenzial nicht-anthropozentrischen Denkens Um die Stärken nicht-anthropozentrischen Denkens für das Design weiter zu evaluieren, folgt eine Auseinandersetzung mit der Rezeption von ANT und AR aus Perspektive anderer Disziplinen. Der AR wird in erster Linie aufgrund seines neuen Kausalitätsprinzips, der Intra-aktion, rezipiert. Stärken der Theorie liegen laut den Rezipient*innen darin, dass durch Intra-aktion keine Kategorien an sich vorab definiert werden, sondern Aktion, Performanz, Events und Praktiken als Ursprung aller Entitäten neue Aufmerksamkeit zukommt. Die theoretische Fokussierung auf Offenheit wird von vielen Rezipient*innen als größte Stärke des AR gewertet, schließlich bereite Offenheit auf das Neue und Unvorhersehbare vor.273 Das Neue am Neuen Materialismus sei nicht, dass er eine neue gesellschaftliche Vision habe, sondern dass er auf das Neue, das Ankommende gefasst sei.274 Diese Offenheit impliziere, dass etwas, was zuvor nicht als etwas Politisches oder Soziales erachtet wurde, plötzlich als politisch oder sozial wahrgenommen werden könne. „Der neue Materialismus braucht die Fähigkeit, sich von der Potentialität der Materie verwundern zu lassen, um das, was gestern noch ‚dunkle Materie‘ war, morgen schon zu einem politisches Thema zu machen.“275 Die ANT erhält disziplinübergreifend mehr Aufmerksamkeit als der AR, vor allem im Zusammenhang mit technischen Entwicklungen. Eine Theorie, in der nicht a priori zwischen Objekt und Subjekt und damit auch nicht grundsätzlich zwischen Technik und Mensch unterschieden wird, lässt die ANT aus techniksoziologischer Perspektive reizvoll erscheinen. In einer durch und durch technisierten Gesellschaft mit einer zunehmend sozialisierten Technik gilt die ANT als Vorreiter eines Paradigmenwechsels, so Andréa Belliger und David J. Krieger: Mensch und Technik sind derart untrennbar geworden, dass eine Theorie wie die ANT, die das Zusammenleben und Zusammenwachsen von Mensch und Technik in den Vordergrund stellt, zwangsläufig zur Schlüsseltheorie wird.276

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Die ANT ermögliche außerdem neben Technikdeterminismus und Sozialdeterminismus eine Alternative. Wenn Technik und Gesellschaft nicht mehr als getrennte Bereiche gelten, die aufeinander Einfluss nehmen können, könne die Gesellschaft auch nicht mehr von Technik determiniert werden – weder positiv als Fortschritt noch negativ als Bedrohung. Gleichzeitig könne Technik nicht mehr als bloßes Resultat einer gesellschaftlichen Entwicklung verstanden werden. Statt also Technik und Gesellschaft einander gegenüberzustellen, thematisiere die ANT eine Art CoEvolution unterschiedlicher Technik-Gesellschaft-Konstellationen.277 Werner Rammert und Ingo Schulz-Schaeffer argumentieren ganz ähnlich, dass die ANT ermögliche, „den Beitrag der Technik bei der Entwicklung und Aufrechterhaltung sozialer Zusammenhänge entschiedener in den Blick zu nehmen“278. Ebenso wenig erfährt Latours vermeintlicher Anthropomorphismus nur negative Kritik. Rammert und Schulz-Schaeffer stellen fest, dass es keineswegs per se naiv und absurd sei, der Technik Handlungsträgerschaft zuzuschreiben. Es sei daher „erst einmal Vorsicht geboten gegenüber den pauschalen Vorwürfen der Begriffsverwirrung, der verunklarenden Begriffsnivellierung oder des naiven Anthropomorphismus“279. Dass Anthropomorphismus im Zusammenhang mit Technik durchaus ein hilfreiches Werkzeug ist, argumentierte der Philosoph Daniel Dennett schon in den 1970er Jahren.280 Während allerdings bei Dennett die sogenannte Intentionalität im Zusammenhang mit Dingen ein instrumentalisierbares Attributionsphänomen darstellte, eine nachträglich nützliche Deutung, versteht Latour unter Handlungsträgerschaft die tatsächliche Agency der Mensch-Ding-Konstellationen: Ziel des Spiels besteht nicht darin, Subjektivität auf Dinge zu übertragen oder Menschen als Objekte zu behandeln oder Maschinen als soziale Akteure zu betrachten, sondern die Subjekt-Objekt-Dichotomie ganz zu umgehen und statt dessen von der Verflechtung von Menschen und nicht-menschlichen Wesen auszugehen.281

Latour projiziert und überträgt also nicht einfach menschliche Eigenschaften auf Nicht-Menschliches. Die modernen Kategorien (Subjekt vs. Objekt, handlungsfähig vs. handlungsunfähig) werden dagegen grundsätzlich aufgelöst, um sie dann neu zu verhandeln. Hier sehen Rammert und Schulz-Schaeffer Potenzial. Für sie ergibt es Sinn, Subjektstatus und Handlungsträgerschaft unabhängig vom Menschen zu definieren. Mit Latour plädieren sie dafür, unter technologischen Bedingungen ein verteiltes Handeln zu untersuchen. Handlungsträgerschaft sei nicht etwas Menschliches, das man anderen Wesen gleichermaßen zuschreiben könnte. Mit einem Handlungsbegriff, der nicht mehr nur den Menschen meint, sei man in der Lage, ein feineres Bild von Handlungsträgerschaften und Verantwortlichkeiten zu zeichnen.282 Wenn die starre, dem Menschen vorbehaltene Zuordnung von Subjekt- oder Akteurstatus gelöst werde und die konventionellen Unterschiede nivelliert würden, entstünden Freiheiten, Grenzen neu zu ziehen. Rammert und

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­Schulz-Schaeffner weisen darauf hin, dass der Subjektstatus historisch auch im westlichen Kulturkreis keineswegs immer schon nur dem Menschen und erst recht nicht allen Menschen gleich zugesprochen wurde. Der Akteurstatus, obwohl historisch bedingt und konstruiert, sei allerdings nicht komplett frei einsetzbar. Er basiere auf gesellschaftlichem Konsens. Tatsächlich sei lange keinem Menschen, sondern nur Gott volle Handlungsmacht zugesprochen worden und während Frauen lange gar nicht als Rechtssubjekte galten, schränkten im 21. Jahrhundert das Alter einer Person oder ihre psychische Verfasstheit die Rechtsfähigkeit ein: Der Mensch als Akteur ist auf einer grundsätzlichen Ebene der Betrachtung mithin eine soziale Konstruktion, die erst historisch und in bestimmten Kontexten entstanden ist. Das heißt, dass zugleich auch umgekehrt damit zu rechnen ist, dass veränderte Gegebenheiten dazu führen können, dass die Kriterien der Zurechnung des Akteurstatus partiell neu ausgehandelt und neu institutionalisiert werden können.283

Belliger und Krieger verweisen ebenfalls auf das Potenzial der ANT, den Blick zu erweitern. Schließlich löse die ANT durch ihren schwachen Handlungsbegriff feste Zuschreibungen und A-priori-Kategorisierungen: Die ANT spricht von Akteuren, um das in den Blick zu bekommen, was vor der Unterscheidung zwischen Handeln und Erleben, Subjekt und Objekt, Gesellschaft und Natur am Geschehen ist, oder um das beschreiben zu können, was diese Grundunterscheidungen einführt. Statt einer Provokation und einer unzulässigen Anthropomorphisierung könnte die Akteur-Netzwerk-Theorie zur Selbstbeschreibung einer emergenten technisierten Gesellschaft beitragen.284

Zukünftig werde ein anderes Konzept von Subjektivität gebraucht als jenes, das die sich als modern erachtende globale Wissensgesellschaft nutze. Statt rationaler, autonomer Subjekte und freier Bürger*innen seien womöglich eher Akteure nötig, die heterogene Verbindungen eingehen können. Belliger und Krieger argumentieren, dass der Handlungsbegriff der ANT Freiraum für ein neuartiges Menschenbild schaffe. Dieses Menschenbild entlaste den Menschen in seiner individuellen Verantwortung285 – ein Aspekt, der, wie sich zeigen wird, wiederum kritische Stimmen provoziert. Demnach gelten in Bezugswissenschaften des Designs die nicht-anthropozentrischen Perspektiven von AR und ANT als produktiv, da sie tradierte Grenzen und Zuschreibungen aufheben. Das Auflösen von alten Kategorien lasse eine produktive Neuorientierung zu.

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2.4.4  Die Herausforderung nicht-anthropozentrischen Denkens An der einerseits vielversprechenden Offenheit, die im Neuen Materialismus angelegt ist, werden andererseits konzeptionelle Ambivalenzen und vor allem Unschärfen bemängelt.286 Eine Hauptkritik am Neuen Materialismus ist, dass dieser indifferent sei, wenn er eine Gleichwertigkeit und Hierarchielosigkeit aller Entitäten behaupte. So stellen Kritiker*innen den Nutzen eines Unterbietungswettlaufs infrage, bei dem letztlich alles als gleich bedeutungslos und nur unter materiellen Gesichtspunkten betrachtet werde.287 Es wird eine Suche nach dem kritischen Wert des Neuen Materialismus, seinem Gebrauchswert und dem gesellschaftlichen Potenzial unternommen.288 Andreas Folkers, der in seinem Aufsatz der Frage „What’s critical in matter?“289 nachgeht, stellt fest, dass der Neue Materialismus im kritischen Lager für Irritation sorgt, da er nicht mehr Sozialsysteme, sondern Operationszusammenhänge betrachtet. „Diese Prozessualität bzw. Okkasionalität der materiellen Gefüge ernst zu nehmen, heißt gerade die Frage nach dem Sozialen offen zu lassen: eine für die Soziologie und einen Großteil der kritischen Theorie häufig schwer zu ertragende Position.“290 Insbesondere das umfassende und verallgemeinerte Konzept der Ethik irritiert Rezipient*innen. Barads Begriff der Verantwortung bleibt für viele zu diffus und beliebig. Neben Witzgall, die argumentiert, dass im AR unklar bleibe, wie ethisches Verhalten tatsächlich realisiert werden könne, kritisieren Katharina Hoppe und Thomas Lempke, dass bei Barad jede Beziehung zu einer Verantwortungsbeziehung werde. Es sei somit unklar, ob Beziehungen unterschiedliche Prioritäten hätten und welche Rolle der Mensch in den jeweiligen Beziehungen spiele. Barad thematisiert zwar eine besondere „Eigenart“291 menschlicher Verpflichtung, definiert diese allerdings nicht weiter. Außerdem, so Hoppe und Lempke, verstehe Barad die unterschiedlichen Möglichkeiten im „Werden der Welt“ nicht als konkurrierende, sodass weder Konflikte zwischen den Optionen noch eine Begründung von Präferenzen thematisiert würden. „Der Betonung radikaler Kontingenz und Kontextabhängigkeit steht erstaunlicherweise eine systematische Aussparung des Moments der Spannung und des Streits gegenüber.“292 Der AR erfasse die politische Dimension von Intra-aktion nicht und bleibe damit unterentwickelt. Es fehle „ein Verständnis dafür, dass die von Barad hervorgehobene Offenheit der (Re-)Konfiguration der Welt immer auch ein politisches, das heißt umstrittenes und umkämpftes Projekt ist.“293 Die ANT bietet ebenfalls Angriffspunkte. Ein essenzieller Widerspruch ist, dass Latour, obwohl er jegliche Dichotomien ablehnt, selbst duale Unterscheidungen erzeugt, indem er modern und amodern voneinander abgrenzt. Außerdem manifestiert er die Kategorien, gegen die er ankämpft, durch den Kampf. Damit fällt er, so kann man folgern, seiner eigenen Erkenntnis über den Fetischismus zum Opfer. Wenn nur die Anti-Fetischisten an den Fetisch glauben, wie er selbst feststellt, und ihn damit überhaupt erst konstruieren, konstruiert auch Latour seine Gegner*in-

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nen selbst. Zwar plädiert er nicht für anti-modernes, sondern für amodernes Denken, doch wie nah sich die beiden Begriffe sind und wie schwer sich ein wirklich amodernes Denken bewerkstelligen lässt, ohne modernes Denken zu definieren, zu manifestieren und auch zu denunzieren, beweist Latour sich selbst. Es lässt sich nur schwer eine Alternative schaffen, ohne das zu benennen oder sogar abzuwerten, was sie ergänzt. Latour benötigt nach wie vor Begrifflichkeiten wie „Subjekt“ und „Objekt“. Auch sein Plädoyer für eine „Symmetrische Anthropologie“ setzt grundsätzlich eine duale Trennung von Entitäten voraus – Symmetrie benötigt zwei Seiten. Latour zweifelt das von ihm identifizierte moderne Denken grundlegend an. Seine Schriften haben selbst aufklärerischen Charakter. Schließlich bezweckt Latour der Moderne ihr Unbewusstes vor Augen zu halten. Er agiert also selbst im aufklärerischen Sinne kritisch, was seine Ausführungen zum Elend der Kritik294 widersprüchlich erscheinen lassen. Latour erkennt diesen Widerspruch sogar selbst, entwindet sich ihm allerdings, statt ihn weiter zu verhandeln oder zu akzeptieren.295 Statt nun auf weitere grundsätzliche Widersprüche innerhalb der ANT einzugehen,296 seien jene Kritikpunkte erörtert, die auf Latours Plädoyer für die Auflösung der Subjekt-Objekt-Dichotomie reagieren. Insbesondere die politischen Konsequenzen der ANT sind für vorliegende Arbeit relevant. Obwohl sich Latour von einem zerstörerischen Anthropomorphismus abgrenzt und den Anthropomorphismus um andere Morphismen wie den Zoomorphismus oder den Physimorphismus ergänzt, lautet ein Hauptvorwurf, dass er fälschlicherweise eine naive Vermenschlichung von Dingen betreibe.297 Verbunden mit diesem Vorwurf ist die Kritik an seinem Handlungsbegriff, den er auch auf alle nicht-menschlichen Entitäten ausdehnt und der vielfach als schwach und wenig gewinnbringend beschrieben wird. So weist etwa Kneer darauf hin, es sei eine längst bekannte und akzeptierte Feststellung, dass immer viele Entitäten an dem Zustandekommen einer Handlung beteiligt sind und auch Dinge etwas bewirkten. Latours Handlungsbegriff beziehe sich auf eine rein kausale Wirkmächtigkeit, für deren Beschreibung man keine Handlungstheorie, sondern einfach kausaltheoretisches Vokabular benötige. „Handlung“ bedeute in der Soziologie dagegen weit mehr als Ursache-Wirkung oder Reiz-Reaktion.298 Ähnlich argumentieren Rammert und Schulz-Schaeffer, die den Handlungsbegriff der ANT allerdings nicht verwerfen, sondern erweitern. Sie sehen Potenzial in einem Handlungsbegriff, der nicht per se an Menschen gebunden ist, doch wenn er nur bedeute, dass Veränderungen bewirkt werden, sei er zu schwach. Rammert und Schulz-Schaeffer bezeichnen Latours Handlungskonzept als übergeneralisiertes begriffliches „Niemandsland“ und schlagen ein differenzierteres Stufenmodell vor. Dieses beinhaltet neben dem Handeln als Möglichkeit, eine Veränderung zu bewirken (Kausalität), ein Handeln als Fähigkeit, auch anders handeln zu können und damit nicht berechenbar zu sein (Kontingenz), und auf dritter Stufe ein Handeln, das intentional und reflexiv funktioniert (Intentionalität).299

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Da Latour die Struktur wissenschaftlicher Verfahren auf die Politik überträgt,300 werden die politischen Konsequenzen der ANT besonders kontrovers diskutiert. Ihm wird in diesem Zusammenhang vorgeworfen, die Unterscheidung zwischen Wissenschaft und Politik und damit auch zwischen Tatsachen und Werten zu nivellieren. Laut Kneer entsteht damit ein eindimensionales, undifferenziertes Konstrukt: „Latours Neubeschreibung unterläuft die Multidimensionalität der modernen Sozialordnung, diese wird auf das uniforme Gefüge einer politischen Gemeinschaft reduziert.“301 Auch Gesa Lindemann diagnostiziert eine Vereinfachung, die politisch-rechtliche Probleme verursache. Latours Theorie laufe darauf hinaus, „die Rhethorik von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit auf die Dinge auszudehnen“.302 Dabei würden allerdings gar nicht alle Akteure gleichberechtigt behandelt, sondern nur jene betrachtet, die als Teil eines Kollektivs einen Unterschied machten. „Das politisch-moralische Problem liegt […] darin, dass auch menschlichen Nichtexperten nur noch ein derart abgeleiteter Akteurstatus zuerkannt wird. Latour suspendiert in seinem politischen Entwurf die moderne Errungenschaft universeller Menschenrechte.“303 Lindemann kommt zu dem Schluss, dass durch Latours Forderungen eine Expertokratie entstehen müsse, und fragt: Wer spricht für die, die nicht beteiligt sind, und die, die nicht sprechen können?304 Obwohl Lindemanns Einwand bereits zu Teilen als ein Missverständnis gedeutet wurde, zeigt der von ihr ausgelöste Diskurs,305 dass die politischen Konsequenzen der ANT Irritation und Auseinandersetzung provozieren. Vielfach wird außerdem kritisch angemerkt, dass nicht die Dinge selbst auf Menschen, sondern nur Menschen durch Dinge auf andere Menschen Einfluss nehmen könnten.306 Entgegnen lässt sich dieser Kritik, dass Latour nie äußerte, die Dinge könnten ganz alleine wirken. Ihn interessieren hingegen die Akteur-Netzwerke, die Hybriden und Propositionen, die durch Übersetzung zwischen Dingen und Menschen existieren. Dennoch wird in der Praxis – etwa am Beispiel des Waffen-Bürgers – deutlich, dass aus juristischer Perspektive eine symmetrische Betrachtung schwer möglich ist. Gerade die Anschauung, dass Verantwortung nie nur einer Seite zuzurechnen, dass sie verteilt ist, wird in vielen Situationen praktisch zum Problem. Denn vor Gericht muss sich bisher der Mensch und nur der Mensch verantworten. Auch Latours Ausführungen im Aufsatz Elend der Kritik lösen politisch-moralische Bedenken aus. Latour nimmt die Problematik, die sich ergeben könnte, selbst vorweg: „Sind wir jeder moralischen Grundlage beraubt, wenn die Denunziation sich erschöpft hat?“ Doch er fügt hinzu: „Nein, denn neben dem moralischen Urteil durch Denunziation gab es immer ein anderes Urteil, das über Sortieren und Auswahl vorgeht. Man nennt es Arrangement, Berechnung, combinazione, Dreh, aber auch Verhandlung oder Kompromiß.“307 Diese Haltung ohne autonomes, klassisch kritisches Subjekt, ohne Zustimmung und Ablehnung bleibt aus ethischer Perspektive dennoch fragwürdig. Laut Roar Høstaker resultiert daraus ein für eine politische Theorie problematischer Agnostizismus:

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By limiting his approach to what actors do, without passing judgements on their actions and their objects, a Latourian researcher may easily slip into a mode of acquiescence. As a research strategy, this agnosticism has been very fruitful, but Latour has recently tried to export it to the field of politics in order to ‚bring science into democracy‘.308

Politik hat, ganz anders als die Wissenschaft, zum Ziel, Einfluss auf das Soziale auszuüben. Eine beobachtende Haltung, die mit Sortieren statt mit Entscheiden und Haltungbeziehen befasst ist, wird an genau dieser Stelle heikel. Wie Nicole Karafyllis feststellt, gilt sowohl aus technikpessimistischer als auch aus technikoptimistischer Perspektive die Freiheitsfähigkeit des Subjekts als Kompass und Kriterium für die Einschätzung von Situationen sowie für Bewertungen und Kritik von Technik: Beide Perspektiven „nehmen zumeist auf das aufklärerische Ziel der Freiheit und die (sozialen, rechtsstaatlichen, subjektiven, natürlichen usw.) Bedingungen zum Erlangen derselben Bezug und fragen, ob Technik/Technologie einen behindernden oder ermöglichenden Einfluss ausübt.“309 Basierend auf Karafyllis Überlegung liegt die Vermutung nahe, dass den Kritiker*innen von ANT und AR ein definiertes Ziel fehlt, das eine Entscheidungsgrundlage für die Praxis darstellen könnte. Wie kann verhandelt werden, wenn gewohnte Maßstäbe – die Freiheitsfähigkeit und Autonomie des Subjekts – zur Disposition stehen? Diese Frage betrifft auch das Design, denn ähnlich wie in der Politik müssen auch hier Menschen in der Praxis Entscheidungen treffen. Wer sich, wie Latour, von Technikpessimismus und -optimismus abwendet, verursacht Unklarheit darüber, nach welchen Maßstäben sich werten und schließlich politisch eingreifen – und auch gestalten – lässt. Sobald Emanzipation als Ziel ersetzt und nicht ergänzt wird, können ethische Probleme entstehen.

2.4.5  Wertfreies Beobachten, kategorieloses Ordnen, aufmerksames Nachspüren und vorsichtiges Involvieren im Design Im Design werden AR und ANT mehrheitlich als für die Theoriebildung produktiv und für die Praxis inspirierend erachtet. Beide Theorien bieten Ansatzpunkte, um Design in einem neuen Licht zu sehen, oder bestätigen Grundlagen der Designforschung und Eigenschaften der Designpraxis, etwa die Interdisziplinarität der Forschung, die Kontextabhängigkeit der Praxis oder die Wechselwirkungen zwischen Mensch und Material in kreativen Prozessen. Die neuen Begriffe der Kritik und der Verantwortung werden in designwissenschaftlichen Texten allerdings sowohl positiv als auch negativ gewertet. Positiv aufgefasst wird, dass eine Revision dieser Begriffe den Blick öffnet. Verantwortung, die nicht mehr nur an den Menschen gebunden ist, ist unter technologischer Bedingung für das Design zumindest ein brauchbares Gedanken­

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experiment. Der nicht-anthropozentrische Kritikbegriff dient Designer*innen zur Neuausrichtung kritischen Designs – etwa bei Olander sowie bei Ward und Wilkie. Welches Potenzial eine auf Barad und Latour basierende kritische Haltung für das Design birgt, zeigt die Auseinandersetzung mit Bezugswissenschaften des Designs, die sich ebenfalls mit ANT und AR befassen. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Theorien, die Subjektivität nicht mehr grundsätzlich an den Menschen binden, erstens ein Bewusstsein über das (eigene) intra-aktive, relationale Dasein mit anderen und durch andere und damit Vorsicht im Umgang mit anderen erzeugen. Sie schaffen zweitens durch das Auflösen klassischer Kategorien (aktives Subjekt, passives Objekt) Raum für neue Kategorien. Weder in der ANT noch im AR wird ein grenzenloses, monistisches Weltbild befürwortet; allgemeine Grenzenlosigkeit ist nicht das Ziel. Durch ANT und AR können alte Grenzen infrage gestellt und alte Zuschreibungen aufgelöst werden, um neu zu sehen und neue Grenzen wahrzunehmen. Sobald Handlungsträgerschaft und Subjektstatus nicht mehr selbstverständlich an den Menschen geknüpft sind, wird deutlich, welche Entitäten neben dem Menschen tatsächlich ebenfalls politisch oder sozial wirken. So können dann auch Phänomene wie das Wetter, das jahrhundertelang politisch uninteressant war, auf neue Weise als politische Themen diskutiert werden (Klimawandel). Oder aber es können unbelebte Gegenstände als soziale Akteure verhandelt werden, was vor allem im Zusammenhang mit technischen Entwicklungen seit der Jahrtausendwende auch aus juristischer Perspektive zunehmend an Relevanz gewinnt.310 Die Designer*innen und Designwissenschaftler*innen Olander, Witzgall, Ward und Wilkie, die den Kritik- und Verantwortungsbegriff von Barad und Latour aufgreifen und für das Design fruchtbar machen, beschreiben eine Haltung, durch die in erster Linie beobachtet, sortiert und nachgespürt wird. In den praktischen Beispielen, die sie verhandeln, werden Dialoge mit anderen eröffnet und eine Bühne für Dialoge zwischen anderen gebaut. Begegnung ist das Ziel. Die Komplexität der Wechselwirkungen und Dynamiken zwischen Entitäten wird exploriert, dargelegt und dargestellt. Kritik passiert hier nicht von außen und mit Abstand, sondern durch Involvieren. Aus der ANT und dem AR wird für das Design eine Haltung des wertfreien Beobachtens, des kategorielosen Ordnens, aufmerksamen Nachspürens und vorsichtigen Involvierens abgeleitet. Es wird angestrebt, sich mit anderen verbunden zu fühlen, statt zu bewerten. Es sollen, wie es scheint, erst Zusammenhänge verstanden werden, bevor beurteilt wird.311 Das auf dem Neuen Materialismus basierende Kritik- und Verantwortungsverständnis schafft aus designwissenschaftlicher Perspektive allerdings auch Probleme. Im interdisziplinären Diskurs werden ANT und AR dafür kritisiert, mit der Anerkennung von nicht-menschlicher Agency das menschliche Subjekt aufzugeben. Für Designer*innen und Designwissenschaftler*innen, die sich auf den Kritikund Verantwortungsbegriff von ANT und AR berufen, bleibt es eine Herausforderung, die kritischen Stimmen der Bezugswissenschaften zu entkräften, anstatt sie

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einfach zu ignorieren. Folgende ethische und politische Unklarheiten und Schwierigkeiten ließen sich identifizieren: Die Auflösung des menschlichen Subjektbegriffs ist aus juristischer Perspektive problematisch. Wird der Mensch nur als Teil eines Handlungsgefüges verstanden, kann er sich nur teilweise verantworten. Wie nicht-menschliche Phänomene, ob Wolken, Computerviren oder sich selbst steuernde Autos als Mitbeteiligte für ihre Mitverantwortung zur Rechenschaft gezogen werden sollen, bleibt unklar. Durch die nicht-anthropozentrische Perspektive scheint von der Freiheitsfähig­ keit des menschlichen Subjekts Abstand genommen zu werden. Wenn Handlungsund Willensfreiheit negiert werden, kann dies zu politischem Defätismus führen. Die Vorstellung einer kollektiven Subjektivität kann in ein anti-anthropozentrisches Weltverständnis umschlagen, das die alten Rollen – aktives Subjekt, passives Objekt – einfach nur vertauscht. Wenn Dingen quasi-intentionale Souveränität zugesprochen wird, könnten Menschen als passive Effekte betrachtet werden. ANT und AR kommen ohne klassisch kritisches Subjekt aus oder wenden sich, wie Latour, explizit gegen Kritik im Sinne eines Abstandnehmens. Ihr Fokus liegt hingegen auf Involviertheit, auf Tatsachen als Sachen der Tat und einem gemeinschaftlichen, praktischem Intra-agieren. Dabei bleibt unklar, nach welchen Maßstäben man sich aus ethischer Perspektive involvieren und gestalten könnte.

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2.5  KRITISCHES DESIGN AUF GRUNDLAGE DES NEUEN MATERIALISMUS Im ersten Kapitel der vorliegenden Arbeit wurde die Bedeutung widerständiger Objekte für die Subjektbildung dargestellt und erörtert, wie kritische Designpraxis bewusst Widerständigkeit gestaltet, um Kritik zu äußern und kritische Subjektivität zu ermöglichen. Provozierende, widerständige Artefakte und klare Grenzen zwischen Subjekt und Objekt wurden im ersten Kapitel als Bedingung für Kritik und kritische Subjektivität verstanden und die entsprechende Designpraxis wurde als Distanzierendes Kritisches Design (DKD) bezeichnet. In diesem zweiten Kapitel lag das Augenmerk auf der Technisierung von Dingen im 20. Und insbesondere im 21. Jahrhundert und auf der Frage, inwiefern durch die Technisierung die Grenzen zwischen Subjekt und Objekt verwischen und wie Designer*innen mit der veränderten Mensch-Ding-Beziehung umgehen können, um kritisch zu agieren oder über die Dinge Wissen zu erlangen. Eine mögliche Reaktion ist der Versuch, die verloren gegangene Widerständigkeit durch Produktgestaltung zu reanimieren, d. h. etwa die unsichtbaren Dinge sichtbar oder die „intelligenten“ Dinge „dumm“ zu gestalten. Man würde vernetzte Dinge entnetzen und die anthropomorphen Objekte entmenschlichen. Die Dinge wären womöglich wieder physisch und mental greifbar, ihre Grenzen fassbar. Natürlich würde damit nur die neue Gegenständlichkeit vermieden und damit auch ihre Potenziale. Dieser regressive Prozess wäre allein durch Design selbstverständlich nicht vollständig umsetzbar. Eine weitere Möglichkeit besteht darin, im Sinne von Critical Design punktuell Kompensationsräume zu schaffen, also Artefakte in Galerien, Ausstellungen und Publikationen zu zeigen, die dazu einladen, über die Unsichtbarkeit und Ungreifbarkeit der Dinge zu reflektieren. Hier würden – und werden ja bereits – Dinge gezeigt, die befremden: dysfunktionale Artefakte sowie dystopische Zukunftsvorstellungen. Designer*innen ermöglichen so Reflexionsräume für andere Designer*innen, die Designforschung und die allgemeine Öffentlichkeit. Diese Räume sind Aufklärungsräume, die vor Gefahren warnen oder zu Alternativen inspirieren. Sie können als DKD kritische Subjektivität provozieren, die auf Abstand beruht: Abstand zum Betrachtungsgegenstand, zum gewohnt gewordenen Alltagsraum und dem in der Handlung unbemerkten Zeugganzen. Für Latour wäre dieses kritische Design wohl ein gutes Beispiel für die fairy position, denn es würde Illusionen entlarven, Menschen aufklären oder sogar anderen Naivität unterstellen. Das zweite Kapitel der vorliegenden Arbeit sollte der Designforschung eine alternative Perspektive auf Subjektivität, Verantwortung und Kritik eröffnen, die ganz andere Umgangsweisen mit den technischen Dingen nahelegt. ANT und AR plädieren statt für Abstand zwischen Subjekt und Objekt für Beziehung und ein relationales Dasein und statt für das Schärfen der Grenzen zwischen Subjekt und Ob-

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jekt für das Auflösen alter Subjekt-Objekt-Kategorien. Eine derartige Perspektive ist für die Designforschung mit dem Forschungsgegenstand technischer Dinge – bzw. Undinge und Nicht-Dinge – gleichermaßen problematisch und vielversprechend. Kritiker*innen aus Bezugswissenschaften des Designs sehen durch das Auflösen der Grenzen zwischen Subjekt und Objekt in den Theorien des Neuen Materialismus die Freiheitsfähigkeit des Menschen infrage gestellt, was in der Praxis politische und juristische Probleme nach sich ziehen könne. Kritik und auch kritisches Design ohne freiheitsfähiges, kritisches Subjekt sind praktisch schwer vorstellbar. Auch DKD basiert auf der Idee von Freiheitsfähigkeit und autonom Verantwortung tragenden Subjekten. Als aufschlussreich erweist sich in diesem Zusammenhang die Argumentation der Philosophin Eva Schürmann: Weder die Freiheitsfähigkeit noch die Determiniertheit des menschlichen Subjekts seien praktisch beweisbar; beide Perspektiven gründen auf Glaubenssätzen. Keine Disziplin und Perspektive – von der Hirnforschung bis zur Medienwissenschaft – könnten Deutungshoheit beanspruchen. Dennoch sei es wichtig, die jeweiligen Theorien zu befragen, „ob ihre Perspektivierungen politisch wünschenswert oder praktisch haltbar sind und ob wir uns so sehen wollen, wie sie uns zeigen.“312 Fraglich bleibt vor diesem Hintergrund, ob Designforschende den Menschen als den Dingen ebenbürtige Akteure denken sollten. Schließlich bleibt bei der ANT und dem AR unklar, wie eine Gesellschaft geteilter Verantwortung praktisch funktionieren kann. In beiden Ansätzen ist Verantwortung etwas, das durch Verbindung und Relation besteht. Es drängt sich die Frage auf, inwiefern es sinnvoll ist, wenn Menschen sich nur als geteilt verantwortlich sehen. Für ein verantwortungsvolles Verhalten in der Praxis scheint es Bedingung zu sein, die eigene Freiheit und Autonomie zumindest theoretisch vorauszusetzen. Folgt man Schürmann und überträgt ihre Argumentation auf das Design, sollten Selbstreflexion und Selbstbewusstsein wichtige Kategorien bleiben, auch für ein kritisches Design, das im Neuen Materialismus für den Umgang mit technischen Dingen nach Orientierung sucht. Gleichzeitig lässt sich der Neue Materialismus sogar explizit für das Ziel der Selbstreflexion nützlich machen. Denn das bewusste und probeweise Aufheben von vordefinierten Kategorien (Subjekt, Objekt) und Unterschieden (passiv, aktiv) kann auch Erkenntnisgewinn über Unterschiede und damit Selbstbewusstsein schaffen. In der Argumentation von ANT und AR verbirgt sich entsprechend Potenzial für ein neues Selbst- und Grenzbewusstsein – und ein derartiges Grenzbewusstsein ist, wie in diesem zweiten Kapitel klar wurde, gerade deshalb relevant, da die Grenzen zwischen Mensch und Ding durch Technisierung sich kontinuierlich verwischen oder verschieben (Undinge, Nicht-Dinge). Das paradox anmutende Potenzial, Grenzbewusstsein durch das Auflösen von Grenzen zu erlangen bzw. Distanz durch Nähe herzustellen, deutete sich in vorliegendem zweiten Kapitel bereits in der Auseinandersetzung mit anthropomorphen Dingen an. Wie Riskin und Meyer-Drawe darlegen, kann durch die Simulation des Menschen –

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etwa durch die Konstruktion humanoider Roboter – Wissen und Bewusstsein über das Menschliche erlangt werden. Beide sehen in anthropomorphen Dingen wie Automaten und Robotern die Möglichkeit der Selbstreflexion. Es entstehen, wie es scheint, erkenntnisstiftende Vergleichsmomente zwischen Entitäten, wenn sich diese annähern. Das Auflösen von Subjekt-Objekt-Kategorien, wofür Latour und Barad theoretisch plädieren, hat unter technologischen Bedingungen paradoxerweise Potenzial, neue Grenzen und Kategorien wahrzunehmen und Selbstbewusstsein zu ermöglichen. In diesem Sinne lässt sich aus der ANT und dem AR eine neue reflexive Haltung ableiten, die sich kritische Designpraxis zunutze machen kann, allerdings bisher in designwissenschaftlicher Auseinandersetzung mit den beiden Ansätzen so noch nicht benannt wurde. Hinsichtlich ANT und AR im Design wurde bislang vielmehr ein Modus des wertfreien Beobachtens, des kategorielosen Ordnens, des aufmerksamen Nachspürens und des vorsichtigen Involvierens erarbeitet. Themen wie eine neue Grenzziehung oder eine neue Selbstreflexion bleiben designwissenschaftlich im Zusammenhang mit ANT und AR unbesprochen. Jene Designer*innen, die einen neuen Begriff der Kritik auf Grundlage von ANT und AR entwickeln, beispielsweise Olander, Ward und Wilkie, thematisieren Grenzziehung und Selbstreflexion nicht. Jedoch könnte das Thema der nicht-anthropozentrischen Grenzziehung den designwissenschaftlichen Diskurs um ANT und AR bereichern und vor allem auf die kritischen Stimmen antworten, die befürchten, dass ANT und AR durch das Aufheben von Hierarchien den menschlichen Subjektbegriff auflösen. Mit ANT und AR verschiebt sich das Verständnis von Kritik, Verantwortung und Reflexion wie es auch bei DKD vorausgesetzt wird. Wie das, was im Neuen Materialismus theoretisch inspiriert wird, praktisch umgesetzt werden kann, bleibt allerdings noch offen. In den folgenden Ausführungen gilt es zu prüfen, welche konkreten Möglichkeiten im Design bestehen, um Widerständigkeit und Grenzen zu erfahren, obwohl (oder gerade weil) die Grenzen zwischen Mensch und Technik verwischen und obwohl (oder gerade weil) menschliche Subjekte von Grund auf relational involviert sind. Existieren nicht-anthropozentrische Kulturtechniken oder Praktiken, die vor dem Hintergrund der technischen Dinge des 21. Jahrhunderts kritische Subjektivität und Selbstreflexion auf relationale Weise ermöglichen? Ist kritisches Design im Zusammenhang einer umweltlich gedachten Subjektivität, ohne klassisches kritisches Subjekt, überhaupt möglich? Es stellt sich die Frage, ob unter technologischen Bedingungen neue Formen kritischen Designs denkbar sind, durch die im Sinne von ANT und AR keine autonome menschliche Subjektperspektive beansprucht wird und die dennoch Selbstbewusstsein und Selbstreflexivität zulassen. Wie kann Design Unterschiede zwischen Mensch und Technik, die nicht grundsätzlich aufgehoben werden sollen oder deren Aufhebung aus emanzipatorischer Perspektive gar gefürchtet wird, verhandeln, ohne auf die gewohnten Subjekt-Objekt-Kategorien zurückzugreifen? Auf der Suche nach konkreten Praktiken werden im nächsten Kapitel mit den Theorien zum Animismus Ansätze in den Blick genommen, die der ANT und dem AR naheliegen.

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Die Begrifflichkeiten „technologische Bedingung“ und „technologische Objektkultur“ beziehen sich auf die Medientheorie von Erich Hörl. Dieser stellt fest: „Die sinngeschichtliche Umwendungsbewegung, in der wir uns befinden, ist heute insbesondere durch die Heraufkunft neuer Objektkulturen geprägt, genauer: aktiver und selbsttätiger, um nicht zu sagen ‚intelligenter‘, mehr und mehr in unsere Umwelten versenkter, unsere Infrastrukturen informierender, unsere Erfahrungs- und Seinshintergründe höchst rechenintensiv prozessierender, in neuen mikrotemporalen Regionen operierender, eben im eminenten Sinne techno-logischer Objektkulturen, die nunmehr das Gesicht und die Logik der Kybernetisierung auszeichnen. Es sind diese technologischen Objektkulturen, mit denen wir gekoppelt sind, die die Souveränität und Verfügungsmacht des bedeutunggebenden transzendentalen Subjekts endgültig aus den Angeln heben.“ E. Hörl: 2011, S. 12. Vgl. Hans D. Hellige: „Krisen- und Innovationsphasen in der Mensch-Computer-Interaktion“, in: Hans D. Hellige (Hg.), Mensch-Computer-Interface. Zur Geschichte und Zukunft der Computerbedienung, Bielefeld: transcript 2008, S. 11–92, hier S. 17. Etwa von Jean Baudrillard, Manfred Faßler, Villém Flusser oder Florian Rötzer. V. Flusser: 1993, S. 81–82. Die Vorstellung einer Virtuellen Realität diente in der Vision des Ubiquitous Computing sogar als Abgrenzung und wurde bewusst abgelehnt. Vgl. Suzana Alpsancar: Das Ding namens Computer. Eine kritische Neulektüre von Vilém Flusser und Mark Weiser, Bielefeld: transcript 2012, S. 199–202. Mark Weiser: „The Computer for the 21st Century“, in: Scientific American 265 (1991), S. 94–104, hier S. 94. Weiser arbeitete in den 1990er Jahren am Xerox Palo Alto Research Center (PARC) und erprobte dort Infrastrukturen für Büro- und Wohnumgebungen. Da das Unternehmen Apple die Patente von PARC nutzen durfte, bot Apple 20 Jahre später genau diese Produkte an, etwa den Tablet Computer. Stärker als die Entwicklung von Endgeräten stand bei PARC allerdings die Beforschung der Beziehung zwischen Mensch und Technik im Vordergrund. Vgl. Florian Sprenger/Christoph Engemann: „Im Netz der Dinge“, in: Florian Sprenger/Christoph Engemann (Hg.), Internet der Dinge. Über smarte Objekte, intelligente Umgebungen und die technische Durchdringung der Welt, Bielefeld: transcript 2015, S. 7–58, hier S. 15. Weiser nach S. Alpsancar: 2012, S. 199. Mark Weiser/John S. Brown: „Das kommende Zeitalter der Calm Technology“, in: Florian Sprenger/Christoph Engemann (Hg.), Internet der Dinge. Über smarte Objekte, intelligente Umgebungen und die technische Durchdringung der Welt, Bielefeld: transcript 2015, S. 59–71, hier S. 71. Vgl. Florian Sprenger: „Die Vergangenheit der Zukunft. Kommentar zu ‚Das kommende Zeitalter der Calm Technology‘“, in: Florian Sprenger/Christoph Engemann (Hg.), Internet der Dinge. Über smarte Objekte, intelligente Umgebungen und die technische Durchdringung der Welt, Bielefeld: transcript 2015, S. 73–85, hier S. 74. Vgl. auch: S. Alpsancar: 2012, S. 196, 212. M. Weiser/J. S. Brown: 2015, S. 64. Der NFC-Chip sollte den Träger*innen mittels einer App Fitness-Informationen und Marketing-Botschaften mitteilen. „Adidas will Sportschuhe mit NFC ausstatten“, http://mobilbranche.de /2015/03/internetdinge-adidas (letzter Zugriff: 20.07.2020). G. Selle: 2014, S. 42. Ebd., S. 39. Ebd., S. 40. V. Flusser: 1993, S. 84. Ebd., S. 87. Ebd., S. 88. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts spielen die Fingerspitzen eine wichtige Rolle bei der Technikinteraktion, etwa bei Touchscreens. Michel Serres tauft in einer optimistischeren Bewertung der technisierten Welt die Protagonist*innen der vernetzten Generation „Däumelinchen“ und „Kleiner Däumling“. Michel Serres: Erfindet euch neu! Eine Liebeserklärung an die vernetzte Generation, Berlin: Suhrkamp 2013, S. 15. G. Selle: 2015, S. 87. Vgl. H. D. Hellige: 2008, S. 55–67. Dass NUI nicht natürlich, sondern kulturell erlernt sind, argumentierte Donald Norman. Vgl. Donald Norman: „Natural User Interfaces Are Not Natural“, 2018, https://jnd.org/natural_user_inter faces_are_ not_ natural/ (letzter Zugriff: 04.10.2020) Zu sprach- und gestenbasierter Steuerung wurde bereits in den 1960er Jahren geforscht. So entstand 1976/77 an der School of Art & Design der University of Illinois in Chicago der erste Datenhandschuh.

ANMERKUNGEN 119

­Myron W. Krueger nutze 1969/70 als erster Videokameras, um Gesten nachzuverfolgen. Für einen historischen Überblick vgl. H. D. Hellige: 2008, S. 55–59. 23 G. Selle: 2014, S. 43. 24 „Google Glass Support“, https://support.google.com/glass/answer/4353446?hl=en (letzter Zugriff: 01.08.2020). 25 „Smart Contact Lenses“, http://www.sammobile.com/2016/04/05/samsung-is-working-on-smart-contact-lenses-patent-filing-reveals/ (letzter Zugriff: 01.08.2018). 26 Vgl. H. D. Hellige: 2008, S. 63. Anwendung fanden BCI insbesondere in der Unterstützung von Personen mit körperlichen Einschränkungen, doch weitere Anwendungsmöglichkeiten wurden und werden erprobt. Vgl. hierzu „BNCI Horizon 2020“, http://bnci-horizon-2020.eu (letzter Zugriff: 08.08.2016). 27 Die beiden Armbänder weisen minimale technische Unterschiede auf. Myo kann komplexere Bewegungsabläufe erkennen, da es die Muskelaktivität der Träger*innen misst. Vlg. hierzu Timo Kaerlein: „Die Welt als Interface. Über gestenbasierte Interaktionen mit vernetzten Objekten“, in: Florian Sprenger/Christoph Engemann (Hg.), Internet der Dinge. Über smarte Objekte, intelligente Umgebungen und die technische Durchdringung der Welt, Bielefeld: transcript 2015a, S. 137–159 und „Reemo“, http://www.getreemo.com (letzter Zugriff: 01.08.2016); „Myo“, https://www.myo.com (letzter Zugriff: 01.08.2016). 28 Neil Gershenfeld: Wenn die Dinge denken lernen, München, Düsseldorf: Econ 1999, S. 166. 29 Laut Kaerlein verhalten sich Anwender und Welt als Teil eines Interface-Arrangements wie Cursor und Desktop. Vgl. auch Eva Hornecker: „Die Rückkehr des Sensorischen. Tangible Interfaces und Tangible ­Interaction“, in: Hans D. Hellige (Hg.), Mensch-Computer-Interface. Zur Geschichte und Zukunft der Computerbedienung, Bielefeld: transcript 2008, S. 235–256, hier S. 252. 30 Vgl. „Digiwell“, https://digiwell.com/shopping-guide-biohacking (letzter Zugriff: 01.08. 2016). 31 T. Kaerlein: 2015a, S. 158. 32 Vgl. ebd., S. 139. 33 Ebd., S. 155. 34 Ebd., S. 158 35 Für einen historischen Überblick vgl. H. D. Hellige: 2008, S. 65–67; E. Hornecker: 2008, S. 240–245. 36 Seit den 1990er Jahren existieren zahlreiche elektronische Musikinstrumente oder Instrumente für die Architektur- und Stadtplanung, bei denen dreidimensionale Elemente auf einem Screen verschoben werden können. Teils besteht noch Ähnlichkeit zu Touchscreens. Vgl. etwa das Planungsinstrument Shadowbox der Tangible Media Group am MIT Media Lab oder das Musikinstrument reactabel der Music Technology Group an der Universität Pompeu Fabra in Barcelona: „Shadowbox“, http://tangible.media.mit.edu /project/shadowbox/ (letzter Zugriff: 10.08.2016); „Reactable“, http://reactable.com (letzter ­Zugriff: 10.08.2020). 37 Vgl. hierzu etwa das Projekt Materiable der Tangible Media Group (TMG) des MIT Media Lab. „Tangible Media Group Projects“, http://tangible.media.mit.edu/project/materiable/ (letzter Zugriff: 10.08.2020). 38 Vgl. hierzu die studentischen Arbeiten unter der Leitung von Andreas Muxel: Andreas Muxel: „Der Aufstand der Dinge“, in: Judith Dörrenbächer/Kerstin Plüm (Hg.), Beseelte Dinge. Design aus Perspektive des Animismus, Bielefeld: transcript 2016, S. 51–69. 39 „Uncover“, http://www.design-research-lab.org/projects/undercover/ (letzter Zugriff: 10.07. 2020). 40 linked wurde explizit für männliche Teenager entwickelt und erlaubt über Distanz Nähe mit anderen zu erleben Vgl. Matthias Laschke/Marc Hassenzahl/Kurt Mehnert: „linked. A Relatedness Experience for Boys“, in: Proceedings of the Conference on Nordic Converence on Human-Computer Interaction – NordiCHI ‘10 (2010), S. 839–844. 41 E. Hornecker: 2008, S. 253. 42 Der Begriff Interface geriet im Zusammenhang mit TUI zunehmend in Kritik. Produktdesigner*innen kritisieren, TUI würden immer noch analog zu den gewohnten grafischen Interfaces entwickelt. Sie seien klassische Ein- und Ausgabegeräte, bei denen Interfacegestaltung eine reine Oberflächengestaltung sei. Das wirkliche Potenzial physischer Objekte und physischer Interaktion würde gar nicht genutzt. 2006 schlagen der Designer Jakob Buur und die Medienwissenschaftlerin Eva Hornecker den alternativen Begriff Tangible Interaction vor und verbinden mit ihm den Anspruch, das tatsächliche Handlungspotenzial, das von materiellen Dingen ausgeht, zu gestalten. Vgl. Eva Hornecker/Jacob Buur: „Getting a Grip on Tangible Interaction. A Framework on Physical Space and Social Interaction“, in: Proceedings of the Conference on Human Factors in Computing Systems – CHI ’06 (2006), S. 437–446. 43 D. Norman: 2018. 44 Ebd.

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G. Selle: 2014, S. 47. Vilém Flusser: Gesten. Versuch einer Phänomenologie, Düsseldorf: Bollmann 1991, S. 42. Ebd., S. 88–89. Für eine Auseinandersetzung mit analogen, dreidimensionalen Abbildern des Menschen vgl. Horst ­Bredekamp: Theorie des Bildakts, Berlin: Suhrkamp 2010. Zu den bekanntesten Automaten zählen die Musikautomaten und Die verdauende Ente von Jacuqes de Vaucanson (1709–1782) und das Automatentrio L’ecrivain, Le dessinateur und La musicienne aus der Uhrmacherfamilie Jaquet-Droz (Herstellung 1772–1774). Vgl. Annette Beyer: Faszinierende Welt der Automaten. Uhren, Puppen, Spielereien, München: Callwey 1983. Bzgl. Descartes vgl. auch 3.1.4 in dieser Arbeit. Vgl. Julien O. d. La Mettrie: L’Homme Machine/Der Mensch eine Maschine, Ditzingen: Reclam 2015. Vgl. Bianca Westermann: Anthropomorphe Maschinen. Grenzgänge zwischen Biologie und Technik seit dem 18. Jahrhundert, Paderborn: Wilhelm Fink 2012, S. 76–78. Zum Konzept des Roboters vgl. auch: ebd., 91 f. Vgl. „Pepper“, https://www.softbankrobotics.com/emea/en/pepper (letzter Zugriff: 23.07. 2020). „Paro“, http://www.parorobots.com (letzter Zugriff: 23.09.2020). „Robear“, http://www.riken.jp/en/pr/press/2015/20150223_2 (letzter Zugriff: 23.09.2020). Vgl. auch Kapitel 3.3.2 in dieser Arbeit. „Eccerobot“, http://eccerobot.org/home/project.html (letzter Zugriff: 08.10.2020). Die Fragen zum nicht-menschlichen Denken sind Teil des Forschungsfelds der künstliche Intelligenz (KI). In der starken KI wird davon ausgegangen, dass das menschliche Gehirn wie ein Computer funktioniert und Intelligenz programmierbar ist. In der schwachen KI geht man dagegen davon aus, dass sich menschliche Intelligenz beim Computer nur simulieren lässt. Alan M. Turing betrachtete schon Mitte des 20. Jahrhunderts das Gehirn als eine Maschine, die sich simulieren lässt – zumindest als Arbeitshypothese. Letztlich gelang es Turing allerdings nicht, einen Code zur Beschreibung menschlicher Denkvorgänge zu finden. Turing interessierten nicht die metaphysischen Fragen, was der Mensch, die Maschine oder Intelligenz und Denken sind, sondern, ab wann ein Computer als intelligent erachtet wird. Indem er Intelligenz als Attributionsphänomen dachte, verlagerte er die Diskussion auf die Interpret*innen. Den sogenannten Turing-Test besteht eine Maschine dann, wenn eine Person sie nicht von einem Menschen unterscheiden kann. Vgl. Dieter Mersch: „Turing-Test oder das ‚Fleisch‘ der Maschine“, in: Lorenz Engell/Frank Hartmann/Christiane Voss (Hg.), Körper des Denkens. Neue Positionen der Medienphilosophie, München: W. Fink 2013, S. 9–27. Seine bekanntesten humanoiden Roboter sind Cog und Kismet. Vgl. Rodney A. Brooks: Menschmaschinen. Wie uns die Zukunftstechnologien neu erschaffen, Frankfurt am Main/New York: Campus-Verlag 2002, S. 81 f., S. 105 f. Vgl. ebd., 88 f. Computerwissenschaftler*innen verstehen unter dem Neologismus „Wetware“ das menschliche Gehirn in Analogie zu Hardware und Software des Computers. Jessica Riskin: „Künstliches Leben produzieren. Denkparallelen im Automatenbau des 18. Jahrhunderts und heute“, in: Barbara Orland (Hg.), Artifizielle Körper – lebendige Technik. Technische Modellierungen des Körpers in historischer Perspektive, Zürich: Chronos 2005, S. 65–85, hier S. 65–66. Riskin erkennt Parallelen zwischen dem späten 18. Jahrhundert (Androiden) und dem späten 20. Jahrhundert (KI-Forschung). In Zeiten großer technischer Innovationen würden das Wesen der Maschine und des Lebens in Frage stehen. Im 17. und 19. Jahrhundert standen, laut Riskin, hingegen Analogien zwischen Mensch und Technik im Fokus. Bei der Analogie sei eine der beiden Kategorien – Mensch oder Technik – eine statische Vorstellung. Käte Meyer-Drawe: Menschen im Spiegel ihrer Maschinen, München: Fink 1996, S. 37–38. Schon 1974 galt Anthropomorphisierung als wichtiges Entwicklungsziel bei NUI: „With the tremendous developments in computing which we have witnessed in the past two decades, it is now time that computers should be ‚humanized‘ and that many men and woman be liberated from distance between men and machines.“ Morton I. Bernstein nach Hellige. H. D. Hellige: 2008, S. 55. Für einen historischen Überblick seit den 1950er Jahren vgl. ebd., 68 f. Der Begriff Software-Agent wird allerdings sehr unterschiedlich definiert. „Hence the term ‚software agent‘ might best be viewed as an umbrella term that covers a range of other more specific and limited agent types“ Jeffrey M. Bradshaw: „An Introduction to Software Agents“, in: Jeffrey M. Bradshaw (Hg.), Software Agents, Menlo Park, Cambridge, London: AAAI Press; MIT Press 1997, S. 3–46, hier S. 8.

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68 Jeffrey M. Bradshaw identifiziert für die Entwicklung von Software-Agenten zwei Hauptmotive: „1) ­simplifying the complexities of distributed computing and 2) overcoming the limitations of current user interface approaches.“ Ebd., S. 12. 69 Vgl. H. D. Hellige: 2008, S. 70. 70 Ebd. 71 Etwa bei selbstfahrenden Fahrzeugen wie jenen, die von Waymo/Google entwickelt werden. Vgl. „Waymo“, https://waymo.com (letzter Zugriff: 12.09.2020). 72 Donald Norman: „How Might People Interact with Agents“, in: Jeffrey M. Bradshaw (Hg.), Software Agents, Menlo Park, Cambridge, London: AAAI Press; MIT Press 1997, S. 49–66, hier S. 49. 73 „Ross“, http://www.rossintelligence.com, (letzter Zugriff: 10.10.2018). 74 „Replika“, https://replika.ai (letzter Zugriff: 16.07.2020) 75 Brenda Laurel: „Interface Agents. Metaphors with Character“, in: Jeffrey M. Bradshaw (Hg.), Software Agents, Menlo Park, Cambridge, London: AAAI Press; MIT Press 1997, S. 67–77, hier S. 70. 76 Vgl. H. D. Hellige: 2008, S. 74. 77 „[D]evelop a system that recognizes words of speech and people assume that the system has full language understanding, which is not at all the same thing.“ D. Norman: 1997, S. 51–52. 78 Ebd., S. 52. 79 Timo Kaerlein: „The Social Robot as Fetish? Conceptual Affordances and Risks of Neo-Animistic Theory“, in: International journal of social robotics 7 (2015b), S. 361–370, hier S. 368. 80 Ebd., S. 369. 81 Womöglich besteht ein Zusammenhang zwischen diesem Unbehagen und dem Anthropomorphismusvorwurf der westlichen Philosophie. Vgl. Kapitel 2.3.1 in dieser Arbeit. 82 Im antiken Mythos von Pygmalion wurde die eigene anthropomorphe Schöpfung dagegen als Bereicherung dargestellt: Pygmalion verliebt sich in die von ihm selbst kreierte Statue, lässt sie zum Leben erwachen und lebt schließlich mit ihr zusammen. 83 Vgl. Frédéric Kaplan: „Who is Afraid of the Humanoid? Investigating Cultural Differences in the Acceptance of Robots“, in: International Journal of Humanoid Robotics 1 (2004), S. 1–16, hier S. 9. Franke spricht von „Frankensteinian Dream“. Vgl. Anselm Franke: „Much Trouble in the Transportation of Souls. or: The Sudden Disorganization of Boundaries“, in: Anselm Franke (Hg.), Animism. Volume I, Berlin: Sternberg Press 2010, S. 11–53, hier S. 34. 84 Vergleiche zur Schöpfungsgeschichte zieht auch Meyer-Drawe. Sie identifiziert in der KI-Forschung „eine alte Sehnsucht nach Gottebenbildlichkeit“ K. Meyer-Drawe: 1996, S. 13. 85 Vgl. Masahiro Mori: „The Uncanny Valley“, in: Energy 7 (1970), S. 33–35. Künstliche Wesen, die nicht den Anspruch erheben, menschlich zu sein, beispielsweise Comicfiguren, werden leichter akzeptiert. 86 So heißt es 2016 in Der Spiegel: „Der Angriff der Roboter gefährdet die Existenz der Mittelschicht: Bedroht sind nicht mehr nur Tätigkeiten in der Werkhalle, jetzt trifft die Digitalisierung auch qualifizierte Kräfte in Büros, Kanzleien und Praxen.“ Markus Dettmer/Martin Hesse/Alexander Jung/Martin U. Müller/Thomas Schulz: „Mensch gegen Maschine“, in: Der Spiegel vom 3.9.2016 (2016), S. 10–18, hier S. 10. 87 D. Norman: 1997, S. 50. 88 Der Begriff Internet der Dinge geht auf Kevin Ashton zurück, der ihn 1999 erstmals nannte. Vgl. Kevin Ashton: „That ‚Internet of Things‘ Thing. In the Real World, Things Matter More Than Ideas“, 2009, https://www.rfidjournal.com/that-internet-of-things-thing (letzter Zugriff: 04.10.2020). 89 Vgl. Mercedes Bunz: „Die Dinge tragen keine Schuld. Technische Handlungsmacht und das Internet der Dinge“, in: Florian Sprenger/Christoph Engemann (Hg.), Internet der Dinge. Über smarte Objekte, intelligente Umgebungen und die technische Durchdringung der Welt, Bielefeld: transcript 2015, S. 163–180, hier S. 166. 90 RFID bedeutet Radio Frequency Identification. Es handelt sich um millimetergroße Kleinstcomputer, eine Weiterentwicklung der seit den 1970er Jahren bekannten Barcodes. RFID-Chips funktionieren über Radiowellen, die allerdings nicht dauerhaft senden, sondern durch Induktion selbstständig Energie erzeugen sobald sie mit einem Lesegerät in Berührung kommen. 91 Gemeint ist eine selbstorganisierte auf Vernetzung basierende industrielle Produktion. Vgl. „Industrie 4.0“, https://www.bmbf.de/de/zukunftsprojekt-industrie-4–0–848.html (letzter Zugriff: 04.10.2020). 92 Vgl. das Angebot Instant Ink „HP“, http://www8.hp.com/de/de/instant-ink/overview.html (letzter Zugriff: 01.11.2016). 93 Vgl. Patrick Beuth: „Hack den Herzschrittmacher!“, 2015, https://www.zeit.de/digital/datenschutz/2015–12/32c3-herzschrittmacher-hacker (letzter Zugriff: 04.10.2020).

122  WANDEL DER OBJEKTWELT UND DER NEUE MATERIALISMUS 

94 Ian Bogost: „Das Internet der Dinge, die wir nicht brauchen“, in: Florian Sprenger/Christoph Engemann (Hg.), Internet der Dinge. Über smarte Objekte, intelligente Umgebungen und die technische Durchdringung der Welt, Bielefeld: transcript 2015, S. 89–100. 95 M. Bunz: 2015, S. 163. 96 I. Bogost: 2015, S. 94. 97 Vgl. Michael Seemann: „Game of Things“, in: Florian Sprenger/Christoph Engemann (Hg.), Internet der Dinge. Über smarte Objekte, intelligente Umgebungen und die technische Durchdringung der Welt, ­Bielefeld: transcript 2015, S. 101–117, hier S. 115. 98 „Sie sprechen Privatsprachen, einen ganzen Zoo an spezialisierten, proprietären Eigenentwicklungen, das Babel der Dinge. Deswegen können sie nur das, was sie können sollen.“ Ebd. 99 Vgl. B. Sterling: 2005, S. 11. Spimes fügen sich in seine Definition von sechs Objekttypen: „Artifacts“ seien handgefertigte Dinge, die als Unikate produziert wurden und allein mittels Muskelkraft als Werkzeuge funktionieren. „Machines“ seien durch die Industrialisierung seit dem 16. Jahrhundert entstanden und benötigten nicht-menschliche Energie, um zu funktionieren. „Products“ seien durch die Arbeitsteilung des 20. Jahrhunderts enstandene Massenprodukte und werden passiv konsumiert. „Gizmos“, deren Erscheinen er auf das Jahr 1989 datiert, seien keine alleinstehenden Objekte mehr, sondern Interfaces innerhalb einer Infrastruktur und durch Nutzer*innen veränderbar. Das Erscheinen von „Spimes“ datiert er auf das Jahr 2004, als RFID erstmals umfassend vom US-Militär eingesetzt wurde. „Biots“ seien Entitäten, die sich aus Mensch („Wrangler“) und Technik („Spime“) zusammensetzten – er beschreibt einen Verschmelzungszustand und prognostiziert diesen für die Zukunft. 100 Ebd., S. 77. 101 M. Bunz: 2015, S. 168–169. 102 Vgl. ebd., S. 177. Zum Phänomen „offener Objekten“ vgl. Lorenz Engell/Bernhard Siegert (Hg.): Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung. Schwerpunkt Offene Objekte. Heft 1/2011, Hamburg: Felix Meiner 2011. Auch hier werden „offenen Objekten“ Eigenschaften von Medien zugesprochen aber anders als bei Bunz als Beziehungsstifter und Provokateure von Entscheidungen gewertet. „Offene Objekte […] sind aber vor allem anderen begegnungsfähige Dinge. In diesem Sinne sind sie wirklich und wirksam. Sie befinden sich aber auch als physische Objekte im Zustand des noch Unentschiedenen. Zunächst oft rätselhaft und ungreifbar, bilden sie ihren Status erst allmählich heraus, indem sie Entscheidungen hervorrufen und Positionierungen einfordern.“ Lorenz Engell/Bernhard Siegert: „Editorial“, in: Lorenz Engell/Bernhard Siegert (Hg.), Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung. Schwerpunkt Offene Objekte. Heft 1/2011, Hamburg: Felix Meiner 2011, S. 5–9, hier S. 8. 103 M. Bunz: 2015, S. 178. 104 E. Hörl: 2011, S. 14–15. 105 Ebd., S. 27. 106 Ebd., S. 32. 107 Vgl. Dirk Baecker: „Technik und Entscheidung“, in: Erich Hörl (Hg.), Die technologische Bedingung. Beiträge zur Beschreibung der technischen Welt, Berlin: Suhrkamp 2011, S. 179–192, hier S. 188; Katherine Hayles: „RFID. Human Agency and Meaning in Information-Intensive Environments“, in: Jörgen Schäfer/ Peter Gendolla (Hg.), Beyond the Screen. Transformations of Literary Structures, Interfaces and Genres, Bielefeld: transcript 2010, S. 95–122, hier S. 95; Mark. B. N. Hansen: Feed-forward. On the Future of Twenty-first-century Media, Chicago, London: The University of Chigaco Press 2015; E. Hörl: 2011, S. 32. 108 Ebd., S. 26. 109 M. Bunz: 2015, S. 164. 110 Ebd., S. 165. 111 Ebd., S. 178. 112 Natascha Adamowsky: „Vom Internet zum Internet der Dinge. Die neue Episteme und wir“, in: Florian Sprenger/Christoph Engemann (Hg.), Internet der Dinge. Über smarte Objekte, intelligente Umgebungen und die technische Durchdringung der Welt, Bielefeld: transcript 2015, S. 119–135, hier S. 129. 113 Vgl. K. Hayles: 2010, S. 96. 114 M. Bunz: 2015, S. 166. 115 H. D. Hellige: 2008. 116 F. Sprenger: 2015, S. 46. 117 M. B. N. Hansen: 2015, S. 5. 118 F. Sprenger: 2015, S. 8. 119 B. Sterling: 2005, S. 77. 120 K. Hayles: 2010, S. 106.

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121 F. Sprenger: 2015, S. 11. 122 Bzgl. Magisches Denken bei Freud und Piaget vgl. Kapitel 3.1.2 und 3.1.3 in vorliegender Arbeit. 123 Gemeint ist das von Günther Anders thematisierte Gefälle zwischen der Unvollkommenheit des biologisch gezeugten Menschen und der Perfektion bewusst konstruierter Artefakte. Hieraus resultiere der sogenannte prometheische Scham des Menschen gegenüber der Technik. Vgl. Günther Anders: Die Antiquiertheit des Menschen. Bd. 1. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, München: C. H. Beck 1985, S. 23–95. 124 So bestehe beispielsweise die Gefahr, dass die rezipierende Umwelt übermäßige Selbstdisziplinierung oder Selbstinszenierung und so Konformitätsdruck erzeuge. Vgl. Michael Friedewald: „Ubiquitous Computing. Ein neues Konzept der Mensch-Computer-Interaktion und seine Folgen“, in: Hans D. Hellige (Hg.), Mensch-Computer-Interface. Zur Geschichte und Zukunft der Computerbedienung, Bielefeld: transcript 2008, S. 259–280, hier S. 276. 125 C. Hubig: 2007, S. 31. 126 Ebd., S. 32. 127 N. Adamowsky: 2015, S. 134–135. 128 M. Friedewald: 2008, S. 274–275. 129 Ebd., S. 276. 130 C. Hubig: 2007, S. 33. 131 Ebd., S. 31. 132 „Für die menschliche Kompetenz und ihre Erhaltung bezüglich einer Interaktion mit Medien muss daher gefordert werden, dass die Vorfindlichkeit von Spuren des Medialen, an denen sich die Fähigkeiten der Subjekte abarbeiten und dadurch entwickeln, bewähren und fortschreiben können, gegeben sein muss.“ Ebd., S. 35. 133 Vgl. etwa N. Adamowsky: 2015, S. 133. Auch Selle fordert von Designer*innen, die unsichtbaren Werkzeugfunktionen sichtbar zu machen: Vgl. G. Selle: 2014, S. 41. Transparenz wird auch bei anthropomorpher Technik gefordert: Vgl. D. Norman: 1997, S. 50. 134 N. Karafyllis: 2011, S. 245. Karafyllis legt ihrer Argumentation Richard Sennetts Abhandlungen zum Handwerk, das Sennett als Möglichkeit der Selbstvergewisserung mithilfe von äußeren Artefakten begreift, zugrunde. 135 Ebd., S. 233. 136 Ebd., S. 229. 137 „Der neue Grund und Boden, den wir seit dem Eingang in die Kybernetik und damit eben in die technologische Bedingung betreten haben und auf dem seither unsere Welt-, Erfahrungs- und Sinnbildungsprozesse stattfinden, lässt sich langsam deutlicher bestimmen, und zwar gerade in seiner ganz spezifischen Grund- und Bodenlosigkeit: als ein Sinnregime, das die originäre Technizität des Sinns exponiert, stets humane und nicht-humane Handlungsmöchte zusammenfügt, das vor der Differenz von Subjekt und Objekt operiert, das ohne Ende prothetisch und supplementär, eher immanent als transzendental und in unerhörtem Maße distribuiert, ja ökotechnologisch ist.“ E. Hörl: 2011, S. 10. Hörl grenzt in Anlehnung an Serge Moscovici drei Naturzustände voneinander ab, die jeweils unterschiedlich das Verhältnis Mensch und Nicht-Mensch beschreiben: Im organischen Zustand, der laut Moscovici mit der Renaissance endet, wird menschliche Aktion als formgebend und welterzeugend gedacht. In der darauffolgenden mechanischen Natur wird der Mensch selbst als Teil einer formgebenden Maschine verstanden. Sowohl im organischen als auch im mechanischen Naturzustand wird Bedeutung konstruiert, indem sinnloser Materie eine sinnvolle Form eingeschrieben wird. Erst in der sogenannten kybernetischen Natur, mit Aufkommen von Kommunikationstechnologien, ist, laut Hörl, eine Unterscheidung zwischen Form und Materie nicht mehr sinnvoll. Die Formung von Objekten trete als Kernaktivität zurück. Vgl. ebd., 23 ff. 138 Vgl. hier auch: Erich Hörl: „Die künstliche Intelligenz des Sinns. Sinngeschichte und Technologie im Anschluss an Jean-Luc Nancy“, in: ZMK Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung: Medienphilosophie 1 (2010), S. 129–147, hier S. 145–146. 139 E. Hörl: 2011, S. 17. 140 Ebd., S. 25. 141 Ebd., S. 21. 142 Ebd., S. 28. 143 Vgl. ebd., 23 ff. Vgl. außerdem Erich Hörl: „Die Ökologisierung des Denkens“, in: Zeitschrift für Medienwissenschaften 8 (2016), S. 33–45. 144 E. Hörl: 2011, S. 34.

124  WANDEL DER OBJEKTWELT UND DER NEUE MATERIALISMUS 

145 „To grasp the place of the human within today’s media networks, and to appreciate how these networks actualize a properly elemental conception of the human, we must adopt a radically environmental perspective encompassing human activity as one element among others: such a perspective views human agency just as it does any other type of agency, namely, as internally differentiated, dispersed across various scales and operational divisions, and implicated in and immanent to a total, multi-scalar cosmological situation.“ M. B. N. Hansen: 2015, S. 2. 146 Ebd., S. 3 147 Vgl. ebd., S. 10. Vgl. an dieser Stelle die Parallelen zum Neuen Animismus, insbesondere zu den Ausführungen der Anthropologin Nurit Bird-David: Kapitel 3.2.2 in dieser Arbeit. 148 Vgl. auch M. B. N. Hansen: „Ubiquitous Sensation. Toward an Atmospheric, Collective, and Microtemporal Model of Media“, in: Ulrik Ekman (Hg.), Throughout. Art and Culture Emerging with Ubiquitous Computing, Cambridge, Massachusetts: MIT Press 2013, S. 63–88. 149 „I attempt to deploy his neutral theory of experience in order to decenter – but not to dispense with – the perspective of the human.“ M. B. N. Hansen: 2015, S. 15. 150 „Our (higher-order) subjectivity acquires its power not because it incorporates and processes what is outside, but rather through its direct co-participation or sharing in the polyvalent agency of myriad subjectivities.“ Ebd., S. 12. 151 Vgl. K. Hayles: 2010, S. 95. 152 Etwa der Soziologie, der Politikwissenschaften, der feministschen Theorie, der Humangeographie oder der Anthropologie. 153 „Materie wird produziert und ist produktiv, sie wird erzeugt und ist zeugungsfähig.“ Karen Barad: Agentieller Realismus, Berlin: Suhrkamp 2012a, S. 14. 154 Der Begriff, eigentlich New Materialism oder Neo Materialism, wurde von Rosi Braidotti und Manuel DeLanda geprägt. Vgl. Susanne Witzgall: „Macht des Materials/Politik der Materialität – eine Einfürhung“, in: Susanne Witzgall (Hg.), Macht des Materials – Politik der Materialität, Zürich [u. a.]: Diaphanes 2014, S. 13–27, hier S. 14. 155 Vgl. ebd., S. 16. 156 So merkt etwa Karen Barad kritisch an: „Der Sprache wurde zuviel Macht eingeräumt. Die sprachkritische Wende, die semiotische Wende, die interpretative Wende, die kulturelle Wende: Es scheint daß in jüngster Zeit bei jeder Wende jedes ‚Ding‘ – selbst die Materialität – zu einer sprachlichen Angelegenheit oder einer anderen Form von kultureller Repräsentation wird.“ K. Barad: 2012a, S. 7. 157 Ebd., S. 21. 158 Latour selbst würde den Begriff Kritik vermutlich nur ungern mit der ANT in Verbindung sehen, schließlich wendet er sich, wie sich im vorliegenden Text zeigen wird, explizit gegen die Kritik. Doch die ANT wendet sich tatsächlich gegen die Moderne – ein Paradox der ANT-Argumentation. 159 Latour versteht unter dem Begriff Natur sowohl die ökologische Umwelt des Menschen als auch die objektive Außenwelt aus epistemologischer Perspektive bzw. die Wirklichkeit an sich. 160 B. Latour: 2008, S. 58. 161 „In dieser doppelzüngigen Sprache liegt die kritische Macht der Modernen: Sie können die Natur inmitten der sozialen Beziehungen mobilisieren und trotzdem unendlich von den Menschen entfernt halten; sie sind frei, ihre Gesellschaft zu schaffen und abzuschaffen, und machen trotzdem aus den gesellschaftlichen Gesetzen etwas Unausweichliches, Notwendiges und Absolutes.“ Ebd., S. 52. 162 Georg Kneer wirft Latour vor, von einem verkürzten Konzept der Moderne auszugehen. Latour thematisiere nur eine bestimmte kulturelle Selbstbeschreibung der Moderne, meine also eine semantische Moderne und beachte die strukturellen Veränderungen der Moderne nicht. Vgl. Georg Kneer: „Hybridizität, zirkulierende Referenz, Amoderne? Eine Kritik an Bruno Latours Soziologie der Assoziationen“, in: Georg Kneer/Markus Schroer/Erhard Schüttpelz (Hg.), Bruno Latours Kollektive. Kontroversen zur Entgrenzung des Sozialen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008, S. 261–305, hier 264 ff. Kritisiert wird auch, dass Latour fälschlicherweise den Ursprung der dichotomisierenden Reinigungsarbeit in der Moderne verorte, während dichotomes Denken im westlichen Kulturkreis bereits seit der Antike existiere. Seine Argumentationsgrundlage werde damit fragwürdig. Vgl. Matthias Wieser: Das Netzwerk von Bruno Latour. Die Akteur-Netzwerk-Theorie zwischen Science & Technology Studies und poststrukturalistischer Soziologie, Bielefeld: transcript 2012, S. 172. 163 B. Latour: 2008, S. 65. 164 Ebd., S. 67. 165 Vgl. B. Latour: 2007a, S. 221.

ANMERKUNGEN 125

166 Die ANT entlehnt den Begriff Aktant der Semiotik, genauer dem Aktantenkonzept von Algirdas Julien Greimas. Vgl. Andréa Belliger/David J. Krieger: „Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie“, in: Andréa Belliger (Hg.), Anthology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie, Bielefeld: transcript 2006, S. 13–50, hier S. 33. „Weil es im Falle von nicht-menschlichen Wesen etwas ungewöhnlich klingt, von ‚Agenten‘ zu sprechen, sagen wir besser Aktanten“ B. Latour: 2002, S. 219. Die Trennung erscheint inkonsequent, da Latour hier wieder eine Trennung zwischen Menschen und Nicht-Menschen kreiert. In späteren Texten spricht Latour unabhängig von der Entität immer nur noch von Akteur. 167 Ebd., S. 217. 168 Ebd., S. 215. 169 Vgl. auch M. Wieser: 2012, S. 183. 170 Vgl. B. Latour: 2002, S. 381. 171 Ebd. 172 Ebd., S. 217–218. 173 Ebd., S. 217. 174 Ebd., S. 218. 175 Letztlich kommt allerdings auch Latour nicht umhin, mit den Begriffen Subjekt und Objekt zu operieren. Latour ließe sich sogar vorwerfen, dass er durch die Kritik an den dualen Kategorien, diese Kategorien selbst immer wieder stärkt. 176 Latour spricht auch von „Propositionen“, die eine unauflösliche Einheit aus menschlich und nichtmenschlich darstellen. Propositionen sind das, was Entitäten miteinander verbindet. Mit dieser Begrifflichkeit, die er Alfred North Whitehead entlehnt, vermeidet er, dass etwas überhaupt getrennt thematisiert werden kann, da es laut Latour gar nicht an sich existiert. Hier tun sich Parallelen zu Karen Barads Begriff der „Intra-aktion“ auf. 177 B. Latour: 2007a, S. 131. 178 B. Latour: 2002, S. 219. 179 Vgl. B. Latour: 2007a. 180 „Beobachten“ steht dabei als Kulturtechnik an erster Stelle. Die ANT möchte alle großen Strukturmodelle und theoretischen Setzungen der Soziologie umgehen. Durch sie soll kein neues theoretisches System entworfen werden, sondern aufgezeigt werden, wie Netzwerke geschaffen sind. Es geht nicht um die Analyse des Beobachtbaren, sondern um das genaue Hinsehen selbst. Immer wieder betont Latour, dass er keine Reduktion, sondern „Irreduktion“ anstrebt. Es wird für Feldforschungen, Berichte, Notizbücher, Listen und Pinnwände zur Kartographie von heterogenen Netzwerken plädiert. Im besten Fall kommt eine „Soziologie der Assoziationen“ ohne Hierarchien und lineare Logik aus, macht das Globale lokal und hält Stufenordnungen flach. In der ANT geht es darum, „[a]uf unordentliche Weise einen unordentlichen Bericht über eine unordentliche Welt zusammenzustellen“. Ebd., S. 236. Zum Potenzial der Kulturtechnik des Listenmachens in der ANT (Offenheit, Ergänzbarkeit und Gleichwertigkeit ihrer Elemente) vgl. auch: Urs Stäheli: „Das Soziale als Liste. Zur Epistemologie der ANT“, in: Friedrich Balke/ Maria Muhe/Antonia von Schöning (Hg.), Die Wiederkehr der Dinge, Berlin: Kadmos 2012, S. 83–101. Für eine Auseinandersetzung mit der Pinnwand vgl. John Law: „Pinnwände und Bücher“, in: Friedrich Balke/ Maria Muhe/Antonia von Schöning (Hg.), Die Wiederkehr der Dinge, Berlin: Kadmos 2012, S. 21–45. 181 Vgl. B. Latour: 2010. 182 Ebd., S. 100. 183 Ebd., S. 83–84. Inwiefern die vormoderne Vergangenheit einen Exoitismus der Moderne darstellt, wird in den Texten zum Alten Animismus in dieser Arbeit deutlich. Vgl. Kapitel 3.1.5. 184 Xenophanes kritisierte schon 500 v. Chr. die anthropomorphen Gottesvorstellungen der griechischen Religion als naive Projektion. Eine Skepsis gegenüber dem Anthropomorphismus wird ab dem 18. Jahrhundert beinahe verbindlich. Kant stellt aus seiner idealistischen Perspektive fest, dass der Mensch gar nicht anders kann, als andere Wesen zu vermenschlichen („symbolischer Anthropomorphismus“), sich aber darüber bewusst werden muss, dass die anthropomophen Vorstellungen nicht der Realität entsprechen (diese Annahme wäre ein zu vermeidender „dogmatischer Anthropomorphismus“). Vgl. W. Welsch: 2012, S. 197–204. Für Feuerbach, Nietzsche, Plessner, Heidegger, Lukás und Horkheimer/ Adorno gilt der Anthropomorphismus als verhängnisvoller Trugschluss. Vgl. Daniel Hermsdorf: Filmbild und Körperwelt. Anthropomorphismus in Naturphilosophie, Ästhetik und Medientheorie der Moderne, Würzburg: Königshausen u. Neumann 2011, S. 458–469; G. Lanczkowski, H. W. Schütte, R. Fabian: „Anthropomorphismus“, in: Joachim Ritter (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Basel: Schwabe & co 1971, S. 375–378, hier S. 375–378. 185 B. Latour: 2010, S. 280.

126  WANDEL DER OBJEKTWELT UND DER NEUE MATERIALISMUS 

186 Aus einem Vortrag von Bruno Latour am 8. Februar 2010 zur Annahme des Kulturpreises der Münchener Universitätsgesellschaft. Vgl. Bruno Latour: „Ein Versuch, das ‚Kompositionistische Manifest‘ zu schreiben“, 2010, https://www.heise.de/tp/features/Ein-Versuch-das-Kompositionistische-Manifest-zuschreiben-3384467.html (letzter Zugriff: 04.10.2020). 187 „Der Ausdruck ‚anthropomorph‘ unterschätzt unsere Menschlichkeit, und zwar um einiges. Man müßte von Morphismus sprechen. Im Menschlichen kreuzen sich Technomorphismen, Zoomorphismen, Physiomorphismen, Ideomorphismen, Theomorphismen, Soziomorphismen, Psychomorphismen. Ihre Allianzen und ihr Austausch definieren alle zusammen den anthropos. Ein Wesen, das Morphismen zusammenbraut und mischt, reicht das nicht als Definition? Je näher es dieser Einteilung kommt, desto menschlicher wird es. Je weiter es sich davon entfernt, desto eher nimmt es Formen an, in denen seine Menschlichkeit bald nicht mehr zu erkennen ist, auch wenn es in Gestalt der Person, des Individuums oder des Selbst auftreten sollte. Sobald man seine Form von jenen Formen isolieren will, die es zusammenbraut, verteiligt man den Humanismus nicht, sondern verliert ihn.“ B. Latour: 2008, S. 182–183. Zu Latours Auseinandersetzung mit dem Anthropomorphismus, Animismus und Inanimismus vgl. außerdem B. Latour: 2010, S. 82 ff., 116, 123, 290; Bruno Latour: Aramis, or the Love of Technology, Cambridge, Massachusetts: Harvard University Press 1996, S. 225–227. 188 Ebd., S. 227. 189 Ebd., S. 225. 190 Er steht damit, wie Matthias Wiesner feststellt, in einer Tradition postmoderner und später poststrukturalistischer Theorien. Vgl. M. Wieser: 2012, S. 175. Dies, obwohl Latour sich immer wieder von postmodernen Argumentationen abgrenzt. 191 B. Latour: 2008, S. 61. 192 Bruno Latour: Elend der Kritik. Vom Krieg um Fakten zu Dingen von Belang, Zürich, Berlin: Diaphanes 2007b, S. 16. 193 Ebd., S. 19. 194 Vgl. ebd., S. 36. 195 Ebd., S. 37. 196 Vgl. B. Latour: 2007a, 286 ff. 197 B. Latour: 2002, S. 345. 198 Beide Positionen beschreibt auch Wolfgang Welsch als Teile ein und desselben endlosen Spiels der ­Moderne. Vgl. W. Welsch: 2012, 399 ff. 199 B. Latour: 2002, S. 349. 200 Ebd., S. 356. 201 Ebd., S. 332. 202 Ebd., S. 354. 203 B. Latour: 2008, S. 64. 204 Ebd., S. 60. 205 B. Latour: 2002, S. 34. 206 Ebd., S. 374. 207 Ebd., S. 338. 208 B. Latour: 2007b, S. 47. 209 Vgl. B. Latour: 2002, S. 347. 210 B. Latour: 2007b, S. 45. 211 Ebd., S. 55. 212 B. Latour: 2008, S. 65. 213 K. Barad: 2012a, S. 20. 214 Barad baut ihre Theorie auf der Atomphysik von Niels Bohr auf. Vgl. ebd. 215 Ebd., S. 14. 216 Judith Butler setze Materie als etwas Passives voraus. Barad kritisiert neben Butler auch andere Poststrukturalist*innen wie Michel Foucault, die eigentlich ebenso den Humanismus ablehnen: „Bezeichnenderweise verstrickt sich jede dieser kritischen Perspektiven in ihren eigenen Anthropozentrismen. […] Keine geht so weit, Menschen und Nicht-Menschen in ihrer wechselseitigen Konstitution zu verstehen, als integrale Bestandteile des Universums – und nicht als Wesen im Universum.“ Ebd., S. 71. 217 Ebd., S. 43. 218 Ebd., S. 38. 219 Ebd., S. 36. 220 Ebd., S. 100.

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221 Zu den ethischen Konsequenzen vgl. auch Karen Barad: „Quantum Entanglements and Hauntological Relations of Inheritance. Dis/continuities, SpaceTime Enfoldings, and Justice-to-Come“, in: Derrida T ­ oday 3 (2010), S. 240–268 insbesondere S. 265 ff. und K. Barad: 2012a, S. 76–77. 222 K. Barad: 2010, S. 265. 223 K. Barad: 2012a, S. 86. 224 Ebd. 225 „Zu jedem Zeitpunkt gibt es bestimmte Möglichkeiten der (Intra-)Aktion, und diese sich verändernden Möglichkeiten implizieren eine ethische Verpflichtung im Werden der Welt verantwortlich zu intraagieren, sich mit den relevanten Dingen und dem, was von der Relevanz ausgeschlossen ist, auseinanderzusetzen und sie bzw. es umzuarbeiten.“ Ebd., S. 88. 226 Karen Barad: „Intra-actions“, in: Mousse (2012b), S. 76–81, hier S. 81. 227 Karen Barad: „Berühren. Das Nicht-Menschliche, das ich also bin“, in: Susanne Witzgall (Hg.), Macht des Materials – Politik der Materialität, Zürich [u. a.]: Diaphanes 2014, S. 163–176, hier S. 175. 228 Ebd., S. 173. 229 Vgl. K. Barad: 2012b, 100 f. 230 Ebd., S. 76. 231 Vgl. M. Wieser: 2012, S. 93. 232 In den Medienwissenschaften wurde die ANT erst relativ spät rezipiert – dies erstaunt insofern, als sich die ANT mit dem Konzept der Vermittlung bzw. der Idee von Entitäten als Mittler befasst und auf den Kommunikationstheorien von Michel Serres aufbaut. Aus medienwissenschaftlicher Perspektive nähert sich der ANT ebd., S. 101–120. Vgl. außerdem die Anthologie: Erhard Schüttpelz/Tristan Thielmann (Hg.): Akteur-Medien-Theorie, Bielefeld: transcript 2013. 233 Bruno Latour: „Ein Vorsichtiger Prometheus. Einige Schritte hin zu einer Philosophie des Designs“, in: Marc Jongen/Sjoerd van Tuinen/Koenraad Hemelsoet (Hg.), Die Vermessung des Ungeheuren. Philosophie nach Peter Sloterdijk, München: Fink 2009a, S. 356–373. 234 Ebd., S. 358. 235 Etwa: „Waren wir auch im Design nie wirklich modern?“, „Wer führte die unbedachten Mischungen von Wissenschaft und Gesellschaft durch, sind es nicht die Designer_innen?“, „Wie können wir Faitiches entwickeln ohne immanente Steigerungslogik?“ Vgl. H. Matt: 2014. 236 Eine Auswahl an Konferenzen: DGTF Tagung 2015 Reassembling Relationships: People, Systems, Things DGTF Tagung FH Potsdam, 16.-17.10.2015; Beziehungskisten – Sozialität und Soziabilität durch Dinge, Bauhaus-Universität Weimar, 11.-12.11.2016; DGTF Tagung 2018 Matters of Communication HfG Karlsruhe 16.11.-17.11.2018. 237 Vgl. Hajo Greif nach M. Wieser: 2012, S. 87. 238 G. Kneer: 2008, S. 263. 239 H. Matt: 2014, S. 39. 240 2015 erschien eine Sonderausgabe der Zeitschrift „CoDesign. International Journal of CoCreation in Design and the Arts“ mit zahlreichen Aufsätzen zur ANT: Cristiano Storni/Thomas Binder/Per Linde et al. (Hg.): Designing Things Together. Intersections of Co-Design and Actor-Network Theory 2015. 241 B. Latour: 2009a, S. 362. 242 Latour grenzt Objekte von Dingen ab, indem er sich etymologische auf den germanischen Begriff „Thing“ bezieht, der so viel wie Versammlung bedeutete. 243 A. Yaneva: 2012. 244 Ebd., S. 76–77. 245 Vgl. in diesem Zusammenhang auch Matt, der feststellt, dass ein gestaltetes Erscheinungsbild (Corporate Identity) nicht eine Firmenidentität repräsentiert, sondern diese hervorbringt. „Wir müssen uns auf diesem Wege vom Sprechen über Repräsentation in der Designpraxis verabschieden. […] Gerade weil Design performativ ist (nicht primär semiotisch), ist Design auch fähig, Veränderungen des Verhaltens zu erwirken, die Änderung der Form (selbst die spielerische) erzeugt neues Handeln.“ H. Matt: 2014, S. 46. 246 A. Yaneva: 2012, S. 83. 247 G. Schweppenhäuser: 2018, S. 262. 248 Ebd., S. 260. 249 Ebd., S. 268. 250 Vgl. ebd., S. 264. 251 Ebd., S. 268. 252 Ebd.

128  WANDEL DER OBJEKTWELT UND DER NEUE MATERIALISMUS 

253 Ebd., S. 269. 254 Vgl. Matt Ward/Alex Wilkie: „Made in Criticalland. Designing Matters of Concern“, in: Networks of Design: Proceedings of the Annual International Conference of the Design History Society (UK). Goldsmiths Research Online (2009), S. 1–7. 255 Gemeint sind Texte von Michel de Certeau, Jean Baudrillard und Jaques Derrida. Vgl. ebd., S. 2. 256 Ebd. 257 Ebd., S. 3 258 Damit gehen Ward und Wilkie, ohne dies explizit zu machen, auf ein Anliegen Latours ein. Latour fordert Designer*innen auf, zukünftig nicht mehr nur Objekte zu zeichnen oder zu modellieren, sondern Darstellungsformen für die Komplexität der Matters of Concern – der „Dinge, die uns etwas angehen“ – zu finden. „Wir wissen, wie wir einen Gegenstand zeichnen können, aber wir haben keine Ahnung, wie es ist, ein Ding zu zeichnen.“ B. Latour: 2009a, S. 371. Hier lohnt auch eine Auseinandersetzung mit den Vorgehensweisen von John Law, auf den sich Matt und Wilkie nicht beziehen, der aber ihren Ansatz hätte sinnvoll informieren können. Law liefert nicht nur anschauliche Beispiele für den Prozess des Mapping, sondern wendet außerdem in Diskursen um die sogenannte Post-ANT den Blick von stabilisierten Netzwerken hin zu den Herstellungsprozessen von Netzwerken. Vgl. J. Law: 2012; John Law/John Hassard (Hg.): Actor Network Theory and After, Boston, Massachusetts: Blackwell Publishers 1999. 259 M. Ward/A. Wilkie: 2009, S. 3. 260 Ebd., S. 5. 261 „It is a post-criticality that is inherently experimental, always orientated towards what could be, but first and foremost, it is collaborative in nature.“ Sissel Olander: „Post-Critical Potentials in Experimental Codesign“, in: Proceedings of Design Research Society (2016), S. 985–996, hier S. 986. 262 Ebd., S. 990. 263 Sissel Olander: „Some Aspects and Characteristics of Design Anthropology as a Post-critical Practise“, in: Paper for the seminar Speculative Intervention, August 14–15, 2014, Copenhagen, DK, The Research Network for Design Anthropology. (2014), S. 1–14, hier S. 13. (Download am 20.03.2018: https://kadk.dk/ sites/default/files/sisselolanderdesignanthropologyaspost-criticalpractisereduced.pdf) 264 Die deutsche Übersetzung erschien 2012: K. Barad: 2012a, S. 86. 265 Für einen Überblick über den Neuen Materialismus aus Perspektive von Design, Architektur und Kunst vgl. den Sammelband Susanne Witzgall (Hg.): Macht des Materials – Politik der Materialität, Zürich [u. a.]: Diaphanes 2014. Für eine designwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Barad im Zusammenhang der Praxistheorie vgl. Lucy Kimbell: „Rethinking Design Thinking. Part II“, in: Design and Culture 4 (2012), S. 129–148. Meist wird der AR im Design nur als Perspektive mit stärkerem Fokus auf Performativität neben der ANT genannt und nicht eigenständig diskutiert. Vgl. Li Jönsson: Design Events. On Explorations of a Non-anthropocentric Framework in Design, Kopenhagen: The Royal Danish Academy of Fine Arts, School of Design 2014. 266 H. Matt: 2014, S. 39–40 267 Lucy Suchman: Human-Machine Reconfigurations. Plans and Situated Actions, Cambridge, New York: Cambridge University Press 2007, S. 285. 268 Ebd. 269 Ebd., S. 286. 270 Susanne Witzgall: „Immanente Relationen. Von der Handlungsmacht der Dinge zur nicht-repräsentionalistischen Kunst und relationalem Design“, in: Judith Dörrenbächer/Kerstin Plüm (Hg.), Beseelte Dinge. Design aus Perspektive des Animismus, Bielefeld: transcript 2016, S. 87–117, hier S. 114. 271 Ebd., S. 106. 272 Ebd., S. 115. 273 Vgl. Katharina Hoppe/Thomas Lemke: „Die Macht der Materie. Grundlagen und Grenzen des agentiellen Realismus von Karen Barad“, in: Soziale Welt 66 (2015), S. 261–280, hier 9–10,16; Andreas Folkers: „Was ist neu am neuen Materialismus? Von der Praxis zum Ereignis“, in: Tobias Goll/Daniel Keil/Thomas Telios (Hg.), Critical Matter. Diskussionen eines neuen Materialismus, Münster: edition assemblage 2013, S. 16–33, hier S. 30. 274 Vgl. ebd. 275 Ebd. 276 A. Belliger/D. J. Krieger: 2006, S. 15. 277 Vgl. ebd., 20 f. Vgl. auch Werner Rammert/Ingo Schulz-Schaeffer: „Wenn soziales Handeln sich auf menschliches Verhalten und technische Abläufe verteilt“, in: Werner Rammert/Ingo Schulz-­Schaeffer

ANMERKUNGEN 129

(Hg.), Können Maschinen handeln? Soziologische Beiträge zum Verhältnis von Mensch und Technik, Frankfurt am Main, New York: Campus 2002, S. 11–64. 278 Ebd., S. 33. 279 Ebd., S. 57. 280 Dennett beschreibt intentionales Vokabular als nützliche Sprachkonvention zur Beschreibung komplexer Systeme. Etwas müsse nicht menschlich sein, um ihm menschliche Eigenschaften gewinnbringend zuschreiben zu können. Intentionalität ist für Dennett keine Eigenschaft von etwas, sondern die Sichtweise eines Betrachters auf etwas. Über manche besonders komplexe Lebewesen und Artefakte lassen sich laut Dennett bestimmte Einsichten nur erlangen, wenn man sie intentional beschreibt, etwa bei Menschen und Tieren aber auch bei Maschinen wie dem Schachcomputer. Bei ihnen könne das Verhalten am einfachsten prognostiziert werden, wenn man ihnen Gedanken und Intentionen zuspreche. Vgl. etwa Daniel C. Dennett: „Intentional Systems“, in: The Journal of Philosophy 68 (1971), S. 87–106; Daniel C. Dennett: The Intentional Stance, Cambridge, Massachusetts, London: MIT Press 1987, S. 13–42. 281 B. Latour: 2002, S. 236–237. 282 „Wenn wir vorschlagen, Ebenen und Grade menschlicher und technischer agency zu unterscheiden, dann verbinden wir damit die Erwartung, die Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den menschlichen und technischen Aktivitäten innerhalb sozio-technischer Zusammenhänge differenziert empirisch untersuchen zu können: nämlich auf den verschiedenen Ebenen und in den unterschiedlichen Ausprägungen dessen, was es jeweils heißen kann zu handeln.“ W. Rammert/I. Schulz-Schaeffer: 2002, S. 59. 283 Ebd., S. 52–53. 284 Andréa Belliger/David Krieger: „ANT – Nichts Neues? Nichts Nützliches?“, in: Zeitschrift für Kulturwissenschaften 2 (2009), S. 119–123, hier S. 122. 285 Sie begründen den Mehrwert eines schwachen Handlungsbegriffs wie folgt: „Eine erste Antwort auf die Frage ist die Feststellung, dass die ANT zufolge Intentionalität, Freiheit und psychische Innerlichkeit nicht mehr als notwendige Eigenschaften eines Akteurs gelten. Die Hefe muss nicht Selbstbewusstsein, einen freien Willen und Intentionen besitzen, um ein Akteur zu sein. Und wenn die Hefe diese Eigenschaften nicht braucht, sind die Menschen ebenfalls entlastet.“ A. Belliger/D. J. Krieger: 2006, S. 35. 286 Katharina Hoppe und Thomas Lempke beispielsweise identifizieren eine ambivalente und fundamentalistische Verwendung und Konzeption des Begriffs der Materie. Vgl. K. Hoppe/T. Lemke: 2015, 10 f. 287 Vgl. A. Folkers: 2013, S. 29. 288 Dem widmet sich v. a. der Sammelband: Tobias Goll/Daniel Keil/Thomas Telios (Hg.): Critical Matter. Diskussionen eines neuen Materialismus, Münster: edition assemblage 2013. Die Beiträge des Bandes überprüfen den Neuen Materialismus auf dessen gesellschaftskritisches Potenzial. 289 A. Folkers: 2013, S. 29. 290 Vgl. ebd., S. 30. 291 „Um es zu wiederholen, menschliche Subjekte haben eine Rolle zu spielen, und zwar eine konstiutive Rolle, aber wir müssen uns über die Eigenart dieser Rolle im klaren sein.“ K. Barad: 2012b, S. 77. 292 K. Hoppe/T. Lemke: 2015, S. 14. 293 Ebd. 294 B. Latour: 2007b. 295 „Wenn ich versuchte, ihre Illusion [die Illusion der Modernen, Anm. d. Verf.] zu enthüllen, ihre wirkliche Praxis aufzudecken, ihren unbewußten Glauben zu ergründen, ihr doppelzüngiges Reden zu entlarven, würde ich tatsächlich eine sehr moderne Rolle spielen, indem ich meinen Platz in einer langen Reihe von Kritikern und Demaskierern einnehme.“ B. Latour: 2008, S. 56. „Ich versuche also den schwierigen Schachzug, die moderne Verfassung zu enthüllen, ohne auf die moderne Form der Entlarvung zurückzugreifen. Damit trage ich dem unbestimmten und unangenehmen Gefühl Rechnung, daß wir seit einiger Zeit nicht nur zur Modernisierung, sondern auch zur Denunziation unfähig sind. Die Grundlage für eine kritische Einstellung scheint uns entglitten zu sein.“ ebd., S. 60. 296 Was Georg Kneer ausführlich getan hat, vgl. G. Kneer: 2008. 297 Vgl. Andréa Belliger/David Krieger: „Netzwerke von Dingen“, in: Stefanie Samida/Manfred K. H. Eggert/ Hans P. Hahn (Hg.), Handbuch Materielle Kultur. Bedeutungen, Konzepte, Disziplinen, Stuttgart [u. a.]: Metzler 2014, S. 89–96, hier S. 95. 298 Vgl. G. Kneer: 2016, 143 ff. 299 Rammert und Schulz-Schaeffer sprechen die dritte Stufe auch komplexer Technik zu. Sie gehen damit also ebenso über klassische soziologische Handlungstheorien hinaus. W. Rammert/I. Schulz-Schaeffer: 2002, 44 ff. 300 Prominent seit der Veröffentlichung von Das Parlament der Dinge B. Latour: 2010.

130  WANDEL DER OBJEKTWELT UND DER NEUE MATERIALISMUS 

301 G. Kneer: 2008, S. 299. 302 Gesa Lindemann: „‚Allons enfants et faits de la patrie …‘. Über Latours Sozial- und Gesellschaftstheorie sowie seinen Beitrag zur Rettung der Welt“, in: Georg Kneer/Markus Schroer/Erhard Schüttpelz (Hg.), Bruno Latours Kollektive. Kontroversen zur Entgrenzung des Sozialen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008, S. 339–360, hier S. 355. 303 Ebd., S. 346. 304 Denn zwar sollten alle, auch Dinge repräsentiert werden, aber es sei nicht klar von wem. Sie fragt, wer in einem Parlament der Dinge moralische Entscheidungen treffen solle etwa bei Kontroversen wie der Abschiebung von Flüchtlingen oder der Abtreibung von Föten. 305 Vgl. hierzu die unterschiedlichen Reaktionen in Sebastian Giessmann/Ulrike Brunotte/Franz Mauelshagen et al. (Hg.): Politische Ökologie, Bielefeld: transcript 2009. 306 Vgl. Gesa Lindemann: „Bruno Latour. Von der Wissenschaftsforschung zur Expertokratie“, in: Zeitschrift für Kulturwissenschaften 2 (2009), S. 113–118, hier S. 114–115. Im Zusammenhang mit dem IoT macht auch Mercedes Bunz darauf aufmerksam, dass Dinge nicht wirklich autonomer und mächtiger werden. Nach wie vor gehe es um die Macht von Menschen über Menschen und nicht von Maschinen über Menschen. Die Maschinen seien nur die Instrumente. „Der Effekt ist vielmehr, dass zu viele verschiedene menschliche Interessen ein und dasselbe technische Objekt bewohnen.“ Die Dinge seien auf unsichtbare Weise offen für die Macht und Anpassung von außen, da sie Überschneidung zwischen Erfindung, Produktion, Installation und Gebrauch aufwiesen. Die Machtstrukturen seien undeutlicher aber: „Die Dinge tragen keine Schuld“. Vgl. M. Bunz: 2015, S. 178. 307 B. Latour: 2008, S. 63. 308 Roar Høstaker: „Latour. Semiotics and Science Studies“, in: Science Studies 18 (2005), S. 5–25, hier S. 22. 309 N. Karafyllis: 2011, S. 243. 310 Vgl. M. Bunz: 2015; Andreas Matthias: Automaten als Träger von Rechten. Plädoyer für eine Gesetzesänderung, Berlin: Logos 2008; Kai Hofmann/Gerrit Hornung: „Rechtliche Herausforderungen des Internets der Dinge“, in: Florian Sprenger/Christoph Engemann (Hg.), Internet der Dinge. Über smarte Objekte, intelligente Umgebungen und die technische Durchdringung der Welt, Bielefeld: transcript 2015, S. 181– 203. 311 Es bleibt allerdings die Frage, ob überhaupt noch beurteilt werden soll. Sowohl Barad und Latour als auch die Designwissenschaftler*innen, bleiben hier vage. 312 Eva Schürmann: „Verkörpertes Denken, Medialität des Geistes. Skizze einer darstellungstheoretischen Medienanthropologie“, in: Lorenz Engell/Frank Hartmann/Christiane Voss (Hg.), Körper des Denkens. Neue Positionen der Medienphilosophie, München: W. Fink 2013, S. 69–82, hier S. 70.

ANMERKUNGEN 131

3  Über den A ­ nimismus

Der Begriff Animismus impliziert ein Subjektverständnis, bei dem der Subjektstatus nicht nur dem Menschen vorbehalten ist. Andere Lebewesen und sogar Unbelebtes – Naturphänomene und Artefakte – gelten aus animistischer Perspektive ebenso als Subjekt wie der Mensch. Dieses Subjektverständnis ist verwandt mit jenem des Neuen Materialismus. Während der Neue Materialismus als Diskursfeld des späten 20. Jahrhunderts jedoch philosophisch geprägt ist, wird in den vorwiegend ethnologischen und anthropologischen Theorien zum Animismus das Phänomen meist auch empirisch untersucht. Nicht nur indigene Gemeinschaften, sondern auch Kinder, psychisch Kranke, Künstler*innen und Nutzer*innen von anthropomorpher Technik wurden mit ihrem animistischen Verhalten bereits zum Untersuchungsgegenstand. Ethnolog*innen, Anthropolog*innen, Psycholog*innen, Kunsthistoriker*innen und Kulturwissenschaftler*innen beschreiben jeweils disziplinspezifisch ihre Beobachtungen von Menschen im Umgang mit den von diesen als beseelt oder lebendig erachteten Dingen. Seit dem 21. Jahrhundert wird der Begriff auch von Medienwissenschaftler*innen, HCI-Forschenden und Designer*innen vor allem im Zusammenhang mit technischen Dingen verwendet. Im vorliegenden dritten Kapitel wird das Forschen nach nicht-anthropozentrischem kritischem Design in den Theorien über den Animismus fortgesetzt. Da diese Theorien meist auf empirischen Beobachtungen in der Praxis fußen, erlauben sie, so die der Auseinandersetzung zugrundeliegende Hypothese, einen Transfer in die kritische Designpraxis für Forschung durch Design. Entsprechend wird der Frage nachgegangen, inwiefern sich ein nicht-anthropozentrischer Kritikbegriff aus den psychologischen, ethnologischen oder anthropologischen Studien für die Designforschung ableiten lässt. Der Betrachtung liegt außerdem die Annahme zugrunde, dass der Animismus, bei dem alles – nicht nur der Mensch – potenziell als Subjekt verstanden werden kann, ein neues Licht auf die technisierte Dingwelt wirft. Schließlich entsteht durch technische Entwicklungen des 21. Jahrhunderts eine Realität, in der Technik konturlos oder dem Menschen ähnlich wird. Mithin wäre neu auszuhandeln, was menschliche Subjekte im Verhältnis zu Objekten (technischen Subjekten?) sind. So wird nachfolgend erörtert, inwiefern im Animismus Widerstandserfahrungen mit den als Subjekt verstandenen nicht-menschlichen Entitäten existieren und wie Differenz erlebt wird. Wie lässt sich in einer animistischen Welt, in der alles Subjekt ist oder Subjekt sein kann, differenzieren? Auf welche Weise ist Distanz und Kritik unter der Bedingung von Animismus möglich? Lassen sich von den Theorien zum Animismus Kulturtechniken ableiten, die vor Hintergrund gegenwärtiger Mensch-Technik-Beziehungen neue Formen kritischer Subjektivität zulassen? Zur Beantwortung dieser Fragen werden drei Perspektiven auf den Animismus betrachtet. Erstens wird der Ursprung der Theorien zum Animismus in Ethnologie und Psychologie, der sogenannte „Alte Animismus“ des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, erörtert. Zweitens werden ethnologische und anthropologische Studien des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts in den Blick genommen: der „Neue Ani-

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mismus“. Drittens wird der Animismusbegriff in der HCI- und Designforschung untersucht. Hier wird Animismus bereits mit der technologischen Entwicklung des 21. Jahrhunderts in Zusammenhang gebracht. Es wird zu klären sein, was „TechnoAnimismus“ ist und ob er den Animismus überhaupt zu Recht im Namen führt.

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3.1 ALTER ANIMISMUS 3.1.1 Animismus als Irrglaube und das Magische Denken Der Begriff Animismus in seiner ethnologischen Verwendung1 geht auf Edward B. Tylor zurück, der ihn 1871 in seinem Werk Primitive Culture2 einführte. Auf diese erste Auseinandersetzung folgten zahlreiche weitere Theorien über den Animismus, die sich grundsätzlich ähneln und deren Argumentationen sich grob in vier Kategorien einteilen lassen: Animismus wurde verstanden als (1) Glaubenskonzept in der Frühphase der menschlichen Entwicklung,3 (2) Welterklärungskonzept indigener Gemeinschaften, (3) Weltbild von Kindern in der Frühphase ihrer Entwicklung4 und (4) Irrglaube psychisch kranker Menschen.5 Diese Theorien werden als alte Animismustheorien oder „Alter Animismus“ bezeichnet.6 Um die vier Erklärungsansätze des Alten Animismus abzubilden, sollen im Folgenden die Theorien von Edward B. Tylor, von Sigmund Freud und von Jean Piaget vorgestellt und verglichen werden. Dabei wird der für den Alten Animismus prägende Begriff „Magisches Denken“ eingeführt und untersucht, welche Beziehung in der jeweiligen Argumentation zwischen Magischem Denken und Animismus besteht. Tylor sucht in seiner Arbeit7 nach religiösen Ursprüngen der Menschheit und findet sie in den Vorstellungen der von ihm so genannten „niederen Rassen“. Indigene Völker beseelten seines Erachtens irrtümlicherweise ihre Umwelt. Sie personifizierten dabei sowohl andere lebendige Wesen als auch leblose Dinge. Tylor bezeichnet den Animismus als „Kindesphilosophie der Menschheit“,8 eine religiöse Anschauung, die im Aussterben begriffen sei. Dabei fänden sich auch in der modernen Welt, insbesondere im Bauernaberglauben, noch immer animistische Praktiken. Diese analysiert Tylor in Primitive Culture ebenso wie jene indigener Gemeinschaften. Tylor will durch Vergleiche zwischen den Kulturen deutlich machen, dass Animismus kein „rassenspezifisches“9 Phänomen ist. Es sei nicht in der Natur der Menschen angelegt, ob Gemeinschaften ihre Umwelt beseelen oder nicht. Animismus sei vielmehr ein Glaube, den jede Kultur im Laufe ihrer Entwicklung durchlaufe und von der sich die moderne Welt dank der Wissenschaften fast vollständig befreit habe. Die Periode der menschlichen Entwicklung ist vorüber, wo das gesammte Universum durch das Leben einer Geisterwelt in Thätigkeit erhalten wurde; und für die Kenntniss unserer eigenen Geschichte ist es von hohem Interesse, dass noch jetzt rohe Rassen in der Weltanschauung befangen sind, die wir so weit hinter uns gelassen haben, seit Physik, Chemie und Biologie ganze Gebiete des alten Animismus in Angriff genommen und für das Leben die Kraft, für den Willen das Gesetz eingeführt haben.10

136  ÜBER DEN ­A NIMISMUS 

Die Vorstellungen anderer Gemeinschaften sollten nicht für vernunftwidrig erklärt werden.11 Auch die von ihm sogenannten „Primitiven“ stützten sich auf ihre Sinneswahrnehmungen, nämlich auf Wahrnehmungen aus Träumen und Visionen: Wer je in den Delirien eines Fiebers Visionen gesehen, wer je einen Traum geträumt hat, hat die Phantome von Gegenständen ebenso wie die von Personen gesehen. Wie können wir daher so voreilig sein, dem Wilden einen Vorwurf daraus zu machen, dass er in seine Philosophie und Religion eine Anschauung aufgenommen hat, die sich auf kein geringeres Zeugniss stützt als das seiner Sinne?12

Tylors Theorie steht in der Tradition der europäischen Aufklärung. Für ihn sind Menschen per se vernünftige Wesen, die mithilfe ihres Verstandes die Welt erklären und dabei zusehends Fortschritte machen. Sein optimistisches Denken gründet auf der im 19. Jahrhundert populären Vorstellung, dass ein allgemeines Gesetz der Evolution bestehe, das nicht nur bei biologischen, sondern auch bei kulturellen Entwicklungen wirke.13 Auch in der Psychologie wurden seit dem späten 19. Jahrhundert erste Theorien zum Animismus entworfen. Sigmund Freud beschäftigte sich insbesondere mit dem Animismus bei psychisch Kranken – bei Neurotiker*innen. Jean Piaget interessierte der Animismus bei Kindern. Beide thematisierten einen Zusammenhang zwischen Animismus und Magie bzw. einem Magischen Denken. Magisches Denken hat sowohl bei Freud als auch bei Piaget seinen Ursprung im differenzlosen Einheitszustand von Ich und Umwelt, der, wie schon im ersten Kapitel dieser Arbeit beschrieben, laut Freud und Piaget in der Frühphase der Kindheit existiert. Aus diesem Zustand kindlicher Egozentrizität (Piaget) oder primärem Narzissmus (Freud)14 resultierten magische Techniken. Denn das sogenannte Partizipationsgefühl, also die Verbundenheit und Ununterscheidbarkeit von innen und außen, von Selbst und Anderem, führe dazu, dass die eigene Macht überschätzt werde und nicht existente Zusammenhänge zwischen Dingen und Aktionen vermutet würden. Bei der Magie werden, so Freud, „psychologische Gesetze an die Stelle natürlicher“15 gesetzt. Es finde „eine allgemeine Überschätzung der seelischen Vorgänge“16 statt. Freud beschreibt insbesondere ein Wunschdenken, bei dem eine Person glaubt, dass etwas nur deshalb funktioniert, da der*die Denkende es so will. Er nennt beispielsweise das abergläubische Verhalten, Dinge als Ersatz für etwas anderes zu behandeln, etwa ein Ding statt einer Person zu bestrafen, um so der Person Schaden zuzufügen. Die Verknüpfung zwischen dem Ding und der Person werde allein durch Gedanken hergestellt. Freud spricht von einer „Allmacht der Gedanken“17. Eine Unterscheidung zwischen Fiktion und Realität werde nicht getroffen. Freud definiert Magie als die Technik, eine falsche kausale Beziehung für die richtige zu halten.18 Magie ist für ihn also ein irrtümlicher Glaube. Piaget urteilt ähnlich, wenn er feststellt: „Als ‚Magie‘ bezeichnen wir den Gebrauch, den das Individuum von den Partizipationsbeziehungen machen zu können glaubt, um die Wirklichkeit

ALTER ANIMISMUS  137

zu verändern.“19 Piaget unterscheidet vier Arten des frühkindlichen magischen Denkens und Handelns: erstens die „Magie durch Partizipation der Handlungen und der Dinge“, bei der Kinder davon ausgingen, dass ihre eigenen Handlungen auf irrationale Weise Einfluss auf die Außenwelt nehmen würden, beispielsweise, dass sie durch eigene Bewegungen die Wolken beeinflussen könnten, zweitens die „Magie durch Partizipation des Denkens und der Dinge“ bei dem Gedanken alleine schon Auswirkungen in der Realität zeigen sollen, drittens, die „Magie durch Partizipation von Substanzen“, bei der davon ausgegangen wird, dass zwei voneinander unabhängige Körper aufeinander einwirken könnten und schließlich viertens die „Magie durch die Partizipation von Intentionen“, bei der die Annahme besteht, dass Körper lebendig seien und Absichten hätten, womit Piaget bereits animistisches Denken anspricht.20 Piaget führt die Magie auf ein mangelndes Selbstbewusstsein zurück. Nur weil das Kind sich seiner selbst nicht bewusst sei und keine Begrenzung des Selbst kenne, vermute es einen magischen Zusammenhang zwischen den eigenen inneren und den fremden äußeren Geschehnissen.

3.1.2  Magisches Denken als Teil des Animismus bei Freud Freuds Auseinandersetzung mit dem Animismus findet sich hauptsächlich in dem Aufsatz Animismus, Magie und Allmacht der Gedanken, der als Teil von Totem und Tabu erschien und als völkerpsychologische Erörterung zu verstehen ist. Hier identifiziert Freud die Magie als Technik des Animismus.21 Freud beschäftigt sich in seinen Untersuchungen, anders als Piaget, nicht nur mit dem kindlichen Animismus. Primärer Narzissmus und das Magische Denken und Handeln schreibt er den von ihm so genannten „Primitiven“ zu und setzt es dann mit dem Magischen Denken von Kindern und Neurotiker*innen gleich. So ist für ihn das kindliche Denken mit dem von Magie bestimmten Verhalten des erwachsenen Primitiven völlig vergleichbar. Er bezieht sich in seiner psychoanalytischen Untersuchung mehrfach auf ethnologische Schriften, etwa von Tylor und Frazer.22 Das Kind und der erwachsene „Primitive“ befänden sich „unter analogen psychischen Bedingungen“23. Freud identifiziert das Magische Denken darüber hinaus auch bei erwachsenen aufgeklärten – und daher für ihn nicht primitiven – Personen wieder, nämlich bei Zwangsneurotiker*innen. Auch Menschen mit psychischen Störungen seien dem Glauben an eine Allmacht der Gedanken verfallen. Denn die Zwangsneurotiker*innen glaubten ähnlich wie die Primitiven, so Freud, dass allein ihre Gedanken Auswirkungen in der Realität hätten. So fühlten sich Neurotiker*innen etwa schuldig wie Mörder*innen, obwohl sie ihren Mitmenschen den Tod nur in Gedanken wünschten. „Alle Zwangskranken sind in solcher Weise, meist gegen ihre bessere Einsicht, abergläubisch.“24 Sie projizierten,25 ähnlich wie Kinder und „die Wilden“

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ihre Psyche auf die Außenwelt und überschätzten ihre seelischen Vorgänge, durch die sie die Realität zu beeinflussen glaubten. Bei ihnen fände eine Vermischung des subjektiven Innenlebens mit der objektiven Umwelt statt. Freud stellt eine Beziehung her zwischen der von Anthropolog*innen und Ethnolog*innen seiner Zeit identifizierten Entwicklungsstufen der Menschheit, der Ontogenese des Individuums und seinen Beobachtungen über Zwangsneurotiker*innen und kommt zu dem Schluss, dass sowohl Neurotiker*innen als auch „Primitive“ in einer unterentwickelten, narzisstischen Phase zurückgeblieben seien.26 Das eigentlich frühkindliche Einheitsempfinden könne nicht nur bei Kranken, sondern auch im Alltag gesunder Erwachsener temporär auftauchen. Das Gefühl des Unheimlichen sei ein derartiges temporäres Phänomen. Das Unheimliche ist bei Freud etwas, das unvertraut und vertraut zugleich ist.27 Freud verdeutlicht, dass immer wenn bei einer Person der Eindruck entsteht, der bloße Wunsch verändere die Realität – eine eigentlich kindliche, magische Vorstellung – erscheine ihr dies als erwachsene Person, nachdem sie also den Einheitszustand überwunden habe, als unheimlich. Das Unheimliche sei etwas, „das im Verborgenen hätte bleiben sollen und hervorgetreten ist“28. Der Animismus und das Unheimliche stünden in einer direkten Verbindung. Freud beschreibt beispielhaft die Situation, dass eine Person an eine andere denkt und ihr kurz darauf tatsächlich unerwartet begegnet. Die magische Allmacht der Gedanken scheint auf unheimliche Weise wieder wirklich zu werden, was in animistischem Irrglauben resultiere: Wir können nun nicht mehr verkennen, auf welchem Boden wir uns befinden. Die Analyse der Fälle des Unheimlichen hat uns zur alten Weltauffassung des Animismus zurückgeführt, die ausgezeichnet war durch die Erfüllung der Welt mit Menschengeistern, durch die narzißtische Überschätzung der eigenen seelischen Vorgänge, die Allmacht der Gedanken und die darauf aufgebaute Technik der Magie.29

Freud spricht also, wenn Magisches Denken aufkommt, von Animismus. Nicht nur die von ihm so genannten „Wilden“, sondern auch Kinder, geistig Kranke, aber auch gesunde Erwachsene der westlichen Welt seien nicht frei von Animismus: Es scheint, da wir alle in unserer individuellen Entwicklung eine diesem Animismus der Primitiven entsprechende Phase durchgemacht haben, daß sie bei keinem von uns abgelaufen ist, ohne noch äußerungsfähige Reste und Spuren zu hinterlassen, und daß alles, was uns heute als unheimlich erscheint, die Bedingung erfüllt, daß es an diese Reste animistischer Seelentätigkeit rührt und sie zur Äußerung anregt.30

Freud sieht also in negativ konnotierten Zuständen – geprägt von Unreife oder geistiger Verwirrung – das Magische Denken aufscheinen und damit den Animismus wirken. Magisches Denken und Animismus gehören bei ihm grundsätzlich zusammen.

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3.1.3  Magisches Denken als Vorstufe des Animismus bei Piaget Piaget bringt die Magie ebenfalls mit dem Animismus in Zusammenhang. Er differenziert allerdings, anders als Freud, zwischen der magischen und der animistischen Vorstellung: Es sind interdependente, aber zu unterscheidende Phänomene. Piaget definiert den Animismus als „die Tendenz, die Körper als lebendig und mit Absichten ausgestattet zu betrachten“31. Er unterscheidet diesbezüglich vier Entwicklungsstadien des Kindes. Für Kinder bis sieben Jahre sei potenziell alles mit Bewusstsein ausgestattet bzw. gebe es grundsätzlich keine Aktionen, die nicht mit einem Bewusstsein verbunden sei. Gegenstände, die in Aktion treten, würden als beseelt erachtet. Ein Knopf beispielsweise spüre nichts, außer, wenn er abgerissen werde. In der Aktion würde sich der Knopf der Aktion bewusst, fühle aber keine Schmerzen, so die Kinder. Der Knopf spüre nicht wie ein Mensch, sondern eben wie ein Knopf. Piaget schlussfolgert: „So animistisch die Kinder auch sein mögen, sie sind dennoch nicht so anthropomorphistisch, wie man annehmen könnte.“32 Außerdem habe das Ding im kindlichen Verständnis zwar Bewusstsein, aber kein Bewusstsein über alles. Der Knopf bemerke also beispielsweise, dass er von einer ­Jacke gerissen wurde, aber nicht, wem er gehört. Im zweiten Stadium, das laut Piaget durchschnittlich mit achteinhalb Jahren abgeschlossen ist, werde nur noch Dingen ein Bewusstsein zugesprochen, die üblicherweise in Bewegung sind, beispielsweise Flüssen, Fahrrädern oder dem Feuer. Sobald Kinder realisierten, dass Dinge durch etwas anderes angetrieben würden, beispielsweise das Fahrrad durch eine Person, würden nur noch Dinge mit Eigenbewegung als beseelt erachtet. Das Kind, das vorab jeder Bewegung eine gewisse Autonomie beigemessen habe, realisiere, dass es Dinge gibt, die sich nicht frei bewegen, und gehe damit zum dritten Entwicklungsstadium über. Nun werde beispielsweise der Wind als ein bewusstes Wesen gedacht, da das Kind davon ausgehe, dass der Wind autonom bestimmen könne, wann er wehen wolle und wann nicht. Das vierte Stadium beginne durchschnittlich mit elf Jahren und Kinder dieses Stadiums hielten nur noch Tiere für bewusste Wesen.33 Der Unterschied zwischen Animismus und Magie besteht bei Piaget in einem Unterschied der Egozentrizität. Das Kind habe so lange eine magische Haltung, wie es denkt, dass es die Aktionen der Dinge um es herum selbst bestimmt. Erst wenn das Kind sich nicht mehr selbst für alles Geschehen verantwortlich fühle, beginne es animistisch zu denken: „Absolute Egozentrik zieht Magie nach sich; das Gefühl für die Eigenexistenz der anderen Lebewesen schwächt hingegen diese ursprünglichen Partizipationen ab und betont dafür umso mehr die besondere Intentionalität dieser Lebewesen.“34 Piaget beobachtet, dass Kinder erst in dem Moment die Dinge zu beseelen beginnen, in dem sie ihnen eine eigene Widerständigkeit zusprechen. Erst dann halten Kinder Dinge beispielsweise für folgsam, bösartig oder freundlich. Obwohl Kinder die Dinge nach wie vor magisch zu beeinflussen versuchten, würden Dinge nun als Wesen mit eigenem Willen gedacht, die sich widersetzen können. Das Kind unterstelle den widerständigen und aktiven Dingen folglich eine Absicht,

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allerdings nicht unbedingt eine menschliche: „Dieser Wille und diese Einsicht bedeuten nicht, dass das Kind die Dinge als Personen ansieht – das Kind selbst fühlt sich offensichtlich nicht so personal wie wir –, sondern dass es Intentionalität und Aktivität miteinander vermengt.“35 „Introjektion“ sei Ursache für die animistische Anschauung. Gemeint ist „das Reziproke der Gefühle, die man für sie empfindet, in die anderen Menschen oder Dinge zu verlegen“36. Die Introjektion gehe aus der quasi-magischen Partizipationshaltung den Dingen gegenüber hervor: „Die Introjektion ergibt sich somit aus der egozentrischen Tendenz anzunehmen, dass sich alles um uns drehe, und sie besteht darin, den Dingen ein eigenes Vermögen, uns zu gehorchen oder aber Widerstand zu leisten, zuzusprechen.“37 Laut Piaget kann das Kind weder beim Magischen Denken noch bei animistischen Herangehensweisen unpersönlich oder unbeteiligt über Aktivitäten urteilen. Der animistischen Vorstellung liege allerdings, anders als beim Magischen Denken, bereits ein Verständnis darüber zugrunde, dass der eigene Wille von den Geschehnissen der Außenwelt getrennt sei. „Je nachdem, ob die Kausalität vorwiegend beim Ich oder beim bewegten Gegenstand gesehen wird, handelt es sich somit um Magie oder um Animismus.“38 Zurückgebildet wird der Animismus laut Piaget durch ein fortschreitendes Selbstbewusstsein des Kindes. Das Kind müsse erst lernen sein Wissen über sich selbst in Zweifel zu ziehen und zu erkennen, das nicht alles, was es über sich denkt, auch der Wahrheit entspricht: „Im gleichen Maße, wie es seine eigene subjektive Tätigkeit entdeckt und spürt, wie schwierig es ist, deren Inhalt erschöpfend zu verstehen, spricht es den Dingen das Selbstbewußtsein ab.“39 Erst indem sich das Kind als denkendes Subjekt begreife, würden die Objekte ihrerseits den Subjektcharakter verlieren. Der Animismus ist bei Piaget ein Zwischenstadium zwischen magischer Partizipationshaltung und rationalem Selbstbewusstsein. Die Theoriebildung Piagets muss aus seiner Zeit heraus verstanden werden und wurde mehrfach überholt.40 Sein Animismusbegriff ist – ähnlich wie jener von Tylor und Freud – Teil einer diffamierenden Abgrenzung von Personen, die als primitiv und naiv abgewertet wurden. Relevant für die vorliegende Arbeit ist jedoch seine Beobachtung, dass der kindliche Animismus nicht immer Anthropomorphismus bedeutet. Kinder gehen nicht unbedingt davon aus, dass die Dinge menschlich fühlen, denken, wissen oder handeln. Den Dingen wird vielmehr grundsätzlich ein Bewusstsein, das auch absolut menschenfremd sein kann, zugesprochen. Außerdem wird deutlich, dass für Kinder Beseeltheit und Lebendigkeit mit Aktivität verbunden ist. Lebendigsein bedeutet, dass Dinge etwas tun oder grundsätzlich aktiv und in Bewegung sind.41 Deutlich wird außerdem, dass neben der Aktivität gerade die Widerständigkeit der Dingwelt Animismus provoziert. Piaget beschreibt Situationen, die von Kindern als schmerzhaft oder irritierend erlebt werden und in Animismus münden.42 Dieser mit Widerständigkeit verbundene Animismus steht nicht nur dem Animismusverständnis von Freud entgegen, sondern auch, so viel sei bereits vorweggenommen, dem, was mehrheitlich unter Techno-Animismus verstanden wird.

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3.1.4  Exkurs – Dichotomien der Moderne Die alten Animismustheorien, wie jene von Tylor, Freud und Piaget, bauen auf einer dualistischen Ontologie auf, die von Vertreter*innen des Neuen Materialismus und des Neuen Animismus als charakteristisch für die Moderne kritisiert wird. In diesem Exkurs wird das als dichotom verstandene Konzept der Moderne skizziert, um einerseits den Diskurs der vorherigen Kapitel über AR und ANT zu ergänzen. Andererseits verdeutlicht der Exkurs das Fundament des Alten Animismus und macht im Verlauf der Arbeit die Argumentation des Neuen Animismus verständlich. Dualistisches Denken lässt sich in beinahe allen Wissenschaften, aber insbesondere in der modernen Philosophie auffinden.43 Unterschieden wird etwa zwischen Natur und Kultur, Objekt und Subjekt, Fakt und Fiktion, Körper und Seele oder Materie und Geist. Auf der einen Seite befindet sich alles Objektivierbare und Natürliche, auf der anderen Seite alles Soziale und Menschliche. Insbesondere der Substanzlehre von René Descartes wird ein großer Einfluss auf das neuzeitlich dualistische Denken beigemessen.44 Descartes trennt zwei einander gegenüberstehende Existenzbereiche: res cogitans (die denkende Substanz, Geist, Seele, Bewusstsein) und res extensa (ausgedehnte Substanz, Materie, Leib). Der Mensch sei aus beiden Substanzen zusammengesetzt. Alles Nicht-Menschliche dagegen besitze nur res extensa – eine geist- und seelenlose Körperlichkeit, die mechanisch funktioniere. Den menschlichen Körper und das Tier, das nur aus Körper bestehe, begreift Descartes als maschinenähnliche Konstruktionen. Er definiert also nicht nur einen Dualismus materieller und immaterieller Substanz, sondern entseelt darüber hinaus auch die Natur und schreibt dem Menschen eine Sonderstellung zu.45 Die Annahme, der Mensch könne die Welt nur nach seinem Maß erkennen und stehe ihr letztlich unverbunden gegenüber, lässt sich in der Geistesgeschichte der Philosophie seit der Antike und ausdrücklich seit der Aufklärung wiederfinden und wurde von Wolfgang Welsch als „anthropische Denkform“ beschrieben.46 Laut Welsch ist die Kluft zwischen Mensch und Welt eine Grundannahme, die trotz zahlreicher Versuche nicht überwunden wurde. Letztlich konstruierten die in der Moderne unternommenen philosophischen Versuche der Überwindung die Kluft überhaupt erst. Es gebe zwei einander prinzipiell entgegenstehende erkenntnistheoretische Perspektiven: Für den Idealismus sei jede Erkenntnis Konstruktion. Wirklichkeit gehe vom Subjekt aus. Da die Welt als epistemisches Konstrukt gedacht werde, sei tatsächliche Erkenntnis über eine Welt an sich nicht existent oder zumindest nicht denkbar und daher irrelevant. Aus idealistischer Warte könnten wir immer nur über eine Welt für uns Aussagen treffen. Für den Realismus könne Wissen dagegen immer nur vom Objekt ausgehen – eine Perspektive, die auch Piaget mit seinem Modell der kindlichen Entwicklungsstadien hin zur objektiven Weltsicht zu teilen scheint. Welsch verdeutlicht, dass die moderne Philosophie von einem Widerspiel dieser beiden Perspektiven geprägt ist. Er spricht in diesem Zu-

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sammenhang von einem „idealistisch-realistische[n] Erkenntnis-Theater der Moderne“47. Beide Perspektiven seien auf die kategoriale Trennung zwischen Subjekt und Objekt zurückzuführen und damit letztlich Gegenspieler ein und desselben grundlegenden Prinzips. „Idealismus versus Realismus, das ist geradezu die Widerspiegelung der Opposition zwischen Mensch und Welt im Licht philosophischer Positionen. Wer die Überbrückung vom Menschen aus versucht, ist ein Idealist; wer sie von der Welt aus versucht, ist ein Realist.“48 Um das Widerspiel zu überwinden, müsste das Grundmuster der Opposition grundsätzlich infrage gestellt werden. Alle Ansätze, die auf einer Kluft zwischen Mensch und Welt beruhten, könnten diese nicht überwinden. Die Thematisierung der Kluft führe nur zu einer Art „Überwindungsdruck“ und so nehme das Wechselspiel kein Ende. Diese Feststellung entspricht der Argumentation Latours. Insbesondere in seinen wissenschaftssoziologischen Schriften thematisiert Latour den Dualismus zweier erkenntnistheoretischer Lager: Das eine Lager hält Wissenschaften nur dann für genau, wenn sie von jeder Verunreinigung durch Subjektivität, Politik oder Leidenschaft befreit sind; das andere, größere Lager hält Humanität, Moral, Subjektivität oder Rechte nur dann für untersuchungswürdig, wenn sie vor jeder Berührung mit Wissenschaft, Technologie und Objektivität bewahrt werden.49

Beide Lager trennten auf ihre Weise Subjekt und Objekt oder Kultur und Natur oder Geist und Materie. Mit seinem Kritikbegriff und dem Neologismus „Faitiche“ nimmt Latour bewusst Abstand von den dualen Kategorien Idealismus vs. Realismus oder Fetisch vs. Fakt.50 Die anti-dualistische Argumentation – wie man sie in der ANT findet – mag auf einer scherenschnitthaften Vereinfachung der komplexen Moderne basieren,51 doch auch im aufklärerischen, modernen Alten Animismus wirkt eine dualistische Argumentation. Das Vermögen, eine Trennung zwischen Subjekt und Objekt herzustellen, gilt im Alten Animismus als Zeichen für Reife und als die Bedingung für Weltverständnis.

3.1.5  Abgrenzung vom und Glorifizierung des Animismus Tylor, Freud und Piaget glauben im Animismus eine Vermengung unvereinbarer Kategorien zu entdecken – etwa der inneren Psyche und der äußeren Umwelt, der Imagination und der Fakten oder der Beseeltheit des Menschen und der Leblosigkeit der materiellen Welt. Unterscheidungen, die für das rationalistische Weltbild der Moderne fundamental sind, würden im Animismus schlichtweg nicht getroffen. Die drei Autoren werten dies als unaufgeklärt, naiv oder krank – bzw. als erste

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Entwicklungsstufe der Menschheit, als erste Entwicklungsstufe der Kindheit oder als narzisstische Störung – und damit negativ. Der Animismus ist gemäß ihren Darstellungen etwas, was überwunden werden muss, etwa durch Erziehung oder durch therapeutische Behandlung. Aus ihrer Zeit heraus betrachtet war die Autonomie des Subjekts geprägt vom Fortschrittsglauben möglich und erstrebenswert. Das, was Tylor, Freud und Piaget unter Animismus verstanden, bedrohte die Grundlagen des modernen Denkens. Anselm Franke, der sich seit 2010 kunstwissenschaftlich mit dem Animismus befasst und eine Ausstellungs- und Publikationsreihe zum Animismus entwickelte, stellt fest: „Eine Grenzverletzung des einen ist immer auch eine des anderen – wenn ein Objekt etwa unerwartet ‚zum Leben erwacht‘, dann steht auch die Konstitution des Subjekts oder dessen, was eine ‚Person‘ ist, auf dem Spiel.“52 Der Animismus durfte entsprechend nicht ernst genommen werden. Denn: Menschen, die anderen Wesen oder gar Dingen einen menschenähnlichen Status einräumen, bedrohen aus aufklärerischer Perspektive den Sonderstatus und die Autonomie des Menschen. Laut Franke galt der Animismus als Irrtum, stand für alles Irrationale und diente der Abgrenzung. Er war der rationalen Moderne ihr „Anderes“, ihre imaginierte Opposition, das, was sie auf keinen Fall war oder sein wollte. Der Animismus diente als Negativ und Instrument, um die eigene moderne Identität zu definieren. So erklären die alten Animismustheorien letztlich vielmehr, was Modernsein bedeutet, als das, was „die Anderen“ tatsächlich tun.53 Die Abgrenzung erzeugt einen Fokus auf das Eigene – das Aufgeklärte, Rationale und Zivilisierte moderner Gesellschaften. Indem der Animismus als Illusion deklariert und denunziert wurde, konnte außerdem das eigene Weltbild als das Richtige bestimmt werden. Die alten Animismustheorien klagen andere an und verurteilen sie als naiv. Die Anklage erzeugt einen vermeintlich privilegierten Standpunkt. Schließlich kann jemand andere nur dann der Naivität anklagen, wenn er sich selbst als überlegen, aufgeklärt und befreit von Illusionen erachtet. Aufklärung ist eine Anklage der Naivität Anderer, was einer antifetischistischen Haltung entspricht. In den alten Animismustheorien scheint der Animismus dem Fetischismus gleichgesetzt zu werden, den es aus moderner Perspektive aufzuklären gilt. Die ursprüngliche denunzierende Bewertung des Animismus machten den Begriff aus wissenschaftlicher Perspektive jahrzehntelang untauglich. In ihm klang immer auch ein eurozentrisches, rassistisches Weltbild mit.54 Und obwohl er in den 1990er Jahren durch den Neuen Animismus eine Revision erfuhr und neu verhandelt wurde, haftet ihm die ursprüngliche Definition weiterhin an und provoziert Missverständnisse. Franke verweist darauf, dass Animismus auch im 21. Jahrhundert noch als Glauben bzw. Irrglauben verstanden wird.55 Der Begriff des Animismus wird außerdem als problematisch erachtet, da er ein distanziertes „Sprechen über“ impliziert. Die Wissenschaftsphilosophin Isabelle Stengers, die sich 2011 mit der Frage beschäftigte, wie der Begriff weiterhin

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Verwendung finden könnte, wendet sich gegen eine Definition von außen: „Verlangen Sie von mir keine Definition von Animismus. Ungeachtet der Disziplin, der die verschiedenen Definitionen eines solch allgemeinen Begriffs angehören, tragen sie immer den Stempel ihrer Herkunft.“56 Schließlich sei nicht zu verstehen, warum bestimmte Personen Anrecht darauf hätten, eine objektive, privilegierte Perspektive auf das Verhalten anderer einzunehmen. „Wenn ich es ablehne, Animismus zu definieren, lehne ich also das ab, was mich für diese Definition autorisieren würde.“57 Die Historie des Begriffs und die mit ihm verbundene ursprünglich negative Auslegung nicht-moderner Ansichten und Praktiken erfordert einen sensiblen Umgang. Der Animismus wurde allerdings nicht nur abgelehnt, sondern auch glorifiziert, und zwar bis ins 21. Jahrhundert hinein, etwa im New-Age-Spiritualismus. In diesen Zusammenhängen wird ein Zurück zur Natur proklamiert, von der man sich durch die Moderne emanzipiert oder entfremdet habe. Ideen von einem harmonischen Einheitszustand zwischen Mensch und Natur, einer verzauberten Welt, in der sich alle Wesen miteinander verständigen können, einer gestillten Sehnsucht nach Verbundenheit oder einem Zurück in die naive und irrationale Kindheit beruhen bei genauer Betrachtung ebenfalls auf dem alten Verständnis von Animismus im Sinne von Tylor, Freud und Piaget. Der Animismus wird zwar positiv gewertet, aber weiterhin missverstanden. Damit sei, so die Vertreter*innen des Neuen Animismus, das glorifizierende Verständnis nicht minder problematisch als das anklagende.58 Während durch Denunzieren des Animismus das moderne, dualistische Selbstverständnis in Abgrenzung gestärkt wird, entsteht durch Glorifizieren ein antimodernes Gegenbild. Beide Perspektiven sind allerdings nicht amodern, sondern verhandeln Modernsein selbst.

3.1.6  Magie, Anthropozentrismus, Anthropomorphismus und F ­ etischismus Amoderne Subjekt-Objekt-Vorstellungen werden, wie deutlich wurde, seit dem späten 19. Jahrhundert als Bedrohung für ein vernünftiges, rationales und kritisches Subjekt verstanden. Außerdem spielen Magie, Anthropozentrismus, Anthropomorphismus und Fetischismus eine Rolle für die ersten Theorien zum Animismus. Die Magie bzw. das Magische Denken wird bei Freud als animistisch und bei Piaget als Ursprung des Animismus verhandelt. Sowohl Freud als auch Piaget führen das Magische Denken auf einen Bewusstseinszustand zurück, in dem Subjekt und Objekt völlig vermengt bzw. eben wegen dieser Vermengung als solche gar nicht existent sind. Das Magische Denken existiere, da der betroffene Mensch kein Konzept von Subjektivität und damit kein Selbstbewusstsein und keine Selbstreflexion kenne. Diese Vermengung, in der kein reflexives Subjekt existiert, führe dazu, dass alles als Subjekt wahrgenommen werde. Die kindliche Welt ist ganz Subjekt:

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Die eigenen Gedanken beeinflussen alles und außerhalb der eigenen Gedankenwelt existiert nichts. Die Unbestimmtheit von Subjekt und Objekt, die Vermengung und Grenzenlosigkeit, resultiert in kindlicher Egozentrizität (Piaget) und primärem oder auch sekundärem Narzissmus (Freud). Das Subjekt, das sich seiner selbst in Abgrenzung zur Außenwelt gar nicht bewusst ist, erachtet sich als Ursprung alles Geschehens – das erscheint beinahe widersprüchlich, denn ohne sich zu kennen, nimmt sich das Subjekt als allmächtig wahr. Dieser Zustand ist ein anthropozentristischer Zustand. Animismus ist, so lässt sich folgern, bei Piaget und Freud eine Form des Anthropozentrismus.59 Freud und Piaget gehen nicht nur davon aus, dass sich im Animismus, geprägt durch das Magische Denken, das Subjekt in seiner Wirkmacht überschätzt, sondern auch, dass es das Eigene auf das Andere projiziert. Zum Animismus gehört im ­Alten Animismus also außerdem ein projizierter Anthropomorphismus. Wenn Kinder auf Piagets Fragen antworten, die Wolken bewegten sich, weil sie Regen geben wollten, werden den Wolken menschenähnliche Intentionen und ein Bewusstsein zugeschrieben. Sowohl Freud als auch Piaget erachten diese Art der Projektion des Eigenen auf das Andere – die Zuschreibung menschlicher Eigenschaften auf NichtMenschliches – als naiv. Der Animismus wird im Vergleich zu einer naturwissenschaftlichen Norm als Fehler gewertet. Damit wird schließlich auch die Nähe zum Fetischismus deutlich.60 Denn die alten Animismustheorien begreifen den Animismus ähnlich wie den Fetisch als eine zu korrigierende Fehlinterpretation, eine Projektion, die die wirklichen Tatsachen verkennt. Im Alten Animismus ist Animismus Ausdruck davon, dass kritische Subjektivität fehlt, denn eine reflektierte Subjektposition wird der Vorstellung nach durch Projektion verunmöglicht. Auch Piaget erachtet den Animismus als zu überwindenden Zustand, aber er verortet ihn in seinem entwicklungspsychologischen Stufenmodell nicht beim ersten, naivsten und unreflektiertesten Stadium, sondern nach einem späteren Bruch mit dem egozentrischen Partizipationsgefühl. In seinem Modell fungiert der Animismus als reflektiertere, emanziertere Entwicklungsstufe im Vergleich zur ersten Phase, in der nur Vermengung von Subjekt und Objekt existiert. Animismus steht zwischen Magischem Denken und rationalem Denken. In der Entwicklung des Kindes wird animistisches Denken durch die Widerständigkeit der Objektwelt ausgelöst. Die erlebte Widerständigkeit des Anderen ist wichtig für den als Zwischenstadium verstandenen Animismus. Kinder animieren Dinge, so Piagets Beobachtung, sobald diese Dinge sich als widerständig erweisen – also sobald die Dinge aus dem magischen Innen-Außen-Kontinuum ausbrechen. Erst dann offenbaren sie sich als andersartig, unabhängig und folglich animiert.61 Um überhaupt animistisch denken und handeln zu können, muss also, folgt man P ­ iaget, Widerständigkeit erlebt werden und ein Bewusstsein über die eigene Andersartigkeit entstehen. Obwohl Piaget beim Animismus einerseits eine Projektion von Eigenem auf Fremdes identifiziert, stellt er andererseits fest, dass Animismus nicht immer in

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vollständigem Anthropomorphismus mündet. Kinder glauben beispielsweise nicht unbedingt, dass Dinge die Welt genau wie Menschen wahrnehmen. Zwar schreiben sie laut seiner Beobachtung Dingen ein Bewusstsein zu, aber nicht zwingend ein menschliches. Dinge könnten also beispielsweise nicht sehen oder hören wie ein Mensch, aber dennoch auf ihre Weise wahrnehmen. Dieser Beobachtung schenkt Piaget keine weitere Aufmerksamkeit, aber sie macht doch deutlich, dass Kinder in ihrem animistischen Denken nicht immer per se davon ausgehen, dass andere (Menschen, Dinge, Tiere) ihnen völlig gleichen. Animismus nivelliert nicht alle Unterschiede zwischen Entitäten – ein Gedanke, der im Neuen Animismus bekräftigt wird. In den hier vorgenommenen Ausführungen über den Neuen Animismus wurde deutlich, dass Animismus im 19. und frühen 20. Jahrhundert insbesondere als Bedrohung für Kritik und Reflexivität galt. Während jedoch im Alten Animismus – ob aus denunzierender oder glorifizierender Perspektive – der Animismus mit Begriffen wie Einheitlichkeit, Blindheit, Verbundenheit, Harmonie oder Gleichförmigkeit (alles gilt fälschlicherweise als gleich beseelt) assoziiert wurde, ließ sich schon mit Piaget feststellen, dass Animismus auch mit dem Erleben von Differenz in Zusammenhang steht. Animismus ist bei Piaget Ausdruck eines Spaltungsprozesses. Damit kündigt sich, so lässt sich folgern, bereits eine animistische Variante der Selbstreflexivität an, die nachfolgend auf Grundlage des Neuen Animismus weiter ausgearbeitet werden kann.

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3.2  NEUER ANIMISMUS 3.2.1  Den Animismus „ernst nehmen“ Seit den späten 1980er Jahren erfährt die Debatte um den Animismus in der Anthropologie neue Aufmerksamkeit. Als einer der ersten griff Philippe Descola das Phänomen erneut auf und sah im Animismus einen Ansatz jenseits der modernen Dichotomien zwischen Natur und Kultur.62 Es folgten zahlreiche weitere anthropologische Untersuchungen mit neuem Blick auf den Animismus.63 Diese seit den späten 1990er Jahren populärer werdenden Auslegungen werden unter dem Begriff Neuer Animismus subsummiert.64 Alle Ansätze des Neuen Animismus sind von einem Interesse an nicht-modernen Weltbildern gekennzeichnet. Die entsprechenden Anthropolog*innen und Ethnolog*innen verhandeln die Frage, wie die alten Interpretationen des Animismus neu verstanden werden können, aber auch, was man konkret von Gemeinschaften lernen kann, die die Welt nicht dichotom begreifen, d. h. welche Erkenntnisse man gewinnen kann, wenn man nicht-menschliche Lebewesen oder gar Unbelebtes als animiert, beseelt oder handlungsfähig erachtet. Die Theorien basieren auf Feldforschungen innerhalb indigener Gemeinschaften in Sibirien (Rane Willerslev), Indien (Nurit Bird-David), Papua Neuguinea (Marilyn Strathern), Nordamerika (Tim Ingold) oder Südamerika (Eduardo Viveiros de Castro). Ungeachtet der Unterschiede zwischen den Weltbildern kristallisieren sich zahlreiche Überschneidungen heraus, die vom modernen Weltbild abweichen. Der Animismus wird – und hier unterscheiden sich die Ansätze grundlegend von ihren Vorläufertheorien des Alten Animismus – nicht mehr als Negativ und zur Abgrenzung von „den Anderen“ verstanden. Animismus wird nicht als Glaube/Irrglaube oder als eine angeborene, natürliche oder evolutionär entstandene Verhaltensweise begriffen.65 Er ist für die Vertreter*innen des Neuen Animismus außerdem keine Metapher und es wird niemandem unterstellt, nur so zu tun, als ob etwas lebendig wäre.66 Animismus ist für sie hingegen eine lernbare Praxis. Die Theorien des Neuen Animismus haben gemein, dass sie den Animismus „ernst nehmen“, um so einen Dialog zwischen westlichen und indigenen Ontologien zu ermöglichen. Wie Viveiros de Castro darstellt, bedeutet „ernst nehmen“ allerdings nicht, das zu glauben, was andere sagen, oder die Überzeugungen anderer Menschen neben den eigenen zu respektieren. Er beschreibt seine Forderung an die Anthropologie wie folgt: [I]t [anthropology, Anm. d. Verf.] must construct a concept of seriousness (a way of taking things seriously) that is not tied to the notion of belief or of any other ‚propositional attitudes‘ that have representations as their object. The anthropologist’s idea of seriousness must not be tied to the hermeneutics of allegorical meanings or to the immedi-

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ative illusion of discursive echolalia. Anthropologists must allow that ‚visions‘ are not beliefs, not consensual views, but rather worlds seen objectively: not worldviews, but worlds of vision (and not vision only – these are worlds perceivable by senses other than vision and are objects of extrasensory conception as well).67

Im Neuen Animismus wird der Animismus nicht im Sinne eines Kulturrelativismus einfach respektiert und akzeptiert, sondern als ein Ansatz verstanden, der das Potenzial hat, modernes oder postmodernes Denken zu wandeln.68 „Ernst nehmen“ bedeutet dann, einem anderen Denken und Wahrnehmen die Macht zuzugestehen, das Eigene zu verändern und Neues zu kreieren.69 Die Vertreter*innen des Neuen Animismus identifizieren im Animismus anderer Gesellschaften grundsätzlich andere Konzepte von Objekt und Subjekt, die in der Lage sind, das eigene moderne Weltbild zu irritieren. Die modernen Grundannahmen, insbesondere über Subjektivität, werden durch den Animismus anderer herausgefordert. Es wird eine neue Perspektive auf den Animismus versucht, ohne das Andere jedoch zu glorifizieren – es entstehen also nicht nur keine denunzierenden, sondern auch keine verklärenden Darstellungen des Animismus, wie im Alten Animismus ebenfalls üblich. Die Weltbilder anderer Kulturen werden nicht als besser oder richtig erachtet. So stellt etwa Willerslev, der bei der Gemeinschaft der Yukaghir forschte, fest: This does not imply exoticizing the Yukaghirs as being somehow more knowledgeable or wiser than us. Nor does it imply adopting their beliefs or accepting these beliefs without question. Rather, it involves an honest effort to draw attention to complex patterns of common features and differences between Yukaghirs and ourselves by placing their ­animistic beliefs and practices in a critical dialogue with our theories of knowledge.70

Es wird also nicht angestrebt, den Animismus in irgendeiner Form wieder einzuführen. Dies ist aus Perspektive des Neuen Animismus sowieso unmöglich, da Animismus in jeder Gesellschaft existiere.71 Anselm Franke macht diese Haltung wie folgt anschaulich: Es gibt keine animistischen und nicht-animistischen Gesellschaften, und es kann sie auch nicht geben. Es gibt nur verschiedene Arten der Organisation von Differenzen und des Umgangs mit Grenzen, die wiederum verschiedene Arten der Kanalisierung des Animismus und des Umgangs mit dem Ausgeschlossenen und nicht Äußerungsberechtigten nach sich ziehen.“2

Der Animismus wurde nicht nur in der Anthropologie neu betrachtet, sondern fand auch in der Wissenschaftsphilosophie,73 der Feminismusdebatte,74 der Kunst und den Kunstwissenschaften75 verstärkte Aufmerksamkeit.

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Im Folgenden werden in erster Linie die Studien der Anthropolog*innen N ­ urit Bird-David und Eduardo Viveiros de Castro vorgestellt. Diese Ansätze eignen sich für eine exemplarische Gegenüberstellung, da Bird-David eine epistemologische und Viveiros de Castro eine ontologische Perspektive auf den Animismus einnimmt, sodass sich in wichtigen Punkten Abweichungen oder Ergänzungen ergeben. Im Anschluss werden beide Theorien auf ihre Erkenntnisse bzgl. der ontologischen Grenzen und Widerständigkeiten zwischen Subjekt und Objekt befragt. Dafür werden die Sichtweisen der Anthropologen Ingold und Willerslev einbezogen. Im Fokus der Analysen steht die Frage, inwiefern der Animismus eine Grenzziehungspraxis darstellt. Erst im Anschluss an die Vorstellung und Einordnung der Theorien rücken die spezifischen animistischen Praktiken, die sich hauptsächlich aus der Arbeit von Bird-David, Viveiros de Castro und Willerslev ableiten lassen, in den Blick. Die identifizierten Praktiken – die in dieser Arbeit als „Dividuieren“, „Subjektivieren“, „Imitieren“ und „Humorisieren“ bezeichnet werden – dienen dazu, Grenzen zwischen Subjekt und Objekt zu verhandeln, um Wissen zu generieren, um Selbstbewusstsein zu stiften und um kritische Subjektivität zu ermöglichen. Sie unterscheiden und ergänzen Herangehensweisen, die in der westlichen Moderne zu eben diesen Zwecken üblich sind, wie die Praktik des Objektivierens.

3.2.2  Relationale Epistemologie Nurit Bird-David identifiziert auf Grundlage von Feldforschung bei den Nayaka,76 einer Jäger- und Sammlergemeinschaft in Südindien, einen erkenntnistheoretischen Ansatz, der sich fundamental von der modernen Epistemologie unterscheidet, und bezeichnet diesen als „Relationale Epistemologie“. Diese Relationale Epistemologie gründe auf einem relationalen Weltbild, mit dem sowohl ein anderer Personenbegriff als auch ein anderes Objektverständnis einhergehe. Der Personenbegriff der Nayaka basiere nicht auf der Idee eines geschlossenen Individuums für sich, sondern auf der Vorstellung eines durch Beziehungen konstituierten „Dividuums“77. Bei einem Dividuum seien Beziehungen, durch die eine Person konstituiert ist, immer im Werden begriffen und könnten daher in sozialen Prozessen herausgearbeitet werden. Ein Dividuum entwickle sich emergent und situationsbedingt. Bird-David führt das Verständnis von Personen bzw. von Dividuen auf ein Lebenskonzept der Nayaka zurück, das von Teilen und Teilhabe bestimmt sei. Das Leben auf engem Raum, habitualisierte Praktiken des Austauschs von Dingen und das gemeinschaftliche Handeln führten dazu, dass die Nayaka andere nicht als autonom wahrnehmen. Sie erwerben hingegen kontextualisiertes Wissen voneinander:

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Sie erkannten mit der Zeit nicht nur, wie jede/r sprach, sondern wie jede/r mit den anderen sprach, nicht nur, wie jede/r arbeitete, sondern wie jede/r mit den anderen arbeitete, nicht nur, wie jede/r teilte, sondern wie jede/r mit den anderen teilte, usw. Sie lernten nicht andere Nayaka ‚für sich‘ kennen, sondern Nayaka in Wechselbeziehung miteinander, Nayaka-in-Verbundenheit mit anderen Nayaka.78

Alle, die Teil dieses Beziehungsnetzwerkes seien, könnten potenziell zu Verwandten werden, denn die Nayaka würden die, mit denen sie teilten, unabhängig von einer Blutsverwandtschaft, als Verwandte sehen. „Ihre Verwandtschaft wurde in erster Linie durch wiederkehrende soziale Handlungen des Teilens und des Pflegens von Beziehungen gestiftet und erhalten, nicht durch Blut oder Abstammung; nicht biologisch, mythisch oder generalogisch.“79 Entsprechend könnten auch nichtmenschliche Wesen, mit denen die Nayaka ihr Leben intensiv teilen, Verwandte sein. Die ursprüngliche Bedeutung des englischen Worts „relatives“ verdeutlicht dieses Denken. Die Relation, die Beziehung, bestimmt, dass jemand oder etwas Verwandter ist.80 Das Denken in Beziehungen bringt, wie Bird-David verdeutlicht, eine von der modernen Idee abweichende Vorstellung von Beseeltheit, Lebendigkeit und Subjektivität mit sich. Der Personenstatus entstehe situationsbedingt und durch Interaktion: Die Nayaka unterhalten ihre sozialen Beziehungen mit anderen Wesen nicht deshalb, weil sie sie – wie Tylor meint – als Personen betrachten. Sie konstituieren diese Wesen vielmehr als bestimmte Personen, während und weil sie mit ihren Beziehungen unterhalten: Sie machen sie zu ‚Verwandten‘, indem sie mit ihnen teilen und sie damit personalisieren.81

Es werde nichts an sich und kategorisch bestimmt. Ähnlich wie ein Mensch nicht an sich Vater oder Mutter sein kann (also ohne ein Kind zu haben), sind bestimmte Wesen oder Kategorien von Wesen, wie beispielsweise Steine oder Vögel, nicht an sich beseelt oder unbeseelt. Die Nayaka-Frauen erachten nur jene Steine als lebendig, die mit ihnen in eine Beziehung treten, indem sie ihnen beispielsweise beim Graben entgegenspringen. Alle anderen Steine bleiben ganz einfach unbelebte Steine.82 Es sind Ereignisse oder Situationen, die darüber entscheiden, ob etwas Person ist oder nicht. Um nun also Wissen erlangen zu können, muss, so Bird-David, das komplexe Gewebe an Beziehungen zwischen Wesen verstanden werden. Es gehe den Nayaka darum, „wechselseitig bedingte Veränderungen bei sich selbst und den Dingen, mit denen sie Umgang haben, zu erkennen“83 und entsprechend die eigene Aufmerksamkeit zu schulen, also sensibel für die Reziprozität zu werden. Hier nun grenzt Bird-David die Relationale Epistemologie von der modernen Epistemologie ab. Während moderne Wissenschaftler*innen den Regenwald studierten,

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zerhackten und klassifizierten, suchten Nayaka nach Erkenntnis durch die Verbundenheit: Im ersten Fall bedeutet Erkenntnis, Repräsentationen von Dingen-in-der-Welt zu besitzen, zu erwerben, anzuwenden und zu verbessern. Im zweiten Fall bedeutet es, Fertigkeiten für das Zusammen-mit-anderen-Dingen-in-der-Welt-Sein zu entwickeln und das Bewusstsein von der eigenen Umwelt und vom eigenen Selbst zu verfeinern, erweitern, vertiefen, aufzufächern usw.84

Es gehe bei der Relationalen Epistemologie nicht um Erkenntnis von einem objektiven und getrennten Standpunkt aus, sondern um „das Verstehen von Bezogenheiten, von einem Gesichtspunkt aus, der selber als bezogen und innerhalb sich verschiebender Horizonte dieses bezogenen Betrachters gedacht wird“.85 Die Nayaka generierten Wissen durch einen Dialog und nicht durch objektivierende Distanz. Unter Berücksichtigung des von Bird-David identifizierten relationalen Weltbildes kann neu verstanden werden, warum indigene Völker mit anderen Wesen reden. Sie sprechen nicht einseitig beispielsweise mit einem Stein, als ob er sie verstehen könnte.86 Das „Reden mit“ ist vielmehr eine wechselseitige Technik, ein Dialog, der Verbundenheit erzeugt. „‚Mit einem Baum zu reden‘, statt ‚ihn umzuhauen‘, heißt wahrzunehmen, was er tut, während man mit ihm zu tun hat.“87 Für Bird-David bedeutet dieses Vorgehen „das Augenmerk auf die Differenzen aufhebende ‚Wir-heit‘ statt auf die sie hervorhebende Gemeinsamkeiten verdeckende ‚Andersheit‘ zu lenken“88.

3.2.3  Perspektivischer Multinaturalismus Eduardo Viveiros de Castro forschte bei indigenen Gemeinschaften im Amazonasgebiet und wendet sich explizit gegen eine epistemologische Lesart des Animismus. Denn „der Animismus ist ganz sicher eine Ontologie, etwas, bei dem es um das Sein geht und nicht darum, wie wir davon wissen“.89 Für Viveiros de Castro ist die Umwandlung ontologischer in epistemologische Fragen „eines der Markenzeichen der Philosophie der Moderne“90. Epistemologische Fragen seien Repräsentationsfragen, die auf der cartesianischen Trennung zweier Substanzen – Geist und Materie – basierten. Seine Perspektivierung stimmt mit den Überlegungen Wolfgang Welschs überein, der darauf hinweist, dass der „Duktus des Erkennens“ auf einem dualistischen Weltbild basiere. Nur wenn der Mensch, wie in der Moderne üblich, als der Welt gegenüberstehend und als ihr fremd begriffen werde, sei es nötig, durch Erkenntnisoperationen eine Verbindung zu ihr herzustellen.91 Laut Viveiros de Castro baut die animistische Ontologie auf einer Schöpfungsgeschichte auf, die konträr zur modern-westlichen Fassung verstanden wer-

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den kann. In dieser Geschichte, die eine universelle indianische Vorstellung sei, stammt das Tier ursprünglich vom Menschen ab. Nicht die Tierheit, sondern die Menschheit ist diesem Mythos nach Ursprung allen Seins. Wenn nicht der Mensch vom Tier abstammt, wie es die modernen Evolutionstheorien belegen, muss nicht die ursprüngliche Tiernatur des Menschen durch Kultur gebändigt werden (eine westliche Schlussfolgerung), sondern kann das ursprünglich Menschliche in Tieren (aber auch in anderen Lebewesen oder sogar bei unbelebten Phänomenen) entdeckt werden.92 Auch in der indigenen Vorstellung existiert, wie Viveiros de Castro zeigt, eine Trennung zwischen Kultur und Natur, doch sei der Ursprung bzw. das ursprünglich Gemeinsame die Kultur, das Menschliche oder das Soziale. Die Schnittstelle zwischen Mensch und Nicht-Mensch ist der animistischen Ontologie nach also sozial (die Natur ist auch sozial), während sie der modernen, naturalistischen Vorstellung nach natürlich ist (der Mensch hat auch eine Natur).93 Aus dieser Perspektive machen die unterschiedlichen Körper die Differenz zwischen den Wesen aus, denn eine universelle Materie bzw. eine materielle Objektivität existiert nicht. Der Animismus ist, so Viveiros de Castro, multinaturalistisch (viele Naturen, eine Kultur) im Gegensatz zur modernen Ontologie, die multikulturalistisch argumentiert (viele Kulturen, eine Natur). „Der europäische Ethnozentrismus verneint, dass andere Körper dieselben Seelen wie sie haben; der indianische bezweifelt, dass andere Seelen denselben Körper haben.“94 Wie Viveiros de Castro verdeutlicht, erklärt die zur modernen Vorstellung konträre Ontologie und die ihr zugrundeliegende Schöpfungsgeschichte, wieso im Animismus Beziehungen zwischen allen Wesen als soziale, intersubjektive Beziehungen erachtet werden: „Da Tiere und andere Wesen einmal Menschen waren, bleiben sie es hinter ihrem äußeren Erscheinungsbild auch weiterhin.“95 Worte, die aus indianischen Sprachen vielfach mit „Mensch“ übersetzt werden, meinen allerdings nicht den Menschen als Spezies. Wie Viveiros de Castro aber auch Bird-David und Descola zeigen,96 handelt es sich nicht um Substantive, sondern um eine Form von Pronomen. Die Worte „geben die Position des Sujektes an und sind nicht ein Name, sondern ein enunziativer Markierer“.97 Was mit „Mensch“ übersetzt wurde, meint die soziale Bedingung der Person, die nicht an eine Spezies gebunden ist. Lebewesen und Unbelebtes sind nicht Menschen, sondern ihnen wird eine eigene subjektive Perspektive zuerkannt. Sie sind nicht-humane Personen. Was auf den ersten Blick an Anthropozentrismus und Anthropomorphismus erinnert, schließlich scheinen hier Menschen anderen Wesen menschenähnliche Eigenschaften zuzuschreiben, ist auf den zweiten Blick komplizierter. Laut ­Viveiros de Castro handelt es sich bei Anthropozentrismus und Anthropomorphismus um grundsätzlich unterschiedliche Konzepte. So sei etwa die westliche Evolutionslehre absolut anthropozentrisch, aber nicht anthropomorph, der Animismus dagegen anthropomorph, aber in keiner Hinsicht anthropozentrisch.98 Denn: „Wenn neben dem Menschen noch viele andere Wesen ‚menschlich‘ sind, dann sind wir Menschen nichts Besonderes.“99 Der Mensch sei nicht hierarchisch höhergestellt.

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Der Gesichtspunkt der menschlichen Spezies sei nur einer unter vielen weiteren menschlichen, gleichberechtigten Gesichtspunkten. Animismus ist dieser Lesart nach alles andere als narzisstisch: Der Animismus ist keine Projektion des Menschen auf das Tier, sondern eine reale Äquivalenz der Beziehungen, die Menschen und Tiere unter sich führen. Wenn wir festgestellt haben, dass die den Menschen und Tieren gemeinsame Bedingung diejenige der Menschheit und nicht diejenige der Tierheit ist, so deswegen, weil ‚Menschheit‘ die generelle Benennung des Subjekts ist.100

Der Multinaturalismus (eine Kultur, viele Naturen) indigener Gemeinschaften führt zu einer Haltung, die Viveiros de Castro als „Multinaturalistischen Perspektivismus“ bezeichnet.101 Demnach nehmen alle Wesen, abhängig von ihren Körpern, die Welt aus unterschiedlichen Perspektiven wahr: Menschen sehen andere Menschen als Menschen, Fische als Fische oder Maniokbier als Maniokbier. Tiere und Pflanzen sehen sich selbst allerdings ebenso als Menschen und ihre Nahrung als menschliche Nahrung. So ist für einen Jaguar beispielsweise das, was für Menschen Blut ist, Maniokbier. Die Welt wird bei allen Spezies mit den gleichen Kategorien belegt – bei allen existieren etwa Menschen, Fische und Maniokbier – oder wie ­Viveiros de Castro zusammenfasst: „Da sie in ihrem eigenen Lebensraum Personen sind, sehen Nichtmenschen die Dinge auf die gleiche Weise wie Menschen. Aber die Dinge, die sie sehen, sind verschieden.“102 Die unterschiedlichen Perspektiven seien durch die unterschiedlichen Körper der Spezies bedingt. Der indigene Perspektivismus dürfe nicht mit dem modernen Relativismus verwechselt werden. Zwar bestehe eine Vielzahl von Subjektpositionen, allerdings konstruiere nicht der Geist jeweils andere Vorstellungen von der immer gleichen Natur. Vielmehr erzeugten unterschiedliche Gesichtspunkte, die im Körper verortet seien, gleiche Vorstellungen von unterschiedlichen Naturen. „Da der Geist oder die Seele in allen Spezies formal identisch ist, kann er überall nur dasselbe wahrnehmen. Der Unterschied liegt in der Spezifität der Spezies.“103 Für den Multinaturalistischen Perspektivismus sei, anders als für den modernen bzw. postmodernen Relativismus, ganz wesentlich, dass indigene Gemeinschaften die Welt relational begreifen (was Bird-David ebenfalls feststellte). Auch Viveiros de Castro thematisiert die Relationalität, die Verwandtschaftsbegriffen inherent ist (z. B. Bruder für eine Schwester), und stellt eine Analogie zu dem von ihm identifizierten indigenen Perspektivismus her (z. B.Maniokbier für die Jaguare). Verwandtschaftsbegriffe bestimmen ein Verhältnis. Man kann nur Bruder sein, wenn es ein Geschwisterteil gibt, für das man Bruder ist. Im indianischen Denken zeige sich deutlich: Das relationale Denken ist nicht arbiträr. Etwas kann nur Maniokbier sein, wenn es dies für jemanden ist. Entsprechend existiere Maniokbier weder an sich, noch sei es eine beliebige Projektion. Denn eine Perspektive ist keine Repräsentation:

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[M]an kann sicher davon ausgehen, dass die Makuna in Bezug auf die Menschen eigentlich nur von einer richtigen und wahren Repräsentation der Welt sprechen würden. Würden wir zum Beispiel Maden in verwesendem Fleisch als gegrillte Fische zu sehen beginnen, wäre das ein untrügliches Zeichen, dass wir in ziemlichen Schwierigkeiten stecken, aus der Sicht von Geiern aber sind es tatsächlich gegrillte Fische. Die Perspektiven müssen auseinandergehalten werden. Nur Schamanen, die quasi artenandrogyn sind, können Perspektiven miteinander verbinden, und auch sie nur unter ganz bestimmten, kontrollierten Bedingungen.104

Folgt man Viveiros de Castro, so sind im Animismus nicht alle Wesen gleich, obwohl sich alle als Menschen sehen. Die Differenz im Perspektivismus entsteht durch die Differenz der Körper. Körper sind allerdings nicht physiologisch zu verstehen, sondern als Gesamtheiten der Gewohnheiten, Fähigkeiten und Affekte, die einen jeden Körper kennzeichnen.105 Gäbe es keine körperliche Differenz, würden beispielsweise Jaguare auch die Spezies Mensch als Menschen sehen. Doch Jaguare sind nur für sich selbst Menschen. Für sie ist die Spezies Mensch dagegen ein Tier, evtl. ein Beutetier. Unter normalen Bedingungen sehen auch Menschen andere Wesen nicht als Menschen und können die Kategorien der anderen nicht erfassen. Wenn dagegen Blut beispielsweise für den Menschen zu Maniokbier wird, dann stimmt etwas nicht. Dann hat, laut der indigenen Vorstellung, eine beunruhigende körperliche Transformation stattgefunden, eine Verwandlung.

3.2.4  Animismus als Grenzziehungspraxis Relationale Epistemologie und Perspektivischer Multinaturalismus verdeutlichen, dass Subjekt und Objekt in den diesbezüglich beobachteten indigenen Gemeinschaften, anders als im westlichen Kulturkreis, nicht kategorial gedacht werden. Die Vertreter*innen des Neuen Animismus Bird-David und Viveiros de Castro legen den Animismus und dessen Umgang mit Grenzen allerdings unterschiedlich aus. In den folgenden Vergleich werden zusätzlich Überlegungen der Animismus-Forschenden Tim Ingold und Rane Willerslev einbezogen. Ingolds Zugang steht in unmittelbarem Zusammenhang mit Bird-Davids Ansatz und ergänzt diesen produktiv. Willerslev formuliert eine für diese Arbeit produktive Kritik an Bird-David sowie Ingold und arbeitet Viveiros de Castros Ansatz weiter aus. Bird-Davids Relationale Epistemologie basiert auf Zuständen der Verbundenheit. Sie interessiert sich für das Beziehungsgeflecht, das Verbindende, zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Personen. Wenn sie feststellt, dass indigene Gemeinschaften ihre Umwelt nicht dichotomisieren, dann meint sie, dass Differenzen zwischen Wesen aufgehoben werden und eine „Wir-heit“ entsteht. Die Beschreibung dieser „Wir-heit“ irritiert insofern, als sie an einen idealisierten Alten

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­ nimismus erinnert, von dem sich der Neue Animismus eigentlich ebenso abwenA det wie vom denunzierenden Alten Animismus. Der Grat zwischen Relationaler Epistemologie und einem mystischen Bild des Animismus, der einen verloren gegangenen harmonischen Einheitszustand idealisiert, wird jedoch nur scheinbar schmal;106 es bestehen fundamentale Unterschiede zwischen idealisiertem Alten Animismus und dem Ansatz von Bird-David. Während Vertreter*innen des Alten Animismus davon ausgingen, dass die Beseeltheit eine Eigenschaft ist, die undifferenziert auf Unbelebtes projiziert wird, verweist Bird-David darauf, dass die Nayaka nicht beliebig alles gleichwertig beseelen. Ihrer Darstellung zufolge existieren durchaus Unterschiede und Grenzen – auch zwischen Subjekt und Objekt oder zwischen beseelt und unbeseelt –, aber sie sind flexibel und wandelbar und nicht a priori, kategorisch und an sich festgelegt: Nicht alle Steine sind beseelt, aber manche. Bird-David arbeitet sehr genau heraus, dass etwas nicht erst an sich anthropomorphisiert wird, um im Anschluss in einer animistischen Beziehung wirksam zu werden. Auf der Basis der bisherigen Erkenntnisse vorliegender Arbeit wäre Ersteres schließlich, ähnlich wie im Alten Animismus beschrieben, eine Projektion bzw. Introjektion, Zweiteres Fetischismus. Die Dinge werden laut Bird-David vielmehr im Tun beseelt. Die Unterscheidungen zwischen Wesen entstehen durch unterschiedliche Situationen im Handeln sowie durch ein unterschiedliches Handeln und Behandeln. Folgt man Bird-David, basiert Animismus auf Situationen, Handlungen und Beziehungsgeflechten. Die Seele und der Geist sind damit, anders als bei Descartes, keine Substanzen (res cogitans). Man kann keine Seele besitzen. Beseeltheit ist dann etwas, das im Dazwischen passiert, etwas, das kommen und gehen kann. Ein indifferent beseelter Einheitszustand aller Wesen ist in diesem dynamischen Geflecht nicht denkbar. Aus Bird-Davids Studien folgt, dass Handlungsmuster Differenzen ermöglichen und die auf das gemeinsame Tun gerichtete Aufmerksamkeit Erkenntnis erzeugt. Sie beschreibt also einen phänomenologischen Resonanzzustand. Auch weitere Forschende vertreten eine Animismustheorie, die auf Zuständen der Verbundenheit basiert, so etwa Tim Ingold, der sich sogar explizit auf phänomenologische Theorien107 bezieht: „Since the person is a being-in-the-world, the coming into being of the person is part and parcel of the process of coming-intobeing of the world.“108 Ingold thematisiert ähnlich wie Bird-David, dass Handlungen und Prozesse die Grundlage für Identität, Differenz und den Personenstatus sind. Der relationale Kontext, in dem etwas wirkt, agiert, tätig ist, bestimmt dessen Sein: [L]ife in this sense is not given, ready-made, as an attribute of being that may then be expressed in one way or another. It is rather a project that has continually to be worked at. Life is a task. As an ongoing process of renewal, it is not merely expressive of the way things are but is the very generation of being. And power, in effect, is the potential of the life process to generate beings of manifold forms. Thus conceived, it is a property not of individuals in isolation but of the total field of relations in which they are situated.109

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Die auf Relationalität basierenden Animismustheorien ermöglichen im Vergleich zum Alten Animismus eine fundamental neue Perspektive auf den Animismus, der nun kein projizierter Glaube und keine abstrakte Philosophie mehr sein kann, sondern zur Praxis wird. Zugleich erzeugen die Ansätze, indem sie vom Verbindenden ausgehen, neue Schwierigkeiten. Anthropolog*innen wie Willerslev oder Viveiros de Castro problematisieren die phänomenologischen Animismustheorien, die immer auch mit einer Einheit von Selbst und Welt argumentieren. So unterstellt Viveiros de Castro Bird-David, dass sie diese Beziehung nur als „Wir-heit“ im Sinne von Gleichheit betrachte. Dabei vernachlässige sie, dass Beziehungen nicht nur durch das Verbindende bestimmt seien. Ontologische Unterschiede und Entgegenstehendes seien ebenso wichtig für ein Verhältnis zwischen Wesen wie das Gemeinsame.110 Zwar spricht auch Viveiros de Castro das Verbindende zwischen unterschiedlichen Wesen an – seine ontologische Perspektive identifiziert, wie schon gezeigt, das übergreifende Konzept des Menschlichen, Sozialen und Kulturellen im Animismus. Er legt aber außerdem Wert auf die ontologischen Unterschiede und Differenzen, die den Animismus zwischen Wesen ausmachen und kommt zu dem Schluss, dass im indigenen Denken der Körper der Differenzierer ist. In diesem Zusammenhang verweist er ebenfalls auf die Bedeutung von Praxis und Handlung im Animismus. Er stellt fest, dass Körper bei indigenen Gemeinschaften nicht als Tatsachen, sondern als Taten verstanden werden. Körper müssten kontinuierlich produziert werden. Unterschiedliche körperliche Gewohnheiten und Prozesse, beispielsweise wie man sich kleidet oder Nahrung aufnimmt, schafften Differenz.111 Viveiros de Castro unternimmt in diesem Zusammenhang eine grundlegende Unterscheidung zwischen Animismus und seinem identifizierten Perspektivismus. Um indigene Weltkonzepte zu verstehen, müsse nicht nur der verbindende Animismus, sondern auch der trennende körperabhängige Perspektivismus berücksichtigt werden. „Während also der Animismus eine subjektive und soziale Kontinuität zwischen Menschen und Tieren behauptet, begründet der Perspektivismus (somatische Ergänzung zum Animismus) eine objektive, gleichsam soziale Diskontinuität zwischen Menschen und Tieren.“112 Viveiros de Castro wendet sich ganz explizit gegen „ein in letzter Zeit um sich greifendes Sentiment gegen die Differenz“113. Nicht jede Differenz bedeute Gegensatz, Ausschluss oder Unterdrückung,114 denn „Andere sind genau deshalb ‚anders‘ weil sie andere ‚Andere‘ haben“115. Er thematisiert damit die je nach Ontologie unterschiedlichen Möglichkeiten der Grenzziehung zwischen beseelt und unbeseelt. So sei es im Animismus keineswegs das Ziel, Grenzen zwischen Natur und Kultur in einer alle Wesen umfassenden und gemeinsamen Sozialität aufzulösen.116 Es existieren Grenzen, doch „[w]as für uns Natur ist, könnte für andere Arten durchaus Kultur sein“117. ­Viveiros de Castro stellt fest, dass indigene Gemeinschaften sehr viel komplexere Differenzgeflechte betrachten als die modernen Gesellschaften. Die Ontologie der Moderne hingegen, basierend auf dem cartesianischen Bruch, sei verarmt und ihre epistemologische Repräsentationsfragen drehten sich seit Jahrhunderten um die

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­ nterscheidung zwischen Geist und Materie.118 Allerdings sei nicht der Monismus U die Alternative zum modernen Dualismus: Eine Lehre, die wir aus dem indianischen Perspektivismus ziehen können, ist die, dass der Gegensatz von Monismus und Pluralismus vielleicht das passendere Begriffspaar ist: Vielfalt, nicht bloße Zwiefalt, ist das Komplement des Monismus, den ich im Sinn habe. Praktisch alle Attacken auf den Cartesianismus und andere Dualismen gehen davon aus, dass zwei bereits zu viel ist – eins genügt (ein Prinzip, eine Substanz, eine Realität). Wenn es nach den indianischen Kosmologien geht, so ist zwei nicht genug.119

Für Rane Willerslev, der sich in seiner Theoriebildung immer wieder auf Viveiros de Castro bezieht, sind die phänomenologischen Animismusansätze mit ihrem Fokus auf „Wir-heit“ ebenfalls problematisch. Sie schließen seines Erachtens in den von ihnen beschriebenen Zuständen der Involviertheit ein Bewusstsein des Selbst aus. Willerslev richtet sich in seiner Kritik explizit gegen Bird-David und Ingold.120 Ingold argumentiere mit Heidegger, dass Involviertheit und Reflexivität einander verhindern. An Ingolds Aussage „We do not have to think the world in order to live in it, but we do have to live in it in order to think it.“121, bemängelt Willerslev den dargestellten Kontrast zwischen Denken und Handeln. Bei Ingold seien Menschen entweder im Handeln Teil einer Welt und damit völlig absorbiert oder träten zurück und schauten von außen auf die Welt und würden so zu reflexiven Beobachtenden. Willerslev besteht hingegen darauf, dass auch das involvierte Handeln einen Modus des reflexiven Selbstbewusstseins benötigt. Grundsätzlich stimmt Willerslev zwar zu, dass Subjekt und Objekt in der Erfahrung untrennbar miteinander verbunden sind und kein Bewusstsein über das Selbst ohne die Außenwelt möglich ist: „As a being-in-the-world, the self cannot be fully identical with itself because it is, as we have seen, not self-sufficient, but needs the ‚otherness‘ of the world as a condition of its possiblity.“122 Damit weist er die cartesische Vorstellung einer vollständigen Unabhängigkeit des Selbst von sich. Die vollständige Abhängigkeit des Selbst von der Welt bzw. die absolute Identität von Selbst und Welt sei allerdings ebenso unsinnig. „[T]he self is not truly identical with the world either, because a germ of self-awareness – the self as a subject standing apart from the world – is built into experience from the very start.“123 ­ rgumentiert also für ein reflexives Ich an sich, das Bird-David und auch ­Willerslev a ­Ingold für die Beschreibung des Animismus ablehnen. Die Feststellung, kein Selbst sei ohne die Außenwelt möglich, gelte auch im Umkehrschluss. Erfahrung über die Welt könne ohne ein Bewusstsein über das Selbst nicht gemacht werden. „We can only have an experience of the world if we ourselves are conscious subjects of experience that somehow distinguish between ourselves as subjects and a world that transcends our subjective experience of it.“124 Die Unterscheidung zwischen Welt und Selbst ist für Willerslev Grundlage jeder Erfahrung. Ein In-der-Welt-sein, wie es Heidegger beschreibt, also ein Verschmelzungszustand von Selbst und Welt, würde

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laut ­Willerslev die völlige Auflösung des Selbst und somit einen mit dem Tod vergleichbaren Zustand bedeuten. „If this were the case, then the experienced and the experiencer would conflate, would become one, thereby making any experience of the world impossible.“125 Laut Willerslev stellen die phänomenologischen Animismustheorien mit ihren Ausführungen über eine grundlegende Verschmelzung von Selbst und Welt keine sinnvolle Grundlage dar, um den Animismus zu verstehen. Ebenso wenig hält er die absolute, cartesische Trennung von Selbst und Welt für brauchbar. Er argumentiert einen dritten Ansatz. Der Animismus ist bei Willerslev bestes Beispiel für ein Weltverständnis, das auf dem Enigma von „dissimilar similarity“ basiert. Es gebe keine radikalen Unterschiede zwischen Wesen oder zwischen Subjekt und Objekt, aber es existiere auch keine volle, sondern nur eine partielle Identität. Die feinen Unterschiede, deren schmaler Grat sich außerdem immer verschieben kann, würden im Animismus gerade wegen ihrer Flexibilität und Vagheit fokussiert. In this world, in which everyone is never solely themselves but always at the same time something else as well, and anyone can transform into virtually anything else, much everyday activity is not just routine and unreflexive practice. Rather, here everyday practical life demands a kind of ‚depth reflexivity‘ as a form of defense mechanism against the dissolution of the self, which faces a real risk that identification with the world of other bodies, things, and people will become so complete that all differences will appear to vanish and an irreversible metamorphis will occur.126

Willerslev, der seine Argumentation basierend auf Feldforschung bei dem sibirischen Volk der Yukaghir entwickelt, stellt fest, dass die feinen Unterschiede zwischen Wesen immer wieder praktisch verhandelt und konstruiert werden müssten. Gerade weil keine kategorialen Unterschiede bestünden, sei die Praxis des Grenzenziehens fundamental: That the Yukaghirs do not postulate an insuperable ontological barrier between human and nonhuman or the living and the dead does not mean that they are not preoccupied with differentiating themselves from others. On the contrary, the lack of any guaranteed, a priori differences means that difference has to be created constantly through various everyday practices that demonstrate it.127

Reflexivität und Handeln sowie Selbstbewusstsein und Involvierheit seien im Animismus notwendigerweise miteinander verknüpft. Was bei Willerslev den Animismus ausmacht, ist die Möglichkeit einer gleichzeitigen Erfahrung von Differenz und Identität. Vergleichend lässt sich festhalten, dass Bird-David und Ingold in erster Linie das Verbindende in indigenen Kosmologien erörtern. Sie verhandeln Zustände, in denen Wesen durch ein Sich-in-Beziehung-Setzen zu Subjekten werden und sich

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­ usammenhänge offenbaren. Bird-David spricht allerdings, obwohl sie den Fokus Z auf das Verbindende legt, auch die Praxis an, Unterscheidungen zwischen beseelt und unbeseelt zu treffen: Alles, was nicht in Beziehung steht, wird als unbeseelt oder als Objekt erachtet und damit abgegrenzt. Viveiros de Castro verweist im indianischen Denken vor allem auf ontologische Differenz, Abgrenzung und Unterscheidung zwischen Wesen. Er stellt fest, dass indianische Kosmologien auf deutlich komplexeren Differenzgeflechten basieren als die moderne westliche Geisteshaltung. Ähnlich wie Viveiros de Castro beschreibt auch Willerslev Differenz und Trennung als fundamental für den Animismus. Alle in dieser Arbeit unter der Bezeichnung Neuer Animismus skizzierten Animismustheorien thematisieren ein Weltbild, das nicht auf den modernen Zweiteilungen basiert. Sie beschreiben jedoch auch keinen Einheitszustand, der ganz ohne Trennungen auskommt. Animismus ist im Neuen Animismus kein indifferentes Kontinuum von innen und außen oder Subjekt und Objekt, wie es in den ersten Animismustheorien, etwa von Freud, im Magischen Denken identifiziert wurde. Es wird deutlich, dass alle Kulturen subjektivieren und objektivieren, nicht nur solche mit modernem Hintergrund. Sie tun dies jedoch auf unterschiedliche Weisen. Der indigene Animismus impliziert dynamische, prozessuale Weltbilder, die kein kategoriales Unterscheiden – wohl aber Unterschiede – kennen. Grenzen werden nicht a priori und rein dualistisch bestimmt. Alle hier vorgestellten Vertreter*innen des Neuen Animismus beschreiben den Animismus als eine Praxis, und zwar eine Praxis, durch die Identität und Differenz zwischen Entitäten ausgehandelt wird. Handlungen und nicht Definitionen erzeugen aus Perspektive des Neuen Animismus Verbindungen und Trennungen zwischen Wesen. Damit wird im Neuen Animismus deutlich: Der Animismus ist kein Glaube, sondern eine Grenzziehungspraxis. Der Kulturwissenschaftler Franke geht sogar davon aus, dass alle Gesellschaften animistisch sind, da sie alle bestimmte Entitäten als beseelt erachten und andere nicht. Letztlich habe man keine Wahl, man könne sich nicht für oder gegen den Animismus entscheiden. Der Animismus ist damit als Normalfall aller Gesellschaften zu verstehen und die Moderne wird zum „Spezialfall oder gar einer bestimmten negativen Form der animistischen Praxis“128. Franke stellt auf Grundlage historischer Betrachtungen fest, dass der Begriff Animismus in der Moderne genau dann auftauchte, als deutlich wurde, dass andere Gesellschaften andere Entitäten als beseelt/wirkmächtig/belebt/real erachten und resümiert: „Zu guter Letzt entspricht dem Begriff des Animismus in letzter Instanz nämlich nichts, außer der Erfahrung eines Grenzübertritts oder einer Grenzverletzung.“129 Eine Praktik, durch die im „modernen Spezialfall des Animismus“ Grenzen verhandelt werden, ist das Objektivieren. In Gesellschaften, die sich als aufgeklärt und modern verstehen, wird die Außenwelt als Objekt betrachtet, um sie vom eigenem Selbst abzugrenzen, um kritisch agieren zu können und um Wissen zu erlangen. Die Fähigkeit zu objektivieren wird nach modernem Selbstverständnis, wie es auch die Animismustheorien von Tylor, Freud und Piaget implizieren, mit geistiger

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Reife gleichgesetzt und gilt als grundsätzlich erstrebenswert. So objektiviert etwa die moderne Wissenschaft ihren Gegenstand, um Wissen über diesen zu erlangen, d. h. die Distanz zwischen erkennendem Subjekt und beobachtetem Gegenstand wird möglichst groß gehalten.130 Viveiros de Castro bezeichnet die moderne Wissenschaft als „objektivistische Epistemologie“: Wissen heißt objektivieren – sprich: das zum Objekt gehörige von dem zu unterscheiden, was ein Teil des erkennenden Subjekts ist und unzulässigerweise (oder unvermeidlicherweise) auf das Objekt projiziert wurde. Wissen heißt demnach zu entsubjektivieren, den Anteil des Subjekts am Objekt offenzulegen und auf ein ideales Minimum zu reduzieren. In der objektivistischen Epistemologie werden Subjekte wie Objekte als Ergebnis eines Objektivierungsprozesses gesehen.131

Das Andere wird also als Objekt gedacht. Es ist ein Entgegenstehendes, ein Gegenüber. Alles, was nicht objektiviert werden kann, erscheint der objektivistischen Epistemologie unwirklich und abstrakt, so Viveiros de Castro. Auch Bird-David beschreibt ein „objektivistisches Paradigma“ als grundlegend für moderne Epistemologien132: „Nach diesem Paradigma bedeutet Lernen, Wissen über Dinge zu erwerben, indem man das Erkennende vom Erkannten trennt und letztlich meist noch in seine Teile zerlegt, um es erkennen zu können.“133 Viveiros de Castro und ­Bird-­David argumentieren, dass Wissensgewinn im Animismus im Gegensatz zum modernen Wissensgewinn nicht mit einer Objektivierung, sondern mit Personifizierung einhergeht. Die beiden Animismusforschenden meinen allerdings jeweils Unterschiedliches, wenn sie von Personifizierung sprechen, was im folgenden Teil der Arbeit deutlicher wird. Relevant für das Forschungsziel dieser Arbeit ist die Frage, auf welche Weisen, durch welche Handlungen und Praktiken Grenzen verhandelt werden können. Welche Alternativen bestehen zum Objektivieren? Hierzu sollen im Folgenden amoderne Praktiken vorgestellt werden, die sich aus den Beobachtungen und der Theoriebildung im Neuen Animismus ableiten lassen.

3.2.5 Dividuieren Nurit Bird-David verwendet den Begriff Dividuum zur Beschreibung des Personenkonzepts der Nayaka; eingeführt wurde er schon im 19. Jahrhundert als Antonym für Individuum. Bird-David bezieht sich explizit auf die Definition von Marilyn Strathern. Demnach sind Dividuen Personen, die durch Beziehungen konstituiert sind.134 Bird-David führt das Verb „dividuieren“ ein. Damit wird der Begriff zum Handlungsansatz, etwas, was Menschen – nicht nur indigene Gemeinschaften – in Relation mit der Umwelt tun können. Bird-David beschreibt also eine Praktik:

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Wenn ich ein menschliches Wesen individuiere, bin ich mir seiner als eines ‚Für-sich‘ bewusst (als einmalige, für sich stehende Entität); dividuiere ich es, bin ich mir seiner Beziehung zu mir bewusst. Das heißt nicht, dass ich mir meiner Beziehung zu ihm als ‚Für-sich‘, als Ding, bewusst bin. Ich bin mir eher der Verbundenheit (relatedness) mit meinem Gegenüber während meines Umgangs mit ihm bewusst, achte darauf, wie es in Bezug auf mein Handeln handelt, wie es mit mir spricht oder mir zuhört, während ich mit ihm spreche und ihm zuhöre, und was gleichzeitig und jeweils mit mir, ihm, uns passiert.135

Wer „dividuiert“, erzeugt Verbundenheit und ermöglicht einen Bewusstseinszustand, in dem das gemeinsame Handeln wahrgenommen werden kann. „Dividuieren“ funktioniert laut Bird-David als Praktik zum Erkenntnisgewinn. Anders als beim Objektivieren wird beim „Dividuieren“ bewusst Verbindung und nicht Trennung gesucht. Denn um Wissen zu erlangen, das macht Bird-David im Zusammenhang ihrer Relationalen Epistemologie deutlich, heißt es für indigene Gemeinschaften, „die Umwelt zu ‚dividuieren‘, statt sie zu dichotomisieren“136. Durch „Dividuieren“ entstehe ein soziales Umfeld, ein Beziehungsgeflecht, das Erkenntnis ermögliche. „Ich weiß, indem ich mich in Beziehung setzte.“137 „Dividuieren“ mache allerdings nicht nur Gemeinsames, sondern auch Trennendes deutlich. Entscheidend sei, dass andere Wesen nicht als gegenüberstehend gedacht werden, sondern als ineinandergreifend, wobei sie trotzdem unterschiedlich sein können. Für Bird-David steht fest, dass nicht nur die Nayaka „dividuieren“, sondern alle Menschen dazu in der Lage sind, nämlich aufgrund „sozial geprägte[r] kognitive[r] Fähigkeiten“138. Wir setzten die Fähigkeit des relationalen Erkennens oder des „Dividuierens“ immer „spontan in Situationen ein, in denen wir das Verhalten unseres Gegenübers nicht kontrollieren oder vollkommen vorhersehen können, wenn es also nicht vorherbestimmt ist, sondern im ‚Dialog‘ mit dem unseren entsteht“.139 Es sei daher durchaus so, dass auch im westlichen Kontext andere Wesen relational erfasst würden, was dann „belebte Aspekte“ zum Vorschein bringe. Beispielhaft nennt Bird-David die „Computer, die wir benutzen, die Pflanzen, die wir anbauen, und die Autos, die wir fahren“.140 Das gemeinsame Handeln miteinander und das Bewusstsein über die Beziehung schaffe personifizierte Verbündete. In Abgrenzung zu den anderen Praktiken, die in dieser Arbeit nachfolgend vorgestellt werden, ist entscheidend, dass die Personifizierung anderer Wesen bei Bird-David erst nachgelagert als Effekt des „Dividuierens“ stattfindet – denn personifiziert wird das, was in Beziehung steht, so ihre Beobachtung. „Dividuieren“ ist eine Praktik, die Verbindung sucht und Beziehung zeugt, nicht eine, die Nicht-Menschen wie Personen behandelt. Erst wenn die Beziehung durch „Dividuieren“ besteht, können andere Wesen als Personen verstanden werden.

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3.2.6 Subjektivieren Wenn Viveiros de Castro von „Subjektivieren“ spricht, meint er damit eine Personifizierung, die nicht aus der Verbindung (durch „Dividuieren“) mit Umwelt hervorgeht. Die Personifizierung bzw. das „Subjektivieren“ ist für ihn kein nachgelagerter Effekt, sondern selbst eine Praktik, etwas, das bewusst eingesetzt werden muss: Schließlich werden Tiere und andere Nichtmenschen von den amerikanischen Ureinwohnern nicht einfach spontan als Personen gesehen; ihr Personenstatus oder ihr Subjektcharakter wird vielmehr als ein Aspekt von ihnen aufgefasst, der nicht evident ist. Man muss wissen, wie man Nichtmenschen personifiziert, und man muss sie personifizieren, um es zu wissen.141

Subjektivieren findet laut Viveiros de Castro insbesondere im Schamanismus statt, den er als eine erkenntnisstiftende Aktionsweise beschreibt. Schamanismus sei eine bestimmte „Erkenntnisform“ und ein „Wissensideal“.142 „Subjektivieren“ bedeutet für Viveiros de Castro nicht, ontologische Differenzen (temporär) aufzulösen, wie dies bei der Praktik des „Dividuierens“ der Fall ist, sondern sie temporär zu überschreiten: Unter Schamanismus verstehe ich die von manchen Individuen an den Tag gelegte Fähigkeit, ontologische Grenzen bewusst zu überschreiten und sich in die Perspektive nichtmenschlicher Subjektivitäten zu versetzen, um die Beziehungen zwischen Menschen und Nichtmenschen zu regeln.143

Aus Viveiros de Castros Überlegungen lässt sich folgern: Beim im Schamanismus praktizierten „Subjektivieren“ findet eine Perspektivverschiebung, ein Hineinversetzen in andere und damit letztlich ein empathischer Akt statt. „Subjektivieren“ resultiert damit nicht aus einem mangelnden Differenzierungsvermögen zwischen dem Eigenen und dem Fremden, denn man kann sich nur in etwas hineinversetzen, das man als anders und getrennt vom eigenen Selbst wahrnimmt. Entsprechend hat „Subjektivieren“ nichts mit dem gemein, was im Alten Animismus fälschlicherweise als Beseelung verstanden wurde. Wenn Grenzen bewusst überschritten werden, um Beziehungen zu regeln, geht es nicht darum, bestimmte menschliche Eigenschaften naiverweise auf etwas zu projizieren – etwa Beseeltheit, Lebendigkeit oder Intentionalität auf nicht-menschliche Wesen. Viveiros de Castro versteht das schamanistische „Subjektivieren“ konträr zur objektivistischen Epistemologie, in der Erkenntnis durch Objektivieren der Außenwelt entsteht. „Das schamanistische Wissen zielt auf ein Etwas, das ein Jemand ist – auf ein anderes Subjekt. Die Form des Anderen ist die Person.“144 Alles, was sich nicht subjektivieren und damit sozial begreifen lässt, ist für den Animismus uninteressant. Umwelt wird durch die Subjektivierung im empathischen Akt so sozial wie möglich

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bzw. als sozialer Akteur interpretiert. Die naturalistische Perspektive schlägt mit der Objektivierung das genaue Gegenteil vor: „Ist ein Subjekt nach naturalistischer Auffassung ein ungenügend analysiertes Objekt, so ist in der animistischen Kosmologie der amerikanischen Ureinwohner das Gegenteil der Fall: Ein Objekt ist ein unvollständig interpretiertes Subjekt.“145 Für den Schamanismus „heißt Wissen personifizieren, den Standpunkt dessen einzunehmen, was erkannt werden soll.“146 Viveiros de Castros arbeitet die Praktik „Subjektivieren“ basierend auf seinem Perspektivischen Multinaturalismus heraus, in dem deutlich wird, dass unterschiedliche Wesen bedingt durch ihre Körper grundlegend unterschiedliche Perspektiven auf die Welt einnehmen. Praktiken, durch die Nähe und Verbundenheit zu anderen Wesen hergestellt wird, wie die Praktik „Dividuieren“, sind vor Hintergrund des Perspektivischen Multinaturalismus weniger sinnvoll. Ein Wechsel der Perspektive ist hingegen zwingend nötig, um die Beziehung zu einem anderen Wesen zu verstehen. Es müssen also bewusst Grenzen überschritten und nicht aufgelöst werden, um die Grenzen zu erkennen. So verstanden bedeutet „Subjektivieren“ anderer Wesen, sich über die Grenzen und Unterschiede zu ihnen bewusst zu werden. Rane Willerslev, der den Perspektivismus von Viveiros de Castro aufgreift, betrachtet Phänomene wie den Schamanismus und andere Praktiken des „Subjektivierens“ erneut. Für ihn ist die Theorie des Perspektivischen Multinaturalismus ein noch zu abstraktes Konzept: „Although Vivieros de Castro succeeds in conceptually identifying perspectivism as a particular type of ontological way of being-in-the-world, it remains an abstract model, detached from the real experiences of people in a lifeworld.“147 Willerslev macht es sich zur Aufgabe, den Perspektivismus anhand genauer Praxisbeobachtungen konkreter auszuarbeiten,148 denn für die Yukaghier, deren Verhalten er untersuchte, bestimmten Handlungen und nicht abstrakte Theoriemodelle die Weltkonzepte: „[A]n understanding of the world is not grounded in abstract contemplation, but emerges from concrete contexts of practical engagement. They have a clear preference for the concrete and experiential (doing) over the abstract and theoretical (saying).“149 Konzepte, die in Viveiros de Castros Überlegungen zum „Subjektivieren“ bereits angelegt sind, werden im Folgenden in den Praktiken „Imitieren“ und „Humorisieren“ anhand von Willerslevs Beobachtungen und Analysen konkreter.

3.2.7 Imitieren Die Praktik, die in dieser Arbeit als „Imitieren“ bezeichnet wird, nennt Rane ­Willerslev „Mimesis“150. Mimesis sei die praktische Seite des Animismus.151 Genau genommen beschreibt Willerslev allerdings die praktische Seite des Perspektivismus. Seine Argumentation basiert auf Michael Taussigs anthropologischem Essay ­Mimesis und Alterität, in dem die Mimesis als Möglichkeit zur eigenen Identitätsbildung und zur Bemächtigung anderer beschrieben ist.152 Willerslev greift die Argu-

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mentation Taussigs auf und stellt das Potenzial der Mimesis exemplarisch anhand von Jagdpraktiken der Yukaghier dar. Laut Willerslev ahmen die Yukaghier ihre Beutetiere körperlich nach. Sie bemühten sich, beispielsweise bei der Jagd auf einen Elch, so zu klingen, sich so zu bewegen und so auszusehen wie ein Elch. Sie versetzten sich physisch und mental in die andere Spezies hinein. Durch die Nachahmung werde eine Beziehung hergestellt, um andere zu verstehen, aber auch, um diese zu kontrollieren und zu manipulieren. Mimesis sei eine Bemächtigungsstrategie.153 Mimesis ermöglicht Empathie zwischen Wesen, aber nur, da Unterschiede zwischen den Wesen nicht aufgelöst werden: „Indeed, feelings of empathy arise precisely because the other’s experiences are not mine, because we are different beings that, in the face of our dissimilarity, possess similar access to basic bodily and sensory experiences.“154 Es sei nicht das Ziel, die eigene menschliche Position aufzugeben und sich durch perfekte Nachahmung vollständig in die andere Spezies zu transformieren. Tatsächlich bestehe bei den Yukaghir nämlich die Sorge, dass es nicht mehr möglich sein könnte, sich zurückzuverwandeln. Es werde befürchtet, dass aus kontrollierter Empathie so etwas wie Liebe, eine extreme, unbeherrschbare Nähe, wird.155 Dann entstehe durch Mimesis eine Metamorphose. Man könne sich nicht mehr vom Geschehen und dem zu jagenden Tier distanzieren. „If, in fact, mimesis becomes totalizing, and the imitator loses himself in what he imitates, we are no longer talking about mimesis but metamorphosis; nothing is left to imitate when the difference between the copy and the original is totally gone.“156 Es sei also wichtig, dass bei Mimesis Identitäten nicht ineinander aufgingen und der Imitierende sich selbst nicht verliere, denn ohne Selbsterfahrung sei keine Welterfahrung, aber auch keine Weltbemächtigung möglich. „It is by means of their difference from the world impersonated that they can hold power over it. Without difference the imitator and imitated would collapse into each other, would become one, making any exercise of power impossible.“157 Entsprechend strebten die Yukaghier unperfekte Kopien an, die nach wie vor das Menschliche durchscheinen ließen. Mimesis ermögliche dann eine ambivalente Position zwischen Identitäten. Der den Elch nachahmende Jäger sei trotz Mimesis zwar nicht Elch, aber er sei auch nicht NichtElch. Es entstehe ein Zwischen- oder vielmehr ein Doppelzustand, ein Moment, wie bei einem Kippbild, in dem jemand X und Y zugleich ist. Der Jäger schaffe durch die unperfekte Nachahmung Doppelperspektiven. Willerslev sieht durch Mimesis das Subjekt-Objekt-Konzept aufgehoben, bei dem man immer nur entweder selbst ein Objekt für ein anderes Subjekt sein kann oder dieses Subjekt für einen selbst Objekt ist. Durch Mimesis hingegen begreife man sich und das Gegenüber immer gleichzeitig sowohl als Subjekt als auch als Objekt.158 „For what takes place, it seems to me, is in fact a reciprocal mirroring of perspectives.“159 Der Jäger sehe nicht nur den Elch, sondern er sehe auch sich selbst von außen, als wäre er selbst der Elch. „[T]hat is, he adopts toward himself the kind of perspective that the other (as subject) has of him (as object).“160 Die Perspektiven oszillieren. Der Jäger sieht sich einerseits selbst als Subjekt und das Gegenüber als

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Objekt und außerdem sich selbst von außen als Objekt, das allerdings von dem Elch als Subjekt gesehen wird. Ein Wechselspiel der Kategorien „Subjekt“ und „Objekt“ kommt in Gang, ohne – und das ist fundamental – diese aufzulösen. Das Selbst und das Andere, Subjekt und Objekt, real und fiktiv, seien also ebenso wie für die sogenannten Modernen wichtige Kategorien: Therefore, while mimetic empathy does imply that I identify with another, taking on the other’s experience as if it were my own, the boundary between myself and the other, between my experience and that of the other, does not vanish. At its most intense, I might come to occupy an ambivalent position in between identities, but I do not altogether lose sight of my own incarnate being.161

Mimesis schaffe die Möglichkeit, sich selbst von außen wahrzunehmen – also Selbstobjektivierung zu erfahren – und verstärke damit sogar das Empfinden für die eigene Subjektivität. Willerslev zieht in diesem Zusammenhang einen Vergleich zwischen der indigenen Mimesis und dem von Jacques Lacan identifizierten Spiegelstadium.162 Im Spiegelstadium, in dem das Kind sich zum ersten Mal von außen im Spiegel objektiviert und damit als Gegenüber sieht, findet erste Selbsterkenntnis statt. Paradoxerweise führt ein Zustand der Selbstentfremdung zur Selbstwahrnehmung. Der Zustand des „not me, not not-me“163, der kennzeichnend für die Mimesis ist, ermöglicht eine ähnliche Basis für Selbstreflexion. Mimesis ist eine kontrollierte und kontrollierende Praxis, bei der immer sowohl Zusammenhänge als auch Unterschiede erfahrbar gemacht werden, um damit Grenzen auszuhandeln. Einerseits werden andere Wesen als verwandt wahrgenommen, ihnen wird eine Subjektperspektive zugestanden, andererseits wird der Imitierende auf sich selbst zurückgeworfen. „Mimesis, as we have seen, puts the imitator in contact with the world of other bodies, things, and people, and yet separates him from them by forcing him to reflexively turn in on himself.“164 Willerslev stellt damit eine Praktik vor, die trotz Involviertheit Distanz und Reflexion ermöglicht. Eine Praktik, die Subjekt und Objekt nicht zunichte macht, sondern immer wieder neu verhandelt. Bei Willerslev wird also Viveiros de Castros „Subjektivieren“ zu einem ambivalenten „Objektivieren“ und „Subjektivieren“ im Wechsel. Es lässt sich festhalten, dass „Imitieren“ einerseits als kommunikativer Akt eine Beziehung zum Imitierten herstellt. In diesem kommunikativen Akt wird nachgeahmt, um den anderen zu verstehen, aber auch, um ihn zu manipulieren. Mimesis ist ein Instrument.165 Gleichzeitig wird nicht nur eine Verbindung offensichtlich, vielmehr werden durch Mimesis auch Unterschiede und Grenzen sichtbar. Sie werden nicht aufgelöst. Mimesis ist außerdem keine rein fantastische, rein fiktive Angelegenheit. Es findet eine Durchmischung von Fakt und Fiktion statt. Denn Mimesis basiert nicht auf Imagination. Die Unterschiede zwischen Wesen werden tatsächlich erlebbar. Man tut nicht nur, als ob. Das Dazwischen wird durch die physische, körperliche Komponente temporär real. Es wird nicht einfach nur etwas repräsen-

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tiert.166 Die Praktik „Imitieren“ bzw. die Mimesis bringt Doppelperspektiven und Kippmomente hervor.

3.2.8 Humorisieren Willerslev identifiziert nicht nur im „Imitieren“ eine Praktik, die Grenzen verhandelt, sondern auch im „Joking“, was im Folgenden als „Humorisieren“ bezeichnet wird. Er untersuchte die Rolle des Humors bei Gemeinschaften in der Mongolei und in Sibirien zunächst gemeinsam mit seinem Kollegen Morten A. Pedersen und entwickelte den Ansatz anschließend alleine weiter.167 Wieder stellte er Beobachtungen bei den Yukaghir an, angestoßen von einer ­Bärenjagdsituation. Wie Willerslev darstellt, verehren die Yukaghir ­Bären auf eine besondere Weise. Wenn sie einen Bär töten, entschuldigen sie sich umständlich dafür oder versuchen mit der Tötung möglichst nicht in Verbindung gebracht zu werden, indem sie den Geist des toten Bären zu täuschen versuchen. So bemühen sie sich beispielsweise den Geist des Bären davon zu überzeugen, dass ihn eigentlich ein anderes Tier umgebracht hätte. Wie Willerslev darstellt, sind Aussagen wie „Grandfather, who did this to you? A Russian killed you.“ Teil der strikten Rituale nach der Bärenjagd oder „Grandfather, you must feel warm. Let us take off your coat.“ während der Häutung des Bären.168 Als ­Willerslev während seiner Feldforschung zwei Jäger, die die typischen Rituale der Bärenjagd durchführten, begleitete, beobachtete er etwas, was ihn verunsicherte: Während der ältere Jäger auf die bekannte Weise agierte, schritt der jüngere Jäger, zum Bären gewandt, plötzlich ein: „Grandfather, don’t be fooled, it’s a man, ­Vasili Afanasivich, who killed you […]!“ Zuerst sei der ältere Jäger erstarrt, dann aber seien beide Jäger in ekstatisches Lachen ausgebrochen, als wäre der Umgang mit dem Geist des Bären, das gesamte Jagdritual, einfach nur ein guter Scherz.169 Im Anschluss führten beide Jäger die Rituale weiter, als wäre nichts passiert. Den einzigen, den das Geschehen stark beunruhigte und irritierte, war Willerslev selbst, dessen Forschungsgrundlage, nämlich den Animismus „ernst zu nehmen“, plötzlich ad absurdum geführt wurde. Wie sollte er den Animismus ernst nehmen, wenn die Yukaghir ihn selbst nicht ernst nahmen? Statt nun davon auszugehen, dass die Yukaghir infolge moderner sowjetischer Einflüsse ihren Glauben verloren hätten – was Tylor wohl als ein Zeichen des rationalen Fortschritts gewertet hätte – findet Willerslev eine andere Erklärung: Die ­Yukaghir schafften durch den Humor eine Distanz (zu ihren Praktiken), die sie benötigten, um die Praktiken selbst aufrechtzuerhalten. „Peoples’ playful relationships toward their cosmological rules allow for an escape from the latent dangers of totalization by invoking alternative scenarios that maintain the balance between too much and too little integration, which is what animism is all about.“170

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Die Yukaghir seien sich vollkommen dem Charakter der Illusion der Rituale bewusst oder, um das Wort Illusion zu vermeiden: Sie sind sich der Gemachtheit (Latour) ihrer Rituale bewusst, was die Rituale aber nicht weniger wirksam, real und wichtig macht.171 Sie wissen ganz genau, was sie tun, doch sie tun es trotzdem. Außerdem gingen die Yukaghir davon aus, dass der Geist des gejagten Tiers ganz genau wisse, dass er getäuscht werde, aber sich dennoch so verhalte, als wüsste er es nicht. „The spirits, just like the human hunters, are hyper-self-aware of the game of deception.“172 Willerslev zieht hier einen Vergleich zum Ideologiebegriff des Kulturkritikers Slavoj Žižek. Demnach ist nicht (mehr) nötig, an eine Ideologie zu glauben, um nach ihr zu handeln.173 Den Yukaghir gehe es mit ihren Ritualen nicht darum, einen Glauben auszuüben, sondern vielmehr darum, durch Praktiken ein Spiel am Leben zu halten, das Verhältnisse zwischen Jäger*innen, Geistern und Tieren ordnet. „For the Yukaghirs animism is not a matter of preaching and indoctrination, but rather one of technical management and manipulation through which the cosmological machinery can run itself.“174 Die Yukaghir verhandelten durch die besondere Distanz, die durch Humor entsteht, Grenzen: „Acts of rude joking during Mongolian shamanic rituals and Siberian elk hunts keep necessary cosmological distances intact by holding the parallel realities of visible human and nonhuman bodies and of invisible human and nonhuman souls in simultaneous view.“175 Ähnlich wie bei der Mimesis werden im Humor also unterschiedliche Perspektiven gleichzeitig sichtbar, was Kontrolle erlaubt. Auch hier schafft ein Wechselspiel der Perspektiven Bewusstsein. Die ­Yukaghir stellen, so Willerslev, durch das „Humorisieren“ nicht die Existenz von Geistern der Anderen infrage. Vielmehr dürften sie die Geister der Anderen und damit die eigenen Praktiken nicht vollständig ernst nehmen, denn dies würde einen Kontrollverlust bedeuten. Der Wechsel von Ernsthaftigkeit und Humor ist damit wichtiger Bestandteil des Animismus. Für Willerslev ist seine Beobachtung ein weiterer Beweis dafür, dass der Animismus kein Glaube, sondern eine Praxis ist, in der Verhältnisse ausgehandelt werden. Das „Humorisieren“ sei eine Möglichkeit, Distanz und Nähe im Wechsel möglich zu machen. Anthropolog*innen sollten laut Willerslev davon absehen, den Animismus zu absolut zu sehen, ihn zu ernst zu nehmen, und stattdessen die Bedeutung des Humors als wichtige Komponente erkennen. Dies nämlich täten die Y ­ ukaghir selbst auch: „[T]hey are quite serious about not taking animism too seriously.“176

3.2.9  Die animistischen Praktiken im Vergleich Die Vertreter*innen des Neuen Animismus begründen, dass indigene Gemeinschaften, deren Verhalten seit dem 19. Jahrhundert als animistisch gilt, weder unterentwickelt sind, noch unter einer Art kollektiven psychischen Störung leiden. Während

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Freud und Piaget den Animismus mit dem frühkindlichen magischen Einheitszustand von Ich und Umwelt in Verbindung brachten, machen die neuen Theorien deutlich, dass im Animismus keine undifferenzierte Vermengung von Subjektivität und Umwelt stattfindet. In keiner der auf Beobachtungen indigener Gemeinschaften basierenden neuen Theorien wird ein Monismus identifiziert, bei dem alles immer gleichartig als beseelt oder als Subjekt gilt. Vielmehr existieren stark differenzierte Konzepte von Subjektivität und Objektivität, die von der modernen westlichen Subjekt-Objekt-Unterscheidung abweichen. Es wird zwar unterschieden, aber anders als für die westliche Moderne gewohnt, nicht kategorisch, sondern situativ und mithilfe von Praktiken. Folgt man den Vertreter*innen des Neuen Animismus, ist es unzureichend, nur von Subjekt und Objekt zu sprechen. Schließlich können mithilfe der identifizierten Praktiken nicht nur diese beiden eigentlich modernen Kategorien ausgehandelt werden, sondern zahlreiche Unterschiede zwischen Seinsweisen. Durch die identifizierten animistischen Praktiken entstehen diverse Möglichkeiten zur Differenzierung zwischen Ich und Umwelt. Begreift man jede menschliche Gemeinschaft als animistisch, jede mit eigenen Vorstellungen über die Grenzen zwischen belebt und unbelebt oder beseelt und unbeseelt, dann kann es allerdings nicht darum gehen, den eigenen Animismus gegen den Animismus anderer Gemeinschaften auszutauschen und Letzteren als positives Gegenmodell der Moderne zu verstehen. Der Animismus Anderer ist kein Gegenbild – weder im positiven noch im negativen Sinne. Immer wieder wird in den neuen Theorien zum Animismus angemerkt, dass man nicht einfach den Tylor’schen Animismus vom Negativen ins Positive verkehren könne und dass dies die Gefahr berge, esoterisch zu werden.177 Im Zuge der Auseinandersetzung mit Bird-Davids Relationaler Epistemologie und Viveiros de Castros Perspektivischem Multinaturalismus, auf den sich schließlich auch Willerslev stützt, zeichneten sich vier Praktiken ab. Diese Praktiken sollen nicht als vollständige Sammlung aller existierenden animistischen Praktiken missverstanden werden – sicher lassen sich weitere identifizieren. Außerdem wurden die Praktiken durch Analysen ausgewählter Theorien über indigene Gemeinschaften erarbeitet und diese Theorien basieren wiederum selbst auf Interpretationen. Es ist also weder das Anliegen dieser Arbeit, Vollständigkeit abzubilden, noch zu belegen, was indigene Gemeinschaften wirklich tun. Ziel ist vielmehr, das, was die Theorien des Neuen Animismus anbieten, als Grundlage zu nutzen, um nichtmoderne und nicht-anthropozentrische Ansätze im Umgang mit Subjektivität und Kritik zu extrahieren. Die vier Praktiken, die in diesem Zusammenhang identifiziert wurden, sind miteinander verwandt – sie alle organisieren Differenz und Identität zwischen Wesen. Sie weisen allerdings auch Unterschiede auf. Die Praktik „Dividuieren“ resultiert aus Bird-Davids Überlegungen zu einer Relationalen Epistemologie. „Dividuieren“ ist eine Praktik, um Wissen zu erlangen. Erkenntnisfragen sind ihr Ursprung. Beim „Dividuieren“ soll Wissen allerdings nicht über etwas – etwa ein anderes Lebewesen – gewonnen werden, ­sondern

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mit etwas. „Dividuieren“ bedeutet, sich zu verbinden und Verständnis in und durch Beziehungen zu erlangen. Die individuelle Beziehung und die spezifische Situation, die die Beziehung ermöglicht, bestimmen, was erkannt wird. Was jemand oder etwas ist, ist flexibel und abhängig von Prozessen, Handlungen und Relationen. Wissen bildet sich emergent in der Beziehung heraus. Die Praktik „Subjektivieren“ basiert auf Viveiros de Castros Perspektivischem Multinaturalismus. Anders als bei der Praktik „Dividuieren“ wird hier nicht nur Erkenntnisgewinn angestrebt, sondern auch Kontrolle: Es geht darum, die Beziehung zwischen Wesen zu regeln. Eine Erkenntnisform wird der Praktik „Subjektivieren“ allerdings vorausgesetzt: Das Soziale ist das, was alle Wesen verbindet. Um etwas zu verstehen, muss es daher als Subjekt betrachtet werden. Beim „Subjektivieren“ wird angestrebt, die Perspektive des Anderen einzunehmen. Dabei geht es nicht um Beziehung im Sinne eines wechselseitigen, emergenten Prozesses. Vielmehr werden Grenzen durch einen empathischen Akt temporär überschritten. Man versetzt sich in das andere Wesen hinein. Das Trennende ist damit ebenso präsent wie das Verbindende. Auch die Praktik „Imitieren“ bezieht sich auf den Perspektivischen Multinaturalismus und wurde von Viveiros de Castro bereits angedeutet. Sie wird allerdings erst von Willerslev unter dem Begriff Mimesis detailliert herausgearbeitet und macht die praktische Bedeutung des Körpers beim Perspektivwechsel verständlich. Was Viveiros de Castro bereits thematisiert, dass nämlich jede Perspektive spezifisch verkörpert ist und Körper nicht gegeben, sondern praktiziert werden müssen, wird dank Willerslev praktisch verständlich. Er verdeutlicht, wie durch ein Wechselspiel zwischen körperlicher Nähe und Distanz bzw. Identität und Differenz die Grenzen zwischen Wesen ausgehandelt werden. Um eine Subjektposition einnehmen zu können, muss eine körperliche Transformation ablaufen, es braucht „Imitieren“. Die Praktik „Humorisieren“ dient als Metapraktik. Sie erhält die Wirksamkeit anderer animistischer Praktiken. Denn „Humorisieren“ lässt es zu, sich von einer Praktik kurzfristig zu distanzieren, um sich nicht in ihr zu verlieren, ohne sich vollständig von ihr abzuwenden. Wieder ermöglicht ein Wechselspiel zwischen Nähe und Distanz Reflexivität und damit einen bewussten Umgang mit sich selbst und Anderen. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass „Dividuieren“ durch Annäherung relational die Seinsart der beteiligten Wesen erfahrbar macht, „Subjektivieren“ durch einen bewussten Perspektivwechsel ein Verständnis der sozialen Beziehungen eines Anderen erlaubt und „Imitieren“ den Perspektivwechsel durch körperliche Transformation bewirkt und so außerdem Selbstreflexivität ermöglicht. „Humorisieren“ hält als Metapraktik die Praktiken selbst reflexiv aufrecht. Alle Praktiken haben erkenntnisstiftendes Potenzial, aber auf graduell unterschiedliche Weisen. Während durch die Praktik „Dividuieren“ relationales Wissen entsteht, bei dem sich Erkennende und zu Erkennendes zu einer „Wir-heit“ verbinden, entsteht

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beim „Subjektivieren“ Wissen durch einen Perspektivwechsel. Der oder die Erkennende wahrt oder kreiert dabei die eigene Subjektposition im Wechselspiel mit dem Anderen. Im körperlichen „Imitieren“, aber auch im „Humorisieren“ wird dieses Ziehen und Aushandeln von Grenzen noch deutlicher. Was bei der Praktik „Dividuieren“ keine besondere Rolle spielt, ist hier essenziell: Reflexivität, das Spiel zwischen Nähe und Distanz, wird zur Bedingung für Selbst- und Fremderkenntnis. Gemeinsam haben „Dividuieren“, „Subjektivieren“ und „Imitieren“, dass sie einen amodernen Zugang zum Anderen praktizieren. Das Andere wird nicht objektiviert. Wissen durch Relationen lässt sich nicht objektivieren, ist kaum zu repräsentieren und muss im Handeln erfahren werden. Differenzen zwischen Subjekt und Objekt (und zahlreichen weiteren Kategorien oder Qualitäten) werden also durch Praktiken und nicht durch Definitionen kreiert. Alle vier identifizierten Praktiken sind nichts Natürliches, Ursprüngliches oder Naives – im Sinne des (glorifizierten) Alten Animismus. Sie sind nichts, was spontan und unreflektiert abläuft, sondern etwas Kulturelles, was systematisch und intentional eingesetzt wird und erlernt werden kann.

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3.3 TECHNO-ANIMISMUS Anders als im Alten Animismus erwartet, haben nicht-moderne Formen des Animismus in der westlichen Welt trotz Aufklärung und auch bei erwachsenen und psychisch gesunden Menschen überlebt. Menschen, die sich als aufgeklärt und rational beschreiben, geben ihrem Auto einen Namen oder unterstellen ihrem Computer böse Absichten. Manchen Dingen werden sogar weiterhin magische Kräfte zugesprochen. Der Mensch entwickelte sich, anders als Tylor prognostizierte, nicht hin zu einem im modernen Sinne rationaleren Wesen, das immer deutlicher zwischen Subjekt und Objekt trennt. Der nicht-moderne Animismus, im Sinne einer anderen als modernen Grenzhandhabung, hat nicht nur überlebt, sondern scheint sogar neue Dimensionen anzunehmen. So ist seit der Jahrtausendwende in den Sozial-, Kultur-, Medien- und Designwissenschaften sowie der HCI-Forschung zunehmend von „Techno-Animismus“ die Rede. Die Diskurse sind veranlasst von der Unsicherheit über den Unterschied zwischen Subjekt und Objekt unter technologischer Bedingung. Der Animismus erfährt im Zusammenhang mit technischen Neuerungen also ein weiteres Mal Aufmerksamkeit. Im folgenden Kapitel werden zusammenfassend Positionen zum Techno-Animismus seit den späten 1990er Jahren abgebildet. Es stellt sich die Frage, was in der HCI- und in der Designforschung unter Animismus verstanden wird und ob der Neue Animismus als Grenzziehungspraxis Beachtung findet.

3.3.1  Techno-Animismus als Verbundenheitsgefühl Erik Davis verwendete schon im Jahr 1998 den Begriff Techno-Animism.178 Er versteht Technik explizit nicht als säkulares Phänomen. Technik ist für ihn – entgegen dem modernen Verständnis, in dem wirtschaftlicher Fortschritt durch Technik fokussiert wird – nicht entzaubernd, sondern im Gegenteil explizit verzaubernd (enchanting). Davis verhandelt das Religiöse, Spirituelle und Magische im Zusammenhang mit Technik. Er sieht durch Technik die postmoderne mit der vormodernen Kultur verschränkt. „So here we are: a hyertechnological and cynically postmodern culture seemingly drawn like a passel of moths toward the guttering flames of the premodern mind.“179 Ursache dieser Verschränkung seien insbesondere Kommunikationsmedien, die auch bei ihm immer mehr sind als materielle Dinge: „[M]edia technologies are also animated by something that has nothing to do with matter or technique.“180 Davis Argumentation ist geprägt von den amerikanischen Subkulturen der 1990er Jahre und damit von einer Faszination für Cyberspace, elek­ tronischer Musik und New Age.181 Einen ähnlichen Hintergrund hat Brenda L ­ aurels Aufsatz Designed Animism aus dem Jahr 2009. Laurel, die seit den 1980er Jahren

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schwerpunktmäßig zu Virtueller Realität und Computerspielen forscht, verbindet mit Animismus Spiritualität und Pervasive Computing. In den Texten von Davis und Laurel kommen die Faszination für technische Innovationen, Optimismus und ein Enthusiasmus zum Ausdruck, der an die „Kalifornische Ideologie“182 erinnert. Sie laden Technik mittels narrativer, bildreicher Sprache mythisch auf.183 Davis führt beispielsweise folgendermaßen in TechGnosis ein: „Spirit and soul twine their way throughout this book like the two strands of DNA, both enchanting and spiritualizing media technologies.“184 Ähnlich pathetisch kommentiert Laurel das technische Projekt eines Kollegen mit: „Now that’s magic!“185 Pervasive Computing ist bei Laurel magisch, mystisch und märchenhaft. „We see faeries, or make them up, but now we can also make them. We have, for the first time, the capacity to create entities that can sense and act autonomously, or with one another, or with living beings. They can learn and evolve. They can reveal new patterns, extend our senses, enhance our agency and change our minds.“186 Sie befasst sich bewusst nicht mit problematischen Aspekten wie dem Verlust von Privatssphäre und den Herausforderungen im Datenschutz.187 Laurel vertritt grundsätzlich einen technikoptimistischen Ansatz. Sie ist davon überzeugt, dass die positiven Effekte der Technik neue Erkenntnis („new awareness“) für den Menschen zulassen, man sich also Innovationen eher mit Freude („delight“) als mit Angst nähern sollte.188 Um zu erläutern, wie Pervasive Computing mit Animismus im Zusammenhang steht, stellt sie fest: „Essentially, it [Pervasive Computing, Anm. d. Verf.] can become a tool in manifesting what I call ‚designed animism‘. The goal is fundamentally experiential, but the conequences [sic!] are profound: designed animism forms the basis of a poetics for a new world.“189 Vernetzte Technik provoziere „gestalteten Animismus“ und dieser erlaube eine neue Verbundenheit zwischen Mensch und Welt. Laurel versteht Designed Animism als spirituelles Verbundenheitsgefühl als „holistic sense of delight“190. Als Beispiel für ein animistisches Ritual, das sich auf den Umgang mit Technik übertragen ließe, nennt sie das „tree-hugging“191 und bedient damit esoterische Klischees. Der durch Technik provozierte Animismus habe einen heilsamen Effekt; er könne zum Werkzeug zur Behebung ökologischer Probleme werden.192 Technik, die den Menschen so vernetzt, dass er kaum zwischen sich selbst und seiner Umwelt unterscheiden kann, erzeuge Verantwortungsbewusstsein. „If I had more sensors, my body could be the earth. With matching effectors, I become a ‚Gaian Gardener‘, responsible for and enacting the health of the living planet.“193 Die Gaia-Hypothese der Biologie wurde bereits in der New-Age-Bewegung verklärt. Diese von der Systemtheorie geprägte Hypothese besagt, dass die gesamte Erde als ein selbstorganisierendes Lebewesen betrachtet werden kann. Auch ­Laurels Gaian Gardener ist in der Lage, durch Technik unterstützt, die ganze Welt als lebendigen Organismus zu begreifen. Folgende Fragen identifiziert sie selbst als ihr zentrales Interesse im Zusammenhang mit dem Animismus: „When we see the world as deeply alive and beautiful, how does it change us? How does it change what we decide and do in the world?“194

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Hier wird deutlich, das Animismus für Laurel, ähnlich wie im Alten Animismus des 19. Jahrhunderts beschrieben, eine Projektion ist – allerdings eine sinnvolle. Laurel argumentiert dafür, die Welt als lebendig zu erachten, also Lebendigkeit zu projizieren. Designed Animism mobilisiere die Imagination: „Because animism is seated in nature, the design of an animistic life encourages the imagination to construct beauty through projection onto the natural world, just as it invites nature in as an active participant.“195 Laurel spricht immer wieder von einer „natürlichen Welt“ – unklar bleibt, was damit genau gemeint sein soll. Durch Designed Animism werde diese natürliche Welt in eine Kollaboration einbezogen. Der Mensch verliere damit seine Position als zentrales Kontrollwesen.196 Den Kontrollverlust, die Wahrnehmung von Emergenz und das Gefühl, in einer lebendigen Ganzheit aufzugehen, wertet sie grundsätzlich positiv: „And I have this perfectly joyful sense that my body is my home, my garden, my canyon, my trees.“197 David Rose, Forscher am MIT Media Lab, propagiert in Enchanted Objects: Innovation, Design, and the Future of Technology198 Dinge, die auf für den Menschen zentrale Wünsche eingehen, auf den Wunsch nach Allwissenheit, Gedankenübertragung, Sicherheit, Unsterblichkeit, Teleportierung und sich auszudrücken. Nur Dinge, die vermeintlich übermenschliche Fähigkeiten verleihen, nicht stören und nicht widerständig werden, sind für ihn „enchanted“. Er beschreibt eine zukünftige Welt, die an Weisers Ubiquitous Computing erinnert, in der möglichst alles gestenbasiert und ohne Bildschirme funktioniert.199 Gewöhnliche Dinge würden nicht nur durch Technik erweitert, sondern direkt magisch verzaubert. Seine Enchanted Objects beschreibt er durchweg positiv.200 Designer*innen müssten sich in dieser Welt von Fantasy und Märchen inspirieren lassen und zu Zauber*innen und Geschichtenerzähler*innen werden. Den Zusammenhang zwischen Magie und Technik hervorzuheben, ist weder in den Technik- und Medienwissenschaften, noch in der HCI-Forschung oder der Anthropologie neu.201 Die Texte von Davis, Laurel und Rose führen diese Auseinandersetzung fort. Sie beschreiben Phänomene der Verschmelzung mit Technik oder der Verzauberung durch Technik und bringen diese nun darüber hinaus mit Animismus und Beseeltheit in Verbindung. Davis steht der techno-magischen Entwicklung skeptisch gegenüber, verwendet allerdings zu ihrer Beschreibung selbst eine mythisierende Sprache. Laurel und Rose sehen in den magischen Phänomenen Potenzial, um Harmonie mit der nicht-menschlichen Welt herzustellen oder um sich über ihre Widerständigkeit hinwegzusetzen. Alle drei Autor*innen heben das Verbindende des Animismus hervor. Ihre positiven Haltungen erinnern an eine ins positive gewandelte Perspektive auf das Magische Denken und damit an den glorifizierten Alten Animismus.

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3.3.2  Techno-Animismus als japanisches Phänomen Der enge Zusammenhang von Animismus und Technik wird außerdem als ein typisch japanisches Phänomen diskutiert. Japan sei das einzige industrialisierte Land, in dem Animismus in intellektuellen Kreisen ganz selbstverständlich thematisiert werde – in der Kunst, in der Politik, in der Wissenschaft und auch in der Entwicklung und Rezeption von Technik.202 In dem vom Shintoismus und Buddhismus geprägten Japan werden die Grenzen zwischen belebt und unbelebt und zwischen unterschiedlichen Wesen grundsätzlich als durchlässiger erachtet als im modernen Westen. Spiritualität steht in der japanischen Kultur nicht in einem Widerspruch zur eigenen hochtechnisierten Produktwelt. Technik und Spiritualität werden verknüpft und die Grenzen zwischen unterschiedlichen Wesen – Menschen, Geistern, Tieren, Robotern – kontinuierlich überschritten, so auch die Anthropologin Anne Allison, die feststellt: The entire world here is built from a bricolage of assorted and interchangeable (machine/organic/human) parts where familiar forms have broken down and reassembled into new hybridities: police cars are flying dog heads, and robots come in a diversity of forms from dolphins and ants to crabs and trees.203

Allison prägte 2006 den Begriff Techno-Animismus für die Diskurse zur japanischen Kultur und seither findet er sich in zahlreichen weiteren Texten über Japans Produktwelt.204 Dass insbesondere technische Dinge als beseelt gelten, liegt laut Allison daran, dass in Japan Technik (mecha) als Schlüssel dafür gilt, wie das Leben konstituiert ist. Außerdem liegt seit dem Zweiten Weltkrieg im japanischen Staat generell der Fokus auf Technisierung. Dass Roboter in Japan „the subjects of ritual consecrations and religious transcendence“ sind und an einer „fundamental sanctity ­ eraci of the natural world“ partizipieren, bemerkt der Theologe Robert Geraci.205 G beschäftigt sich mit dem japanischen Phänomen sogenannter spiritual robots: Roboter können in Japan sogar zum Buddha werden,206 gelten als selig und heilig, werden in die sakrale Natur mit einbezogen und sind als natürliche Partner*innen des Menschen grundsätzlich willkommen. Er sieht, wie auch Allison, die Ursache für diese Akzeptanz im Buddhismus und Shintoismus, die als Religion zwar vordergründig kaum noch eine Rolle im modernen Japan spielten, allerdings indirekt immer noch kulturelle Auswirkungen zeigten. Geraci zeigt auf, welchen Einfluss der religiöse Kontext auf Forschung und Entwicklung hat und dass Buddhismus und Shintoismus für den Blick auf die technisierte Produktwelt grundsätzlich andere Bedingungen schaffen als das Christentum.207 Casper Bruun Jensen und Anders Blok erachten „Shinto-Techno-Animismus“ als eine die ANT erweiternde Perspektive: „Shinto techno-animism is interesting because it provides new and fruitful avenues for challenging and extending actornetwork theory practice.“208 Die ANT sei, entgegen Latours eigentlichem Bestreben,

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eurozentristisch.209 Wie genau der Shinto-Techno-Animismus praktisch fruchtbar werden kann, untersuchen Jensen und Blok jedoch nicht; sie beschreiben ihn nur als „promising starting point“210. Bei Allison ist Techno-Animismus in erster Linie ein ästhetischer Stil, der nicht nur technische Artefakte betrifft, sondern grundsätzlich Konsumgüter in Japan.211 Sie beschäftigt sich daher nicht nur mit dem Roboterhund AIBO oder dem Tamagotchi, sondern auch mit nicht-technisiertem Spielzeug wie Pokémon oder Anime-Zeichentrickfilmen. Diese Artefakte haben gemein, dass sie durch formale Ähnlichkeiten mit Lebewesen einen Charakter darstellen und so lebendig erscheinen. Japan bringe eine andere, nicht-westliche Form des Kapitalismus hervor, in der im Gegensatz zu den Modernisierungstheorien des 20. Jahrhunderts keine „Entzauberung der Welt“212 stattfinde. Allison, Geraci, Jensen und Blok machen also deutlich, dass das, was im westlichen Kulturkreis als Kitsch verpönt ist oder als Frankenstein-Syndrom gefürchtet wird, in Japan weder Scham, Angst noch Verachtung auslöst, sondern sich vor dem anders geprägten religiösen Hintergrund leichter mit technischem Fortschritt vereinbaren lässt.

3.3.3  Techno-Animismus als Verschleierung und Täuschung Nicht nur in Japan, sondern auch in der westlichen Kultur fand im Zusammenhang mit Konsumgütern nie eine vollständige „Entzauberung“ statt. Biomorphe, zoomorphe und anthropomorphe Produkte finden sich auch im modernen Westen und hier wird ebenfalls mit dem Begriff des Animismus operiert. Im User Experience Design taucht er seit etwa 2000 verstärkt zur Beschreibung eines Stilmittels auf, bei dem User-Interface-Designer*innen und Produktdesigner*innen sich von Lebewesen inspirieren lassen. Denn auch im User Experience Design heißt es: „Digital devices become animals or people.“213 Thematisiert wird in diesem Zusammenhang die emotionale Nähe, die durch humanoide Interfaces und Social Robots zwischen Mensch und Technik entsteht. Rose nutzt den Begriff Animismus zur Abgrenzung von seinen Enchanted Objects. Er diskutiert vermenschlichte Social Robots als typisches Mittel zur Erzeugung von Bonding, zudem werde auf das Kindchenschema zurückgegriffen: „The attractive attributes of babyness figure prominently in animism.“214 Mit Animismus ist bei Rose letztlich ein materialisierter Zoo-, Bio- oder Anthropomorphismus gemeint. Anthropomorphisierte Konsumgüter, zum Beispiel grinsende Spielzeugautos mit Augen und Nase, lassen sich laut Diedrich Diederichsen mit dem Warenfetischismus von Karl Marx besser verstehen. Diederichsen weist ähnlich wie Piaget darauf hin, dass wir das Ding als Alterität benötigen, um unser Selbst zu produzieren. Anthropomorph gestaltete Dinge seien allerdings keine tatsächlichen Dinge

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mehr, die diese Aufgabe erfüllen könnten. Er unterscheidet unter Rückgriff auf die marxistische Theorie und deren Verdinglichungsbegriff215 zwischen dem Ding als Alterität und der Ware: Verdinglichung bringt ja nicht Dinge, sondern Waren hervor. Waren sind keine Dinge, sondern Untote, deswegen ihre notorische Tendenz, zu zwinkern, zu grüßen und auf sich aufmerksam machen. Die Spielzeugzüge und -autos meines Neffens wären demnach keine animierten Dinge, sondern Waren, die nicht verbergen, was sie sind. Das Ding zurückzugewinnen hieße, die Ware loszuwerden.216

Folgt man Diederichsen, ist das animierte Ding (nicht zu verwechseln mit dem anthropomorphen Ding) durch dessen Passivität aktiv – im Gegensatz zur Ware. Die Ware hingegen sei durch eine aufdringliche Form der Scheinaktivität gekennzeichnet, implementiert etwa durch die Gestaltung falscher Augen. Im Fall der Ware eines anthropomorphen Spielzeugs rücke die Aktivität des passiven Dings in den Hintergrund und es werde der „holistische Animismus der multipel esoterischen Eltern“217 bedient. Aus Diederichsen Überlegungen lässt sich folgern, dass in der anthropomorphen Ware die Alterität des Dings verloren geht. Die Diskurse über Techno-Animismus sind mithin jenen über den (Waren-) Fetischismus sehr nahe. Im Versuch einer Abgrenzung der Konzepte Animismus und Fetischismus schlägt der Anthropologe Alf Hornborg, der sich mit Technik als Fetisch befasst, vor, die Beseelung von Lebendigem als Animismus und die Beseelung von Unbelebtem als Fetischismus zu bezeichnen.218 Der Maschinenfetischismus sei eine korrumpierte Form des Animismus, denn hier gehe es um etwas Mysteriöses, das der Technik grundsätzlich anhafte und sich dem Menschen entziehe bei gleichzeitiger Ermächtigung von Minderheiten. Neue Technik sei nicht unbedingt fortschrittlich, sondern schaffe potenziell ungleichen Austausch und damit Ungerechtigkeit. „The machine is an index of purchasing power and a specific form of capital accumulation that is as mystified and fetishized as any other power strategy in history.“219 In der marxistischen Theorie ist der Fetisch eine Projektion kapitalistischer Gesellschaften, etwas, was durch die Verdinglichung zwischenmenschlicher Beziehungen und durch das Verbergen von Produktionsprozessen entsteht. Die Dinge werden durch den Warentausch, der nicht mehr vom Gebrauchs-, sondern vom Tauschwert bestimmt ist, zum Fetisch. Sie tragen als Waren eine Maske, einen falschen Schein. Mit Marx entsteht eine Kulturkritik, die den Begriff Fetisch nutzt, um dem modernen Kapitalismus den Spiegel vorzuhalten und dessen versteckte religiöse Antriebe zu entlarven.220 Vor diesem Hintergrund lässt sich als weiterer Unterschied zwischen Fetischismus und Animismus identifizieren, „ob man zwischenmenschliche Beziehungen wie Dingbeziehungen darstellt (marxistischer Fetischismus) oder man Beziehungen zu Dingen wie Beziehungen zu Menschen erlebt (Animismus). Ersteres ist eine der politischen Ökonomie des

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­ apitalismus zugrundeliegende Illusion, letzteres ein phänomenologischer ReK sonanzzustand.“221 Bezogen auf vermenschlichte Waren oder Technik, die von Allison unter dem Begriff Techno-Animismus diskutiert wird, mag es demnach angemessener sein, von Fetischismus zu sprechen als von Animismus. Denn das anthropomorphe Interface, etwa eines Roboters, dient zur Vereinfachung der Beziehung zwischen Mensch und Ding, während es die eigentliche Komplexität der Technik verbirgt. Der technische Gegenstand trägt eine Maske, wie die Spielzeugeisenbahn mit Augen und die Marx’sche Ware. Außerdem kann – wie auch schon in Kapitel 2.1.3 dargestellt – die Interaktion mit maskierten Artefakten eine Verdinglichung des Menschen nach sich ziehen, wie Timo Kaerlein am Beispiel des humanoiden Roboters erläutert: „[H]aving people interact with animated robotic stand-ins that simulate interpersonal relationships is more akin to treating these people as objects and not as subjects.“222 Dass nicht nur die Vermenschlichung von Technik selbst zur problematischen Täuschung werden kann, sondern auch die eine Technik beschreibende Rhetorik, demonstrieren Sascha Lobo und Natascha Adamowsky. Lobo bezeichnet die Konvention, technischen Geräten und Algorithmen nicht mehr nur menschliche, sondern übermenschliche Fähigkeiten zuzuschreiben, als „magischen Digitalismus“223. So werde Algorithmen beispielsweise die Macht zugesprochen, den Ausgang politischer Wahlen zu verantworten. Er kritisiert dies als Digitalaberglaube, der entsteht, weil es an Wissen mangelt oder die Wissenden sich selbst und die Technik überschätzen. Die Vorstellung, alle Probleme der Welt ließen sich mit digitalen Mitteln lösen, sei Ausdruck von Technoesoterik: „Wir erleben in gewisser Weise eine Zeit der Voraufklärung, wenn man von der Notwendigkeit einer neuen, digitalen Aufklärung ausgeht.“224 Adamowsky verweist auf eine „Rhetorik des Magischen“, mit der die Technologien des IoT beschrieben werden: Laut werbenden Texten verzaubert die neue Technik. So aber entstehe der falsche Eindruck, die Dinge selbst würden den Nutzer*innen Informationen zufunken. Diese Rhetorik verdecke letztlich die menschlichen Kontrollinteressen und die Fragen und Probleme, die sich durch die Technik tatsächlich ergeben.225 Im Zusammenhang mit Animismus werden also auch gestalterische und rhetorische Stilmittel erörtert, mit denen technische Wirkweisen versteckt und Menschen getäuscht werden. Animismus wird hier, ähnlich wie im Alten Animismus, negativ gewertet. Er wird in der Argumentation der Autor*innen entweder direkt mit Fetischismus gleichgesetzt oder als „korrumpierter Animismus“ problematisiert. So sprechen Hornborg und Kaerlein zwar den Unterschied zwischen Animismus und Fetischismus an, sehen aber in Bezug auf Technik den Animismus als Fetischismus wirken. Insbesondere die anthropomorphe Formgebung provoziere den fetischisierenden Animismus. Vermenschlichte Technik gebe vor etwas zu sein, was sie nicht ist. Die Kritik gilt neben der Anthropomorphisierung auch allen anderen gestalterischen Entscheidungen, die dazu führen, dass Nutzer*innen Technik techno-esoterisch und quasi-magisch überschätzen.

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3.3.4  Exkurs: Animismus in Kompensationsräumen der Kunst Dass sich eine beseelende Umgangsweise mit nicht-menschlicher Umwelt durch die rationalen Bemühungen der Moderne nicht auflösen ließ, wird nicht nur in dem Diskurs über Techno-Animismus deutlich. Es existieren auch unabhängig von technischen Entwicklungen in modernen Gesellschaften explizit Orte, an denen eine Vermischung der Kategorien Natur und Kultur, unbeseelt und beseelt oder nichtmenschlich und menschlich erlaubt war und ist. Beispiele für solche Orte sind Kirchen, psychiatrische Anstalten oder die Räume der Kunst. Da sich das Design immer auch in direkter Auseinandersetzung mit der Kunst befindet, soll in diesem Exkurs das Verhältnis der Kunst zum Animismus skizziert werden. Freud erklärte Anfang des 19. Jahrhunderts die Kunst zum alleinigen Bereich der aufgeklärten Moderne, in dem Magisches Denken und Animismus noch Bestand hätten: Nur auf einem Gebiete ist auch in unserer Kultur die ‚Allmacht der Gedanken‘ erhalten geblieben, auf dem der Kunst. In der Kunst allein kommt es noch vor, daß ein von Wünschen verzehrter Mensch etwas der Befriedigung Ähnliches macht, und daß dieses Spielen – dank der künstlerischen Illusion – Affektwirkungen hervorruft, als wäre es etwas Reales. Mit Recht spricht man vom Zauber der Kunst und vergleicht den Künstler mit einem Zauberer. Aber dieser Vergleich ist vielleicht bedeutsamer, als er zu sein beansprucht. Die Kunst, die gewiß nicht als l’art pour l’art begonnen hat, stand ursprünglich im Dienste von Tendenzen, die heute zum großen Teil erloschen sind. Unter diesen lassen sich mancherlei magische Absichten vermuten.226

Anselm Franke und Sabine Folie identifizieren eine Interdependenz zwischen freier Kunst und der Verdrängung des nicht-modernen Animismus: „Historisch ist es erst der Ausschluss des Animismus aus dem modernen Weltbild, der die ontologische Differenz von Kunst und Nicht-Kunst ermöglicht (oder erzwingt), durch die die Kunst säkularisiert und als autonomes Feld erst begründet wurde.“227 Die autonome Kunst entsteht demnach letztlich erst durch die modernen Dichotomien, die die Kunst versuchsweise kompensiert. Die Kunst diene den Modernen als Kompensationsraum. Denn die Objektivierung, Verdinglichung und Entzauberung der Moderne habe das Bestreben nach Subjektivierung und Wiederverzauberung mit sich gebracht. In der Kunst sei es, anders als in der von der Aufklärung bestimmten Alltagswelt, erlaubt, von Dingen affiziert, animiert oder angesprochen zu werden. Hier dürften Artefakte aktiv auf Subjekte einwirken.228 In der Moderne sei es geradezu Aufgabe der Kunst geworden, Dichotomien aufzubrechen oder zu destabilisieren.229 Der Kunstraum sei zum Modellraum geworden, in dem amoderne Möglichkeitsszenarien ausgetestet werden konnten – ein Raum, in dem auch Dinge Handlungsmacht entfalten durften.230

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Die dOCUMENTA (13) kann als Beispiel für einen Kunstraum verstanden werden, bei dem amodernes, nicht-anthropozentrisches Denken explizit konzeptionelle Grundlage war. Die Kuratorin Carolyn Christov-Bakargiev machte es sich hier zur Aufgabe, „das menschliche Denken nicht hierarchisch über die Fähigkeiten anderer Spezies und Dinge zu stellen, zu denken oder Wissen zu produzieren“,231 und begab sich damit in direkte Nähe zu einem animistischen Weltbild. Auch bezüglich der Wirk- oder Handlungsmacht von Kunstwerken kreuzen sich die Forschungsfragen von Kunsttheorie und Anthropologie. Alfred Gell entwickelte in den 1990er Jahren eine Kunstanthropologie, in der er die Kunst nicht semiotisch als Bedeutungsträger untersucht, sondern als Handlungssystem versteht. Er verdeutlicht, dass das Kunsterlebnis weder rein objektiv vom Kunstwerk ausgeht, noch eine subjektive Konstruktion des Rezipienten ist, sondern zwischen beiden passiert. Laut Gell kann Kunst starke Gefühle wie Hass, Liebe oder Sehnsucht auslösen, was dazu führe, dass Rezipient*innen eine persönliche Beziehung mit der Kunst eingehen. Die Kunst verwische die Grenzen zwischen Subjekt und Objekt; sie sei nicht einfach Repräsentant oder Symbolträger, sondern nehme Personenstatus ein.232 In den Bildwissenschaften233 geht W. J. T. Mitchell der Frage „Was will das Bild?“ nach und schreibt Bildern explizit Subjektcharakter zu.234 Er beschäftigt sich nicht mit der Bedeutung oder Wirkung eines Bildes, sondern verlagert „den Ort des Begehrens in das Bild selbst“ und bezeichnet das ambivalente Verhältnis vermeintlich aufgeklärter Betrachter*innen zu Bildern als „ein doppeltes Bewusstsein“.235 Denn einerseits stufe man Bilder ganz selbstverständlich als leblos ein, andererseits werde ihnen trotz aller rationalen Einsicht auch in modernen Gesellschaften die Macht zugesprochen, zu manipulieren oder zu verführen, ganz so, als hätten sie einen eigenen Willen. Bilder ließen sich nicht vollständig bändigen. Ihre Macht bleibe, obwohl vom Menschen geschaffen, für Menschen nie vollständig beherrschund kontrollierbar. Bilder bringen nicht nur die Grenzen zwischen belebt und unbelebt ins Wanken. Sie irritieren auch weitere rational begreifbare Kategorien wie beispielsweise die Beschränkungen von Zeit und Raum oder Anwesenheit und Abwesenheit. Insbesondere der Fotografie wurden in diesem Zusammenhang, vor allem zu Beginn ihrer Geschichte, magische Fähigkeiten nachgesagt.236 Die Macht der Bilder wird üblicherweise gefürchtet, oftmals bekämpft. In der Kunst ist sie erwünscht. Hier ist es erlaubt, von Bildern animiert zu werden. Auch in der Literatur und im Film finden Animismus, Anthropomorphismus und Magie Raum.237 Die Grenzen zwischen lebendig und leblos oder beseelt und unbeseelt werden bewusst überschritten, z. B. in der Fabel und im Science Fiction Roman, im Animations- oder im Horrorfilm. E. T. A. Hoffmann erfindet in Der Sandmann einen Androiden238 und Mary Shelley lässt in ihrem Roman Frankenstein einen künstlichen Menschen zum Leben erwachen.239 Freud stellt eine Verbindung zwischen Animismus und Literatur her, indem er sich mit dem Unheimlichen in der­

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L ­ iteratur befasst.240 Wie in Kapitel 3.1.2 dargestellt, entsteht laut Freud das Unheimliche immer dann, wenn etwas an den verdrängten oder überwundenen magischen Zustand der Kindheit erinnert. Das Gefühl komme durch die Unsicherheit, ob das Überwundene nicht doch real sei, auf. In seinen Literaturbeispielen finden sich direkte Wunscherfüllung und Magisches Denken. Anders als in der realen Welt entstehe das Gefühl des Unheimlichen allerdings in der fiktiven Welt nicht. Wenn beim Märchen mit den drei Wünschen der im Ärger ausgedrückte Wunsch, eine Wurst möge einer Frau an der Nase hängen, in Erfüllung geht, wirke diese „Allmacht der Gedanken“ möglicherweise komisch, aber nicht unheimlich. Da das Magische in der Fiktion und Dichtung selten unheimlich werde, nimmt Freud an, dass es wichtig sei, „einen Unterschied zu machen zwischen dem Unheimlichen, das man erlebt, und dem Unheimlichen, das man sich bloß vorstellt, oder von dem man liest“241. Er unterscheidet entsprechend zwischen dem „Unheimlichen des Erlebens“ und dem „Unheimlichen der Fiktion“: „Das paradox klingende Ergebnis ist, daß in der Dichtung vieles nicht unheimlich ist, was unheimlich wäre, wenn es sich im Leben ereignete, und daß in der Dichtung viele Möglichkeiten bestehen, unheimliche Wirkungen zu erzielen, die fürs Leben wegfallen.“242 Die Fiktion sei von einer Realitätsprüfung befreit, insbesondere dann, wenn die Fiktion keinen Realitätsanspruch stelle und sich, wie im Märchen, „offen zur Annahme der animistischen Überzeugungen bekannt“243 hat. Freuds Abhandlung über das Unheimliche zeigt, dass es in fiktiven Räumen – auch in der Moderne – auf unproblematische Weise möglich ist, mit Magie zu operieren. Eine Irritation tritt nicht auf, solange der fiktive Raum deutlich vom Realraum unterschieden wird. Erst wenn amoderne, animistische Überzeugungen in dem auftauchen, was als Wirklichkeit bezeichnet wird, wird das Realitätsprinzip der Moderne verunsichert. Franke stellt ebenfalls fest, dass die sogenannten Modernen immer erst dann von Animismus zu sprechen beginnen, wenn die ins Fiktive verbannten Phänomene – also auch jene, die Freud thematisiert – einen Anspruch auf Wirklichkeit erheben.244 So sei nicht erstaunlich, dass die Kunst der westlichen Moderne einen Preis für die Freiheit der Grenzüberschreitung zahle. Freie Kunst durfte nur in begrenzten, wirklichkeitsfernen Schutzräumen existieren, so Franke. Sie müsse, um dem dichotomen Weltbild gerecht zu bleiben, politisch und realweltlich folgenlos sein.245 Wenn etwas bloß Kunst ist, und damit imaginär und illusionistisch bleibt, wird es für den modernen Dualismus harmlos. Das Museum als vom Realen abgegrenzter Ort könne das Destabilisierende der Kunst im Zaum halten. Franke bezeichnet das Museum als einen „Objektivierungs-, Immobilisierungs- und Mumifizierungsapparat“246. Während nämlich die Kunst selbst Grenzen verwische, sei das Museum der objektivierenden Wissenschaft verpflichtet und ermögliche einen distanzierten, rationalen Blick auf die Dinge. Eine Ausstellung über den Animismus sei in sich ein Paradoxon. Ausstellungen würden immer eine rationale Auseinandersetzung schaffen und somit Abgrenzung ermöglichen. Sie machten etwas zum Gegenstand. In diesen Schutzräumen, die deutlich zwischen Realität und ­Imaginärem

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trennten, bestärke die Pseudo-Lebendigkeit der Dinge letztlich die Trennung von Objekt und Subjekt in der Realität.247 Museen machen es dem modernen Subjekt möglich, die grenzüberschreitende Kunst auszugrenzen bzw. sich von ihr abzugrenzen. Das Museum ist damit ein Ort, der das moderne Denken manifestiert. In Museen – nicht nur in Kunstmuseen – findet Leben nicht tatsächlich statt, sondern wird Lebendiges konserviert, Nützliches unbrauchbar, potenziell Beseeltes zum Objekt. Schließlich lässt sich nur etwas, was objektiviert werden kann, auch ausstellen. Die politische Avantgarde in der Kunst hat gegen diesen Bannkreis der Kunst kontinuierlich angekämpft. Performance- und Installationskunst setzten sich beispielsweise zum Ziel, in sozialen, politischen und ökonomischen Kontexten des Alltags wirksam zu werden. Institutionskritische, künstlerische Positionen haben außerdem explizit gegen die Konventionen der Kunstrahmung in Museen rebelliert. Ihre Versuche der Grenzüberwindung zeugen von einer grundlegenden Trennung zwischen Realraum und Fiktionsraum in der Moderne. Dieser Exkurs über Animismus und Kunst verdeutlicht, warum anthropomorphes Design, der beseelende Umgang mit Technik und eine die Technik beschreibende Magie-Rhetorik zu Kritik und Kontroversen führen. Schließlich existieren Technik und Design üblicherweise nicht in abgeschlossenen Kompensationsräumen, sondern wirken im Realraum. Gerade Technik, ursprünglich als funktionales Werkzeug verstanden, das im modernen Sinne für Fortschritt steht und den Menschen von Abhängigkeiten von seiner Umwelt befreien sollte, verletzt u. a.durch Vernetzung und Vermenschlichung die modernen Kategorien und Grenzen zwischen belebt und unbelebt, beseelt und unbeseelt, rational und irrational.

3.3.5  Techno-Animismus als Projektion der Nutzer*innen Nutzer*innen projizieren menschliche Eigenschaften auf Technik, da sie die Komplexität der Technik anders nicht fassen können. Ein derartiges Verhal­ eobachten, ten lässt sich etwa beim ungreifbaren Ubiquitous Computing b wie der Interaktions­designer Mike Kuniavsky bemerkt: „I propose that when we have no other way to explain how things work, we will see the world as animist – maybe not in the religious sense, but as a way of explaining how the Kompensationsstrategie: world works.“248 Techno-Animismus ist dann eine ­ Wir werden zu Animist*innen, um mit einer schwer verständlichen Welt um­ gehen zu können. Ähnlich argumentiert Kneer, der das Phänomen aller­dings bewusst nicht in die Nähe des Begriffs Animismus rückt, sondern es als „Intentionale Einstellung“ bezeichnet.249 Unter Animismus versteht Kneer offenbar analog zum Alten Animismus den Glauben an eine Seele der Dinge. Er grenzt intentionale Systeme von diesem Animismus ab: „Intentionale Systeme verfügen über

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keine Seele, sie besitzen keine immaterielle Substanz, vielmehr unterliegen sie vollständig den Zwängen und Gesetzen der Physik.“250 Für den naturalistisch argumentierenden Philosophen Daniel Dennett ist Intentionalität eine Betrachtungsweise, die man durchaus gewinnbringend auf Dinge, die tatsächlich keine Intentionen hätten, übertragen könne.251 Kneer greift diese Argumentation für die Designwissenschaften auf. Um die neue gestalterische Herausforderung beim Design komplexer Technik begrifflich zum Ausdruck zu bringen, verändert Kneer den Leitsatz „form follows function“ in „form follows intention“.252 Designer*innen müssten die falschen Projektionen der Nutzenden in den Gestaltungsprozess einbeziehen. Den gleichen Schluss zieht Kuniavsky: An animist outlook – one where people project behaviors, expectations and intentions onto objects and environments that may have nothing to do with how they actually function – may well be a major sea change in the way that designers have to design.253

Hier knüpft der 2013 von Philip van Allen und Joshua McVeigh-Schultz veröffentlichte Aufsatz über ihr Designforschungsprojekt AniThings an. Auch für die beiden Interaktionsdesigner ist Animismus eine Metapher oder – inspiriert von Laurels Aufsatz Designed Animism – eine sinnvolle Projektion (Animistic Mental Model), die sich gestalterisch beeinflussen lässt. „Using animism as a metaphor, designers can create simple yet powerful mental models that people can use for their digital devices, environments and systems.“254 Van Allen und McVeigh-Schultz grenzen den Animismus vom Anthropomorphismus ab. Sie meinen mit Anthropomorphismus, so scheint es, die formale Vermenschlichung von Dingen und mit Animismus die von den Dingen ausgelöste Projektion menschlicher Eigenschaften auf die Dinge. „Side stepping the gravitational pull of anthropomorphism, we instead advocate here for the notion of animism as a more appropriate metaphor for interactive systems that invite users to imagine an inner-life of objects.“255 Das Projekt AniThings besteht aus fünf Artefakten, die zwar nicht in ihrer formalen Gestalt vermenschlicht, allerdings durch zugewiesene Eigenschaften gestalterisch personifiziert wurden. Die prototypischen Artefakte tragen Namen wie The Needy oder The Nerd. Sie sind als Werkzeuge, oder besser: als Partner*innen oder Unterstützer*innen für Designer*innen und deren gestalterischen Kreationsprozess gedacht und interagieren mit ihnen menschenähnlich. „Note that the physical shapes of the AniThings are meant to be abstract rather than literally animistic, and definitely not anthropomorphic. The animistic design was focused primarily on the device behavior rather than their physical appearance.“256 Was genau mit „literally animistic“ gemeint sein könnte, bleibt unklar.257 Die Grenzen zwischen Anthropomorphismus und Animismus bleiben trotz des Differenzierungsbestrebens fließend. Kuniavsky, Kneer, van Allen und McVeigh-Schulz befürworten bei komplexen Systemen eine Gestaltung, die Nutzer*innen dazu veranlasst, Artefakte oder Systeme zu beseelen oder ihnen eine Intention zuzuschreiben. Animismus wird wie

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im Alten Animismus als irrationale Projektion verstanden, die allerdings im Zusammenhang mit Technik hilfreich ist. Beispielsweise sei es einfacher, mit einem digitalen Assistenzsystem zu interagieren, wenn man diesem System Intentionen zuschreibt. Techno-Animismus ist in diesem Fall also eine Strategie, die pragmatisch eine Funktion erfüllt.

3.3.6  Techno-Animismus als Geisteshaltung für Designer*innen Seit etwa 2010 wird der in der Designforschung verwendete Animismusbegriff zunehmend von Theorien des Neuen Animismus und des Neuen Materialismus beeinflusst. Befördert wird diese Entwicklung womöglich durch eine grundsätzliche Annäherung von Anthropologie und Design, die sich in interdisziplinären Konferenzen und Publikationen äußert.258 Van Allen und McVeigh-Schultz greifen in ihrem Aufsatz AniThings terminologisch zwar auf den Alten Animismus zurück, schließlich ist Animismus für sie vor allem eine Metapher259 und sie beziehen sich sogar selbst auf Piaget. Zugleich erwähnen sie Positionen des mit dem Neuen Animismus verwandten Neuen Materialismus und weisen darauf hin, dass nicht nur die Projektion, sondern auch die Interaktion mit Artefakten Animismus kreiere: „[A]nimism is not merely about projection.“260 Animismus steht für sie zudem mit verteilter Wahrnehmung im Zusammenhang.261 Ihre Definition bleibt 2010 noch vage, wird allerdings in anschließenden Publikationen, die in Zusammenarbeit mit Betti Marenko entstehen, expliziter. Marenko, die mit ihrem Hintergrund in Philosophie und Kulturwissenschaften Forschungsleiterin im Industriedesignprogramm am Central Saint Martins in London ist, beleuchtete das Design explizit wechselseitig mit dem Neuen Animismus262 und inspirierte damit zahlreiche weitere Veröffentlichungen und Vorträge im Design.263 In Neo-Animism and Design. A New Paradigm in Object Theory weist sie auf die Notwendigkeit einer Verschränkung von Design und Philosophie in Anbetracht der Mensch-Technik-Verflechtungen hin. „[T]his article makes a plea for a way of engaging design with philosophy, via a reappraisal of animism.“264 Sie verweist auf diverse technische Artefakte, von sprach- bis zu lern- und wahrnehmungsfähigen Dingen, die den Status der Dinge und das menschliche Verhältnis zu ihnen verunsichern. Der technische Fortschritt provoziere eine vormoderne Geisteshaltung.265 Auf der Suche nach einem neuen Paradigma befasst sie sich allerdings nicht mit einem unspezifischen oder alten Animismusbegriff, sondern mit dem Neuen Animismus.266 Der Neue Animismus, der weder den Menschen ins Zentrum stellt, noch Entitäten an sich betrachtet, ermögliche dem Design nicht nur hinsichtlich Technik, sondern darüber hinaus ganz grundsätzlich umzudenken:

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Neo-animism suggests ways to rethink some of the notions that both the theory and practice of design assume are fixed – in particular, design studies’ focus on user-centered design. Neo-animism, in fact, champions the notion that user and object should be located in wide ecosystems of human-thing entanglements.267

Die traditionellen gestalterischen Kategorien wie Funktion, Form, Nutzer*in und Objekt könnten mithilfe des Neuen Animismus neu und flexibler gedacht werden. Marenko schlägt Designer*innen vor, sich mit dem Kontinuum menschlicher und nicht-menschlicher Handlungsmacht zu befassen. Anders als alle anderen in dieser Arbeit diskutierten Positionen zu TechnoAnimismus warnt sie davor, unter Animismus die Vorstellung zu verstehen, Dinge wären mit Seele ausgestattet. Sie lehnt also explizit das Animismusverständnis des Alten Animismus ab. Sie greift außerdem eine Kritik des Neuen am Alten Animismus auf, wenn sie feststellt, dass es sich beim Animismus explizit nicht um falsche Projektionen auf Lebloses handele. Bei Marenko wird eindeutiger, was van Allen und McVeigh-Schulz nur andeuteten: Animismus passiert durch Interaktion. Handlungsmacht entsteht zwischen Entitäten. „Agency is not something that objects have. Rather, agency is something that emerges out of encounters with things.“268 In Marenkos Argumentation nimmt der Neue Materialismus eine zentrale Rolle ein. So argumentiert sie nicht nur mit Bird-Davids, Stratherns und Ingolds ethnologischen Theorien, sondern auch mit den philosophischen Ansätzen von Jane Bennett, Rosi Braidotti und Manuel De Landa. Sie nimmt die Agency des Materials in den Blick und nähert sich dem Begriff Animismus damit auf andere Weise als die Autor*innen der bisher besprochenen Texte über Techno-Animismus. Hierarchien und Dichotomien zwischen Entitäten an sich werden bei Marenko hinfällig. So sei auf Grundlage des mit dem Neuen Materialismus verwandten Neuen Animismus möglich, von der technikpessimistischen Vorstellung einer Machtübernahme durch die Dinge abzusehen. „Neo-animism sidesteps the techno-pathetic fallacy because it articulates objects’ material presence and agency right alongside our affective engagement with them.“269 Ubiquitous Computing ist bei Marenko genau deshalb nicht einfach nur eine Neuauflage des Warenfetischs, da die Agency der Technik erst mit der und durch die Agency des Menschen entstehe. Es gebe keinen vom Menschen unabhängigen Aufstand der Dinge, den man fürchten müsse oder erhoffen könne. Ein 2016 gemeinsam von Marenko und van Allen veröffentlichter Aufsatz stellt Animistic Design als eine „uncertainty-driven strategy“ vor.270 Ein weiteres Mal wenden sich beide gegen die Verknüpfung von Animismus mit anthropomorpher Gestaltung. Zwar meinen sie mit Animistic Design eine Gestaltung, die Emotionen und Irrationalität hervorruft, jedoch nicht mit dem Ziel, durch verspielt-niedliches Design zu manipulieren oder eine Mensch-Mensch-Beziehung zu simulieren, sondern um das Ungewisse, Unvorhersehbare und Nicht-Lineare zu provozieren. Sie begründen dieses Ziel damit, dass in einer Ubiquitous-Computing-Welt alles (vor

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allem die Nutzer*innen) immer berechenbarer würden und dabei Störungen und Unsicherheiten – beides für den Kreativitätsprozess unentbehrlich – verloren gingen. Das Animistic Design von van Allen und Marenko zielt zwar auf handlungsfähige Dinge, allerdings nicht auf solche, die mit ihrer menschenähnlichen Smartness Zukunft antizipieren, sondern auf jene, die stören und irritieren. „[T]he more agency objects manifest, the less predictable they eventually will become.“271 In ihren Experimenten zu Animistic Design, mit denen sie einen ResearchThrough-Making-Ansatz (Forschung durch Design) verfolgen, wird Interaktion zwischen Mensch und Technik als offenes und kreatives Unterfangen untersucht. Human-Centered-Design sei kein produktiver Gestaltungsansatz mehr, denn lösungsorientiertes Design, das Nutzer*innen in den Mittelpunkt stellt, sei angesichts des IoT überholt. In einem Kontinuum oder Geflecht von Menschen und Nicht-Menschen stehe gar nichts im Zentrum; es gebe kein Zentrum. Van Allen und ­Marenko plädieren für ein Post-User-Design.272 Animistic Design befasse sich weder mit dem Menschen, noch mit dem Objekt, noch mit Lösungen für Probleme, sondern mit der Gestaltung von Ökosystemen, die Offenheit zulassen.273 Van Allen und Marenko schlagen vor, Technik nicht als hierarchisch überoder unterlegen zu betrachten, sondern als ebenbürtig und partnerschaftlich. Im User-Centered Design hingegen werde Technik rein als Werkzeug verstanden.274 Unberechenbarkeit sei das Schlüsselkonzept für Animistic Design und nicht etwas, das wie im User-Centered Design und Interaction Design üblich ausgeräumt werden sollte. Folglich befassen sich van Allen und Marenko damit, wie die Interaktion mit unberechenbaren technischen Partnern kreative Prozesse anfachen oder verstärken kann, und untersuchen ein weiteres Mal das Designprojekt AniThings275 und zudem das verwandte Projekt Little Data Wrangler. Sie beobachten die Interaktion zwischen Designer*innen und ihren intelligenten Geräteprototypen. Die Prototypen verkörpern Persönlichkeiten, kooperieren miteinander, sind streitlustig und diskutieren untereinander und mit den Designer*innen. Sie haben einen Standpunkt, eine Art Meinung und eigene Ziele, mit denen sie provozieren.276 Van Allen und Marenko stellen fest, dass ihre smarten Dinge insofern hilfreich für den Kreativitätsprozess sind, als sie eine Vielfalt an Perspektiven repräsentieren und außerdem Positionen physisch erlebbar machen. Designer*innen könnten in diesem Team technischer Artefakte interagieren und intervenieren, indem sie die Dinge physisch in Relationen stellten. Es finde also eine Art „re-embodiment of the digital“277 statt und es werde möglich, die persönlichen Anteile, eigenes Wissen und Intelligenz in die Umgebung auszulagern, im Sinne einer verteilten Kognition (distributed cognition).278 Komplexität und Ambiguität lassen sich so leichter handhaben. Dieser Umgang mit Prototypen erinnert an das im Design typische Arbeiten mit Mindmaps, doch funktioniert van Allens und Marekos Konzept interaktiv. Die unterschiedlichen animierten Artefakte kommunizieren mit den Designer*innen und untereinander. Während die Projekte AniThings und Little Data Wranglers für

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Designer*innen und deren Forschungsvorhaben entwickelt wurden, sind van A ­ llen und Marenko sicher, dass sich diese Art der kreativitätsförderlichen Mensch-Technik-Interaktion auch in andere Nutzungskontexte sinnvoll übertragen ließe. Techno-Animismus wird bei van Allen und Marenko also als dezentral ausgerichtete Geisteshaltung verstanden, die durch Technik ausgelöst wird und die sich unter anderem Designer*innen zunutze machen können.

3.3.7  Techno-Animismus als techno-magische, techno-anthropozentrische und techno-fetischistische Phänomene Nachdem die diversen Definitionen von Techno-Animismus dargestellt wurden, soll im Folgenden untersucht werden, wie diese vor dem Hintergrund des Alten und des Neuen Animismus verstanden werden können. Denn aus der anthropologischen Perspektive des Neuen Animismus ist fraglich, ob die verhandelten Phänomene überhaupt als Animismus bezeichnet werden können. Die Phänomene und die entsprechenden Argumentationen lassen sich übergreifend in vier Kategorien unterteilen: Techno-Animismus wird als Verbundenheitsgefühl besprochen, etwa bei ­Laurel oder Rose. Animismus gilt hier als Geisteshaltung, die den Menschen mit ­seiner Umwelt in Einklang bringt und Technik wird als Möglichkeit begriffen, diesen Prozess zu unterstützen. Techno-Animismus ist aus dieser Perspektive also Befriedung, Ganzheit und Zusammengehörigkeit durch Technikerlebnisse. Beispielhaft werden für die Argumentation technische Phänomene wie Ubiquitous Computing herangezogen, die in Kapitel 2.1 dieser Arbeit als „Miniaturisierte und unauffällige Dinge“, als „Natürlich steuerbare Dinge“ oder als „Vernetzte und adressierbare Dinge“ beschrieben werden – Dinge also, mit denen Nutzer*innen in der Interaktion Verschmelzung empfinden oder Dinge, die wenig Widerstand leisten und automatisch, wie von Zauberhand, Wünsche der Nutzer*innen erfüllen. Das unter dieser Definition von Techno-Animismus erörterte, durch Technik ausgelöste neue Ganzheitsempfinden zwischen Subjekt und Objekt erinnert an das frühkindliche Magische Denken, das Freud und Piaget definierten. So plädiert beispielsweise Rose mit seinen Enchanted Objects für Dinge, die die Wünsche ihrer Nutzer*innen widerstandslos befolgen – und damit im Freud’schen Sinne die „Allmacht der Gedanken“ real werden lassen – oder gar auf geheimnisvolle Weise die Bedürfnisse der Nutzer*innen vorwegnehmen. Ein derartiges Verständnis von Techno-Animismus hat mehr mit dem Alten Animismus gemein als mit dem Neuen Animismus, insbesondere mit der glorifizierten Variante. Nur Laurels Konzept des Designed Animism weist eine Ähnlichkeit mit dem Neuen Animismus auf, und zwar mit den Animismustheorien von B ­ ird-­David und Ingold. Denn Laurel identifiziert im Verbinden Erkenntnismöglich­keiten.

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­ aurel bezieht sich allerdings nicht auf den Neuen Animismus und sie versteht AniL mismus nicht als Praxis („Dividuieren“), die eingesetzt werden kann, sondern als etwas, das von bestimmter Technik ausgelöst wird. Das kritische, selbstreflexive Potenzial, das animistische Praktiken eröffnen, wurde bei keiner dieser Perspektiven auf Techno-Animismus besprochen. Verbinden passiert nicht bewusst und temporär mit dem Ziel, Erkenntnis über Zusammenhänge zu gewinnen, sondern ermöglicht Nutzer*innen quasi-übersinnliche Fähigkeiten. Es werden, ähnlich wie beim Alten Animismus, Zustände beschrieben, in denen sich die Grenzen zwischen Mensch und Umwelt auflösen oder unbewusst werden. Es lässt sich festhalten, dass hier aus gestalterischer Perspektive ein Animismus als irrationales Erlebnis diskutiert wird, bei dem das Verbundenheitsgefühl zwischen Mensch und Technik oder zwischen Mensch und Umwelt durch Technik im Vordergrund steht. Animismus wird positiv gewertet; das Verbundenheitsgefühl durch Technik verzaubere oder harmonisiere den Menschen auf neue Weise mit seiner Umwelt. Dieses Animismusverständnis weicht von jenem vorliegender Arbeit ab, das auf dem Neuen Animismus basiert und Animismus als Praxis zum Verhandeln von Grenzen versteht. Verbundenheitsphänomene, die Laurel oder Rose beschreiben, sind demnach nicht techno-animistisch. Sie lassen sich treffender als „techno-magisch“ bezeichnen. Techno-Animismus wird außerdem als ein ästhetisches Phänomen beschrieben, das in Japan akzeptiert, in der westlichen Welt jedoch skeptisch betrachtet oder sogar scharf kritisiert wird. Animismus wird in dieser zweiten Kategorie als gestalterische Strategie im Produkt und Interface Design verstanden und mit der Anthropomorphisierung oder Quasi-Verlebendigung der Ware gleichgesetzt, etwa von Allison, Diederichsen oder Kaerlein. Thematisiert werden Dinge, die vorgeben lebendig zu sein, also etwa humanoide Roboter, die sprechen oder Emotionen äußern – Dinge also, die in dieser Arbeit als „Anthropomorphe und intelligente Dinge“ bezeichnet werden. Dieser Anthropomorphismus lässt sich, wirft man einen Blick auf den Animismus in Kompensationsräumen der Kunst, neu interpretieren. Denn sowohl in der Kunst der Moderne als auch durch Anthropomorphisierung findet eine QuasiVerlebendigung von Dingen statt, für die allerdings jeweils ein Preis gezahlt werden muss. Wagt man in diesem Zusammenhang einen Transfer von der Kunst auf das Design, ist es womöglich anthropomorphen Dingen wie humanoiden Robotern erlaubt, Lebendigkeit zu simulieren, solange sie nicht ihre tatsächliche Agency preisgeben. Dies wäre die Analogie dazu, dass es trotz modernem Selbstverständnis der Kunst erlaubt ist, Grenzen zwischen irrational und rational und lebendig und leblos zu überschreiten, solange sie im neutralen musealen Raum auf Distanz wirkt. Im musealen Raum wird die Agency der Dinge verkannt, da die Dinge objektiviert hinter Vitrinen nicht tatsächlich wirken können. Bei anthropomorpher Technik wird die Agency der Dinge verkannt, da Gestalter*innen die dinghaften Wirkmechanismen in einer menschlichen (oder quasi-lebendigen) Hülle verstecken. Die tatsächliche Wirkmacht – etwa die im Vergleich zum menschlichen

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Gehirn riesige Speicherkapazität einer robotischen Festplatte – bleibt durch Vermenschlichung im Verborgenen. Die modernen kategorialen Grenzen zwischen Subjekt und Objekt werden, wie zuvor mit Franke bzgl. des Museums festgestellt, trotz scheinbarer Auflösung letztlich manifestiert. Was für die autonome Kunst das Museum ist – nämlich ein Ort, an dem die Objektivierung und Rationalisierung der Moderne kompensiert wird –, scheint im Zusammenhang der Produktgestaltung die anthropomorphisierte Ware zu sein. Sie kann als eine offengelegte Täuschung verstanden werden. Folgt man dieser Logik, dann verharmlost die offensichtliche, ästhetische Verwandlung von Dingen in Quasi-Lebewesen die tatsächliche, nicht-menschenähnliche Agency der technischen Dinge und bestätigt damit die Autonomie und Rationalität des Subjekts und die eigentliche Passivität des Dings.279 Der Anthropomorphismus verdeutlicht entsprechend: Der vermenschlichte Roboter ist weniger/passiver als ein Mensch. Auch wenn er den Menschen imitiert, wird er nie dessen Agency vollends erreichen. Seine menschliche Verkleidung zeigt schließlich deutlich, dass er simuliert und tatsächlich nur ein Ding ist. Die alte Hierarchie in der Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt scheint damit bestätigt. Womöglich kompensieren Gegenstände wie der humanoide Roboter, ähnlich wie das Museum, die zum Standard gewordene Rationalisierung und Objektivierung der Umwelt. Der Anthropomorphismus verhindert dann, dass die dinghafte Agency wirkmächtig wird oder als wirkmächtig wahrgenommen wird – also beispielsweise, dass die andersals-menschlichen Speicherkapazitäten des Roboters etwas mit ihrer Umwelt und damit auch mit dem Menschen tun können – sowohl Positives als auch Negatives. Für die Autor*innen, die anthropomorphe Dinge wie den humanoiden Roboter mit dem Animismus in Verbindung bringen, ist Techno-Animismus eine Täuschung. Er nimmt sowohl dem Ding die eigene Wirkmacht und Widerständigkeit als auch dem Menschen seine Freiheit. Ein wesentliches Thema ist in diesem Zusammenahng, wie aus Anthropomorphismus ein problematischer Fetischismus resultiert, der die eigentliche Agency der Dinge verkennt. Aus der Perspektive des Neuen Animismus ist hingegen die Agency der Dinge selbst relevant. Daraus folgt, dass – obwohl die Begriffe Animismus und Techno-Animismus fallen – die Entdinglichung der Dinge und die Verdinglichung der Menschen durch Technik treffender mit „Techno-Fetischismus“ benannt wären. Techno-Animismus wird in einer weiteren Deutung als mentale Projektion aufgefasst, denn Menschen interpretieren technische Artefakte oftmals als Lebewesen – sogar solche, die nicht vorab gestalterisch anthropomorphisiert wurden. Beseelt würden insbesondere Dinge, die menschenähnlich funktionierten, aber auch solche, die sehr komplex und nicht direkt verständlich agierten – also „Miniaturisierte und unauffällige Dinge“ ebenso wie „Vernetzte und adressierbare Dinge“. Animismus ist hier eine irrationale Projektion, ein Irrtum, und wird somit ähnlich bewertet wie in den alten Animimsmustheorien. Die Projektion in der Interaktion mit komplexer Technik wird allerdings als sinnvolle ­Kompensationsstrategie

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der Nutzer*innen gedeutet, die sich Designer*innen zunutze machen könnten. So könnten Menschen etwa reibungsloser mit einem Computer interagieren, wenn sie davon ausgehen, dass der Computer wie ein Mensch denkt. Genau wie im Alten Animismus gilt hier die Vorstellung, dass das Eigene auf das Andere projiziert wird (Introjektion). An dieser Stelle ist eine Differenzierung zwischen Anthropomorphismus und Anthropozentrismus hilfreich für das Verständnis. Schon Piaget differenziert, wenn er feststellt, dass Kinder Dingen zwar Bewusstsein, aber nicht unbedingt menschliches Bewusstsein zuschreiben. Im Neuen Animismus wird die Unterscheidung konkreter. Viveiros de Castro beobachtet, dass im Animismus nicht der Mensch als das Besondere begriffen und nicht das Eigene auf alles andere projiziert werde – was anthropozentrisch wäre –, sondern dass grundsätzlich davon ausgegangen werde, dass alle Wesen eine verwandte Basis teilen. Im Neuen Animismus ist Anthropomorphismus keine beliebige Projektion menschlicher Eigenschaften auf andere Wesen, weder durch ästhetisch formale Gestaltung noch durch Vorstellungskraft. Aus Perspektive des Neuen Animismus existiert kein Menschlich-an-sich, das sich übertragen ließe. Hingegen wird davon ausgegangen, dass sowohl für Menschen als auch für Nicht-Menschen die gleiche soziale Basis besteht. Das Andere kann gleichermaßen als ein Subjekt verstanden werden, als ein Wesen, das sich durch ein Bewusstsein auszeichnet. Dieses Bewusstsein muss allerdings nicht dem eigenen gleichen, es muss nicht menschlich oder menschenähnlich sein – das wäre anthropozentrisch –, aber es wird grundsätzlich als mit dem Menschen verwandt begriffen. Während Techno-Animismus in dieser dritten Kategorie als eine anthropozentrische Projektion verstanden wird, die meist unbewusst passiert, ist Animismus aus Perspektive des Neuen Animismus weder eine anthropozentrische noch eine unbewusste Projektion. Im Weltbild, das die Vertreter*innen des Neuen Animismus beschreiben, existieren keine von der Realität unabhängigen Vorstellungen, die frei auf diese projiziert werden könnten.280 Im Neuen Animismus läuft hingegen jeglicher Anthropomorphismus als Praktik („Subjektivieren“) bewusst ab, auch, um Differenzerfahrungen zu ermöglichen. Die Projektion menschlicher Eigenschaften auf Technik, die beispielsweise von Kuniavsky als Animismus bezeichnet wird, wäre folglich vor dem Hintergrund des Neuen Animismus treffender als „TechnoAnthropozentrismus“ tituliert. Marenko und van Allen leiten Animismus im Design erstmals bewusst nicht mehr wie im Alten Animismus her. Animismus wird nicht als der Glaube an mit Seele ausgestattete Dinge verstanden. Und anders als bei den ersten drei Kategorien ist Techno-Animismus für sie auch keine magische Verbindung mit der technischen Umwelt, kein Fetischismus durch vermenschlichte Technik und keine irrationale, anthropozentristische Projektion. Animismus wird erstmals als nicht-anthropozentrische Geisteshaltung für das Design verstanden. Sie stellen diese Geisteshaltung, die sie Animistic Design nennen, dem User-Centered Design entgegen.

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Unterschiedliche Wesen, nicht nur Menschen, werden hier, ähnlich wie in der ANT, als Mitbeteiligte an Prozessen verstanden. Marenko und van Allen erkennen

allerdings nicht nur die Agency technischer Artefakte an, sondern plädieren dafür, den Dingen durch Gestaltung aktiv Agency einzuräumen. Hierarchien zwischen Wesen, also etwa die Rolle einzelner Menschen als Kontrollinstanzen, sollen vermieden werden. Angestrebt wird die Gestaltung von offenen technischen Ökosystemen mit verteilter Wirkmacht. Diese animistische Geisteshaltung soll unter anderem Unberechenbarkeit und damit Kreativitätsprozesse ermöglichen. Zentraler Aspekt der Argumentation ist, dass Animismus im Handeln zwischen Wesen entsteht. Während die anderen in der Literatur und Forschung als Techno-Animismus interpretierten Phänomene sich treffender als „techno-magisch“, „techno-fetischistisch“ und „techno-anthropozentrisch“ bezeichnen lassen, kann Animistic Design tatsächlich als Techno-Animismus im Sinne des Neuen Animismus verstanden werden. Animismus ist hier Praxis – allerdings keine Grenzziehungspraxis. Den Aspekt der Selbstreflexion und Differenzerfahrung durch animistische Praktiken verhandeln Marenko und van Allen nicht.

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3.4  DISTANZ DURCH NÄHE: DAS PARADOXE ANIMISTISCHER PRAKTIKEN Aus Perspektive des Alten Animismus betreiben nur Menschen, die noch nicht rational zu denken und unterscheiden gelernt haben, Animismus. Animismus wird negativ gewertet und dient dem modernen Weltbild zur Abgrenzung. Im animistischen Weltbild fehlen gemäß den alten Animismustheorien klare Grenzen zwischen Subjekt und Objekt sowie die für Erkenntnis und Kritik nötige Distanz zum Gegenstand. Aus Perspektive des Neuen Animismus hingegen praktizieren alle Menschen Animismus, indem sie erstens zwischen unterschiedlichen Entitäten differenzieren und zweitens bestimmte Entitäten als von sich selbst unterschieden wahrnehmen. Die Moderne ist damit nicht konträr zum Animismus zu verstehen, sondern bringt eine spezifische Form des Animismus hervor. Was diesen, wenn man so will, „modernen Animismus“ auszeichnet, ist, dass bei ihm a priori und kategorial zwischen belebten und unbelebten, menschlichen und nicht-menschlichen oder beseelten und unbeseelten Entitäten an sich unterschieden wird, kurz gesagt: zwischen Subjekten und Objekten. Um Unterscheidungen treffen zu können und Wissen zu erlangen, wird in der westlichen Welt die Umwelt objektiviert. Nicht-­moderne Gemeinschaften betreiben andere Arten der Grenzziehung und damit eine andere Form des Animismus, bei der durch andere Praktiken zwischen den Entitäten unterschieden wird. Die neuen Animismustheorien machen deutlich, dass indigene Gemeinschaften keine Subjekt-Objekt-Grenzen übersehen, sondern mit grundsätzlich anderen, differenzierteren Unterschieden zwischen Entitäten leben. So existieren nicht nur Subjekt und Objekt als zwei Kategorien und statische Grenzen zwischen den beiden Kategorien, sondern unzählige Perspektiven und damit viele unterschiedliche flexible Grenzen. Im indigenen Animismus gibt es zwar keine kategorialen Trennungen zwischen Subjekt und Objekt – die Umwelt wird nicht objektiviert –, aber es wird durchaus unterschieden und getrennt. In diesem dritten Kapitel der Arbeit konnten aus den Theorien des Neuen Animismus vier Praktiken zum Verhandeln von Differenz abgeleitet werden, die sich vom Objektivieren unterscheiden. Sie werden in dieser Arbeit als „Dividuieren“, „Subjektivieren“, „Imitieren“ und „Humorisieren“ bezeichnet. Die vier Praktiken sind konkrete Ansatzpunkte für den Umgang mit Differenz, Identität und Selbstreflexivität. Was die Praktiken im Neuen Animismus auszeichnet, ist ihr Spiel zwischen Nähe und Distanz zum Eigenen und zum Anderen. Subjekte sind hier nicht deswegen kritisch oder reflexiv, weil sie Andere von außen betrachten und den Abstand zum Anderen – im Sinne eines Gegenstandes, eines Untersuchungsgegenstandes – möglichst groß halten. Vielmehr sind Subjekte gerade durch ihre Relationen und in ihrer Involviertheit mit Anderen oder Anderem reflexiv, da sie ein Wechselspiel

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zwischen Nähe und Distanz eingehen. In diesen Praktiken wird Distanz durch Nähe möglich – was paradox erscheint. Genau in diesen differenzstiftenden Praktiken liegt das besondere Potenzial, das der Neue Animismus im Vergleich zum Agentiellen Realismus und zur AkteurNetzwerk-Theorie birgt. Zwar sind AR, ANT und Neuer Animismus allesamt nichtanthropozentrische Theorien und daher durchaus miteinander verwandt; alle drei erörtern die Wechselwirkungen zwischen aktiven menschlichen und aktiven nichtmenschlichen Entitäten bzw. das gemeinsame Werden.281 Doch wird darüber hinaus im Neuen Animismus anschaulich, wie sich in einem relationalen Weltbild kritische Distanz praktizieren lässt. Kritische Praxis ist gemäß Neuem Animismus ohne autonome Subjekte und mit der Vorstellung ineinandergreifender Entitäten möglich. Hervorzuheben ist die Bedeutung von Selbstreflexivität im Neuen Animismus. Die identifizierten Praktiken – vor allem die Praktiken „Subjektivieren“, „Imitieren“ und „Humorisieren“ – verdeutlichen, dass menschliche Subjekte immer auch selbst Relationen sind. Sie stehen in einem Bezug zu sich selbst, sie sind Selbstverhältnisse. Denn ein menschliches Subjekt ist deshalb Subjekt, weil es sich zum Objekt machen kann. Insbesondere Willerslev stellt dar, dass Praktiken im Animismus auf das Erlebnis abzielen, beides zugleich zu sein – Subjekt und Objekt bzw. Subjekt und Objekt eines anderen. Aus Perspektive des Neuen Animismus ist reflexive Selbstdistanz entscheidend für das Verhandeln von Differenz und Identität. Die animistischen Praktiken, die Selbstreflexivität ermöglichen und dem praktizierenden menschlichen Subjekt Erkenntnisse über sich selbst erlauben, ergänzen jene Theorien, die mit einem nicht-anthropozentrischen Subjektbegriff operieren (z. B.die medienwissenschaftliche Perspektive auf Kollektive Subjektivität282). Denn mit einer Welt, bestehend aus sowohl menschlichen als auch nicht-menschlichen Subjekten oder Akteuren, muss nicht automatisch ein Verlust von Reflexivität und kritischer Subjektivität einhergehen. Was bei AR und ANT als verloren oder zu abstrakt kritisiert wurde, nämlich ein kritisches Subjekt, das politische und moralische Verantwortung trägt, lässt sich im Neuen Animismus mit einem relationalen, nicht-anthropozentrischen Weltbild vereinen und ist durch die animistischen Praktiken verhandelbar. Dass nicht nur Beziehungen, sondern auch Grenzen und Unterschiede zwischen Entitäten situativ ausgehandelt werden können, macht den Neuen Animismus für kritisches Design relevant. Dies gilt hauptsächlich für Designer*innen, die Mensch-Technik-Interaktion gestalten. Praktiken, die Grenzen zwischen Wesen verdeutlichen und Selbstreflexivität in relationalen Gefügen erlauben, sind gerade vor dem Hintergrund der wachsenden Unsicherheit über Unterschiede zwischen Mensch und Technik und dem damit befürchteten Verlust von Selbstbewusstsein und kritischer Subjektivität vielversprechende Instrumente. Wenn unter technologischer Bedingung tradierte kategoriale Grenzen zwischen Subjekt und Objekt nicht mehr haltbar sind, lohnt es, so die These dieser Arbeit, andere, nicht-moderne Weisen der Grenzziehung in den Blick zu nehmen.

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In vorliegendem Kapitel wurde deutlich, dass Designwissenschaftler*innen zwar bereits den Begriff Animismus verwenden und ihn sogar mit Technikgestaltung in Verbindung bringen (Techno-Animismus). Es zeigte sich allerdings auch, dass dabei selten auf psychologische, ethnologische oder anthropologische Theorien zum Animismus Bezug genommen wird. Der Animismusbegriff bleibt in den Designwissenschaften entsprechend diffus.283 Das Animismusverständnis des A ­ lten Animismus (Animismus als Projektion, Irrtum und Glaube) ist vorherrschend – allerdings meist ohne Verweis auf entsprechende Theorien. Unter der Bezeichnung Techno-Animismus wird beispielsweise diskutiert, inwiefern durch Technik eine beseelende Verbundenheit mit der Welt empfunden werden kann oder ob anthropomorphe Technik die Nutzer*innen täuscht. Es erwies sich als fraglich, ob hier überhaupt von Animismus gesprochen werden sollte. Vielmehr können diese in den Designwissenschaften verhandelten Phänomene eher als „techno-magisch“, „techno-fetischistisch“ oder „techno-anthropozentrisch“ bezeichnet werden. Magie, Fetischismus und Anthropozentrismus sind allerdings, legt man den Animismusbegriff des Neuen Animismus zugrunde, nicht nur anders als der Animismus, sondern ihm gegenüber konträr. Während die Magie und das Magische Denken kein Bewusstsein über die eigenen Grenzen, keine Selbstreflexivität und damit kein Bewusstsein über das Fremde zulassen, ist Animismus im Sinne des Neuen Animismus ohne Bewusstsein über das Eigene und das Fremde nicht denkbar. Während beim Fetisch das Wesen der Dinge beispielsweise durch eine menschenähnliche Hülle verschleiert und verkannt wird, ist aus neu-animistischer Perspektive die dinghafte, nicht-menschliche Agency der Dinge relevant. Und während beim Anthropozentrismus – im Sinne einer anthropozentrischen Projektion – der Mensch allen Dingen egozentrisch etwas Menschenähnliches von oben auferlegt, wird im Animismus davon ausgegangen, dass alle Wesen ohne Hierarchie soziale Wesen sind und die menschliche Perspektive nur eine unter vielen ist. Mit den Begriffen Magie, Fetisch und Anthropozentrismus stehen Begriffe wie Unbewusstes, Verblendung, Verschleierung oder Egozentrik in Zusammenhang. Der Animismus im Sinne des Neuen Animismus funktioniert hingegen bewusst, reflexiv und dezentriert. Bei genauer Betrachtung erweist sich: Durch die Praktiken im Neuen Animismus wird genau das eingesetzt, was im Alten Animismus problematisiert wurde – allerdings bewusst und kontrolliert. Anders gesagt: Im Alten Animismus wurden ähnliche Verhaltensweisen identifiziert, aber als magisches, fetischisierendes oder anthropozentrisches Verhalten interpretiert. Während also im Alten Animismus argumentiert wurde, dass die praktizierte Nähe zu anderen Entitäten im Animismus kritische Distanz und Bewusstsein verunmögliche, wurde im Neuen Animismus deutlich, dass eben diese animistischen Praktiken – bewusst eingesetzt – Distanz, Differenz und Bewusstsein ermöglichen. Dass der Animismus mit Widerständigkeit und Grenzerfahrung im Zusammenhang steht, beobachtete allerdings schon Piaget, dessen Animismusverständ-

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nis dem Alten Animismus zuzuordnen ist. Er erachtet den Animismus als Zwischenschritt innerhalb eines Emanzipationsprozesses vom Zustand des kindlichen Magischen Denkens, in dem keinerlei Fremd- und Selbsterkenntnis möglich ist, hin zum erwachsenen Selbstbewusstsein. Kinder beseelen oder vermenschlichten Unbelebtes laut Piaget erst dann, wenn sie es als andersartig, widerständig oder entgegenstehend erkannt haben. So steht nicht nur im Neuen Animismus, sondern bei genauer Betrachtung auch bei Piaget die Grenzerfahrung im Zusammenhang mit dem Animismus bzw. mit dem Subjektivieren von Unbelebtem. Denn ohne Grenzerfahrung wäre ein Ding nicht als solches wahrnehmbar, es würde vom Kind als magisch mit ihm verschmolzen oder gar nicht wahrgenommen. Ein vergleichbares Verhalten lässt sich (nicht nur bei Kindern) in der Interaktion mit Dingen beobachten, die eigentlich als passive Werkzeuge gelten. Auch hier können Grenzerfahrungen und Widerstandserlebnisse in Subjektivierung von Unbelebtem resultieren. Wenn etwa in Interaktion mit einer analogen Schreibmaschine, einem definitiv nicht smartem Werkzeug, die gemeinsame Handlung zwischen Mensch und Technik die Grenzen unbewusst werden lässt, wenn also etwa beim Tippen eines Textes eine magische Verschmelzung zwischen Nutzer*in und Werkzeug passiert, führt ein technisches Problem oftmals nicht nur dazu, dass das gemeinsame Handeln unterbrochen wird, sondern auch, dass der Person das zuvor mit ihr verbundene Werkzeug als Gegenüber erscheint und sie dieses Gegenüber intuitiv beschimpft. Der magische Moment, der die Grenzen unbewusst werden ließ, wird durch den Widerstand aufgebrochen. Mit Heidegger gesprochen, wird plötzlich das Zeug zum widerständigen Ding. Es wird als Gegenüber ansprechbar. Sowohl bei den von Piaget beobachteten Kindern als auch bei den im Alltag zu beobachtenden Werkzeugnutzer*innen besteht eine Verbindung zwischen der Subjektivierung und der Grenzerfahrung. Subjektivieren folgt hier allerdings im Anschluss auf die Grenzerfahrung – intuitiv und unbewusst. Die animistische Praktik „Subjektivieren“ hingegen wird als Instrument bewusst eingesetzt, um gezielt Grenzerfahrung zu ermöglichen. Mit den Praktiken, die aus den Theorien des Neuen Animismus abgeleitet wurden, wird also bewusst Nähe herstellt, um Distanz zu wahren und Unterschiede wahrzunehmen. Indem die Praktiken nicht a priori zwischen Subjekt und Objekt oder sich selbst und dem Anderen differenzieren, lösen sie Unterscheidungen auf, die aus moderner Perspektive richtig und wichtig sind. Indem sie Nähe zwischen Subjekt und Objekt erzeugen, besteht auf den ersten Blick eine Ähnlichkeit mit dem Magischen Denken, dem Fetischisieren oder dem anthropozentrischen Projizieren. Doch bei den animistischen Praktiken wird bewusst Nähe hergestellt, um eben nicht magisch, fetischisierend oder anthropozentrisch zu sein. Die Praktiken im Animismus sind bewusste und kontrollierende Praktiken. Animismus passiert also nicht einfach einem passiv oder naiv gewordenen Subjekt, das sich selbst nicht mehr kennt. Ganz im Gegenteil: Praktiken im Animismus erzeugen spielerisch, aber bewusst durch einen Wechsel zwischen Nähe und Distanz Erkenntnis

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in Relation zum Anderen und über sich selbst. Bei den Praktiken gelten folgende paradoxe Prinzipien: •





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Wenn Grenzen aufgelöst werden, werden Grenzen sichtbar: Beim „Dividuieren“ findet ein Spiel mit dem Magischen Denken statt, denn es wird temporär eine Verbundenheit zwischen dem Eigenen und dem Fremden hergestellt. Grenzen zwischen Wesen werden aufgelöst, jedoch temporär und bewusst. Wie schon in der Auseinandersetzung mit AR und ANT deutlich wurde: Das bewusste Auflösen von Grenzen hat nicht die gleichen Auswirkungen wie das unbewusste quasimagische Verschmelzen mit Technik in Interaktion. Während das eine Selbstbewusstsein erschwert, erzeugt das andere Bewusstsein über das Eigene und das Andere. Denn erst durch bewusstes Auflösen von Grenzen können neue Grenzen identifiziert werden. Wenn man etwas anspricht, wird es widerständig: Beim „Subjektivieren“ besteht auf den ersten Blick eine Verwandtschaft mit der anthropozentrischen Projektion oder sogar mit dem Fetisch. Man behandelt etwas allerdings nicht deswegen als Subjekt, weil man das Andere fälschlicherweise für einen Menschen hält oder weil man andere Menschen täuschen möchte. Beim „Subjektivieren“ wird etwas als Subjekt angesprochen, um es widerständig zu erleben. Durch „Subjektivieren“ kann die soziale moralische und relationale Seite des Anderen auffällig und in Relation zum Eigenen begriffen werden. Hier wird also das Prinzip umgekehrt, das Piaget bei Kindern entdeckte: Die Beobachtung „Wenn etwas widerständig wird, wird es subjektiviert“ wird zu dem Umkehrschluss „Wenn man etwas subjektiviert, wird es widerständig“. Wenn man sich in Andere verwandelt, erkennt man sich selbst – und die Differenz zum Anderen: Bei der Praktik „Imitieren“ transformieren Imitierende sich teilweise physisch in das Andere. Sie werden dem Anderen also bewusst ähnlicher. Die Ähnlichkeit scheint Grenzen aufzulösen, doch genau durch diese neue Nähe wird Grenzerfahrung möglich. Denn indem die Imitierenden das Andere unvollständig kopieren, sehen sie sich aus zwei Perspektiven. Es entstehen wie bei ­einem Kippbild Momente zwischen zwei Zuständen – zwischen Nähe und gleichzeitiger Distanz zum Anderen. „Imitieren“ ermöglicht Selbstdistanz, um das Selbst aufrechtzuerhalten.



Wenn man über sich und seine Praktiken lacht, kann man ernsthaft praktizieren. Die Praktik „Humorisieren“ erlaubt es, sich selbst zu involvieren, ohne vollständig im Geschehen aufzugehen. Wer mit Humor handelt, kann sich selbst und das eigene Handeln trotz Anteilnahme immer wieder auf Distanz halten. Das Spiel zwischen Annäherung und Distanz im Humor ermöglicht es, animistische Praktiken aufrechtzuhalten. „Humorisieren“ ist also als Metapraktik auch Bedingung für die Praktiken „Dividuieren“, „Subjektivieren“ und „Imitieren“.

Die in dieser Arbeit identifizierten animistischen Praktiken und die ihnen zugrundeliegenden paradoxen Prinzipien wurden bisher weder innerhalb des anthropologischen Diskurses um den Neuen Animismus zusammengetragen und vergleichend diskutiert, noch auf andere Disziplinen übertragen. Entsprechend existiert keine designwissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Praktiken.284 Auch der Neue Animismus selbst fand bisher fast gar keine Berücksichtigung im Design. Die wenigen Designwissenschaftler*innen, die auf den Neuen Animismus Bezug nehmen und Animismus als Praxis verstehen, befassen sich weder mit konkreten Praktiken noch mit dem Potenzial des Animismus, Grenzen relational zu verhandeln, Selbstreflexivität zu ermöglichen und Differenzen zwischen Wesen zu verstehen. Keine der in dieser Arbeit verhandelten kultur- und designwissenschaftlichen Perspektiven auf Techno-Animismus bringt mit dem Begriff Animismus Grenzerfahrung und Widerständigkeit in Verbindung.

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Georg Ernst Stahl verwendete den Begriff Animismus zuvor aus medizinischer Perspektive. Tylor bezieht sich direkt auf Stahl. Vgl. Edward B. Tylor: Die Anfänge der Cultur, Band I. Untersuchungen über die Entwicklung der Mythologie, Philosophie, Religion, Kunst und Sitte, Hildesheim: Olms 2005a (orig. 1871), S. 419. 2 Vgl. ebd.; Edward B. Tylor: Die Anfänge der Cultur, Band II. Untersuchungen über die Entwicklung der ­Mythologie, Philosophie, Religion, Kunst und Sitte, Hildesheim: Olms 2005b (orig. 1871). 3 Neben Tylor ist hier insbesondere James Frazer zu nennen, der 1890 ebenso ein Stufenmodell über die kognitive Entwicklung der Menschheit entwickelte und den Animismus in der niedrigsten Stufe verortet. Vgl. James G. Frazer: The Golden Bough. A Study in Magic and Religion, Oxford: Oxford University Press 2009 (orig. 1890). Auch Sigmund Freud schließt sich in seinem 1913 erschienenem Totem und Tabu an. Der Animismus sei das ursprünglichste Welterklärungskonzept der Menschen. Auf die animistische ­Vorstellung folge die religiöse und letztlich die wissenschaftliche. Vgl. Sigmund Freud: Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker, Frankfurt am Main: Fischer Bücherei 1940 (orig. 1913), S. 88. 4 Vgl. J. Piaget: 2015 (orig. 1926); S. Freud: 1940 (orig. 1913). 5 Vgl. ebd. 6 Vgl. Graham Harvey: Animism. Respecting the Living World, London: Hurst & Co. 2005, xi; Anselm Franke (Hg.): Animism. Volume I, Berlin: Sternberg Press 2010, 12 ff. 7 Tylor betrieb selbst keine Feldforschung und trat nie mit den Gemeinschaften in Kontakt, die er untersuchte. Seine Schlussfolgerungen gründen auf den Beobachtungen anderer Forscher. Vgl. Rane Willerslev: Soul Hunters. Hunting, Animism, and Personhood Among the Siberian Yukaghirs, Berkeley: University of California Press 2007, S. 16. 8 E. B. Tylor: 2005 (orig. 1871)a, S. 471. 9 Die Menschheit in Rassen zu unterteilen war zur Zeit Tylors üblich (Rassentheorie) und erfuhr mit dem Nationalsozialismus eine folgenschwere Radikalisierung. Rassentheorien gelten seit Ende des 20. Jahrhunderts als nicht mehr haltbar. 10 E. B. Tylor: 2005 (orig. 1871)b, S. 184. 11 E. B. Tylor: 2005 (orig. 1871)a, S. 470. 12 Ebd., S. 471. 13 Zur Einordnung Tylors Theorie in den politischen und wissenschaftlichen Kontext seiner Zeit vgl. KarlHeinz Kohl: „Edward Burnett Tylor (1832–1917)“, in: Axel Michaels (Hg.), Klassiker der Religionswissenschaft. Von Friedrich Schleiermacher bis Mircea Eliade, München: C. H. Beck 1997. 14 Vgl. Kapitel 1.1.2 vorliegender Arbeit. 15 S. Freud: 1940 (orig. 1913), S. 95. 16 Ebd., S. 97. 17 Ebd. 18 Vgl. ebd., S. 90. 19 J. Piaget: 2015 (orig. 1926), S. 162. 20 Vgl. ebd., 163 f. 21 Vgl. S. Freud: 1940 (orig. 1913), S. 89–90. 22 Vgl. u. a. ebd., S. 86, 90, 95. 23 Ebd., S. 95. 24 Ebd., S. 98. 25 Anders als Freud geht Piaget nicht von einer einseitigen Projektion des Innenlebens auf das Äußere, ­sondern von Wechselwirkungen aus. „Die biologische Wirklichkeit, das heißt die Assimilation der Umwelt durch den Organismus und die Transformation des Organismus in Funktion der Umwelt, meint einen kontinuierlichen Austausch, der selbstverständlich einen inneren und einen äußeren Pol voraussetzt, die aber beide durch eine Beziehung ständigen Gleichgewichts und gegenseitiger Abhängigkeit miteinander verbunden sind.“ J. Piaget: 2015 (orig. 1926), S. 277. 26 Freud überträgt das Konzept „Allmacht der Gedanken“ auf die vorab identifizierten Entwicklungsphasen der Menschheit. Der Mensch schreibe sich in der animistischen Phase selbst die Allmacht zu, während er in der religiösen Phase die Allmacht auf die Götter übertrage. Diese Götter versuche er allerdings weiterhin durch Magisches Denken zu beeinflussen. Erst in der wissenschaftlichen Phase bekenne er sich zu einer Macht, die den Naturnotwendigkeiten unterworfen sei. Diese Phasen setzt Freud mit den Entwicklungsphasen eines Individuums gleich. Die erste Phase entspreche der des Narzissmus, die zweite Phase der der Bindung an die Eltern und die dritte Phase der, in der der Mensch „auf das Lustprinzip

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verzichtet hat und unter Anpassung an die Realität sein Objekt in der Außenwelt sucht“ S. Freud: 1940 (orig. 1913), S. 102. Freud geht dem Begriff des Unheimlichen zuallererst etymologisch nach. Das Unheimliche ist bei Freud nicht nur etwas, was unvertraut ist (im Sinne von heimlich = vertraut bzw. unheimlich = unvertraut), sondern etwas, das unvertraut und vertraut (im Sinne von heimlich = verborgen bzw. unheimlich = unverborgen/vertraut) zugleich ist. Vgl. S. Freud: 1972 (orig. 1917–1920), S. 235. Das „Unheimliche ist wirklich nichts Neues oder Fremdes, sondern etwas dem Seelenleben von alters her Vertrautes, das ihm durch den Prozeß der Verdrängung entfremdet worden ist. [..] Das Unheimliche ist […] das ehemals Heimische, Altvertraute. Die Vorsilbe ‚un‘ an diesem Worte ist aber die Marke der Verdrängung.“ Ebd., S. 254–259. Ebd., S. 254. Ebd., S. 253. Ebd., S. 253–254. J. Piaget: 2015 (orig. 1926), S. 203. Ebd., S. 206. Bgzl. der Stadien vgl. ebd., S. 208–222. Ebd., S. 256. Ebd., S. 266. Ebd., S. 278. Ebd., S. 280. Ebd., S. 255–256. Ebd., S. 275. So weist etwa Gebhard darauf hin, dass seit den 1980er Jahren in der Entwicklungspsychologie nicht mehr untersucht würde, inwiefern das kindliche Weltbild dem erwachsenen ähnlicher und damit immer „richtiger“ würde. Vgl. U. Gebhard: 2001, 60, 64–65. Heubach kritisiert, dass Piaget den Dingen Eigenschaften an sich zuspricht, die in späten Entwicklungsstufen rational erfasst werden könnten. Er unterstellt Piaget einen „problematischen Objektivismus“. Die Dinge könnten immer nur in ihrem kulturellen Zusammenhang verstanden werden. Nicht die Wirklichkeit als solche, sondern ein Konsens über sie, sei letztlich das, was ein Kind realisiert. „Was sich in diesem Erfassen offenbart ist nicht das ‚objektive‘ Sein der Sache, sondern das gesellschaftliche Sein des Subjekts.“ F. W. Heubach: 1987, S. 68. „Aktivität im Allgemeinen, Bewegung im Allgemeinen, Eigenbewegung im Gegensatz zur erhaltenen Bewegung, das sind die drei Themen, um die das Denken der von uns beobachteten Kinder ständig gekreist ist und die eine fortschreitende Differenzierung in das ursprüngliche Lebens- und Intentionalitätskontinuum einführen.“ J. Piaget: 2015 (orig. 1926), S. 269. Vgl. ebd., S. 278. „Keine einzige positive Erfahrung kann nämlich unseren Geist dazu zwingen einzusehen, dass die Dinge weder für uns noch gegen uns sind und dass in der Natur der Zufall oder die Trägheit regieren. Damit man zu einer solchen objektiven Schau der Dinge kommt, muss der Geist sich entsubjektivieren und seine angeborene Egozentrik überwinden.“ Ebd., S. 266. „Sobald […] irgendeine Aktivität und insbesondere ein Widerstand festzustellen ist, gibt es Bewusstsein.“ Ebd., S. 211. Vgl. W. Nieke: „Dualismus“, in: Joachim Ritter (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 2: D-F, Basel: Schwabe & co 1972, S. 298–299. Nicht nur Bruno Latour und die Vertreter*innen des Neuen Animismus wie Rane Willerslev und Viveiros de Castro verweisen auf den cartesianischen Dualismus, sondern auch Medienwissenschaftler*innen wie Stefan Weber und Philosoph*innen wie Wolfgang Welsch. Laut Weber und Welsch, besteht dualistisches Denken zwar schon seit der Antike, findet aber durch Descartes einen Höhepunkt. Vgl. W. Welsch: 2012; Stefan Weber: Non-dualistische Medientheorie. Eine philosophische Grundlegung, Konstanz: UVK 2005, S. 167; R. Willerslev: 2007, S. 13–15; B. Latour: 2002, S. 10. Vgl. Ansgar Beckermann: Descartes’ metaphysischer Beweis für den Dualismus. Analyse und Kritik, ­Freiburg: K. Alber 1986, S. 24–48. Vgl. W. Welsch: 2012. Ebd., S. 403. Ebd., S. 400. B. Latour: 2002. Vgl. Kapitel 2.4.1 vorliegender Arbeit. Georg Kneer etwa bestreitet einen Dualismus der Moderne. Er wirft Latour eine Verkürzung am Konzept der Moderne vor. Vgl. G. Kneer: 2008.

ANMERKUNGEN 199

52 Anselm Franke: „Kippbilder. Animismus als ästhetisch-politischer Umschlagpunkt“, in: Irene Albers/ Anselm Franke (Hg.), Animismus. Revisionen der Moderne, Zürich: Diaphanes 2012, S. 199–209, hier S. 202. 53 Vgl. A. Franke: 2010, S. 17. 54 Vgl. Lothar Käser: Animismus. Eine Einführung in begriffliche Grundlagen des Welt- und Menschenbildes traditionaler (ethnischer) Gesellschaften für Entwicklungshelfer und kirchliche Mitarbeiter in Übersee, Bad Liebenzell: Liebenzeller Mission 2004, S. 22. Auch Graham Harvey verweist auf die ursprünglich abschätzige Konnotation des Begriffs: „The term clearly began as an expression of a nest of insulting approaches to indigenious peoples and to the earliest putatively religious humans. It was, and sometimes remains, a colonialist slur.“ G. Harvey: 2005, xiii. 55 Vgl. A. Franke: 2012, S. 8. 56 Isabelle Stengers: „Den Animismus zurückgewinnen“, in: Irene Albers/Anselm Franke (Hg.), Animismus. Revisionen der Moderne, Zürich: Diaphanes 2012, S. 111–123, hier S. 111. 57 Ebd., S. 112. 58 Vgl. Anselm Franke: „Jenseits der Wiederkehr des Verdrängten“, in: Anselm Franke/Sabine Folie (Hg.), Animismus. Moderne hinter den Spiegeln, Köln: Walther König 2011, S. 19–36, hier S. 21. 59 Piaget und Freud sprechen allerdings selbst nicht von Anthropozentrismus sondern von Egozentrizität oder Narzißmus. 60 Vgl. hierzu auch die Ausführungen zum Fetisch von Latour in Kapitel 2.4.1 vorliegender Arbeit. 61 Diese Verbindung von Animismus und Widerständigkeit lässt sich auch bei Erwachsenen beobachten. Wenn das Kontinuum mit einem Werkzeug gestört wird, etwa wenn ein Computer Störungen aufweist oder ein Stuhlbein bricht, werden Objekte auch im Erwachsenenalter animiert, indem sie oftmals direkt adressiert und in zweiter Person beschimpft werden – „du blödes Ding“. 62 Vgl. Philippe Descola: „Societies of Nature and the Nature of Society“, in: Adam Kuper (Hg.), Conceptualizing society, London, New York: Routledge 1992, S. 107–126; Philippe Descola: Jenseits von Natur und Kultur, Berlin: Suhrkamp 2011. 63 Zu nennen sind hier u. a. Arbeiten von Nurit Bird-David, Graham Harvey, Tim Ingold, Marilyn Strathern, Eduardo Viveiros de Castro, Rane Willerslev. Vgl. Nurit Bird-David: „‚Animismus‘ revisited. Personenkonzept, Umwelt und relationale Epistemologie“, in: Irene Albers/Anselm Franke (Hg.), Animismus. Revisionen der Moderne, Zürich: Diaphanes 2012, S. 19–47; G. Harvey: 2005; Tim Ingold: The Perception of the Environment. Essays on Livelihood, Dwelling & Skill, London, New York: Routledge 2000; Marilyn Strathern: The Gender of the Gift. Problems with Women and Problems with Society in Melanesia, Berkeley: University of California Press 1988; Eduardo Viveiros de Castro: „Die kosmologischen Pronomina und der indianische Perspektivismus“, in: Schweizerische Amerikanisten-Gesellschaft (1997), S. 99–114; R. Willerslev: 2007. 64 Paul Bouissac war einer der ersten – oder sogar der erste, der den Begriff New Animism verwendete. Vgl. Paul Bouissac: „What is a human? Ecological semiotics and the new animism“, in: Semiotica (1989), S. 497–516. Laut Harvey thematisiere der „New Animism“ die Frage, wie man sich anderen Personen gegenüber verhalten soll – Personen, die nicht unbedingt menschlich sein müssen – und unterscheide sich damit fundamental vom „Old Animism“, der vom Glauben an Geister und von der Vermischung von Leben und Tod handelte. Vgl. G. Harvey: 2005, xi. Auch Franke unterscheidet zwischen Neuer Animismus und Altem Animismus. Vgl. A. Franke (Hg.): 2010, 12 ff. 65 Als biologische Universalie, die sich evolutionär durchsetzte, beschrieb Stewart Guthrie den Animismus. Guthries Erklärung stammt zwar aus dem späten 20. Jahrhundert, lässt sich aber dem Alten Animismus zuordnen. Laut Guthrie ist die Subjektivierung von anderen Lebewesen und Unbelebtem eine Wahrnehmungsstrategie, die bei der Konfrontation mit Ungewissem und Unbekanntem die Überlebenschancen vergrößert. Vgl. Stewart Guthrie: Faces in the Clouds. A New Theory of Religion, New York: Oxford University Press 1993. Die Theorie von Guthrie wird als Nachfolge der tylorischen Tradition verstanden und als unzureichend kritisiert, da sie nicht erkläre, wieso Menschen insbesondere auch bekannte Dinge/Wesen, die ihnen nahestehen, subjektivieren. Vgl. N. Bird-David: 2012, S. 28; Rane Willerslev: „Taking Animism Seriously, but Perhaps Not Too Seriously?“, in: Religion and Society: Advances in Research 4 (2013), S. 41–57, hier S. 44–45. 66 Emile Durkheim entschuldigt Verhaltensweisen indigener Gemeinschaften, denn die beseelten Dinge besäßen tatsächlich Kraft – allerdings nur metaphorisch. Die Kraft ginge tatsächlich vom Sozialen aus und nicht vom Objekt. So verstanden, ist der Animismus eine Projektion von sozialen Kräften auf Materie oder von Kultur auf Natur. Die indigenen Gemeinschaften glauben damit zwar an etwas, was es sogar wirklich gibt, sehen aber nur die Projektion. Animismus ist dann eine Verwechslung. Vgl. Émile

200  ÜBER DEN ­A NIMISMUS 

­ urkheim: Die elementaren Formen des religiösen Lebens, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1994. Für eine D Kritik an Durkheim vgl. R. Willerslev: 2013, S. 46; Antoine Hennion: „‚Dinge, die dauern …‘. Objekte, Vermittlung, Soziologie“, in: Erhard Schüttpelz/Tristan Thielmann (Hg.), Akteur-Medien-Theorie, Bielefeld: transcript 2013, S. 81–105. 67 Eduardo Viveiros de Castro: „Zeno and the Art of Anthropology. Of Lies, Beliefs, Paradoxes, and Other Truths“, in: Common Knowledge 17 (2011), S. 128–145, hier S. 133. 68 Vgl. R. Willerslev: 2013, S. 42; R. Willerslev: 2007, S. 183–184. 69 Vgl. E. Viveiros de Castro: 2011, S. 145. 70 R. Willerslev: 2007, S. 3. 71 Und nie nicht existiere und grundsätzlich nicht nicht existieren könne. Diese Haltung äußert sich auch in Wir sind nie modern gewesen von Latour. Vgl. B. Latour: 2008. 72 A. Franke: 2011, S. 26. 73 So befasst sich etwa Stengers ganz explizit mit dem Begriff und der Geschichte des Animismus, um die Auseinandersetzung für die Wissenschaftsphilosophie fruchtbar zu machen. Vgl. I. Stengers: 2012. 74 Vgl. u. a. M. Strathern: 1988; Elisabeth v. Samsonow: Anti-Elektra. Totemismus und Schizogamie, Zürich: Diaphanes 2007; L. Suchman: 2007; Donna J. Haraway: The Companion Species Manifesto. Dogs, People, and Significant Otherness, Chicago: Prickly Paradigm Press 2003; Donna J. Haraway (Hg.): Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen, Frankfurt am Main, New York: Campus-Verlag 1995. 75 Zu nennen ist hier das mehrteilige Ausstellungsprojekt über Animismus kuratiert von Anselm Franke, das u. a. in Antwerpen (2010), Bern (2010), Wien (2011–2012) und Berlin (2012) gezeigt und von mehreren Publikationen begleitet wurde. Vgl. A. Franke (Hg.): 2010, Anselm Franke/Sabine Folie (Hg.): Animismus. Moderne hinter den Spiegeln, Köln: Walther König 2011, Irene Albers/Anselm Franke (Hg.): Animismus. Revisionen der Moderne, Zürich: Diaphanes 2012. Außerdem ermöglichte Tim Ingold eine direkte Verknüpfung zwischen Neuem Animismus und Kunst, indem er Ergebnisse seiner ethnografischen Feldforschung für die Kunstwissenschaften fruchtbar machte. Vgl. Tim Ingold: Making. Anthropology, Archaeology, Art and Architecture, Oxford: Routledge 2013; Tim Ingold: „Eine Ökologie der Materialien“, in: Susanne Witzgall (Hg.), Macht des Materials – Politik der Materialität, Zürich [u. a.]: Diaphanes 2014, S. 65–73. 76 Ihre Forschung fand in den Jahren 1978–1979, 1989 und 2001 statt. 77 Den Begriff Dividuum entlehnt Bird-David dem Sprachgebrauch der Anthropologin Strathern. Vgl. Kapitel 3.2.5. 78 N. Bird-David: 2012, S. 32. 79 Ebd., S. 32–33. 80 Der Verwandtschaftsbegriff ist grundsätzlich relational und nicht an jemanden oder etwas statisch gebunden. So kann „meine Schwester“ die sein, zu der „meine Nichte“ „meine Mutter“ sagt. Sie ist nicht unabhängig von den Anderen „Schwester“ oder „Mutter“. Vgl. ebd., S. 34. 81 Ebd. 82 Vgl. ebd., S. 37. 83 Ebd., S. 42. 84 Ebd., S. 43. 85 Ebd. 86 Aus anthropozentrischer Perspektive erscheint nur die Interpretation plausibel, dass ein Mensch ein Ding anspricht. Eine Entität spricht, die andere hört. Und so erstaunt nicht, dass der Animismus als Irrund Aberglauben missverstanden wurde. Dabei gilt im Animismus nicht zwingend, dass die Anderen genauso hören wie Menschen. „Sprechen mit“ lässt sich dagegen womöglich als eine Art Hören durch Sprechen verstehen. Nicht der Stein hört dem Menschen zu. Der Mensch hört (erfährt Wissen), indem er mit dem Stein spricht. 87 Ebd. 88 Ebd. 89 Eduardo Viveiros de Castro: „Kommentare“, in: Irene Albers/Anselm Franke (Hg.), Animismus. Revisionen der Moderne, Zürich: Diaphanes 2012a, S. 47–49, hier S. 47. 90 Ebd. 91 Vgl. W. Welsch: 2012, S. 399–403. 92 Vgl. Eduardo Viveiros de Castro: „Perspektiventausch. Die Verwandlung von Objekten zu Subjekten in ­indianischen Ontologien“, in: Irene Albers/Anselm Franke (Hg.), Animismus. Revisionen der Moderne, Zürich: Diaphanes 2012b, S. 73–93, hier S. 74.

ANMERKUNGEN 201

93 Diese naturalistische Ontologie äußert sich auch darin, dass nur der Mensch mittels Geistes- und Sozialwissenschaften untersucht wird, aber alles – inklusive des Menschen – mit den Naturwissenschaften. 94 E. Viveiros de Castro: 1997, S. 107. Dieser Unterschied wird auch in einer Anekdote von Claude LéviStrauss offensichtlich: Als Europäer das erste Mal auf indigene Völker trafen, versuchten sie herauszufinden, ob die Fremden ebenso eine Seele besäßen. Die Indigenen hingegen waren sich sicher, dass die Europäer*innen, wie alle anderen Wesen, beseelt seien. Sie waren sich allerdings nicht klar darüber, ob die Fremden einen ähnlichen Körper hätten und überprüften, ob deren Körper nach dem Tod ebenso verwesten wie sie selbst. Auf diese Anekdote verweist Latour. Vgl. Bruno Latour: „Perspectivism: ‚Type‘ or ‚bomb‘?“, in: Anthropology Today 25 (2009b), S. 1–2. 95 E. Viveiros de Castro: 2012b, S. 75. 96 Bird-David beschäftigt sich mit dem Begriff „devaru“, der ein Wesen als Person markiert z. B. „Berg-devaru“. Vgl. N. Bird-David: 2012, 28 ff. Descola thematisiert den Begriff „aent“ der Achuar. Vgl. P. Descola: 2011, S. 23. 97 Vgl. E. Viveiros de Castro: 1997, S. 105. 98 Welsch unterscheidet ähnlich. Er bezieht sich dabei auf einen Zentrismus, den Xenophanes (ca. 500 v. Chr.) verargumentierte: „Doch wenn die Ochsen und Rosse und Löwen Hände hätten oder malen könnten mit ihren Händen und Werke bilden wie die Menschen, so würden die Rosse rossähnliche, die Ochsen ochsenähnliche Göttergestalten malen und solche Körper bilden, wie jede Art gerade selbst ihre Form hätte.“ Xenophanes nach W. Welsch: 2012, S. 51. Welsch bezeichnet diesen Zentrismus, bei dem jede Spezies die Welt bzw. höhere Wesen mit Grundannahmen der eigenen Spezies belegt, als Speziesismus. Er argumentiert, dass sich der Anthropomorphismus/Speziesismus der Antike grundlegend vom Anthropozentrismus seit der frühen Neuzeit unterscheide, da der eine den Menschen mit anderen Spezies auf eine Ebene stelle – alle Wesen sind speziemorph – und der andere den Menschen als von anderen Wesen grundsätzlich verschieden beschreibe. Vgl. ebd., 51, 91–92. 99 E. Viveiros de Castro: 2012b, S. 76. 100 E. Viveiros de Castro: 1997, S. 106. 101 Vgl. E. Viveiros de Castro: 2012b, S. 81. 102 Ebd., S. 55. 103 Ebd., S. 83. 104 E. Viveiros de Castro: 2012a, S. 80. 105 Vgl. E. Viveiros de Castro: 1997, S. 107. 106 Bird-David beschreibt den Animismus sogar als eine Tendenz, von der sich die Moderne entfremdet habe. N. Bird-David: 2012, S. 46. Viveiros de Castro wirft ihr in diesem Zusammenhang vor, den Animismus zu naturalisieren und zu universalisieren, um im Gegenzug die moderne Epistemologie zu kulturalisieren. Vgl. E. Viveiros de Castro: 2012a, S. 49. 107 Ingold bezieht sich insbesondere auf Heideggers Terminologie des „In-der-Welt-seins“ und die Vorstellung, dass Mensch und Welt untrennbar miteinander verbunden seien. Vgl. T. Ingold: 2000, 168 ff. 108 Ebd., S. 168. 109 Ebd., S. 97–98. 110 Vgl. E. Viveiros de Castro: 2012a, S. 48. 111 Vgl. E. Viveiros de Castro: 1997, S. 108. Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Vorstellung von Bildung in indianischen Kosmologien: „Die indianische Bildung siedelt sich eher im Körper als im Geist an: Es gibt keine ‚geistige‘ Veränderung, die nicht durch eine Verwandlung des Körpers, durch eine Redefinierung seiner Affekte und Fähigkeiten hindurchginge.“ Ebd., S. 109. 112 Ebd., S. 110. 113 E. Viveiros de Castro: 2012a, S. 48. 114 Hier scheint sich Viveiros de Castro auf Theorien zu beziehen, die „Othering“ als einen negativen Prozess der Abgrenzung kritisieren. Differenz wird vielfach als etwas verhandelt, was zur Diskriminierung führt – u. a. zu Sexismus, Rassismus. Zur feministischen Kritik an den modernen Oppositionspaaren vgl. u. a. Judith Butler und Simone de Beauvoir. Für feministische Theorien mit Bezug zum Animismus vgl. u. a. D. J. Haraway (Hg.): 1995; D. J. Haraway: 2003; E. v. Samsonow: 2007; M. Strathern: 1988; L. Suchman: 2007. 115 E. Viveiros de Castro: 2012a, S. 48. 116 Vgl. E. Viveiros de Castro: 1997, S. 108. 117 E. Viveiros de Castro: 2012a, S. 80. 118 Vgl. hierzu auch W. Welsch: 2012. 119 E. Viveiros de Castro: 2012b, S. 91.

202  ÜBER DEN ­A NIMISMUS 

120 Vgl. R. Willerslev: 2007, S. 19–26; R. Willerslev: 2013, S. 48–50. 121 Ingold nach R. Willerslev: 2007, S. 23. 122 Ebd., S. 24. 123 Ebd., S. 24–25. 124 Ebd., S. 23. 125 Ebd., S. 24. 126 Ebd., S. 25. 127 Ebd., S. 188. 128 Anselm Franke/Irene Albers: „Einleitung“, in: Irene Albers/Anselm Franke (Hg.), Animismus. Revisionen der Moderne, Zürich: Diaphanes 2012, S. 7–15, hier S. 10. Da auch Franke den Animismus als Praxis beschreibt, ist das Ziel seiner Ausstellungen mit Animismus, statt über Animismus zu sprechen, d. h. die Grenzen zwischen Subjekt und Objekt oder zwischen belebt und unbelebt sollen aushandelt und nicht nur statisch ausstellt werden. 129 A. Franke: 2012, S. 202. 130 Vgl. den von Latour geprägten Neologismus „Inanimismus“. Gemeint ist die Vorstellung einer passiven, neutralen Objektwelt, die rational und wissenschaftlich erfasst werden kann. Diese Vorstellung sei Teil der modernen Verfassung, die Latour als Fiktion erachtet. Der Inanimismus bestärke das Konzept eines aktiven Subjekts: „Nichts ist anthropozentrischer als der Inanimismus der Natur.“ B. Latour: 2010, S. 280. 131 E. Viveiros de Castro: 2012b, S. 77. 132 Viveiros de Castro und Bird-David gehen nicht darauf ein, dass in der modernen Wissenschaft auch die Subjektperspektive von Bedeutung ist – etwa in postmodernen, idealistischen, konstruktivistischen Ansätzen, in denen teils gilt, dass über die objektive Außenwelt kein Wissen erzielt werden kann, sondern nur über die subjektive Perspektive auf die Welt. Allerdings wird auch hier dem Menschen eine Sonderstellung zugeschrieben. Nur die menschliche Perspektive wird verhandelt. 133 N. Bird-David: 2012, S. 43. 134 Vgl. ebd., S. 30. 135 Ebd., S. 30–31. 136 Ebd., S. 43. 137 Ebd. 138 Ebd., S. 45. 139 Ebd. 140 Ebd. 141 E. Viveiros de Castro: 2012b, S. 78. 142 Vgl. ebd., S. 77. Diese Verknüpfung von Wissen und Animismus erscheint insofern widersprüchlich, als Viveiros de Castro sich, wie zuvor gezeigt, von epistemologischen Perspektiven auf den Animismus distanziert. 143 Ebd. 144 Ebd., S. 78. 145 Ebd., S. 79. 146 Ebd., S. 78. 147 R. Willerslev: 2007, S. 94. 148 „The challenge, it seems to me, is therefore to bring perspectivism ‚down to earth‘.“ Ebd., S. 95. 149 Ebd., S. 94. 150 Mimesis hat eine lange Begriffsgeschichte. Vgl. Christoph Wulf: „Mimesis“, in: Christoph Wulf (Hg.), Vom Menschen. Handbuch historische Anthropologie, Weinheim: Beltz 1997, S. 1015–1029. Die sehr unterschiedlichen Bedeutungen von Mimesis von „nachahmen“ bis „sich ähnlich machen“ oder „zur Darstellung bringen“, machen eine übergreifende Definition kompliziert. „Mimesis ist theoriewiderständig; sie widersetzt sich dem Versuch, sie eindeutig zu machen und verweist auf ihr komplexes Verhältnis zu Imagination, Sprache und Körper.“ Ebd., S. 1016. Um die Praktik als Handlungsoption verständlich zu machen, wird in dieser Arbeit „Mimesis“ mit der Substantivierung des Verbs „imitieren“ bezeichnet. 151 Vgl. R. Willerslev: 2007, S. 27. 152 Michael T. Taussig: Mimesis und Alterität. Eine andere Geschichte der Sinne, Hamburg 1997. Taussig befasst sich mit dem Aufeinandertreffen einander fremder Kulturen. Mimesis sei indigenen Gemeinschaften zur Möglichkeit geworden, sich der Kolonialmacht zu bemächtigen, sie zu beeinflussen oder zu kontrollieren und die eigene Identität im Verhältnis zu stabilisieren. Denn durch eine temporäre, partielle Nachahmung der fremden Kultur löse sich die eigene Identität nicht auf, sondern werde bewusst.

ANMERKUNGEN 203

„Mimesis trickst ständig damit, zwischen dem Selben und dem ganz anderen zu tänzeln. Unmöglich, aber notwendig, in der Tat alltäglich, erfaßt Mimesis beides, Gleichheit wie Differenz, ähnlich und Ander(e)s zu sein. Beständigkeit aus dieser Instabilität zu schaffen ist keine einfache Aufgabe, doch darum geht es bei aller Identitätsbildung. Das Problem bei dieser Tätigkeit, die an Kraft gewinnt, je länger sie geübt wird, ist weniger, das Selbe zu bleiben, als Gleichheit durch Alterität zu bewahren.“ Ebd., S. 134. 153 Vgl. R. Willerslev: 2007, S. 11. 154 Ebd., S. 108. 155 Vgl. Kapitel 1.1.4 in vorliegender Arbeit. 156 Ebd., S. 11. 157 Ebd. 158 Vgl. ebd., S. 97. 159 Ebd., S. 98. 160 Ebd., S. 99. 161 Ebd., S. 108. 162 Vgl. ebd., S. 65–72. 163 Ebd., S. 67. 164 Ebd., S. 26. 165 Dabei sei nicht das Ziel zu täuschen, sondern Mächte zu wecken. Die Tierkleidung ist keine Verkleidung, sondern ein Instrument, so auch Viveiros de Castro: „Es geht weniger darum, dass der Körper eine Kleidung ist, als dass die Kleidung ein Körper ist.“ E. Viveiros de Castro: 1997, S. 110. 166 Vgl. R. Willerslev: 2007, 105 ff. 167 Vgl. Rane Willerslev/Morten A. Pedersen: „Proportional Holism. Joking the Cosmos into the Right Shape in North Asia“, in: Ton Otto/Nils Bubandt (Hg.), Experiments in Holism. Theory and Practice in Contemporary Anthropology, Oxford: Wiley-Blackwell 2010, S. 262–278; R. Willerslev: 2013. 168 Vgl. ebd., S. 50. 169 Vgl. ebd., S. 51 170 R. Willerslev/M. A. Pedersen: 2010, S. 275 171 Es scheint sinnvoller, das Wort Illusion gänzlich zu vermeiden, da es immer auch impliziert, dass eine Realität außerhalb der Illusion existiert. Latour umgeht die Diskrepanz zwischen Illusion und Realität mit dem Neologismus Faitiche – einer Art gemachten Realität. Vgl. Kapitel 2.3.1 in dieser Arbeit. 172 R. Willerslev: 2013, S. 54. 173 So hätten beispielsweise alle gewusst, dass der frühere US Präsident George Bush den Irak nicht mit dem Motiv angriff, ihn zu demokratisieren. Sogar Bush hätte gewusst, dass ihm niemand glaubt. Und alle hätten gewusst, dass er weiß, dass man ihm nicht glaubt. Dennoch wäre die Illusion aufrecht gehalten worden. Willerslev sieht ein ähnliches Prinzip im Animismus wirken: „In this way, animism as ideology is effectively absorbed into the technical cosmological apparatus of getting ritualistic practices right.“ Ebd. 174 Ebd., S. 52. 175 R. Willerslev/M. A. Pedersen: 2010, S. 262. 176 R. Willerslev: 2013, S. 54. 177 Vgl. A. Franke/I. Albers: 2012, S. 13. 178 E. Davis: 1998. 179 Ebd., S. 2. 180 Ebd., S. 4. 181 TechGnosis wurde im Jahr 1998 erstmalig publiziert und im Jahr 2015 neu aufgelegt. 2015 stellt Davis in einem Nachwort die Einflüsse aus den 1990er Jahren auf die Ersterscheinung fest: „Underground currents of electronic music, psychedelia, rap, ufology, cyberculture, paganism, industrial postpunk, performance art, conspiracy theory, fringe science, mock religion, and other more or less conscious reality hacks invaded the spaces of novelty and possibility that emerged in the cracks of the changing media.“ Erik Davis: „Afterword 2.0“, 2015, https://lareviewofbooks.org/article/myth-magic-mysticism-age-information# (letzter Zugriff: 04.10.2020). 182 Gemeint ist der Glaube an die emanzipatorische Kraft von Technik, ein Optimismus, der in den 1990er Jahren im Silicon Valley unter Einfluss der Hippie-Bewegung entstand. Der Begriff Kalifornische Ideologie stammt von den Sozialwissenschaftlern Richard Barbrook und Andy Cameron. Vgl. Richard Barbrook/Andy Cameron: „The Californian Ideology“, http://www. imaginaryfutures.net/2007/04/17/the-­ californian-ideology-2/ (letzter Zugriff: 04.10.2020).

204  ÜBER DEN ­A NIMISMUS 

183 Gleichzeitig spricht sich Davis explizit gegen eine Mythisierung von Technik aus. Er möchte sich dem Mythos vielmehr annähern, um ihn zu entblößen. „I deeply sympathize with these attempts to disenchant technology and to deflate the banal fantasies and pernicious hype that fuel today’s digital economy.“ E. Davis: 1998, S. 4. 184 Ebd., S. 6. 185 Brenda Laurel: „Designed Animism“, in: Thomas Binder/Jonas Löwgren/Lone Malmborg (Hg.), (Re) searching the Digital Bauhaus, London: Springer 2009, S. 252–274, hier S. 252. 186 Ebd., S. 272. 187 „I am simply exercising a particular design tactic, which is to look for the less populated area of the landscape, or what a designer might call the ‚opportunity space‘. I’m hung up on pleasure because it seems a bit underserved in the discourse, because, well, I like it, because pleasure is good for getting people to notice things that they might not otherwise care about and because technology continues to offers [sic!] new capabilities for creating it.“ Ebd., S. 254. 188 Vgl. ebd., S. 273. 189 Ebd., S. 252. 190 Ebd., S. 270. 191 Ebd., S. 262. 192 „Designed animism is a healing system for our disconnect with our planet.“ Ebd., S. 273. 193 Ebd., S. 272. 194 Ebd., S. 269. 195 Ebd., S. 253. 196 „The contrast might be delineated as a closed versus open system design, point versus field, or indeed ‚Central Services‘ versus a rain-forest ecology of relationships.“ Ebd., S. 255. 197 Ebd., S. 272. 198 David Rose: Enchanted Objects. Innovation, Design, and the Future of Technology, New York: Scribner 2015. 199 Rose grenzt Enchanted Objects von der Terminal World ab, mit der er eine von Screens dominierte ­Produktwelt meint, die als störendes Hindernis im Alltag nicht zukunftstauglich sei. 200 Ebd., S. 13. 201 Vgl. Alfred Gell: „The Technology of Enchantment and the Enchantment of Technology“, in: Jeremy ­Coote/Anthony Shelton (Hg.), Anthropology, Art and Aesthetics, Oxford: Oxford University Press 1992, S. 40–63; Alfred Gell: „Technology and Magic“, in: Anthropology Today 4 (1988), S. 6–9. Gell versteht unter Technik allerdings weniger das Artefakt, als vielmehr die Fertigkeiten, durch die Artefakte entstehen – er meint also auch Technik im Sinne von Kulturtechnik. Die Artefakte selbst hätten die Macht zu verzaubern („enchant“, „casting a spell over us“), da sie die technischen Prozesse verkörperten ohne sie verständlich zu machen. Dass das technisch Unverständliche als Zauberei und Magie interpretiert wird, zeigen auch zahlreiche historische Beispiele, etwa hinsichtlich der Geisterfotografie Vgl. Erhard Schüttpelz: „Auf der Schwelle zwischen Animismus und Spiritismus. Der Geisterangriff auf Edward Tylor (London 1872)“, in: Irene Albers/Anselm Franke (Hg.), Animismus. Revisionen der Moderne, Zürich: Diaphanes 2012, S. 152–171. Durch Gewöhnung aber auch durch genaues Hinschauen kann diese Magie entmystifiziert werden. Vgl. Christoph Hubig: Die Kunst des Möglichen III. Grundlinien einer dialektischen Philosophie der Technik, Bielefeld: transcript 2015, S. 25. 202 Vgl. Casper B. Jensen/Anders Blok: „Techno-Animism in Japan. Shinto Cosmograms, Actor-Network Theory, and the Enabling Powers of Non-Human Agencies“, in: Theory, Culture & Society 30 (2013), S. 84–115, hier S. 97. 203 Anne Allison: Millennial Monsters. Japanese Toys and the Global Imagination, Berkeley: University of California Press 2006, S. 13. 204 Vgl. C. B. Jensen/A. Blok: 2013; T. Kaerlein: 2015b, S. 363 ff.; Kathleen Richardson: „Technological ­Animism the Uncanny Personhood of Humanoid Machines“, in: Social Analysis 60 (2016), S. 110–128. 205 Vgl. Robert Geraci: „Spiritual Robots. Religion and Our Scientific View of the Natural World“, in: T ­ echnology & Science 4 (2006), S. 229–246, hier S. 229. 206 So stellt Masahiro Mori fest „robots have the Buddha-nature within them that is, the potential for ­attaining buddhahood“. Mori nach ebd., S. 237. 207 Ähnlich wie im Neuen Animismus dargestellt, liegt keine grundsätzliche Trennung von Körper und Geist vor. Vgl. ebd., S. 239. 208 C. B. Jensen/A. Blok: 2013, S. 106–107.

ANMERKUNGEN 205

209 Laut Jensen und Blok fokussiert Latour nur ein westliches „Wir“ und nur eine westliche Moderne. „[E]ven while insisting that ‚we have never been modern‘ – Latour has never explored how non-western animistic traditions might be indicative of different kinds of non-modern settlements; he has simply pointed to the necessity of carrying out such exploration.“ Ebd., S. 86. Latour beschäftigt sich allerdings explizit mit dem Neuen Animismus, insbesondere mit den Thesen von Viveiros de Castro und Philippe Descola. Vgl. B. Latour: 2009b; B. Latour: 2008, S. 23. 210 C. B. Jensen/A. Blok: 2013, S. 107. 211 Vgl. A. Allison: 2006, S. 13. 212 Allison bezieht sich auf Max Weber, der Anfang des 20. Jahrhunderts darstellte, inwiefern mit dem Aufkommen der Wissenschaften in der Moderne eine Entzauberung der Welt einherging. „Die zunehmende Intellektualisierung und Rationalisierung bedeutet also nicht eine zunehmende allgemeine Kenntnis der Lebensbedingungen, unter denen man steht. Sondern sie bedeutet etwas anderes: das Wissen davon oder den Glauben daran: daß man, wenn man nur wollte, es jederzeit erfahren könnte, daß es also prinzipiell keine geheimnisvollen unberechenbaren Mächte gebe, die da hineinspielen, daß man vielmehr alle Dinge – im Prinzip – durch Berechnen beherrschen könne. Das aber bedeutet: die Entzauberung der Welt. Nicht mehr, wie der Wilde, für den es solche Mächte gab, muss man zu magischen Mitteln greifen, um die Geister zu beherrschen oder zu erbitten. Sondern technische Mittel und Berechnung leisten das. Dies vor allem bedeutet die Intellektualisierung als solche.“ Max Weber: Wissenschaft als Beruf: 1917/1919. Politik als Beruf: 1919. Studienausgabe der Max-Weber-Gesamtausgabe Bd.1/17, Tübingen: Mohr Siebeck 1994, S. 9. 213 Mike Kuniavsky: Smart Things. Ubiquitous Computing User Experience Design, Amsterdam, Boston Massachusetts, Heidelberg: Morgan Kaufmann 2010. 214 D. Rose: 2015, S. 37. Für Rose ist Animismus, auch er meint eigentlich Anthropomorphismus, eine Sackgasse für HCI und nicht zukunftsträchtig. 215 Bei Karl Marx entsteht durch die Arbeitsteilung im Kapitalismus eine Entfremdung von der eigenen Produktion und den mitbeteiligten Produzent*innen. Die lebendige Arbeit verdinglicht sich in der Ware und die Produzierenden selbst werden zur Ware. Beziehungen zwischen Menschen gleichen dann jenen zwischen Objekten. Vgl. Alf Hornborg: Global Ecology and Unequal Exchange. Fetishism in a Zero-Sum World, London, New York: Routledge 2013, 27 ff.; H. Böhme: 2006, 285 ff. 216 Diedrich Diederichsen: „Beseelung, Entdinglichung und die neue Attraktivität des Unbelebten“, in: Irene Albers/Anselm Franke (Hg.), Animismus. Revisionen der Moderne, Zürich: Diaphanes 2012, S. 289–301, hier S. 301. 217 Ebd., S. 290. 218 Vgl. Alf Hornborg: „Animismus, Fetischismus und Objektivismus als Strategien der Welt(v)erkenntnis“, in: Irene Albers/Anselm Franke (Hg.), Animismus. Revisionen der Moderne, Zürich: Diaphanes 2012, S. 55–64, hier S. 62. 219 A. Hornborg: 2013, S. 9–10. 220 Vgl. H. Böhme: 2006, 285 ff. 221 A. Hornborg: 2012, S. 62. 222 T. Kaerlein: 2015b, S. 368. 223 Sascha Lobo: „Wie unser Technik-Aberglauben allen schadet“, 2016, http://www.spiegel.de/netzwelt/ web/magischer-digitalismus-wie-unser-technik-aberglaube-uns-allen-schadet-a-1124836.html (letzter Zugriff: 04.10.2020). 224 Ebd. 225 Vgl. N. Adamowsky: 2015, S. 130–131. 226 S. Freud: 1940 (orig. 1913), S. 102–103. 227 Sabine Folie/Anselm Franke: „Einleitung und Dank“, in: Anselm Franke/Sabine Folie (Hg.), Animismus. Moderne hinter den Spiegeln, Köln: Walther König 2011, S. 9–13, hier S. 10. 228 Vgl. A. Franke: 2011, S. 27–28. 229 Vgl. ebd., S. 20. 230 Vgl. A. Franke: 2012, S. 209. 231 Carolyn Christov-Bakargiev: „Der Tanz war sehr frenetisch, rege, rasselnd, klingend, rollend, verdreht und dauerte eine lange Zeit“, in: Documenta/Museum Fridericianum (Hg.), dOCUMENTA (13). Das Buch der Bücher, Ostfildern: Hatje/Cantz 2012, S. 30–46, hier S. 31. 232 Vgl. Alfred Gell: Art and agency. Towards a new anthropological theory, Oxford: Clarendon Press 1998, S. 17–19. Gell untersucht sowohl moderne westliche Kunst als auch die Kunst indigener Gemein­ schaften.

206  ÜBER DEN ­A NIMISMUS 

233 Vgl. hier außerdem: Hans Belting: Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst, München: Beck 2011; H. Bredekamp: 2010. 234 Mitchell, William J. Thomas: Das Leben der Bilder. Eine Theorie der visuellen Kultur, München: Beck 2008, S. 46. Mitchell erklärt allerdings das Bild nicht tatsächlich zum Subjekt, sondern bezweckt, die Macht des Bildes in einem anderen Licht zu verstehen. Er spricht dem Bild temporär Subjektstatus und schafft so neue Erkenntnisse, was an die animistische Praktik „Subjektivieren“ erinnert. Vgl. Kapitel 3.2.6 in vorliegender Arbeit. 235 Ebd., 22, 46. 236 So besteht nicht nur der Mythos, dass die Fotografie in der Lage sei, die Seele des Abgelichteten zu stehlen, ihr wurde außerdem nachgesagt, Geister abzulichten. Vgl. E. Schüttpelz: 2012. 237 Bzgl. Literatur vgl. Böhmes Auseinandersetzung mit Texten von Franz Kafka oder Herman Melville: H. Böhme: 2006, S. 41–54. Bzgl. Film: Vgl. Oksana Bulgakowa: „Disney als utopischer Träumer“, in: Irene Albers/Anselm Franke (Hg.), Animismus. Revisionen der Moderne, Zürich: Diaphanes 2012, S. 211–213; Sergej Eisenstein: „Disney“, in: Irene Albers/Anselm Franke (Hg.), Animismus. Revisionen der Moderne, Zürich: Diaphanes 2012, S. 215–222. 238 In Der Sandmann verliebt sich der Protagonist Nathanael fälschlicherweise in die mechanische, automatisierte Puppe Olimpia. Hoffmann, E. T. A: Der Sandmann, Stuttgart: Reclam 1991. 239 Mary W. Shelley: Frankenstein oder Der moderne Prometheus, Stuttgart: Reclam 2011. 240 E. T.A Hoffmann ist für Freud der „unerreichte Meister des Unheimlichen in der Dichtung“ S. Freud: 1940 (orig. 1913), S. 246. 241 Ebd., S. 261. 242 S. Freud: 1972 (orig. 1917–1920), S. 264. 243 S. Freud: 1940 (orig. 1913), S. 264. 244 Vgl. A. Franke: 2012, S. 12. 245 Vgl. A. Franke: 2011, S. 28. 246 Ebd., S. 27. 247 Vgl. ebd. 248 Mike Kuniavsky: Animist User Expectations in a Ubicomp World: a Position Paper, San Francisco 2007, http://www.orangecone.com/kuniavsky_CHI2004_lost_in_AmI.pdf, S. 1. (downlaod am 19.04.2017) 249 Dies unter Rückgriff auf Daniel Dennett. Vgl. G. Kneer: 2016. 250 Ebd., S. 147. 251 Vgl. D. C. Dennett: 1971; D. C. Dennett: 1987, S. 13–42 und 2.4.4 in dieser Arbeit. 252 Vgl. G. Kneer: 2016, S. 149. 253 M. Kuniavsky: 2007, S. 2. 254 Philip van Allen/Joshua McVeigh-Schultz: AniThings: Animism and Heterogeneous Multiplicity. Extended Abstracts on Human Factors in Computing Systems – CHI ’13 (2013), S. 2251. 255 Ebd., S. 2248. 256 Ebd., S. 2252. 257 Ohne die Kategorisierung zu definieren, scheinen Philip von Allen und McVeigh-Schultz zwischen „­Animism as a metaphor“, „literally animistic“ und „anthropomorphic“ zu unterscheiden. 258 Vgl. etwa Wendy Gunn/Ton Otto/Rachel C. Smith (Hg.): Design Anthropology. Theory and Practice, London: Bloomsbury Academic 2013. Auch das Research Network for Design Anthropology, das Dialoge zwischen Anthropologie, Ethnologie und Designforschung anstrebt, organisiert seit 2014 Konferenzen und publizierte entsprechend. Vgl. „Research Network Design Antropology“, https://kadk.dk/en/researchnetwork-design-anthropology (letzter Zugriff: 19.04.2017) und Rachel C. Smith/Kasper T. Vangkilde/ Mette G. Kjaersgaard et al. (Hg.): Design Anthropological Futures. Exploring Emergence, Intervention and Formation, London: Bloomsbury Academic 2016. Bzgl. Design und Anthropologie vgl. außerdem: T. Ingold: 2013. 259 „Indeed, it is so easy to fall into these metaphors that we often involuntarily interact with our cars, computers, phones, houses, etc. as if they were alive in some way.“ P. van Allen/J. McVeigh-Schultz: 2013, S. 2249. 260 Ebd., S. 2250. 261 „Animism as a design metaphor also suggests an engagement with the creative capacities of users and a taking seriously, or opening up of, the practices of myth-making about, and through, objects as a modality of distributed cognition.“ Ebd. 262 Schon 2009 befasste sie sich mit dem Neuen Animismus. Die Perspektive des Designs fand hier noch wenig Beachtung. Die letzten Sätze des Aufsatzes weisen allerdings schon auf ihr zukünftiges

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­ orschungsinteresse hin: „Can this neo-animist paradigm change the way we look at design? Can it F change the way we design things?“ Betti Marenko: „Object-Relics and their Effects. For a Neo-Animist Paradigm“, in: Mediation & Information 17 (2009), S. 239–253, hier S. 252. 263 Etwa Christopher Thorndon, der sich nicht nur auf Markeno, sondern auch auf Ingold bezieht, aber Animismus ähnlich wie Laurel als Verbundenheitsgefühl definiert. Vgl. Christopher Thornton: „Not Just ‚Stuff‘. Design, Animism and Materiality“, in: Unmaking Waste Conference Proceedings (2015), S. 297– 307. Vgl. außerdem Xueliang Sean Li et. al., die allerdings Animismus als durch Design ausgelöste Projektion verstehen: Xueliang S. Li/Kaspar Jansen/Marc C. Rozendaal/Catholijn Jonker: „Understanding Autonomy, Animism and Presence as a Design Strategy for Behavior Change“, in: Proceedings of the ACM Conference Companion Publication on Designing Interactive Systems – DIS ’17 (2017), S. 1–6. 264 B. Marenko: 2014, S. 224. 265 Ebd., S. 223. 266 „A neo-animist paradigm, I contend, captures this magic-technology connection and posits animism as an affective, post-cognitive framework that explains how we relate to things.“ Ebd., S. 222. 267 Ebd., S. 223. 268 Ebd., S. 228. 269 Ebd., S. 235. 270 Vgl. Betti Marenko/Philip van Allen: „Animistic Design. How to Reimagine Digital Interaction Between the Human and the Nonhuman“, in: Digital Creativity 27 (2016), S. 52–70. 271 Ebd., S. 54. 272 Vgl. ebd., S. 67. Dieses Plädoyer erinnert an „Universe-Centered-Perspectives“, die schon 2014 im Design diskutiert wurden. In einer Debatte der Mailing-List Discussion of PhD studies and related research in Design vertraten im April 2014 unter anderem Terence Love und Ken Friedman universale Ansätze während Klaus Krippendorff seinen Human-Centered-Design-Ansatz verteidigte „i’d argue that universe-centered design is what human centered design has to overcome. the universe does not talk, people do. the universe has no desire, people have. the universe is not creative, people are.“ (Krippendorf 14.04.2014). 273 Hier erinnert Animistic Design an das von Witzgall vorgestellte Relationale Design. Vgl. 2.4.2 in dieser ­Arbeit. Sowohl Animistic Design als auch Relationales Design schaffen Grundlagen für anschließende Designentscheidungen. 274 „This is why animistic design proposes a move away from the conventions of user-centered design. ­Instead, by fostering unpredictable interaction among human and nonhuman agents, animistic design creates new narratives of fuzziness and productive serendipity.“ Ebd., S. 58. 275 Vgl. P. van Allen/J. McVeigh-Schultz: 2013. 276 B. Marenko/P. van Allen: 2016, S. 60–61. 277 Ebd., S. 68. 278 Vgl. ebd., S. 61–62. 279 Vgl. in diesem Zusammenhang auch Franke, der das Lebendigwerden von Objekten im Film als Bestätigung der Subjekt-Objekt-Dichotomie beschreibt: „Every coming-alive of the dead – or, in other terms, every re-subjectification of a ‚dead‘ object – however, is a confirmation of the ‚proper‘ boundary that keeps them firmly apart: The Frankensteinian dream does not undo the subject-object dichotomy; r­ ather, it qualifies it.“ A. Franke: 2010, S. 34. 280 Dieser Vorstellung liegt die Trennung zwischen Geist und Materie oder mit Descartes gesprochen­ ­zwischen „res cogitans“ und „res extensa“ zugrunde – eine Vorstellung, die aus Perspektive des Neuen Animismus keine Rolle spielt. 281 Gemein ist ihnen, dass sie sich von kategorialen Subjekt-Objekt-Dichotomien abwenden. Es wird hingegen von relationalen Verflechtungen zwischen Wesen ausgegangen, die sich alle in dieser Relation durch eine Art von Handlungsmacht, Intention, Kultur, Agency oder Bewusstsein auszeichnen können. So ist bespielsweise die auf „Wir-heit“ basierende Praktik „Dividuieren“ verwandt mit Barads Intra-aktion. 282 Vgl. Kapitel 2.2.2 in dieser Arbeit 283 Der Animismus wird mit Begriffen wie Anthropozentrismus, Anthropomorphismus, Magie oder Zauberei vermengt. So heißt es beispielsweise bei Marenko: „Animism, magic, enchantment, and sensuousness are intertwined“ B. Marenko: 2014, S. 223. 284 Im Zusammenhang mit der vorliegenden Arbeit wurden allerdings vorab Aufsätze und Studien zur Praktik „Imitieren“ bzw. zu Techno-Mimesis veröffentlicht. Vgl. Judith Dörrenbächer: „Design zwischen Anthropomorphismus und Animismus. Mimesis als relationale Designpraxis“, in: Judith Dörrenbächer/ Kerstin Plüm (Hg.), Beseelte Dinge. Design aus Perspektive des Animismus, Bielefeld: transcript 2016,

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S. 71–95; Judith Dörrenbächer/Ludwig Zeller: „Wicked Games. Insights through Mimesis in Narrative Experiments“, in: Jessica Homberg-Schramm/Anna Rasokat/Felicitas Schweiker (Hg.), Narratives at the Beginning of the 3rd Millennium, Cambridge: Cambridge Scholars Publishing 2016, S. 21–38; Judith Dörrenbächer/Diana Löffler/Marc Hassenzahl: „Becoming a Robot. Overcoming Anthropomorphism with Techno-Mimesis“, in: Proceedings of the Conference on Human Factors in Computing Systems – CHI’20 (2020).

ANMERKUNGEN 209

4 Animistische Praktiken im Design

In der Designwissenschaft – im Sinne von Forschung über Design – fand, wie zuvor deutlich wurde, ein Brückenschlag zu den animistischen Praktiken bisher nicht statt. In der Designpraxis – im Sinne von Forschung durch Design1 – lassen sich jedoch Projekte identifizieren, deren Herangehensweisen an die animistischen Praktiken erinnern. Im folgenden Kapitel werden ausgewählte Forschungsprojekte vorgestellt und mithilfe des Neuen Animismus analysiert. Ziel der Auseinandersetzung ist zu klären, ob und inwiefern die Praktiken „Dividuieren“, „Subjektivieren“, „Imitieren“ und „Humorisieren“ nicht nur aus anthropologischer Perspektive, sondern auch für das Design dazu geeignet sind, Grenzen auszuhandeln, Erkenntnisse über Dinge zu erlangen sowie Selbstreflexivität zu provozieren und damit eine neue Form von kritischer Subjektivität zu ermöglichen. Lässt sich aus dem Neuen Animismus ein kritisches Design ableiten und inwiefern wäre dieses kritische Design anders als jenes, das im ersten Kapitel dieser Arbeit identifiziert wurde? In allen ausgewählten Projekten wird eine gestalterische Fragestellung verfolgt. Der professionelle Hintergrund der Projektinitiator*innen ist jedoch unterschiedlich,2 ebenso wie ihre Ausdrucks- und Dokumentationsweisen3 und die Quellen, die zur Beschreibung und Analyse herangezogen werden konnten.4 Um bei dieser Vielfalt an Formaten Vergleichbarkeit zu erzielen, wurde die Analyse der Projekte jeweils auf die gleiche Weise strukturiert. Nachfolgend wird bei jedem Projekt zuerst das konkrete Vorgehen dargestellt: Was ist passiert? Im Anschluss wird der Hintergrund des*der Forschenden und des Projekts thematisiert: In welchen Forschungskontext lässt sich der*die Forschende einordnen, existieren Vorarbeiten und was war das jeweilige Erkenntnisinteresse? Anschließend werden die Erkenntnisse der Forschenden aus deren Perspektive zusammengefasst: Was haben sie selbst aus den Projekten gelernt? Und zuletzt wird ein Bezug zur Arbeit hergestellt, d. h. es werden eigene Analysen vor dem Hintergrund des Neuen Materialismus und des Neuen Animismus vorgenommen: Inwiefern wird bei den Projekten tatsächlich eine der identifizierten animistischen Praktiken ausgeübt? Nach der Projektanalyse und für jede der Praktiken „Dividuieren im Design“, „Subjektivieren im Design“ und „Imitieren im Design“ wurde ein Zwischenfazit verfasst, bei dem teils auch weitere Projekte, die nicht für die detaillierte Analyse ausgewählt5 wurden, eingeordnet werden. Die Praktik „Humorisieren“ wurde als Metapraktik gesondert behandelt. Unter „Humorisieren im Design“ wird der Frage nachgegangen, inwiefern bei den analysierten Projekten Humor zum Einsatz kam und welche Rolle Humor grundsätzlich bei den animistischen Praktiken im Design spielt.

212  ANIMISTISCHE PRAKTIKEN IM DESIGN 

4.1  DIVIDUIEREN IM DESIGN – SICH IN ­RELATION SETZEN 4.1.1  Object Dating Vorgehen – Bei Object Dating6 wurde eine Gruppe aus ungefähr 20 Designforscher*innen und Theaterschaffenden an einen Tisch mit etwa 100 Alltagsobjekten geführt und aufgefordert, sich jeweils ein Objekt auszusuchen, das die eigene Neugier weckt. Die Teilnehmenden waren über den geplanten Verlauf des Experiments nicht informiert. Sie konnten Objekte wählen, deren Funktion unbestimmbar war, z. B. schlauch- und rohrartige Dinge, aber auch Gegenstände mit bekannter Funktion, z. B. Locher, Salatbesteck oder Glasmurmeln. Sie wurden anschließend aufgefordert, die Interaktionsqualität der Dinge zu explorieren. Was löst das Ding aus? Wie bewegt es sich? Wie riecht es und wie hört es sich an? Erweitert oder blockiert es die eigenen Sinneswahrnehmungen? Wird es Teil des eigenen Körpers? Die Teilnehmenden drehten und wendeten die Objekte, warfen sie zu Boden, zerpflückten und zerknitterten sie. Jedes Objekt bot sehr unterschiedliche Interaktionsmöglichkeiten. Im Anschluss wurden sie gebeten ihr Objekt durch den Raum zu führen, um so Kontakt mit anderen Objekten und „deren“ Menschen zu ermöglichen: „Start to date the other objects. Try to pair-up with one and improvise interactions in these pairs. Try to meet as many objects as possible.“7 Die Objekte wurden spazieren geführt. Die Wahrnehmung verschob sich durch die Aktion auf komplexere Gefüge zwischen mehreren Menschen und Dingen. Dabei entstand immer wieder auch der Eindruck, dass eigentlich die Objekte die Teilnehmer*innen führten, denn die Objekte und ihre Interaktionsmöglichkeiten bestimmten vielfach, welcher Kontakt sich als spannend erwies und welcher nicht. So hatte ein Papierband die Möglichkeit, sich um beinahe jedes andere beliebige Objekt zu wickeln und so in Kontakt zu treten, während ein Locher in seinen Kontaktmöglichkeiten deutlich eingeschränkter blieb. Die Teilnehmenden wurden nach der ersten Kontaktaufnahme aufgefordert, stimmige Paare oder Gruppen zu bilden und gemeinsam mit ihren Objekten ein Interaktionsgefüge zu kreieren. Während des gesamten Prozesses wurde kaum gesprochen. Dennoch fanden sich nach und nach Gruppen zusammen. Ohne Absprache und auf emergente Weise reagierten die Objekt-Mensch-Konstellationen. Immer wenn eine neues Objekt-Mensch-Duo ins Spiel kam, entstand ein neues Gefüge mit neuem Sinn. So konnten sich anfangs Locher und Salatbesteck Murmeln hin und her spielen, wurden aber durch Eintritt eines Papierbands plötzlich zu einer komplexeren Murmelbahn. Der Locher verlor so jedoch seine erste Funktion und wurde zunächst unbedeutender, bis er zum Transportgerät der Murmeln umfunktioniert wurde. Hintergrund – Die Methode Object Dating wurde 2016 innerhalb eines Workshops während der Internationalen Summer School Theatre in Design8 an der

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Abb. 11: Teilnehmende bei Object Dating in ­Dialog mit Dingen

­ niversity of Southern Denmark (SDU) erprobt. Angeleitet wurde Object Dating von U der Designforscherin Merja Ryöppy. An der Summer School nahmen insgesamt 70 Design-forschende, Schauspieler*innen, Designer*innen und PhD-Studierende teil. Die SDU legt in ihrer Designforschung einen besonderen Fokus auf Theatermethoden, so besteht an der Universität beispielsweise ein Theatre Lab.9 Die Methode Object Dating wurde vom sogenannten Object Theatre abgeleitet, das wiederum als eine Spielart des postdramatischen Theaters gilt. Postdramatisches Theater ist eine Theaterform, bei der nicht geschriebener Text die Grundlage für ein Spiel darstellt. Ausgangspunkt kann dagegen Musik, ein Erlebnis, ein Ort, ein Bild, ein Geruch, ein Geräusch oder – wie in vorliegendem Fall – ein Objekt sein. Bei Object Theatre ist das Objekt keine Requisite, die etwas repräsentiert oder als etwas anderes genutzt wird – etwa ein Schuh als Telefon oder ein Stück Stoff als Umhang. Das Objekt wird hingegen auf der Bühne selbst zum Akteur. Object Dating ist verwandt mit der ebenfalls am Theatre Lab entwickelten Methode Object Puppetry.10 Erkenntnisse – Object Dating offenbart laut Merja Ryöppy, Salu Ylirisku und Eva Knutz Qualitäten und Möglichkeiten von Dingen, die nicht offensichtlich sind. Die Methode zeige auf, inwiefern sich Objekte widersetzen, Handlungen ermöglichen oder erschweren, und wie Menschen Objekte wahrnehmen, etwa als feindselig, freundlich, zerbrechlich, schützenswert oder nervig. Die Methode offenbare die soziale Bedeutung von Dingen, was Potenzial für das Design eröffne. Ryöppy et al. stellen insbesondere heraus, dass Object Dating die Machtbeziehungen zwischen Menschen und Objekten sichtbar mache. Schließlich sei durch

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­ bject ­Dating deutlich geworden, wie Objekte Gruppenbildung ermöglichen und O erschweren, wann jemand oder etwas Macht über andere erlangt und wann Ausschluss passiert. „Participants animating an object were included in and excluded from groups and they attained both superior (or dominant) and inferior positions in the groups.“11 Die Methode erzeuge einen erkenntnisreichen Perspektivwechsel. „We argue that the shift in perspective that Object Theatre allows designers to achieve can be effectively harnessed to explore issues arising from power relating amongst people – and between people and objects.“12 Die Komplexität und der emergente Charakter von Beziehungen zwischen Menschen und Objekten und ihr relationales Aufkommen würden wahrnehmbar. Object Theatre und explizit Object Dating mache Machtverhältnisse für Designer*innen verhandelbar und so zum Gestaltungsgegenstand. „Based on our findings, it is possible to argue that Object Theatre has potential for enabling designers to discover, address and challenge power relating that arises unexpectedly in the spontaneous interactions with people and objects.“13 Bezug zur Arbeit – Object Dating fokussiert „Wir-heit“ zwischen Mensch und Objekt und weist entsprechend Parallelen zu der Praktik „Dividuieren“ auf. Object Dating ermöglicht eine körperliche Auseinandersetzung mit den materiellen Eigenschaften von Dingen. Es interagieren unterschiedliche Körperkonstellationen miteinander, darunter menschliche und nicht-menschliche – beide Kategorien werden temporär aufgelöst. Da die Teilnehmenden aufgefordert werden, sich möglichst von ihren Vorerfahrungen mit den Dingen und ihrem Wissen über die Funktion der Dinge zu befreien, tritt nicht allgemeines Wissen über die Dinge an sich zutage, vielmehr wird situatives Wissen mit den Dingen erlebt, z. B.: Was ist das Ding für mich? Was ist das Ding in der Konstellation mit anderen Dingen und Menschen? Durch Object Dating wird es möglich, sich der eigenen Verbundenheit mit Dingen bewusst zu werden und zu verstehen, wie diese sich in Bezug auf das eigene Handeln verhalten. In diesem Sinne wird (ähnlich wie in Bird-Davids Darstellung) situativ und in der Interaktion ausgehandelt, ob und inwiefern ein Ding für einen Menschen Objekt oder Subjekt ist.

4.1.2  Acting Things II – Dialogue Vorgehen – Acting Things II – Dialogue14 war ein performatives Experiment, bei dem eine Tänzerin mit dem Material Wachs interagierte. Hierfür wurden mehrere fußballgroße Klumpen Wachs in eine formbare Konsistenz gebracht. Wachs und Tänzerin reagierten in einem sonst leeren Raum im Tanz miteinander. Die Tänzerin formte im Tanz das Material und das Material beeinflusste wiederum die Bewegungen der Tänzerin, was anschließend wiederum Einfluss auf das Material ausübte. Auf diese Weise entstanden unterschiedliche Bewegungsabläufe zwischen Wachs

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Abb. 12: Tänzerin in einer Performance mit dem Material Wachs bei Acting Things

und Tänzerin. Aus der Performance resultierten zahlreiche durch die Bewegungen gezeichnete Wachsunikate. Hintergrund – Acting Things II – Dialogue ist Bestandteil einer fortlaufenden, sechsteiligen (Stand 2020) Projektserie der Designerin Judith Seng. Seng untersucht in Acting Things Produktionsprozesse zwischen Mensch und Material. Ihr Interesse liegt dabei auf der Frage, wie die Prozessgestaltung von den performativen Künsten lernen kann.15 Die Teilprojekte von Acting Things sind ergebnisoffen und bauen aufeinander auf. Seng selbst nimmt in ihren Projekten die Rolle einer Regisseurin ein. Sie wird während der Experimente nicht selbst aktiv, sondern lässt menschliche und nicht-menschliche Akteur*innen miteinander agieren. Erkenntnisse – Seng versteht Acting Things II – Dialogue sowie jeden anderen performativen Produktionsprozess von Acting Things als einen Versuchsaufbau. Sie provoziert ein Zusammenspiel zwischen Akteur*innen, um dieses Zusammenspiel untersuchen und gestalten zu können. Sie bezeichnet ihre Versuchsaufbauten als „Dynamische Prototypen“16. Statt Szenarien nur zu denken, zu planen und zu diskutieren, zielt sie darauf, etwas probeweise zu realisieren. In diesen Dynamischen Prototypen sieht sie die Möglichkeit, Praktiken neu zu verhandeln. Dynamische Prototypen könnten, wenn man sie im Zusammenhang größerer gesellschaftlicher Fragestellungen exploriert, Potenzial bergen, kollektiv Werte zu verhandeln: Es würden temporäre Erfahrungs- und Gestaltungsräume für die involvierten Akteure entstehen, an denen aber auch Außenstehende teilhaben können – eine Gestaltungs-

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praxis für transdisziplinäre Fragestellungen, die das gemeinsame Ausprobieren, Nachdenken und Verstehen über das Tun in einen sichtbaren, erlebbaren und haptischen Prozess überführt.17

Bezug zur Arbeit – Sengs performative Experimente machen Wechselwirkungen zwischen Mensch und Material erfahrbar und demonstrieren, wie aus dieser relationalen Dynamik Gestaltung und Form resultiert. Acting Things II – Dialogue eröffnet einen Raum der Reflexion, in dem Intentionalität und Kausalität bzgl. der Formfindung befragt werden. Die Verwandtschaft mit den designtheoretischen Überlegungen zu Offenen Experimenten fällt auf, die laut Witzgall eine geeignete Basis für intentionale Designentscheidungen liefern. Acting Things kann als Modellexperiment verstanden werden – als Versuch einer nicht-anthropozentrischen Geisteshaltung. Das Experiment scheint außerdem Intra-aktion (Barad) zu veranschaulichen. Entitäten entstehen erst durch gemeinsames Werden. Tanzender Mensch und Material formen sich wechselseitig. Sengs Projekt weist allerdings nicht nur Gemeinsamkeiten mit den Offenen Experimenten und der Intra-aktion auf, sondern ist zudem beispielhaft für die Praktik „Dividuieren“. Es wird eine „Wir-heit“ zwischen Mensch und Ding, ein gemeinsames Handeln erforscht. Verbindung wird bewusst eingesetzt, um Erkenntnisse zu erlangen. Ähnlich wie im Zusammenhang mit der Relationalen Epistemologie erläutert, geht Seng davon aus, dass man sich und das andere in Relation begreifen kann.

4.1.3  Embodied Interviews Vorgehen – Embodied Interviews18 waren Interviews, die mithilfe von Objekten stattfanden – mit sechs sogenannten bodyProbs. Bei diesen aus Stoff gefertigten, immer mehrdeutigen Objekten wurde vorab definiert, auf welche Weise sie körpernah getragen werden sollten. Auch ihre Form wurde von Designer*innen vorab festgelegt. Die Objekte erinnern an Schmuckstücke, Schals oder Taschen, wurden allerdings verfremdet, um nicht als gewöhnliche Alltagsobjekte verstanden zu werden.19 Insgesamt wurden 26 Embodied Interviews entweder am Arbeitsplatz oder am Wohnort der Teilnehmenden durchgeführt. Sie bestanden aus drei Schritten: (1) Der befragten Person wurde eine der sechs bodyProbs und die vorgesehene Art, sie zu tragen, vorgestellt. Sie wurde gebeten zu reflektieren, wie sich der Kontakt mit der bodyProb anfühlt.20 Nach etwa 15 Minuten wurde die Person aufgefordert, ihre Erkenntnisse in einen vorgefertigten Steckbrief einzutragen, der die Rubriken „Name des Objekts“ und „Fähigkeiten des Objekts“ aufführte. (2) Die Person wurde im Anschluss gebeten, dem Objekt ein Bedürfnis zuzuordnen, etwa „Physical Activity, the need for exercise“. (3) Die Person wurde mit der bodyProb portraitiert. Auf diese Weise wurden einerseits alle sechs bodyProbs durch die B ­ eschriftungen

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Abb. 13: bodyProps mit von den Teilnehmenden (hier Test Subject #27) bestimmten neuen Namen und Funktionen.

konkretisiert, andererseits entstanden Fotos der Personen, während sie die Objekte nutzten. Hintergrund – Der Ansatz Embodied Interviews wurde von den Designforscher­ innen Danielle Wilde und Kristina Andersen an der STEIM Amsterdam und an der University of Tokyo entwickelt. Wilde und Andersen befassen sich in ihrer Forschung grundsätzlich mit „Embodied Design“ und damit, wie etwas statt nur durch den Intellekt mit dem Körper verstanden werden kann. Sie begreifen die Embodied Interviews als Methode, um Teilnehmende in einen Kreationsprozess einzubeziehen und noch nicht existierende Technik gemeinsam zu konzipieren.21 Es sollte ein imaginativer Raum durch Körperlichkeit angeregt werden, um das Design von körpernah getragener Technik („Wearables“) zu inspirieren: „[W]e are interested in the narratives that people develop to explain and relate to them [bodyProbs, Anm. d. Verf.], and to the notion of augmenting our physicality through the addition of a technologically enhanced body-worn device.“22 Dabei sollte die Funktion der bodyProbs erst durch deren Nutzung definiert werden. „The aim is to create an emergent, imaginative space where people will both discover and articulate what each body-device is.“23 Erkenntnisse – Im Anschluss an ihre Interviews stellen Wilde und Andersen fest, dass, anders als im Design üblich, nicht vorab definiert wurde, welche konkrete Technik gestaltet werden soll. „While not necessarily anti-design, the methodology contrasts dramatically with traditional design processes, where the purpose and broad functionality of ‚that which is being designed‘ is usually known in advance“. 24 Die mehrdeutigen bodyProbs unterstützten nach Angaben der Forscherinnen diesen offenen Prozess: „They foreground the body, rather than technologies, freeing participants from the requirement to be articulate and knowing. Instead, participants

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Abb. 14: Teilnehmer (hier Test Subject #27) während eines Embodied Interviews in Auseinandersetzung mit bodyProps.

discover, explore, imagine, and share what emerges.“25 So sei in der Interaktion beispielsweise der Eindruck entstanden, die bodyProps könnten dazu befähigen, schneller zu rennen oder leichter einzuschlafen.26 Sie hätten einen kreativen Raum eröffnet, in dem auch die Interaktionsweisen mit der noch zu entwickelnden Technik frei erfunden werden konnten.27 Durch den Prozess seien sehr individuelle emotionale Reaktionen auf körpernah getragene Technik offensichtlich geworden. Während manche Personen die Nähe einer bestimmten bodyProp positiv erlebten, reagierten andere auf dasselbe Objekt aggressiv.28 Wilde stellt fest: „It also uncovers potentially conflicting views on the personal, social, cultural, political and ethical implications of different propositions.“29 Durch Embodied Interviews werde grundsätzlich ein neues Bewusstsein über Materialität geschaffen, und zwar über die Eigenarten des eigenen Körpers und jener der Objekte. Wilde und Andersen merken außerdem an, dass ihre offenen Prototypen Magisches Denken ermöglichten.30 Bezug zur Arbeit – Der Hinweis auf Magisches Denken im Zusammenhang mit kritischem Denken irritiert, läuft das Magische Denken laut Freud und Piaget doch unbewusst ab und wird nur von anderen und von außen wahrgenommen. Auch Wilde und Andersen verstehen Magisches Denken offenbar als eine Fehlinterpretation und eine Verwechslung der Kategorien. Auf den ersten Blick könnten also ­Embodied Interviews auch als Beispiel für ein techno-magisches (Alter Animismus) und nicht für ein animistisches Unterfangen (im Sinne des Neuen Animismus) verstanden werden. Doch meinen Wilde und Andersen, anders als Freud und Piaget, ein fantastisches, ungewöhnliches Denken, das die Möglichkeit für kritisches D ­ enken

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eröffnet.31 Sie kombinieren Magisches Denken mit dem surrealistischen und dadaistischen Konzept des Making Strange. „Our field of concerns includes enchantment and ambiguity as resources for design, encouraging ‚magical thinking‘ and ‚making strange‘.“32 Die Verquickung von Magischem Denken (das Verwechseln von Kategorien, d. h. bewusstseinseinschränkend) und Making Strange (das Verfremden und Irritieren von Gewohntem, d. h. bewusstseinserweiternd) erzeugt, ebenso wie die in dieser Arbeit herausgearbeiteten Prinzipien des Animismus,33 eine paradoxe Spannung. Wilde und Andersen setzen Magisches Denken vorsätzlich als Methode ein. Sie erzeugen bewusstes Magisches Denken; es findet ein Wechsel statt zwischen Nähe und Distanz, zwischen Verbindung und Trennung, zwischen Irra­ tionalität und Rationalität. In diesem Sinne sind Embodied Interviews eine beispielhafte Spielart des Animismus (im Sinne des Neuen Animismus). Der Praktik „Dividuieren“ lässt sich die Methode deshalb zuordnen, da sich erst in der Interaktion zwischen menschlichen und dinglichen Körpern die spezifischen Beteiligten herausbilden. Beide Körper verwandeln sich relational und reagieren aufeinander. Dabei spielt die Offenheit der bodyProbs eine entscheidende Rolle. Die Objekte mit ihren mehrdeutigen Formen sind nicht abgeschlossen, sondern offen für einen Dialog. Es entsteht ein Resonanzraum „dazwischen“, der, so die Beobachtungen von Wilde und A ­ nderson, kritisches und selbstreflexives Potenzial hat – schließlich wird die Aufmerksamkeit der Teilnehmenden auf sie selbst und die eigene Körperlichkeit gelenkt. Interessant ist insbesondere, dass am Ende des Erfahrungs- und Interaktionsprozesses zwischen Mensch und bodyProb beide „Komponenten“ einen neuen Zustand erlangten, in dem sie auch fotografisch festgehalten werden konnten: Nach jedem ­Embodied Interview wurden einerseits die Objekte mit neuem (von den Teilnehmenden bestimmten) Namen (Abbildung 13) und andererseits die Teilnehmenden (in ihren durch das jeweilige Objekt hervorgerufenen Posen) fotografiert (Abbildung 14).

4.1.4  Dividuieren – Die drei Projekte im Vergleich Den drei forschenden Designprojekten ist gemein, dass sie eine körperliche Auseinandersetzung zwischen Mensch und Ding ermöglichen. Es findet eine Annäherung statt, bei der die symbolische Bedeutung und die Funktion der Dinge eine untergeordnete Rolle spielen. Sowohl bei Object Dating als auch bei den Embodied Interviews wurden der Sinn und die Funktion eines Dings erst durch die Interaktion mit dem Ding festgelegt. Was etwas ist, bestimmte sich relational und im Prozess. Bei A ­ cting Things wurden Funktionalität und Sinnhaftigkeit des Materials komplett außer Acht gelassen. Bei allen drei Projekten sollte das Materielle möglichst neu gesehen und verstanden werden, wobei das Verstehen nicht auf Distanz stattfand, das Materielle wurde nicht im modernen wissenschaftlichen Sinne objek-

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tiviert. Es wurde hingegen bewusst eine subjektive, situative Auseinandersetzung zwischen Mensch und Material provoziert. Hierfür wurden Grenzen zwischen dem Eigenen und dem Fremden temporär bewusst aufgehoben. Mit Bird-David gesprochen: Es wurde die „Wir-heit“ fokussiert. Bei Object Dating war Ziel, sich mit der Materialität des Dings in Interaktion zu verbinden, um so anschließend mit anderen „Ding-Mensch-Wir-heiten“ in Kontakt treten zu können. Bei Acting Things diente das Wechselverhältnis im Tanz als Möglichkeit, „Wir-heit“ zu erleben; bei Embodied Interviews wurde untersucht, was das Ding durch das Eigene ist, und gleichzeitig, was das Eigene durch das Ding wird. Statt also Dinge an sich zu erörtern, wurde exploriert, was Dinge – je nach Projekt ein Papierband, ein Wachsklumpen oder ein bodyProb – in bestimmten Situationen für bestimmte Personen relational sind. So wurde in den Projekten nicht dichotomisiert, sondern „dividuiert“. Die Dinge wurden nicht kategorial an sich in „Subjekt“ oder „Objekt“ eingeteilt, sondern im Wechselverhältnis bestimmt. Erst die Nähe und Verbundenheit mit dem Anderen verdeutlichte, mit was oder mit wem interagiert wurde, oder, wie Bird-David für die Relationale Epistemologie festhält: „Ich weiß, indem ich mich in Beziehung setze.“34 Nichts wurde von Anfang an objektiviert oder subjektiviert – was sich bei den folgenden Praktiken „Subjektivieren“ und „Imitieren“ von Grund auf anders darstellt. „Dividuieren“ ist eine Praktik, durch die Verbindung gesucht und Beziehung erzeugt wird, und keine, bei der Nicht-Menschen wie Personen behandelt werden. „Dividuieren“ weist durch den Fokus auf die „Wir-heit“ auch eine Nähe zum Magischen Denken und zur Intra-aktion auf. Die Bedeutungen der Begriffe sind verwandt, aber nicht identisch. Beim Magischen Denken nach Piaget und Freud existieren keine Grenzen und Unterschiede zwischen dem Eigenen und dem Anderen und der Begriff Intra-aktion verweist bei Barad auf ein gemeinsames relationales Werden. Magisches Denken und Intra-aktion beschreiben allerdings, anders als das „Dividuieren“, keine reflexive Praktik, wie oben ausführlich hergeleitet wurde. Die drei Forschungsprojekte können als Beispiele für „Dividuieren im Design“ verstanden werden, da bei ihnen Grenzen und Unterschiede zwischen Wesen verhandelt werden, indem die Grenzen aufgelöst werden. Was auf den ersten Blick wie ein Widerspruch erscheint, ist tatsächlich keiner. Was nämlich „Dividuieren“ als Praktik in den beschriebenen Projekten kennzeichnet, ist, dass die „Wir-heit“, wie im Neuen Animismus erläutert, vorsätzlich angestrebt wurde. Es wurden – bewusst und temporär – bestehende Kategorien und Grenzen aufgelöst, um neue Grenzen wahrzunehmen. Es lässt sich schlussfolgern, dass Magisches Denken und das Kausalitätsprinzip Intra-aktion im „Dividuieren“ bewusst eingesetzt wurden, um damit eine eigene kritische, reflexive Haltung zu erzeugen, die weder im Magischen Denken noch in der Intra-aktion selbst angelegt ist. Tatsächlich verfolgen die hier vorgestellten Projekte alle ein selbstreflexives Ziel. Sie haben kritisches Potenzial. Denn die Forscher*innen bezwecken zu verstehen, was durch das Fremde mit dem Eigenen passiert, während das Eigene auf das Fremde einwirkt. Während die Beziehung zum Objekt untersucht wird, verschiebt sich der Fokus auch auf den eigenen Körper und das eigene Bewusstsein.

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4.2  SUBJEKTIVIEREN IM DESIGN – ANDEREN SUBJEKTSTATUS ZUSPRECHEN 4.2.1  Object Personas Vorgehen – Für Object Personas35 wurden in fünf Haushalten jeweils einen Tag lang ein Wasserkocher, ein Kühlschrank und eine Tasse in ihrem Alltag observiert. Dafür kamen sogenannte Autographer zum Einsatz: kleine Kameras, die man sowohl an Menschen als auch an Gegenständen befestigen kann und die automatisch bzw. durch Sensoren ausgelöst Bilder aufnehmen. Die Autographer wurden an Wasserkocher, Tasse und einer Person im Haushalt befestigt (Abbildung 15). Sie schalteten sich immer nur dann ein, sobald die Objekte in Aktion waren. Insgesamt wurden mehr als 3000 Fotos aufgenommen (Abbildung 16). Im anschließenden Workshop wurde eine Gruppe von Personen dazu eingeladen, auf Basis des Materials Object Personas zu kreieren. Dafür sollten die Teilnehmer*innen zuerst jeweils einen typischen Tag im Leben des Objekts skizzieren. Anschließend wurden sie gebeten, das Innenleben des Objekts (d. h.Persönlichkeit, Einstellung zum Leben, Temperament, Stimmung, Bedürfnisse, Ängste, Minderwertigkeitskomplexe, Gewohnheiten oder besondere Fähigkeiten) zu imaginieren. Außerdem sollten die sozialen Beziehungen des Objekts zu anderen Objekten und zu den Nutzenden beschrieben werden (Abbildung 17). Die Teilnehmenden des Workshops gingen Fragen nach wie: Worüber könnte das eine Objekt mit dem anderen Objekt sprechen? Was könnte das eine Objekt vom anderen lernen? Welches Objekt könnte für ein anderes ein Feind sein und welche Objekte sind Verbündete? Schließlich wurden die Teilnehmenden gebeten, sich die Vergangenheit und Zukunft der Objekte vorzustellen, d. h. welches Leben die Objekte zuvor gehabt haben könnten, was sie jeweils von ihrer Vergangenheit gelernt haben könnten und wie sie sich die Zukunft wünschen würden. Im Anschluss an das Experiment wurden die Teilnehmer*innen befragt, ob und inwiefern sie die Methode als inspirierend und erkenntnisreich erachten. Hintergrund – Object Personas wurde an der TU Delft am Lehrstuhl von Elisa Giaccardi zusammen mit der Designforscherin Nazli Cila entwickelt. Giaccardi vertritt einen Ansatz, den sie selbst als „Thing-Centered Design“ bezeichnet und den sie vom konventionellen Human-Centered Design und User-Centered Design abgrenzt.36 Sie verfolgt eine Designforschung, die kreative Potenziale des IoT berücksichtigt und Dinge selbst als kreative Wesen oder zumindest als Akteure in kreativen Prozessen begreift: „[W]e engage ordinary objects in the design research process as participants to collaboratively elicit new insights.“37 Bei Object Personas wird die Methode, Personas für Menschen – also fiktionale Nutzer*innen – zu kreieren, auf Objekte übertragen. Ähnlich wie für menschliche Personas sollten für Object Personas eine Geschichte, Interessen, Bedürfnisse, soziale Beziehungen und ein Lebensweg, insgesamt also eine Persönlichkeit, konzipiert werden. Ziel von Object Personas war,

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Abb. 15: Tasse und Wasserkocher bestückt mit Autographer.

Abb. 16: Die Perspektive einer Tasse. Bilder, die im Alltag durch einen Autographer entstanden.

ein neues Verständnis von Objekten im Alltagskontext, eingebettet in Alltagspraktiken und in Interaktion mit anderen Dingen und Menschen, zu erlangen, um neue Designideen zu generieren.38 Object Personas sind Teil einer forschenden ­Praxis, die Giaccardi als „Thing Ethnography“39 bezeichnet. Dinge werden hier als Ethnographen verstanden, die Zugang zu Inhalten schaffen, die für den Menschen alleine nicht zugänglich wären. Erkenntnisse – Laut Giaccardi und Cila waren die am Workshop partizipierenden Personen teils sehr überrascht über die neuen Einblicke, die für sie entstanden: „you really get a new perspective on the same product because before you just see it from your perspective but then you really elaborate the surrounding and think about it in a more enhanced way. I have to admit that I didn’t expect that to happen.

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Abb. 17: Steckbriefe über die entwickelten Object Personas

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I was rather surprised that it helped me this much.“40 Es wurde als inspirierend erlebt, sich vorzustellen, wie man selbst fühlen würde, wäre man das Objekt und sich dabei Ängste sowie Freuden, die möglichen Beziehungen eines Objekts zu Nutzer*innen oder die Beziehungen zwischen den Objekten untereinander auszumalen. Durch das Gedankenexperiment kamen Fragen auf, die zu neuen Designlösungen inspirierten: Wie könnte das Objekt Freude zeigen, die es „empfindet“, wenn es Nutzer*innen „sieht“? Wie könnte es Nutzer*innen coachen? Object Personas sei eine Möglichkeit, seinen eigenen Standpunkt zu verlassen und damit neu über Dinge nachzudenken, so Cila und Giaccardi. Es seien im Workshop wichtige Eigenschaften von Dingen in den Blick geraten, die sonst nicht unbedingt auffällig werden: So sei beispielsweise durch die Zuschreibung von Gefühlen und Bedürfnissen der nicht vorhandene Bewegungsspielraum des Kühlschranks bzw. sein auf die Küche beschränktes Dasein im Kontrast zum bewegten Alltag der Tasse offensichtlich geworden. Es stellte sich heraus, dass Tassen in vielen Haushalten einen sehr intimen Einblick in das Leben der Nutzer*innen erhalten – sie begleiten diese beispielsweise vom Balkon zum Schreibtisch bis ins Bett. Der Versuch, sich das Innenleben der Tasse auszumalen, führte zu ungewohnten Einschätzungen, z. B.dass die Nähe zu Nutzer*innen Eifersucht erzeugen könnte. Ein Workshopteilnehmender, der*die sich mit der Tasse identifizierte, stellte fest: „At certain point I thought ‚Maybe he will put me back in the cupboard! And then I’m gonna be just one of many!‘ But then in the end, he used me when watching a movie. We watched a movie together …“41 Eine weitere Person äußerte, dass es für die Tasse im Kampf um Aufmerksamkeit sinnvoll werden könnte, sich von anderen Tassen abzugrenzen, indem sie die Fähigkeit, Wasser aufzuheizen, vom Wasserkocher lernt. Für den Wasserkocher hingegen wurde festgestellt, dass er sich in manchen Haushalten abgewertet fühlen könnte, da er oft in der Nähe des Mülleimers stehen müsse. Er habe außerdem deutlich mehr Freizeit als der Kühlschrank und im Sommer drohe sogar die Gefahr, dass sich er sich langweile. Cila und Giaccardi resümieren: „We have seen that objects have needs that are different from humans and from each other.“42 Dass sie Objekten eine Persönlichkeit zuschreiben ließen, begründen sie damit, dass sonst keine Möglichkeit für eine gemeinsame Basis zwischen Mensch und Ding bestehe.43 Durch Object Personas habe sich der gestalterische Fokus von der funktionalen auf die emotionale Perspektive verschoben. Diese Verschiebung inspiriere allerdings wiederum neue Funktionen. Object Personas machten Beziehungen unter Dingen und zwischen Dingen und Menschen wahrnehmbar und diese Erkenntnisse seien gerade vor Hintergrund des IoT nützlich.44 Giaccardi verweist in diesem Zusammenhang sogar explizit auf ethische Beziehungen zwischen Mensch und Technik sowie auf die Wirkmacht der Dinge, die durch die Methode verhandelbar werden. Bezug zur Arbeit – Im Projekt Object Personas wurde einerseits die Welt aus der Perspektive von Dingen betrachtet und andererseits den Dingen eine Persönlichkeit zugeschrieben. Object Personas war eine mentale Übung, bei der die Teil-

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nehmenden sich körperlich nicht selbst einbrachten. Grundsätzlich erfordert die Methode, sich empathisch in Dinge einzufühlen. Die Feststellung, dass Menschen nicht umhinkommen, die Dinge mithilfe der eigenen Kategorien zu verstehen, da es sonst keinen gemeinsamen mentalen Zustand von Menschen und Dingen gebe, erinnert an die Deutung des Animismus als Projektion im Alten Animismus. Während dort allerdings die Projektion als naiver Irrglaube verstanden wurde, werten Cila und Giaccardi die Zuschreibung nicht ab. Sie gehen nicht davon aus, dass das Personifizieren eine grundsätzlich falsche Zuschreibung ist. Vielmehr macht es bestimmtes Wissen über Dinge zugänglich. Es werden irrationale, emotionale Qualitäten von Objekten offensichtlich, die ebenso real sind wie die funktionalen Eigenschaften. Der Versuch, die Perspektive der Objekte einzunehmen, indem menschliche Kategorien gebildet werden, erzeugt einen neuen Zugang zu den Objekten und zu deren Welt, die Menschen zwar mit den Objekten teilen, aber normalerweise nur aus einer bestimmten Perspektive – der menschlichen – wahrnehmen. Damit weist Object Personas Parallelen auf mit Viveiros de Castros Perspektivischem Multinaturalismus und mit der Praktik „Subjektivieren“, bei der ebenfalls im empathischen Perspektivwechsel Zugang zu der Welt anderer Wesen geschaffen wird. Durch Object Personas wird deutlich, dass der temporäre Perspektivwechsel im Design gerade dann nützlich wird, wenn Komplexität und Wechselwirkungen verstanden werden müssen. Die Methode erlaubt es, Beziehungen zwischen Dingen sowie zwischen Dingen und Menschen zu begreifen. Dieses Verständnis ist in komplexen technischen Zusammenhängen wie dem IoT besonders relevant. Zwar wenden sich Cila und Giaccardi vordergründig vom Human-Centered Design ab, doch das Wohlergehen des Menschen scheint nach wie vor auch ihr übergeordnetes Ziel zu sein. Nicht-anthropozentrisches Denken wurde im Workshop zwar angestrebt, war aber für die Teilnehmenden oft schwer zu erreichen. Die gestalterischen Konzepte, die aus Object Personas resultierten – etwa eine Tasse, die bei Begegnungen mit Nutzer*innen Freude kommuniziert –, zielten hauptsächlich auf das Wohlbefinden der Menschen. Allerdings scheint die Annahme zugrunde zu liegen, dass nur, wenn alle vernetzten Entitäten „zufrieden“ sind, auch der Mensch Positives erleben kann. Durch Object Personas wurden Objekten nicht nur positive, sondern auch negative Eigenschaften zugeschrieben. Auch Nachteile bestimmter Dinge in Relation zu anderen wurden sichtbar. Die Dinge wurden moralisch ansprechbar. „Subjektivieren“ erlaubt bei Object Personas sich gegen Dinge zu wenden, was im Zusammenhang kaum greifbarer technischer Dinge ein nützliches ethisches Instrument sein könnte. Hier zeigt sich kritisches Potenzial. Der Perspektivwechsel schafft temporär Nähe und gleichzeitig Abstand zu einer gewohnt gewordenen rationalen Anschauung. So werden auch negative Beziehungen offensichtlich, die sich dann umgestalten lassen.

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4.2.2  Object Character Vorgehen – Bei Object Character45 versammelten sich Teilnehmende eines Workshops in Kleingruppen von zwei bis drei Personen jeweils um einen Tisch (Spielfeld), auf dem ein Parcours visualisiert war. Die Visualisierung sollte an einen Raumplan mit Wohnzimmer, Schlafzimmer und Flur erinnern. Auf dem Spielfeld befanden sich in zwei Ecken jeweils ein Eierkartonstück, das Platz für ein Ei bot. Das eine Behältnis (im Schlafzimmer) war leer. Im anderen (im Wohnzimmer) befand sich ein Ei. Die Teilnehmenden wurden aufgefordert, das Ei mithilfe von Alltagsgegenständen, z. B.mit einem Löffel oder einem Kleidungsstück, von dem einen „Stuhl“ zum anderen zu transportieren. Das Spielfeld selbst befand sich in leichter Schieflage, sodass das Ei vom Feld fiel, wenn es nicht stabilisiert wurde (Abbildung 18). Die Teilnehmenden wurden im Anschluss an das kurze Experiment aufgefordert darüber nachzudenken, wie ein angemessener Transport für das Ei aussehen könnte. Hintergrund – Object Character wurde im selben Workshop erprobt wie Object Dating und von Ryöppy, Ylirisku und Knutz als weitere Methode des Object Theatre konzipiert.46 Die Organisator*innen des Workshops interessierte ein relationaler, empathischer Zugang zur Objektwelt: Through Object Theatre we try to break free of patterns of interpreting and acting with objects in a particular habitual way, and thus challenge the existing relational power dynamics. This is done through ‚empathising‘ with objects, i.e. thinking and acting as if the object would be a living being. This breaks the typical patterns of actions that we have with objects and fosters the emergence of novel ways of relating.47

Erkenntnisse – Ryöppy, Ylirisku und Knutz stellten fest, dass die Teilnehmer*innen des Workshops das Ei während der Übung als ein Wesen mit menschenähnlichen Emotionen und Fähigkeiten aufzufassen begannen und damit zu einem sozialen Objekt machten: „A physical thing, such as an egg, may be defined as a person, and thus becomes a social object“.48 So sei beispielsweise thematisiert worden, dass sich das Ei würdelos behandelt fühlen könnte, je nachdem, mit welchem Gegenstand es transportiert wurde, und je nachdem, wie viel Einfluss es selbst auf den Transport hatte. Laut Ryöppy et al. wurde die Wirkmacht des Objekts während des Transportversuchs immer dann sichtbar, wenn es die Teilnehmer*innen zu Handlungen veranlasste: „The Object Character appeared to gain in power when it was able to challenge or resist the actions of the helpers.“49 Bei Object Character sei die Macht des Alltagsobjekts durch die physische und symbolische Inszenierung in der Interaktion offensichtlich geworden.50 Bezug zur Arbeit – Während Object Character wurde das Objekt nicht nur mental, sondern auch durch physische Aktion subjektiviert. Die Subjektperspektive wurde erst in der Interaktion mit dem Objekt vollständig präsent. Die dem Ei zugeschriebenen Gefühle und Eigenschaften entstanden durch die Handlung des

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Abb. 18: Teilnehmende, die bei Object Character ein Ei transportieren.

Transportierens und den direkten Kontakt. Es besteht also eine Parallele zu den Projekten, in denen „dividuiert“ wurde, denn bei diesen erlaubte das Aushandeln mit dem Körper die Unterscheidung zwischen einem „Objekt für jemanden“ oder einem „Subjekt für jemanden“. Object Character war allerdings von Anfang an so angelegt, dass das Objekt zum Subjekt wird. Bezeichnungen wie Wohnzimmer oder Schlafzimmer und Stuhl statt Eierkarton legten nahe, das Objekt schon zu Beginn des Prozesses als Person zu konzipieren. Object Character zeugt keine „Wir-heit“ wie beim „Dividuieren“, sondern eine Perspektivverschiebung durch empathisches Einfühlen, wie es die Praktik „Subjektivieren“ nahelegt. Durch Object Character wird für Gestalter*innen verständlich, welchen Einfluss die Interaktionsgestaltung auf Dinge und Menschen und insbesondere auf die Beziehung zwischen beiden nehmen kann. Jedes gewählte Werkzeug, das für den Transport des Objekts genutzt wurde, bestimmte die Qualität der Interaktion, die Beziehung zwischen Mensch und Objekt und den Charakter des Objekts. Sich bewusst in das Objekt einzufühlen und es als Subjekt zu verstehen, machte also sichtbar, was sonst oft unbewusst in Interaktionen mit Objekten passiert.

4.2.3 Co-Performers Vorgehen – Lenneke Kuijer beschreibt technische Artefakte als Co-Performer51 in sozialen Aktivitäten und denkt damit die Praxistheorie konsequent weiter. Kuijer spielt am Beispiel der Aktivität „Waschen mit Waschmaschine“ durch, wann in einer Aktivität der Mensch und wann die Maschine agiert. „Click. He closed the latch and opened the latch to let the water flow into his belly. When he sensed that the right level had been reached, he closed it. He then heated the water to the ­preferred

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temperature and triggered the motor to start its gentle pattern of turning clockwise, counter clockwise, clockwise, counter clockwise. […]“52 Was sie in dem obigen Zitat narrativ ausformuliert, strukturiert sie außerdem systematisch. Hierfür stellt sie eine Tabelle auf, in der sie chronologisch alle Aktionen listet, die während der Aktivität des Waschens mit einer Waschmaschine getätigt werden. Von „Place load in the machine“ über „Add rinsing water“ bis „Switch to spin dryer mode“. Anschließend ordnet sie den Aktionen die Akteure Mensch oder Artefakt zu. In einer zweiten Tabelle zoomt sie erneut in die Aktivität des Waschens, vergleicht nun aber die stattfindenden Aktionen bei unterschiedlichen Waschaktivitäten (Handwäsche, Waschen mit antiquierter oder automatischer Maschine) und ordnet die einzelnen Aktionen erneut dem Menschen oder dem Artefakt zu. Hintergrund – Anlass für Co-Performers und die damit verbundenen Gedankenexperimente war Kuijers Beobachtung, dass in der Praxistheorie technische Artefakte, die außerhalb der menschlichen Aufmerksamkeit Handlungen von Menschen übernehmen und automatisieren, meist nicht als an den Aktivitäten beteiligt erachtet werden.53 Mit dieser Geisteshaltung werde die Rolle der technischen Artefakte und damit auch die Rolle der jeweiligen Designer*innen für die Bedeutung der Aktivität zu wenig berücksichtigt. Kuijer sucht also nach einer Methode, die vom menschzentrierten Designansatz Abstand nimmt und mit der verständlich wird, wie sowohl Menschen als auch technische Artefakte Aktivitäten gemeinsam tätigen. Ziel ist, die jeweilige Rolle besser zu verstehen, um anschließend sinnvolle Gestaltung möglich zu machen. Erkenntnisse – Laut Kujier wird durch das Auflisten der unterschiedlichen Aktionen sowohl des Menschen als auch der Maschine die Agency der unterschiedlichen Akteure sichtbar und für das Design verständlich. Sie stellt zusammenfassend fest: „Co-performance opens new avenues for HCI researchers and designers to (1) develop richer accounts of the dynamic role of computational artefacts in every­ day life, and by implications related design practices; and (2) develop new design theory and strategies that thoughtfully take into account differences in capabilities between human and artificial co-performers, and show sensitivity to the power dynamics involved when different ideas of appropriate practice come together in situated performance“.54 Kuijer erläutert, dass paradoxerweise gerade das experimentelle Aufheben der Grenzen zwischen Mensch und Artefakt bzw. das gleichwertige Nebeneinanderstellen der Aktionen innerhalb einer Aktivität die Unterschiede zwischen Mensch und Artefakt erfahrbar macht: While applying the concept of co-performance to practice analysis, I notice that although it argues for a positioning of automated artefacts as more similar to people than they currently are in theories of practice, what this move actually highlights are differences between humans and automated artefacts.55

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Es werde deutlich, dass die Art der Arbeitsteilung zwischen Mensch und Maschine durch die sehr unterschiedlichen Kompetenzen – jeweils körperlich und geistig – bedingt sei. Nur der Mensch kann sinnvoll darüber entscheiden, welche Kleidungsstücke gewaschen werden müssen, daher sollte er die Maschine befüllen, während die Maschine sinnvollerweise für das Schleudern zuständig ist. Außerdem zeige die gleichwertige Auflistung der Aktivitäten in einer Co-Performance, inwiefern Mensch und Maschine im Laufe der Zeit im Zusammenspiel ihre Kompetenzen verändert hätten und dass die diversen Aktivitäten, die im Zusammenhang mit unterschiedlicher Technik entstehen, Vorteile und Nachteile mit sich bringen. Während die Maschine beispielsweise immer wieder geduldig wasche, ohne sich zu beschweren, was Kujier als positive Kompetenz wertet, sei sie nicht in der Lage, unterschiedliche Kleidungsstücke unterschiedlich zu behandeln, was ein Nachteil sei. Und schließlich machten die Listen ersichtlich, dass der Mensch mit jeder technischen Innovation gewisse Fähigkeiten verliere oder Aktionen aufgebe und neue Fähigkeiten/Aktionen hinzugewinne. Ähnliche Verschiebungen gelten für die unterschiedlichen Maschinen. Das gleichwertige Zuschreiben der Subjektperspektive auf Artefakte und Menschen sowie die gleichwertige Auflistung aller Aktionen deckt laut Kujier auf, welche Arten von Aktivitäten auf eine (Wasch-)Maschine überhaupt übertragen werden können oder sollten und welche nicht. Dies seien wichtige Informationen für Designer*innen. Bezug zur Arbeit – Artefakte als Co-Performer zu beschreiben ist ein Gedankenexperiment. Die Maschine wird von Kuijer als Subjekt betrachtet und als Subjekt analysiert und nicht innerhalb einer praktischen Interaktion als Subjekt erlebt. Kuijers Co-Performer wurden also für sie selbst nicht körperlich als Subjekte erfahrbar. Kuijers untersuchte allerdings körperliche Handlungen, die Menschen und Objekte miteinander teilen. Ihr Projekt erforderte es, eine nicht-anthropozentrische Haltung zu beziehen und Objekte auf eine Ebene mit dem Menschen zu stellen. Dabei wurde in ihrem Gedankenexperiment nicht nur das Objekt menschenähnlich, sondern auch der Mensch objektähnlich, denn er wird bei Co-Performers auf seine Aktionen/Funktionen innerhalb einer Aktivität reduziert. Es stand sowohl für die Handlungen des Menschen als auch für jene des Objekts nicht der emotionale Zugang im Fokus, sondern der funktionale. Verständlich wurde dabei, inwiefern Handlungen mit Dingen immer geteilte Handlungen sind, die nicht vom Menschen alleine bestimmt werden können. Kuijer macht also mit ihrer Methode und durch die Zuschreibung einer Subjektperspektive die Wirkmacht des Objekts im Detail verständlich. Indem sie den Objekten Handlungsfähigkeit zuspricht, verdeutlicht sie außerdem die Verantwortung der Designer*innen und Entwickler*innen, die letztlich die Handlungsfähigkeit der Objekte gestalten und damit Aktivitäten zwischen Mensch und Ding definieren. In diesem Sinne wird durch Co-Performers das technische Objekt und dessen Gestalt reflektierbar und kritisierbar.

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4.2.4  Subjektivieren – Die drei Projekte im Vergleich Sowohl bei Object Personas und Object Character als auch bei Co-Performers wird Nicht-Menschen probeweise eine Subjektperspektive zugesprochen. Dabei funktionieren die Projekte Object Personas und Co-Performers durch eine rein mentale Zuschreibung, während bei Object Character das Objekt zusätzlich durch physische Interaktion zum Subjekt wird. Subjektivieren heißt bei den Projekten immer, die Perspektive des Objekts empathisch verstehen zu wollen und damit ein Objekt als Subjekt zu interpretieren. Die Initiator*innen der Projekte gehen also ähnlich vor, wie es die animistische Praktik „Subjektivieren“ nahelegt, über die es bei Eduardo Viveiros de Castro heißt: „Ein Objekt ist ein unvollständig interpretiertes Subjekt.“56 Anders als beim „Dividuieren“ werden beim „Subjektivieren“ ontologische Differenzen nicht (temporär) aufgelöst, sondern temporär überschritten. Die in diesem Kapitel vorgestellten Projekte fordern zu einem Perspektivwechsel auf, wobei problemlos wieder zurückgewechselt werden kann. Das Objekt kann sowohl aus menschlicher Perspektive als Objekt betrachtet werden, als auch aus Objektperspektive als Subjekt. Der Perspektivwechsel geschieht, um neues Wissen über die Dinge und ihre Beziehungen zu Anderen zu erlangen. Er wird in den Projekten zum Werkzeug für Gestalter*innen. „Subjektivieren“ bedeutete in den Projekten immer auch, probeweise Objekte zu vermenschlichen. Es wurden allerdings unterschiedliche Formen des ­Anthropomorphismus praktiziert, was in unterschiedlichem Erkenntnisgewinn resultierte. Bei Object Character wurde dem Objekt „Ei“ temporär und in körperlicher Interaktion eine menschliche Perspektive zugesprochen. Das Ei war dabei Stellvertreter für ein schützenswertes Subjekt. Selbstverständlich spielte die Materialität des Eis, seine Zerbrechlichkeit, eine wichtige Rolle, um das Objekt als schützenswertes Subjekt zu behandeln. Der ursprüngliche Kontext des Objekts – also die tatsächliche „Lebenswelt“ des Eis – wurde allerdings vernachlässigt. Object Character funktionierte wie bei einem Puppenspiel, denn das Objekt selbst war Projektionsfläche. Es stand für ein beliebiges zerbrechliches Subjekt. In dem Workshop ging es nicht darum, das Objekt Ei aus einer anderen Perspektive neu verstehen. Es wurden vielmehr Dynamiken und Machtbeziehungen zwischen Mensch und Objekt oder stellvertretend zwischen Mensch und Mensch in der Interaktion untersucht. Ein Objekt probeweise als Subjekt zu behandeln, erzeugt Erkenntnisse darüber, wie und womit (Designlösungen, in diesem Fall hinsichtlich der Frage der Transportmöglichkeiten) wir Subjekte behandeln wollen und wie Machtbeziehungen und Hierarchien zwischen Entitäten entstehen. Anthropomorphisieren wird mit „Subjektivieren“ gleichgesetzt. Das Ei wird wie ein menschliches Subjekt behandelt, um allgemein etwas über Subjekte und Kontextrelationen zu lernen. Bei Object Personas wurde hingegen anthropomorphisiert, um Aussagen über die Objekte selbst (Wasserkocher, Kühlschrank, Tasse) und deren Beziehungen

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­zueinander und zu anderen identifizieren zu können. Ähnlich wie Viveiros de Castro es im Perspektivischen Multinaturalismus beschreibt, sollten Objekte aus deren Perspektive und in deren Kontext verstanden werden. Dabei wurde wortwörtlich versucht, den „Blick“ eines Objekts nachzuvollziehen, und zwar mithilfe von an die Objekte montierten Kameras. Derartige Kameras kamen auch in anderen, hier nicht analysierten Projekten zum Einsatz, in denen auf ähnliche Weise versucht wurde nicht-anthropozentrisch und dezentriert Zusammenhänge zu verstehen.57 Eine nicht-anthropozentrische Perspektive und das Zugestehen einer nichtmenschlichen Subjektposition ist bei diesen Projekten das Ziel. Bei Object Personas wird das Ding (also etwa der Wasserkocher) als etwas mit Perspektive (möglicherweise gar mit Bewusstsein), aber mit einer anders-als-menschlichen Perspektive ­verstanden. Die Vermenschlichung galt bei Object Personas allerdings als einzige für den Menschen mögliche Strategie, sich der nicht-menschlichen Subjektposition anzunähern. Anthropomorphisieren wurde bei Object Personas also als Be­dingung für ein nicht-menschzentriertes „Subjektivieren“ aufgefasst. Bei Co-Performers wurde dem Objekt – im besprochenen Fall einer Waschmaschine – nur noch menschenähnliche Handlungsfähigkeit und ein Geschlecht („he“) zugesprochen. Die Maschine wurde nicht mit weiteren menschlichen Qualitäten (Emotionen, Bewusstsein, Intentionen) ausgestattet. Die Handlungen von Mensch und Maschine wurden vielmehr auf eine Ebene gestellt. Mensch und Maschine wurden also beide als Subjekte in Bezug auf ihre Handlungen verstanden, aber nicht als grundsätzlich gleichwertig erachtet. Hier führte die Teil-Anthropomorphisierung letztlich dazu, dass die Agency der Technik sichtbar wurde und darüber hinaus die Unterschiede zwischen Mensch und Technik verständlich wurden. „Subjektivieren“ machte im Fall von Co-Performers spezifisch menschliche und spezifisch „maschinige“ Fähigkeiten trenn- und einschätzbar, was für Gestalter*innen zur wichtigen Information werden kann. Bei allen drei Herangehensweisen werden Dinge menschenähnlich behandelt. Die Zuschreibung der Subjektperspektive wird allerdings bei keinem Projekt als fehlgeleitete Projektion verstanden. Bei allen Projekten fand „Subjektivieren“ bewusst statt und das Resultat wurde zum Erkenntnisgewinn. Nur bei Object Character kann von einer Projektion gesprochen werden, wenn man Projektion als (objekt-)fremdes, in diesem Fall menschliches Bild begreift, das beliebig auf etwas appliziert wird. In allen drei Projekten wird Anthropomorphisierung allerdings zum Werkzeug, um reflexiv und dezentral Wissen zu erlangen, die Dinge moralisch ansprechbar zu machen oder sogar, um Unterschiede zwischen Dingen oder zwischen Dingen und Menschen zu verstehen. Damit entspricht dieser Anthropomormphismus keiner naiven, unbewussten Projektion, wie im Alten Animismus beschrieben, sondern weist eine besondere Nähe zu dem von Viveiros de Castro definierten „Subjektivieren“ auf. Ein weiteres Mal zeichnet sich klar ab, in welchem Verhältnis Alter Animismus und Neuer Animismus stehen. Während im Alten Animismus von einer naiven anthropomorphisierenden Projektion gesprochen wird, die Grenzen

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verunklart, erachtet der Neue Animismus das Spiel mit dem Anthropomorphismus im „Subjektivieren“ als bewusste Praktik zum Aushandeln von Grenzen und Beziehungen, was Erkenntnisgewinn impliziert.

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4.3  IMITIEREN IM DESIGN – SICH KÖRPERLICH IN ANDERE VERWANDELN 4.3.1 Mars Exploration Rover Mission Vorgehen – 2004 wurden zwei identische Erkundungsroboter, die Rover Spirit und Opportunity, von der NASA für die Mars Exploration Rover Mission58 zum Mars geschickt. Sie sollten ursprünglich nur drei Monate auf dem Mars funktionieren, waren aber unerwarteterweise über Jahre funktionsfähig (Spirit bis 2010, Opportunity bis 2018). Die Rover konnten allerdings nicht komplett autonom agieren, sondern mussten von der Erde aus gesteuert werden, was insofern kompliziert war, als Signale mit etwa 7–20 Minuten Zeitverzögerung ankamen. Echtzeitsteuerung war also nicht umsetzbar. Das NASA-Team musste täglich vorab programmieren, wie sich die Roboter verhalten sollten. Um die Roboter sinnvoll zu steuern, versetzte sich das Team der NASA (u. a.Geolog*innen, Astronom*innen, Ingenieur*innen) körperlich und performativ in die Roboter hinein. Eine dieser Personen, die die Kamera eines Rovers bediente, veränderte ihre eigenen Körperbewegungen beispielsweise so, dass sie eine physische Transformation in den Rover erleben konnte. So sollte es ihr möglich werden, dessen Lebenswelt und Körpermöglichkeiten zu verstehen und abzuschätzen.59 Ihr Mobiltelefon wurde in der spielerischen Transformation zu einem Stein, den sie als Rover fotografieren wollte (Abbildung 19). Sie beschrieb den Prozess wie folgt: So that’s [points to her cell phone on the desk] close-up rock, and then I know that there’s a disconnect [raises hands to either side of her face] between left and right eyes [on the Rover]. So I have to move my head like this [tilts her head down, rotates at the waist, tilting right hand higher than left], and I have my left eye here [pauses], and then this [swivels to the opposite side, keeping head down, with left hand higher than right] is my view from the right eye.60

Die Teammitglieder versuchten aus Perspektive des Rovers die Welt wahrzunehmen, also beispielsweise so zu sehen, wie der Rover „sieht“, statt die Wahrnehmung des Rovers an die menschliche Wahrnehmung anzupassen. Das heißt, sie lernten die verzerrte Sicht eines Fischaugenobjektivs richtig einzuschätzen, statt das Bild der Fischaugenverzerrung mit technischen Mitteln an die gewohnte menschliche Perspektive anzugleichen. Dabei musste beispielsweise erlernt werden, dass sich aus Perspektive des Roboters Objekte oft deutlich näher am „eigenen“ Körper befinden, als man aus menschlicher Perspektive gewohnt ist. Um die Bewegungsabläufe des Roboters besser einschätzen zu können, manipulierten die Teammitglieder außerdem ihre eigenen Körper, beispielsweise ihre Schultern, Ellenbogen und Armgelenke und spiel-

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Abb. 19: NASA-Mitglied simuliert mit den Händen die Kameras eines Rover.

ten die Bewegungen möglichst rover-ähnlich durch. Ein Rover-Fahrer beschrieb die ersten Erfahrungen, sich mit dem Roboter zu identifizieren, wie folgt: When we’re training new Rover drivers we can really tell that they get it when you start talking about moves with the IDD and they start moving their own arm to kind of show you what they mean, and they say you know we’re gonna swing this to the left and then move their elbow [moves his elbow to the left].61

Im Team wurden außerdem physische Hilfsmittel entwickelt, mit denen man sich noch genauer in den Roboter einfühlen konnte, beispielsweise Gewichte, die die Kraft des Roboters erfahrbar machten, oder eine Schablone, die die Wahrnehmungseinschränkung der Rover-Kamera simulierte.62 Die Identifikation mit dem Rover nahm im Team sogar derart zu, dass Teammitglieder eigene körperliche Verletzungen mit Defekten beim Rover in Verbindung brachten. [I]nterestingly, I screwed up my shoulder … and needed surgery on it right about the time that Opportunity’s IDD [arm] started having problems [with a stiff shoulder joint], and I broke my toe right before Spirit’s wheel [broke], so I’m just saying, maybe it’s kind of sympathetic, I don’t know, [laughs] I mean I don’t think there’s any magic involved or anything but maybe it’s some kind of subconscious thing, I don’t know.63

Neben dieser starken Identifikation thematisierten die Teammitglieder allerdings auch, dass durch ein Hineinversetzen in die Technik die Unterschiede zwischen Rover und Mensch deutlicher wurden. Ein Mitglied stellte fest:

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I have frequently tried to put myself in the Rover’s head and say, what do I know about the world“ […] „the Rover has senses that we don’t have … the Rover sees stuff that we don’t see, it sees into wave-lengths that we don’t see, it never really sees the world in color but it can see parts of the spectrum that we can’t.64

Hintergrund – Die Soziologin Janet Vertesi verbrachte mehr als zwei Jahre mit dem NASA Mars Exploration Rover Team und untersuchte im Team die Arbeitsprozesse. Sie nahm an Meetings teil und führte Interviews mit den Teammitgliedern. Vertesis Interesse lag insbesondere auf den Arbeitsweisen, den Konfliktlösungsstrategien, der Konsensbildung und der Teamstrukturierung. Dabei fand sie heraus, dass das Team der NASA sich körperlich und performativ in die zu steuernden Roboter hineinversetzte. Erkenntnisse – Vertesi wertet die Herangehensweise, sich in einen Roboter hineinzuversetzen, u. a.als Teambuilding-Maßnahme. Da sich alle Mitglieder im Team empathisch in den selben Roboter versetzten, seien sie durch den Roboter miteinander verbunden und würden so zusammengehalten. Es werde außerdem durch das Imitieren eine soziale Ordnung hergestellt und organisiert. Der Rover sei zu einer Art Totem für das Team geworden. „I suggest we might best understand these particular visualization practices as not only necessary for producing legible objects on Mars, but also as making the Rover present to the team in the role of team totem.“65 Vertesi stellt dar, dass die Team-Mitglieder von den Rädern des Rover als Füßen, von seinen Kameras als Augen, von seinen haptischen Sensoren als Tastsinn oder von seinem Ruhezustand als Nickerchen sprechen, obwohl der Rover an sich nicht anthropomorph gestaltet wurde. Sie macht deutlich, dass im Team nicht nur eine Art Anthropomorphisierung stattfindet, sondern umgekehrt auch Technomorphisierung praktiziert wird: But in the visual and gestural moments discussed above, the projection does not run from human to robot, with the Rovers acquiring human characteristics: the human beings on the mission must learn, imitate, and demonstrate what it is like to be a Rover on Mars. This move is thus in opposition to anthropomorphism: it is a technomorphic move in which team members take on the robot’s body and experiences as part of their practice and narrative of their work.66

Bezug zur Arbeit – Während der Mars Exploration Rover Mission wurde Technik imitiert, um diese auf dem Mars zu kontrollieren. Damit weist die Praktik in ihrem Ziel Ähnlichkeiten zu der von Rane Willerslev beobachteten Praktik „Mimesis“ bei den Yukaghier auf. Denn laut Willerslev findet dort „Mimesis“ statt, um das Gegenüber zu verstehen und zu manipulieren. Gleichzeitig stellt Willerslev dar, dass durch das „Imitieren“ auch eine gefährliche Nähe entstehen kann. Diese Problematik wurde in den Praktiken der NASA ebenfalls sichtbar. Wenn die imitierenden Rover-Team-Mitglieder beschreiben, wie sie Zusammenhänge zwischen eigenen körperlichen Be-

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schwerden und technischen Mängeln beim Rover beinahe als magische Verbindung erleben, erinnert dies an die Probleme, die Willerslev bei „Mimesis“ thematisiert, dass nämlich durch das „Imitieren“ die Unterschiede zwischen Wesen leicht aufgelöst werden können. Es kann unerwünschterweise eine völlige Identifikation, eine Metamorphose, passieren, bei der man zur Kopie wird. Dies kann letztlich Selbstbewusstsein und Reflexionsfähigkeit erschweren – ganz ähnlich wie beim Magischen Denken. Bewusst und kontrolliert eingesetzt, ist „Imitieren“ allerdings eine Praktik, durch die gleichzeitig sowohl Zusammenhänge als auch Unterschiede zwischen Wesen erfahrbar werden. Und tatsächlich wurden durch das „Imitieren“ der Rover bei der Mars Exploration auch die Unterschiede zwischen Mensch und Rover offensichtlich. Die besonderen menschlichen und die besonderen technischen Fähigkeiten wurden im Vergleich körperlich erlebbar, wie die Team-Mitglieder berichten. Die ambivalente Position zwischen den Identitäten Mensch und Rover machte also die Grenzen und Unterschiede zwischen beiden erfahrbar. Auch menschliche Besonderheiten wurden im Vergleich offensichtlich. Letztlich ermöglichte die unperfekte Kopie, ebenso wie es Willerslev für die „Mimesis“ beschreibt, Selbstreflexion.

4.3.2  Robot Empathy Vorgehen – Das Projekt Robot Empathy67 basiert auf einem Workshop, den der Designer Kevin Grennan ausrichtete. In diesem Workshop präsentierte Grennan Informationen über Robotersensorik. Anschließend bat er die teilnehmenden Personen, Prothesen zu konzipieren und zu skizzieren, die diese Sensorik für Menschen erfahrbar machen. Die Entwürfe sollten die Möglichkeit schaffen, die Welt wie ein Roboter wahrzunehmen. Grennan nutzte die Skizzen der Teilnehmenden schließlich als Inspiration, um dreidimensionale Prothesen aus Pappe zu bauen, die erlaubten, sich in den Körper eines Roboters hineinzuversetzen (Abbildung 20). Eine seiner Prothesen übersetzte etwa die menschliche Fähigkeit, Personen zu erkennen, in das schematische Wahrnehmungsvermögen von computergestützter Personen- und Gesichtserkennung. Durch diese Prothese, eine Art Kasten mit drei Gucklöchern, wurde der visuelle menschliche Sinn so eingeschränkt, dass andere menschliche Gesichter auf geometrisch messbare Merkmale wie Auge, Nase und Mund reduziert wurden. Eine andere Prothese übersetzte die Daten von Abstandssensoren in ein Tonsignalsystem. Die Abstände zu räumlichen Begrenzungen, etwa zu Gegenständen im Raum oder zu Wänden, wurden mittels in die Prothese eingelassenen Lautsprechern kommuniziert. Hintergrund – Grennans Projekt basierte auf seiner Beobachtung, dass die Frage der Mensch-Computer-Empathie nur sehr einseitig diskutiert wird. Es werde immer nur danach gefragt, inwiefern Computer ein empathisches Verhalten mit Menschen lernen könnten. Seine Prothesen sollten als experimentelle ­Ansätze

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Abb. 20: Prothesen des Projekts Robot Empathy, die die menschliche Wahrnehmung in jene eines Roboters übersetzen.

v­erstanden werden, diesen an Computer gerichteten Anspruch u ­ mzukehren. ­Grennans Ziel war, robotische Fähigkeiten, etwa Computer Vision (computerbasiertes Sehen) und die Funktionsweise von Algorithmen, anderen Menschen näher zu bringen. Die innere Logik von Robotern sollte nicht verbal erklärt werden müssen, sondern am eigenen Körper erfahrbar werden. Grennan will die Prothesen außerdem als Kritik an der Vermenschlichung von Technik verstanden wissen, er erachtet den Anthropomorphismus im Design als gefährlich.68 Erkenntnisse – Grennan vermutet, dass seine Prothesen als Instrumente für Ingenieur*innen hilfreich sein könnten. Sich in die zu entwickelnden Roboter hineinzuversetzen, könnte die Konstruktion unterstützen. Grennan setzt diesen Gedanken allerdings nicht selbst praktisch um. Er konfrontiert keine Roboterentwickler*innen mit seinen Entwürfen. Über Erkenntnisse in diesem Zusammenhang kann also nur spekuliert werden.69

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Bezug zur Arbeit – Grennans Projekt Robot Empathy liegt die Annahme zugrunde, dass Wissen über andere Entitäten (in diesem Fall über Roboter) generiert wird, wenn man sich selbst körperlich in diese verwandelt. Wie Viveiros de ­Castro für den Perspektivischen Multinaturalismus feststellt, entscheiden die unterschiedlichen Körper der unterschiedlichen Wesen, aus welcher Perspektive sie die Welt wahrnehmen. Wandelt man also den Körper, wandelt man gleichzeitig auch die Perspektive und erlangt Erkenntnisse über ein anderes Wesen und dessen Welt. Grennans Projekt ist also eng verwandt mit dem Perspektivischen Multinaturalismus, aus dem sich die Praktiken „Subjektivieren“ und „Imitieren“ ableiten. Durch die angestrebte körperliche Transformation ist Robot Empathy eindeutig der Praktik „Imitieren“ zuzuordnen.

4.3.3  Being the Machine Vorgehen – Die Designforscherinnen Laura Devendorf und Kimiko Ryokai luden in ihrem Projekt Being the Machine70 Personen dazu ein, Bestandteil einer Maschine, eines 3D-Druckers, zu werden. Dafür entwickelten sie eigene Hardware- und Softwarekomponenten. Die tragbare Hardware bestand unter anderem aus einem Laser-Pointer, montiert auf zwei Motoren. Die Hardware wurde auf einer Arbeitsplatte angebracht, sodass der Laser-Pointer mit Abstand zur Platte von oben die Punkte anzeigen konnte, an denen im „Druckprozess“ Material eingesetzt werden sollte. Die für das Projekt entwickelte Software machte über ein Interface den G-Code anschaulich, durch den normalerweise ein 3D-Drucker gesteuert wird. Die teilnehmenden Personen konnten über eine Tastatur zwischen den einzelnen Schritten im linearen „3D-Druckprozess“ hin und her navigieren, also sowohl über den Laser-Pointer als auch auf dem Bildschirm schrittweise die Abfolge des Produktionsprozesses nachzuvollziehen (Abbildung 21). Bei Being the Machine wählten die teilnehmenden Personen sowohl ein digitales Modell, das gewöhnlich für 3D-Drucker genutzt wird – etwa von der OpenSource-Plattform thingiverse.com – als auch das Material, mit dem sie dieses Modell „drucken“ wollten selbst aus. So wählte beispielsweise eine Person das Modell einer Treppe, das sie mit dem Material Ton umsetzen wollte, eine andere Person das Modell des Eiffelturms und das Material Sprühkäse. In dem Projekt Being the Machine wurden Teile und Aktionen eines 3D-Druckers vom Menschen ersetzt. Vom dinghaften Drucker selbst blieb nur noch ein Bildschirm und ein Laser-Pointer bestehen, die schrittweise den Personen kommunizierten, wo Material eingesetzt werden musste, damit das gewählte 3D-Modell entsteht. Devendorf und Ryokai luden Künstler*innen, Maker*innen und Studierende dazu ein, an Being the Machine teilzunehmen. Insgesamt 14 Personen zeigten Interesse und durchliefen den Prozess. Den teilnehmenden Personen wurde ein

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Abb. 21: Übersicht, erstellt von Devendorf und Ryokai, die den „Druckprozess“ bei Being the Machine veranschaulicht.

ge­wöhnlicher 3D-Drucker als Referenz und die extra für das Projekt entwickelte Hardware und Software von Being the Machine vorgestellt. Ihnen wurde außerdem deutlich gemacht, dass sie Being the Machine so interpretieren können, wie sie es wünschen und nicht gezwungen sind, der Maschine, etwa dem Laser-Pointer, strikt zu folgen. Sie ermutigten die teilnehmenden Personen die Spannung zwischen den menschlichen und „maschinigen“ Produktionsweisen zu explorieren. Devendorf und Ryokai beobachteten die teilnehmenden Personen beim Schaffensprozess und befragten sie im Anschluss über ihre Erlebnisse. Hintergrund – Wie Devendorf auf ihrer Webseite darstellt, sollte Being the Machine Werte infrage stellen, die 3D-Drucker ihrer Ansicht nach verkörpern. Ihrem Projekt ging beispielsweise die Frage voraus, ob die Arbeit mit 3D-Druckern immer durch Delegation von Arbeit an die Maschine bestimmt sein muss oder ob und ggf. wie auch die Kooperation zwischen Mensch und Maschine ein Arbeitsmodus sein könnte.71 Mit Being the Machine sollte das Aushandeln von Macht und Kontrolle untersucht werden. Ziel war, aktive und passive Rollen zwischen Mensch und Maschine bewusst zu irritieren und neu auszuhandeln.72 Dem Projekt ging die Annahme voraus, dass neue Erkenntnisse erlangt werden können, wenn der Mensch teilweise die Rolle der Maschine einnimmt: „In a way, we limit the freedom of human movement by turning it into the machine’s movement. It is this very constraint of mechanical movements we wanted humans to feel and experience.“73 Gleichzeitig sollte den Teilnehmer*innen Raum zugestanden werden, selbstbestimmt und anders als ein gewöhnlicher 3D-Drucker zu handeln, d. h. die menschlichen Möglichkeiten bzw. die menschliche Perspektive sollte nicht voll aufgelöst werden.

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Erkenntnisse – Devendorf und Ryokai unterteilten die Weisen, wie Being the Machine erlebt wurde, in vier Kategorien. Bei der ersten Kategorie, Machine as an Omniscient Helper, wurde die Maschine als Lehrkraft und der Mensch als ausführende Arbeitskraft verstanden. So versuchten die Teilnehmenden, deren Erlebnisse dieser Kategorie zugeordnet wurden, beispielsweise dem Laser so exakt wie möglich zu folgen. Sie waren dann oftmals frustriert, wenn ihr 3D-Ergebnis nicht exakt dem ausgewählten Modell entsprach. Bei Machine as a Collaborator with Unique Talents machten sich die Teilnehmenden während des Schaffensprozesses zunutze, dass die Maschine besondere Fähigkeiten hatte, die sie selbst nicht hatten (z. B.schnelle Kalkulation erstellen), und umgekehrt, dass sie als Menschen besondere Fähigkeiten hatten, die die Maschine nicht hatte (z. B.auf Unvorhergesehens reagieren). Diese Teilnehmenden hielten sich nur an jene Vorgaben der Maschine, die für sie selbst Sinn ergaben, und schafften sich eigene Freiräume. In der Kategorie Machine as a Generative Constraint fand eine künstlerische Auseinandersetzung mit dem Verhältnis Mensch-Maschine statt. Die Teilnehmenden gaben der Maschine bewusst die volle Kontrolle über den Prozess, um die „maschinige“ Wirkmacht sichtbar zu machen und sich von ihrer eigenen menschlichen Art der Arbeit zu entfremden. In der vierten Kategorie, Machine as a Symbol of Perfection, wurde Perfektion und Fehlerhaftigkeit bewusst zum Thema. Die Teilnehmenden wählten bewusst Materialien, die zu unvollkommenen Ergebnissen führen (wie etwa den Sprühkäse), und thematisierten so die Absurdität einer präzisen, aber unreflektierten Maschine oder die eigene Unvollkommenheit in Arbeitsprozessen. Devendorf und Ryokai hielten fest, dass ihr Projekt Being the Machine immer wieder Mensch und Maschine vergleichend nebeneinanderstellte. Die Eigenarten sowohl der Maschine als auch des Menschen würden, auch durch die Übersetzung von maschinenhafter in menschliche Arbeit, verständlich und sichtbar: „Framing the system as a process of translation allowed artists to understand the mechanics of 3D printing in terms that were familiar to their own practice.“74 Menschliche und „maschinige“ Arbeit wurden kontrastiert und so jeweils zum Thema. Bezug zur Arbeit – Bei Being the Machine wurde, anders als der Projekttitel vermuten lässt, nur ein Teil eines 3D-Druckers imitiert. Damit ein Teil der Arbeit vom Menschen übernommen werden konnte, mussten die anderen Bestandteile allerdings auch völlig neu gebaut werden. Letztlich imitierte also der Mensch in Kooperation mit einem neuartigen Gerät einen konventionellen 3D-Drucker. Damit passierte bei Being the Machine zwar einerseits „Mimesis“ oder „Imitieren“, aber gleichzeitig auch Kollaboration: Gemeinsam mit 3D-Drucker-Komponenten wurden, ähnlich wie es ein 3D-Drucker tun würde, Objekte geschaffen. Der 3D-Drucker war also nicht nur Vorlage für die „Mimesis“, sondern er bzw. die anderen 3D-Drucker-Komponenten wurden immer wieder als Gegenüber erlebt. Im Kontext dieser Arbeit ist besonders relevant, dass die Teilnehmenden durch das „Imitieren“ an Grenzen stießen und so die Unterschiede zwischen Mensch und Maschine deutlich wurden, ähnlich wie Willerslev es beschreibt. Teilnehmer*innen, die ­versuchten

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den Schaffensprozess eins zu eins zu imitieren, indem sie beispielsweise dem Laser so gut wie möglich zu folgen versuchten, scheiterten gezwungenermaßen an dem perfektionistischen Vorhaben. Ein 3D-Modell ähnlich exakt zu bauen, wie es ein 3D-Drucker tut, eine Kopie (des 3D-Druckers, des Schaffensprozesses), die Willerslev bei der „Mimesis“ als problematisch beschreibt, war nicht möglich. „Imitieren“ wirft laut Willerslev den Imitierenden auf sich selbst zurück und tatsächlich wurde bei Being the Machine vor allem erfahrbar, was Menschsein in Relation zum Techniksein bedeutet. Die Unterschiede wurden von den Teilnehmenden allerdings sehr unterschiedlich interpretiert. Während die einen das typisch Menschliche als Stärke erlebten und nutzten, nämlich beispielsweise auf menschliche Weise mit Unvorhergesehenem umgehen zu können, wurde von anderen das Menschliche als Schwäche verstanden, zum Beispiel nicht so präzise arbeiten zu können wie ein tatsächlicher 3D-Drucker.

4.3.4  Theater of Negotiations Vorgehen – Für das Projekt Theater of Negotiations75 trafen sich Ende Mai 2015 über 300 Personen, unter ihnen 210 internationale Studierende, Künstler*innen, Schauspieler*innen und Organisator*innen, in Paris im Théatre des Amandiers (Abbildung 22). In den Räumlichkeiten des Theaters simulierten die Teilnehmenden die UN-Klimakonferenz COP21 sechs Monate, bevor sie tatsächlich stattfinden sollte. Das Theater of Negotiations war also ein Pre-Enactment. Ungewöhnlich an dieser Simulation war, dass im Unterschied zur tatsächlichen Konferenz COP21 nicht nur die Interessen von Nationen repräsentiert wurden. Im Theater of Negotiations waren neben 24 Delegationen, in denen Staaten vertreten wurden, auch 18 Delegationen präsent, die nicht-nationale Gruppierungen und nicht-menschliche Phänomene wie den Ozean oder das Internet vertraten. Die Teilnehmenden hatten die Möglichkeit, sich vorab mit den Interessen der jeweiligen Entitäten zu befassen, die sie vertraten. Das Theater of Negotiations bestand aus zahlreichen Workshops und Plenarsitzungen, in denen Kompromisse zwischen den Delegationen ausgehandelt wurden. Es wurden nicht nur die CO2-Emissionen, sondern Visionen über die Zukunft und Wege zur Verwirklichung dieser Visionen diskutiert. Die neuen Formen der Repräsentation bedeuteten, dass gewöhnliche Hierarchien und Unterschiede aufgehoben wurden und somit beispielsweise eine „Fishermen’s Organisation“ mit der japanischen Regierung verhandeln konnte. Das Pre-Enactment wurde durch ein besonderes Szenenbild unterstützt. Den Delegationen standen beispielsweise Schilder zum Abstimmen, auf denen „Soil“ oder „Forests“ stand, zur Verfügung. Modulare Verhandlungstische konnten kombiniert und zu Postern umgewandelt werden. Zu den Verhandlungen wurde die Öffentlichkeit als Publikum eingeladen. Insgesamt dauerten die Verhandlungen 50 Stunden.

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Abb. 22: Teilnehmende des Theater of Negotiations verhandeln Kompromisse aus den Perspek­tiven mensch­ licher und nicht-menschlicher ­Entitäten.

Hintergrund – Das Projekt Theater of Negotiations wurde vom Programme d’expérimentation en art politique de Science Po (SEAP) konzipiert und federführend von Bruno Latour, Frédérique Aït-Touati, Laurence Tubiana und Mathilde Imer geleitet. Praktisch umgesetzt wurde es hauptsächlich vom Team des Théatre des Amandieres unter der Leitung von Philippe Quesne und dem Architekturkollektiv Raum­ laborberlin, das die Räume und Requisiten gestaltete. Dem Experiment lag die Annahme zugrunde, dass das Scheitern von Klimakonferenzen unter anderem auf eine anthropozentrische Form der Repräsentation zurückzuführen ist. Schließlich verhandelten bei Klimakonferenzen Staaten miteinander, deren Grenzen angesichts der globalen Krise des Klimawandels keine Rolle spielen dürften. Ziel des Projektes war, das Thema der CO2-Emissionen von den United Nations zu entkoppeln. Indem nicht-menschliche Entitäten in die Verhandlungen einbezogen wurden, sollte eine neue Form der Lösungsfindung provoziert werden. Das Projekt simulierte eine Konferenz, sollte sie aber nicht fingieren („faken“). Es ging den Initiatoren um ein tatsächliches Aushandeln und Machen im Spiel. Ziel war es, von dem ungewöhnlichen Format zu lernen und sich so für neue Formen der Verhandlungen inspirieren zu lassen. Erkenntnisse – Besucher*innen des Theater of Negotiations stellten fest, dass sich das Format Theater ausgesprochen gut dazu eignete, Nicht-Menschen zu Wort kommen zu lassen, da es im Theater Tradition hat, dass Dinge oder Naturphänomene von Menschen repräsentiert werden. Da im Theater of Negotiations weit mehr Delegationen vertreten waren als auf realen Klimakonferenzen, wurden die Verhandlungen allerdings auch komplexer und führten oftmals zu weniger befriedigenden Kompromissen.76 Immer dann, wenn Frustration aufkam, wurde es für die teilnehmenden Studierenden schwierig, in ihren zugeschriebenen Rollen zu ­bleiben. Sie vergaßen dann beispielsweise, für das Internet oder die Wälder zu

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­sprechen, und begannen ihre eigene Position zu vertreten. Identitätskonfusionen waren das Resultat: The overlapping identities of each student are starting to be exacerbated by group dynamics, pressure and tiredness. At this point, different groups are forming and proceeding to promote their own ideas, as students, not as DELEGATES anymore. Some do it within the framework of the simulation, some within the framework and outside the framework and some without of the framework.77

Deutlich wurde, dass während der Verhandlungen nie geschlossene Entitäten mit nur einer Stimme sprachen, denn, wie eine Beobachterin anmerkt: „The real is always more complex than what we think.“78 Bezug zur Arbeit – Im Theater of Negotiations wurden nicht nur einzelne nichtmenschliche Entitäten von Menschen imitiert, sondern ganze Gruppen z. B. die Wälder. Damit war das Projekt mit ganz gewöhnlichen Schwierigkeiten der Repräsentation konfrontiert. Komplexität musste bei der Repräsentation immer vereinfacht werden. Im Vergleich zu Parlamenten, die nur Menschen vertreten, kam hinzu, dass die Nicht-Menschen, wie das Internet oder die Weltmeere, ihre Repräsentanten nicht demokratisch wählen konnten. Die Delegationen, die diese Gruppierungen vertraten, konnten sich nicht nach den Interessen der Gruppe erkundigen. Repräsentation und Empathie mit nicht-menschlichen Entitäten basierte also auf zuvor erworbenen wissenschaftlichen Erkenntnissen. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, inwiefern es berechtigt ist, überhaupt von nicht-menschlichen Interessen zu sprechen. Einerseits zeigte das Theater of Negotiations deutlich, dass das Unterfangen, aus nicht-menschlicher Perspektive zu denken und zu argumentieren, kaum zu erreichen und immer auch spekulativ ist. Grundsätzlich ist schließlich auch die ökologische Krise in erster Linie ein menschliches Problem, an dessen Lösung weder die Weltmeere noch das Internet interessiert sind. Andererseits scheint der Versuch, sich empathisch in Nicht-Menschen hineinzuversetzen, gerade deshalb interessant, da der Mensch nur existieren kann, wenn auch andere existieren. Davon auszugehen, Nicht-Menschen hätten Interessen, liegt also im Interesse des Menschen. Erst wenn ein komplexes Problem wie die Erderwärmung aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet, verstanden und angegangen wird, lässt es sich für den Menschen lösen. Das Theater of Negotiations ist also ein Experiment, bei dem modellhaft eine Dynamik zwischen unterschiedlichen Entitäten transparent wurde. Die emergente Interdependenz aller Beteiligten wurde anschaulich – keine Entität existiert an sich. Die Teilnehmenden des Theater of Negotiations erlebten, ganz ähnlich wie die Yukaghier bei der „Mimesis“, Doppelperspektiven: ihre eigene und die zu repräsentierende Perspektive. Da sie in den Verhandlungen immer wieder aus ihrer jeweiligen Rolle fielen, fand ein Wechselspiel zwischen den Identitäten statt. Anders

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als bei der „Mimesis“ von Willerslev verwandelten sich die Teilnehmenden allerdings nicht physisch in die anderen Entitäten. Sie argumentierten für die Wälder, aber sie verhielten sich nicht wie ein Wald. Dennoch repräsentierten sie mit ihren Körpern die Interessen des Waldes. Sie selbst schlüpften in eine fremde Rolle und sprachen aus Perspektive der anderen, teils technischen, teils natürlichen Wesen. Sie erfuhren die fremde Perspektive damit in der Argumentation auch körperlich als ihre eigene.

4.3.5  Imitieren – Die vier Projekte im Vergleich In allen vier Projekten versetzten sich Personen körperlich in die Position von technischen Artefakten. Sie imitierten andere Entitäten, indem sie sich selbst wie das andere bewegten (Mars Exploration Rover Mission), aus der Perspektive des anderen wahrzunehmen versuchten (Robot Empathy), wie das andere arbeiteten (Being the Machine) oder aus Perspektive des anderen argumentierten (Theater of Negotiations). Bei Mars Exploration Rover Mission und Theater of Negotiations stand ein planerischer Gedanke im Fokus. Während die Rover und ihre Handlungen von Tag für Tag neu imitiert wurden, um ihre nächsten Stunden auf dem Mars erst zu antizipieren und dann zu steuern, schlüpften bei Theater of Negotiations Menschen in die Rollen von unterschiedlichen technischen Entitäten und Umweltphänomenen, um zukünftige Konflikte und Wechselwirkungen zwischen ihnen vorherzusehen und dann möglichst zu lösen. „Imitieren“ mit dem Ziel der Planung findet sich auch in anderen, verwandten Designprojekten wieder. So wurde beispielsweise am Theatre Lab der University of Southern Denmark eine Methode entwickelt, die Stakeholder Drama, Multi-Stakeholder Role-Play oder Multi-Stakeholder Scenario genannt wird.79 Designer*innen schlüpfen bei dieser Methode in die Rollen diverser Interessengruppen und diskutieren aus deren Perspektive Probleme oder spielen Konfliktsituationen, um die Folgen einer möglichen Innovation abzuschätzen. Seit 2015 werden bei dieser Methode auch Artefakte einbezogen. Während des Rollenspiels kommen also auch Dinge (etwa ein Kühlschrank) selbst zu Wort.80 Bei den Projekten Robot Empathy und Being the Machine stand nicht das Antizipatorische, Planerische, sondern ein anderes Ziel im Vordergrund: Durch „Imitieren“ fand hier ein Vergleich zwischen menschlichen und technischen Eigenschaften oder Fähigkeiten statt.81 Die Erfahrung, temporär etwas anderes als ein Mensch zu sein, oder genauer, in einer Zwischenposition zwischen Identitäten zu stehen, war bei diesen beiden Projekten zentral. Durch das „Imitieren“ wurden hier insbesondere Grenzen des Menschseins deutlich. Stärken und Schwächen der Technik und des Menschen konnten körperlich erfahren werden, etwa bei Being the Machine die menschliche Stärke zu improvisieren oder bei Robot Empathy die menschliche

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Schwäche, keine genauen Maßangaben zu Abständen in Räumen machen zu können. Auch bezüglich dieser vergleichenden Qualität existieren Verwandtschaften zu weiteren Projekten, bei denen ebenfalls nicht-menschliche – allerdings teils auch nicht-technische – Wesen imitiert wurden. In dem Projekt Who Wants to Be a SelfDriving Car? wurde ein Mixed-Reality-System geschaffen: Ein mit einem Joystick steuerbarer Wagen und eine VR-Brille ermöglichten die Welt aus Perspektive eines selbstfahrenden Autos zu erleben.82 Für die Projekte GoatMan und The Animimal Superpowers entwickelten Designer Prothesen, die es ermöglichten, sich in die Perspektive von Tieren zu versetzen, um etwas über das Menschsein zu lernen.83 „Imitieren“ kann darüber hinaus als Praktik auch eingesetzt werden, um die Technik selbst besser zu verstehen. Die Mars Exploration Rover Mission und Robot Empathy ermöglichten einen körperlichen Zugang zu Wissen über Technik. Wer versucht, ein Artefakt möglichst gut zu imitieren, muss sich mit ihm auf ungewöhnlich detaillierte Weise auseinandersetzen. Wie kann sich ein Rover verhalten, wenn ihm ein Hindernis im Weg steht? Wie kann ein Roboter unterschiedliche Menschen voneinander unterscheiden? „Imitieren“ eignet sich also dazu, komplexe Vorgänge innerhalb eines technischen Artefakts transparent zu machen. Dieses Potenzial der Praktik „Imitieren“ machte sich bereits in den 1990er Jahren der Designer John Maeda zunutze, als er im Projekt Human Powered Computer Experiment Studierende im Detail einen Computer imitieren ließ. Die Studierenden spielten in einer Performance mit unterschiedlichen Requisiten die Bestandteile und Prozesse eines Computers vom Datenträger Diskette bis zur Datenspeicherung und -übertragung.84 Anstelle anthropozentrischen Anthropomorphismus, den die alten Animismustheorien als irrational abwerten, findet beim „Imitieren“ Technomorphismus statt. Die Teilnehmenden technomorphisieren ihren eigenen Körper, sie verwandeln ihn bewusst in eine Quasi-Technik. Auf den ersten Blick werden, durchaus ähnlich wie beim anthropozentrischen Anthropomorphismus, Unterschiede zwischen Entitäten aufgehoben und es ist eine Vereinheitlichung zu verzeichnen. Auf den zweiten Blick wird jedoch klar, dass die vermeintliche Annäherung und Grenzverwischung eine kritische, reflexive Haltung und Abgrenzung zwischen Entitäten ermöglicht. „Imitieren“ schafft einen erkenntnisreichen Perspektivwechsel und konfrontiert die imitierende Person mit den eigenen Stärken und Schwächen im Vergleich zum Gegenüber. Diese Konfrontation zeichnet die animistische Praktik „Imitieren“ im Unterschied zu der ihr verwandten, im Design etablierten Prototypingmethode Wizard of Oz aus. Bei Wizard of Oz imitieren Designer*innen Technik nicht, um sich selbst oder das Andere in Relation zu begreifen. Sie simulieren in Nutzer*innentests hingegen Technik, die noch nicht funktionstüchtig ist, um die Technik zu optimieren.85 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass „Imitieren“ im Design das Potenzial bietet, (1) Wechselwirkungen zwischen Entitäten transparent zu machen, was sich als Methode planerisch nutzen lässt, (2) die Gemeinsamkeiten, aber

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s­ tärker noch die Unterschiede zwischen Mensch und Technik verständlich zu machen, (3) das komplexe Innenleben eines technischen Artefakts greifbar zu machen und (4) sich selbst sowohl als Subjekt als auch als Objekt zu verstehen und damit Selbstdistanz und Selbstreflexion zuzulassen.

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4.4  HUMORISIEREN IM DESIGN – ETWAS „NICHT ERNST“ UND „NICHT NICHT-ERNST“ NEHMEN In den vorgestellten Projekten spielte sowohl beim „Dividuieren“ als auch beim „Subjektivieren“ und beim „Imitieren“ der Humor eine tragende Rolle. Bei den Projekten, in denen keine Teilnehmendenbefragung stattfand, lässt sich über die komische Seite des Projekts nur spekulieren, etwa bei Acting Things. Doch in sehr vielen Projekten fand offensichtlich und durch die Forschenden dokumentiert, ein humorvoller Umgang mit den Praktiken statt – und dies, obwohl nur selten Humor intendiert war. Bei den Projekten Object Dating und Object Character, bei denen eine teilnehmende Beobachtung möglich war, konnte beobachtet werden, wie wir als Teilnehmende uns immer wieder durch Humor vom Geschehen distanzierten, um dann im nächsten Moment wieder ernsthaft über unsere Erkenntnisse zu sprechen, etwa darüber, wie sich das Ei beim Transport gefühlt haben könnte oder ob ein Locher besser zu einem Stück Papier oder einer Murmel passte. Es wurde viel gelacht. Ein ähnliches Verhalten lässt sich bei dem Projekt Object Persona vermuten – auch wenn in den Publikationen über das Projekt nicht explizit darauf verwiesen wird. Eine beleidigte Tasse? Ein aufmerksamkeitssüchtiger Wasserkocher in Konflikt mit dem Kühlschrank? Um derart über Gegenstände sprechen zu können, müssen Personen, die sich selbst als rational, aufgeklärt und vernünftig konzipieren, womöglich immer wieder auch scherzen und sich somit temporär distanzieren. Mit dem Bedürfnis nach Humor beim Ausüben der Praktiken scheint außerdem ein Schamgefühl verbunden. Es scheint die Sorge zu bestehen, dass man, wie es durch den Alten Animismus geschah, von anderen als naiv und esoterisch abgewertet werden könnte. Der Humor löst dieses Dilemma. Er ermöglicht, über die animistischen Praktiken und Erlebnisse zu sprechen, ohne sich selbst bloß zu stellen. Die schon zuvor zitierte Aussage einer*eines Teilnehmenden im Team der Mars Exploration Rover ­Mission ist hier aufschlussreich: [I]nterestingly, I screwed up my shoulder … and needed surgery on it right about the time that Opportunity’s IDD [arm] started having problems [with a stiff shoulder joint], and I broke my toe right before Spirit’s wheel [broke], so I’m just saying, maybe it’s kind of sympathetic, I don’t know, [laughs] I mean I don’t think there’s any magic involved or anything but maybe it’s some kind of subconscious thing, I don’t know.86

Durch Scherzen und Lachen wurde hier demonstriert, dass man sich und die eigenen Erfahrungen nicht vollständig ernst nimmt, was wiederum überhaupt erst ermöglicht, die Erfahrungen zu erleben und zu thematisieren. Das Erlebte kann nur real werden, da es nicht gänzlich ernst genommen wird. Auch bei Being the Machine

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wurde das Vorhaben, eine Maschine (3D-Drucker) zu imitieren, humorisiert, indem von einer teilnehmenden Person beispielsweise bewusst mit dem für einen 3D-Drucker absurden Material Sprühkäse experimentiert wurde. Aufschlussreich ist, dass sich die Teilnehmenden in den Projekten nie gänzlich distanzierten. Sie blieben involviert. Sie wagten Gedankenexperimente oder sogar Transformationen des eigenen Körpers, die aus rationaler Perspektive kindisch und naiv wirken könnten. Denn sie mussten sich auf die Praktiken einlassen, um Erkenntnisse zu erlangen. Ohne das Einlassen, nur auf Distanz, entsteht bei „Dividuieren“, „Subjektivieren“ und „Imitieren“ kein Gewinn. Der Humor diente dann dazu, die Praktiken temporär dennoch mit Abstand zu sehen, sich in den irrationalen Praktiken nicht völlig zu verlieren, was letztlich den Forschenden und Teilnehmenden der Forschungsprojekte überhaupt erst ermöglichte, die Praktiken zu praktizieren. Der Humor schafft also ein Wechselspiel zwischen Distanz und Nähe und erlaubt Kontrolle, so wie auch Willerslev das Prinzip der Praktik bei den Yukaghier beschreibt. Durch den Humor wird eine Balance gehalten. Ähnlich wie die Yukaghir, sind sich auch die Teilnehmenden der vorgestellten Projekte der Konstruiertheit der Praktiken bewusst, was die Praktiken aber nicht weniger erkenntnisreich und wirksam macht. Die Wirkung der Praktiken ist real, die Erkenntnisse sind gewinnbringend. Im Zusammenhang der Praktik „Imitieren“ (Mimesis) beschreibt Willerslev einen Zustand des „not me, not not-me“87. Ein ähnliches Wechselspiel der doppelten Verneinung lässt sich auch beim „Humorisieren“ in den Designprojekten identifizieren. Die Teilnehmenden nehmen die Praktiken zwar „nicht ernst“, aber auch „nicht nicht-ernst“. Diese Haltung ist auf den ersten Blick mit der Ironie verwandt aber unterscheidet sich doch deutlich. Weder wollen sich die Teilnehmenden der Projekte von ihren Aussagen vollständig distanzieren, noch wollen sie sich in polemischer Absicht gegen Andere wenden. Sie sagen nicht einfach das Gegenteil dessen, was sie eigentlich meinen. Sie bewerten andere nicht indirekt. Während die Ironie spöttisch, destruktiv und anklagend ist, ist der Humor gelassen, konstruktiv und reflexiv. Die Ironie wird in Kunst und Design seit der Jahrtausendwende zunehmend als eine fragwürdige Haltung erachtet und dabei auch mit dem Humor verglichen. Die Ironie sei feige und verantwortungslos, so die Kritiker*innen. Das Künstlerduo Com&Com, beispielsweise, griff 2008 zur Abgrenzung den von dem Schriftsteller Alex Shakar eingeführten Begriff der Postironie auf.88 In den ersten beiden Punkten ihres Postironischen Manifests heißt es „1. Wir leben im postironischen Zeitalter. Ironischer Zweifel ist nur noch zur Lebensart erhobene Unzufriedenheit. 2. Wir beginnen das Verfahren des Zweifelns anzuzweifeln.“89 Und weiter stellt Johannes Hedinger von Com&Com fest: „Wir sind müde geworden, ständig mit den Augen zu zwinkern, kunstvoll zu zweifeln und alles mindestens im zweiten Grad zu dekonstruieren. Nachdem die Ironie einen letzten Höhepunkt als spöttisches Schwert der Postmoderne erlebte, steht eine ironische Haltung heute eher dafür, Wahrheiten zu

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verschleiern, Problemen aus dem Weg zu gehen und jeden Schwachsinn damit zu rechtfertigen, dass es ja nicht ernst gemeint sei.“90 Während Com&Com unter Postironie Authentizität und den Mut zu Pathos und großen Gefühlen verstehen und dabei nach wie vor verunsichern, wie ernst sie es meinen und ob hier nicht eigentlich die Postironie selbst ironisiert wird,91 ist 2010–2011 in einer Ausstellung im Museum Morsbroich mit dem Titel Neues Rheinland. Die postironische Generation mit Postironie vielmehr eine „neue Hinwendung zu Ernsthaftigkeit, Engagement und Humor“ gemeint.92 Postironie lässt sich also als eine tertiäre Stufe der Ironie oder als Abwendung von der Ironie verstehen – oder als beides zugleich. Jedenfalls bringt sie eine ähnliche Ambivalenz mit sich wie das in dieser Arbeit dargestellte „Humorisieren“. Anders als beim Begriff „Humorisieren“ wird im Begriff Postironie allerdings nach wie vor die Ironie verhandelt. Auch die Postironie ist eine doppelte Verneinung. Sie ist nicht Ironie und gleichzeitig ist sie nicht Nicht-Ironie. Sie steht nach wie vor in einer Auseinandersetzung mit der Ironie selbst. Und auch wenn sie anders als die Ironie, als konstruktiv und bejahend gilt, dekonstruiert sie in erster Linie die Ironie selbst und scheint damit auch mit der von Latour geäußerten Kritik an der Kritik verwandt.93 Auch der Designforscher Mark Blythe und seine Coautor*innen kritisieren die Ironie – nicht in der Kunst, sondern im Critical Design und in der Design Fiction. Sie schlagen eine Designpraxis vor, die sie Seriously Silly Design Fiction nennen.94 Der Humor gilt bei Blythe et al. ähnlich wie es im Zusammenhang mit der Postironie geschieht, als konstruktive Alternative für die Ironie. Sie lassen Teilnehmende innerhalb eines Co-Designprozesses absurde oder gar alberne Ideen aus Pappe bauen, ausprobieren und präsentieren. Ihr Ansatz setzt bewusst auf einen humorvollen Umgang mit den eigenen Ideen und Prototypen. Durch diesen Humor würde Raum frei für eine spielerische aber dennoch kritische Auseinandersetzung. Es würden nicht wie bei Critical Design und Design Fiction üblich, durch Ironie und Satire Ideen verworfen bevor sie überhaupt ihr kritisches Potenzial entfalten könnten. Kritisch zu sein, bedeutet bei Blythe et al. also nicht, andere zu irritieren und ihnen den Boden unter den Füßen wegzuziehen.95 Eine direkte Auseinandersetzung mit der Ironie findet in den in dieser Arbeit beschriebenen Projekte nicht statt. Die Projekte wurden nicht als „postironische“ Statements konzipiert. Sie sind allerdings das, was im Zusammenhang mit der „Postironie“ und auch von Blythe et. al. als zukunftsweisend und gewinnbringend beschrieben wurde: Sie sind konstruktiv, bejahend und humorvoll. In den in dieser Arbeit dargestellten Projekten ist es den Teilnehmenden und Forscher*innen mithilfe des Humors möglich, sich bewusst naiv zu verhalten. Sie können all das praktizieren, was aus moderner Perspektive durch den Alten Animismus abgewertet wurde. Sie dürfen etwa Dingen eine Persönlichkeit zusprechen oder sich als Roboter verkleiden. Sie tun dies nicht, um sich über andere lustig zu machen oder sich von etwas abzugrenzen. Sie lassen sich hingegen temporär vollständig auf die Erfahrung ein – allerdings mit Humor, der sie darin unterstützt die

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­ raktiken zu kontrollieren, um so eben nicht tatsächlich unbewusst und unreflekP tiert zu werden. Die Praktik „Humorisieren“ ist also eine Metapraktik, die dabei unterstützt, die Praktiken „Dividuieren“, „Subjektivieren“ und „Imitieren“ als bewusste, kritische Praktiken produktiv zu erhalten.

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4.5  DAS POTENZIAL ANIMISTISCHER ­PRAKTIKEN IM DESIGN Weder in der Theorie noch in der Praxis wurde im Design bisher auf die Praktiken des Neuen Animismus Bezug genommen. Dennoch existieren, wie zuvor dargestellt, zahlreiche gestalterische Projekte, in denen mit den Praktiken des Neuen Animismus vergleichbare Methoden erprobt werden. Mithilfe des Neuen Animismus und mit den in dieser Arbeit identifizierten Praktiken konnten die Projekte neu interpretiert und eingeordnet werden, wenngleich sich die Initiator*innen selbst nicht explizit auf den Neuen Animismus beziehen. In allen Projekten wurde ein amoderner Zugang zu anderen Entitäten erlangt, also ein Zugang, der nicht auf der modernen Praktik „Objektivieren“ gründet. Das jeweilige Potenzial, das sich aus „Dividuieren“, „Subjektivieren“ und „Imitieren“ für das Design ergibt, unterscheidet sich allerdings. Beim „Dividuieren“ wird erst während der Praktik bestimmt, was die andere Entität für jemanden ist. Indem die Dividuierenden sich selbst dem Anderen nähern und eine „Wir-heit“ erleben, wird das Andere für sie zu etwas Bestimmten. Es wird exploriert: Wer oder was ist das Andere für mich in dieser konkreten Situation? So wurde etwa bei Object Dating ein Locher für eine Person zu einem Teammitglied (Subjekt), hätte aber für eine andere Person auch zu einem Türstopper (Objekt) werden können. Die Person selbst wandelte sich ebenso in Relation. Sie wurde beispielsweise zu einer Kollegin für das Teammitglied. Die Praktik „Subjektivieren“ hingegen macht das Andere probeweise von Anfang an zum Subjekt. Es wird exploriert: Was lerne ich über das Andere und dessen Lebenswelt, wenn ich es als mir ähnliches Subjekt verstehe? Beispielsweise wurde bei Object Persona ein Wasserkocher durchgängig als ein Wesen mit Emotionen und Intentionen interpretiert. Beim „Imitieren“ wird das Andere durch die eigene Transformation im Wechsel beinahe gleichzeitig als Subjekt und als Objekt wahrgenommen. Der*die Imitierende erlebt diesen Wechsel am eigenen Körper – mal ist er*sie Subjekt, mal Objekt für das Andere. Es wird exploriert: Was lerne ich über mich und das Andere und dessen Lebenswelt, wenn ich mich körperlich in das Andere transformiere? Charakteristisch für die Praktiken „Dividuieren“, „Subjektivieren“ und „Imitieren“ ist im Kontrast zum Objektivieren, dass das Andere nicht gelöst vom Kontext, sondern relational begriffen wird. Wenn man mithilfe dieser animistischen Praktiken Wissen generiert, generiert man es nicht über Andere, sondern mit Anderen. Wissen entsteht im Kontext und außerdem stets auch in Relation zu sich selbst. Es wird also immer auch Wissen über die eigene Person oder über das Menschsein generiert. Anschließend an die Analysen der einzelnen Projekte stellt sich die Frage, welches Potenzial „Dividuieren“, „Subjektivieren“ sowie „Imitieren“ und auch die

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Metapraktik „Humorisieren“ grundsätzlich für das Design bergen. Welches Wissen genau kann durch die animistischen Praktiken erzeugt werden? Im Überblick lassen sich aus den Betrachtungen der Designprojekte sechs wesentliche Wissenspotenziale ableiten: •

Das Innenleben von Dingen verstehen: Vergleicht man die Projekte, die im Design „dividuieren“, „subjektivieren“ und „imitieren“, fällt auf, dass beim „Dividuieren“ weniger komplexe Artefakte untersucht wurden, die meist analog funktionierten und nicht autonom agieren konnten, vom Locher, über einen Wachsklumpen bis zu einem stofftierähnlichen bodyProb. Beim „Subjektivieren“ hingegen wurden vermehrt komplexere Geräte, beispielsweise ein Kühlschrank oder eine Waschmaschine, untersucht. Die Praktik „Imitieren“ fand nun fast ausschließlich mit komplexen, technischen Geräten statt, die teilweise sogar autonom und proaktiv funktionierten und schon vorab starke Ähnlichkeiten mit dem Menschen aufwiesen – etwa die Rover der Mars Exploration oder die Roboter bei Robot Empathy.96 Diese Auffälligkeit mag ein der Projektauswahl geschuldeter Zufall sein, sie könnte aber auch darauf hinweisen, dass sich bestimmte Praktiken bei bestimmten Dingen eher anbieten als andere. Beim „Dividuieren“ wurde das Innenleben der Dinge durch körperliche Auseinandersetzung und körperliche Verbindung exploriert. Die Dinge benötigten also eine physische Seite, die einen wechselseitigen Dialog mit dem Körper des Menschen zuließ. Hierfür war es hilfreich, dass die Dinge analog und einfach waren, was allerdings nicht grundsätzlich Voraussetzung für das „Dividuieren“ im Neuen Animismus ist.97 Die Dinge, mit denen in den beispielhaften Design­ projekten dieser Arbeit „dividuiert“ wurde, waren simpel, offen und mehrdeutig. Sie konnten unterschiedlich interpretiert werden: Was tut das physische Objekt, wenn ich etwas mit meinem Körper tue? Was passiert mit uns? Was kann das Objekt für mich sein? Die Dinge hatten zwar ursprünglich kein komplexes Innenleben, doch ein mögliches Innenleben konnte individuell erfahren werden. Bei den Embodied Interviews etwa schälte sich das Innenleben während des „Dividuierens“ heraus. So wurde bei den analogen bodyProbs eine digitale, technische, unsichtbare Seite wahrgenommen, beispielsweise die Fähigkeit, schnelleres Laufen zu ermöglichen. Die Dinge, die in den Designprojekten hin-

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gegen „subjektiviert“ wurden, hatten meist ein komplexes, aber auf den ersten Blick nicht ersichtliches Innenleben.98 Befasst man sich mit einem Wasserkocher, einem Kühlschrank oder einer Waschmaschine, wird man ihr komplexes Wesen nicht vollständig erfassen, wenn man sie rein physisch nur mit dem eigenen Körper untersucht wie beim „Dividuieren“. Indem die Aktionen dieser Geräte erst aufgezeichnet wurden – über den Tag hinweg mit einer Kamera (Object Personas) oder mittels Listen (Co-Performers) – und sie dann mit dem Menschen auf die gleiche soziale Ebene gestellt wurden oder ihnen sogar eine Persönlichkeit zugeschrieben wurde, kamen zuvor unsichtbare Eigenschaften, Fähigkeiten und Beziehungen der Dinge zum Vorschein. So eignet sich „Subjektivieren“ womöglich in erster Linie dazu, die beziehungsreiche Existenz – insbesondere von digitalen oder komplexen mechanischen Dingen – offenzulegen. Auch beim „Imitieren“ wird die innere Komplexität eines technischen Artefakts transparent. Wer einen Rover imitiert, muss diesen von innen heraus in seiner Komplexität über die äußere Erscheinung hinaus begreifen. Dass hauptsächlich autonom agierende, dem Menschen ähnliche Dinge imitiert wurden, könnte darin begründet liegen, dass sich das Innenleben dieser Dinge durch den direkten körperlichen Vergleich im „Imitieren“ besonders eindrücklich offenbart. Die Ähnlichkeit, aber insbesondere auch die Andersartigkeit eines Ding-Innenlebens lässt sich, so die Beobachtung, gerade dann verstehen, wenn man das vergleichbare Ding nachahmt. Unterschiede zwischen Mensch und Ding verstehen: Vor allem durch „Subjektivieren“ und „Imitieren“ wurden in den Projekten Vergleichsmomente zwischen Mensch und NichtMensch möglich. Wenn bei Co-Performers Waschmaschine und Mensch als gleichberechtigte Akteure innerhalb einer Praktik gelten, und die Handlungen beider Akteure nebeneinandergestellt werden, lässt sich unterscheiden, welche Kompetenzen nur Menschen und welche nur Maschinen haben – und haben sollten. „Subjektivieren“ kann also, indem es temporär Kategorien überschreitet und Artefakte sowie Menschen als Subjekte interpretiert, deutlich machen, worin sich Mensch und Maschine unterscheiden. Beim „Imitieren“ liegt der Vergleichsmoment in der körperlichen Wahrnehmung der imitierenden Person selbst. Wer anderes, etwa

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einen Roboter, imitiert, lernt die Sensorik dieses Roboters am eigenen Körper im Vergleich zu den eigenen Sinnesorganen kennen. Und da man bei der Praktik „Imitieren“ das andere nie vollständig kopiert, bleibt automatisch immer eine erkenntnisstiftende Differenz zwischen Mensch und Imitator*in sowie zwischen Imitator*in und dem Anderen bzw. dem Roboter. Schließlich ist man beim „Imitieren“ immer ein Zwischenwesen bzw. beides zugleich: in diesem Fall Mensch und Roboter. Durch die Verwandlung des eigenen Körpers wird beantwortbar: Inwiefern nimmt das Artefakt die Welt anders wahr als ich? Welche Interessen hat es im Vergleich zu mir? Wie anders bewegt es sich? Oft wird schon während des Prozesses der Verwandlung deutlich, wo die Unterschiede zwischen Mensch und Artefakt liegen. So stellt sich etwa bei der Mars Exploration Rover Mission von Anfang an die Frage, welche Prothesen nötig sind, um den Rover mithilfe des eigenen Körpers zu simulieren. Außerdem treten während des „Imitierens“, wenn ein Nutzungsszenario aus Perspektive der Technik gespielt wird, die eigenen Grenzen, die menschlichen Stärken und Schwächen, zutage. Bei Being the Machine etwa erreichte niemand die Präzision eines 3D-Druckers. Einige Teilnehmenden lernten hingegen plötzlich im Vergleich zur Maschine die menschliche Fähigkeit der Improvisation zu schätzen. Wechselwirkungen zwischen Entitäten verstehen: Durch die animistischen Praktiken werden außerdem relational die komplexen Wechselwirkungen zwischen Entitäten – zwischen unterschiedlichen Dingen und zwischen Menschen und Dingen – verständlicher. Beim „Dividuieren“, etwa bei den Embodied Interviews wurde der Einfluss eines spezifischen Artefakts auf die eigenen Verhaltensweisen und Emotionen wahrnehmbar. Beim „Subjektivieren“, bei Object ­Personas beispielsweise, wurde deutlich, wie die unterschiedlichen Dinge innerhalb eines Haushalts zueinanderstehen, welches Ding mit welchem anderen Ding welche Berührungspunkte hat und wann die Dinge dem Menschen im Haushalt wie nahe kommen. Auch beim „Imitieren“, insbesondere beim Theater of Negotiations wurden komplexe Wechselwirkungen zwischen Wesen transparent. Hier konnte erlebt werden, wie minimale Veränderungen nur einer Entität/Delegation alle anderen Entitäten/Delegationen mitwandeln oder mitblockieren und damit das Ergebnis der g ­ esamten Verhandlung

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emergent bestimmt wurde. Indem beim „Imitieren“ modellhaft unterschiedliche Stakeholder repräsentiert werden können, sind auch vielschichtige Probleme (der Klimawandel bei Theater of Negotiatons) in ihrer Komplexität verständlicher und verhandelbar. Dinge als ethisch wirksam verstehen: Indem die Dinge durch „Dividuieren“, „Subjektivieren“ und „Imitieren“ dem Menschen nahe oder ebenbürtig werden, werden sie zu möglichen Dingen einer menschlichen Ethik, was durch das moderne Objektivieren derart nicht erreicht wird. Beim „Dividuieren“ lässt sich durch die temporäre Verbindung wahrnehmen, ob sich das Ding gut oder schlecht anfühlt, ob es positiv oder negativ wirkt. Insbesondere das „Subjektivieren“ bietet Potenzial, eine Art „Moral der Dinge“ zu verstehen. Bei Object Personas beispielsweise wurden Dingen gute und schlechte Intentionen oder angenehme und unangenehme Charaktereigenschaften zugesprochen. Diese Zuschreibungen waren keine zufälligen Projektionen, sondern sagten immer etwas über die Agency der Dinge aus. Die nicht greifbare Wirkmacht der vernetzten Dinge wurde durch „Subjektivieren“ moralisch ansprechbar. Durch das „Imitieren“ von Dingen wiederum wird am eigenen Körper erfahrbar, ob sich Aktionen und Fähigkeiten eines Dings richtig oder nicht richtig anfühlen. Wer beispielsweise einen Pflegeroboter imitiert, der seine Nutzer*innen wäscht, wird erkennen, dass es sinnvoll ist, wenn der Roboter keine dem Menschen vergleichbare visuelle Wahrnehmung kennt und der Roboter auch nicht durch aufgedruckte falsche Augen Sehfähigkeit vortäuscht. Sich selbst verstehen: Beim „Dividuieren“, „Subjektivieren“ und „Imitieren“ wird nicht nur Erkenntnis über Dinge an sich, sondern, anders als beim Objektivieren, zusätzlich Wissen über ihre Beziehung zu uns möglich. Aber sogar darüber hinaus kann durch die relationale Praxis Wissen über den Menschen selbst offensichtlich werden. Beim „Dividuieren“ kann sich die Person selbst in Beziehung zu einem Ding erfahren. Sie spürt nicht nur das Ding, sondern auch ihre eigenen ­Emotionen, Reaktionen und Handlungen mit dem Ding. Sie begibt sich bewusst in einen Zustand der Selbstwahrnehmung und Selbstaufmerksamkeit. Beim „Subjektivieren“ verschiebt sich die Aufmerksamkeit stärker auf das Ding, aber durch die Zuschreibung einer Subjektperspektive, etwa bei

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Co-Performers werden die menschliche und die dinghafte Perspektive vergleichbar. Dies ermöglicht es dem Menschen, seine eigenen Kompetenzen in Auseinandersetzung mit denen des Dings zu erkennen. Ihm wird auch, wie bei Object Persona, deutlich, in welcher Beziehung er selbst zu den unterschiedlichen subjektivierten Akteuren (Tasse, Kühl­ schrank, Wasserkocher) steht. Beim „Imitieren“ ist die Möglichkeit der Selbstreflexion ganz offensichtlich. Der „Imitierende“ wird auf seine spezifisch menschlichen Eigenschaften zurückgeworfen. Er erfährt körperlich, inwiefern er selbst anders als das Ding ist. Indem beim „Imitieren“ Technik körperlich und emotional erlebt wird, kann schneller verstanden werden, welche Eigenschaften und Fähigkeiten beim Menschen erhalten oder gefördert werden sollten, etwa die Fähigkeit der Improvisation und Kreativität im Vergleich zum 3DDrucker bei Being the Machine. Bei der Praktik „Imitieren“ wird also das verkehrt, was in Kapitel 2.1.3 für die Anthro­ pomorphisierung (Technik simuliert Mensch) festgestellt wurde: Durch die Aufhebung von physischen Unterschieden, etwa bei Robotern, können Erkenntnisse über das Nichtsih. das spezifisch Menschliche resultieren. mulierbare d.  Beim „Imitieren“ gilt dieses Erkenntnispotenzial in umgekehrter Weise: die Technomorphisierung (Mensch simuliert Technik) ermöglicht Selbstreflexion. Verstehen durch Annähern und Distanzieren im Wechsel: Beim „Dividuieren“ werden Dinge durch Nähe und relationale Interaktion verstanden. Dabei ist es jederzeit möglich, sich wieder zu distanzieren. Das Ding wird je nach Nähe und Distanz als Subjekt oder als Objekt – oder als etwas anderes außerhalb der dichotomen Kategorisierung – erlebt. Beim „Subjektivieren“ wird das Ding temporär als „Subjekt“ verstanden. Es wird dem Menschen bewusst gleichgestellt. Dabei kann der Perspektivwechsel jederzeit rückgängig gemacht werden und das Ding wieder zum „Objekt“ werden. Sowohl das „Dividuieren“ als auch das „Subjektivieren“ impliziert die Möglichkeit, Nähe und Distanz zu variieren. Während beim „Dividuieren“ und beim „Subjektivieren“ das Andere im Wechsel objektiviert und subjektiviert wird, objektiviert und subjektiviert sich beim „Imitieren“ die Person darüber hinaus auch selbst im Wechsel. Da beim „Imitieren“ eine Zwischenposition eingenommen wird – halb Subjekt für das Andere, halb Subjekt für sich selbst und

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gleichzeitig halb Objekt für das Andere, halb Objekt für sich selbst – oszillieren die Perspektiven. Durch dieses Oszillieren wird bei den in dieser Arbeit beschriebenen Projekten eine selbstreflexive Position möglich. Ähnlich wie die Praktik „Imitieren“ erlaubt auch die Metapraktik „Humorisieren“ ein Wechselspiel zwischen Nähe und Distanz, hier, um die animistischen Praktiken selbst zu kontrollieren. Durch „Humorisieren“ wird möglich, sich zu involvieren, ohne sich in einer Praktik zu verlieren. Anders gesagt: Humor schafft ­Abstand ohne vollständige Distanz. Mithilfe der Praktik „Humorisieren“ wird der Alte Animismus gewissermaßen mit ­eigenen Waffen geschlagen: Zwar werden durch die animistischen Praktiken Kategorien temporär aufgelöst, die aus moderner Perspektive Bedingung für Erkenntnis und Vernunft sind – der Mensch wandelt sich zum Artefakt oder das Artefakt wird als Subjekt interpretiert. Doch gerade, indem Verhaltensweisen, die vom Alten Animismus als naiv und irrational abgewertet wurden, in den Praktiken ganz bewusst und mit Humor eingesetzt werden, wird Reflexion und Bewusstsein der Weg geebnet. So lässt sich feststellen: In der Praktik „Dividuieren“ kommt das als problematisch erachtete Magische Denken bewusst zum Einsatz, in der Praktik „Subjektivieren“ findet ein Spiel mit dem als anthropozentrische Projektion verstandenen Anthropomorphismus statt und beim „Imitieren“ wird ein auf den ersten Blick naiver, aber letztlich Erkenntnis ermöglichender Technomorphismus praktiziert. Durch das bewusste Annähern an Dinge oder das bewusste Aufheben von Unterschieden schaffen die animistischen Praktiken erst ein neues, differenziertes Bewusstsein für die Unterschiede zwischen Mensch und Ding.

258  ANIMISTISCHE PRAKTIKEN IM DESIGN 

4.6  OSZILLIERENDES KRITISCHES DESIGN Aus den animistischen Praktiken und analysierten Projekten lässt sich in Abgrenzung zu dem in Kapitel 1.3 definierten Distanzierenden Kritischen Design (DKD) eine neue Haltung ableiten, die ebenfalls kritisch und reflexiv ausgerichtet ist. Eine kritische Praxis, die auf jener Haltung basiert, wird in dieser Arbeit als „Oszillierendes Kritisches Design“ (OKD) bezeichnet. OKD ist eine nicht-anthropozentrische Variante kritischen Designs und lässt sich vor dem Hintergrund der Theorien des Neuen Animismus verstehen. OKD basiert auf Nähe und Distanz zwischen Mensch und Artefakt im Wechsel. Statt Widerständigkeit in das Artefakt selbst einzuschreiben, etwa durch störende, verfremdete, dystopische und dysfunktionale Gestaltung, entsteht bei dieser Designpraxis Widerständigkeit zwischen Artefakt und Mensch durch bewusste Annäherung an das Artefakt. Der Fokus liegt auf der Beziehung. Menschen stellen sich versuchsweise auf eine Ebene mit Objekten und treten in einen direkten Dialog mit dem Objekt. Der Mensch nimmt also nicht von vornherein eine hierarchisch überlegene oder aktivere Position gegenüber dem Objekt ein. Während bei DKD das Objekt als Werkzeug oder Medium zur Kommunikation zwischen Menschen dient – es ist Mittel zum Zweck der Kritik – und passiv durch den aktiven Menschen manipuliert wird (z. B. ein Objekt wird verfremdet), entsteht eine ebenbürtigere Auseinandersetzung, bei der sich auch der Mensch durch das Objekt ansprechen und verändern lässt (z. B.in dem er sich selbst in ein Objekt hineinversetzt). Bei OKD setzen sich Designer*innen nicht-anthropozentrisch mit Dingen auseinander. Diese Designpraxis basiert immer sowohl auf Affizieren als auch auf Affiziertwerden. Dabei unterscheiden sich auch die Methoden, die im OKD zur Anwendung kommen, von jenen des DKD. Statt Distanz zum Gegenstand und rationale Reflexion zu provozieren – etwa durch Störung der Funktion am Artefakt – involvieren sich die praktizierenden Designer*innen bewusst emotional und körperlich in das Geschehen. Paradoxerweise sind es Vorgehensweisen, die aus moderner Perspektive ausdrücklich als unkritisch und naiv abgewertet wurden, die zentral für die reflexive Praxis sind. So wird durch physische und mentale Annäherung an Artefakte („Dividuieren“), durch das temporäre Angleichen oder Aufheben der dualen Kategorien Mensch und Artefakt („Subjektivieren“) oder durch das empathische Hineinversetzen in Artefakte („Imitieren“) Reflexion möglich. Allerdings passiert Annähern, Angleichen, Aufheben und Empathie bei OKD unvollständig – etwa im Sinne einer unperfekten Kopie beim empathischen „Imitieren“ – oder mit Humor („Humorisieren“). Erst die so ermöglichte Distanz durch Nähe erlaubt eine kritische Auseinandersetzung. Ohne temporäre Distanz entsteht ein Verwechslungs- und Verschmelzungszustand zwischen Entitäten, der nicht nur aus Perspektive des Alten Animismus abgewertet, sondern auch noch im Neuen Animismus p ­ roblematisiert

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wird. Während jedoch bei DKD mittels Ironie Fremdes abgewertet wird und eine deutliche Abgrenzung des Eigenen gegenüber dem Fremden erfolgt, entsteht durch den Humor ein subtileres Spiel zwischen Nähe und Distanz. Irrationalität wird nicht gänzlich abgelehnt, sondern mit Humor ernst genommen – was bei OKD keinen Widerspruch darstellt. Sowohl DKD als auch OKD sind Varianten kritischer Designpraxis im Sinne der in Kapitel 1.2.3 aufgestellten Definition. Sie erlauben Reflexion inklusive Selbstreflexion, Einsicht und Erkenntnis sowie Urteils- und Entscheidungsfähigkeit. Bei der distanzierenden Haltung liegt der Fokus auf der Gesellschaftskritik, bei der zwischen Nähe und Distanz oszillierenden Haltung auf der Unterscheidungsfähigkeit (im Sinne des altgriechischen Verbs κρίνειν, krínein, von dem das Wort Kritik abstammt und das [unter-]scheiden oder trennen bedeutet)99. Die auf dem Neuen Animismus basierende kritische Praxis ist prädestiniert dafür, dort angewendet zu werden, wo Unterschiede – etwa zwischen Mensch und Technik – schwer feststellbar sind und Grenzen neu oder kontinuierlich ausgehandelt werden müssen. Kritik passiert im Handeln und in der Interaktion. Sie basiert auf der Erfahrung, dass Erkenntnis über andere Entitäten gemeinsam mit den Entitäten in einem Wechsel zwischen Nähe und Distanz möglich wird. Statt irritierende, ironische Dinge in neutralen Räumen auszustellen oder durch störende Dinge Alltagshandlungen zu unterbrechen und so Reflexion auf Abstand zu provozieren, involvieren sich Designer*innen selbst in das zu untersuchende Geschehen und reizen eigene und fremde Grenzen aus. Sie erzeugen (Selbst-)Distanz durch Annäherung. Es geht bei dieser kritischen Praxis daher nicht darum, andere Menschen aufzuklären, sondern selbst – oft am eigenen Körper – Erkenntnis über die Zusammenhänge und Unterschiede zwischen den Dingen und über sich selbst zu gewinnen. Bei OKD liegt damit im Unterschied zum DKD der Fokus auf der Selbstreflexion und Selbstwahrnehmung. In Anlehnung an die fünf beschreibenden Kriterien des DKD100 lässt sich zusammenfassend festhalten: •

• • • •

Gestalter*innen agieren humorvoll als Autoethnograph*innen. Sie nehmen eine relationale Position ein und involvieren und distanzieren sich im Wechsel – sich selbst und Anderen gegenüber. Sie intendieren, sowohl sich selbst als auch andere wahrzunehmen und zu verstehen. Hierfür stellen sie temporär körperlich oder mental bewusst Nähe zu Anderen her. Andere Entitäten werden in Interaktion widerständig erlebt. Kritik, Reflexion und Erkenntnis werden durch einen Wechsel zwischen Nähe und Distanz möglich.

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Aus designwissenschaftlicher Perspektive kann die zwischen Nähe und Distanz oszillierende kritische Haltung als Beitrag für ein seit den 2010er Jahren kontinuierlich populärer werdendes Diskursfeld verstanden werden, in dem für „Non­ anthropomorphism in Design“, „More-Than Human-Centered Design“, „Xenodesignerly Ways of Knowing“ oder „Decentering the Human in Design“ plädiert wird.101 Die am Diskurs beteiligten Designwissenschaftler*innen grenzen sich explizit von Human-­Centered Design ab. Ähnlich wie in der designwissenschaftlichen Auseinander­setzung mit Techno-Animismus wird auch hier die nicht-anthropozentrische, dezentrierte Haltung im Design mit der zunehmenden Verflechtung von Mensch, Technik und Natur begründet. Nancy Smith, Shaowen Bardzell und ­Jeffrey ­Bardzell stellen fest: As designers are now faced with developing technology that exists within these complex socio-technical networks, new challenges have arisen that require a shift in thinking from traditional design practices that focus on human wellbeing, to more inclusive practices that emphasize a multiplicity of perspectives. Decentering the human, it should be noted, does not mean excluding human perspectives; nor does it mean placing animal, or other, perspectives at the center of design thinking. Rather, a decentering of the human in design blurs the boundaries between people and things, emphasizing the interconnectedness that is inherent in human/nonhuman assemblages; a decentering would promote news ways of approaching technology development that accounts for multiple and heterogeneous standpoints within urban spaces.102

Während die rein auf Distanz basierende kritische Haltung im Design einem Verständnis zu entsprechen scheint, das den Menschen autonom ins Zentrum rückt (auch im Sinne von Human-Centered Design), wird OKD zur kritischen Designpraxis für ein explizit nicht-anthropozentrisches Designverständnis. Schließlich erlaubt diese Praxis Unterschiede und Grenzen in einem Geflecht auszuhandeln, in dem Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt nicht kategorial bestimmt werden kann oder soll. Die zwischen Nähe und Distanz oszillierende Haltung ermöglicht ebenbürtig und relational, aber dennoch kritisch und reflexiv andere Entitäten und die eigene Subjektperspektive zu verstehen.

1 2 3

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Für eine Unterscheidung der beiden Forschungsfelder vgl. „Eine Arbeit für und über Designforschung“ in der Einleitung vorliegender Arbeit. Nicht alle würden sich selbst als Designer*innen oder Designforschende bezeichnen, sondern hingegen beispielsweise als Kunstforschende oder Soziolog*innen. Unter „Projekt“ sind in diesem Kapitel so unterschiedliche Formate gemeint wie eine Performance, eine empirische Studie, die Gestaltung und der Einsatz von Kostümen oder die Konzeption einer politischen Konferenz. Während bei einigen Projekten nur Videomaterial zur Verfügung stand, existierten bei anderen Projekten Veröffentlichungen oder Konferenzbeiträge, die das Vorgehen im Projekt dokumentierten. Manche

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­ rojekte wurden von den initiierenden Designforschenden bereits analysiert und publiziert. Bei einigen P der Projekte war ein persönliches Gespräch mit den Initiator*innen der Projekte möglich bei anderen konnte eine teilnehmende Beobachtung stattfinden. 5 Die Projekte, die in diesem Kapitel vorgestellt und analysiert werden, wurden durch Literaturrecherchen oder durch Präsentationen auf Fachkonferenzen identifiziert. Es konnten insgesamt 31 Projekte zusammengetragen werden. Der Praktik „Dividuieren“ ließen sich zehn Projekte zugeordnet, die einander allerdings deutlich glichen – in den meisten dieser Projekte wurden Status bzw. Funktion mehrdeutiger Objekte innerhalb performativer Aktionen zwischen Mensch und Ding definiert. Der Praktik „Subjektivieren“ wurden nur sechs Projekte zugeordnet. Vier dieser Projekte glichen einander stark – die Subjektperspektive erhielten Objekte hier jeweils durch das Anheften von Kameras an die Objekte. Der Praktik „Imitieren“ konnten insgesamt zwölf sehr unterschiedliche Projekte zugeordnet werden. Für jede der drei Praktiken („Dividuieren“, „Subjektivieren“, „Imitieren“) erfolgte eine Auswahl von drei bis vier Projekten. Dabei wurden explizit Projekte gewählt, deren Vorgehensweisen und Erkenntnispotenziale sich möglichst stark unterscheiden. Um die Vielfalt von „Imitieren im Design“ darstellen zu können, wurden in dieser Kategorie vier statt nur drei Projekte für eine Analyse ausgewählt. 6 Die Analyse des Projekts basiert auf einem Artikel über Object Theatre und die Methode Object Dating: Merja Ryöppy/Salu Ylirisku/Eva Knutz: „Exploring Power with Object Theatre“, in: Proceedings of the Nordic Design Research Conference – Nordes ’17 (2017), S. 1–7. Darüber hinaus konnte eine teilnehmende Beobachtung innerhalb des Workshops/Projekts während der Internationalen Summer School Theatre in Design in Kolding (Dänemark) stattfinden. 7 Ebd., S. 3. 8 „Theatre in Design“, https://sdudesign.sdu.dk/2016/08/22/phd-summer-school-on-theatre-in-design/ (letzter Zugriff: 20.04.2019). 9 „Theatre Lab“, https://www.sdu.dk/en/uddannelse/kandidat/it_produktudvikling/forsknin gen _bag_ studiet/theatrelab (letzter Zugriff: 20.04.2020). 10 Hier wurden Teilnehmende eines Workshops dazu aufgefordert, eins zu werden mit Objekten und sie von innen statt von außen zu erfahren. Vgl. Jacob Buur/Preben Friis: „Object Theatre in Design Education“, in: Proceedings of the Nordic Design Research Conference – Nordes’15 (2015), S. 1–8, hier S. 3. 11 M. Ryöppy/S. Ylirisku/E. Knutz: 2017, S. 6. 12 Ebd., S. 1. 13 Ebd., S. 7. 14 Die Analyse basiert auf: Judith Seng: Acting Things, Berlin: Universität der Künste Berlin 2013; Judith Seng: „Acting Things. Oder kann die Gestaltungsdisziplin von den performativen Künsten lernen?“, in: Judith Dörrenbächer/Kerstin Plüm (Hg.), Beseelte Dinge. Design aus Perspektive des Animismus, Bielefeld: transcript 2016, S. 119–134. Darüber hinaus wurde die Reihe Acting Things videodokumentiert und ist online einsehbar. „Judith Seng“, http://www.judithseng.de/ (letzter Zugriff: 27.06.2020). 15 Vgl. ebd., S. 120. 16 Vgl. ebd., 132 ff. 17 Ebd., S. 134. 18 Die Embodied Interviews wurden in unterschiedlichen Veröffentlichungen von Wilde selbst besprochen: Danielle Wilde/Kristina Andersen: „Doing Things Backward. The OWL Project“, in: Proceedings of the 21st Annual Conference of the Australian Computer-Human Interaction Special Interest Group: Design Open 24/7 (2009), S. 357–360; Danielle Wilde: „Embodying Material Ideation“, in: Proceedings of the 4th Participatory Innovation Converence – PDC’15 (2015), S. 386–393; Danielle Wilde/Anna Vallgårda/Oscar Tomico: „Embodied Design Ideation Methods. Analysing the Power of Estrangement“, in: Proceedings of the Conference on Human Factors in Computing Systems – CHI ’17 (2017), S. 5158–5170. Die Analyse basiert außerdem auf einer Webseite, auf der Wilde et. al. detaillierte Interviewdaten und Fotomaterial veröffentlichten: „Magic Technologies“,http://magictechnologies.blogspot.com (letzter Zugriff: 05.06.2020). Embodied Interviews sind Teil eines zweiteiligen Projekts namens OWL Projekt. Vgl. „OWL Project“, http://www.daniellewilde.com/swing-that-thing/the-owl-project/ (letzter Zugriff: 21.09.2020). 19 „The objects were intended to be surreal in the sense that they both engage and confuse the expectations of the wearer.“ D. Wilde/K. Andersen: 2009, S. 358. Vgl. auch D. Wilde: 2015, S. 388. 20 „How does it feel? What is it? What does it do? [Does] it contain […] some kind of technology that hasn’t been imagined before, that gave you magical powers, what kind of powers would they be?“ Ebd. 21 Vgl. D. Wilde/A. Vallgårda/O. Tomico: 2017, S. 5165. 22 D. Wilde/K. Andersen: 2009, S. 357. 23 D. Wilde: 2015, S. 389.

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D. Wilde/K. Andersen: 2009, S. 357. D. Wilde: 2015, S. 392. Vgl. „Magic Technologies“, http://magictechnologies.blogspot.com (letzter Zugriff: 05.06.2020). „This process leads to outcomes that originate in new modes of thinking and acting, rather than accepted practices“ ebd., S. 387. Vgl. D. Wilde/K. Andersen: 2009, S. 359. D. Wilde: 2015, S. 378. „The devices are a clear attempt to bring awareness and articulation closer to ‚magical thinking‘“ D. Wilde/K. Andersen: 2009, S. 359. Sie beziehen sich dabei auf den Science Fiction Autor Arthur C. Clarke und dessen drittes Gesetz für Technikvorhersagen: ‚Any sufficiently advanced technology is indistinguishable from magic‘. Weiter stellen sie mit James George Frazer (Alter Animismus) fest: „‚Magical thinking‘ can be described as basic misinterpretation of the causal relationships between emotions and desires, words and actions, and finally objects and people.“ Ebd., S. 358. Vgl. D. Wilde: 2015, S. 387. D. Wilde/K. Andersen: 2009, S. 357. Vgl. Kapitel 3.4 in vorliegender Arbeit. N. Bird-David: 2012, S. 43. Die Vorgehensweise wurde mehrfach publiziert. Die Analyse in dieser Arbeit bezieht sich auf die Veröffentlichungen: Nazli Cila/Elisa Giaccardi/Fionn Tynan-O ‚mahony/Chris Speed/Melissa Caldwell: „ThingCentered Narratives. A Study of Object Personas“, in: Proceedings of the 3rd Seminar International Research Network for Design Anthropology (2015), S. 1–17; Elisa Giaccardi/Chris Speed/Nazli Cila/Melissa L. Cardwell: „Things as Co-ethnographers. Implications of a Thing Perspective for Design and Anthropology“, in: Rachel C. Smith/Kasper T. Vangkilde/Mette G. Kjaersgaard et al. (Hg.), Design Anthropological Futures. Exploring Emergence, Intervention and Formation, London: Bloomsbury Academic 2016, S. 235–248; Elisa Giaccardi/Nazli Cila/Chris Speed/Melissa Caldwell: „Thing Ethnography“, in: Proceedings of the 2016 ACM Conference on Designing Interactive Systems – DIS ’16 (2016), S. 377–387. „Thing-Centered Design“, https://online-learning.tudelft.nl/courses/thing-centered-design/ (letzter Z ­ ugriff: 19.08.2020). N. Cila/E. Giaccardi/F. Tynan-O ’mahony/C. Speed/M. Caldwell: 2015, S. 2. „By generating object personas, designers can look into an object’s life and out to the social contexts in which the object exists to obtain a better understanding of the object and its use practices“ Ebd., S. 5. Vgl. E. Giaccardi/N. Cila/C. Speed/M. Caldwell: 2016. Einen Schritt weiter geht Interview with Things bei dem nicht nur Object Personas kreiert wurden, sondern Schauspieler*innen die Rolle des Objekts einnahmen, um stellvertretend ein Interview mit einem Ding zu ermöglichen. Da die Schauspieler*innen sich hier körperlich einfühlten, kann Interview with Things bereits als „Imitieren“ oder „Techno-Mimesis“ verstanden werden. Die Erkenntnisse bei Object Personas und Interview with Things sind allerdings ähnlich – bei beiden werden die Objekte in ihren Beziehungen zu anderen und anderem verständlich. Vgl. Wen-Wei Chang/Elisa Giaccardi/Lin-Lin Chen/Rung-Huei Liang: „‚Interview with Things‘. A First-thing Perspective to Understand the Scooter’s Everyday Socio-material Network in Taiwan“, in: Proceedings of the Conference of Designing Interactive Systems – DIS ’17 (2017), S. 1001–1012. N. Cila/E. Giaccardi/F. Tynan-O ’mahony/C. Speed/M. Caldwell: 2015, S. 10. Ebd., S. 11. Ebd., S. 13. „[A]s there is no possibility for a shared mental state between a human and an object, we describe objects’ life through our own capabilities and perspective.“ Ebd., S. 14. „These reworkings are especially relevant for design research in the emerging field of the Internet of Things, where data may be more diverse, complex or harder for humans to access and understand than images.“ E. Giaccardi/N. Cila/C. Speed/M. Caldwell: 2016, S. 387. Für die Analyse wurde folgender Aufsatz über Object Theater und die Methode Object Character herangezogen: M. Ryöppy/S. Ylirisku/E. Knutz: 2017. Darüber hinaus basiert die Beschreibung auf einer teilnehmenden Beobachtung innerhalb des Workshops/Projekts während der Internationalen Summer School Theatre in Design in Kolding (Dänemark). Daher vlg. zum Hintergrund des Projekts 4.1.1 in dieser Arbeit. Ebd., S. 2. Ebd., S. 6. Ebd., S. 5.

ANMERKUNGEN 263

50 „The effect on the participants is essentially similar to that of taking care of a baby, which was presented by Elias (1998) as an example of someone having power only in the effect of others’ actions.“ Ebd., S. 6. 51 Für die Analyse von Co-Performers wurden zwei Publikationen von Lenneke Kuijer herangezogen: Lenneke Kuijer/Elisa Giaccardi: „Co-Performance“, in: Proceedings of the Conference on Human ­Factors in Computing Systems – CHI ’18 (2018), S. 1–13 und Lenneke Kuijer: „Automated Artefacts as Co-Performers of Social Practices. Washing Machines, Laundering and Design“, in: Cecily Maller/Yolande Strengers (Hg.), Social Practices and Dynamic Non-humans. Nature, Materials and Technologies, Cham: ­Palgrave Macmillan 2019, S. 193–214. 52 Ebd., S. 193. 53 Vgl. ebd., S. 194. 54 L. Kuijer/E. Giaccardi: 2018, S. 10. 55 L. Kuijer: 2019, S. 203. 56 E. Viveiros de Castro: 2012b, S. 79. 57 Bei Davoli et. al. etwa, werden Kameras an Drohnen befestigt. Vgl. Lorenzo Davoli/Johan Redström: „Materializing Infrastructures for Participatory Hacking“, in: Proceedings of the Conference of Designing Interactive Systems – DIS ’14, S. 121–130. Bei DiSalvo und Lukens kann über eine Kamera die Perspektive eines Roboters im öffentlichen Raum nachvollzogen werden. Vgl. Carl DiSalvo/Jonathan Lukens: „Non­ anthropocentrism and the Nonhuman in Design. Possibilities for Designing New Forms of Engagement with and Through Technology“, in: Marcus Foth/Laura Forlano/Christine Satchell et al. (Hg.), From Social Butterfly to Engaged Citizen. Urban Informatics, Social Media, Ubiquitous Computing, and Mobile Technology to Support Citizen Engagement, Cambridge Massachusetts: MIT Press 2011, S. 421–435. Bei beiden Projekten geht es um das Dezentrieren der Perspektive, um so neue Designlösungen zu generieren. Nur bei Object Personas wird den Objekten eine Persönlichkeit zugeschrieben. 58 Für die Analyse wurden die Beobachtungen der Soziologin Janet Vertesi herangezogen, die diese in zwei Publikationen veröffentlichte: Janet Vertesi: „Seeing like a Rover. Visualization, Embodiment, and Interaction on the Mars Exploration Rover Mission“, in: Social Studies of Science 42 (2012), S. 393–414; Janet Vertesi: Seeing Like a Rover, Chicago: University of Chicago Press 2015. 59 „My body by the way is always the Rover, so right here [touches chest] is the front of the Rover, my magnets are right here [touches base of her neck], and my shoulders [touches shoulders] are the front of the solar panels and that’s [leans forward, splays arms out behind to either side at 45 degrees] the rest of it. So I have all kinds of things [i.e. antennae] sticking up over here [gestures to back], um [laughs]. But when I’m taking a picture of something in the atmosphere then it helps me to kind of look up [looks up and sits up straighter], being the Rover, and this is the front of me [touches chest] and then I put my head up [puts head up, looks back and forth] wherever, to whichever vector I’m looking at …“ J. Vertesi: 2012, S. 395. 60 Team-Mitglied nach ebd. 61 Team-Mitglied nach ebd., S. 402. 62 Vgl. ebd., S. 401. 63 Team-Mitglied nach ebd., S. 403. 64 Team-Mitglied nach ebd., S. 400–401. 65 Ebd., S. 406. 66 Ebd., S. 400. 67 Zur Analyse von Robot Empathy wurde Grennans Webseite herangezogen. „Robot Empathy“, http://www. kevingrennan.com/proposals-to-facilitate-robot-empathy/ (letzter Zugriff: 16.06.2020). Außerdem wurden offene Fragen via Email mit Grennan persönlich geklärt. Diese Analyse weist Überschneidungen mit einem bereits veröffentlichten Text über Robot Empathy auf. Vgl. J. Dörrenbächer: 2016. 68 „Although there are valid reasons for this research [Anthropomorphismus a. d. V.], and a good deal of egotism. I believe that this approach is fundamentally dangerous and foolish. Our relationships with these machines will be based on falsehoods and ignorance.“ (Email von Kevin Grennan vom 05.07.2019). 69 Vgl. allerdings folgende Studie über die Praktik „Imitieren“ bzw. „Techno-Mimesis“, in der Grennans Idee weiterentwickelt und umgesetzt wurde: J. Dörrenbächer/D. Löffler/M. Hassenzahl: 2020. 70 Über das Projekt existiert nicht nur eine Publikation, sondern auch online zugängliches Video- und Textmaterial. Vgl. Laura Devendorf/Kimiko Ryokai: „Being the Machine“, in: Proceedings of the Conference on Human Factors in Computing Systems – CHI ’15 (2015), S. 2477–2486; „Being the Machine Video“, https://www.youtube.com/watch?v=VGK za0WoW1E (letzter Zugriff: 04.10.2020); „Being the Machine Web“, http://beingthemachine.com/ (letzter Zugriff: 04.10.2020); „Being the Machine Devendorf“, http:// artfordorks.com/2014/06/being-the-machine/ (letzter Zugriff: 04.10.2020).

264  ANIMISTISCHE PRAKTIKEN IM DESIGN 

71 „Could there be a way to work with 3D printing that was more cooperative, allowing human and mechanical modes of making to inform one another?“ „Being the Machine Devendorf“, http://artfordorks. com/2014/06/being-the-machine/ (letzter Zugriff: 04.10.2020). 72 „Our system places the human between the machine and the materials in order to activate the materials while limiting the control of the machine.“ Ebd., S. 2479. 73 Ebd. 74 Ebd., S. 2485. 75 Die Analyse basiert auf einer Publikation, die im Anschluss an das Projekt die Ereignisse in Form eines fiktiven Theaterskipts dokumentiert – eine Art Dokufiction – und reale Statements von Teilnehmenden einbezieht. Vgl. Clemence Hallé/Anne-Sophie Milon (Hg.): A Theater of Negotiations. Make it Work. Théatre des Amandieres, Science po, Medialab 2015. Außerdem wurde ein Vortrag, den Latour 2015 an der Universität Köln hielt und der online archiviert ist, der Auseinanderstezung zugrunde gelegt. Vgl. „Latour, Climate Change: How to Make the Paris Climate Conference Work?“, https://www.youtube.com/ watch?v=1LpaSfvuE0o (letzter Zugriff: 24.06.2020). Die Analyse weist Überschneidungen mit einem ­bereits veröffentlichten Text über Theater of Negotiations auf. Vgl. J. Dörrenbächer: 2016. 76 „Each sentence had gone through a vetting process of some 42 delegations. This served to dilute each sentence to the point of transparency. There were lots of words, but very little substantive content. On a number of themes the commitments were actually less far-reaching than the current UN protocols on climate change“ C. Hallé/A.-S. Milon: 2015, S. 85. 77 Ebd., S. 76. 78 Ebd., S. 144. 79 Vgl. Jacob Buur/Henry Larsen: „Crossing Intentions in Participatory Innovation“, in: Proceedings of the Biennial Participatory Design Conference – PDC ’10 (2010), S. 251–254; D. Wilde/A. Vallgårda/O. Tomico: 2017. 80 So wurde beispielsweise in einem Workshop, dessen Ziel es war, einen Service zur Behebung eines technischen Schadens an einem Kühlschrank zu gestalten, auch das Essen im Kühlschrank gespielt und dessen Standpunkt in die Lösung einbezogen. Vgl. J. Buur/P. Friis: 2015, S. 6. 81 Bei Mars Exploration Rover Mission und Theater of Negotiations fand dieser Vergleichsmoment ebenfalls statt. Er war allerdings nicht von Anfang an Ziel der Projekte und wurde erst im Nachhinein thematisiert. 82 Vgl. „Who wants to be a self-driving car?“, https://www.move-lab.com/project/selfdriving/ (letzter Zugriff: 19.08.2020). 83 Vgl. C. DiSalvo/J. Lukens: 2011; Thomas Thwaites: GoatMan. How I Took a Holiday From Being Human, New York: Princeton Architectural Press 2016. 84 Vgl. J. Buur/P. Friis: 2015, S. 2 und „Human Powered Computer Experiment“, https://www.youtube.com/ watch?v=KaIxBIclGUQ (letzter Zugriff: 24.06.2020). 85 Bei der Methode „Wizard of Oz“ steuern Menschen technische Prototypen, die noch nicht voll funktionsfähig sind, indem sie deren Funktion simulieren oder das Gerät spielen – etwa einen Computer oder einen Roboter. Ziel ist allerdings Nutzungsszenarien zu testen und Nutzer*innen im Anschluss zu ihrem Nutzungserlebnis befragt werden. Anders als bei der Praktik „Imitieren“, steht nicht das Erlebnis des Imitierenden im Fokus (Wie ist es, ein Computer zu sein?), sondern das Erlebnis der Nutzer*innen (Wie war es mit dem Gerät zu interagieren?). Bzgl. Wizard of Oz vgl.: Ben Robins/Kerstin Dautenhahn/Janek Dubowski: „Investigating Autistic Children’s Attitudes Towards Strangers with the Theatrical Robot. A New Experimental Paradigm in Human-Robot Interaction Studies“, in: Proceedings of the International Workshop on Robot and Human Interactive Communication – RO-MAN ’04 (2004), S. 557–562. 86 Team-Mitglied nach J. Vertesi: 2012, S. 403. 87 R. Willerslev: 2007, S. 67. 88 Zur Postironie heißt es in dem Roman Der letzte Schrei: „Das postironische Bewusstsein verwischt die Grenzen zwischen Ironie und Ernst in einer Weise, die uns herkömmlichen Ironikern kaum noch verständlich ist, und schafft einen Bewusstseinszustand, in dem kritische und unkritische Reaktionen ununterscheidbar sind“. Alex Shakar: Der letzte Schrei, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2002, S. 212. 89 „Com&Com“, http://com-com.ch/de/archive/detail/14 (letzter Zugriff: 01.05.2016). 90 Johannes M. Hedinger: „Postironie. Geschichte, Theorie und Praxis einer Kunst nach der Ironie (Eine ­Betrachtung aus zwei Perspektiven)“, in: Kunstforum International (2012), S. 112–125, hier S. 113. 91 Com&Com waren in den 1990er und frühen 2000er Jahren bekannt für ihre ironischen Arbeiten zwischen Kunst und Design, in denen sie die Ästhetik und Sprache von Marketingprojekten persiflierten. Ihr Publikum war 2008 bereits darin geübt, ihre Arbeiten auf zynische und ironische Aussagen zu prüfen und Com&Com auf keinen Fall vorschnell ernst zu nehmen. Ihr Postironisches Manifest – die enthusiastisch

ANMERKUNGEN 265

vorgetragenen, großen Worte mit unklarem Inhalt – erinnerten an die Kommunikation von Markenwerten zum Unternehmensmarketing und lösten daher vorerst Ungläubigkeit aus. Vgl. Johannes M. Hedinger/Marcus Gossolt/Centre PasquArt Biel/Bienne (Hg.): Lexikon zur zeitgenössischen Kunst von Com & Com. La Realité Depasse la Fiction, Sulgen: Niggli 2010. 92 „Postironische Generation“, http://www.museum-morsbroich.de/index.php?id=archiv&no_cache=1&tx_ mbausstellungen_pi1%5Bexhibition%5D=44 (letzter Zugriff: 18.07.2020). Vgl. auch Markus Heinzelmann/Stefanie Kreuzer: Neues Rheinland. Die postironische Generation, Berlin: Distanz 2011. 93 Vgl. 2.3.1 in vorliegender Arbeit. 94 Vgl. Mark Blythe/Kristina Andersen/Rachel Clarke/Peter Wright: „Anti-Solutionist Strategies. Seriously Silly Design Fiction“, in: Proceedings of the Conference on Human Factors in Computing Systems – CHI’ 16 (2016), S. 4968–4978. 95 Vgl. Ebd., S. 8. 96 Nur bei Theater of Negotiations wurden vor allem Naturphänomene imitiert, die aber für den Menschen ebenfalls komplex erscheinen und auch Autonomie aufweisen. Ein Weltmeer ist kein Werkzeug, wie es etwa ein Locher ist. Die Praktik „Imitieren“ kommt, wie gezeigt, im Design auch bei Tieren zum Einsatz, die ebenfalls komplex und autonom sind. 97 So wäre es lohnenswert hier auch mit komplexen, technischen Dingen weiterzuforschen. Schließlich findet die Praktik bei den Nayaka, bei denen Bird-David „Dividuieren“ identifizierte, mit allen denkbaren Wesen statt – auch mit komplexen Mitmenschen. Es wäre durchaus interessant zu sehen, was passiert, wenn man die Praktiken und Objekte der in dieser Arbeit beschriebenen Projekte vertauschen würde – wenn man etwa einen Klumpen Wachs imitieren oder mit einen Rover durch „Dividuieren“ temporär zur „Wir-heit“ verschmelzen wollte. 98 Drei von fünf Dingen waren technisch komplexe Dinge, ein Ding hatte zwar kein technisches Innenleben aber ein auf den ersten Blick nicht ersichtliches komplexes soziales Leben. Nur das Ei fällt aus der Reihe. Es eignete sich möglicherweise besonders zur Subjektivierung, da es autonom zu agieren schien – die Gefahr, dass es vom Tisch rollen würde, war durch die Teilnehmenden nicht völlig zu kontrollieren. 99 Vgl. K. Röttgers: Kritik; R. Bittner: 2009, S. 134. 100 (1) Gestalter*innen agieren ironisch als Provokateur*innen. Sie nehmen eine möglichst autonome und distanzierte Position ein – Anderen (Subjekten und Objekten) gegenüber. (2) Sie intendieren, andere Subjekte aufzuklären oder Debatten über etwas auszulösen. (3) Hierfür gestalten sie Objekte als Anschauungsobjekte und präsentieren diese möglichst neutral. (4) Das Objekt wird widerständig konzipiert und repräsentiert als Kommunikationsmedien eine Idee. (5) Kritik, Reflexion und Erkenntnis werden durch Distanz möglich. 101 Vgl. C. DiSalvo/J. Lukens: 2011; Nancy Smith/Shaowen Bardzell/Jeffrey Bardzell: „Designing for Cohabitation“, in: Proceedings of the Conference on Human Factors in Computing Systems – CHI ’17, S. 1714– 1725, hier S. 1717; Joseph Lindley/Paul Coulton/Rachel Cooper: „Why the Internet of Things Needs Object Orientated Ontology“, in: The Design Journal 20 (2017), 2846–2857; Joseph Lindley/Paul Coulton/ Haider Akmal: „Turning Philosophy with a Speculative Lathe. Object Oriented Ontology, Carpentry, and Design Fiction“, in: Proceedings of the Design Research Society Conference – DRS ’18 (2018), S. 229– 243; Cecily Maller/Yolande Strengers (Hg.): Social Practices and Dynamic Non-humans. Nature, Materials and Technologies, Cham: Palgrave Macmillan 2019; Paul Coulton/Joseph G. Lindley: „More-Than Human Centred Design. Considering Other Things“, in: The Design Journal 22 (2019), S. 463–481; Johanna Schmeer: „Xenodesignerly Ways of Knowing“, in: Journal of Design and Science (2019), S. 1–23. 102 N. Smith/S. Bardzell/J. Bardzell, S. 1717.

266  ANIMISTISCHE PRAKTIKEN IM DESIGN 

5 Distanz durch Nähe. Eine Zusam­ men­fassung der ­Arbeit

Die Dinge, die Designer*innen gestalten und Designforscher*innen untersuchen, sind zunehmend schwer in ihrer technischen Komplexität zu fassen. Sie sind miniaturisiert, unauffällig verwoben, sprach- oder gestenbasiert steuerbar, anthropomorph, intelligent oder vernetzt und irritieren mit diesen Eigenschaften das tradierte Objektverständnis. In den Design- und Medienwissenschaften werden sie entsprechend bereits als Undinge, Halb-Dinge oder Nicht-Dinge bezeichnet. Sie lassen sich nicht ohne Weiteres begreifen, sind proaktiv, haben keine klaren Abgrenzungen zur Umwelt oder zum Menschen. Sie stellen sich dem Subjekt nicht stumm, passiv und widerständig entgegen. Da sich Subjektivität in Relation mit der Objektwelt herausbildet, verändert sich mit den neuen Objekten auch das Subjekt und das Subjektverständnis. Die Vorstellung eines reflexiven, kritischen Subjekts wird medien­wissenschaftlich und technikphilosophisch angesichts einer veränderten Gegenständlichkeit bereits infrage gestellt. Es ist schwer, das Eigene vom Anderen zu trennen, wenn das Andere kaum greifbar ist oder dem Eigenen immer ähnlicher wird. In dieser Arbeit wurde untersucht, wie Designer*innen sich kritisch mit Dingen auseinandersetzen können, die das tradierte Objektverständnis verunsichern. Dabei wurde erörtert, auf welche Weisen es möglich ist, Unterschiede zwischen Mensch und Technik auszuhandeln, um damit sowohl Eigenschaften des Menschen als auch der Technik besser verstehen und gestalterisch einsetzen zu lernen. Aus den Theorien des Neuen Animismus konnte eine kritische Haltung für das Design abgeleitet werden, bei der paradoxerweise kritische Distanz durch Nähe möglich wird (Oszillierendes Kritisches Design). Zentrales Resultat der Arbeit sind außerdem vier Praktiken, durch die Grenzen, Beziehungen und Unterschiede zwischen Entitäten von Designforscher*innen relational ausgehandelt werden können und die sich für die Gestaltung von technischen Dingen nutzbar machen lassen. Im ersten Kapitel wurde vorerst eine in den Designwissenschaften bereits als kritisches Design verhandelte Designpraxis vorgestellt, die darauf basiert, mithilfe verfremdeter und widerständig gestalteter Artefakte Handlungszusammenhänge zu stören oder mithilfe ironischer und dystopischer Visionen zu provozieren, um so Distanz zwischen Subjekt und Objekt herzustellen. Diese Designpraxis wurde in vorliegender Arbeit als Distanzierendes Kritisches Design (DKD) bezeichnet. Mit DKD lässt sich über Objekte reflektieren oder gesellschaftskritisch auf etwas außerhalb des Objekts verweisen. Wie deutlich wurde, wird diese Designpraxis unter HCI-Forschenden und für Forschung durch Design zwar als inspirierende Alternative zum User-Centered Design erachtet, aber zugleich als begrenzt, autoritär, belehrend, zynisch und destruktiv kritisiert. Auf der Suche nach Alternativen wurde im zweiten und dritten Kapitel untersucht, inwiefern nicht-anthropozentrische Theorien den Kritikbegriff im Design verändern oder erweitern können. Eine derartige Untersuchung ist durchaus auch ein fragwürdiges Unterfangen, schließlich sind Kritik, Reflexion und Erkenntnisgewinn in erster Linie menschliche Kategorien, die auf Rationalität und Autonomie eines aufgeklärten Subjekts basieren. So ist auch eine wissenschaftliche Arbeit

270  DISTANZ DURCH NÄHE. EINE ZUSAM­M EN­FASSUNG DER ­A RBEIT 

über nicht-menschzentriertes Denken, wie sie hier vorliegt, genau genommen in sich paradox. Einerseits wird sie von der Faszination getrieben, den menschlichen Standpunkt zu verlassen sowie menschliche Autonomie zu überdenken und andererseits versucht sie die Auseinandersetzung – ganz im aufklärerischen Sinne – logisch, rational, linear und möglichst objektiv zu strukturieren. Der Versuch, nichtanthropozentrisch zu denken und zu handeln, erweist sich gerade vor Hintergrund ökologischer und technischer Entwicklungen, und auch für diese Arbeit, als Bereicherung. Dennoch implizieren nicht-anthropozentrische Theorien Widersprüche, die im Verlauf der Arbeit fortwährend besprochen wurden, ohne sie aufzulösen. Im zweiten Kapitel wurde das nicht-anthropozentrische Kritik- und Verantwortungsverständnis innerhalb der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) und im Agentiellen Realismus (AR) zum Untersuchungsgegenstand. Aus rechts- und politikwissenschaftlicher Perspektive werden ANT und AR dafür kritisiert, keine Stellung zu beziehen und das kritische Subjekt aufzugeben. Doch gerade indem tradierte Hierarchien zwischen Subjekt und Objekt aufgelöst werden, entsteht auch Potenzial für eine kritische Haltung. Alle Artefakte, vom Stuhl bis zum Auto, können mit ANT und AR als soziale Akteure verstanden werden, was ihre soziale Wirkmacht verdeutlicht und somit kritisier- und verhandelbar macht. Außerdem wird der Blick geweitet, um neue Unterscheidungen zwischen Entitäten zu treffen. Doch da das erneute Abgrenzen, das Feststellen von Unterschieden und das Treffen von Entscheidungen nicht mehr Gegenstand von ANT und AR ist, bleibt unklar, wie Kritik und Verantwortung in relationalen Geflechten praktisch – auch für das Design – möglich sein sollen. Auch Konzepte wie die Reflexion und Selbstreflexivität spielen bei ANT und AR keine explizite Rolle. Designforscher*innen, die auf Grundlage von ANT und AR ein neues kritisches Design entwickelten, befürworten eine Kritik durch wertfreies Beobachten, kategorieloses Ordnen, aufmerksames Nachspüren und vorsichtiges Involvieren. Auf welcher Grundlage und auf welche Weisen sich Designer*innen konkret in interdependente Geflechte involvieren, Unterschiede zwischen Entitäten wahrnehmen und gestalterisch verantwortungsvolle Entscheidungen treffen könnten, ohne erneut auf die gewohnten anthropozentrischen Subjekt-Objekt-Kategorien zurückzugreifen, bleibt offen. Im dritten Kapitel wurde daher die Suche fortgesetzt. Untersuchungsgegenstand waren nach einer ausführlichen Herleitung aus dem Alten Animismus die Theorien des Neuen Animismus. Ähnlich wie bei ANT und AR wird in diesen Theorien ein nicht-anthropozentrisches Denken und vor allem Handeln beschrieben, das ohne kategoriale Unterschiede zwischen Subjekt und Objekt funktioniert und in dessen flacher Hierarchie der Mensch keine Sonderstellung einnimmt. Anders als bei ANT und AR ist im Neuen Animismus allerdings nicht nur das Verbindende, sondern auch das Trennende zwischen Entitäten Inhalt. Denn während im Alten Animismus der Animismus als Glaube galt, der kritisches Bewusstsein erschwert, verweist der Neue Animismus darauf, dass auch in einem relationalen Weltbild

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ohne kategoriale Trennung zwischen Subjekt und Objekt Unterschiede existieren. Diese Unterschiede werden durch Praktiken ausgehandelt und erlauben eine komplexe Differenzierung. Das macht sie für das Design zu hilfreichen Instrumenten im Zusammenhang mit technischen Dingen, die nicht mehr immer eindeutig kategorial einzuordnen, zu begreifen oder vom Menschen abzugrenzen sind. In vorliegender Arbeit konnten in den Theorien des Neuen Animismus vier Praktiken identifiziert werden, mit denen Unterschiede zwischen dem Eigenen und den Anderen, zwischen Subjekt und Objekt – oder besser: zwischen vielen unterschiedlichen Subjektausformungen – ausgehandelt werden. Diese Praktiken verdeutlichen, dass ein relationales Weltverständnis, das auf nicht-anthropozentrischem Denken und Handeln basiert und keine autonomen Subjekte kennt, Reflexion und Selbstreflexivität keineswegs ausschließt. Bei der Praktik „Dividuieren“ werden Grenzen zu anderen Entitäten temporär und performativ in einer „Wir-heit“ aufgelöst. Der Fokus liegt, ähnlich wie bei ANT und AR, auf Beziehungen und Wechselwirkungen zwischen Entitäten. Durch körperliche und mentale Annäherung tritt allerdings nicht nur Verbindendes hervor. Vielmehr wird auch Erkenntnis über Unterschiede möglich und damit die Wahrnehmung für Grenzen geschärft. Die Praktiken „Subjektivieren“, „Imitieren“ und „Humorisieren“ zielen verstärkt auf das Trennende sowie auf Fremd- und Selbstreflexion. Beim „Subjektivieren“ gibt es keine Grenzauflösung, sondern einen Grenzübertritt; indem dem Anderen eine Subjektperspektive zugestanden wird und man sich empathisch in das Andere hineinversetzt, wird ein bewusster Perspektivwechsel praktiziert. Das Trennende ist dabei ebenso präsent wie das Verbindende. Beim „Imitieren“ (Mimesis) wird das Trennende darüber hinaus körperlich erfahrbar. Der Imitierende erkennt im Nachahmen eines fremden Körpers Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen sich selbst und dem Anderen. Der Versuch, Unterschiede durch Nachahmung aufzuheben, macht Unterschiede erfahrbar. „Humorisieren“ dient als Metapraktik und erhält die anderen animistischen Praktiken durch ein Changieren zwischen „nicht-ernst“ und „nicht nicht-ernst“ aufrecht. Zentral ist der Zustand des oszillierenden Wechsels zwischen Nähe und Distanz. Bei den aus den neuen Animismustheorien abgeleiteten Praktiken wird genau das eingesetzt, was in den Theorien des Alten Animismus als problematisch und naiv abgewertet wurde. Es findet ein Spiel mit dem statt, was im Alten Animismus als bewusstseinseinschränkendes Magisches Denken, egozentrischer Anthro­ pozentrismus oder unaufgeklärter Fetischismus bezeichnet wurde. Es wird also Nähe zwischen Subjekt und Objekt erzeugt oder das Eigene auf das Andere übertragen – allerdings bewusst und kontrolliert. Der Animismusbegriff findet in den Designwissenschaften bereits Verwendung, insbesondere im Zusammenhang mit Technik. Unter Animismus oder Techno-Animismus wird in diesem Diskurs aber nicht das bewusste Spiel mit Magischem Denken, Anthropozentrismus oder Fetischismus zum Aushandeln von Grenzen verstanden, sondern das Magische Denken, der Anthropozentrismus oder der

272  DISTANZ DURCH NÄHE. EINE ZUSAM­M EN­FASSUNG DER ­A RBEIT 

Fetischismus selbst. Animismus wird als harmonisierendes Verbundenheitsgefühl durch Technik, als Projektion auf Technik oder als Täuschung durch Technik diskutiert, und zwar teils kritisch ablehnend, teils bejahend. Designforschende operieren bisher überwiegend mit einem alten Animismusbegriff. Und auch jene, die den Animismus als Praxis statt als Glauben begreifen, thematisieren nicht das Potenzial der Grenzziehung und Selbstreflexion, das sich in den in dieser Arbeit identifizierten vier Praktiken widerspiegelt. Durch die Identifikation der Praktiken „Dividuieren“, „Subjektivieren“, „Imitieren“ und „Humorisieren“ konnte der Neue Animismus auf das praktisch forschende Handeln von Designer*innen übertragen werden. Im letzten Kapitel wurden insgesamt zehn Projekte analysiert, an denen sich Aspekte der animistischen Praktiken nachweisen ließen. Es wurde anhand dieser Projekte untersucht, welches Potenzial die animistischen Praktiken für Designer*innen haben könnten und inwiefern sie ein nicht-anthropozentrisches kritisches Design ermöglichen. Durch die Praktiken können Erkenntnisse über (1) das Innenleben von Dingen erlangt werden. Gemeint ist die oft unsichtbare Wirkmacht, die sich meist erst im Handeln und in Relation zu Anderen offenbart. Außerdem brachten die Praktiken (2) Unterschiede zwischen Mensch und Ding zum Vorschein, denn es wurden Vergleichsmomente erzeugt und oft körperlich erlebt. Darüber hinaus konnten (3) Wechselwirkungen zwischen Entitäten nachvollzogen werden. Der Kontext von Entitäten wurde verhandelbar sowie planbar; die Komplexität von Prozessen in Zeit und Raum wurde verständlicher. Außerdem konnten (4) Dinge als ethisch wirksam verstanden werden. Sie wurden durch die Praktiken moralisch ansprechbar. In den Projekten wurde außerdem möglich, (5) sich selbst zu verstehen. Das, was das menschliche Subjekt ausmacht, wurde ausgehandelt. Partizipierende wurden mit ihrer eigenen Position, ihren spezifischen Fähigkeiten und ihren Unterschieden zu Anderen konfrontiert. Und all diese Erkenntnisse ließen sich letztlich durch (6) einen Modus zwischen Annähern und Distanzieren gewinnen. Subjekte waren in diesen Projekten nicht deshalb kritische Subjekte, weil sie sich möglichst neutral und distanziert zu ihrem Gegenstand verhielten, sondern weil sie einen Dialog eingingen, der sowohl auf Distanz als auch auf Nähe beruhte bzw. auf Distanz durch Nähe. Die animistischen Praktiken sind im Design insbesondere vor Hintergrund der technischen Dinge bereichernd, die im zweiten Kapitel dieser Arbeit skizziert wurden und an deren Gestaltung Designer*innen beteiligt sind. Diese Dinge, auch Undinge, Halb-Dinge oder Nicht-Dinge genannt, zeichnen sich durch „Intransparenz“, „Ununterscheidbarkeit“, „Kontaktlosigkeit“ und „Umweltlichkeit“ aus. Intransparente Dinge, etwa autonom agierende Haushaltsgeräte, werden durch „Subjektivieren“ ansprechbar und ihr unsichtbares Innenleben lässt sich fassen. Des Weiteren kann die Umweltlichkeit und Komplexität von vernetzten Dingen durch „Imitieren“ relational und performativ im Rollenspiel ausagiert und begriffen werden. Die Angst vor Selbstverlust, etwa durch das q ­ uasi-magische ­Verschmelzen

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in der Interaktion mit NUI, oder die Unsicherheit über genuin menschliche Fähigkeiten in Koexistenz mit anthropomorpher Technik wie dem Service-Roboter, werden durch die animistischen Praktiken, die Grenzen und Unterschiede erfahrbar machen, handhabbar. Die Praktiken erlauben innerhalb relationaler Geflechte Selbstreflexion. Bei der Praktik „Imitieren“ beispielsweise lernt der Imitierende immer sowohl die Eigenschaften des zu Imitierenden als auch im Kontrast die eigenen Eigenschaften verstehen. Zustände, die im Alten Animismus problematisiert wurden und im Zusammenhang mit Technik in den Design- und Medienwissenschaften erneut diskutiert werden (Techno-Animismus), nämlich Magisches Denken, Anthropozentrismus und Fetischismus, lassen sich also durch die Praktiken im Neuen Animismus verhandeln. Das Problem der Ununterscheidbarkeit von Eigenem und Fremdem und der Nähe zwischen Subjekt und Objekt wird mittels bewusst praktizierter Nähe und bewusst aufgehobener Unterschiede fassbar. Wer also bewusst das Verbindende zwischen dem Eigenen und dem Anderen fokussiert („Dividuieren“), lernt die aktive Wirkmacht des Anderen auf das Eigene kennen. Wer bewusst einem Objekt Subjektcharakter zuspricht („Subjektivieren“), macht es zum unterscheidbaren Gegenüber. Wer bewusst mit dem eigenen Körper Ähnlichkeit zu einem Objekt herstellt („Imitieren“), schafft ein Bewusstsein über die Unterschiede zwischen dem Eigenem und dem Anderen. Und wer das eigene Handeln und die eigenen Praktiken nicht immer nur ernst nimmt („Humorisieren“), kann Nähe zum Anderen erfahren, ohne die eigene Reflexionsfähigkeit zu verlieren. Das Problem der technikinduzierten Nähe zwischen Subjekt und Objekt wird folglich eben durch Nähe gelöst: Mit den animistischen Praktiken wird Nähe hergestellt, um Distanz wahrzunehmen und ggf. zu wahren. Eine durch technische Entwicklungen empfundene Unsicherheit über Grenzen und die damit verbundene Sorge vor Selbstverlust wird mit den beschriebenen Praktiken kontrollierbar. An den mit dem Neuen Animismus analysierten zehn Projekten, in denen die Praktiken „Dividuieren“, „Subjektivieren“, „Imitieren“ und „Humorisieren“ eingesetzt wurden, ließ sich eine kritische Haltung aufzeigen, die in Abgrenzung zu Distanzierendem Kritischen Design (DKD) als Oszillierendes Kritisches Design (OKD) bezeichnet wurde. Während durch DKD ein Reflexionsraum über meist vorab identifizierte Probleme mit Gegenständlichkeit möglich wird, entsteht durch OKD ein Reflexionsraum mit der neuen Gegenständlichkeit und innerhalb der Relationen zwischen Objekt und Subjekt. Bei dieser kritischen Designpraxis wird das Objekt nicht widerständig – also etwa dysfunktional oder befremdlich – gestaltet. Es wird hingegen in der Interaktion als widerständig erlebt. So entsteht eine Widerständigkeit, die nicht vom Objekt selbst ausgeht, sondern zwischen Objekt und Subjekt passiert. Statt kritische Abgrenzung durch Anschauungsobjekte zu ermöglichen, die als Informationsträger eine Kritik repräsentieren, werden Objekte zu Dialogpartnern und die kritische Abgrenzung findet innerhalb des Dialogs statt.

274  DISTANZ DURCH NÄHE. EINE ZUSAM­M EN­FASSUNG DER ­A RBEIT 

Gestalter*innen nehmen dabei keine autonome, distanzierte Position ein, weder anderen Menschen noch dem Gegenstand gegenüber, sondern involvieren und distanzieren sich im Wechsel. Nähe und Distanz wird sowohl zu Anderen als auch sich selbst gegenüber hergestellt. Es findet folglich auch Selbstdistanz und Selbstreflexion statt. Kritische Gestalter*innen des OKD agieren als humorvolle Auto­ ethnograph*innen. Sie nehmen ihre Praktiken „nicht ernst“ und „nicht nicht-ernst“ zugleich, statt wie beim DKD die Umwelt ironisch zu kommentieren, zu bewerten und zu provozieren. Obwohl sich Designer*innen in einem OKD-Projekt selbst in Handlungen mit Objekten involvieren, Objekte nicht per se als kategorial vom Menschen verschieden und auf Distanz behandeln und damit das tradierte, rationale Subjekt-ObjektVerständnis ignorieren, werden Grenzen zwischen Entitäten durch die animistischen Praktiken nicht grundsätzlich aufgelöst, sondern können immer wieder neu ausgehandelt werden. Ähnlich wie bei ANT und AR werden sowohl Objekte als auch Menschen als soziale, relationale und beziehungsfähige Entitäten verstanden. Anders als bei dem im zweiten Kapitel eröterten kritischen Design, das sich auf ANT und AR bezieht, erhält die kritische Abgrenzung zwischen Entitäten und die Selbstreflexivität allerdings einen hohen Stellenwert. Differenzen werden jedoch durch Handlungen und Interaktionen und nicht durch Definitionen oder Eigenschaften eines Dings an sich festgelegt. Diese differenzierende Haltung, die von einem Wechselspiel zwischen Nähe und Distanz gekennzeichnet ist, ist weder autoritär, belehrend oder destruktiv – wofür DKD unter Designforschenden in Misskredit geriet, noch ist sie naiv und blind für Unterschiede. Die reflexive menschliche Subjektposition wird nicht aufgegeben – was aus politikwissenschaftlicher Perspektive als Gefahr bei ANT und AR problematisiert wurde, sondern geschärft. Bei OKD wird weder ein privilegierter Standpunkt beansprucht, noch wird grundsätzlich auf einen Standpunkt verzichtet. Damit ist OKD eine nicht-anthropozentrische Variante kritischer Designpraxis und stellt eine Alternative oder Ergänzung zu DKD dar. Unter „technologischer Bedingung“, wenn Grenzen zwischen den Dingen untereinander und zwischen Dingen und den Nutzer*innen undurchsichtig sind, ermöglicht der Neue Animismus eine Neuausrichtung für kritisches Design. Animistische Praktiken, wie sie in dieser Arbeit im Neuen Animismus identifiziert ­wurden, lösen das Problem der Grenzverwischung eben dadurch, dass sie gewissermaßen den Gegner mit eigenen Waffen schlagen: etwa, indem Grenzen zum Anderen bewusst aufgehoben werden, um sie neu zu bestimmen, oder indem das Andere bewusst als Subjekt angesprochen wird, um Unterschiede und Distanz zu erfahren. Aus Dingen werden so mögliche Beteiligte einer menschlichen Ethik – Dinge werden moralisch ansprech- und kritisierbar. Die identifizierten Praktiken erlauben unter Bedingungen, in denen Grenzen nicht a priori kategorisch definiert sind, nicht nur Grenzerfahrung, sondern vor allem auch Selbsterfahrung. Sie lassen reflexive Selbstdistanz in Relation und in Interaktion mit Anderen zu. So ­entsteht eine

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Haltung der Kritik, in der kein Standpunkt eines autonomen Subjekts ­beansprucht wird. Diese Haltung ist eine kritische Haltung, die durch praktisches Involvieren und mit dem Wissen entsteht, dass das menschliche Subjekt immer Teil eines Relationsgefüges ist.

276  DISTANZ DURCH NÄHE. EINE ZUSAM­M EN­FASSUNG DER ­A RBEIT 

DANKSAGUNG Mein erster Dank gilt Prof. Dr. Cordula Meier und Prof. Dr. Kerstin Plüm für die Betreuung dieser Dissertation. Ich danke für die wertvollen Hinweise und die kontinuierliche Unterstützung. Darüber hinaus danke ich der gesamten Arbeitsgruppe „Ubiquitous Design“ der Universität Siegen, in der ich aktuell arbeite und forsche. Mein Dank gilt insbesondere Prof. Dr. Marc Hassenzahl, Dr. Diana Löffler, Dr. Matthias Laschke und M. Sc. Alarith Uhde für den fachlichen Austausch und die inspirierenden Gespräche. Des Weiteren möchte ich mich herzlich für die fachliche und vor allem persönliche Unterstützung, für die Geduld und den Zuspruch, bei meinen Freund*innen und bei meiner Familie bedanken.

DANKSAGUNG 279

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292 ABBILDUNGSVERZEICHNIS

ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS ANT Akteur-Netzwerk-Theorie AR Agentieller Realismus BCI Brain-Computer-Interfaces DKD Distanzierendes Kritisches Design HCI Human-Computer-Interaction IoT Internet of Things bzw. Internet der Dinge KI Künstliche Intelligenz NUI Natural User Interface OKD Oszillierendes Kritisches Design RBI Reality Based User Interface RFID Radio-Frequency Identification RUI Robotic User Interfaces TUI Tangible User Interface

ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS 293

Projektkoordination: Freya Mohr Herstellung: Anja Haering Layout, Covergestaltung und Satz: Sven Schrape Designkonzept BIRD: Christian Riis Ruggaber, Formal Papier: 110g/m2 Offset Lithografie: Repromayer GmbH, Reutlingen Druck: Beltz Grafische Betriebe GmbH, Bad Langensalza Vorliegende Publikation wurde 2020 von Judith Dörrenbächer (geboren in Saarbrücken) unter dem Titel „Animistische Praktiken für kritisches Design. Über das Aushandeln der Beziehung zwischen Mensch und Artefakt“ dem Fachbereich Gestaltung der Folkwang Universität der Künste zu Essen als Dissertation zum Erwerb des Grades Dr. phil. vorgelegt und am 11.05.2021 verteidigt.

Erstgutachterin: Prof. Dr. Cordula Meier Zweitgutachterin: Prof. Dr. Kerstin Plüm Library of Congress Control Number: 2022939295 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts. ISBN 978-3-0356-2636-0 e-ISBN (PDF) 978-3-0356-2639-1 © 2022 Birkhäuser Verlag GmbH, Basel Postfach 44, 4009 Basel, Schweiz Ein Unternehmen der Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston 9 8 7 6 5 4 3 2 1

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