Kritisches und Erbauliches: Drei Worte zum Egidy-Streit 9783111497792, 9783111131627

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Kritisches und Erbauliches: Drei Worte zum Egidy-Streit
 9783111497792, 9783111131627

Table of contents :
Inhalt
Vorbemerkung
„Gedanken, die sich unter einander verklagen und entschuldigen“
Wie sind unsere gebildeten Männer dem kirchlichen Leben wiederzugewinnen?
Ein echt menschliches Christusbild

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Kritisches und Erbauliches. Drei Worte zum

Cgidq-Ztreit von

Lic. Dr.

Paul Mehlhorn,

Prof, in Heidelberg.

Berlin, Druck und Verlag von Georg Reimer. 1891.

Inhalt.

1. „Gedanken, die sich unter einander verklagen und entschuldigen." Separat-Abdruck aus der Zeitschr. für praktische Theologie, 1891. 2. Heft. 2. Wie sind unsere gebildeten Männer dem kirchlichen Leben wieder­ zugewinnen? Separat-Abdruck aus der Prot. Kirchenzeitung. 1890, Nr. 24. Z. Ein echt menschliches Christusbild. Predigt über Mc. 6, 1—5, gehalten im Universitätsgottesdienst zu Heidelberg.

Vorbemerkung. Die Literatur zur Egidy-Bewegung, welche mir seit Ablieferung des ersten der nachfolgenden Aufsätze an die Redaktion der „Zeitschrift für praktische Theologie" noch bekannt geworden ist, und unter welcher ich Bornemann's „Bittere Wahrheiten" als besonders beachtenswerth erwähne, nöthigt mich, soviel ich sehe, weder zu Aenderungen an meiner Beurtheilung der Sache, noch macht sie den SonderAbdruck meines Gutachtens für weitere Kreise überflüssig. D. V.

„Gedanken, die sich unter einander verklagen und entschuldigen." (Separat-Abdruck aus der „Zeitschr. für praktische Theologie", 1891, 2. Heft.)

Wie 1809 der Husarenmajor von Schill den kühnen Entschluß faßte, mit seiner kleinen Schaar den Anstoß zu einer norddeutschen Volkserhebung gegen die napoleonische Fremdherrschaft zu

geben,

so

hat 1890

der Husaren-

Oberstlieutenant von Egidy mit seinen „Ernsten Gedanken"') das Signal gegeben, mit dem er nach und nach eine große zerstreute Armee von Gesinnungsgenossen zu sammeln hofft, um mit ihr die Kirche von einer die Geister drückenden Knechtschaft veralteter dogmatischer Ueberlieferung zu be­ freien.

Es sind, wie von den verschiedensten Seiten aner­

kannt worden ist, achtungswerthe Beweggründe, nicht bloße ') Ernste Gedanken.

Leipzig, Wigand, 1890.

vierte Zehntausend erschienen.

Bis jetzt ist das

8 Umsturzgelüste, die auch diesen kirchlichen Freischaarenführer auf d.en Kampfplatz getrieben haben. „tote wenige in der Kirche gelebt. zu Zeiten Mitglied

Herr von Egidy hat

Ein treuer Kirchgänger,

eines Kirchenvorstandes,

hat er in

seinem Hause kirchliche Sitte gepflegt und auch an seinen Soldaten Seelsorge geübt;

vor jedem

hielt er selbst seiner Schwadron

Abendmahlsgange

eine Beichtrede; seinen

Schlafsaal in der Kaserne hießen sie den Betsaal." *)

Es

gehört auch Muth und Opferwilligkeit zu seinem gegen­ wärtigen Unternehmen, und das Motto, das er unter seine Schrift setzt, Hutten's „Ich hab's gewagt", ist in seinem Munde keine bloße gespreizte Redensart. That die schärfste Mißbilligung

Wie Schill's

bei seinem König fand,

so wußte auch v. Egidy. daß das freie Wort eines Offiziers über kirchliche Fragen als disciplinwidrig beurtheilt werden und ihn seine Stellung kosten könne. die

materiellen

Folgen

fürchten brauchen,

einer

so fand

doch

Und mochte er auch

Amtsenthebung der Verfasser,

nicht

zu

wie man

hört*3),* in seinem Berufe selbst wahre Befriedigung.

Er

hat sich durch diese Erwägungen nicht abhalten lassen, seinem Gewissen zu folgen, er hat seine Schrift seinem Landes­ herrn selbst vorgelegt, und

die Folge war seine in der

„Christlichen Welt"3) mit Recht beklagte Entlassung aus dem Heeresdienst.

>) Christliche Welt 1891, Nr. I, S.7. *) Vgl. Sülze, „Ernste Gedanken" von M. v. Egidy. Prot. Kir­ chenzeitung 1891, Nr. 5, S. 110. 3) 1890, Nr. 47, S. 1093.

9 Müssen wir so für die Persönlichkeit des Verfassers der „Ernsten Gedanken"

eine

achtungsvolle

Sympathie

empfinden, so fragt es sich weiter: Wie haben wir uns zu dem Inhalt seiner Schrift und zu dem Verfahren, das er zu ihrer Verbreitung

angewandt hat,

welche Aussicht aus Erfolg

zu stellen, und

hat die von ihm vertretene

Sache? Der zweite dieser Fragepunkte läßt sich am kürzesten erledigen.

Herr v. Egidy scheint seine Schrift mit „un­

gewöhnlichem Kraft- und Geldaufwand" in allen Kreisen des Volkes vertrieben zu haben. nicht mit Rietschel*) Volksverführung

Ich möchte deshalb noch

die furchtbar schwere Anklage der

gegen ihn schleudern;

doch

ergiebt sich

deren Recht oder Unrecht natürlich erst aus der Betrach­ tung des Inhalts.

Daß jedoch v. Egidy seine Agitation

bis auf die unfertige Jugend ausgedehnt hat, muß auch ich

mißbilligen.

In den Köpfen unserer Gymnasiasten,

soweit sie überhaupt über religiöse Fragen zu denken und zu lesen begonnen haben, als genug.

gährt es vielleicht schon mehr

Hier ist nur eine regelmäßig fortgesetzte er­

zieherische Arbeit von Segen, eine methodische Erleuchtung, nicht ein vereinzeltes

Raketensignal,



eine regelrechte

Belagerung, beziehungsweise Entsetzung, nicht ein krachen­ der Bombenschuß.

Versäumt der Religionsunterricht an

einer höheren Schule seine

Pflicht, Wahrhaftigkeit und

l) Offener Brief an den Verfasser der Schrift „Ernste Gedanken" (Herrn v. Egidy) von Georg Rietschel, D. und Prof, der Theologie, erstem Universitätsprediger zu Leipzig.

2. Ausl.

Leipzig 1890. S. 18.

10

Frömmigkeit in untrennbarer Einheit zu Pflegen, so kann ein so flüchtiger Eingriff von außen auch keine Rettung bieten, wohl aber den Schaden noch vergrößern. Was sind es nun aber für „ernste Gedanken" die Herrn v. Egidy bewegen? Er findet, die Kirche, d. h. die „Einrichtung" (Anstalt) zur Pflege der Religion, des Gottes­ funkens in der Menschenbrust, erfüllt heutzutage ihren Zweck nicht, weil sie nicht die Wahrheit lehrt. Sie muthet den Menschen zu, Unmögliches zu glauben, insbesondere Wunder, deren Wirklichkeit auch dadurch nicht verbürgt werden kann, daß sie in der Bibel stehen, und die im Zusammenhang mit dem Dreieinigkeitsdogma stehende Lehre, daß Christus „ein Gott" sei. Auch die Vorstellun­ gen von Erbsünde, Gnade und Erlösung erregen Anstoß und sind viel mehr geeignet, das Gewissen abzustumpfen, als es zu schärfen. An einen Gott dagegen, und zwar an den Gott, der nicht erst durch Christus, sondern von Urbeginn an der Vater, die Liebe ist, kann und will v. Egidy glauben, denn er offenbart sich ihm täglich, stündlich; er empfindet ihn „in faßlicher Form" in seinem Innern. Daß ferner Gott die Welt erschaffen hat, das „sieht" er, und die Weltordnung „empfindet" er. Auch von dem Fort­ leben der Seele hat er „eine ganz klare Vorstellung". Hält nun die offizielle Kirche dieses Bekenntniß für ungenügend und fordert den Verfasser und seine Gesinnungs­ genossen auf, aus einer Gemeinschaft auszutreten, mit deren Lehre sie nicht übereinstimmen können, so erklärt v. Egidy vielmehr: „Ich will Christ bleiben, aber will es

11 ohne falschen Schein und Zweideutigkeiten sein."

Ist ihm

doch Christus, obgleich kein Gott, immerhin der Heiland, so­ fern er den Gott, der die Liebe ist, verkündet und uns zu der dem Willen dieses Gottes entsprechenden Vollkommen­ heit „und somit zum Heil unserer Seele verholfen" hat. Auf sein Evangelium „schwört" er.

Jeder aber, „der

durch seine Denkungsart und durch seinen Lebenswandel die Lehren Christi bethätigt, der ist ein Christ, und der braucht sich nicht erst durch ein erzwungenes Bekenntniß als Christ zu erweisen".

Aus Liebe zum Christenthum

also will v. Egidy in der Kirche bleiben und sie von ihren Irrthümern

befreien,

wiederherstellen helfen.

die Wahrheit

des

Christenthums

Die Auffassung Christi als eines

Menschen, überhaupt das rationelle Christenthum, verträgt auch das einfache Volk recht wohl, und ebenso ist es für die Missionsarbeit,

auch

unter geistig noch wenig ent­

wickelten Völkern, vorzuziehen.

Die Unterscheidung von

„Christen erster und zweiter Klasse, freien und gefesselten Christen", ist durchaus verwerflich. Nur wenn das Christenthum von vernunftwidrigem Ballast befreit ist, kann es auch gegen die Angriffe seiner Feinde erfolgreich vertheidigt

werden.

Die Macht

des

wahren Christenthums — und darum seine Zurückführung zur vollen Wahrheit und Wahrhaftigkeit — ist aber gerade jetzt dringend

nothwendig zur

socialen Frage.

Lösung

der brennenden

Sie kann nicht blos durch materielle

Mittel gelöst werden.

Geben will man heute wohl, aber

„es kommt darauf an, wie man giebt. — Liebe geht

12 dem Geben vor."

Sie entbindet natürlich

nicht vom

Geben, sondern sie bewirkt erst, daß fröhlich, schnell, reich­ lich und heilsam gegeben wird.

„Wie jeder dem Herzen

entsteigende Gedanke erst durch den Kopf geleitet, und jeder im Kopf sich bildende Gedanke erst noch einmal ins Herz geschickt werden soll — zur wechselseitigen Prüfung —, so auch die Gebe-Gedanken, aber beherrschen muß diese die Nächstenliebe."

Diese ist aber das Gebot des Christen­

thums, und wenn sich das Christenthum in der Erfüllung dieses

Gebotes

Tausende,

lebendig

erweist,

so

werden auch

viele

die jetzt sich grollend von aller Religion abge­

wandt haben, sich ihm wieder zuwenden. kehr wird ihnen wesentlich

erleichtert werden,

Kirche ihre unhaltbaren Zumuthungen Verstand fallen läßt.

Und diese Rück­ wenn die

an den gesunden

„So opfere sich denn die Kirche für

die Religion; sie gebe freiwillig ihre jetzige Gestalt

auf,

auf daß das Christenthum lebe!" Warum fühlt sich nun gerade v. Egidy berufen, diese Mahnung an die Kirche ergehen zu lassen?

„Weil's kein

anderer that, wenigstens in der Form nicht und in meiner so unmittelbar

zum Handeln

anregenden Absicht nicht."

Als Offizier aber glaubte er sich noch besonders dazu ge­ eignet, theils wegen seiner Menschen- und Lebenskenntniß, theils wegen seines stark ausgebildeten Verantwortlichkeits­ gefühls, theils wegen seiner Beherrschung der gesellschaft­ lichen Formen. Gerade weil er nichts eigentlich Neues sagt, aber die Ueberzeugung, die in unserer Zeit besonders weit ver-

13

breitet ist, zum Ausdruck bringt, so hofft v. Egidy auf ein vielstimmiges Echo, ja auf eine Reformbewegung, welche sogar die Scheidewände zwischen den verschiedenen Kirchen allmählich wegräumen wird. Diese Zuversicht hängt nicht nur mit einem naiven Glauben an die Richtigkeit der eigenen Anschauungen, sondern auch mit einem rührenden Glauben an die Menschheit zusammen, der auch in dem scheinbar steinernen Herzen doch nur einen Feuerstein er­ blickt, aus dem man mit dem richtigen Stahl Funken schlagen kann. Wie der Neubau zu gestalten ist, welcher den Bedürfniffen der Zeit entspricht, das will v. Egidy erst auf Verlangen darlegen. In einer nicht wesentlich weiterführenden Schrift') hat er'unterdessen erklärt, daß die Aufforderung dazu an ihn ergangen sei, und daß er ihr nachzukommen gedenke. Inzwischen haben die „Ernsten Gedanken" mannig­ fache Entgegnungen und auch eine Anzahl von zustimmen­ den Aeußerungen hervorgerufen. Es spielte sich ein förm­ licher Prozeß von Gedanken vor uns ab, „die sich unter einander verklagen oder auch vertheidigen"?) Eine ziemlich naive Gegenschrift ist das „Glaubens­ bekenntniß" des sächsischen Freiherrn von Friesen aus Rötha,s) das merkwürdigerweise auch schon in dritter Auf') Weiteres zu den „Ernsten Gedanken" von M- v. Egidy. Verlag des Bibliographischen Büreans, Berlin C, Alexanderstrahe 2; S. 5. 2) Die hierher gehörige Broschürenliteratur, die mir nur theilweise zur Hand ist, findet sich verzeichnet in der „Christlichen Welt", Jahrg. 1890, Nr. 51, S. 1179 und 1891, Nr. 4, @.75. s) Ein Glaubensbekenntniß, welches auch „Ernste Gedanken" ent-

14 läge vorliegt, — ein Zeichen,

wie lebhaft

Frage doch weite Kreise beschäftigt. Angelegenheit

des

lebendigen

Mosaik von Citaten, (wahrscheinlich Ist

das

zu

Celsus!)

die angeregte

Was soll in einer

Wahrheitsgewissens

der auch

sein Steinchen

beitragen

„geschichtliche thatsächliche Christenthum"

ohne jede Kritik der Quellen zu

diese

„der Heide Caelius" muß? denn

ermitteln, oder begeht

nicht der, welcher ohne jede Spur einer solchen mit diesem Rechtstitel um sich wirst, einen Cirkelschluß? denn wirklich

noch

immer

sich

erdreisten,

Darf man „grenzenlose

Freiheit im Genuß des irdischen Lebens" als den gemein­ samen Grundgedanken der Philosophie 'des vorigen Jahr­ hunderts, des Rationalismus und des modernen Liberalis­ mus hinzustellen, aus dem „die Socialdemokratie einfach ihre praktischen Konsequenzen zieht?" (S. 67)').

Ist es

nicht ein sehr bedenklicher Rath, daß jedermann, er möge sich zur Kirche stellen, wie er wolle, doch schon aus poli­ tischen Gründen das Christenthum, wie es Herr v. Friesen auffaßt, aufrecht erhalten helfen müsse? Und wirkt es nicht geradezu komisch, wenn der Verfasser seine Zuversicht, daß v. Egidy's Schrift keinen Eindruck in der Kirche hinter­ lassen werde, mit den Worten begründet: „Ich kann wenig­ stens nicht annehmen, daß der Papst, als Haupt der ka-

hält, von Heinrich Freiherrn v. Friesen auf Rötha.

In Kommission

bei Alexander Köhler in Dresden. ') Nicht viel sachlicher urtheilt übrigens auch D. von Strauß und Torney über den Rationalismus in seiner auf der folgenden Seite angeführten Schrift, S. 1—3 u. 31.

15 tholischen Kirche, oder irgend ein Landeskonsistorium als Vertreterin (?) der evangelischen Kirche auf diese Forderung eingehen würde?" Nein, derartige Vertheidigungsschriften können nur dazu dienen, unbefangenen Menschen das psychologische Verständniß für die offenbar übers Ziel schießenden Angriffe des Herrn v. Egidy zu erleichtern. Anders steht es natürlich mit den „Offenen Briefen" und dergl., welche die Theologen — Pfarrer, Professoren und Doktoren der Theologie — an den Verfasser der „Ernsten Gedanken" gerichtet haben'). Alle diese sind, trotz der Anerkennung der achtungswerthen Gesinnung v. Egidy's, welche in der Schrift des sächsischen Anonymus, des „evangelisch-lutherischen Geistlichen", bei der großen Differenz der beiderseitigen Standpunkte ganz besonders wohlthuend und ergreifend wirkt, doch darüber durchaus in Uebereinstimmung, daß sich v. Egidy „ohne sachliche Rüstung zum Heerführer aufgeworfen" hat, daß er einen j,kühnen Dilettantismus" vertritt. (Fricke S. 12 und 15.) In der That, wenn wir uns nicht auf den Stuhl dessen l) Offener Brief an Herrn Oberstlieutenant M. von Egidy von einem evangelisch-lutherischen Geistlichen. 3. Tausend. Leipzig, Hinrichs'sche Buchhandlung. — Offener Brief an den Verfasser der Schrift „Ernste Gedanken". Von Georg Rietschel, D. und Prof, der Theol. u. s. w. 2. Aufl. Leipzig, Wallmann 1890. — Offenes Sendschreiben an Herrn Oberstlieutenant v. Egidy u. s. w. von D. Viktor v. Strauß u. Torney, Dresden, Bleyl u. Kämmerer, 1891. — „Auch ernste Gedanken." Von Geh. Kirchenrath Prof. D. Fricke. Leipzig, Carl Braun, 1890. Vgl. ferner die Artikel in der „Christlichen Welt" von C. Gr. (1890, Nr. 47) und von R(ade) (1891, Nr. 1 ff.), in der Prot. Kirchenzeitung von Sülze (1891, Nr. 5).

16 versetzen, der in die Herzen sieht, sondern etwa hinter den grünen Tisch einer theologischen Prüfungskommission, kann unser Urtheil kaum anders lauten als: zählt,

gezählt,

so ge­

gewogen und zu leicht erfunden; nur müssen wir

Theologen, wenn wir dem Verfasser der „Ernsten Gedanken" seine starken religiösen, philosophischen, exegetischen Miß­ verständnisse und Irrthümer vorwerfen

wollen,

aus die

Antwort des Kämmerers aus Mohrenland gefaßt sein: „Wie kann ich verstehen, so mich niemand anleitet?" (Apg. 8, 31.) In diesem Sinne erkennt besonders Rade rückhaltlos eine Versäumniß und Schuld der offiziellen Kirche der Gegenwart an, obgleich er mit Recht auch von den gebildeten Nicht­ theologen ein größeres Interesse für religiöse Belehrung und Verständigung fordert, als sie gemeinhin an den Tag legen. Welches sind nun die Hauptirrthümer und Schwächen der Schrift v. Egidy's? 1) Die Kirche ist eine geschichtliche Größe; gehören zu ihrem Verständniß auch Kenntnisse,

daher

gewisse geschichtliche

insbesondere zum Verständniß der protestan­

tischen Kirche eine klare Vorstellung von den wesentlichen Triebfedern der Reformatoren und der reformatorischen Be­ wegung.

In dieser Beziehung aber hält Rietschel (S. 9)

seinem Gegner wohl mit Recht vor:

„Das Lutherjahr ist

durch unser Volk gegangen, und Sie haben bis heute auch nicht eine einzige ordentliche Lebensgeschichte Luther's, auch nicht eine einzige Schrift Luther's überhaupt nur gelesen, sonst könnten Sie nicht solche unglaublich verwirrte Vor­ stellungen haben."

17 2) Damit hängt weiter v. Egidys höchst unvollkommener Begriff vom Glauben zusammen. Wer den Glaubens­ helden Luther wirklich kennt, der kann nicht, wie es v. Egidy noch in seiner zweiten Schrift (S. 7) thut, die Definition ausstellen: „glauben — nicht wissen — vermuthen — sich vorstellen; dagegen: überzeugt sein — bestimmt wissen — bewußt durchdrungen — sich darauf verlassen." Er würde gerade das „Sichverlassen", das hingebende Vertrauen auf den Gott, der durch Christus uns sein innerstes Herz erschlossen hat, als das Wesen des evangelischen Glaubens soffen, der nun nicht mehr der Gesinnung gegenübergestellt werden kann, wie es in den „Ernsten Gedanken" (S. 24) geschieht, sondern vielmehr selbst Gesinnungssache ist. 3) In Wechselwirkung mit diesem verkehrten Glaubens­ begriff steht die verfehlte Schriftauslegung des Versaffers. Daß er mit Hebr. 11, 1 nichts Rechtes anzufangen weiß (Vgl. „Ernste Gedanken", S. 11) ist ihm schon so vielfältig dargelegt worden, daß ich daraus verzichten darf, es nochmals zu thun. 4) Nach all' diesen Irrthümern, die sich auf die Ge­ schichte, das Wesen und die Urkunde des christlichen Glau­ bens beziehen, kann es uns nicht überraschen, wenn auch der Inhalt des christlichen Glaubens sich Mißverständnisse und wesentliche Verkürzungen von E. gefallen lassen muß. Mit Fug und Recht ist ihm von den verschiedensten Seiten entgegnet worden, daß es nicht in der Absicht der Kirche liege, zu leugnen, daß Christus wahrhaftiger Mensch ge­ wesen sei, was ja auch Luther in der Erklärung des 2. Kritisches und Erbauliches. 2

18 Artikels ausdrücklich betone, und daß sie niemals Christus als „einen" Gott habe bezeichnen wollen, daß es vielmehr nur darauf ankomme, festzustellen, daß Christus wirklich der Weg zum Einen, wahren Gott, die Pforte des Himmels fei, daß Gott thatsächlich in Christo gewesen und zu finden sei, daß, wie auch v. ^riefen- (S. 5) es einmal glücklich ausdrückt, Christus „die göttliche Gnade selbst in mensch­ licher Erscheinung" sei.

Aber gerade gegen die Lehre von

der Gnade und Erlösung wendet sich v. Egidy, weil sie die Gewiffen abstumpfe (Ernste Ged. S. 9.), und will da­ für lieber von einer göttlichen Vergeltung reden (S. 16), obgleich er doch recht gut weiß, daß wir Sünder sind und der göttlichen Barmherzigkeit bedürfen.

(S. 17.)

Wie er­

klären sich diese Widersprüche gerade in Bezug auf den Kern

der

christlichen

Religion?

Einfach

daraus,

daß

v. Egidy Gnade und Erlösung als mit der stellvertretenden Genugthuung Christi gleichbedeutend faßt und gegen letztere Lehre nicht unbegründete sittliche Bedenken hegt, infolge­ dessen aber nach ächter Dilettantenart das Kind mit dem Bade ausschüttet. 5) Dies hängt nun endlich noch damit zusammen, daß es ihm an einem festen Punkte fehlt, von dem aus er sich in der Welt der religiösen Anschauungen orientiren könnte, mit anderen Worten: an einer religiösen Er­ kenntnißtheorie.

Er

kennt

nicht

die

Genesis

der

Glaubensgedanken aus Erfahrungen des inneren, sittlich angelegten Menschen, er hat darum keinen sicheren Maß­ stab für Werth und Unwerth überlieferter Vorstellungen,

19

keine Klarheit über Tragweite und Grenzen unseres reli­ giösen Erkennens. Darum glaubt er, von Dingen eine „klare Vorstellung" zu haben, die ganz außerhalb unseres Gesichtskreises liegen (vom Leben nach dem Tode), und zu „sehen" und zu „empfinden", was man nur denken kann (die Schöpfung der Welt und die Weltordnung). Daher würde er schwerlich imstande sein, solche, die an seinen Positionen eine ähnliche Kritik üben wollten, wie er an denen der Kirchenlehre, von ihrer Skepsis ab­ zubringen und zu seiner Ueberzeugung wiffenschastlich zu be­ kehren. Das ist in der That ein Subjektivismus, bei dem die religiöse Gemeinschaft zu zerbröckeln droht, wie seine Gegner von rechts sehr richtig herausfühlen und geltend machen. Aber ist v. E. damit ganz widerlegt? Bleibt es der empirischen Kirche völlig erspart, ihm bestimmte und wesentliche Zugeständniffe zu machen? Rein, solche sind dringend nöthig; das verkennen die meisten der oben ge­ nannten theologischen Apologeten; nur Rade kommt dem Verfasser ein sehr respektables Stück entgegen, obgleich, wie mir scheint, noch nicht bis an den erforderlichen Punkt. Hier kann ich mich auch mit dem von mir so hochverehrten D. Sülze nicht ganz einverstanden erklären. Er will nur eine positive Reformthätigkeit als berechtigt anerkennen. Man soll nicht falsche Vorstellungen kritisircn, sondern die richtigen, würdigen, erhebenden still an ihre Stelle setzen; nicht von der Reform des Dogmas, sondern von der leben­ digen Liebesbethätigung wohl organisirter Gemeinden ist für uns Heil zu erwarten.

20 Ich meine, es gilt auch in dieser Beziehung das Wort:

„Dies sollte man thun und jenes nicht lassen."

(Mt. 23, 23.)

Gewisse dogmatische Vorstellungen sind nun

einmal dem modernen Menschen Steine des Anstoßes, sie wirken drückend und beengend auf seinen Wahrheitssinn. Er hat das Bedürfniß, ausdrücklich zu vernehmen, daß er sie sich nicht anzueignen braucht, um als ehrlicher Christ anerkannt zu werden, daß er sie auch nicht mit scheuem, dumpfem Respekt zu umgehen braucht.

Erst wenn er Be­

friedigung für dieses negative Bedürfniß seines Verstandes empfangen hat, athmet er erleichtert auf und vermag nun auch das positive Neue und Bessere mit vollen Zügen in sein Gemüth einzuathmen.

Solange wir Theologen uns

vor dieser unumwundenen, dem positivsten Interesse dienen­ den Kritik scheuen, wird sie laienhaft, stümperhaft und damit zum wirklichen Schaden der Frömmigkeit ausgeübt; solange wir ernste Gedanken wie die v. Egidy's nur verklagen, wer­ den andere in unberufener Weise sich daran machen, sie nicht bloß zu entschuldigen, sondern zu vertheidigen. Ein solcher möglichst

unberufener Vertheidiger

ist

H. Kühn in Dresden-Löbtau, dessen Schrift — unglaublich, aber wahr! — mir in fünfter Auflage vorliegt.^ Angesichts eines solchen Kämpen für „geistige Freiheit" entringt sich der Brust eines ernsten und besonnenen Freundes einer ') „Zu den ernsten Gedanken des Herrn v. Egidy". Ein Beitrag im Kampfe um geistige Freiheit und ein Wort zur Abwehr unbe­ rechtigter Angriffe von H. Kühn, Dresden-Löbtau. Dresden, Albanussche Verlagsbuchhandlung 1890.

21 wahrhaft freisinnigen kirchlichen Entwicklung der schwere Stoßseufzer:

„Gott behüte

uns

vor

unsern Freunden;

unserer Feinde wollen wir uns schon selbst erwehren!" Kühn ist zunächst der deutschen Sprache gar nicht mächtig; er redet, um nur ein Beispiel von vielen anzuführen, von dem

„sich beruhigten Gewissen".

ziemlich unklar.

Seine Gedanken sind

Gott wird von ihm mit Vorliebe als der

„Urbaumeister" bezeichnet, Pfingsten, „das liebliche Fest", in ein Naturfest verwandelt, und im Hinblick auf derartige Kultusreformpläne der naive Trost gespendet: „Den Mittel­ punkt des Kultus wird auch fernerhin Gesang und Predigt bilden,

die Form wird bleiben, aber der Inhalt

wird ein anderer werden!"

(S. 28f.).

Die Gottes­

kindschaft wird zwar nicht lediglich in dem Verhältniß des Geschöpfes zum Schöpfer erblickt, sondern auch auf die Er­ kenntniß

des Gottes

der Liebe

begründet,

zu welcher

Christus „durch die sittliche Vervollkommenheit (!) seiner Lehre die Menschheit zurückführte" (S. 29); aus der andern Seite aber gilt es dem Verfasser wieder gleich, ob man Gott „Gott nenne oder Kraft oder Urstosf" (S. 9)! Und ein solcher neuer Prophet wagt es, in der hochmüthigsten und derbsten Weise auf „gewerbsmäßig und schablonenhaft gebildete Theologen" zu schelten,

deren

„Entgegnungen

doch weiter nichts als ein Kamps um das tägliche Brot" sind (S. 5)1)! Nein, nach einem solchen Holzkomment wird ') Als mildernder Umstand für eine solche Polemik kann nur das ebenso ungerechte und lieblose Verfahren mancher Gegner geltend gemacht werden.

S. o. S. 14.

22 der Streit um Glaubens- und Gewifsensfragen sicherlich nicht ausgefochten,

dazu

gehören

ritterlichere, blankere

Waffen! Eine solche führt der Laie, welcher in Nr. 51 des vorigen Jahrgangs der „Christlichen Welt": „Einige Be­ merkungen zu den Entgegnungen auf die „Ernsten Ge­ danken" von M? v. Egidy" veröffentlicht.

Er findet in

diesen keine „dogmatische Herausforderung", sondern „den Nothschrei eines gepeinigten Gewissens, den Hilferuf eines von starkem Wahrheitstrieb und seinem Ehrgefühl zur Be­ freiung aus einer unklaren, nicht einwandfreien Stellung unwiderstehlich gedrängten tiefreligiösen Gemüthes."

Die

Gesinnungsgenossen v. Egidy's schätzt er auf Hunderttausende. Was sie glauben können, entscheidet nach ihm die innere Erfahrung, und auf ihr ruht die Erklärung: „Ein Christ ist, wer an einen

einigen Gott, Schöpfer, Erhalter und

Lenker alles Seienden und Werdenden, liebevollen Vater aller Menschen und alles Lebens, und an die Bestimmung seiner eigenen Seele für eine ewige Fortdauer glaubt; sich zu Jesus dem Gekreuzigten und seiner Lehre bekennt, in ihm seinen gottgesandten Heiland wie sein höchstes Vorbild verehrt und seinem Beispiele nachzustreben mit aller ihm verliehenen Kraft bemüht

ist; gleichgiltig, mit welchen

Zierstücken oder Lichtöffnungen sonst er die Schönheit seines inneren Tempels verdecken oder erhellen mag." Bekenner

dieses Christenthums

bloß Nachsicht,

Für die

fordert unser Laie nicht

sondern brüderliche

Anerkennung

ihres

kirchlichen Bürgerrechts, selbst wenn die offizielle Aende-

23

rung des überlieferten Bekenntnisses in der nächsten Zu­ kunft noch nicht möglich fei; jedenfalls werde man mit ihm und seinen Gesinnungsgenoffen rechnen müssen. Ein ähnlicher aufrichtiger Wahrheitstrieb, dessen Losung „fromm und frei" lautet, spricht sich in dem Gedicht des braun­ schweigischen Amtsrichters Kunze aus, welches v. Egidy am Schluß seiner zweiten Schrift abdruckt. Ja, es find doch großentheils „keine schlechten Leute" *), mit denen wir es hier zu thun haben, und ihr Recht muß ihnen werden, das ihnen übrigens von Seiten der verketzertsten Gruppe innerhalb der heutigen protestantischen Theologie schon längst geworden ist, nur daß sie sich leider vielfach um diese zu wenig gekümmert haben. In Kürze will ich denn einige Hauptpunkte bezeichnen, in denen nach meiner Ueberzeugung v. Egidy u. Genossen recht haben. 1. Worin soll zunächst die Norm unseres Glaubens bestehen? Auf die alte unhaltbare Begründung der Pflicht, sich in die gegebene Kirchenlehre als Christ zu fügen, mit der Analogie der „Vereine", die nicht ohne „bestimmte Grundsätze" bestehen sönnen*2), wollen wir doch endgiltig verzichten. Denn einerseits find praktische Grundsätze etwas ganz anderes als theoretische Behauptungen und Erklärun­ gen, und andererseits sind „Vereine" ihrem Begriffe nach Sondergruppen zu besonderen Zwecken, denen ja niemand beizutreten braucht, dem sie nicht zusagen; die Kirche Jesu ') Christliche Welt, 1891, Nr. 1, S. 8. 2) Offener Brief pp. von einem evang.-luth. Geistlichen, S. 21.

24 Christi dagegen sollte ihrer Idee nach allgemeinmenschlich sein, die Gemeinschaft aller religiös Bedürftigen und sitt­ lich Strebsamen, die sich von der Persönlichkeit Jesu Christi angezogen fühlen und in seinem Verhältniß zu Gott und seinem Ideal eines Reiches göttlicher Liebe das Ziel ihres eigenen Sehnens und Trachtens anerkennen. Damit ist die innere Erfahrung des religiös-sitt­ lich angelegten Menschen als der Prüfstein der religiösen Wahrheit bezeichnet, wobei natürlich jeder gläubige Christ der festen Zuversicht ist, daß an diesem Prüfstein der Gold­ gehalt des Evangeliums sich schließlich allerwärts bewähren muß. Auf diesen Prüfstein kommen denn in der That die meisten Gegner v. Egidys hinaus, auch der „evangelischlutherische Geistliche" (S. 28).

Die Frage ist nur:

2. Was kann der Inhalt unserer inneren, religiös­ sittlichen Erfahrung sein, was dagegen bloß das Ergebniß eines

auf ihr

ruhenden Schlußversahrens,

welches

der

Natur der Sache nach auch irrthümlich ausfallen und daher nicht jedem Gliede der religiösen Gemeinschaft aufgedrängt werden kann? Da muß von vorn herein ein doppeltes Gebiet als der

inneren

Erfahrung

unzugänglich,

nur

auf

dem

Wege irrthumsfähiger Forschung erreichbar bezeichnet wer­ den,

nämlich

das der äußeren Geschichtsthatsachen und

der rein jenseitigen Verhältniffe. ausgeübt hat,

Ob Christus Wirkungen

die mit der Weltordnung in Widerspruch

stehen, ob er in einer verklärten Leiblichkeit irgend einem

25 seiner Jünger erschienen ist, ob sein Tod als die noth­ wendige und ausreichende Sühne für unsere Sünden von Gott angesehen wird, ob innerhalb der Gottheit drei Per­ sonen gleichen Wesens existiren, — das ist nun und nimmermehr Gegenstand einer inneren, religiösen Er­ fahrung. Aber was denn sonst? Jedenfalls dies, daß wir sün­ dige und schuldbewußte Menschen sind, daß uns aber von Jesus Christus, wie er auf Grund des N. T. vor un­ serem Geiste und Gemüthe steht, aus seiner Predigt wie aus seiner tot Gesammtbilde seines Lebens sich ausprägen­ den Persönlichkeit, wahrer Trost und Friede einerseits, sitt­ liche Kraft und Begeisterung zur Erneuerung unseres Lebens andererseits zu Theil wird. In diesem Sinne nen­ nen wir ihn nach seiner positiven Wirkung unsern Heiland, im Hinblick auf den drückenden Zustand, von dem wir unter seinem Einfluß frei werden, unsern Erlöser, in Bezug auf sein eigenes Herzensverhältniß zu dem im Men­ schengeiste sich wirksam erweisenden Gottesgeist, das wir ihm wenigstens annäherungsweise nacherleben, den Sohn Gottes. 3. Damit ist aber der Ausdruck „Gottheit" (oder, wie Fricke, S. 6, sagt, „Gottheitlichkeit") Christi noch nicht als durchaus zutreffend erwiesen. Ein erfreuliches Zugeständniß finde ich in Rades Worten'): „Die Schrift selbst hat diesen Ausdruck nicht und besteht darauf nicht; Christliche Welt 1891, Nr. 4, S- 87.

26



wir wollen doch nicht um Worte streiten." Nur begnüge ich mich nicht damit, diesen Ausdruck „als den nicht allein zutreffenden" zu bezeichnen, sondern finde ihn weit unzu­ treffender als die Paulinische Aussage: „Gott war in Christo und versöhnte die Welt mit sich selber", welche sich mit wahrhafter Menschlichkeit vollständig vereinigen läßt. Sie schließt nicht die Immanenz Gottes im Menschen­ geiste überhaupt aus, mag diese auch sehr verschiedene Grade der Innigkeit des Gemeinschaftsverhältniffes zulaffen, und sie genügt völlig zur Befriedigung des religiösen Bedürf­ nisses, welches Dreyer so schön und klar in den Worten beschreibt *): „Wenn wir Gott finden und erkennen wollen, so müssen wir ihn schauen, wie er in Christo ist. Dies ist sogar die einzige Art, wie wir als Menschen ihn wirklich finden und ihn klar erkennen können; so wie wir die Sonne schauen, wenn sie sich im ruhigen Wasser spiegelt. Das Wesen des himmlischen Vaters ist zu hoch und hell für unsern sterblichen Blick. Wie er in Christo erscheint, so vermögen wir ihn zu fassen. Wir entdecken seine Spuren wohl in den Werken der Schöpfung und im majestätischen Gang der Weltgeschichte, in den Mahnungen des Gewiffens und den seligen Ahnungen unseres Herzens, aber wir er­ kennen ihn erst, wir haben ihn erst und können ihn erst unser eigen nennen, wenn es uns gewiß wird, daß die Heiligkeit und die Liebe Christi wirklich die Heiligkeit und die Liebe Gottes selbst ist." Eine solche Auffaffung von der l) Das Dogma von -er Person Christi und seine religiöse Be­ deutung. Prot. Kirchenztg. 1891, Nr. 4, S. 85.

27 Gottinnigkeit

und

Gotteinigkeit

des

„Menschen

Jesus Christus" (1. Tim. 2, 5) führt freilich nicht zu der biblisch unbegründeten Lehre von einer göttlichen Wesens­ trinität,

deren Vertheidigung bei D. v. Strauß u. Tor­

neys) nur von neuem zeigt,

daß sie sich nicht vertheidi­

gen läßt. Eigenthümlich ist nun der Anspruch,

den sowohl der

„evang.-lutherische Geistliche"/) als auch v. Strauß') au v. Egidy stellt,

er habe die Unmöglichkeit

heit Christi" zu erweisen. allerdings nicht,

So schwer wäre dieser Beweis

wenn man nämlich unter dem Titel der

Gottheit Christi die Behauptung versteht: uns doch

der „Gott­

jedenfalls

zunächst

als Mensch

Christus (der geschichtlich ge­

geben und seinen ersten Jüngern als solcher gegenüber getreten ist) ist Gott,

und nicht bloß,

was freilich mit

jenem Titel ungenau und hyperbolisch ausgedrückt würde: er steht in religiös-sittlicher Lebenseinheit mit Gott. der Mensch ist nun

Denn

einmal eine endliche, bedingte Größe,

Gott aber ist, gerade wenn er nicht pantheistisch, sondern in bestimmtem Unterschied von der Welt gedacht wird, der Unendliche und Unbedingte.

A kann aber doch eben nicht

— Nicht-A sein. Allein ich meine, v. Egidy könnte mit mindestens glei­ chem Rechte, gestützt aus die drei ersten Evangelien, ins­ besondere auf Mt. 19, 17, seinen Gegnern den Beweis für

') A. a. O. S. 16 f. 2) A. o. O. S. 15. =) A. a. £>. S. 25.

28 die Möglichkeit oder Wirklichkeit der Gottheit Christi zu­ schieben. In der That suchen sie ihn auf zwei Wegen zu führen. Einerseits geschieht es auf Grund des Selbstzeugnisies Jesu, nur leider meist mit johanneischen Belegstellen'), die nun einmal als wörtlicher Ausdruck des Selbstbewußtseins Jesu nicht in Betracht kommen können. Die Beobachtung, auf welche Rietschel2) so großes Gewicht legt, daß nämlich Jesus zu den Jüngern bald von seinem, bald von ihrem Vater spricht, nicht aber sich des ihn und sie als gleich­ artig zusammenfassenden Ausdrucks

„unser Vater" be­

dient'), hat doch keine so unermeßliche Tragweite, zwingt vor allem nicht dazu, einen metaphysischen Unterschied zwi­ schen Jesus und den anderen Menschen anzunehmen; was er als innere Realität schon besitzt — die Gottessohnschaft — das sollen sie im Verkehr mit ihm erst kennen und er­ streben lernen.

Wenn aber nun Rietschel4) gar auf Grund

gewisser Aeußerungen wieder einmal die Alternative stellt: entweder hochmüthiger Narr oder übermenschlichen Wesens, — wenn der evangelisch-lutherische Geistliche') sich gar zu der Alternative versteigt: ewiges Wort (metaphysisch ver­ standen) oder Betrüger, — so dürfte sein Gegner ruhig antworten: Bange machen gilt nicht!

Solche Alternativen

x) Vgl. besonders v. Strauß und Torney, S. 13 f. 2) A. a. O. S. 8. 3) Das „Vater-Unser" betet er nämlich nicht mit ihnen, sondem lehrt es nur sie beten. 4) S. 8. b) S. 18.

29

beruhen aus einem Mangel an geschichtlichem Sinn, aus der Verkennung der Thatsache, daß auch der größte religiöse Genius — warum sollen wir uns vor dieser durchaus edlen und würdigen Bezeichnung scheuen? — doch geschichtlich bedingt, in einem Theil seiner Vorstellungswelt ein Kind seiner Zeit ist, daß also auch Christus sein Messiasbild nicht lediglich aus dem eigenen Innern, sondern theilweise aus der Ueberlieferung seines Volkes entnahm, während andere Aussprüche theils nicht hinreichend bezeugt, theils mit einem ungewöhnlich reichen und ursprünglichen religiösen Innenleben recht wohl und ohne den Vorwurf sträflicher Anmaßung vereinbar sind. Eine andere Art der Beweisführung für die Gottheit Christi vertritt, in dieser Hinsicht Schleiermachers Spuren folgend, Rade H. Christus hat uns nach unserer inneren Erfahrung erlöst; erlösen aber kann uns nur Gott; also — „ist Christus Gott", müßte eigentlich geschloffen werden; Rade aber verlangt doch bloß, von einem sehr gesunden Gefühle geleitet, daß wir „Gott und Christus zusammen­ schauen", nennt dies aber dann — nicht ohne Willkür — „an die Gottheit Christi glauben". Aber was versteht er denn unter Erlösung? Von der stellvertretenden Genugthuung, die Fricke^) mit ziemlich unbestimmten und gewundenen Worten vertheidigt, will er als Ritschlianer natürlich nichts wissen; eine sitt­ liche Umschaffung im strengen Sinne des Wortes, die >) Christliche Welt 1891, Nr. 4, S. 78. 2) A. a. O. S. 8 f.

30 allein den Schöpfer, Gott, als ausschließend wirksame, direkte Ursache fordern würde, ist doch in uns Erlösten thatsächlich nicht vor sich gegangen, wie uns unsere täg­ lichen Sünden immer von neuem zu demüthigendem Be­ wußtsein bringen; auch wäre „sittliche Umschaffung", buch­ stäblich genommen, eine Contradictio in adiecto, da sitt­ liches Leben ohne menschliche Selbstthätigkeit nicht denk­ bar ist.

Was bleibt dann als Ertrag der

durch Christus" noch übrig? S. 25

Angegebene:

„Erlösung

Unendlich viel; das schon auf

der Friede

des

Herzens im

Ver­

trauen auf den gnädigen Gott und der kräftige Antrieb zum Trachten nach wahrhaft gottgefälligem und gottver­ wandtem Leben in heiliger Liebe, zu fortschreitender Hei­ ligung, ohne welche ja natürlich

die Gnadengemeinschaft

des heiligen Gottes nicht zu behaupten ist. Diese Wirkung verdanken wir dem geschichtlichen Christus oder dem durch ihn und in ihm wirksamen himmlischen Vater, und in ihr besteht das beste Gut unseres Lebens; und doch ist diese Wirkung Gottes in Christo so beschaffen, daß wir sie uns

durchaus

menschlich-geschichtlich

vermittelt

den­

ken dürfen, und wir haben sie auch nicht aus der übri­ gen, auf sie vorbereitenden Wirksamkeit Gottes in der allgemeinen Religionsgeschichte herauszureißen, wie dies v. Strauß und Torney') in ungerechter Ueberspannung des Gegensatzes thut.

Gewiß, Christus ist die Sonne unseres

Lebens; aber sternenlose Nacht ist auch außer ihm nicht.

’) S. 10 u. 13.

31 4. Den Glauben an Christus will Rietschel nicht auf die unbedingte Autorität der Schrift gründen, für die v. Strauß

und Torney')

wieder

Argumente

vorbringt,

an deren Schluß er freilich das Bekenntniß stellt, welches ebenso eine Beleidigung für Andersdenkende, als ein Zei­ chen der eigenen Unsicherheit ist: „Gott erleuchtet und er­ löset durch seine in der Schrift und gebotenen Mittel nur den, will."

Aber umgekehrt,

gemäß

der erlöst und auf

Grund

der Schrift

erleuchtet sein der Erkenntniß

Christi als des Erlösers weiß man sich nach Rietschel „int Worte Gottes als dem Worte der Wahrheit um so mehr gebunden", kommt man nach

ihm allmählich zum klar­

bewußten Besitz des ganzen Inhaltes des christlichen Glau­ bensbekenntnisses,

wenn

auch

demjenigen

der christliche

Glaube nicht abgesprochen werden soll, der „über so man­ chen Punkt des Bekenntniffes noch nicht zur Klarheit ge­ kommen ist"").

Das

sind

zwar theilweise ziemlich

all­

gemeine, dehn- und deutbare Wendungen; aber im ganzen muß doch daraus der Schein entstehen, der

Glaubensentwickelung

als ob das Ziel

nur die Einsicht sein könnte,

daß Schrift und „Bekenntniß" in allen Stücken die Wahr­ heit biete, und

der Fehler bei einer etwaigen Differenz

zwischen dem subjektiven Denken und diesen objektiven Fak­ toren nur auf Seiten des ersteren liegen könne.

Diese

Unsehlbarkeitstheorie muß aber ganz entschieden aufgegeben werden.

Wir müssen zu

') S. 13 f. 2) A. a. O. S. 17.

dem wahrhaft reformatorischen

32 Luther zurückkehren, der selbst die einzelnen Theile der heiligen Schrift danach beurtheilte, ob fie „Christum trie­ ben"

oder nicht;

wir müssen auch die Entstehung der

Urkunden unserer Religion bei unbefangen

geschichtlich

aller

begreifen,

verdienten Pietät Entwickelungsstufen

und Werthunterschiede darin anerkennen und als festen Punkt, auf dem wir stehen und von wo aus wir uns orientiren, nur das eigentliche Evangelium Christi von der Gnade und dem Reiche Gottes betrachten,

das sich an

unserer inneren Erfahrung bewährt hat und immer von neuem bewährt. 5. Endlich sei noch die Frage berührt, die für unsere Gebildeten nun einmal die allerbrennendste ist, und deren Beantwortung mit unserer Stellung zur heiligen Schrift wie zur Gottheit Christi auf's engste zusammenhängt: die Wunderfrage.

Rietschel spricht sich

denn über diese

auch ganz ähnlich aus wie über die Schriftfrage:

„Ich

glaube nicht, daß Jesus Gottes Sohn ist, weil glaubwür­ dige Männer berichten, daß er solche Wunder vollbracht hat, und weil ein Mensch solche Dinge nicht thun kann.

Um­

gekehrt, weil ich Christum als meinen Herrn und Er­ löser habe, sind alle diese Wunder mir nur ebensoviele Zeugnisse, Hinweise, Abbilder seines umfassenden Erlöser­ berufs.'")

Auch Fricke bejaht das Wunder, giebt aber

für diesen Begriff eine so tiefsinnige Erklärung, daß man nicht genau weiß, ob das für den landläufigen Wunder-

>) A. a. O. S. 14.

33 begriff wesentliche Merkmal des außerhalb der Weltordnung Liegenden

festgehalten

ist

Punkt lassen dagegen der

oder

nicht').

Ueber

diesen

„evangelisch-lutherische Geist­

liche" ’) und v. Strauß und Torneys) kaum einen Zweifel, mag immerhin der letztere das Wort „Weltordnung" auch für seine Anschauungsweise zu retten suchen.

Jener stellt

das Wunder in den Dienst des göttlichen Zweckes,

„die

durch die Sunde zerstörte Harmonie in der erlösten Mensch­ heit wieder herzustellen", und wirst den gottgläubigen Geg­ nern des Wunders vor:

„Sie lassen Gott die Welt ge­

schaffen haben, ohne ihm doch gestatten zu wollen, dieselbe der Ausführung seiner Heilszwecke dienstbar zu machen." Aber wenn nun Gott eben gerade seine unverbrüchliche Ordnung als das Mittel zur Ausführung seines ewigen Heilszweckes benutzte und sich auch durch den sündigen Menschen, der ihn doch durch sein Verhalten nicht völlig überrascht haben wird, nicht aus dem Konzepte bringen ließe? Wäre das nicht im Grunde noch viel würdiger und charaktervoller gehandelt? Und ist nicht Gott viel göttlicher und mächtiger, wenn alles, was geschieht, in seinen wirk­ samen Ordnungen befaßt ist, als wenn er in einen übrigens von ihm unabhängigen Verlauf nur manchmal eingriffe, damit es „nicht von Tag zu Tag schlimmer würde?" „Was wär' ein Gott, der nur von außen stieße?" Das wären sogar religiöse Gründe gegen den land>) S. 13 f. 2) S. 17, 20, 28. 3) S. 12 u. 24. Kritisches und Erbauliches.

34 läufigen Wunderbegriff.

Aber wir haben allerdings auch

wiffenschastliche, und diesen wollte v. Egidy Ausdruck ver­ leihen, wenn er von der Unmöglichkeit des Wunders sprach.

Da wendet nun v. Strauß und Torney ein, ein

besonnener Manu untersuche bei einem auffallenden Vor­ gang zuerst dessen Wirklichkeit; stelle fich diese als gefichert heraus, so werde er die Möglichkeit auch dann nicht bezweifeln, wenn er den Vorgang klären wisse. lich.

sich nicht zu er­

Das klingt sehr besonnen und wissenschaft­

Nur gilt es in Wahrheit doch bloß in Bezug auf

Thatsachen, die man selbst mit Anwendung bewußter Vor­ sicht und unter Verstopfung naheliegender Täuschungsquellen beobachtet hat, nicht aber in Bezug auf Berichte, die unter zeitlich und räumlich

fernliegenden Verhältniffen, unter

dem Einfluß einer wesentlich anderen Anschauungsweise versaßt worden sind. lichen Kritik

zu

Letztere sind erst einer geschicht­

unterwerfen.

nächst in Quellenvergleichung. es aber doch wirklich,

Diese

besteht nun

zu­

In dieser Beziehung ist

auch abgesehen von der Unklarheit

des Ausdrucks, eine unbegreiflich kühne Behauptung des „evang.-lutherischen Geistlichen": „Sollte es Ihnen unbe­ kannt sein, daß die Auferstehung Christi nach den Quellen als historischer Bericht (?) trotz aller kritischen Anfechtungen nicht wegzuleugnen ist?"

Ich setze dabei natürlich voraus,

daß der Verfasser nicht Versteckens spielt, sondern unter Auferstehung, wie jeder Leser, namentlich der Laie, erwartet, einen sinnenfälligen, in der räumlichen Welt wahrnehmbaren Vorgang versteht.

35 Aber selbst wenn die Quellen keine Widersprüche unter sich enthalten, so sind ihre Berichte noch nicht unbe­ dingt sicher gestellt.

Sie können auch dann auf keine zwei­

fellose Anerkennung rechnen, wenn sie mit den Gesehen, die sich in der ganzen Welt unserer gegenwärtigen, un­ mittelbaren Erfahrung bewähren, geradezu in Widerspruch stehen. dern

Und dieser Zweifel ist durchaus kein Frevel, son­

eine

wiffenschastliche Nothwendigkeit.

Wir könnten

eben überhaupt keine zusammenhängende und zuverlässige Welterkenntniß gewinnen und keinen sicheren Gebrauch von den Kräften und Dingen der Welt machen, wenn wir nicht von vorn herein auf das unverbrüchliche,

durchgängige

Walten gewisser Gesetze rechneten, deren Inhalt wir freilich durch sorgfältige Beobachtung erst ermitteln müssen. Gerade diese Gesetze repräsentiren aber

die geistige Seite des

Universums, sind uns eine Bürgschaft, daß Vernunft in der Welt ist, und werden doch auch von „positiven" Christen gern als Beweismaterial für das Dasein Gottes verwendet. Ist es aber nun berechtigt, auf der Leiter dieser Gesetze zu der Erkenntniß des Weltgesehgebers emporzusteigen, dann aber, wenn man aus der Höhe angelangt ist, ihre Tragkraft zu leugnen? Doch es ist Zeit, unser Protokoll über den Prozeß mehr oder minder „ernster Gedanken", die sich unter ein­ ander verklagen oder auch vertheidigen, nun zu schließen. Das Urtheil sei zum Schluß nochmals in Form zweier Mahnungen zusammengefaßt.

An die der Glaubenstyrannei

angeklagten Vertreter der Kirche der Reformation ergeht

3'

36 aus einer nach Tausenden zählenden Schaar von gebildeten, freisinnigen und zugleich religiös gesinnten Laien die For­ derung: „Sire, geben Sie Gedankenfreiheit" — nicht bloß die bekannte „Zollfreiheit", sondern das Recht freier Aeuße­ rung der Gedanken, — nicht bloß den Laien, sondern auch den Geistlichen, — nicht bloß in den Schranken irgend einer äußerlich überlieferten Lehrform, sondern einfach auf Grund des praktischen christlichen Herzensglaubens an die Kindschaft Gottes als den höchsten Gegenstand mög­ licher

Erfahrung und

an

das

Reich Gottes als

das

höchste Ziel ernsten Trachtens und Arbeitens; nur in offener Rede und Gegenrede kann der Dilettantismus un­ schädlich gemacht werden.

Den Gesinnungsgenossen des

Herrn v. Egidy aber rufen wir zu: haltet fest an der großen, geschichtlich gewordenen Gemeinschaft und bethätigt in ihr eure Rechte: schüttet nicht das Kind mit dem Bade aus und laßt euch warnen durch den Verlauf der sreigemeindlichen Bewegung; „haltet, was ihr habt, aus daß euch nie­ mand eure Krone nehme."

Me find unsere gebildeten Männer dem kirch­ lichen Leben wiederzugewinnen? (Separat-Abdruck aus der Prot. Kirchenzeitung, 1890, Nr 24.)

Wenn ich einen bescheidenen Beitrag zu der Beant­ wortung der Frage zu leisten versuche, wie unsere gebildeten Männer dem kirchlichen Leben wiederzugewinnen sind, so ist zunächst zuzugestehen, daß die beiden Begriffe, um deren Verhältniß es sich handelt, nicht mit der wünschenswerthen Schärfe bestimmt werden können. Unter dem kirchlichen Leben der Gemeinde verstehen wir heutzutage leider noch fast ausschließlich das cultische.

Schwerer noch läßt sich

der Begriff des gebildeten Mannes umgrenzen. Wir können natürlich nicht im Vorbeigehen die Frage nach dem tiefsten Wesen wahrer Bildung lösen, sondern müssen uns begnügen anzugeben, was man heutzutage im allgemeinen sich unter Gebildeten zu denken pflegt.

Es sind etwa diejenigen,

welche sich ein Maß von Kenntnissen und Erkenntnissen

38 angeeignet haben, das nicht von einem jeden Gliede eines bestimmten Culturvolks einfach gefordert wird oder schon für die Fristung des Daseins unter den gegebenen Lebensverhältniffen unentbehrlich ist.

Daß unser so etwas näher

bestimmtes Thema aus eine thatsächliche Lücke des kirchlichen Lebens hinweist, bedarf keines mühsamen Beweises. Denken wir uns nur einmal den Fall, daß ein Fremdling, der noch keinen deutlichen Begriff von einer deutschen Universi­ tät mitbrächte, in einen unserer Universitätsgottesdiepste hereinträte, so könnte er leicht auf die Meinung verfallen, eine Universität sei ein Frauenverein mit einem männlichen Beirath.

Seit wann nun die Theilnahme der Männer,

insbesondere der gebildeten, am Gottesdienste eine so schwache ist, wird sich schwer mit statistischer Genauigkeit feststellen lassen.

Jedenfalls hat nicht nur schon Schleiermacher An­

laß, die Gebildeten unter den Verächtern der Religion auf schriftstellerischem Wege auszusuchen, sondern schon der Hebräerbrief (10,25) findet bekanntlich Ursache zu der Mah­ nung:

„Laffet uns nicht verlaffen unsere Versammlung,

wie etliche pflegen", wenn auch die gewohnheitsmäßigen Kirchenschwänzer seiner Zeit, der Zeit der erst werdenden Kirche und der jungen Liebe, natürlich noch entschieden die Ausnahme bilden.

Ob er freilich gebildete Männer in

der Gemeinde, an die er gerichtet ist, überhaupt in nennenswerther Zahl voraussetzt, ist wieder die Frage.

Es ist also

sehr zweifelhaft, ob die „gute, alte Zeit", in welcher die gebildeten Männer regelmäßig und in annähernder Voll­ zähligkeit am kirchlichen, insbesondere am gottesdienstlichen

39 Leben sich beteiligten, überhaupt jemals existirt hat, abge­ sehen etwa von dem Bereich des calvinischen Kirchenzwanges und von der Zugkraft einiger hervorragender Kanzelred­ ner, und ob nicht statt von einer Wiedergewinnung viel­ mehr einfach von einer Gewinnung jener Kreise zu reden wäre. Oder sollten wir auf die Erreichung dieses Zieles überhaupt verzichten und uns damit trösten, daß schon ein Paulus in seiner korinthischen Gemeinde „nicht viele Weise nach dem Fleisch" hatte?

Sollten wir deshalb etwa gleich

von vorn herein die Einrichtung unserer Gottesdienste in der Hauptsache nur aus die Bedürfnisse des weiblichen Ge­ müthes berechnen? Nein, wenn das Christenthum wirklich Weltreligion ist, so muß es auch Männerreligion sein, und wenn es wirklich Geistesreligion ist, so muß es auch die Re­ ligion der Gebildeten sein.

Die Religion ist aber, wie

jedes geistige Gut, kein ein für allemal vorhandener, ruhen­ der Besitz, sie ist nur lebendig, wo sie geübt und gepflegt wird.

Und mögen wir auch zuweilen durch ein außerkirch­

liches Ton- oder Literaturwerk tiefer ergriffen und frömmer gestimmt werden, als durch viele mangelhafte Predigten, so ist damit doch nicht, wie Strauß und zahllose Zeitge­ nossen mit ihm meinen, ein voller Ersatz, sondern vielmehr nur eine Pflege

willkommene Ergänzung

eines

der

planmäßigen

bewußten Christenthums

gegeben, deren

Stätte für die erwachsenen Gemeindeglieder eben die Kirche ist.

Nur ein bewußtes Christenthum aber ist ein zuverläs-

40

figes, und auch Richard Rothe verstand unter dem „unbe­ wußten Christenthum" keinen idealen Zustand, sondern blos einen schätzenswerten Anknüpfungspunkt für die Kirche der Gegenwart. Und selbst wenn wir den unwahrscheinlichen Fall setzen, daß an Stelle des Kirchcnbesuchs eine Art regelmäßigen Hausgottesdienstes träte (der doch in Wirk­ lichkeit nur in Familien vorkommt, die auch zur Kirche gehen), so fehlte diesem eben doch noch der volle unmittel­ bare Eindruck einer die verschiedensten Kreise umfassenden Gemeinschaft der religiösen Weltanschauung und des sitt­ lichen Ideals, der brüderlichen Zusammengehörigkeit der Kinder Gottes, welchen gerade der öffentliche Gottesdienst vermitteln soll und kann. In diesem Sinne brauchen auch unsere gebildeten Männer die Kirche und ihren Gottesdienst, um lebendige Christen zu sein und zu bleiben. Umgekehrt braucht aber auch die Kirche, wenigstens die protestantische, die gebildeten Männer. Erst wenn auch sie sich an ihrem Leben betheiligen, verliert sie vollends den Charakter des Conventikels, erscheint sie nicht mehr blos als eine Sache privater Liebhaberei, als eine Anstalt für einzelne Teile des Volkes, namentlich für die sancta simplicitas, oder etwa gar als ein Mittel, die unbequeme Begehrlichkeit gewiffer Volksklaffen durch unwahre Ver­ tröstungen oder Schreckmittel niederzuhalten, sondern als das, was sie doch sein soll, als die anerkannte, ver­ trauenswürdige Hüterin der höchsten und allge­ mein menschlichen Ideale, die sich dem hellsten Tages-

41 lichte der Zeitbildung aussehen darf, ja die nur wünschen kann, daß ihre etwaigen Mängel entdeckt und abgestellt werden, daß sie mit jedem wahrhaften Fortschritt der Er­ kenntniß und des Geschmacks lebendige Fühlung behalte. Wir müssen also sowohl um der gebildeten Männer als um der Kirche selbst willen darnach streben, jene für das kirchliche Leben wieder zu gewinnen.

Wie aber kann

das geschehen? Der altcalvinische Zwang ist selbstverständ­ lich gar nicht mehr anwendbar,

aber auch der sogenannte

moralische Druck von oben her, wie er namentlich in den Reactionsjahren nach 1848 ausgeübt worden ist, muß als ein in Wahrheit unmoralisches und verfehltes Mittel verworfen werden.

Selbst wenn er nicht dazu führt, daß

Beamte mit dem Gesangbuch am Ministerialgebäude vorbei-, dann aber durch eine günstig gelegene Seitengasse hinter der Kirche herumgehen, wie dies in einer deutschen Residenz geschehen sein soll, — selbst wenn sie ihren Kirchensitz regel­ mäßig einnehmen, so betheiligen sie doch nicht eigentlich sich selbst am Gottesdienst, sondern werden daran be­ theiligt, und das kann kein protestantisches Kirchenideal sein. Ein solcher künstlich gemachter Zustand bleibt auch niemals undurchschaut, er kann also auf die Dauer nicht einmal die heilsame Wirkung eines guten Beispiels aus die minder ge­ bildeten Volksklassen ausüben. Wahrhaft und innerlich können unsere gebildeten Män­ ner nur dann für die Kirche wiedergewonnen werden, wenn sie in und von ihr etwas Ordentliches zu hören und für sie etwas Ordentliches zu thun bekommen.

42 1. Wenn ich sage: „in der Kirche etwas Ordentliches zu hören", so denke ich vorwiegend an die Predigt. Nur neben den regelmäßigen Predigtgottesdiensten werden dann auch gelegentliche liturgische Gottesdienste eine mehr als ästhetische Wirkung haben.

Auch die Predigt kann freilich

nur mittelbar und- mit sehr unsicherem Erfolg auf die Her­ beiziehung der Draußenstehenden hinwirken; umso wichtiger aber ist sie für die Festhaltung der nur ausnahmsweise Erscheinenden, für die völlige Gewinnung und Er­ wärmung der Halben und Lauen. Wieweit sie dieses Ziel erreicht, hängt im Grunde noch mehr von dem Charakter als von dem Talent des Predigers ab, insbesondere von dem Eindruck seines reli­ giösen und sittlichen Ernstes und seiner Wahrhaf­ tigkeit.

Dazu gehört in formeller Beziehung die richtige

Verbindung von Würde und Natürlichkeit, in inhaltlicher Aufrichtigkeit, Klarheit und Gediegenheit. Wir halten uns nicht lange bei den rein formellen Anforderungen auf.

Daß im Vortrag alles hohle Kanzel­

pathos zu vermeiden ist, wenn das Ohr gebildeter Männer nicht verletzt werden soll, versteht sich von selbst.

Eher

lohnt es sich hervorzuheben, daß auch die sprachliche Aus­ drucksweise des Predigers eine natürliche sein muß, daß er die Sprache seines Jahrhunderts zu reden hat, die aller­ dings wie die Goethe's sich auch an der Sprache der Lutherbibel gebildet haben soll, nicht aber die „Sprache Kanaans" oder — worauf es dabei doch hinauskommt — einen ungenießbaren, alterthümelnden, salbungsvollen Jargon.

43 Und ebenso sei mit einem Wort auf die Natürlichkeit der Anlage der Predigt hingewiesen, deren wirklich logische Gliederung nicht durch eine zur Schau gestellte schön ge­ formte Disposition ersetzt werden kann, mag diese um der Schwachen willen auch ausdrücklich — nur nicht pomphaft — angekündigt werden. Noch wichtiger als die Form ist natürlich der Inhalt. Nur lassen sich beide nicht ganz reinlich scheiden, sondern gewiffe formelle Eigenschaften sind wesentlich durch den In­ halt bedingt.

Was nun in dieser Hinsicht jetzt der Ge­

schmack eines gebildeten Mannes von der Predigt verlangt, findet sich in den treffenden, nur theilweise etwas empfind­ samen Worten zusammengefaßt, mit welchen die thatsächli­ chen Vorzüge der Predigtweise Herder's von einem zeitgenössischen Schriftsteller anerkannt werden.

Helfrich

Peter Sturz schreibt nämlich in einem Briefe (bei Hagenbach, Kirchengesch. VII, 47 f.): „Ich habe Herder in Pyr­ mont predigen gehört und ich wünschte, daß ihn alle guten Christen hörten, die ihn, so orthodox hassen.

auf's Wort ihrer Stimmführer,

Unsere vornehme Versammlung war

eben nicht zur Andachtsempfänglichkeit der ersten Kirche gestimmt, und doch — Sie hätten cs sehen sollen, wie er all das Aufbrausen von Zerstreuung, Neugierde, Eitelkeit in wenig Augenblicken fesselte, bis zur Stille einer Brüder­ gemeine.

Alle Herzen öffneten sich, jedes Auge hing an

ihm und freute sich ungewohnter Thränen; nur Seufzer der Empfindung rauschten durch die bewegte Versammlung. Lieber, so predigt niemand, oder die Religion wäre Allen,

44 was sie eigentlich sein sollte, Freundin der Menschen.

die vertrauteste, wertheste

Ueber das Evangelium des Tages

ergoß er sich ganz ohne Schwärmerei, mit der aufgeklärten, hohen Einfalt, welche, um die Weisheit der Welt zu über­ fliegen, keiner Wortfiguren, keiner Künste der Schule be­ darf.

Da wurde nichts erklärt, weil alles faßlich war,

nirgends an die theologische Metaphysik gerührt, die weder leben noch sterben, aber desto bündiger zanken lehrt.

Es

war keine Andachtsübung, kein in 3 Treffen geteilter An­ griff auf die verstockten Sünder, oder wie die Currentartikel aus der Kanzelmanufactur alle heißen; auch war es keine kalte heidnische Sittenlehre, die nur Sokrates in der Bibel aufsucht und also Christum und die Bibel entbehren kann; sondern er verkündigte den von dem Gott der Liebe ver­ kündigten Glauben der Liebe, der vertragen, dulden, aus­ harren und hoffen lehrt und, unabhängig von allen Freu­ den und Leiden der Welt, durch eigentümliche Ruhe und Zufriedenheit belohnt.

So, dünkt mich, haben die Schüler

und Apostel gepredigt, welche nicht über ihre Dogmatik verhört, und also auch nicht mit Systems- und Compendiumswörtern, wie Kinder mit Rechenpfennigen spielten." Vier Warnungstafeln finde ich in dieser warmen Schilderung ausgestellt, die, von der andern Seite angesehn, zugleich als Wegweiser dienen.

„Keine

formten,

methodistischen Angriffe auf die als verstockte Sünder behandelten Zuhörer!" steht auf der einen; und wir er­ gänzen als Kehrseite: sondern eine herzgewinnende Dar­ legung des christlichen Lebensideals für empfängliche Men-

45

schenseelen nach dem Muster der Bergpredigt, die zugleich erhebend und beschämend, aber nicht abstoßend und ent­ würdigend wirkt. Die zweite Tafel aber trägt auf der einen Seite die hochwichtige Inschrift: Keine Phrasen! und auf der andern: sonderneinfache Herzens- und Lebens­ zeugnisse! Was sind denn eigentlich Phrasen')? Sie lassen sich nicht in einem Buche hübsch zusammendrucken, so daß der geneigte Leser, der sich hütete, von dessen Inhalt Gebrauch zu machen, vor der Gefahr der Phrase nun ein für allemal gesichert wäre. Dieselbe Redewendung hat vielmehr in dem Munde des Einen ihr gutes Recht und ihren gediegenen Sinn, während sie int Munde des Andern eben — eine Phrase ist, d. h. eine tönende, allgemeine, vieldeutige Redensart, hinter der in seiner Seele weder ein klarer Gedanke, noch eine bestimmte Anschauung, Empfindung und Erfahrung steht. Aus die Kanzel aber gehört nur Selbstdurchdachtes und Selbsterfahrenes, mindestens wirk­ lich Nachempfundenes. Wie viel damit gefordert ist», weiß jeder, der dieser Forderung in seiner Predigtpraxis nach­ zuleben versucht hat. Wie mancher „Currentartikel aus der Kanzelmanufactur", wie manches Stück der üblichen Erbauungssprache, der kirchlichen Lehrüberlieferung, ja auch der biblischen Geschichte, das beim größten Theil der Zu­ hörer einen augenblicklichen Erfolg erzielen würde, muß da der gewissenhafte Prediger beiseite legen und sich ent') Vgl Kradolfer, Die Macht der Phrase in Religion und Kirche. Deutsche Zeit- und Streitfragen (Berlin, Habel), 1886.

46 gehen lassen,

weil er keine Wahrheit

darin findet,

weil

es nach seiner persönlichen Erfahrung zu einer nachhaltigen und

gesunden Erhebung nicht

beiträgt.

Da wird

die

Vorbereitung der Predigt zu einer inneren Tat, zu einer Revision des eigenen religiösen und sittlichen Besitzstandes, zu einem ernsten Ringen mit Gott unter der Losung: „Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn!" rungen wird, ist dann auch

etwas

Aber was so er­

werth;

es frommet,

wenn es auch nicht glänzt; es ist ein Lebenszeugniß und wirkt darum auch Leben.

Wer von uns hätte nicht schon

aus solchen Lebenszeugnissen eine Herzstärkung gewonnen, die er auch

den Gebildetsten unter denen,

die nicht da

waren, nur von ganzer Seele hätte wünschen können? Natürlich darf die Selbstkritik, welche der

Prediger

zur Feruhaltung der Phrase übt, nicht soweit gehen, daß er bei seiner Vorbereitung nur solche Gedanken die Censur passiren läßt, beherrschen.

welche ihn momentan mit voller Gewalt Sonst müßte er ja ein vollkommener Christ

sein, fine es in Wirklichkeit keinen giebt, keiner Schwankung des trotzigen und verzagten Herzens mehr ausgesetzt.

Aber

was er Andern predigt, das soll er auf den Höhepunkten seines Lebens,

auf den Bergen der Verklärung,

über die

auch sein Pfad führte, geschaut, als das Höchste und Beste, das wahrhaft Veredelnde und Beseligende erfahren haben und mindestens als Strebeziel und Gesetz auch in matteren Stunden sich vorhalten. Erst wenn auch sein außercultisches Handeln Zeugniß von

diesem redlichen Bemühen ablegt,

und er jeden Zwiespalt zwischen seinem wirklichen Leben

47 und dem ihm ausgegangenen christlichen Ideal

so tief

schmerzlich empfindet, daß ihm fast der Muth sinken möchte, die Kanzel wieder zu besteigen, hat er ein Recht, dies doch zu thun, und eine Aussicht, auch auf ernste, gebildete Männer einen nachhaltigen religiösen Eindruck zu machen. Die Warnung vor der Phrase, die Verpflichtung zu religiösen Lebenszeugnissen schließt eigentlich eine dritte For­ derung schon ein, nämlich die: Weg von der Kanzel mit „der theologischen Metaphysik, die weder leben noch sterben, aber desto bündiger zanken lehrt"! Wie einst So­ krates und wiederum Kant die Philosophie, so hat gewisser­ maßen Luther das Christenthum wieder vom Himmel auf die Erde herabgeholt, und wir protestantischen Prediger sollen fortfahren,

dem Reiche Gottes auf Erden eine

Stätte zu bereiten, den Gott zu verkündigen, der nicht ferne von einem jeglichen unter uns ist, sondern in dem wir leben, weben und sind.

Ein practisches Christenthum

sollen wir auf der Kanzel Pflegen, das uns den Pflichten und Sorgen der Erde nicht entfremdet, sondern uns be­ fähigt, jene zu erfüllen und diese zu überwinden, eine Religion, die uns anleitet, „ewig zu sein in jedem Augen­ blick", und zwar im Sinne des schlichten Schristwortes: „wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm". Die unergründliche Tiefe der Gottheit sollen wir Prediger demüthig und ehrfurchtsvoll anerkennen,

aber nicht mit

spitzfindigen Dogmen ausfüllen wollen, über die man um so heftiger streiten kann, je schwerer sich dabei etwas Klares denken läßt.

Ahnend und hoffend dürfen wir aus der

48 Unruhe der Zeit emporschauen zu dem stillen Himmel mit seinen „ewigen Sternen" und in keuscher Bildersprache von ihm reden, aber nicht ihn mit dem phantastischen Gewölk aussichtsloser Grübeleien umziehen, die wir dann etwa als göttliche Wahrheiten Anderen aufdrängen möchten.

Mitten

hinein greifen sollen wir ins volle Menschenleben ge­ rade der Zeit, des Ortes und Landes, wo wir stehen, und was wir da packen, unter das Licht des Evangeliums stellen, wie es — um nur Einen zu nennen — Jeremias Gotthelfs echter Sohn, Albert Bitzius, so trefflich ver­ standen hat: dann werden wir auch zu den Herzen gebil­ deter Männer den Weg finden! Dabei soll viertens, wie schon angedeutet, unsere Pre­ digt immer eine christliche sein, „keine kalte heidnische Sittenlehre, die nur Sokrates in der Bibel aufsucht und also Christus und die Bibel entbehren kann".

Immer

von neuem soll sie auf Christus zurückgehen als auf den persönlichen, geschichtlichen Quellpunkt,

aus dem uns in

unversieglicher Frische die Offenbarung unserer Bestimmung zur Gotteskindschaft und zum Gottesreiche fließt, als auf das leuchtende Vorbild wahrhaft göttlicher Gesinnung, und auch die anderen Männer Gottes, welche die heilige Schrift uns vor Augen malt, sollen durch unsere Predigt noch reden, ob sie gleich gestorben sind. Aber nicht biblische Ge­ schichte werden wir in der Predigt nochmals zu treiben haben, nicht Hütten bauen in der Vergangenheit, sei sie auch eine noch so ehrwürdige, sondern uns aus der Bibel, von dem Geist der ersten Zeugen, Licht und Kraft für den selbständigen

49 Gang durch unsere eigene Gegenwart mit ihren vielfach ganz andersartigen Verhältnissen und Aufgaben holen. Indem so unsere Predigt in der Bibel wurzelt, die allen von Kindheit auf mehr oder weniger vertraut ge­ worden ist, und in welcher auch der mündige Christ des 19. Jahrhunderts seine religiöse Heimath behält, ist zu­ gleich der Befürchtung die Spitze abgebrochen,

daß wir

etwa, um die Gebildeten zu befriedigen, über die Köpfe der einfachen Leute hinwegreden oder gar, um die Starken zu gewinnen, den Schwachen Anstoß geben müßten.

Der

wahrhaft fromme, auch der noch so schlichte Hörer — im Unterschied von dem bloßen Fanatiker der Ueberlieferung — wird immer auch Achtung und Verständniß für Auf­ richtigkeit und Wahrhaftigkeit, und umgekehrt, der wahr­ haft fromme und gebildete, ob auch noch so freisinnige Prediger wird auch immer Tact und Pietät haben, und so werden sich beide recht wohl verstehen und gegenseitig erziehend beeinflussen können.

Besonders zwei Regeln wird

der Prediger für eine echt pädagogisch-practische Bibelbe­ handlung in den Fällen zu beachten haben, in welchen er das einfache Wort der Schrift nicht ohne weiteres als den treffendsten und classischsten Ausdruck der christlichen Ueber­ zeugung sich aneignen kann: entweder er wird aus der Er­ zählung äußerer Begebenheiten den wahren und bleibenden Grundgedanken zurückzugewinnen suchen, aus dessen bild­ licher Einkleidung sie nach seiner wiffenschaftlichen Ueber­ zeugung hervorgegangen ist; oder er wird wenigstens nicht ruhen, bis er aus die Fragen des religiösen Gemüthes, Kritisches

»xd

Erbauliches.

4

50 auf die ihn die heilige Schrift sicherlich hinführt, eine faßliche und religiös befriedigende Antwort ge­ funden hat, zu der Jesus Christus sein Ja und Amen sprechen könnte, und bis er nebenbei auch begriffen hat und seinen Hörern begreiflich machen kann, wie es zu einer nicht mehr haltbaren biblischen Einzelanschauung natur­ gemäß gekommen ist. Gewiß ist es viel schwerer, in diesem Sinne freisinnig und doch zugleich erbaulich zu predigen, als einfach im Geleise überlieferter Bibelgläubigkeit fortzugehen.

Darum

weiß auch so mancher Theologe, der auf der Universität sich vielleicht ziemlich radical gebärdete, in der Praxis mit feinem Standpunkt nichts anzufangen und bedient sich in­ folge dessen einer Orthodoxie, die gerade aus seinem Munde ihre Wirkung verfehlt, weil sie nicht urwüchsig ist.

Es

ist darum eine sittlich hochwichtige Ausgabe insbesondere der practisch-theologischen Seminare, bei aller Gerechtigkeit gegen wahrhaft wurzelechte Orthodoxie doch jene Bequemlichkeits- und Verlegenheitsorthodoxie durch sorgfältige Anleitung zu practischer Bibelverwerthung, welche natür­ lich ein gründliches wissenschaftliches Studium zur Voraus­ setzung hat, aus der Welt schaffen

zu

Helsen.

Damit

werden auch sie zur Wiedergewinnung eines großen Theiles der gebildeten Männer für das kirchliche Leben ihren Bei­ trag leisten. 2.

Bisher haben wir uns in der Hauptsache mit

solchen Männern beschäftigt, deren Fuß doch wenigstens zuweilen noch ein Gotteshaus betritt, und die es nur fest-

51 zuhalten und weiter zu

erwärmen gilt.

Wie aber find

die völlig der Kirche Entwöhnten wieder in diese her­ einzubringen und

die noch

Leben Gewöhnten

für

nicht

eine

an

das

regelmäßige

kirchliche und

einem

eigenen Bedürfniß und Interesse entsprechende Betheiligung an demselben zu gewinnen? Fangen wir mit letzteren an, so haben wir das gute Beispiel und die fromme Sitte des Elternhauses, so wichtig gerade sie ist, außer Betracht zu lassen, da wir es ja hier eben mit den Kreisen zu thun haben, in welchen auf diese Mittel nicht zu rechnen ist.

Wir fragen viel­

mehr: was hat die Kirche zu thun, um die jungen Seelen für sich zu gewinnen? und das ist recht,

Sie hält Kindergottesdienste,

denn die Kinder fast bis zur Confir-

mation gehören eigentlich nicht in den Gemeindegottes­ dienst.

Entweder müßte sonst die Predigt so

werden,

daß

die Erwachsenen und Gebildeten nicht die

für sie geeignete Nahrung in ihr fänden, Milch statt fester Speise, während gegen großen

gestaltet

sondern nur

oder die Kinder werden sich

der Predigt langweilen und einen Widerwillen

den

Gemeindegottesdienst hegen,

Theile

unverständlich

bleibt.

der

ihnen zum

Aber

gerade

ein

rechter Kindergottesdienst ist unendlich schwer durchzuführen. Ich wenigstens kann mich nicht besonders dafür erwärmen, daß

den Kindern in der Kirche nur noch

Stunde

biblischen

Geschichtsunterrichts

schwerenden Umständen, ohne reichend

eine weitere

unter höchst

er­

die Möglichkeit einer hin­

individualifirenden Behandlung,

gegeben

4*

wird,

52 oder daß, um den Einzelnen wirklich

zu erreichen,

eine

ganze Schaar jugendlicher Helfer und Helferinnen für je ein paar Bänke in Thätigkeit tritt und

so eine Menge

Kirchlein — oder vielmehr kleine Schulen — in der Kirche bildet; ich meine vielmehr, auch der Kindergottesdienst soll ein Gottesdienst mit Gebet, Gesang und Ansprache sein, aber eben ein kurzer und kindlicher.

Wahrhaft kindlich zu

Kindern zu sprechen, das setzt aber eine ganz seltene Be­ gabung, eigentlich eine Art Genialität voraus. wer sorgt dafür,

daß

Und ferner,

die Kinder kommen, und zwar

gerade die, welche es am nöthigsten haben, weil sie daheim nicht religiös erzogen werden? Gewiß vor allem der Re­ ligionsunterricht in der Schule! Von dem Grunde, den er gelegt hat, wird im wesent­ lichen auch der fleißige und fruchtbare Besuch

der kirch­

lichen Christenlehre sowie auch die Betheiligung an et­ waigen

Jünglings-

oder

Jungfrauenvereinen

abhängen,

welche auch die kirchlichen Organe ins Leben rufen könnten, und die wenigstens in manchen Theilen der protestantischen Welt nicht lediglich aus den sogenannten niederen Ständen sich rekrutiren. Zwischen

Kindergottesdienst

und Christenlehre aber

steht der hochwichtige Confirmandenunterricht. sein Erfolg ist gutentheils von

Auch

der Vorarbeit abhängig,

welche der Religionsunterricht in der Schule gethan hat, und steht außerdem in pädagogischer Hinsicht wesentlich unter denselben Gesetzen wie jener. Wenden wir daher

dem Religionsunterricht als

53

einem ungemein wichtigen Mittel, die gebildeten Kreise für das kirchliche Leben zu gewinnen, und zwar einem Mittel, auf dessen Beschaffenheit die kirchliche Aufsichtsbe­ hörde einen weitreichenden Einfluß ausüben kann, einen Augenblick unsere Aufmerksamkeit zu. Die kleinen Schüler kann der Rcligionslehrer ohne weiteres zum Besuch des Kindergottesdienstes auf­ fordern; er wird aber auch durch angemessene Gruppirung des Lehrstoffs um die kirchlichen Feste ihr Interesse auf deren Feier lenken. Bei den größeren Schülern wird er allerdings die Gelegenheit zum Hinweis auf den Segen des Gemeindegottesdienstes nicht einfach vom Zaune brechen dürfen. Aber er wird bei dem Lehrstück von der Kirche sich die Gelegenheit zu einem herzlichen Ermahnungswort nicht entgehen lassen; er sollte aus beachtenswerte Gedanken der von ihm und wenigstens einem Theile seiner Schüler gehörten Sonntagspredigt auch im Unterricht ausdrücklich Bezug nehmen, wo sich eine Beziehung zu dem gerade behandelten Gegenstand ungezwungen darbietet; er sollte aus besondere kirchliche Vorträge und Festlichkeiten, wie etwa die des Gustav-Adolf-Vereins oder des Evang. Bundes, öfters die Aufmerksamkeit lenken; er soll endlich beim Abschied von Abiturienten die Hoffnung aussprechen, daß die letzte Re­ ligionsstunde für sie nicht die letzte Stunde der Religion sein, daß sie vielmehr auch künftig an der Pflege des re­ ligiösen Gemeinschaftslebens, des kirchlichen Lebens, theilnchmen werden. Dagegen wird er seiner etwaigen Neigung, bestimmte Schüler zur Wahl des geistlichen Berufs zu veran-

54 lassen, die größte Zurückhaltung auferlegen, eingedenk der besonderen Schwierigkeiten, mit denen derselbe in unseren Tagen umgeben ist, der schweren inneren Kämpfe, in welche ein junger Mann verwickelt werden kann,

der ohne aus­

gesprochenen inneren Beruf die Hand an den Pflug legt, so herzlich auch die Freude des. Religionslehrers ist, wenn er tüchtige Persönlichkeiten sich diesem erhabenen Berufe ohne äußere Beeinflussung und

ohne den Zwang

äußerer Um­

stände sich zuwenden sieht. Seine

eigentliche

Lebensaufgabe aber ist es

nicht,

Theologen zu liefern, sondern in die verschiedensten maß­ gebenden Stände junge Männer mit lebendigem Verständniß und Interesse für die Angelegenheiten des religiösen Gemüths und die Aufgaben und Segnungen der christlichen Kirche zu entlassen.

Es würde viel zu weit führen, wenn ich hier auf

die Methode des Religionsunterrichts,

durch welche diese

Ziele der christlichen Erziehung am besten erreicht werden können, näher eingehen wollte.

Nur eine — keineswegs

neue — Regel will ich betonen; Auswendiglernen

darf

im

sie lautet:

nicht das

Religionsunterricht

vor­

herrschen, so schöne Examenparaden es auch ermöglichen und so glänzende Prüfungsbescheide es auch einbringen mag, sondern das Jnwendiglernen, so unentbehrlich natürlich auch die Mitarbeit des Gedächtniffes ist.

Dazu ist ein

lebendiges Wechselgespräch zwischen Lehrer und Schüler er­ forderlich, welches die Selbstthätigkeit des letzteren aus­ löst, und selbst in den obersten Klaffen und bei geschicht­ lichen Stoffen darf es — im Unterschied vom akademischen

55 Unterricht — nicht fehlen. Dazu muß dem Schüler auch die Freiheit der Frage und des Einwandes gewährt werden, und zwar auch, ja am liebsten gerade außerhalb der Schul­ stunde selbst, solange er sich nicht erkühnt, den Lehrer oder die Sache zu einem Spielzeug seines Witzes herabzuwürdigen; und der Lehrer muß offen Rede stehen, soweit die Fassungs­ kraft jeder Altersstufe es verträgt, und nicht Autoritäten für Gründe, nicht Steine für Brot bieten. Dazu muß der Religionsunterricht an den sonstigen Gedankenkreis des Schülers anknüpfen und an einem Ausgleich mit diesem arbeiten, damit der einheitliche Schülergeist auch in einer einheitlichen Gedankenwelt lebe, nicht aber in den 2 Religions­ stunden und in den 30 anderen Stunden in ganz verschiedenen Welten, deren Gravitationsverhältnisse dann nur zu leicht den angegebenen Zahlenverhältnissen entsprechen würden. Zu alledem braucht aber der Religionslehrer etwas von dem Geiste des liebenswürdigen, gebildeten Pfarrers in Goethe's „Hermann und Dorothea": „Dieser kannte das Leben und kannte der Hörer Bedürfniß, War vom hohen Werthe der heiligen Schriften durchdrungen, Die uns der Menschen Geschick enthüllen und ihre Bestimmung; Und so kannt' er wohl auch die besten weltlichen Schriften."

So gestaltet wird auch der Religionsunterricht der hö­ heren Schulen immer mehr für die Belebung des religiösen Interesses in unsern männlichen Gebildeten beitragen. Wach­ gehalten und genährt wird dieses ferner durch gute religiöse Vorträge, für welche dann hoffentlich auch ein ausreichendes Publicum sich einfindet, durch kirchliche Artikel, insbesondere

56 in nicht speciell kirchlichen Blättern, und durch größere Schrif­ ten religiösen und religionswifsenschaftlichen Inhalts, die für einen weiten Kreis gebildeter Leser, nicht blos für Fachleute, berechnet find. Damit diese Literatur aber wieder die nö­ thige Beachtung gewinnt, muß die Theologie als Wiffenschaft erst wieder das volle Vertrauen der Gebildeten erlangt haben, und dieses wird so lange nicht in wünschenswerthem Maße vorhanden sein, bis ihre Vertreter fich allgemein entschließen, das ihr eigenthümliche Gebiet innerer Erfahrung und geschicht­ licher Ueberlieferung nach den allgemein gültigen Gesetzen der Wissenschaft mit deren anderweitigen Gebieten in harmoni­ schen Zusammenhang zu setzen. Dies endlich wird solange ein pium desiderium bleiben, als die theologische Wissenschaft durch die Agitation kirchlicher Parteien und die Machtsprüche kirchlicher Behörden gehindert wird, sich ruhig nach rein sach­ lichen Gesichtspunkten zu entwickeln. 3. Wo sich aber deutliche Spuren eines religiösen Inter­ esses in unserer Männerwelt zeigen, da gilt es, dafür zu sorgen, daß es nicht einen überwiegend theoretischen oder doch privaten Charakter behält, sondern sich auch als ein practisch-kirchlichesbethätigt. Dies wird dann geschehen, wenn die Kirche ihren Männern auch etwas Ordentliches zu thun gibt. Dann allein sind gewiß sogar manche von denen, welche jetzt nur noch bei Casualien oder am Geburtstag des Kaisers und des Landesfürsten mit der Kirche in Berüh­ rung kommen, allmählich für das kirchliche Leben wieder­ zugewinnen. Bei dieser Forderung denke ich nicht in erster Linie an

57 die Gewährung des activen und passiven Wahlrechts für die kirchlichen Verwaltungsorgane oder an das freie Pfarrwahlrecht. Gewiß, auch dieses jus circa sacra kann in man­ chen Fällen dazu beitragen, seine Inhaber in die sacra selbst wieder einzuführen. Aber im allgemeinen würde die Hoff­ nung, hierdurch eine erhebliche Zahl von Unkirchlichen für die Theilnahme an dem kirchlichen Leben wiedergewinnen zu können, doch auf einem Zirkelschluß beruhen. Von all' diesen Rechten machen im Grunde doch nur die bereits kirchlich Jnteressirten Gebrauch, die Anderen treiben höchstens noch Miß­ brauch damit, indem sie etwa kirchliche Wahlen nach politischen Parteiinteresfen vollziehen. Dagegen würde die Zahl derer, welche in sachgemäßer Weise von ihren verfassungsmäßigen kirchlichen Rechten Ge­ brauch machen, wohl dann beträchtlich zunehmen, wenn sich die Kirche wieder ernstlich daraus besonne, daß sie von Haus aus nicht blos eine Glaubens- und Cultus-, sondern auch eine Lebensgenossenschaft war, eine Organisation der in innerer und äußerer Noth helfenden Bruderliebe, eine aus religiösem Grunde ruhende sittlich-sociale Lebensmacht. Hätte sie etwa in dem Zeitalter der socialen Frage als solche keine Aufgabe mehr zu lösen, die eben nur mit Kräften ge­ löst werden kann, welche aus der Religion der Gotteskindschaft, aus dem Glauben an das Ideal des Gottesreiches stammen? O, wir brauchen nur daran zu denken, daß der 1. Mai 1890 und die Reichstagswahlen vom 20. Februar nicht weit hin­ ter uns liegen, um auf diese Frage zu antworten: Genug Arbeit, übergenug!

58 „Und was thut die evangelische Kirche?" fragt angesichts dieser ernsten Zeitlage die kürzlich erschienene, mit Sulze's reformatorischen Gedanken mächtig an die Gewiffen pochende Broschüre des Berliner Predigers von Soden. Die äußerst beschämende Antwort aber lautet: als Kirche, als organisirte protestantische Gemeinde, thut sie blutwenig, fast nichts. Die nothwendige Liebesthätigkeit überläßt sie in der Hauptsache einer Anzahl freier Vereine, unter denen hier vor allem die Vereine für innere Mission zu nennen sind. Wohl lebt auch in vielen dieser Vereinigungen mehr oder minder bewußter evangelischer Geist.

Aber als besondere

Vereine neben der organisirten Gemeinde können sie leicht auch einen absonderlichen und ausschließenden, damit aber ungesunden und unprotestantischen, Charakter annehmen; als private Vereine sind sie niemals sicher, mit dem Netz ihrer Liebesthätigkeit auch alles Hülfsbedürftige wirklich zu erreichen und zu umspannen; und als eine bunte Vielheit von Ver­ einen sind sie stets in Gefahr, gegenseitig ihre Wege zu kreuzen, durch Planlosigkeit oder widersprechende Principien Verwir­ rung zu stiften, durch Häufung der äußeren Hülfe deren erziehliche Ausgaben zu vereiteln.

Wie ganz anders, wenn

all' diese helfende und rettende Thätigkeit concentrirt würde, wenn für die Beschaffung der nothwendigsten Existenzbedin­ gungen die bürgerliche Gemeinde, für die sittliche und damit oft auch für die wirthschastliche Hebung der Gesunkenen die kirchliche Gemeinde sorgte! Oder ist das ein Traumbild, zu dessen Verwirklichung die evangelische Kirche^ der die Macht- und Geldmittel sowie

59 die straffe militärische Disciplin der katholischen fehlen, gar nicht im Stande ist? Besinnen wir uns wohl, ehe wir diese Frage bejahen, denn es ist, wie auch v. Soden mit Recht sagt, die Lebensfrage des Protestantismus als Kirche. Kann er keine lebendigen Gemeinden schaffen, so mag er als Culturferment, als Geistesrichtung, immerhin still und kräftig fortwirken, — als Kirche wird er dann rettungslos zunehmen­ der Ohnmacht verfallen. Aber, Gottlob, wir sind noch nicht genöthigt, jenes pessi­ mistische Urtheil zu sprechen. Der Mann, welcher in unsere Zeit die Losung: „Schafft lebendige Gemeinden!" so uner­ müdlich und energisch hineinruft wie kein anderer, der auch schon viele begeisterte und rührige Anhänger gefunden hat auf der Rechten und auf der Linken, der nach Zittel's Wort in einigen Jahrzehnten einen kirchengeschichtlichen Namen haben wird wie etwa Wichern, der Vater der inneren Mission, — Pastor Sülze in Dresden, hat nicht blos auf dem Papier ein Programm für die Herstellung solcher Gemeinden ent­ worfen, sondern auch bereits mit segensreichem Erfolg Hand ans Werk gelegt und damit die Ausführbarkeit seiner pia desideria bewiesen. In seinem früheren Wirkungskreis Chem­ nitz wie nun in Dresden hat er die Parzellirung der schwer­ fälligen Masfengemeinden durchgesetzt nach seinem Grundsatz (vgl. Prot. KZ. 1888, Nr. 36): „Eine Gemeinde darf nicht mehr als drei bis höchstens fünf tausend Mitglieder umfassen. Die Gemeindemitglieder müssen einander und ihren Pastor" — es darf in jeder Gemeinde nur einen geben! — „und dieser muß seine Gemeindemitglieder kennen, wenn überhaupt die

60 Gemeinschaft etwas nützen soll.

Erreicht man das nicht,

so sind die kirchlichen Einrichtungen nur Lug und Trug. Sie dienen dann nur dazu, die Gemeinden wie die Geist­ lichen durch Scheinarbeit zu verderben."

Der Pastor hat

nun in seiner Gemeinde die Gemeindeseelsorge — das ist das entscheidende Wort! — zu organisiren. sich zunächst an seinen Kirchenvorstand.

Er wendet

Dieser cooptirt

sich etwa die doppelte Anzahl von Hausvätern, die wo­ möglich in der bürgerlichen Armenpflege, welche in Sachsen nach dem sog. Elberfelder System eingerichtet ist, sich be­ währt haben, und bildet mit ihnen für die Seelsorge und Wohlthätigkeitsübung

einen Bezirksvorstand von un­

gefähr 15 Mitgliedern.

Dieser wiederum sucht womöglich

in jedem Hause — es ist dabei an großstädtische Miethskasernen gedacht — mindestens 1 Helfer zu gewinnen. Der so erweiterte Kreis ist der Hausväterverein.

Seine

Mitglieder sind verpflichtet, dem Pfarrer anzuzeigen, „wo ein Einzelner oder eine Familie in Gefahr steht, und also der äußeren und inneren Hülfe bedarf". Diese Hülfleistungen werden dann unter die Mitglieder des Hausväterver­ eins vertheilt, sodaß auf den einzelnen höchstens ein paar Familien kommen, deren er sich daher auch wirklich und dauernd annehmen kann.

Aus Gemeindemitteln, denen bei

so heilsamer Verwendung erfahrungsgemäß immer neue Er­ gänzungen zufließen, hilft er augenblicklichen Nothständen ab und erkauft sich damit zugleich einen Platz im Rathe und am Steuerruder der heruntergekommenen Familie, die er nun in vielen Fällen allmählich wieder emporbringen kann.

„So

61

arbeitet die ganze sittlich fortgeschrittene Gemeinde mit" an einem werkthätigen Alltagschristenthum und macht damit die Arbeit der Stadtmission überflüssig. Allmonatlich versammelt sich der Hausväterverband, um die gemachten Erfahrungen auszutauschen, allgemeinere religiöse und sittliche Fragen, aus welche jene hinweisen, zu besprechen und zweckmäßige Maßregeln für das weitere Wirken zu berathen. „Durch diesen Kreis läßt sich ein Gemeindegewiffen, ein Gemeindeehrgefühl bilden", und mit dieser Macht läßt sich manche Stätte der Verführung und Schande schließen, manches segens­ volle Asyl, Herbergen zur Heimath, Kleinkinderbewahranstal­ ten und dergl. eröffnen. Der Hausväterverband veranstaltet endlich regelmäßige Familienabende, die allen Gemeinde­ mitgliedern zugänglich sind und eine edle Unterhaltung und Belehrung, namentlich über die Geschichte der christlichen Religion, Sitte und Kirche, bieten. Für die mannigfachen Bestrebungen dieses Hausväter­ verbandes der organisirten Gemeinde wird also auf die Mit­ wirkung aller ernst gesinnten Gemeindemitglieder, insbesondere auch der gebildeten Männer, gerechnet. Sollten sich dieser Pflicht wirklich viele auf die Dauer entziehen mögen, wenn erst der Ruf an sie ergeht, die Organisation in's Leben tritt und sich zu bewähren beginnt? Wenn aber unsere Männer erst wieder sich gewöhnen, für die kirchliche Gemeinde zu arbeiten, dann werden sie bald auch einen stärkeren Trieb empfinden, mit ihr zu beten. Sind doch dann wirklich gemeinsame, werthvolleJntereffen da, die man in's Licht vor Gottes Angesicht stellen, für die man

62 neue Kraft und Weihe in gemeinsamem Gottesdienst suchen kann.

Erst dann wird namentlich das heil. Abendmahl

wieder seine religiöse Zugkraft ausüben, mit dem — gestehen wir es uns nur ehrlich! — jetzt viele gebildete Männer in der Gemeinde eigentlich gar keine innere Fühlung mehr haben. Ist es doch auch gar kein Wunder, daß, wenn die magische Auffassung desselben überwunden und das christliche Gemeinde­ gefühl noch nicht wieder erwacht ist, vielen das heil. Mahl, das doch von Ansang an zugleich ein Liebesmahl war, bei dem sich die Vielen als ein Leib darstellten, erfüllt von dem einen Geist Christi, keine wesentliche Lücke ihres religiösen Lebens auszufüllen scheint. Ob und wann die Hoffnungen sich erfüllen, denen wir in diesen Zeilen Ausdruck verliehen haben? Jedenfalls ist die evangelische Kirche, sind in erster Linie ihre geistlichen Führer verpflichtet, es zu versuchen.

Und das letzterwähnte Mittel

dürfte seiner Wirksamkeit nach in unserer practischen Zeit das erste sein.

Darum sollen wir protestantischen Theologen, ge­

rade wir, die wir uns an keine Tradition sklavisch gebunden fühlen, zwar gewiß nicht aufhören, immer weiter zu denken und unsere religiös-sittliche Weltanschauung auf einen immer zutreffenderen Ausdruck zu bringen, aber doch auch beher­ zigen, was Biedermann unter veredelnder Umgestaltung eines Herwegh'schen Refrains den Genossen seiner „freien Theologie" zuruft: „Wir haben lang genug gedacht, wir wol­ len endlich handeln!"

Wenn wir über die göttlichen Dinge

nicht blos tisteln und grübeln, sondern die göttliche Liebe in uns wirken lassen und „mit Gott Großes und Schweres voll-

63

Bringen", wenn wir die Räthsel der göttlichen Vorsehnng, die in zahllosen elenden, hohlängigen, verkommenen Brüdern unb Schwestern lebendig unter uns herumlaufen, durch die er­ wachende Thatkraft evangelischer Gemeinden zu lösen begin­ nen, dann werden sich die besten und gebildetsten, nicht blos unter unseren Frauen, sondern auch unter unseren Männern, wieder für unser kirchliches Leben gewinnen lasten. Das walte Gott!

Ein echt menschliches Christusbild. Predigt über Mc. 6,1 —5, gehalten im Universitätsgottesdienst zu Heidelberg.

Jede große Persönlichkeit giebt denen, auf die sie un­ mittelbar oder mittelbar gewirkt hat, ein Räthsel aus, an dessen Lösung der erkennende Verstand wie die verehrende Liebe eiu Interesse hat.

Wie sollte sich da die Christenheit

nicht vor allem darum bemüht haben, das Räthsel dessen zu lösen, welcher der Ansänger und Vollender ihres Glau­ bens und Lebens ist? danach gerungen,

als

Jahrhunderte lang hatte sie schon die große Kirchenversammlung zu

Chalcedon, dort wo nur eine schmale Meerenge die beiden Erdthcile Asien und Europa trennt,

sich feierlich zu dem

Christus bekannte, der „wahrhaft Gott und zugleich wahr­ haft Mensch" sei, verändert,

„in zwei Naturen unvermischt und un­

ungeschieden und ungetrennt".

Aber es

ist

schwer, eine lebendige Persönlichkeit in eine Formel zu fassen;

„du bindest den Geist an ein tönend Wort, doch

65 der freie wandelt im Sturme fort."

In den verschiedenen

Zeiten der Kirche wurde bald auf die göttliche, bald auf die menschliche Seite an Christus das Hauptinteresse ge­ richtet und das Schwergewicht gelegt. Eine lange Zeit sah man in Christus überwiegend den göttlichen Fremdling, der nur vorübergehend sein himm­ lisches Dasein

aufgegeben,

seiner göttlichen Allmacht und

Allwissenheit sich entäußert oder auch nur über das Pur­ purgewand

des Himmelskönigs

Menschensohnes geworfen hatte.

das

schlichte Kleid

des

Sein menschliches Werden

trat in den Hintergrund gegenüber seinem göttlichen Sein. In unserm Jahrhundert dagegen sucht man alles in seiner Entwickelung zu verstehen, geschichtlich zu begreifen, und dieses Interesse hat sich auch der Person Jesu zugewandt.

Eine

wirkliche Geschichte, eine ernstliche Entwickelung erlebt aber nicht der ewige Gott, sondern der Mensch, dessen Persön­ lichkeit einen Anfang hat.

Wenn darum frühere Jahrhun­

derte überwiegend die Lehre von der Gottheit Christi fest­ zustellen suchten, so hat das unsrige in zahlreichen Werken das Leben Jesu zu beschreiben, ein echtmenschliches Christus­ bild zu zeichnen versucht. Ist das aber nicht ein gefährliches Bestreben? Kann dabei nicht unser frommes, eines festen Haltes bedürftiges Gemüth

ebensoviel verlieren,

nüchterne Verstand gewinnt?

als

etwa der

begreifende,

Zeigt nicht unser Text, daß

die zeitgenössischen Bewohner von Nazareth, die doch schein­ bar die menschlichen Verhältnisse und Erlebnisse Jesu viel genauer kannten, als es unsern heutigen Forschern je erKritisches und Erbauliches.

5

66

reichbar ist, gerade deshalb nicht an ihn glaubten und von seiner Person keinen Segen hatten? Das ist gewiß, m. Fr., eine sehr zeitgemäße und hochwichtige Frage. Ver­ tiefen wir uns denn heute einmal gleichsam probeweise in ein echt menschliches Christusbild. Unser Text liefert uns dafür die Grundzüge und die Farben. Suchen wir es uns daher zunächst nach bestem Können auszumalen, um dann womöglich die rechte Stellung dazu zu gewinnen. I.

„Ist er nicht der Zimmermann, Mariä Sohn, und der Bruder Jacobi und Joses und Judä und Simonis? Sind nicht auch seine Schwestern allhier bei uns?" Da steht es vor uns, das kinderreiche Haus, dessen erstgeborener Sohn Jesus ist. Es mag nicht allzu reichlich darin zugegangen sein; es war vielleicht keine ganz ungeeignete Vorschule für den, der später von sich sagte: „die Füchse haben Gru­ ben, und die Vögel im Himmel haben Nester; aber des Mcnschensohn hat nicht, da er sein Haupt hinlege." Auch mochten die vielen Kinderköpfe vielerlei Sinne beherbergen, sodaß für ein selbstsüchtiges Gemüth genug Gelegenheit zu Reibungen geboten war, für ein demüthiges und liebevolles aber auch viel Gelegenheit, sich in andere zu schicken, ge­ schwisterliche Opfer zu bringen und Dienste zu leisten, und vollends für den Erstgeborenen, durch ein gutes Beispiel zu wirken und auf Recht, Ordnung und Frieden zu sehen. So wird Jesus „seinen Eltern Unterthan" und in jeder

67 Weise behilflich

gewesen sein.

Luther mag Recht haben,

wenn er sich den Knaben so lebendig vorstellt, wie er dem Vater das Essen auf den Zimmerplatz hinausträgt.

Und

als dann der Vater starb, von dem in unserm Texte nicht mehr die Rede ist, da lag es dem Aeltesten ob, der verwittweten Mutter eine Stütze,

den jüngeren Geschwistern

ein Vormund und Versorger zu sein.

So ward aus dem

Zimmermannssohn, der naturgemäß das väterliche Hand­ werk erlernt hatte, „der Zimmermann" unseres Textes. Da blieb für den Jüngling,

der berufen war,

einst

den hehren Tempel zu bauen, darin Gott im Geist und in der Wahrheit angebetet wird, keine Muße und Möglichkeit, die hohen Schulen der Schriftgelehrten zu besuchen, die Theolo­ gie seiner Zeit und seines Volkes zu studieren. Feierabendstunden mochte

er zu den heiligen

Nur in Schriften

greifen, die er im elterlichen Hause fand, um die religiöse Bildung selbstthätig zu erweitern, zu der die Gespräche der Eltern den Grund gelegt hatten, und am Sabbath erschien er als regelmäßiger und eifriger Hörer in derselben Syna­ goge,

in der wir ihn in unserm

heutigen Textabschnitte

lehrend auftreten sehen. Doch nicht lediglich nach innen gekehrt war sein Auge, es war auch offen für die Schönheiten der Natur bis auf die Lilien des Feldes herab

und für das mannigfaltige

Leben und Treiben der Menschen, das er in seinen Gleichniffen so anschaulich wiedergiebt.

So war er kein Grübler,

der sauer dreinschaut, sondern offen und zugänglich, gesund und natürlich und nahm zu an Gnade auch vor den Menschen.

68 Aber wenn ihn auch kein sichtbarer Heiligenschein um­ gab und die äußere Religionsübung bei ihm keine größere Zeit in Anspruch nahm als bei anderen frommen Israe­ liten, so reifte doch unter den Strahlen der väterlichen Re­ ligion in seinem Inneren eine unvergleichlich reichere Frucht als bei den Uebrigen. Die Liebe und Gnade Gottes, von der die Propheten und Psalmendichter auch schon in ergrei­ fenden Worten zu singen und zu sagen gewußt hatten, füllte seine ganze Seele aus; sein reines Herz schaute in dem Schöpfer Himmels und der Erde, dem Gotte Israels, seinen himmlischen Vater.

Das war ihm nicht mehr

ein Name neben anderen gleichtreffenden und gleichwerthigen, das bezeichnete nicht nur eine göttliche Eigenschaft unter vielen anderen, sondern das innerste, eigentliche Wollen und Wesen Gottes. Damit lag denn auch die Welt und das Leben vor ihm in einem neuen, verklärenden Lichte,

das aus seiner

frommen Seele hervorbrach: das ist „die Weisheit, die ihm gegeben war".

Aber diese Weisheit und wahrhafte

Gottseligkeit blieb seiner Umgebung, wenigstens nach ihrer ganzen Größe und Tragweite, verborgen. Nun aber erscholl bis in das ferne Galiläa hinein der Heroldsruf des gewaltigen Täufers: Thut Buße, das Him­ melreich ist nahe herbeigekommen.

Unter den Schaaren,

welche sich daraufhin an den Jordan begaben, um sich feierlich dem Gotte anzugeloben, der sein Reich unter den Menschen aufrichten wollte, erblicken wir auch den demüthi­ gen Nazarener.

Aber in der Weihestunde am Jordan, die

69 alle schlummernden Gotteskräfte in Jesu wachruft, unter dieser bunten, von ihm so verschiedenen Menge von fried­ losen Menschen, von Schuldbeladenen und unter das Joch der äußeren Satzung Gebeugten, vernimmt er — nicht aus den Wolken, sondern aus der Tiefe seines Gemüthes — die Stimme des lebendigen Gottes: „Du bist mein lie­ ber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe", und damit den Ruf, den Himmel, den er in sich trägt, auch den An­ deren auszuschließen, das Gottesreich auf Erden zu gründen, und zwar nicht auf dem Wege weltlicher Gewalt, sondern aus dem der Predigt und der dienenden, helfenden, wer­ benden Liebe. So trat denn Jesus, nachdem Johannes in den Kerker geworfen worden war, zunächst in seiner Heimath Galiläa auf und sprach: „Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist herbeigekommen.

Thut Buße und fasset Vertrauen auf

Grund der frohen Botschaft"; so ließ er denn seine Einla­ dung ergehen: „Kommet her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken, und bei mir werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen."

Und in der That, viele

kamen und fanden sie; manche fanden auch Wiederherstellung ihres gestörten geistigen Gleichgewichts, krankhafte

leibliche Zustände;

das

Heilung auch für

waren

die „Thaten,

die durch seine Hände geschahen", und von denen auch die Leute von Nazareth erfahren hatten,

aufhorchend und

staunend

als ihr Landsmann von seinem

Wohnsitz Kapernaum

am

schon neuen

belebten Ufer des galiläischen

Sees mit seinen Jüngern wieder in ihre Mitte trat und

70 in ihrer Synagoge zu ihnen redete wie Einer, der Vollmacht hat, und nicht wie die Schriftgelehrten.

II. Sehet da, m. L-, Welche Stellung

ein echt menschliches Christusbild!

werden

wir

dazu

einnehmen?

Etwa gar keine oder eine lediglich ablehnende?

Das

dürsten wir doch nur, wenn es nichts wäre als ein Ge­ dankenbild, ein Phantasiegewebe.

Das ist es aber nicht.

Freilich kann man kein zusammenhängendes, einheitliches Charakterbild mit einer so vollkommenen Zuverlässigkeit entwerfen, wie etwa der Photograph uns das Bild unsres auswendigen Menschen liefern kann.

Es liegen uns ja

immer nur Bruchstücke eines Menschenlebens vor;

uns

bleibt es überlassen, sie mit einander zu vergleichen, zu verbinden, zu ordnen und aus ihnen Schlüffe zu ziehen auf das, was dazwischen gelegen haben mag, vor allem aber auf das, was dahinter steckt, aus das Innere, als deffen Aeußerungen wir die Worte und Werke einer Per­ sönlichkeit betrachten, wenn wir nicht in ihrem Leben selbst Beweise von bewußter Verstellung entdecken.

Schon die

ältesten Lebens- und Charakterbilder Jesu, die wir besitzen, unsere Evangelien, sind doch nicht einfach Photographien, sondern Gemälde, die künstlerische Hände ausgeführt haben. Ein vollständig genaues Lebens- und Charakterbild können wir nicht einmal von uns selbst geben.

Das steht mit

unsichtbarer Schrift nur in den Büchern geschrieben, die der allwiffende Herzenskündiger führt.

In diesem Sinne

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heißt es freilich: niemand kennt den Sohn denn nur der Vater. Aber dennoch sollen auch wir nach bestem Wissen und Gewissen, mit offener Anerkennung unserer geistigen Schran­ ken, ein möglichst klares Bild von der Persönlichkeit Jesu Christi aus den ältesten und echtesten Quellen zu gewinnen suchen. Und wenn nun über seine wesentlichen Züge die meisten Sachverständigen zusammenstimmen, so muffen wir denn doch der Frage Stand halten: Wird dadurch Jesus unserm Herzen ferner gerückt? Wird er uns werthloser als früheren Geschlechtern der Christenheit? Geht uns damit unser Heiland und mit ihm der Friede Gottes im Leben und im Sterben verloren? Ich sage nein, m. Frde., und hoffe von euch dasselbe. Ihr werdet gewiß nicht mit der Mehrheit der Heimathsgenoffen Jesu Anstoß an ihm nehmen, weil ihr etwa seine göttliche Sendung, seine Gotteskraft und Gottesweisheit nicht mit seinem echt menschlichen Bilde zusammenreimen könntet; ihr werdet nicht mit seinen Angehörigen, die ihn schon in Kapernaum gewaltsam von seinem gefahrvollen und ihre Begriffe übersteigenden Beginnen abzuhalten gesucht hatten, das oberflächliche Urtheil fällen: er ist außer fich. Ihr hättet freilich auch nicht die Entschuldigung für euch, welche für die Bewohner von Nazareth immerhin in dem Sprichwort liegt, das Jesus in unserm Texte selbst anführt: Ein Prophet gilt nirgend weniger denn im Vaterlande und daheim bei den Seinen. Sie

72 haben ihn unter sich allmählich heranwachsen sehen, und es ist auch in Bezug auf geistiges Leben nicht leicht, das Gras wachsen zu hören. Jetzt steht plötzlich der Ausge­ reifte vor ihnen, und die religiöse Gluth, die bisher verdeckt in ihm geglommen hatte, schlägt in Heller Lohe vor ihnen empor. Da ist es nicht ganz unbegreiflich, daß sie kopf­ schüttelnd fragen: Woher kommt dem solches? Sie hatten ihn nur im stillen Privatleben gekannt; jetzt ist er auf einmal eine der öffentlichsten Persönlichkeiten geworden und in aller Leute Mund. Ist es nicht wenigstens verständ­ lich, daß ihnen die schlichte, engumgrenzte Vergangenheit dieses Mannes die Aussicht auf seine unermeßliche welt­ geschichtliche, heilsgeschichtliche Zukunft versperrt? Sie hatten ihn im Werktagsgewand mit Hammer, Beil und Richtmaß durch ihre Gassen wandern sehen, er hatte gewacht und geschlafen, gegessen und getrunken, geweint und gelacht wie sie und über alltägliche Dinge auch ungefähr wie sie ge­ sprochen. Jetzt aber gingen holdselige Worte ewigen Lebens aus seinem Munde, jetzt umstrahlte der Ruhm heilkräftigen Wirkens sein Haupt, jetzt stand er vor ihnen nicht mit dem Plan zu einem schlichten, hölzernen Bauwerk, sondern mit dem Grundriß des Reiches Gottes in der Hand: wollen wir sie da ohne weiteres verdammen, wenn sie diesen Gegensätzen rathlos gegenüberstehen, ja an dem Un­ gewöhnlichen, aus das sie noch nicht genügend vorbereitet sind, sogar Anstoß nehmen? Wie ganz anders verhält es sich mit uns, m. L.! Wir haben Christus nicht 30 Jahre dem Fleische nach ge-

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sannt, in unscheinbaren Lebensverhältnissen ihn sich bewegen gesehen und eben erst die Anfänge seiner öffentlichen Wirk­ samkeit kennen gelernt. Für uns ist er von Kindheit an der Mittelpunkt der Weltgeschichte, der Wendepunkt der Zeiten gewesen. Wir überschauen sein Leben und Wirken voll Geist und Liebe bis an den Tod am Kreuze, den er für seine selig- und freimachende Wahrheit und damit für die Erlösung der Menschheit starb; wir haben die Worte des ewigen Lebens, die er gesprochen, wie eine leuchtende Perlenschnur vor uns und brauchen sie nicht erst aus dem Flugsande des Alltäglichen, was auch das reichste Leben mit sich bringt, aufzuheben; wir schauen nicht blos aus die Thaten zurück, die in kurzer Frist durch seine Hände ge­ schehen sind, sondern auf die tiefen, umgestaltenden Wir­ kungen, die sein Geist im Laufe der Jahrhunderte in zu­ nehmendem Umfang auf die Menschheit ausgeübt hat. O wie viel mehr noch müßte sich da Christus doch über unsern Unglauben wundern als über den seiner Lands­ leute, unter denen sich übrigens doch auch schon eine kleine Minderzahl von solchen fand, die ihm den Glauben ent­ gegenbrachten, welcher die Bedingung seiner wirksamen Hülfe ist. Sehen wir uns nur den Schatz genau an, den dieser Jesus in irdenem Gefäße trägt, und wir werden nicht zögern, ihn, der unser menschlicher Bruder ist, doch zu­ gleich unsern Herrn und Heiland zu nennen, ja erwirb es uns gerade darum erst wahrhaft sein können, weil er ein wahrhaftiger Mensch gewesen ist. Denn so erst können Kritische« und Erbauliches.

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74 wir das Heil, das er in sich trug, ihm wirklich nacherleben, die Weisheit, die er uns lehrt, wirklich erfassen und uns zu eigen machen, dem Vorbild wirklich nachfolgen, das er uns gegeben hat; und das alles umso mehr, als er nicht in bevorzugter Lebenslage, von den Höhen der menschlichen Gesellschaft aus Anderen,

die sich tief unter ihm in des

Lebens Arbeit und Noth abmühten, wie ein Gott auf Erden erschien, sondern mitten im einfachen Volke stand und dennoch die höchste Bestimmung des Menschen erfüllte. Und wiederholen wir nun in empfänglicherer Stimmung als die Leute von Nazareth deren Frage: „Woher kommt dem solches?

Und was für Weisheit ist es, die

ihm gegeben ist, und solche Thaten, die durch seine Hände geschehen?" und denken wir zu seinen Heilungs­ thaten noch die unermüdliche Wirksamkeit und grenzenlose Opferwilligkeit des Sünderheilands hinzu, so werden wir gewiß unter dieses echt menschliche Lebensbild keine treffen­ dere Unterschrift setzen können als die:

„Gott war in

Christo und versöhnte die Welt mit sich selber".

Was

Jesus in Lehre und Leben zum Ausdruck brachte, strömte ja ohne künstliche Bohrversuche und ohne gewaltsames Pump­ werk in klarer, mächtiger Fülle aus innerer, verborgener Quelle hervor; es erwies sich an Jesus selbst und an Millionen von Menschenherzen nach ihm als die Macht, welcher sich niemand ohne Schaden an seiner Seele entziehen könnte, den sie einmal erfaßt hat, und mit der umgekehrt jeder die Welt und den Tod überwindet, der sich ihr willig und wirklich hiugiebt;

75 Es ist der Strom, der Schmerzen Und Angst vom Busen spült, Den heißen Durst der Herzen Mit süßer Labung kühlt; Der Strom, von dem vergebens Kein Lechzender genießt, Der Strom des Gotteslebens, Das durch die Menschheit fließt.

Und wie sollen wir dieses Gottesleben kurz bezeichnen, das zwar in tausend Adern

die Menschenwelt

durchzieht,

aber gerade in Jesu Christo mit seiner ganzen klaren Fülle an die tageshelle Oberfläche der Geschichte tritt? Es ist das ewige Erbarmen, Das alles Denken übersteigt. Deß, der mit offnen Liebesarmen Sich itieber zu dem Sünder neigt.

Die gnadenvolle,

aber auch zugleich erneuernde und er­

ziehende Gottesliebe ist es,

die in Jesu Christo

Mensch

geworden ist, die wir hier gleichsam bei der Hand fassen, der wir hier gleichsam in's Auge schauen können wie nirgends sonst, soweit unser Blick auch schweifen mag.

O was ist

das doch für ein unermeßlicher Segen, daß wir nun, ohne irgend eine sonstige Menschengröße zu verkennen oder zu verkleinern, doch

ganz bestimmt wissen, wo für uns die

beseligende

heiligende

und

brauchen, zu finden ist,

Gottesoffenbarung,

wo uns

die

wir

allen die Pforte des

Himmels offen steht, daß wir nun ein echtes Menschenkind kennen, in

dessen Namen der Evangelist mit Fug und

Recht sprechen darf: Vater!"

„Wer mich sieht, der siehet den

76 So laßt uns denn nicht mit der Mehrheit der Be­ wohner von Nazareth an dem echt menschlichen Bilde unsres Heilands Anstoß nehmen; lassen wir uns vielmehr von der Gotteskraft und Gottesoffenbarung, die uns daraus entgegenleuchtet, das herzliche Vertrauen, den Glauben, abgewinnen, ohne den freilich die gotterfüllte Persönlichkeit Jesu an anderen Persönlichkeiten „nicht eine einzige That thun", nicht den geringsten Segen wirken kann. Gleichen wir jenen wenigen Siechen in unserm Texte, die im schmerz­ lichen Gefühl ihrer Ohnmacht und Hülfsbedürftigkeit ihn gern auf sich wirken ließen, damit dieser Christus, deffen Geist unter uns lebendig ist, wie gestern, so heute und in alle Ewigkeit, auch uns gleichsam die segnenden Hände auflege und uns heile von unseren inneren Gebrechen!