Gute Behandlung im Alter?: Menschenrechte und Ethik zwischen Ideal und Realität 9783839451236

Die Frage der »guten Behandlung im Alter« gehört zu den Schlüsselthemen unserer Gesellschaft. Wie können wir gute Pflege

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Gute Behandlung im Alter?: Menschenrechte und Ethik zwischen Ideal und Realität
 9783839451236

Table of contents :
Inhalt
Vorwort: Die Rechte älterer Menschen und »Corona«
Ältere im Gesundheitswesen Menschenrechtliche und ethische Herausforderungen
Altersbilder und Gesundheit Grundlagen – Implikationen – Wechselbeziehungen
Die Menschenrechte Älterer Grundsatzüberlegungen und praktische Beispiele
Ältere Menschen in der Sprache der Medizin Ethische Fragen von Ausgrenzung und Ageism
Gutes Leben im Alter Verletzlichkeit und Reife älterer Menschen
(K)ein gutes Leben im Alter? Ethische Perspektiven auf Konzepte des Active Aging
Menschenrechte und Fairness in der Versorgung dementer Patient*innen. Ethische Überlegungen auf dem Weg zu einer alters- und demenzgerechten Versorgung im Krankenhaus
Menschenrechte und Lebensqualität in Alten(pflege)heimen Alles eine Frage der Perspektive?
Versorgung alter Pflegebedürftiger in der häuslichen Umgebung durch »24-Std.-Betreuungskräfte« Menschenrechtliche und ethische Fragen
Inwiefern und warum mangelt es an konkreter Umsetzung des besonderen Schutzes der Menschenrechte älterer Personen?
Autorinnen und Autoren mit Adressen

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Andreas Frewer, Sabine Klotz, Christoph Herrler, Heiner Bielefeldt (Hg.) Gute Behandlung im Alter?

Menschenrechte in der Medizin / Human Rights in Healthcare  | Band 8

Editorial Themen im Spannungsfeld von Medizin und Menschenrechten umreißen ein Spektrum höchst aktueller und brisanter Fragen: Auf welche Weise kann das Menschenrecht auf Gesundheit für Menschen mit Behinderungen, Flüchtlinge oder »Menschen ohne Papiere« effizient gewährleistet werden? Wie lassen sich Menschenwürde und Menschenrechte am Lebensende, in der Phase palliativer Begleitung sichern? Was bedeutet das Postulat der Autonomie für Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen? Die Reihe bietet ein Forum für die Klärung solcher praktischer Fragen und will gleichzeitig Beiträge zur Grundsatzreflexion des Verhältnisses von Menschenrechten und Medizin leisten. Die Reihe wird herausgegeben von Heiner Bielefeldt und Andreas Frewer.

Andreas Frewer (Prof. Dr. med., M.A.) ist Professor für Ethik in der Medizin an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg und European Master in Bioethics. Er leitet die Geschäftsstelle des Klinischen Ethikkomitees in Erlangen (UKER) und ist u.a. Senior Advisory Consultant der World Health Organization (WHO). Sabine Klotz (Dipl.-Pol.) ist Mitarbeiterin im Kraft-Stiftungs-Projekt »Menschenrechte und Ethik in der Medizin für Ältere« an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Christoph Herrler (Dr. phil.) ist Mitarbeiter im Kraft-Stiftungs-Projekt »Menschenrechte und Ethik in der Medizin für Ältere« an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Heiner Bielefeldt (Prof. Dr. Dr. h.c.) ist Inhaber des Lehrstuhls für Menschenrechte und Menschenrechtspolitik an der Universität Erlangen-Nürnberg und gehört zu den führenden Menschenrechtsexperten in Deutschland. Von 2003 bis 2009 war er Direktor des Deutschen Instituts für Menschenrechte sowie von 2010 bis 2016 Sonderberichterstatter über Religions- und Weltanschauungsfreiheit des UNO-Menschenrechtsrats. Für sein Engagement im Rahmen der Vereinten Nationen erhielt er 2017 das Bundesverdienstkreuz Erster Klasse.

Andreas Frewer, Sabine Klotz, Christoph Herrler, Heiner Bielefeldt (Hg.)

Gute Behandlung im Alter? Menschenrechte und Ethik zwischen Ideal und Realität

Mit freundlicher Förderung von Josef und Luise Kraft-Stiftung München Professur für Ethik in der Medizin, Universität Erlangen-Nürnberg Graduiertenkolleg »Menschenrechte und Ethik in der Medizin für Ältere«

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2020 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-5123-2 PDF-ISBN 978-3-8394-5123-6 https://doi.org/10.14361/9783839451236 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt

Vorwort: Die Rechte älterer Menschen und »Corona«

Heiner Bielefeldt, Christoph Herrler, Sabine Klotz, Andreas Frewer  | 7 Ältere im Gesundheitswesen Menschenrechtliche und ethische Herausforderungen

Andreas Frewer, Sabine Klotz, Christoph Herrler, Heiner Bielefeldt  | 17 Altersbilder und Gesundheit Grundlagen – Implikationen – Wechselbeziehungen

Susanne Wurm  | 25 Die Menschenrechte Älterer Grundsatzüberlegungen und praktische Beispiele

Heiner Bielefeldt  | 43 Ältere Menschen in der Sprache der Medizin Ethische Fragen von Ausgrenzung und Ageism

Andreas Frewer  | 67 Gutes Leben im Alter Verletzlichkeit und Reife älterer Menschen

Hartmut Remmers  | 95 (K)ein gutes Leben im Alter? Ethische Perspektiven auf Konzepte des Active Aging

Larissa Pfaller, Mark Schweda  | 125

Menschenrechte und Fairness in der Versorgung dementer Patient*innen. Ethische Überlegungen auf dem Weg zu einer alters- und demenzgerechten Versorgung im Krankenhaus

Lutz Bergemann  | 153 Menschenrechte und Lebensqualität in Alten(pflege)heimen Alles eine Frage der Perspektive?

Marie-Kristin Döbler  | 175 Versorgung alter Pflegebedürftiger in der häuslichen Umgebung durch »24-Std.-Betreuungskräfte« Menschenrechtliche und ethische Fragen

Barbara Städtler-Mach  | 223 Inwiefern und warum mangelt es an konkreter Umsetzung des besonderen Schutzes der Menschenrechte älterer Personen?

Benjamin Brow  | 247 Autorinnen und Autoren mit Adressen  | 275

Vorwort: Die Rechte älterer Menschen und »Corona« H EINER B IELEFELDT , C HRISTOPH H ERRLER , S ABINE K LOTZ , A NDREAS F REWER

Als die Covid-19-Pandemie im Frühjahr 2020 auch in Deutschland zunehmend ihre fatale Dynamik entfaltete, lagen fast alle Beiträge dieses Bandes bereits vor. Eine ausführliche Thematisierung der Krise und ihrer vielfältigen Auswirkungen auf die Gesellschaft, nicht zuletzt auf die medizinische Versorgung und die Menschenrechte Älterer, konnte daher in diesem Band nicht mehr für alle Beiträge, sondern nur noch punktuell geleistet werden. Dies bleibt künftigen Untersuchungen – auch im Rahmen der vorliegenden Reihe – vorbehalten. Da die Pandemie die Frage nach dem ethischen und menschenrechtlichen Umgang mit Älteren1 in grelles Licht gerückt hat, sollen in diesem Vorwort zumindest skizzenhaft einige aktuelle Beobachtungen und vertiefende Überlegungen zu Wort kommen. Niemals in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland sind Grundund Menschenrechte vergleichbar massiv eingeschränkt worden wie im Angesicht der aktuellen Covid-19-Krise. Freizügigkeit, Versammlungsfreiheit, Religionsfreiheit, Berufsausübungsfreiheit und andere Freiheitsrechte wurden im Frühjahr 2020 im Interesse der Eindämmung der Pandemie in einem

1

Vgl. zum Schutz der Menschenrechte Älterer in Zeiten der Covid-19-Pandemie auch die diesbezügliche Stellungnahme des Deutschen Instituts für Menschenrechte in DIMR (2020). Siehe ferner Frewer/Bielefeldt (2016) sowie Volkmer et al. (2020) zur »Corona-Gesellschaft« und verbunden mit diversen Blog-Beiträgen.

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Ausmaß beschnitten, das zuvor kaum vorstellbar gewesen wäre. Auch weitreichende Eingriffe in die informationelle Selbstbestimmung standen über Wochen hinweg auf der Agenda. In der Bevölkerung stießen die Maßnahmen weitgehend auf Verständnis, ja sogar auf aktive Zustimmung, galten sie doch dem Lebensschutz und der Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems.2 Inwieweit die verhängten Restriktionen rechtsstaatlich legitim sind und insbesondere dem rechtsstaatlichen Verhältnismäßigkeitsprinzip Genüge tun, war gleichwohl von Anfang an Gegenstand von Kontroversen. Auch im Kreise derjenigen, die von der Notwendigkeit staatlicher Maßnahmen zur Pandemie-Eindämmung überzeugt sind und zu diesem Zweck gewisse Grundrechtseinschränkungen für unverzichtbar halten, bleibt die rechtsstaatliche Legitimität mancher der ergriffenen Maßnahmen umstritten. Es ist zu vermuten, dass nicht alle ergriffenen Maßnahmen einer strikten Verhältnismäßigkeitsprüfung standhalten, die die sachliche Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit der jeweiligen Eingriffe am Maßstab der betroffenen Freiheitsrechte verlangt.3 Sicher ist, dass Gerichte, Parlamente und öffentliche Debatten sich mit solchen Fragen auch nach Ende der Covid-19Krise wohl noch lange werden beschäftigen müssen. Der vor allem zu Beginn der Krise erstaunlich weitreichende gesellschaftliche Konsens geriet schon im Laufe des Frühjahrs zunehmend unter Druck. Neben anhaltender Bereitschaft zu diszipliniertem Verhalten und gesellschaftlicher Solidarität angesichts einer präzedenzlosen Herausforderung manifestierten sich immer deutlicher alte und neue gesellschaftliche Spaltungslinien. Dies konnte schon deshalb nicht wirklich überraschen, weil die Pandemie mitsamt den zur ihrer Eindämmung ergriffenen Maßnahmen nicht alle Teile der Bevölkerung gleichermaßen stark traf. Wer über angemessenen

2

Ende März 2020 stimmten in einer Erhebung des ZDF-Politbarometers 75 Prozent der Bevölkerung der Aussage zu, dass die staatlichen Maßnahmen, die das Leben im Alltag einschränken, »gerade richtig« seien. Vgl. ZDF (2020).

3

Das Verhältnismäßigkeitsprinzip ist mehr als ein vages »Abwägungsprinzip«, mit dem es oft trivialisierend verwechselt wird. Als eine Freiheitsverträglichkeitsprüfung legt sich staatlichen Instanzen im Falle von Grund- und Menschenrechtseingriffen strikte Rechtfertigungspflichten auf, die anhand von Kriterien auch gerichtlicher Überprüfung unterliegen.

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Wohnraum mit Balkon oder Garten verfügte, konnte die wochenlangen Ausgangsbeschränkungen sicherlich leichter verkraften als Menschen, die in beengten Wohnverhältnissen zurechtkommen mussten. Für Single-Haushalte stellten sich noch einmal ganz eigene Herausforderungen eines Lebens in Einsamkeit. Die Möglichkeit, Arbeit im »Home-Office« zu verrichten, blieb auf bestimmte Berufe beschränkt; vor allem Menschen mit schlecht bezahlter Tätigkeit waren typischerweise davon ausgenommen. Mit den Anforderungen von »Home-Schooling« konnten Eltern mit gehobenem Bildungshintergrund und mit angemessener technologischer Ausstattung wohl erfolgreicher umgehen als bildungsferne Familien, deren Kinder in der Krise noch weiter schulisch abgehängt zu werden drohten.4 Wer als Beamtin oder Pensionär über ein staatlich garantiertes stabiles Einkommen verfügt, blieb von finanziellen Sorgen zunächst verschont – ganz anders als viele Arbeitnehmerinnen, Selbständige oder Künstler, die von Anfang an um ihre ökonomischen Existenzgrundlagen fürchten mussten. Traditionelle Geschlechterrollen, die man weitgehend für überwunden hielt, traten mancherorts mit unerwarteter Deutlichkeit wieder hervor.5 Nicht vergessen werden darf auch der vermutlich massive Anstieg an häuslicher Gewalt, unter der bekanntermaßen vor allem Frauen und Kinder zu leiden haben.6 Die Frage, inwieweit auch ältere Menschen, etwa Pflegebedürftige, von zunehmender häuslicher Gewalt aufgrund von Ausgangsbeschränkungen betroffen waren, hat bislang noch wenig öffentliche Aufmerksamkeit gefunden; es wäre sicherlich wichtig, dies genauer zu untersuchen. Im Kampf gegen die Pandemie sind jedenfalls gesellschaftliche Bruchlinien, die eigentlich seit langem bekannt sind, einmal mehr offen, ja mit Wucht zu Tage getreten.7 Auch das Verhältnis der Generationen sah sich durch die Covid-19-Krise einem ungewohnten Stresstest ausgesetzt.8 Damit sind wir beim engeren

4

Vgl. Ackeren et al. (2020).

5

Vgl. Allmendinger (2020).

6

Siehe dazu die Befürchtungen der Nichtregierungsorganisation Terre des Femmes (2020).

7

Zu einem weiten Spektrum an Beiträgen zur »Corona-Gesellschaft« vgl. Volkmer

8

Hier ist der Begriff der »Generation« nicht intertemporal, sondern temporal ge-

et al. (2020). meint. Intertemporal verstanden sind alle gegenwärtig lebenden Menschen Teil

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Thema des vorliegenden Bandes. Bei der öffentlichen Begründung der Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie spielte die Sorge um ältere Menschen durchgängig die entscheidende Rolle.9 Tag für Tag stand sie im Zentrum fachwissenschaftlicher und politischer Mahnungen: Während jüngere Menschen ohne Vorerkrankungen in der Regel gute Chancen hätten, bei einer Infektion mit Covid-19 glimpflich davonzukommen, gehe es für hochaltrige Menschen buchstäblich um Leben und Tod – so die zentrale Botschaft. Nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland hat die gebotene Solidarität mit älteren Menschen in der politischen Rhetorik eine vergleichbar starke Rolle gespielt wie angesichts der Pandemie. »Um unsere Großeltern zu schützen«, so hieß es tagtäglich in etlichen Varianten, müssten wir uns als Gesamtgesellschaft Einschränkungen und Zumutungen auferlegen.10 Insgesamt zeigte sich in der Bevölkerung ein hohes Maß an Bereitschaft, solchen Mahnungen Folge zu leisten. Anrührend waren darüber hinaus zahlreiche Beispiele spontaner Solidarität und praktischer Hilfestellung.

derselben Generation; temporal unterscheidet man Generationen nach Altersgruppen, also etwa die Generation der über Sechzigjährigen. Vgl. Tremmel (2005). 9

Bemerkenswert ist, dass hierbei der Schutz von »besonders vulnerablen« Gruppen in den Fokus gerückt wurde. Wie der Soziologe Stephan Lessenich (2020) kritisch bemerkt, waren mit diesen Gruppen »chronisch kranke, insbesondere aber alte Menschen« in Deutschland gemeint; andere Gruppen mit besonderem Schutzbedarf (wie beispielsweise Menschen in Flüchtlingslagern, Hartz-IVEmpfänger oder Wohnungslose) hätte diese politische Verwendung des Vulnerabilitätsbegriffs aber nicht erfasst. Siehe dazu auch Bergemann/Frewer (2018).

10 So heißt es etwa begründend in der Pressemitteilung der Bayerischen Staatsregierung, die anlässlich der Ausrufung des Katastrophenfalls und der Verkündung von Veranstaltungsverboten und Betriebsuntersagungen am 16. März veröffentlicht wurde: »Insbesondere ältere Menschen und solche mit vorbestehenden Grunderkrankungen sind von schweren Krankheitsverläufen betroffen und können an der Krankheit sterben.« Vgl. Bayerische Staatsregierung (2020). Auch Bundesfamilienministerin Franziska Giffey äußerte sich wie folgt: »Ältere Menschen und Menschen mit Vorerkrankungen brauchen jetzt die Solidarität aller Generationen.« Vgl. BMFSFJ (2020).

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Gerade auch Kinder und Jugendliche erklärten sich in vielen Nachbarschaften bereit, für Kranke und Ältere Einkäufe zu erledigen. Derartige Mut machende Beispiele wurden auch in den Medien zurecht öffentlich gewürdigt. Es darf nicht vergessen werden, dass ältere Menschen, deren Wohlergehen in der politischen Begründung der staatlich verhängten Freiheitsbeschränkungen eine so ungemein prominente Rolle spielte, auch ihrerseits massiv unter diesen Beschränkungen litten. Sonst entstünde der schiefe Eindruck, dass die Alten einseitig vom Opfergang der Jungen »profitiert« hätten. In den Osterfeiertagen die Kinder und Enkel nicht sehen zu können, traf etliche ältere Menschen hart. Auch der Ausfall öffentlicher Gottesdienste, die ja überproportional von Älteren besucht werden, war sicherlich für viele nicht leicht zu verkraften. Von verstorbenen Angehörigen, Freundinnen und Freunden nicht angemessen Abschied nehmen zu können, dürfte wiederum besonders alte Menschen ins Mark getroffen haben. Zwar haben die trostlosen Bilder von Beerdigungen, in denen die Angehörigen einander keine Nähe zeigen durften, quer zu den Generationen verstörend gewirkt; dennoch hat dieses Thema für Ältere sicherlich noch einmal gesteigerte existenzielle Bedeutung. Besuchsverbote in Alters- und Pflegeheimen haben die betroffenen Familien insgesamt enorm belastet; viele Seniorinnen und Senioren sahen sich dabei über lange Wochen hinweg regelrecht in die Einsamkeit eingesperrt. Zugleich erwies sich, dass manche Senioren- und Pflegeheime »Hotspots« des Virus geworden waren – mit der Konsequenz zahlreicher Todesfälle. Der Grund dafür lag offenbar nicht nur in der generell stärkeren Gefährdung älterer Menschen, sondern auch in der schlechten Ausstattung vieler Heime mit Schutzvorkehrungen. Die hier zu verzeichnenden Versäumnisse dürften die Gerichte noch intensiv beschäftigen. Der Vorwurf der Fahrlässigkeit muss dabei allerdings ein Stück weit auf die Gesellschaft im Ganzen zurückschlagen. Die über Wochen hinweg tagtäglich wiederholte öffentliche Aufforderung, Zumutungen und Einschränkungen insbesondere im Interesse älterer Menschen in Kauf zu nehmen, barg freilich auch Risiken für den intergenerationellen Zusammenhalt. Die beständige Mahnung zur Solidarität mit Älteren konnte, das war absehbar, aggressive Reaktionen gegenüber Angehörigen der älteren Generation auslösen. Anzeichen in dieser Richtung waren von Anfang an zu verzeichnen. Naheliegende Rückfragen danach, wie weit die staatlich verhängten Einschränkungen denn gehen und wie lange sie anhalten sollten, zeigten nicht selten einen ambivalenten Zungenschlag.

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In manchen Fällen entgleisten sie in offene Ressentiments gegen Ältere – etwa in die suggestive Frage, ob man zugunsten von »Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot« wären,11 die wirtschaftliche Entwicklung des Landes und die Zukunftsperspektiven der Jugend auf Spiel setzen wolle. In manchen öffentlichen Positionierungen wurden die Generationen in solcher Weise populistisch gegeneinander ausgespielt. Hinweise auf die sowieso zeitlich begrenzte Lebensperspektive hochaltriger Menschen können suggerieren, dass der »Wert« des menschlichen Lebens von der zu erwartenden Anzahl gesunder Lebensjahre abhängig sei – mit der Konsequenz, dass dieser »Lebenswert« sukzessiv abnehme und ab einem bestimmten Alter womöglich sein »Verfallsdatum« erreicht habe. Mit einem menschenrechtlichen Ansatz, der das Recht auf Leben in der Würde jedes Menschen – und zwar in strikter, explizit auch altersunabhängiger Gleichheit der Würde – verankert sieht,12 sind derartige utilitaristische Orientierungen unvereinbar. Nichtsdestotrotz waren sie in öffentlichen Stellungnahmen mindestens »subkutan« oftmals spürbar; gelegentlich wurden sie auch expressiv verbis artikuliert. Auch dies gehört zu den verstörenden Erfahrungen angesichts der Pandemie. Im Unterschied zu einigen anderen europäischen Ländern blieb Deutschland vorerst von tragischen »Triage«-Entscheidungen im Kontext von Covid-19 verschont. Schockierende Bilder aus Italien oder Spanien haben aber gezeigt, was auch hierzulande drohen könnte, wenn die medizinischen Kapazitäten nicht zur Versorgung aller Bedürftigen ausreichen. Fragen der Triage, die zuvor eher als Spezialthema für Fachleute der Katastrophenmedizin galten, gerieten damit in die öffentliche Debatte, selbst in die TV-Talkshows. Sowohl einige medizinische Fachverbände als auch der Deutsche Ethikrat sahen sich im März 2020 veranlasst, Kriterien für Triage-Entscheidungen zu präsentieren,13 die ein breites Echo in der Presseberichterstattung fanden. Auch dies war neu. Selbst wenn sich reale Triage-Entscheidungen in Deutschland vorerst glücklicherweise als nicht notwendig erwiesen, sind Fragen nach prioritärer Behandlung angesichts von Ressourcenkonkurrenz

11 So die Formulierung des Tübinger Oberbürgermeisters Boris Palmer (geb. 1972); zit. nach dpa (2020). 12 Vgl. Bielefeldt (2017). 13 Vgl. DIVI (2020); Deutscher Ethikrat (2020).

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bei lebenserhaltenden medizinischen Leistungen mit Wucht zum Thema öffentlicher Kontroversen geworden. Sie dürften auch nach Abklingen der aktuellen Krise auf der Agenda bleiben. Eine angemessene Diskussion dieser schwierigen Fragen verlangt sowohl Sensibilität als auch kategoriale Klarheit. Daran hat es freilich gelegentlich gefehlt. So musste man erleben, dass die Triage-Kriterien individueller Dringlichkeit und Erfolgsaussicht einer medizinischen Behandlung immer wieder mit utilitaristischen Überlegungen über den »verbleibenden Wert« menschlichen Lebens im hohen Alter vermengt wurden. Man wird zugeben müssen, dass es nicht immer leicht ist, die erforderliche begriffliche Trennschärfe angesichts komplexer Phänomene durchzuhalten. Sie bleibt dennoch wichtig. Dass in einer tragischen Entscheidungssituation ein älterer Patient aufgrund individuell schlechter Erfolgsaussichten ggf. zugunsten einer jüngeren Patientin mit höheren Erfolgsaussichten bei einer lebensrettenden Maßnahme zurückstehen soll, kann im konkreten Fall vertretbar, weil unvermeidlich sein. Daraus jedoch zu schließen, dass das Lebensrecht älterer Menschen im Vergleich zum Lebensrecht Jüngerer einen »geringeren Wert« habe und generell weniger Schutz erfahren solle, wäre ein gravierendes Missverständnis. Wer so denkt und handelt, legt die Axt an das tragende Prinzip der Verfassungsordnung, nämlich den gebotenen Respekt der Menschenwürde, der für alle Menschen und in allen Lebensphasen strikt gleich gilt. Hier ist kategoriale Klarheit unumgänglich. Leider hat sich gezeigt, dass Debatten um die Triage Einbruchsstellen für utilitaristische Kalkulationen sein können, in denen das Menschenrecht auf Leben in gefährliche Abhängigkeit von Prognosen der zu erwartenden Lebensjahre und Lebensqualität zu geraten droht. Dass diese Gefahr nicht nur hypothetisch besteht, zeigt das Krisenmanagement benachbarter Länder, die sich tatsächlich mit tragischen Triage-Entscheidungen konfrontiert sahen. Kritischen Medienberichten zufolge sollen dabei Menschen jenseits eines bestimmten Alters in Anbetracht knapper Ressourcen pauschal von rettender Beatmung ausgeschlossen worden sein.14 Sollten sich diese Berichte bestätigen, wäre dies ein gravierendes Beispiel für Altersdiskriminierung mit tödlichen Folgen. Wir brechen diese skizzenhaften Beobachtungen und Überlegungen hier ab. Die Erfahrungen, die unsere Gesellschaft im Umgang mit der Covid-19-

14 Vgl. Hummel (2020).

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Krise gemacht hat und weiterhin macht, werfen – so viel ist klar – medizinethische und menschenrechtliche Fragen von enormer praktischer wie grundsätzlicher Brisanz auf, die uns noch lange werden beschäftigen müssen. Wie bei keiner gesellschaftlichen Krise zuvor ging es dabei wesentlich um das Verhältnis der Generationen zueinander. Innerhalb der vielschichtigen Solidaritätsaufrufe stand das Gebot, Solidarität mit älteren Menschen zu üben und in ihrem Interesse Einschränkungen hinzunehmen, durchgängig im Zentrum. Die Bereitschaft, solche Solidarität zu praktizieren, ist in unserer Gesellschaft anscheinend vielfach vorhanden und prinzipiell breit verankert; sie besteht aber nicht ohne Brüche und Widersprüche, die manchmal scharf zu Tage getreten sind. Es ist deshalb durchaus vorstellbar, dass angesichts solcher Erfahrungen auch die bereits seit längerem erhobene Forderung nach einer eigenen internationalen Konvention über die Menschenrechte Älterer neuen Rückenwind gewinnen wird. Dass die Rechte älterer Menschen, im Gesamtkontext der Menschenrechte auch spezifische Aufmerksamkeit verdienen, ist jedenfalls mehr denn je offensichtlich geworden – und der inhaltliche Schwerpunkt des vorliegenden Bandes.

LITERATUR Ackeren, Isabell van/Endberg, Manuela/Locker-Grütjen, Oliver (2020): »Chancenausgleich in der Corona-Krise. Die soziale Bildungsschere wieder schließen«, in: Die deutsche Schule 112, 2 (2020), 245–248. Allmendinger, Jutta (2020): »Die Frauen verlieren ihre Würde«, in: Zeit Online, vom 12. Mai 2020, Online: https://www.zeit.de/gesellschaft/zeit geschehen/2020-05/familie-corona-krise-frauen-rollenverteilung-rueck entwicklung/komplettansicht [21.05.2020]. Bayerische Staatsregierung (2020): »Corona-Pandemie/Bayern ruft den Katastrophenfall aus/Veranstaltungsverbote und Betriebsuntersagungen«, Pressemitteilung vom 16. März 2020, Online: https://www.bayern.de/ corona-pandemie-bayern-ruft-den-katastrophenfall-aus-veranstaltungsverbote-und-betriebsuntersagungen/ [21.05.2020]. Bergemann, Lutz/Frewer, Andreas (Hg.) (2018): Vulnerabilität und Autonomie in der Medizin. Menschenrechte – Ethik – Empowerment, Menschenrechte in der Medizin/Human Rights in Healthcare 6, Bielefeld: transcript.

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Bielefeldt, Heiner (2017): »Menschenwürde und Autonomie am Lebensende. Perspektiven der internationalen Menschenrechte«, in: Welsh et al. (2017), 45–66. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) (2020): »Corona-Pandemie: Ältere Menschen und gefährdete Gruppen schützen«, Pressemitteilung vom 19. März 2020, Online: https://www. bmfsfj.de/bmfsfj/aktuelles/presse/pressemitteilungen/corona-pandemie-aeltere-menschen-und-gefaehrdete-gruppen-schuetzen/153716 [08.05.2020]. Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) (2020): »Entscheidungen über die Zuteilung von Ressourcen in der Notfall- und der Intensivmedizin im Kontext der COVID-19Pandemie«, Fassung vom 25. März 2020, Online: https://www.divi.de/ empfehlungen/publikationen/covid-19/1540-covid-19-ethik-empfehlung -v2/file [08.05.2020]. Deutsche Presseagentur (dpa) (2020): »Palmer: ›Menschen, die in halbem Jahr sowieso tot wären‹«, in: Süddeutsche Zeitung, 28. April 2020, Online: https://www.sueddeutsche.de/gesundheit/gesundheit-tuebingenpalmer-menschen-die-in-halbem-jahr-sowieso-tot-waeren-dpa.urn-news ml-dpa-com-20090101-200428-99-863349 [08.05.2020]. Deutscher Ethikrat (2020): »Solidarität und Verantwortung in der Corona Krise. Ad-hoc Empfehlungen«, Berlin, 27. März 2020, Online: https://www.ethikrat.org/fileadmin/Publikationen/Ad-hoc-Empfehlungen/deutsch/ad-hoc-empfehlung-corona-krise.pdf [08.05.2020]. Deutsches Institut für Menschenrechte (DIMR) (2020): Menschenrechte Älterer auch in der Corona-Pandemie wirksam schützen, Berlin: DIMR. Online: https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/fileadmin/user_up load/Publikationen/Stellungnahmen/Stellungnahme_Menschenrechte_ AElterer_auch_in_der_Corona-Pandemie_wirksam_schuetzen.pdf [08.05.2020]. Frewer, Andreas/Bielefeldt, Heiner (Hg.) (2016): Das Menschenrecht auf Gesundheit. Normative Grundlagen und aktuelle Diskurs, Menschenrechte in der Medizin/Human Rights in Healthcare 1, Bielefeld: transcript. Lessenich, Stephan (2020): »Verwundbar ist, wer zu uns gehört«, in: Süddeutsche Zeitung, 6. Mai 2020, Online: https://www.sueddeutsche. de/kultur/coronavirus-vulnerabilitaet-triage-1.4897768 [08.05.2020].

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Hummel, Tassilo (2020): »Was hat Frankreich mit den Alten gemacht?«, in: Zeit Online, 25. April 2020, Online: https://www.zeit.de/ wissen/gesundheit/2020-04/coronavirus-frankreich-triage-altenheimetodesfaelle/komplettansicht [21.05.2020]. Terre des Femmes (2020): »Corona-Pandemie – mehr als ein Gesundheitsrisiko: Das Thema häusliche Gewalt ist für TERRE DES FEMMES mehr denn je aktuell«, März 2020, Online: https://www.frauenrechte.de/ unsere-arbeit/themen/haeusliche-und-sexualisierte-gewalt/aktuelles/ 4288-corona-pandemie-mehr-als-ein-gesundheitsrisiko-das-themahaeusliche-gewalt-ist-fuer-terre-des-femmes-mehr-denn-je-aktuell [08.05.2020]. Tremmel, Jörg (2005): »Generationen-Gerechtigkeit in der Verfassung«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ) 8 (2005). Online: https://www. bpb.de/apuz/29220/generationen-gerechtigkeit-in-der-verfassung [08.05.2020]. Welsh, Caroline/Ostgathe, Christoph/Frewer, Andreas/Bielefeldt, Heiner (Hg.) (2017): Autonomie und Menschenrechte am Lebensende. Grundlagen, Erfahrungen, Reflexionen aus der Praxis, Menschenrechte in der Medizin/Human Rights in Healthcare 3, Bielefeld: transcript. Volkmer, Michael/Werner, Karin (Hg.) (2020): Die Corona-Gesellschaft. Analysen zur Lage und Perspektiven für die Zukunft, Bielefeld: transcript. Zweites Deutsches Fernsehen (ZDF) (2020): »Corona: Drei Viertel finden Maßnahmen richtig«, ZDF-Politbarometer, Online: https://www.zdf.de/ nachrichten/politik/politbarometer-corona-massnahmen-100.html [08.05.2020].

Ältere im Gesundheitswesen Menschenrechtliche und ethische Herausforderungen A NDREAS F REWER , S ABINE K LOTZ , C HRISTOPH H ERRLER , H EINER B IELEFELDT

Im Mai 1999 fand in Paris der internationale Kongress »Worldwide Revolution in Longevity and Quality of Life« statt;1 an der Grenze zum neuen Jahrtausend sollte die epochale Entwicklung der »Altersrevolution« in ihren vielfältigen Auswirkungen reflektiert werden. Wir leben in einer Generation, die in demographischer Hinsicht grundlegende Umwälzungen erfährt: »The Longevity Revolution« nannte Robert N. Butler, amerikanischer Pionier der zeitgenössischen Altersforschung, diese neuen Möglichkeiten und Herausforderungen.2 Es handelt sich um eine friedliche und stille Revolution, aber gleichwohl um bemerkenswerte und einschneidende Entwicklungen mit ungeahnter Verlängerung der durchschnittlichen Lebenserwartung. Auch in der deutschsprachigen Literatur wird der Begriff »Altersrevolution« verwendet, nicht erst zu Beginn des neuen Jahrtausends, sondern sogar bereits Anfang der 1970er Jahre.3 Das Ideal eines langen und erfüllten Lebens bis zum

1

Publiziert im Folgejahr, siehe Butler/Jasmin (2000). Die Konferenz war vom 18.–20. Mai in Paris.

2

Butler (2008).

3

Sieber (1972), siehe ferner u.a. auch Bruns et al. (2008). Zu möglichen Auswirkungen dieser (R)Evolution auf persönliches Altern und etwa Freizeitverhalten gibt es eine breite Palette populärer Darstellungen, siehe u.a. Agricola (1999) und Forberger/Sommer (2006) sowie generell Wittwer et al. (2020).

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100. Geburtstag ist selbstverständlich bereits sehr viel älter: Seit den ersten Hochkulturen und insbesondere der griechischen Antike entwickelten sich zahlreiche Konzepte zur Kunst eines verlängerten Lebens und guten Alterns, zu Langlebigkeit oder gar Unsterblichkeit. Speziell die Frühe Neuzeit brachte Bilder von »Makrobiotik« und idealen »Lebenstreppen« als populäre Illustration zur Darstellung des menschlichen Entwicklungszyklus und der Lebensalter in Zehnerschritten: »Zehn Jahr ein Kind. Zwanzig Jahr ein Jüngling. Dreißig Jahr ein Mann. Vierzig Jahr wohlgethan. Fünfzig Jahr stille stahn. Sechzig Jahr geht‘s Alter an. Siebzig Jahr ein Greis. A[c]htzig Jahr weiß. Neunzig Jahr ein Kinderspott. Hundert Jahr Gnade von Gott«.4

Das Alter sollte also mit 60 Jahren beginnen, wobei auch diese Einteilung längst von demographisch-gesellschaftlichen Entwicklungen überholt ist.5 Gleichzeitig wird nicht nur durch die an- und absteigende Form der Lebenstreppe – Höhepunkt ist das 50. Lebensjahr, danach gehe es wieder abwärts – eine gewisse Abwertung des Älterwerdens deutlich, sondern expressis verbis der Greis zur »Gnade von Gott« oder gar zu »Kinderspott«.6 Sehr schnell rücken auf diese Weise ethische und menschenrechtliche Dimensionen von Altersdiskriminierung (Ageism)7 ins Zentrum der Debatten: Es kann natürlich nicht nur darum gehen, dem Leben quantitativ Jahre hinzuzufügen, sondern die Jahre auch qualitativ mit gutem Leben zu füllen. Eine Schlüsselfrage unserer Zeit lautet daher: Wie kann eine »gute Behandlung« »im Alter« gelingen? Auf welche Weise sollte mit älteren Menschen

4

Friedrich Campe: Die Stufenjahre des Menschen (19. Jh.). Vgl. Joerißen (1983).

5

Die »Generali Altersstudie« etwa untersucht in ihrer großen empirischen Erhebung an 4.000 Befragten Lebensverhältnisse und Einstellungen der 65- bis 85Jährigen. Darüber hinaus spricht man von Hochaltrigen, -betagten oder Greisen. Vgl. Generali Deutschland AG (2017).

6

Der Greis ist zudem eher durch das »Weiß« im Sinne des Ergrauens der Haare

7

Zur Entwicklung und Formen von Ageism als Altersdiskriminierung siehe insbe-

gekennzeichnet als durch »Weisheit«. sondere die Beiträge von Frewer und Pfaller/Schweda im vorliegenden Band.

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und den »gewonnenen Jahren«8 dann angemessen umgegangen werden? »Behandlung« wird an dieser Stelle in zweifacher Hinsicht verstanden: Es geht nicht nur um die Handlung(en) im Sinne von Therapien innerhalb des weiten Spektrums medizinischer Disziplinen, sondern übergreifend um den Umgang mit älteren Menschen in unserer gesamten Gesellschaft. Dies spannt den Bogen auf für die Beiträge des vorliegenden Buchs zwischen Ideal und Realität, menschenrechtlichen wie ethischen Konzepten und dem tatsächliche Verhalten im Umgang mit Älteren in der Praxis. Susanne Wurm präsentiert zunächst das Thema Altersbild und Gesundheit. Sie zeigt dabei grundlegende Dimensionen sowie Implikationen und Wechselbeziehungen zwischen Vorstellungen von Alter, subjektivem Altfühlen und objektiver Gesundheit. Heiner Bielefeldt legt Grundlagen für die menschenrechtlichen Probleme von Älteren in der Gesellschaft. Er fächert das Spektrum der relevanten Rechte auf und erläutert seine Überlegungen an drei praktischen Beispielen. Andreas Frewer konzentriert sich auf ethische Fragen von Altersdiskriminierung (Ageism) in der Medizin. Anhand der Sprache in Klinik, Gesundheitswesen und Literatur sensibilisiert er für problematische Bezeichnungen und Zuschreibungen in Bezug auf Ältere. Hartmut Remmers fragt nach Vulnerabilität und Reife im höheren Alter. Er reflektiert dabei die Bedingungen der Möglichkeit für ein gutes Leben älterer Menschen und Fragen von gelungenem Altern. Die gleiche Zielrichtung verfolgt der Artikel von Larissa Pfaller und Mark Schweda. Sie untersuchen ethische Perspektiven auf Konzepte eines »aktiven Alterns« (Active Ageing) in Bezug auf positive wie auch negative Implikationen für die letzte Lebensphase – wann bedeutet es warum (k)ein gutes Leben im Alter? Lutz Bergemann bearbeitet das Thema Menschenrechte und Fairness in der Versorgung dementer Patient*innen. Seine ethischen Überlegungen beziehen sich insbesondere auf eine alters- und demenzgerechte Versorgung in Kliniken. Marie-Kristin Döbler stellt Überlegungen zu menschenrechtlich guter Behandlung und Lebensqualität in deutschen Alten(pflege)heimen vor. Im Rahmen eines umfangreichen empirischen Forschungsprojekts hat sie Erfahrungen und Perspektiven der Betroffenen in der Praxis untersucht. Barbara Städtler-Mach bearbeitet das Thema häusliche Pflege durch Vollzeit-Betreu-

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Vgl. insbesondere Imhof (1981) sowie Wittwer et al. (2020) und Fuchs (2021).

20 | ANDREAS FREWER, SABINE KLOTZ, CHRISTOPH HERRLER, HEINER BIELEFELDT

ungskräfte. Sie analysiert wichtige moralische und menschenrechtliche Fragen der 24-Stunden-Rundum-Versorgung älterer Pflegebedürftiger durch in der Regel osteuropäische Kräfte. Benjamin Brow untersucht in seinem Beitrag, welche Rolle der Schutz von Menschenrechten älterer Personen auf der Ebene der Vereinten Nationen spielt. Dabei fragt er nach Gründen, die eine eigene Konvention der Menschenrechte Älterer bisher nicht zustande kommen ließen.9 Das vorliegende Buch aus dem Graduiertenkolleg »Menschenrechte und Ethik in der Medizin für Ältere« möchte auf die besondere Spannung zwischen Theorie und Praxis, zwischen Ideal(en) und Realität hinweisen. Durch die Analyse der Differenzen von normativ-rechtlich gebotenem und in der Handlungspraxis vorzufindendem Verhalten sollen Erkenntnisse gewonnen und Ansätze zur schrittweisen Überwindung der Defizite herausgearbeitet werden. Auf welche Weise wird in der Praxis generell gut gehandelt? Wie können ältere Menschen in einzelnen Brennpunkten medizinischer Versorgung und pflegerischer Betreuung gut bzw. besser behandelt werden? Gerade in der jüngsten Gegenwart ist durch die Corona-Krise die Bedeutung des Schutzes älterer Menschen auf eine dramatische Weise in den Mittelpunkt von gesellschaftlicher und politischer Handlungspraxis gerückt. Die errungene Verlängerung der Lebensspanne ist durch die besondere Mortalität im höheren Lebensalter im Rahmen der Pandemie grundsätzlich gefährdet. Ganz neue Fragen der Verteilungsgerechtigkeit, aber auch sozialer Dimensionen wie Schutz versus Einsamkeit, Vor- und Nachteile von Quarantäne-Maßnahmen, Sicherheits- versus Freiheitsrechte und viele andere Probleme rücken weltweit neu ins Rampenlicht intensiver Erörterungen. Welche Bereiche sind in unseren Gesellschaften wirklich »systemrelevant«? Dass Pflege und Medizin hier eine Schlüsselrolle spielen, hat die CoronaKrise nachdrücklich bewiesen. Die besondere Bedeutung der grundlegenden Fragen von Menschenrechten und Ethik für Ältere könnte kaum stärker in den Fokus gerückt werden; auch das Vorwort zur Corona-Krise zeigt dies. Hoffentlich kann der vorliegende Band Impulse für eine gute Praxis geben!10

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Vgl. Frewer/Bielefeldt (2016); Kruse (2016); Bergemann/Frewer (2018).

10 Hier stellen sich zahlreiche Herausforderungen, etwa durch das jüngste Urteil des Bundesverfassungsgerichts (2020), das in Hinblick auf Vulnerabilität – und Suizidalität – Älterer ebenso reflektiert werden sollte. Vgl. Lindner et al. (2014), Welsh et al. (2017), Frewer et al. (2019) und Wittwer et al. (2020).

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DANKSAGUNG Das vorliegende Buch ist ein Teilergebnis aus dem Graduiertenkolleg (GRK) »Menschenrechte und Ethik in der Medizin für Ältere« an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU). Ein ganz besonderer Dank geht an die Josef und Luise Kraft-Stiftung in München: Ohne ihre Förderung wäre das gesamte Projekt nicht möglich gewesen. Herzlichen Dank sagen wir speziell Dr. Caroline Emmer de Albuquerque Green (London) und Dr. Harald Mosler (München), die beide unser Kolleg immer wieder außerordentlich wertschätzend begleitet und vielfältig unterstützt haben. Marion Klement und Katharina Pietzsch in der Geschäftsstelle der Stiftung danken wir für die gute administrative Unterstützung. Außerdem möchten wir natürlich allen Mitgliedern des Graduiertenkollegs für die fruchtbaren Diskussionen und den lebendigen Austausch in unseren Foren Dank sagen. Kerstin Franzó, M.A., Anna Sielski, M.A. und Mona Castello vom Sekretariat der Professur für Ethik in der Medizin haben sich dankenswerter Weise sehr bei der Verwaltung des Kollegs und bei der Redaktion des vorliegenden Bandes eingesetzt. Wir möchten zudem besonders den Autor*innen des Buches für ihre Beiträge wie auch die Geduld bei der Redaktionsarbeit herzlich danken. Allen aktiven Kolleg*innen im Vorgänger-EFI-Projekt wollen wir für die gute Zusammenarbeit wie auch für die Fortsetzung im GRK »Menschenrechte und Ethik in der Medizin für Ältere« danken, insbesondere Prof. Dr. jur. Christian Jäger (Strafrecht und Medizinstrafrecht), Prof. Dr. med. Elmar Gräßel (Medizinische Psychologie und Soziologie) und Prof. Dr. med. Peter Kolominsky-Rabas, MBA (Interdisziplinäres Zentrum für Public Health) von der Universität Erlangen-Nürnberg. Dem transcript Verlag – speziell Anke Poppen, Julia Wieczorek und Kai Reinhardt – danken wir schließlich für die gute Zusammenarbeit bei der Erstellung der Druckvorlage und der Katalogeinträge für den Band.

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LITERATUR Agricola, Sigurd (1999): Schafft den Ruhestand ab! Die Altersrevolution als Herausforderung an den Einzelnen und die Gesellschaft. Referate, Statements, Manifest und Daten zum Internationalen Jahr der Senioren 1999. Erkrath: Deutsche Gesellschaft für Freizeit (DGF). Bergemann, Lutz/Frewer, Andreas (Hg.) (2018): Vulnerabilität und Autonomie in der Medizin. Menschenrechte – Ethik – Empowerment. Menschenrechte in der Medizin/Human Rights in Healthcare 6, Bielefeld: transcript. Bruns, Petra/Bruns, Werner/Böhme, Rainer (2007): Die Altersrevolution. Wie wir in Zukunft alt werden, Berlin: Aufbau Verlag. Butler, Robert N. (2008): The Longevity Revolution. The Benefits and Challenges of Living a Long Life, New York: Public Affairs. Butler, Robert N./Jasmin, Claude (Eds.) (2000): Longevity and quality of life. Opportunities and challenges. Proceedings of the Congress Worldwide Revolution in Longevity and Quality of Life, New York u.a.: Kluwer Academic/Plenum Publishers. Forberger, Torsten/Sommer, Ulrich (2006): Die Anti-Aging-(R)Evolution. Das Handbuch zum Aufhalten und Umkehren des Alterungsprozesses, Güllesheim: Caducee. Frewer, Andreas/Bielefeldt, Heiner (Hg.) (2016): Das Menschenrecht auf Gesundheit. Normative Grundlagen und aktuelle Diskurse, Menschenrechte in der Medizin/Human Rights in Healthcare 1, Bielefeld: transcript. Frewer, Andreas/Giese, Constanze/Green, Caroline/Mahler, Claudia/Mosler, Harald (Hg.) (2019): Menschenrechte und Ethik in der Medizin für Ältere. Beiträge des Preisträger-Forums in München mit Projekten aus Basel und Frankfurt/M. MEM 1 (2019), Würzburg: Königshausen & Neumann. Fuchs, Michael (Hg.) (2021): Handbuch Alter und Altern. Anthropologie – Kultur – Ethik, Stuttgart: J. B. Metzler Verlag (Springer-Nature). Generali Deutschland AG (Hg.) (2017): Generali-Altersstudie 2017. Wie ältere Menschen in Deutschland denken und leben, Institut für Demoskopie Allensbach, Berlin: Springer. Imhof, Arthur E. (1981): Die gewonnenen Jahre. Von der Zunahme unserer Lebensspanne seit dreihundert Jahren oder von der Notwendigkeit

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einer neuen Einstellung zu Leben und Sterben. Ein historischer Essay, München: Beck. Joerißen, Peter (1983): Die Lebenstreppe. Bilder der menschlichen Lebensalter, Köln: Rheinland-Verlag. Klie, Thomas (2019): Wen kümmern die Alten? Auf dem Weg in eine sorgende Gesellschaft. Erweiterte und aktualisierte Taschenbuchausgabe, München: Droemer. Klotz, Sabine/Bielefeldt, Heiner/Schmidhuber, Martina/Frewer, Andreas (Eds.) (2017): Healthcare as a Human Rights Issue. Normative Profile, Conflicts and Implementation, Menschenrechte in der Medizin/Human Rights in Healthcare 4, Bielefeld: transcript. Kruse, Andreas (2016): Lebensphase hohes Alter. Verletzlichkeit und Reife, Heidelberg u.a.: Springer. Lindner, Reinhard/Hery, Daniela/Schaller, Sylvia/Schneider, Barbara/Sperling, Uwe (Hg.) (2014): Suizidgefährdung und Suizidprävention bei älteren Menschen. Eine Publikation der Arbeitsgruppe »Alte Menschen« im Nationalen Suizidpräventionsprogramm für Deutschland, Berlin, Heidelberg: Springer. MetLife Foundation (2006): Americans Fear Alzheimer’s More Than Heart Disease, Diabetes or Stroke, New York: MetLife Foundation. Schmidhuber, Martina/Frewer, Andreas/Klotz, Sabine/Bielefeldt, Heiner (Hg.) (2019): Menschenrechte für Personen mit Demenz. Soziale und ethische Perspektiven. Menschenrechte in der Medizin/Human Rights in Healthcare 7, Bielefeld: transcript. Sieber, Georg (1972): Die Altersrevolution, Einsiedeln: Benziger Verlag. Welsh, Caroline/Ostgathe, Christoph/Frewer, Andreas/Bielefeldt, Heiner (Hg.) (2017): Autonomie und Menschenrechte am Lebensende. Grundlagen, Erfahrungen, Reflexionen aus der Praxis. Menschenrechte in der Medizin/Human Rights in Healthcare 3, Bielefeld: transcript. Wittwer, Héctor/Schäfer, Daniel/Frewer, Andreas (Hg.) (2020): Sterben und Tod. Geschichte – Theorie – Ethik. Ein interdisziplinäres Handbuch, 2. Auflage, Stuttgart: J. B. Metzler Verlag (Springer-Nature). Zimmermann Harm-Peer (Hg.) (2018): Kulturen der Sorge. Wie unsere Gesellschaft ein Leben mit Demenz ermöglichen kann, Frankfurt/M., New York: Campus.

Altersbilder und Gesundheit Grundlagen – Implikationen – Wechselbeziehungen S USANNE W URM

Die COVID-19-Pandemie und der dadurch ausgelöste Schutz von Risikogruppen, insbesondere der Gruppe alter Menschen, hat allgemein in Erinnerung gerufen, dass mit steigendem Alter die Wahrscheinlichkeit wächst, dauerhaft mehrere Erkrankungen zu haben. Bevölkerungsrepräsentative Daten des Deutschen Alterssurveys zufolge haben in Deutschland 82,1 % aller 70bis 85-jährigen Menschen mindestens zwei Erkrankungen, rund jede vierte Person in diesem Alter hat sogar fünf oder mehr Erkrankungen.1 Krankheiten haben ist oftmals jedoch nicht mit Sich-Krankfühlen gleichzusetzen: Ergebnisse der gleichen Studie zeigen, dass 44,6 % der 70- bis 85-Jährigen ihre Gesundheit als gut bis sehr gut einschätzen, nur etwa jede 7. Person beurteilt ihre Gesundheit als schlecht, der Rest als mittelmäßig.2 Dabei ist diese Diskrepanz zwischen Erkrankungen und subjektiver Gesundheit alles andere als trivial: eine große Zahl an Studien konnte zeigen, dass die subjektive Gesundheitseinschätzung besser vorhersagen kann, wie lange Menschen tatsächlich leben als medizinische Daten zum Gesundheitszustand.3 Menschen sind demnach in der Lage, ihren Gesundheitszustand zu relativieren: sie er-

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Wolff et al. (2017).

2

Ebd.

3

Idler/Benyamini (1997); Benyamini/Idler (1999); DeSalvo et al. (2006).

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leben ihn – für ihr Alter – als gut. Ältere Menschen legen damit oftmals andere Maßstäbe an ihre Gesundheit an als jüngere.4 Eine Grundlage dafür bilden unsere Werte und normativen Vorstellungen vom Altern sowie unsere Fähigkeit zur Anpassung unserer Ziele und Maßstäbe. Der folgende Beitrag zeigt zunächst auf, wie sich seit dem 19. Jahrhundert unsere Vorstellungen von Entwicklung und Altern verändert haben, geht anschließend auf die Rolle von Zielen und Anpassungsprozessen ein und erläutert, warum unsere Sicht auf das Älterwerden und Alt sein entscheidend dazu beiträgt, wie gesund und lange wir leben.

1. E NTWICKLUNG UND A LTERN DER J AHRHUNDERTE

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Seit Beginn der ersten landesweiten Berechnung von Sterbetafeln (1871 bis 1881) für das damalige Deutsche Reich bis ins 21. Jahrhundert hat sich in Deutschland die Lebenserwartung für neugeborene Mädchen und Jungen mehr als verdoppelt. Lag damals noch die Lebenserwartung bei 36 (Jungen) bzw. 39 Jahren (Mädchen), haben heutige Neugeborene hohe Chancen, älter als 90 Jahre alt zu werden.5 Als im Jahr 1889 der Vorläufer der heutigen Gesetzlichen Rentenversicherung eingeführt wurde, herrschte die Vorstellung vor, dass Menschen einer Erwerbsarbeit nachgehen bis sie arbeitsunfähig sind. Erst bei Arbeitsunfähigkeit wegen Invalidität oder aufgrund von Alter bekamen Menschen Leistungen aus der neu eingeführten Sozialversicherung, die zunächst »Alters- und Invaliditätsversicherung« hieß. Das Renteneintrittsalter von damals 70 Jahren erreichte allerdings nur ein sehr kleiner Teil der Bevölkerung; wer es erreichte, war in der Regel invalide.6 Die Leistungen der später in »Arbeiter- und Angestelltenrentenversicherung« umbenannten Rentenversicherung waren zunächst nicht mehr als ein kleiner Zuschuss. Erst mit der Rentenreform 1957 ersetzte die Rente nach einem langjährigen Erwerbsleben einen großen Teil des Erwerbseinkommens. Zu unserem heutigen Verständnis von

4

Spuling et al. (2015).

5

Statistisches Bundesamt (2017).

6

Igl (2007).

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»Ruhestand« kam es jedoch erst mit dem deutlichen Anstieg der Lebenserwartung und der Erhöhung der Renteneinkommen, die für viele Menschen heutzutage die zentrale materielle Absicherung im Alter darstellen. Inzwischen können eine Mehrheit der Menschen die Jahre im Ruhestand gemäß eigener Interessen gestalten. Das Alter ist damit heutzutage kein kurzer Lebensabend mehr, sondern ein eigenständiger Lebensabschnitt, der viele Jahre, häufig sogar mehrere Jahrzehnte umfasst. Die steigende Lebenserwartung und die veränderten rentenrechtlichen Regelungen haben mit dazu beigetragen, dass sich die Sicht auf die Lebensspanne verändert hat. 1.1 Altern als Teil von Entwicklung Bis ins 20. Jahrhundert hinein dominierte die Vorstellung, menschliche Entwicklung vollziehe sich vor allem in Kindheit und Jugend. Veränderungen ab dem mittleren Erwachsenenalter wurden demgegenüber als altersbedingte Abbauprozesse charakterisiert. Diese Vorstellung von Wachstum und Entwicklung in der ersten Lebenshälfte und demgegenüber Abbau und Verlusten in der zweiten Lebenshälfte findet sich auch in zahlreichen historischen Illustrationen einer Lebenstreppe7: deren Stufen steigen aufwärts bis zur Mitte des Lebens und von dort aus abwärts bis zum Lebensende. Neuere Theorien zur Lebensspanne haben diese klare Trennung von Entwicklung (erster Teil des Lebenslaufes) und Altern (zweiter Teil) aufgehoben. Seit mittlerweile rund 40 Jahren dominiert in der entwicklungspsychologischen Forschung die Vorstellung, dass sich Menschen entwickeln, solange sie leben. Altern wird damit als Teil der Entwicklung und nicht mehr davon getrennt betrachtet. Theorien der Lebensspannen-Entwicklung gehen dabei von einem multidirektionalen Prozess aus.8 Multidirektional meint, dass Menschen in allen Lebensphasen entwicklungsbezogene Gewinne und Verluste erleben, auch wenn Gewinne mit steigendem Alter seltener, Verluste häufiger werden. Zugleich bedeutet dies, dass Menschen bis ins hohe Alter hinein Entwicklungsgewinne erleben können, z.B. durch Kontakte mit den Enkelkindern oder das

7 Endreß (2019). 8

Baltes et al. (1980).

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Erlernen einer neuen Sprache. Umgekehrt können auch Kinder bereits körperliche oder soziale Verluste erleben, sei es durch eine chronische Krankheit oder den Verlust eines Elternteils. 1.2 Ziele als treibende Kraft für Entwicklung bis ins Alter Menschen besitzen ein hohes individuelles Änderungs- und Anpassungsvermögen, um Verluste auszugleichen. Dazu zählt die bessere Nutzung geringer werdender Ressourcen, die Optimierung von Handlungsabläufen oder auch der bessere Umgang mit Verlusten. Dadurch können Alternsprozesse aktiv beeinflusst und Abbauprozesse aufgehalten oder kompensiert werden. Muskelabbau ist beispielsweise Teil des biologischen Alternsprozesses. Diesem kann durch regelmäßiges körperliches Training entgegengewirkt werden. Hat eine Person jedoch die Überzeugung, sie könne nichts gegen den Muskelabbau tun, wird sie wenig motiviert sein, ihre Muskeln zu trainieren. Die Erwartung, dass ein Muskeltraining nützlich gegen den Abbauprozess sein kann und der Glaube in die eigenen Fähigkeiten, körperlich aktiv werden zu können, sind wichtige Voraussetzungen dafür, dass eine Person aktiv wird. Nur dann besteht ein konkretes Ziel (Stärkung der Muskulatur), Handlungsmotivation (trainieren zu wollen) und Vertrauen, das gesetzte Ziel auch durch eigene Handlung zu erreichen (selbstregulatorische Fähigkeiten). Im Zentrum von psychologischen Theorien zur Entwicklung über die Lebensspanne stehen solche motivationalen und selbstregulatorischen Prozesse – Menschen setzen sich Ziele in ihrem Leben und streben deren Verwirklichung an. Die Art der Ziele ist nicht allein selbst gesteuert, sondern eingebettet in die von der Gesellschaft als wesentlich definierten Entwicklungsaufgaben. Zu solchen Aufgaben zählen im Jugendalter der Abschluss einer Schulausbildung, im mittleren Erwachsenenalter die Gründung einer Familie und in der nachberuflichen Lebensphase die Anpassung an neue soziale Rollen. Während frühere Theorien zum Alter wie die Disengagement-Theorie9 postulierten, Altern sei in natürlicher und adaptiver Weise mit dem Rückzug aus sozialen Aktivitäten und Rollen verbunden, betonen heutige Entwick-

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Cumming/Henry (1961).

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lungstheorien (wie z.B. das Modell der Selektion, Optimierung und Kompensation10), dass es auch in der nachberuflichen Lebensphase wichtig ist, persönliche Ziele und Werte zu verfolgen. Doch was genau sind solche Ziele und Werte im Alter? Viele jüngere wie ältere Menschen haben Vorstellungen davon, was man im Alter nicht mehr macht (z.B. arbeiten, Kinder großziehen), als davon, welche Art von Zielen ältere Menschen verfolgen sollten. Dies kann als Freiheit, aber auch als Orientierungslosigkeit erlebt werden. Wie die nachberufliche Lebensphase ausgefüllt wird, hängt damit noch stärker als in jüngeren Lebensphasen von der eigenen Gestaltung ab. Vor diesem Hintergrund kommt besonders im Alter selbstregulatorischen Prozessen eine wichtige Rolle zu.11 1.3 Die Rolle von Selbstregulation Verschiedene entwicklungspsychologische Modelle betrachten solche selbstregulatorischen Prozesse. Hierzu zählen das Modell der Selektion, Optimierung und Kompensation12, das Zwei-Prozess-Modell der Entwicklungsregulation13 sowie die motivationale Theorie der Lebensspannen-Entwicklung.14 Diese drei Modelle zu selbstregulatorischen Prozessen sind für das Alter besonders relevant und sie haben in ihren Ansatzpunkten große Gemeinsamkeiten. Alle drei Ansätze beschäftigen sich mit der Frage, welche Strategien im Umgang mit knapper werdenden Ressourcen (u.a. aufgrund gesundheitlicher Einschränkungen, kürzerer Lebenszeit) sinnvoll sind. Gemeinsam ist ihnen dabei die Annahme, dass persönlich gesetzte Ziele eine zentrale Rolle in der Entwicklung spielen. Diese Ziele können sich auf Wachstum richten (z.B. das Ziel, ein Musikinstrument zu erlernen), aber ebenso auf Aufrechterhaltung und Wiederherstellung von Erreichtem (z.B. das Ziel, eine bereits erworbene Fähigkeit wie das Spielen eines Musikinstrumentes durch vermehrtes Üben aufrecht zu erhalten) sowie auf die Regulation von Verlusten (durch die Hinwendung zu einem anderen Interesse). Die beiden zentralen Mechanismen der Entwicklungsregulation – das aktive

10 Baltes/Baltes (1989). 11 Freund et al. (2009). 12 Baltes/Baltes (1989). 13 Brandtstädter/Renner (1990). 14 Heckhausen et al. (2010).

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Streben nach Zielerreichung sowie die Anpassung der Ziele und Maßstäbe an die vorhandenen Ressourcen – finden sich in allen drei genannten Modellen wieder. Das Streben nach Zielen beinhaltet, dass eine Diskrepanz zwischen der vorhandenen Situation (Ist-Zustand: z.B. Person kann ein gewünschtes Instrument nicht spielen) und dem angestrebten Ziel (Soll-Zustand: sie möchte das Instrument spielen können) besteht. Diese Diskrepanz kann anhand von zwei Mechanismen verringert werden: durch eine aktive Veränderung des Ist-Zustands, indem die Person beispielsweise Musikunterricht zum Erlernen des gewünschten Instrumentes nimmt – oder durch eine Veränderung der eigenen Ziele, indem die Person den Wunsch aufgibt, dieses Instrument lernen zu wollen. Wann sind nun aber die verschiedenen Prozesse der Zielverfolgung, Zielanpassung und Loslösung von Zielen adaptiv? Dies lässt sich nur schwer allgemein beantworten und hängt von den individuell verfügbaren Ressourcen ab. Vereinfacht lässt sich dies am weithin bekannten Gelassenheitsgebet illustrieren. In diesem wird um die Gelassenheit gebeten, Dinge hinzunehmen, die man nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die man ändern kann und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden. Gerade für diesen letzten Punkt sind Erfahrungen mit sich selbst und der Umwelt wichtig, die im Laufe des Lebens gewonnen werden. Diese Erfahrungen werden stets auch vor dem Hintergrund unserer Altersbilder gemacht und entsprechend interpretiert.

2. A LTERSBILDER Altersbilder umfassen gesellschaftliche wie individuelle Sichtweisen auf das Älterwerden und Altsein. Wie bereits beschrieben, vollzieht sich unsere Entwicklung über den Lebensverlauf und ist eingebettet in normative Vorstellungen von Entwicklung. Zu solchen zählen auch die in einer Gesellschaft vorherrschenden Altersstereotype. Im Gegensatz zu anderen Stereotypen, die sich in der Regel auf Personengruppen beziehen, denen man ein Leben lang (nicht) angehört, haben Altersstereotype die Besonderheit, dass sie sich zunächst auf eine Gruppe beziehen, der man nicht angehört, in die man aber unweigerlich hineinwächst, wenn man nur lange genug lebt.

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Eigene Erfahrungen mit dem Älterwerden werden vor dem Hintergrund dieser jahrzehntelang gelernten Altersstereotype gemacht, wodurch Altersstereotype die Sichtweise auf das eigene Älterwerden mit beeinflussen.15 Solange Menschen jung sind, treffen Altersstereotype zunächst viele Lebensjahre nicht auf die eigene Person zu, weshalb sie meist lange Zeit nicht kritisch reflektiert werden. Vielmehr werden gesellschaftlich vorherrschende Bilder von vergesslichen, kranken, resignierten, freundlich-naiven oder technikscheuen älteren Menschen unkritisch übernommen. Negative Altersstereotype sind dabei nicht nur weiter verbreitet als positive, sie haben auch dreimal so starke Folgen für das eigene Verhalten.16 2.1 Altersbilder tragen zu Gesundheit und Langlebigkeit bei Zahlreiche Längsschnittstudien konnten in den letzten Jahren eindrucksvoll belegen, dass gesellschaftliche Altersstereotype und Vorstellungen vom eigenen Älterwerden Folgen für die Gesundheit und Langlebigkeit haben.17 Zwei Studien, die Langzeitfolgen von Altersstereotypen jüngerer Erwachsener für die Gesundheit im höheren Lebensalter untersucht haben, konnten zeigen, dass Studienteilnehmende mit negativen Altersstereotypen eine doppelt so hohe Wahrscheinlichkeit haben, innerhalb der nächsten 38 Jahre ein kardiovaskuläres Ereignis (z.B. Herzinfarkt) zu erleben und schlechtere Gedächtnisleistungen zu entwickeln als Personen mit positiven Altersstereotypen.18 Andere Studien weisen darauf hin, dass Personen mit negativeren Altersstereotypen eine höhere Wahrscheinlichkeit von Krankenhauseinweisungen haben, sich schlechter von Krankheiten erholen und höhere Depressionswerte über einen Zeitraum von vier Jahren entwickeln als Personen mit positiveren Altersstereotypen.19 Doch nicht nur Altersstereotype, sondern ebenso die Vorstellungen vom eigenen Älterwerden haben nachweislich Effekte auf die Gesundheit. Auch

15 Rothermund/Brandtstädter (2003). 16 Meisner (2012). 17 Für eine Übersicht siehe Westerhof/Wurm (2018); Wurm et al. (2017). 18 Levy et al. (2009) und (2011). 19 Alle Studien sind referiert in Wurm et al. (2017).

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hier zeigen prospektive Längsschnittstudien, dass Menschen mit einer positiveren Sicht auf das Älterwerden weniger Krankheiten und eine bessere funktionale Gesundheit und körperliche Leistungsfähigkeit über die Zeit hinweg aufrechterhalten können als solche mit negativeren Sichtweisen.20 Besonders anschaulich sind Befunde zur Langlebigkeit: In einer richtungsweisenden Längsschnittstudie über einen Zeitraum von 23 Jahren konnte gezeigt werden, dass Personen mit einer positiveren Sicht auf das Älterwerden durchschnittlich siebeneinhalb Jahre länger leben als jene mit einer negativeren Sicht.21 Dieser Effekt blieb – wie bei den zuvor berichteten Studien – auch dann bestehen, wenn für relevante andere Faktoren kontrolliert wurde. Interessanterweise war der Effekt einer positiven Sicht auf das Älterwerden auf die Langlebigkeit größer als der Gewinn an Lebensjahren, der für physiologische Maße (wie beispielsweise niedrige Cholesterinwerte oder systolischen Blutdruck) oder Gesundheitsverhalten (geringer Body Mass Index, Nichtraucherstatus, körperliche Aktivität) bekannt ist. Deutlich wird daran, dass Altersbilder eine erhebliche Wirkung entfalten können. 2.2 Erklärungsansätze für die Wirkung von Altersbildern In den letzten Jahren hat die Forschung zunehmend damit begonnen besser zu verstehen, welche Mechanismen für diesen Effekt von Altersbildern auf die Gesundheit verantwortlich sind, auch wenn noch viele Fragen offen sind.22 Drei Wirkmechanismen lassen sich dabei unterscheiden: physiologische, verhaltensbezogene und psychologische. In Bezug auf physiologische Mechanismen gibt es Hinweise darauf, dass eine positive Sicht auf das eigene Älterwerden zu einem geringeren Niveau von C-reaktivem Protein, einem Biomarker für chronisch entzündliche (inflammatorische) Prozesse, beiträgt und dies in der Folge höhere Langlebigkeit vorhersagen kann.23 Altersbilder können zudem gesundheitsrelevante Verhaltensweisen beeinflussen und auf diesem Weg eine Wirkung auf die Gesundheit entfalten. Deutlich wird dies beispielsweise anhand von Befunden zu körperlicher Aktivität.24

20 Sargent-Cox et al. (2012); Wurm et al. (2007). 21 Levy et al. (2002). 22 Wurm et al. (2017). 23 Levy/Bavishi (2016). 24 Beyer et al. (2015); Wurm et al. (2010).

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Haben ältere Menschen eine negativere Sicht auf das Älterwerden, sind sie deutlich seltener körperlich aktiv als Personen mit einer positiveren Sicht. Dabei zeigt sich, dass Personen mit einer negativen Sicht besonders selten spazieren gehen, wenn sie gesundheitliche Probleme haben. Dies mag einleuchten, kann aber dennoch maladaptiv sein: Moderate körperliche Aktivitäten wie Spazierengehen werden älteren Menschen meist auch dann empfohlen, wenn sie gesundheitliche Probleme haben. Interessant ist hier der Vergleich mit Personen, die eine positive Sicht auf das Älterwerden haben. Sie sind nicht nur insgesamt körperlich aktiver, als diejenigen mit negativerer Sicht, sondern in dieser Gruppe lassen sich keine Unterschiede zwischen Personen mit besserer oder schlechterer Gesundheit finden.25 Dies deutet darauf hin, dass Personen mit positiverer Sicht auf das Älterwerden besser in der Lage sind, ein günstiges Verhalten wie regelmäßige körperliche Aktivität auch im Fall von gesundheitlichen Problemen aufrechtzuerhalten und auf diese Weise aktiv zu ihrer Gesundheit beizutragen. Zudem können psychologische Mechanismen dazu beitragen, dass Altersbilder eine Wirkung auf die Gesundheit entfalten. Dazu zählen selbstregulatorische Mechanismen wie sie im Rahmen der oben beschriebenen Modelle erläutert wurden,26 aber auch gesundheitliche Risiken, die durch Ursachenzuschreibungen (Attributionen) entstehen können. Danach befragt, welcher Ursache sie ihre chronische Erkrankung (z.B. Diabetes, Krebs, Arthritis) zuschreiben, gaben einer Studie zufolge zahlreiche ältere Menschen ab 80 Jahren an, ihre Krankheiten seien bedingt durch ihr Alter. Dabei zeigte sich, dass Personen, die das Alter als Ursache ihrer Erkrankung angaben, weniger für ihre Gesundheit taten und eine doppelt so hohe Wahrscheinlichkeit hatten, in den folgenden zwei Jahren zu versterben als jene, die andere Ursachen für ihre Erkrankungen benannten.27 Eine zweite Studie von Stewart und Kollegen machte deutlich, dass ältere Menschen, die ihren erlebten Herzinfarkt oder Schlaganfall dem eigenen Alter zuschrieben und nicht anderen Ursachen, eine fast doppelt so hohe Wahrscheinlichkeit hatten, innerhalb der folgenden drei Jahre erneut ins Krankenhaus zu kommen.28

25 Wurm et al. (2010). 26 Vgl. z.B. Wurm et al. (2013). 27 Stewart et al. (2012). 28 Stewart et al. (2016).

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Das eigene Alter als Ursache einer Krankheit zu betrachten, könnte aus zwei Gründen ungünstig sein: zum einen, da das Alter oftmals als etwas Unkontrollierbares erlebt wird, etwas, das fortschreitet, ohne dass man dagegen etwas tun kann. Zum anderen, da dies negative Gefühle auslöst, die dazu beitragen, dass physiologischer Stress entsteht und eigenes Gesundheitsverhalten sinnlos erscheinen lässt. Insgesamt machen diese Studien deutlich, dass unsere Altersbilder eine erhebliche Wirkung auf die Gesundheit entfalten, wofür physiologische, verhaltensbezogene und psychologische Wirkmechanismen verantwortlich gemacht werden. Gerade die beiden Studie zur Attribution von Krankheiten auf das Alter machen deutlich, dass auch den behandelnden Ärztinnen und Ärzten sowie weiteren in der Gesundheitsversorgung tätigen Professionen (u.a. Gesundheits- und Krankenpflege, Physiotherapie) eine wichtige Rolle zukommt. Sie können ältere Menschen darin stärken, dass sie durch ihre Einstellungen und ihr Verhalten etwas für ihre Gesundheit tun können und zwar auch dann, wenn Krankheiten oder Einschränkungen aufgetreten sind. Wie alle Menschen haben auch Professionelle in der Gesundheitsversorgung eigene Altersstereotype und Vorstellungen vom eigenen Älterwerden. Eine Reihe von Studien weist auf Probleme von Altersdiskriminierung im Gesundheitswese hin.29 Die damit einhergehende unzureichende Versorgung mag teilweise auf negative Altersstereotype zurückzuführen sein, aber auch auf mangelndes Wissen über Gesundheitsprobleme wie Demenz, Delir, Schmerz oder auch Polypharmazie (d.h. die gleichzeitige Einnahme verschiedener Medikamente). Mit Blick auf die Versorgung älterer Menschen kann es deshalb hilfreich sein, bestehende Altersstereotype und Wissensgrundlagen kritisch zu reflektieren und sich ihrer Wirkung bewusst zu werden. 2.3 Altersbilder als Ansatzpunkt für Gesundheitsförderung In den letzten zwei Jahrzehnten haben sich in Deutschland die Vorstellungen vom eigenen Älterwerden verändert. Dies machen bevölkerungsrepräsentative Daten deutlich. Demnach verbinden vor allem Menschen im Ruhestandsalter das Älterwerden heutzutage weniger stark mit körperlichen Verlusten und mehr mit persönlichen Gewinnen wie dem Erlernen neuer Dinge

29 Wyman et al. (2018).

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und der Erweiterung eigener Fähigkeiten.30 Ein gleichermaßen positiver Trend lässt sich für Menschen im Alter zwischen 40 und 65 Jahren bisher nicht beobachten – Personen unter 40 Jahren wurden in dieser Studie nicht befragt. Doch auch wenn sich bei älteren Menschen die Sicht auf das eigene Älterwerden in den letzten Jahren verbessert hat, verbinden sie mit dem Älterwerden weiterhin mehr Verluste und weniger Gewinne als Menschen im mittleren Erwachsenenalter. Vor diesem Hintergrund ist es sinnvoll zu überprüfen, ob Altersbilder einen wirksamen Ansatzpunkt für Gesundheitsförderung bei älteren Menschen darstellen. Bereits im Zuge des Gesundheitsziels »Gesund älter werden«, das im Jahr 2012 von verschiedenen Akteuren des Gesundheitssystems gemeinsam entwickelt und vereinbart wurde,31 hob man die Rolle von Altersbildern für die Gesundheit im Alter hervor. Seitdem wurden bereits mehrere Interventionsstudien entwickelt, die darauf hinweisen, dass Altersbilder gezielt zum Positiven verändert werden können.32 Die systematische Veränderung von Altersbildern hat sich dabei als ein interessanter Ansatz herausgestellt, um ältere Menschen zu gesundheitsförderlichem Verhalten zu ermutigen. Denn zum einen konnten wir im Rahmen unserer eigenen Studien anhand eines randomisiert kontrollierten Stichprobendesigns (und damit dem Vergleich von Gruppen, die verschiedene Interventionen erhielten) zeigen, dass sich tatsächlich nur bei jenen Gruppen die körperliche Aktivität erhöhte, die neben bewährten Ansatzpunkten zur Aktivitätsförderung ein Modul zur Veränderung ihrer Altersbilder erhielten; in den anderen Gruppen, die nur gängige Ansatzpunkte zur Aktivitätsförderung erhielten (aber keine Altersbilder-Intervention), änderte sich das Aktivitätsniveau in den darauffolgenden Monaten nicht.33 In einer zweiten Studie untersuchten wir, ob regelmäßige körperliche Aktivität im Rahmen eines wöchentlichen Gruppenkurses zur Veränderung von Altersbildern beitragen kann oder ob sich Altersbilder tatsächlich nur dann verändern, wenn sie im Rahmen einer Intervention gezielt adressiert werden. Tatsächlich wurde deutlich, dass sich die Altersbilder bei jenen veränderten, die neben dem Bewegungskurs zusätzlich eine Altersbilder-Intervention erhielten. Keine Veränderung zeigte sich hingegen bei

30 Beyer et al. (2017). 31 Bundesministerium für Gesundheit (2012). 32 Beyer et al. (2018); Beyer et al. (2019); Wolff et al. (2014). 33 Wolff et al. (2014).

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Studienteilnehmenden, die ausschließlich am 12-wöchigen Bewegungskurs teilnahmen.34 Zu Bestandteilen einer solchen Intervention zählen beispielsweise die Bewusstmachung eigener Wissenslücken und die Vermittlung aktuellen Wissens über das Altern, das Erkennen von stereotypen Vorstellungen über das Alter sowie das Erlernen von Techniken, wie man sich solchen negativen Vorstellungen widersetzen kann. Die Vermittlung von aktuellem Wissen über das Altern und die kritische Reflektion eigener Altersstereotype kann demnach dazu beitragen, dass Menschen ihre Vorstellungen vom Älterwerden und Altsein revidieren. Altersbilder können sich allerdings auch durch tiefgreifende Einschnitte im Leben unfreiwillig verändern, wie aktuelle Studienergebnisse zeigen.35 Daten einer dreijährigen Längsschnittstudie zufolge verschlechterten sich die Altersbilder von Personen, die in dieser Zeit ein schwerwiegendes HerzKreislaufereignis, zum Beispiel einen Schlaganfall oder Herzinfarkt erlebten. Unverändert blieben über diesen Dreijahres-Zeitraum hinweg hingegen die Altersbilder einer Vergleichsgruppe von Personen ohne ein entsprechendes Krankheitsereignis. Dies verdeutlicht, dass auch Ärztinnen und Ärzten sowie weitere in der Gesundheitsversorgung tätige Professionen (u.a. Gesundheits- und Krankenpflege, Physiotherapie) eine wichtige Rolle zukommt. Sie können älteren Menschen nach schweren Krankheiten Mut machen, Erkrankungen nicht allein dem eigenen Alter zuzuschreiben, sondern Möglichkeit zu erkennen, wie sie selbst etwas für die eigene Gesundheit zu tun können.

3. A USBLICK Die Lebenserwartung hat sich in den vergangenen Jahrzehnten deutlich verlängert. Dies bedeutet vor allem für die nachberufliche Lebensphase einen deutlichen Gewinn an Lebenszeit. Das heutige Verständnis von Entwicklung als etwas, das sich über die gesamte Lebensspanne vollzieht, weist auf die hohen Potenziale hin, bis ins Alter hinein nicht nur Verluste, sondern auch

34 Beyer et al. (2019). 35 Wurm et al. (2019).

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Gewinne zu erleben und das eigene Leben aktiv gestalten zu können. Dennoch herrschen oftmals negative Altersbilder vor.36 Dass diese Altersbilder bedeutsam dafür sind, wie gesund und lange Menschen leben, konnten zahlreiche Studien zeigen. Zunehmend wächst nun das Interesse, die Mechanismen noch besser zu verstehen, die zu diesem Zusammenhang führen. Zugleich gilt es, näher zu betrachten, was zur Veränderung von Altersbildern beitragen kann. Vor dem Hintergrund des demografischen Wandels werden in Zukunft auch Ansatzpunkte benötigt, die sich an jene richten, die im Gesundheitssystem professionell tätig sind. Mangelndes geriatrisches Fachwissen sowie negative Einstellungen gegenüber dem Älterwerden und alten Menschen können – oftmals unwissentlich und unbeabsichtigt – zu Fehlversorgung und Ageism in der Medizin beitragen.37 Der Ausbruch der Covid-19 Pandemie im Jahr 2020 macht deutlich, wie schnell im Ernstfall aber auch wissentlich und beabsichtigt eine altersabhängige Rationierung der Gesundheitsversorgung auftreten kann. Angesichts von knappen Versorgungsressourcen wurde in Krankenhäusern mancher Länder, die von der Pandemie stärker als Deutschland betroffen waren, per Altersgrenze darüber entschieden, wer von diesen Ressourcen (Beatmungsgeräten) profitieren kann und wer nicht. Aber auch der einleitend erwähnte gesellschaftliche Diskurs um den Schutz von Risikogruppen trägt zu verstärktem Ageism in der Bevölkerung bei.38 In der allgemeinen Presse ebenso wie in sozialen Medien werden ältere Menschen als hilflose, gebrechliche und schutzbedürftige Menschen dargestellt; doch in keiner anderen Altersgruppe sind Menschen gleichen Alters so unterschiedlich voneinander wie im Alter. Die klare Trennung von jüngeren und älteren Menschen trägt nicht nur dazu bei, dass sich Jüngere als immun gegenüber dem Virus erleben, sondern auch, dass sie ihren Ärger und die Schuld für die Situation den älteren Menschen zuschreiben können. Dies macht deutlich, dass gesellschaftliche Altersbilder und ihre verhaltensbezogenen Konsequenzen kritisch reflektiert werden sollten, damit ein solidarisches Miteinander von Generationen nicht in sein Gegenteil verkehrt wird.

36 Beyer et al. (2017). 37 Wyman et al. (2018). 38 Ayalon et al. (2020).

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Die Menschenrechte Älterer Grundsatzüberlegungen und praktische Beispiele H EINER B IELEFELDT

1. N OTWENDIGE R EFORMULIERUNGEN DES MENSCHENRECHTLICHEN U NIVERSALISMUS Unter den Menschenrechten versteht man diejenigen elementaren Rechte, die dem Menschen schlicht aufgrund seines Menschseins – und deshalb allen Menschen gleichermaßen – zukommen.1 Menschenrechte gelten demnach unabhängig von Herkunft, Hautfarbe, Religion, Weltanschauung, Geschlecht, sexueller Orientierung, Gender-Identität, finanziellem Status, Bildungsabschluss, etwaigen Behinderungen usw. Sie gelten auch unabhängig vom Lebensalter. Ganz gleich, ob ein Mensch jung oder alt ist; auf seinen Status als Menschenrechtssubjekt darf dies keine Auswirkungen haben. Ist mit dieser Klarstellung die hier aufgeworfene Frage nach den Menschenrechten Älterer nicht eigentlich schon erledigt? Birgt die Rede von spezifischen »Seniorenrechten« womöglich die Gefahr, dass man die Universalität der Menschenrechte ungewollt unterminiert? Leisten wir nicht Fragmentierungstendenzen Vorschub, wenn wir das uns allen gemeinsame Menschsein zugunsten unterschiedlicher Betroffenengruppen auflösen und die allgemeinen Menschenrechte durch spezielle Rechte – Kinderrechte, Behinderten-

1

Knapp und prägnant bringt Udo di Fabio dies auf den Punkt, wenn er betont: »Menschenrechte sind universal – oder sie sind gar nicht.« Fabio (2008), 63.

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rechte, Frauenrechte, LGBT-Rechte oder eben Seniorenrechte – konterkarieren? Wäre es nicht sinnvoller, die gleiche Würde aller und die in ihr grundgelegten Freiheitsrechte regelmäßig klarzustellen und zu bekräftigen? Solche Fragen sind alles andere als neu. Sie gehen aber in die Irre, wenn sie einen Gegensatz von universalen Menschenrechten und partikularen Sonderrechten aufmachen, der in der Sache gar nicht besteht – oder jedenfalls nicht intendiert ist. Richtig verstanden geht es bei der Diskussion um Rechte Älterer nicht etwa darum, die allgemeinen Menschenrechte durch irgendwelche Spezialrechte zu ergänzen, sondern darum, den Universalitätsanspruch der Menschenrechte durch explizite Berücksichtigung besonderer Lebenslagen genauer zu fassen und komplexer auszugestalten. Genau dies ist beispielsweise auch das Anliegen der UN-Behindertenrechtskonvention (BRK) vom Dezember 2006.2 Sie strebt nicht nach Sonderrechten für eine bestimmte Gruppe von Menschen, sondern nach »echter« Universalität und Gleichberechtigung, die im bis dahin herrschenden Menschenrechtsdiskurs gerade nicht gewährleistet war. Die bei Menschenrechtsorganisationen über lange Zeit hin beliebte Metapher vom »aufrechten Gang« illustriert nur exemplarisch, dass die Lebenslagen von Menschen mit Behinderungen bei der Ausgestaltung der Menschenrechtsnormen nicht wirklich im Blick waren. Damit aber war der universale Geltungsanspruch der Menschenrechte strenggenommen eine Lebenslüge. Im Namen der Menschenrechte sahen sich manche Menschen faktisch ausgegrenzt, kamen sie doch mit ihren Bedarfen, Vulnerabilitäten, Potenzialen und Beiträgen in den Menschenrechten nicht angemessen vor. Die BRK hat dies tendenziell geändert. Sie gestaltet das Gesamtspektrum der bis dato etablierten Menschenrechte aus den Erfahrungsperspektiven von Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen weiter aus. Die Konvention hat insofern durchaus ihre »Besonderheiten« – aber eben gerade nicht in Gestalt von »Sonderrechten«, sondern durch die Einarbeitung spezifischer Erfahrungen und Lebenswelten, die zuvor nicht angemessen (wenn überhaupt) berücksichtigt worden waren.3 Damit stärkt die

2

Die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen wurde im Dezember 2006 von der UN-Generalversammlung verabschiedet; in Deutschland ist sie seit März 2009 rechtlich in Kraft. Vgl. dazu grundlegend Degener (2016).

3

Vgl. Degener (2016), 14: »Während der vierjährigen Verhandlungen der UN BRK von 2002 bis 2006 in New York wurde stets betont, man wolle keine neuen

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BRK den universalen Geltungsanspruch der Menschenrechte und verschafft ihm neue Glaubwürdigkeit. Im historischen Rückblick kann man viele analoge Prozesse beschreiben, die im Übrigen allesamt unabgeschlossen bleiben. So hatte – und hat – der Frauenrechtsdiskurs nicht etwa zum Ziel, neben den Menschenrechten eine eigene Kategorie von Exklusivrechten für Frauen zu etablieren, sondern den Androzentrismus der herrschenden Menschenrechtsstandards zu überwinden, der in Formulierungen wie »rights of man« ja lange Zeit überdeutlich vor Augen stand. Gleichberechtigung am Maßstab der etablierten Männerrechte konnte dabei allenfalls ein Etappenziel sein. Mit der Aufdeckung beispielsweise von Machtasymmetrien in der Privatsphäre, einschließlich der Familie, wurde der Menschenrechtsdiskurs auch inhaltlich erheblich verändert und erweitert. Wiederum bedeutete dies zugleich einen Schub nach vorn in Richtung einer plausibleren Formulierung des menschenrechtlichen Universalismus. Faktisch war das imaginäre Subjekt der universalen Menschenrechte von partikularen Zügen nie frei. Der »Mensch an sich«, um dessen Rechte es gehen sollte, war anfangs fast durchgängig männlich, weiß, europäisch und bildungsbürgerlich gedacht. Auch wenn sich dies geändert hat, schwingt bis heute in manchen Lehrbuchdarstellungen der Menschenrechtsgeschichte ein Hauch von »white man’s burden« mit.4 Auch mit unterschiedlichen sexuellen Orientierungen beschäftigt sich der internationale Menschenrechtsdiskurs erst seit jüngerer Zeit. Diskriminierungen aufgrund von Armut kommen immer noch viel zu wenig zu Wort. Und wer weiß, welche »Biases« künftige Kritik noch aufweisen wird. Manche ziehen aus dieser Diagnose die Konsequenz, den Anspruch universaler Menschenrechte als hoffnungslos verlogenes Hegemonialprojekt zurückzuweisen. Es stellt sich dann freilich die Frage, was die Alternative sein soll. Mit dem immer wieder neuen Aufweis bestehender »Biases«, so unverzichtbar er ist, haben wir ja noch lange keine praktische Orientierung hinsichtlich der Gestaltung unseres Zusammenlebens gewonnen. Die meines Erachtens einzig sinnvolle Konsequenz aus den kritischen Anfragen besteht deshalb darin, den Universalitätsanspruch der Menschenrechte gerade nicht

Menschenrechte schaffen. Es sollte lediglich der allgemein anerkannte Menschenrechtskatalog auf den Kontext von Behinderung zugeschnitten werden.« 4

Vgl. kritisch dazu Bielefeldt (2009).

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aufzugeben, sondern als Auftrag immer wieder neuer kritischer Reformulierungen und Adaptierungen zu fassen. Die Menschenrechte »sind« demnach nicht schlichtweg universal, sondern stehen für die Leitidee umfassender Gleichberechtigung, von der wir wissen sollten, dass wir ihr nicht nur in der Praxis der Implementierung, sondern schon in unseren je historischen Artikulationen faktisch nie ganz gerecht werden. Genau deshalb gilt es, die Menschenrechte aus unterschiedlichen Erfahrungsperspektiven immer wieder neu auf den Prüfstand zu stellen, um sie ggf. zu modifizieren oder zu erweitern.5 Legitimationstheoretisch stecken die Menschenrechte gleichsam stets »in den roten Zahlen«, insofern sie einen Anspruch repräsentieren, der bislang nicht konsequent eingelöst ist – und der wohl auch in Zukunft stets nur »auf Bewährung« wird gelten können. Zurück zur Frage nach den Menschenrechten Älterer. Bei aller praktischen Relevanz für die unmittelbar betroffenen Menschen, von der noch die Rede sein wird, steht sie zugleich im Horizont der skizzierten Grundsatzdebatte. Es geht also nicht nur um spezielle Problemlagen und Lösungsstrategien, sondern analog zu früheren Grundsatzdebatten – angetrieben durch Feminismus, gender studies, postcolonial studies, disability studies usw. – einmal mehr um das Ganze der Menschenrechte: ihre Adaptionsfähigkeit, Entwicklungsoffenheit und kontextsensible Plausibilität. Die explizite Thematisierung der Menschenrechte Älterer ist insofern mit dem Universalismus der Menschenrechte nicht nur vereinbar; an ihr wird sich der Geltungsanspruch der Menschenrechte insgesamt erneut bewähren müssen.

2. D AS B EISPIEL DER OAS-K ONVENTION ÜBER DIE R ECHTE Ä LTERER Eine internationale Konvention über die Rechte Älterer, obwohl vielfach gefordert, gibt es bislang nicht. Schon seit 2010 diskutiert eine UN-Arbeitsgruppe die Vorzüge und Probleme einer eigenen UN-Konvention, ohne dass bislang ein Durchbruch erreicht worden wäre.6 Dies bedeutet indes nicht,

5

Vgl. Leicht (2016).

6

Der vollständige Name der Arbeitsgruppe lautet: Open-ended working group. on ageing for the purpose of strengthening the protection of the human rights of older

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dass wir bezüglich dieses Themas an einem Nullpunkt stünden. Bei der Auslegung der bestehenden Menschenrechtsnormen sind besondere Bedarfslagen älterer Menschen schon vielfältig zu Buche geschlagen.7 Außerdem hat die Organisation der Amerikanischen Staaten (OAS) auf regionaler Ebene eine spezifische Konvention für die Rechte Älterer entwickelt. Sie trägt den Titel »Inter-American Convention on Protecting the Human Rights of Older Persons«.8 Verabschiedet wurde diese Konvention im Jahre 2015, in Kraft trat sie im Jahre 2017. Rechtlich verbindlich gilt sie allerdings nur für die bislang sieben lateinamerikanischen Staaten, die die Konvention förmlich ratifiziert haben.9 Aufgrund ihrer regional begrenzten Reichweite hat die OAS-Konvention bislang wenig internationale Aufmerksamkeit gefunden. Für die Diskussion über die Rechte Älterer bildet sie gleichwohl einen Meilenstein, den man nicht ignorieren sollte. Bei der Lektüre der OAS-Konvention über die Rechte Älterer stößt man zunächst auf viele altbekannte menschenrechtliche Gehalte. In der Präambel stellt sich die Konvention in die Kontinuität des globalen und regionalen Menschenrechtsschutzes, namentlich die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 sowie die Inter-Amerikanische Menschenrechtskonvention der OAS von 1969. Diese Rückbindung verleiht der OAS-Konvention zusätzliche Autorität.10 Es folgt das Bekenntnis zu den tragenden Prinzipien des Menschenrechtsansatzes, nämlich zu Würde, Freiheit und Gleichberechtigung aller Menschen. Im Horizont dieser Prinzipien stehen unterschiedliche Typen von Rechten nicht beziehungslos nebeneinander, sondern ergänzen einander; wirtschaftliche, soziale, kulturelle, bürgerliche und politische Rechte gehören inhaltlich zusammen. Auch dieser Verweis auf die inhaltliche »Unteilbarkeit« aller Menschenrechte gehört seit längerem zum

persons. Die Arbeitsgruppe verfügt über eine eigene Website: https://social/un. org/ageing-working-group. 7

Vgl. OHCHR (2012).

8

Zu finden auf der Website der OAS: www.oas.org.

9

Dies sind zur Zeit (Februar 2020): Argentinien, Bolivien, Chile, Costa Rica, El Salvador, Ekuador, Uruguay.

10 Ihre Legitimität rührt insofern nicht ausschließlich aus dem Ratifikationsverhalten einzelner Staaten her, die durch die Ratifikation die Geltung menschenrechtlicher Normen nicht souverän schaffen, sondern förmlich bekräftigen und inhaltlich sowie prozedural näher spezifizieren. Vgl. Bielefeldt (1998).

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Kernbestand der internationalen Debatte. Die Liste der sodann im Einzelnen aufgeführten Rechte wirkt ebenfalls weitgehend vertraut. Es geht beispielsweise um die Rechte auf Leben, körperliche und psychische Integrität bzw. Gewaltfreiheit, Privatsphäre, Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Mobilität, politische Partizipation, Arbeit, Teilhabe am kulturellen Leben, Eigentum, Bildung, Gesundheit, soziale Sicherheit und vieles mehr. Quer zu den einzelnen Rechtstiteln verlangt die Konvention die Einbeziehung einer Gender-Perspektive, die durchgängig gewahrt sein soll. Unverkennbar sind außerdem manche Anleihen bei der UN-Behindertenrechtskonvention, etwa das in ihr besonders profilierte Inklusionsprinzip, das Ziel der Barrierefreiheit sowie die Bekräftigung von Autonomie und selbständiger Lebensführung. Der Gesamtzusammenhang der universalen Menschenrechte ist somit durchgängig präsent. Analog zur UN-Behindertenrechtskonvention geht es auch bei der OAS-Konvention über die Rechte Älterer nicht primär um die Statuierung neuer Rechtsansprüche, sondern um die Bekräftigung und ggf. Modifizierung bestehender menschenrechtlicher Verbindlichkeiten aus der Perspektive Älterer, ihrer besonderen Erfahrungen, Vulnerabilitäten, Potenziale und Bedarfe. Vor dem Hintergrund der vielen Gemeinsamkeiten mit sonstigen Menschenrechtsdokumenten fallen einige Besonderheiten dann freilich umso mehr auf. Innerhalb der Liste der in Artikel 3 der OAS-Konvention definierten Termini finden sich einige ungewohnte Begriffe wie »abandonment« und »negligence«. Sie verweisen auf die Erfahrung, dass Menschenrechtsprobleme im Alter oft aus fehlender Aufmerksamkeit resultieren. Während man lange Zeit eine Hauptfunktion der Menschenrechte darin sah, dem Staat und anderen mächtigen Akteuren bestimmte Grenzen zu ziehen und etwaige Übergriffe zurückzuweisen,11 sind zur Gewährleistung der Rechte Älterer vor allem auch positive Investitionen und Maßnahmen seitens der Staates

11 Eine solche einseitige Betonung der grenzziehenden Wirkung der Menschenrechte und damit einhergehenden primär negativen »Enthaltungspflichten« des Staates gilt allerdings seit längerem als überholt.

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und der Gesellschaft erforderlich.12 Dass im Kontext des Rechts auf Privatheit Aspekte von Intimität und Hygiene zu Wort kommen,13 ist ebenfalls neu. Die dahinterliegenden Problemlagen kann man sich leicht vorstellen, erfahren doch insbesondere pflegebedürftige Menschen oft alltägliche Verletzungen ihrer Intimsphäre. Ein unsensibler Umgang mit den Schamgrenzen der Menschen wird von vielen Menschen als extrem demütigend erlebt. Die in der Konvention verankerte Gender-Komponente erweist sich in diesem Zusammenhang als besonders wichtig. Der Umgang mit Schamgrenzen verlangt auch kulturelle und religiöse Sensibilität.14 Mit dem Thema Demenz wird sodann eine gravierende Lücke im bisherigen Menschenrechtsschutz zumindest angesprochen.15 Weiterhin fällt auf, wie detailliert das Problem der häuslichen Gewalt in Angriff genommen wird.16 Die bisherige Unabhängige Expertin des UN-Menschenrechtsrats zu den Rechten Älterer, Rosa Kornfeld-Matte (im Amt von 2014 bis 2020), hat in diversen thematischen und länderspezifischen Berichten wiederholt darauf aufmerksam gemacht, dass die etablierten Gewaltschutzgesetze mit Blick auf ältere, insbesondere pflegebedürftige Menschen typischerweise ins Leere laufen und man hier völlig neue Instrumente braucht.17 In diese Richtung weist auch die OASKonvention. Neben dem Recht auf Gesundheit, das explizit auch die palliative Versorgung umfasst,18 statuiert die Konvention einen eigenen Rechtstitel zum »informed consent« im Blick auf Gesundheitsfragen.19 Inhaltlich ist dies eigentlich nichts Neues. Dass die Voraussetzungen angemessener Information und ausdrücklicher Zustimmung hier aber sogar als eigenständige

12 Dass »negative« und »positive« Pflichten letztlich nur miteinander Sinn ergeben, zeigt sich in der seit den 1990er-Jahren etablierten Trias staatlicher Pflichten, auf Englisch: »obligations to respect, protect and fullfil«. 13 Vgl. Artikel 12c)v. 14 Die Religionsfreiheit wird in der OAS-Konvention erstaunlicherweise nicht erwähnt. Auch in der UN-Behindertenrechtskonvention kommt sie übrigens nicht vor. Gründe für diesen merkwürdigen Befund sind mir nicht bekannt. 15 Vgl. Artikel 19h). 16 Vgl. Artikel 9. 17 Vgl. z.B. den Bericht zu Österreich: UN Doc. A/HRC/30/43/Add.2, vom 11. August 2015, Randnummer 109. 18 Vgl. Artikel 19j). 19 Vgl. Artikel 11.

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Überschrift auftaucht, verweist auf offensichtliche Defizite in der Praxis. Bemerkenswert ist auch die genauere Ausgestaltung des Rechts auf Eigentum20 – eigentlich wiederum ein Klassiker der Menschenrechte. Die Formulierung, wonach sicherzustellen sei, dass ältere Menschen auch tatsächlich Verfügungsgewalt über ihr Eigentum haben sollen, lässt aber erkennen, dass es hier offenbar vielfältige Hindernisse und Probleme gibt. Gerade Hochaltrige müssen ja manchmal erleben, dass die Verwandtschaft sich im Blick auf ein künftiges Erbe schon zu ihren Lebzeiten an ihrem Vermögen vergreift. Ich breche diesen kursorischen und fragmentarischen Durchgang durch die OAS-Konvention ab. Es sollte deutlich geworden sein, dass die Konvention auf das Ganze der Menschenrechte zielt. Zwar kommen dabei auch neue Themen zu Wort, etwa der angemessene Umgang mit Demenzerkrankten oder die Gewährleistung von Palliativversorgung. Aber auch längst etablierte Rechte wie das Recht auf Eigentum, der Respekt der Privatsphäre, die Meinungs- und Informationsfreiheit oder das Folterverbot werden von spezifischen Problemlagen Älterer her neu beleuchtet – mit dem Ergebnis, dass bislang wenig beachtete Aspekte dabei deutlicher hervortreten. Letztlich gibt es wohl kein einziges Menschenrecht, das im Kontext von Alter nicht relevant wäre und das aus der Perspektive Älterer nicht auch noch einmal neu auf den Prüfstand gestellt werden müsste. – Dies sei im Folgenden anhand von drei »Testfällen« näher erläutert.

3. D REI

EXEMPLARISCHE

T ESTFÄLLE

3.1 Freiheitsentziehende Maßnahmen in der stationären Pflege Dass in der stationären Altenpflege Manches im Argen liegt, ist bekannt. Seit Jahren findet dieses Thema starke Aufmerksamkeit in den Medien, manchmal ausgelöst durch konkrete Skandale. Die strukturellen Probleme werden vor allem am Personalmangel festgemacht, der offensichtlich wiederum eng mit Fragen angemessener Ausbildung, Entlohnung und gesellschaftlicher Anerkennung zusammenhängt. Über die angemessene Verteilung steigender

20 Vgl. Artikel 23.

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Kosten in der Pflege zwischen den Betroffenen und ihren Familien, sozialstaatlichen Institutionen und privaten Versicherungen wird seit Jahren kontrovers diskutiert. In alldem erscheinen die Probleme der Pflege vor allem als Herausforderung für den Sozialstaat – eine Sichtweise, für die es viele gute Gründe gibt. In der öffentlichen Debatte weit weniger präsent ist jedoch die Tatsache, dass manche Probleme und Missstände in der stationären Pflege zugleich auch ein Versagen des Rechtsstaats signalisieren. Rechtsstaatliche Defizite bei der stationären Pflege hat jüngst die Nationale Stelle zur Verhütung von Folter aufgezeigt. Diese in der Öffentlichkeit wenig bekannte Einrichtung, die gemäß dem Zusatzprotokoll zur UN-Antifolterkonvention21 vor einigen Jahren geschaffen wurde, beschäftigt sich nicht nur mit Folter im engeren Sinne des Wortes, sondern auch mit anderen Formen grausamer und unmenschlicher Behandlung.22 Es geht dabei um strukturelles Monitoring in präventiver Absicht, d.h. um die systematische Verringerung von Risiken unmenschlicher Behandlung – etwa durch bessere Ausstattung der jeweiligen Institutionen, durch Ausbau von Beschwerdemöglichkeiten für Betroffene und ihre Angehörigen, durch Bewusstseinsbildung und Training von Bediensteten usw. Zu diesem Zweck führt die Nationale Stelle, die aus einer Bundesstelle und einer Länderkommission besteht, stichprobenartig unangekündigte Inspektionsbesuche durch. Institutionen der stationären Altenpflege fallen ausdrücklich in ihr Mandat.23 Im Jahre

21 Zum Zusatzprotokoll (von 2002) zur Antifolterkonvention (von 1984) und den sich daraus für Deutschland ergebenden Aufgaben vgl. Deutsches Institut für Menschenrechte (2007). 22 Die Länderkommission zur Verhütung von Folter wurde mit Staatsvertrag über die Einrichtung eines nationalen Mechanismus aller Länder nach Artikel 3 des Fakultativprotokolls vom 18. Dezember 2002 zu dem Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe vom 25. Juni 2009 (u.a. abgedruckt in GBl. BW vom 7. Dezember 2009, 681) eingerichtet. Am 24. September 2010 wurde die Länderkommission zur Verhütung von Folter offiziell vom Hessischen Minister der Justiz, für Integration und Europa in ihr Amt eingeführt. Vgl. https://www.nationale-stelle.de/de/nationale-stelle/rechtsgrundlagen0.html [06.03.2020]. 23 Informationen zu den Rechtsgrundlagen, zur Arbeit und Ergebnissen der Nationalen Stelle finden sich auf deren Website: www.nationale-stelle.de.

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2018 bildete die Tätigkeit in diesem Bereich den thematischen Schwerpunkt.24 Das Interesse der Nationalen Stelle zur Verhütung von Folter richtet sich insbesondere auf freiheitsbeschränkende Maßnahmen. Dazu zählen Fixierungen, die Verabreichung sedierender Medikamente oder das Absperren von Türen. Freiheitseinschränkende Wirkungen lassen sich aber auch durch weniger offensichtliche Maßnahmen erreichen: beispielsweise das Wegnehmen von Gehhilfen, so dass die Betroffenen nicht aus dem Bett aufstehen und sich unkontrolliert wegbewegen können, oder die Drapierung von Ausgängen mit Vorhängen oder Teppichen, um zu verhindern, dass etwa Menschen mit Demenz einen Raum ohne Aufsicht verlassen können. Die physische Gebrechlichkeit der Betroffenen bzw. ihr Verlust an Orientierung werden in solchen Fällen dazu genutzt, ihre elementare Mobilität zu kontrollieren. Freiheitseinschränkende Maßnahmen, sofern sie nicht ausdrücklich von den betroffenen Menschen autorisiert werden, greifen unmittelbar in die Menschenrechte ein, die im Kern ja Freiheitsrechte sind. Ein solcher Eingriff lässt sich nur unter engen Voraussetzungen ausnahmsweise rechtfertigen, etwa zum Schutz der betroffenen Personen selbst bzw. zum Schutz Dritter, sofern andere Abhilfe nicht möglich erscheint. Außerdem ist dafür in jedem einzelnen Fall eine richterliche Genehmigung erforderlich, die ihrerseits bestimmen Kriterien – etwa einer sorgfältig durchgeführten Verhältnismäßigkeitsprüfung – Genüge tun muss. Sofern eine richterliche Genehmigung für freiheitseinschränkende Maßnahmen in einer Notfallsituation nicht vorliegt, muss sie unverzüglich eingeholt werden. Soweit der rechtsstaatliche Anspruch. Die Praxis sieht allerdings häufig ganz anders aus, wie der Jahresbericht der Nationalen Stelle 2018 deutlich macht.25 Er führt Beispiele auf, bei denen richterliche Genehmigungen im Falle von Fixierungen nicht vorlagen.26 In einem Fall hielt ein Amtsgericht solche Genehmigungen von vornherein nicht für erforderlich, so dass entsprechende Anträge gar nicht mehr gestellt wurden. Richterliche Genehmigungen scheinen außerdem mancherorts routinemäßig und ohne angemessene Prüfung der konkreten Situation zu erfolgen. So heißt es im Bericht:

24 Vgl. Nationale Stelle zur Verhütung von Folter (2019). 25 Zum Folgenden vgl. ebd., 36–44. 26 Vgl. ebd., 43.

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»Vielfach lag den Gerichtsentscheidungen kein ärztliches Attest zugrunde, welches den Zustand der Bewegungsfähigkeit belegte. Zudem entstand der Eindruck, dass sich Gerichte […] nicht in jedem Einzelfall einen persönlichen Eindruck von der Situation vor Ort verschafft hatten. In der Begründung der Beschlüsse bezogen sie sich lediglich auf Angaben beziehungsweise Stellungnahmen Dritter […].«27

Solche Nachlässigkeiten haben zur Folge, dass in der stationären Altenpflege Eingriffe in Freiheitsrechte auf breiter Front ohne auch nur halbwegs angemessene rechtsstaatliche Kontrollen stattfinden. Bei ihren Recherchen stellte die Nationale Stelle wiederholt fest, dass die Bewohnerinnen und Bewohner der Einrichtungen nicht angemessen darüber aufgeklärt worden waren, dass sie ihre Zustimmung zu freiheitseinschränkenden Maßnahmen – etwa zur Verabreichung sedierender Medikamente – jederzeit ohne Begründung zurücknehmen können. »Teilweise waren die Einwilligungen schon vor Jahren schriftlich abgegeben und nicht regelmäßig erneuert worden oder sie konnten zum Besuchszeitpunkt nicht aufgefunden werden. In zahlreichen Fällen wies die Dokumentation Lücken auf. So wurde nicht immer auf die jederzeitige Widerrufsmöglichkeit oder auf alternative Maßnahmen hingewiesen, beziehungsweise der Hinweis nicht dokumentiert.«28

Offenbar fehlt es vielfach am pfleglichen Umgang mit den Freiheitsrechten der betroffenen Menschen. Womöglich mangelt es denjenigen, die freiheitsentziehende Maßnahmen anordnen oder durchführen, von vornherein an Unrechtsbewusstsein, weil entsprechende Praktiken schlicht als »normal« gelten. Was aber zur alltäglichen Normalität gehört, bedarf scheinbar nicht einmal spezifischer Rechtfertigung. Hinzu kommt der – in vielen Fällen vermutlich sogar zutreffende – Verweis auf die Angehörigen der betroffenen Menschen, denen die Sicherheit über alles gehe. Dass der gebrechliche Vater oder die demenzkranke Tante gewisse Beschränkungen ihrer Bewegungs-

27 Nationale Stelle zur Verhütung von Folter (2019), 37. 28 Ebd., 42.

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freiheit erfahren, dürften viele Familien als unvermeidlich hinnehmen. Möglicherweise gehen auch sie davon aus, dies sei »normal«.29 Tatsächlich verbergen sich hinter solchen Normalitätszuschreibungen oft aber uneingestandene Vorurteile und Diskriminierungen. Freilich unterscheidet sich die Praxis des Umgangs mit freiheitseinschränkenden Maßnahmen in der stationären Altenpflege von Institution zu Institution ganz erheblich. Auch das ist ein wichtiger Befund. Während in manchen Einrichtungen freiheitsbeschränkende Maßnahmen breit und offenbar ohne echtes Problembewusstsein zum Einsatz kommen, gelingt es in anderen Häusern, sie fast vollständig zu vermeiden, so dass sie – wie vom Bundesverfassungsgericht jüngst noch einmal eingeschärft – tatsächlich nur als »ultima ratio« in extremen Ausnahmefällen von Fremd- und Selbstgefährdung zum Einsatz kommen.30 Neben skandalösen Verhältnissen gibt es viele Beispiele von »good practice«, und mit Schwarz-Weiß-Beschreibungen wird man der komplexen Realität sowieso nicht gerecht. Der Hinweis auf die großen Unterschiede in der Praxis der stationären Altenpflege ist nicht zuletzt wichtig, um pauschalen Vorwürfen entgegenzutreten, die gegenüber den zahlreichen, sich in ihrem Dienst aufreibenden Pflegenden in höchstem Maße ungerecht wären. Außerdem belegen die ausgeprägten Differenzen in der Praxis, dass freiheitsbeschränkende Maßnahmen keineswegs so alternativlos sind, wie dies gelegentlich unterstellt wird. Schon deshalb erweist sich die Zuschreibung angeblicher »Normalität« als fragwürdig. Der Bericht der Nationalen Stelle macht deutlich, dass es an der Zeit ist, die Zustände in der stationären Altenpflege als Herausforderung nicht nur für den Sozialstaat, sondern auch für den Rechtsstaat öffentlich zu thematisieren. Die OAS-Konvention über die Rechte Älterer, die in Artikel 12 relativ detailliert auf die Situation dauerhafter Pflegebedürftigkeit eingeht, enthält dazu einige normative Eckpunkte. Für Deutschland unmittelbar einschlägig

29 Dies beschreibt eindrucksvoll und anhand zahlreicher Beispiele Gawande (2014). 30 Vgl. 2 BVG 309/15 und 16 vom 24. Juli 2018. Das Bundesverfassungsgericht hatte über zwei Fälle zu entscheiden, in denen Menschen gegen ihren Willen fixiert worden waren. Unter Verweis auf einschlägige Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte sowie auf UN-Gremien stellte der Zweite Senat die Rechtfertigungsbedürftigkeit jedweder Fixierung anhand einer strengen Verhältnismäßigkeitsprüfung fest.

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ist vor allem aber die Charta der Rechte hilfe- und pflegebedürftiger Menschen von 2006, die zwar nicht rechtlich verbindlich ist, hinter der jedoch das Commitment vieler wichtiger Akteure in der Pflege steht.31 Die Charta bekennt sich ausdrücklich zu einem menschenrechtlichen Ansatz, zu dem auch der Schutz körperlicher und seelicher Unversehrtheit gehören. Ein Nachtrag vom Juni 2020: Bekanntlich hat die Covid-19-Pandemie unter den Bewohnerinnen und Bewohnern von Alters- und Pflegeheimen besonders gewütet. Der Mangel an Pflegepersonal, verschärft durch das Problem fehlender Schutzausrüstungen für Pflegende, hat hier buchstäblich tödliche Folgen gezeitigt. Man kann nur hoffen, dass die öffentliche Anerkennung, die Pflegekräften in dieser Krise zuteil wurde, nicht auf der Ebene bloßer Symbolik verbleibt, sondern sich dauerhaft in angemessener tariflicher Bezahlung und Ausstattung niederschlägt. Dies ist ein längst bekanntes Thema innerhalb der öffentlichen Sozialstaatsdebatte. Dass die Verhältnisse in den Heimen darüber hinaus auch ein Thema der gesellschaftlichen Rechtsstaatsdebatte sind, hat die Covid-19-Krise freilich ebenfalls gnadenlos offengelegt. Eingriffe in die persönlichen Freiheitsrechte der Bewohnerinnen und Bewohner, die schon unter relativ normalen Umständen vielfach routinemäßig stattfinden, dürften in der Krisenlage vermutlich noch einmal ein ganz anderes Ausmaß angenommen haben. Die gesellschaftliche Diskussion darüber, welche Einschränkungen verhältnismäßig waren und welche nur als krasses Rechtsstaatsversagen gewertet werden müssen, steht uns noch bevor. 3.2 Inklusion von Menschen mit Demenz Auf einer vor einigen Jahren in Nürnberg durchgeführten Tagung zu den Rechten von Menschen mit Demenz32 berichteten mehrere Angehörige von Betroffenen, dass sie erst relativ spät von einer längst zuvor erfolgten Demenzdiagnose erfahren hatten. Die Mutter oder der Ehepartner hatte entsprechende ärztliche Bescheide anscheinend zunächst versteckt, jedenfalls nicht einmal im engsten Kreis der Familie offenbart. Dies veranschaulicht in erschütternder Weise die Einsamkeit, in die sich Menschen durch das Stigma Demenz zurückgestoßen fühlen. Wer sich mit einer schwierigen medizinischen Diagnose konfrontiert sieht, verspürt normalerweise ja das Bedürfnis,

31 Vgl. BMFSFJ/BMG (2019). 32 Die Tagung fand 2017 statt und ist publiziert in Schmidhuber et al. (2019).

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zumindest unter Freunden oder in der Familie darüber offen zu sprechen, um das Leid auf diese Weise mit den Nächsten zu »teilen«. Dass dies im Falle einer Demenzdiagnose anscheinend manchmal ganz anders verläuft, ist bezeichnend für die verbreitete Wahrnehmung der Demenz als einer scheinbar nur noch »schattenhaften« Existenz, die man sich selbst und anderen um fast jeden Preis ersparen möchte. Im Teufelskreis von Angst und Scham, persönlicher Verdrängung und gesellschaftlicher Tabuisierung wird das Leben folglich immer enger – mit gravierenden Konsequenzen auch für pflegende Angehörige. Die Depressionsrate unter pflegenden Angehörigen von Menschen mit Demenz liegt Schätzungen zufolge bei bis zu 50 Prozent.33 Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen gehören offensichtlich zu den besonders vulnerablen Gruppen in unserer Gesellschaft. Umso erstaunlicher ist es, dass diese Herausforderung im Menschenrechtsdiskurs bislang kaum angekommen zu sein scheint. Selbst bei der Umsetzung der Behindertenrechtskonvention kommen Menschen mit Demenz bislang allenfalls am Rande vor. Die in der Konvention als Leitprinzip profilierte »Inklusion« scheint mit Blick auf Demenzerkrankte und ihre Angehörigen nicht wirklich zu greifen. So jedenfalls lautet die kritische Einschätzung der 2014 gegründeten »Dementia Alliance International« (DAI). Sie beklagt: »Although 163 Member States and the European Union have ratified the Convention, there is no evidence that persons with dementia are being included in its implementation at national level.«34

Dieser verstörende Befund steht im Zentrum einer öffentlichen Stellungnahme, die die DAI anlässlich eines vom UN-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen in Genf veranstalteten »General Day of Discussion« im April 2016 abgab. Die Alliance fordert den Fachausschuss darin auf, dem Thema Demenz im Rahmen seiner Monitoring-Praxis fortan syste-

33 Vgl. Mittler (2016). 34 Ebd.

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matische Aufmerksamkeit zu widmen. Dies scheint bis dato wenig geschehen zu sein. So kommt der Begriff der Demenz in den Empfehlungen des BRK-Ausschusses für Deutschland vom April 2015 nicht vor.35 Wie erklärt sich diese erstaunliche Leerstelle? Suzanne Cahill, die eine der wenigen bislang zu diesem Themenfeld vorliegenden Monographien verfasst hat,36 sieht einen Hauptgrund darin, dass Menschen mit Demenz ihre Anliegen bislang fast nie selbst direkt in der Öffentlichkeit vertreten hätten. Während die Durchbrüche im Umgang mit dem Thema Behinderung vor allem daher rühren, dass die Betroffenen selbst politisch aktiv geworden und an die Öffentlichkeit gegangen sind, mit Erfolg die internationale Bühne für sich reklamieren und schließlich auch an der Erarbeitung der BRK mitwirken konnten, existiere ein vergleichbarer öffentlicher Aktivismus, so ihre Einschätzung, im Kontext von Demenz bislang allenfalls in bescheidenen Ansätzen. Weder seien Betroffene oder ihre Angehörigen bei den internationalen Beratungen zur BRK beteiligt gewesen, noch sei das Thema Demenz innerhalb der Behindertenbewegung eindeutig anerkannt und in die Aktivitäten aufgenommen worden.37 Öffentliche Forderungen zur Besserstellung von Menschen mit Demenz würden nach wie vor typischerweise von Fachorganisationen – also wenn man so will: stellvertretend für die Betroffenen – vorgebracht.38 Alternativen dazu seien selten und von vornherein wohl auch nur in Grenzen möglich: »Self-advocacy is only a relatively new and emerging phenomenon in the dementia space […], and self-advocates living with dementia face particular challenges. For example the nature of the condition means that only those with a mild to moderate dementia can advocate for themselves […].«39

35 Vgl. CRPD C/DEU/CO/1, vom 13. Mai 2015. Es bleibt abzuwarten, ob dies in den nächsten Concluding Observations zu Deutschland, die bald fällig sind, anders sein wird. 36 Cahill (2018). Für den deutschsprachigen Raum siehe etwa Wetzstein (2005) sowie zu weiteren Hintergründen Frewer et al. (2015) und Schmidhuber et al. (2017). 37 Vgl. Cahill (2018), 60. 38 Vgl. ebd., 39. 39 Ebd., 39.

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Cahills Analyse legt die Vermutung nahe, dass es manche Berührungsängste seitens der Behindertenbewegung gegenüber dem Thema Demenz geben könnte. In diesem Zusammenhang verweist sie auf Artikel 19 der BRK, der unter der Überschrift steht: »living independently and being included in the community«.40 Sie sieht in diesem wichtigen Postulat eine klare Präferenz für das Ziel einer systematischen »deinstitutionalization«, also einer weitgehenden Vermeidung bzw. Überwindung spezialisierter Institutionen, die ja in der Tat oft auf Separation hinauslaufen. Genau diese kritische Orientierung gegen separierende »Sonderinstitutionen«, die insgesamt viele gute Gründe für sich hat, mag indes ungewollt die Ausblendung des Themas Demenz nach sich ziehen. »An unintended consequence here may be that a small minority of people diagnosed with dementia may be forced to remain at home in the community, when, in fact, they themselves might favour long-term residential care.«41

Nach Cahills Einschätzung birgt der Umgang mit dem Problemfeld Demenz Herausforderungen, die sich nicht bruchlos in die bisherigen Menschenrechtstrukturen einfügen. Die Konsequenzen, die aus diesem Befund zu ziehen sind, können freilich in unterschiedliche Richtungen gehen. Eine mögliche Strategie könnte darin bestehen, das Thema Demenz ausdrücklich in einer noch zu schaffenden UN-Konvention für die Rechte Älterer zu verankern. Zwar kommen Demenzerkankungen bekanntlich nicht nur im hohen Alter vor; ihre statistische Wahrscheinlichkeit steigt aber eindeutig mit dem Lebensalter, so dass der Sachzusammenhang von Alter und Demenz generell plausibel ist. Die OAS-Konvention über die Menschenrechte Älterer spricht dieses Thema denn auch im Kontext des Rechts auf Gesundheit ausdrücklich an.42 Eine andere Strategie zielt darauf, die Arbeit zur Umsetzung der BRK für Anliegen von Menschen mit Demenz und ihren Angehörigen deutlich über die bisherige Praxis hinaus zu öffnen. Dies wäre Cahills Präferenz. Die der BRK zugrundeliegende Definition von Behinderung bietet für eine sol-

40 Cahill (2018), 58. 41 Ebd., 61. 42 Vgl. Artikel 19 der OAS-Konvention.

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che Öffnung durchaus Ansatzpunkte. Behinderung, so heißt es in der Präambel, ist »an evolving concept«,43 also eine historisch offene Problemanzeige im Spannungsfeld von medizinisch beschreibbaren persönlichen Beeinträchtigungen (»impairments«) und verschiedenen gesellschaftlichen Barrieren (»attitudinal and environmental barriers«). Dieses offene Konzept von Behinderung ließe sich prinzipiell durchaus auch auf Demenz übertragen. Übrigens mahnte der Deutsche Ethikrat in einer Studie zu »Demenz und Selbstbestimmung« bereits 2012 eine konsequente Anwendung der BRK für Demenzkranke an.44 Im Nationalen Aktionsplan 2.0 der Bundesregierung zur Umsetzung der BRK (Neufassung von 2016) findet das Thema Demenz zumindest eine kurze Erwähnung. So postuliert der Aktionsplan: »Vor dem Hintergrund der demographischen Entwicklung sind eine nachhaltige Veränderung der gesellschaftlichen Einstellung gegenüber Menschen mit Demenz, die Verbesserung der Lebensqualität Betroffener durch Einbindung ins gesellschaftliche Leben und bedürfnisangepasste Hilfen und Betreuungsangebote wichtige Aufgaben.«45

Was wäre mit einer konsequenten Einbeziehung des Themas Demenz in die Umsetzung der BRK für die betroffenen Menschen gewonnen? Auch Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen könnten von der menschenrechtlichen Blickveränderung profitieren, die die BRK für Menschen mit Behinderungen erwirkt hat. Es geht darum, die medizinischen Problemstellungen nicht länger isoliert zu betrachten, sondern mit einer Kritik an gesellschaftlichen Stigmatisierungen und Barrieren zu verbinden, deren Überwindung damit zur politischen Aufgabe würde. Dies erfordert einen ganzheitlichen Ansatz. »The optimum model«, schreibt Suzanne Cahill in diesem Sinne, »is one that takes a whole-person biopsychosocial approach, gives power and control back to the individual and their family members, and allows for recognition of the individual’s rights«.46

43 Präambel der BRK, Buchstabe e. 44 Vgl. Deutscher Ethikrat (2012), 94–96. 45 BMAS (2016), 103. 46 Cahill (2018), 97.

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3.3 Palliative Sorge am Lebensende Bereits in einem »General Comment« aus dem Jahr 2000 stellte der UN-Fachausschuss für die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte fest, dass das Menschenrecht auf Gesundheit auch die Komponente palliativer Sorge umfasst.47 Dieses Thema ist im Kontext der Menschenrechte also nicht ganz neu. Gleichwohl ist es bemerkenswert, dass die OAS-Konvention über die Rechte Älterer die gebotene palliative Sorge nicht nur innerhalb des Rechts auf Gesundheit anspricht, sondern außerdem im Rahmen der in Artikel 2 aufgelisteten Definitionen von Kernbegriffen aufführt. Unter »palliative care« versteht die Konvention Folgendes: »Active, comprehensive, and interdisciplinary care and treatment of patients whose illness is not responding to curative treatment or who are suffering avoidable pain, in order to improve their quality of life until the last day of their lives. Central to palliative care is control of pain, of other symptoms, and of the social, psychological, and spiritual problems of the older person. It includes the patient, their environment, and their family. It affirms life and considers death a normal process, neither hastening nor delaying it.«

Nach dieser recht detaillierten Definition ist »palliative care« also weit zu fassen. Sie geht über die medizinische Versorgung, so zentral und unverzichtbar diese ist, hinaus und enthält auch andere Aspekte menschlicher Sorge (die im englischen Begriff »care« angemessener zum Ausdruck kommen als im deutschen Begriff der »Versorgung«). Gegen die Dominanz professionellen, oft technisch basierten »Machens« in der Medizin sollen persönliche Zuwendung, Sensibilität für biographische Besonderheiten, Beziehungsarbeit, ggf. auch spirituelle Bedürfnisse wieder mehr Raum gewinnen.48 Viele Menschen fürchten sich davor, ihre letzte Lebensphase in völliger Abhängigkeit – gleichsam als entpersonalisiertes Anhängsel an technische Apparate – zu verbringen. Manche wünschen sich deshalb die Möglichkeit, sich in einem verzweifelten Akt letzter Selbstverfügung einen rechtzeitigen »Abgang« zu verschaffen, wofür sie dann ggf. Maßnahmen professioneller

47 Vgl. E/C.12/2000/4, vom 11. August 2000, Ziff. 34. 48 Vgl. Eggebrecht/Kettler (2002), 171–195.

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Suizidassistenz fordern.49 Gegen diese trostlose Alternative – entweder totale Abhängigkeit oder Selbsttötung – stehen die Möglichkeiten der palliativen Sorge. Sie können dazu beitragen, dass Menschen die finale Phase ihres Lebens als Bestandteil ihrer persönlichen Biographie erleben und mitgestalten können. Dafür braucht es professionelle Unterstützung, etwa in Gestalt interdisziplinärer ambulanter Palliativteams, die allerdings noch lange nicht flächendeckend verfügbar sind. In einer öffentlichen Erklärung, die man durchaus als »Brandbrief« verstehen kann, beklagten vor einigen Jahren mehrere Sonderberichterstatter des UN-Menschenrechtsrats, darunter der Sonderberichterstatter für das Recht auf Gesundheit und die Unabhängige Expertin für die Rechter Älterer, dass die ganz überwiegende Mehrheit der Menschen in der Welt nach wie vor keinerlei Zugang zu den Möglichkeiten palliativer Sorge hätten. Erschienen ist die entsprechende Presseerklärung unter dem bezeichnenden Titel »Who cares about the suffering of older persons at the end of their lives? We do«.50 Eine immer wichtigere Rolle in der Sterbebegleitung spielt inzwischen die Hospizbewegung,51 in der sich allein in Deutschland zehntausende Menschen engagieren. Ganz überwiegend handelt es sich dabei um Frauen. Wenn die Sterbebegleiterinnen der Hospizbewegung, die sich tatsächlich als »Lebensbegleiterinnen«52 verstehen, soziale Kontakte mit schwer Kranken, Sterbenden und ihren Angehörigen pflegen, überwinden sie die Mauern, die durch das angstbesetzte Tabu Sterben entstanden sind. Diese Mauern verengen nicht nur das Leben der unmittelbar Betroffenen und ihrer Angehörigen; sie spalten auch die Gesellschaft. Die Hospizbewegung übernimmt über ihr unverzichtbares caritatives Engagement hinaus eine eminent politische Funktion, wenn sie Themen wie Sterben, Tod und Trauer beispielsweise in die Schulen und andere gesellschaftliche Institutionen trägt. Handelt es sich

49 Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil vom 26. Februar 2020 dafür die Tür weit – nach Ansicht mancher Kritiker (denen ich mich selbst zurechne) zu weit – geöffnet. Vgl. BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 26. Februar 2020 – 2 BvR 2347/15 -, Rn. (1–343). 50 Abgerufen unter OHCHR (2014). 51 Vgl. dazu Jordan (2010), 243–247 sowie Jordan (2007). 52 So etwa das Selbstverständnis der Aktivistinnen im Hospizverein Forchheim, geleitet von Dieter Behlolavek, mit denen ich im März 2016 intensive und aufschlussreiche Gespräche führen konnte.

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bei der Hospizbewegung um eine Menschenrechtsbewegung neuen Typs? Dieser Gedanke scheint noch recht ungewohnt zu sein. In dem Maße, in dem der Zugang zu palliativer Sorge als Menschenrechtsanspruch Profil gewinnt, liegt es aber durchaus nahe, die Hospizbewegung als das zivilgesellschaftliche Pendant zum Staat zu verstehen, dem es obliegt, das Menschenrecht auf Gesundheit, einschließlich der palliativen Komponente, nach Maßgabe des Möglichen zu realisieren.

4. D IE W ÜRDE

DES

M ENSCHEN

Die Menschenrechte haben sich historisch immer wieder verändert und für neue Anliegen geöffnet. Eine systematische Öffnung auch für spezifische Bedarfe und Erfahrungen älterer Menschen erscheint geboten. Bei allen bisherigen und künftigen Veränderungen innerhalb der Menschenrechte bleibt die Würde des Menschen freilich die letzte tragende Orientierung. Sie ist nicht nur ein Wert neben anderen Werten bzw. ein Prinzip neben anderen Prinzipien. Es reicht auch nicht aus, sie an die Spitze einer »Wertepyramide« zu setzen, wie man dies gern formuliert. Ihre Bedeutung reicht weit darüber hinaus. Die Idee der Menschenwürde steht für die grundlegende Einsicht, dass sämtliche Wertüberzeugungen, Wertsetzungen und Wertentscheidungen der Gesellschaft auf einer meist unausgesprochenen Prämisse basieren, nämlich dass alle Menschen als moralische Subjekte Respekt verdienen. Dieser fundamentale Achtungsanspruch ist unverhandelbar. Denn er bildet die unhintergehbare Prämisse jedweder sinnvollen normativen Interaktion von Menschen.53 Die Würde des Menschen als Verantwortungssubjekt besteht dabei nicht in individuellen Fähigkeiten, Funktionen oder Leistungen, die von Person zu Person variieren können und bei manchen Menschen sogar ganz oder teilweise ausfallen. Vielmehr bezeichnet die Menschenwürde eine grundlegende Statusposition, die – gerade weil sie schlechthin grundlegend ist – konsequenterweise alle Menschen gleichermaßen umfassen muss.54 Der fundamentale Stellenwert der Menschenwürde verlangt danach, sie auch solchen

53 Vgl. Bielefeldt (2011). 54 Vgl. Waldron (2015), 33.

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Menschen uneingeschränkt zuzuerkennen, die ihr Potenzial als Verantwortungssubjekte faktisch nicht vollumfänglich oder gar nicht entfalten können, etwa Menschen im fortgeschrittenen Stadium von Demenz.55 Die Idee der Menschenwürde ergibt Sinn nur in strikt inklusiver Perspektive. In der Präambel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 kommt diese inklusive Sicht der Menschenwürde klar zum Ausdruck. Etwas anders als das ein halbes Jahr später entstandene Grundgesetz, das primär auf die Würde des einzelnen Menschen im Verhältnis zum Staat abstellt, spricht die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von den Trägern der Menschenwürde von Anfang an im Plural und intoniert die Würde somit deutlicher als Beziehungsbegriff. Der erste Satz der Präambel dieses ersten internationalen Menschenrechtsdokuments setzt ein mit der gebotenen »Anerkennung der inhärenten Würde aller Mitglieder der menschlichen Familie«.56 Aus der inhärenten Würde aller Menschen ergeben sich, so der Text der Präambel, ferner ihre »gleichen und unveräußerlichen Rechte«. Die gebotene Achtung ihrer Würde und ihrer elementaren Rechte gilt nicht nur für alle Menschen gleichermaßen; sie erstreckt sich auch gleichermaßen auf alle Phasen des menschlichen Lebens. Auch in dieser Hinsicht gilt der Anspruch der Menschenwürde strikt inklusiv und strikt egalitär. Es ist an der Zeit, diese Einsicht gesellschaftlich neu zu festigen. In der aktuellen Covid-19-Krise sind – auch von prominenter Seite – gelegentlich Positionen vorgebracht worden, wonach der Wert individuellen menschlichen Lebens von der erwartbaren verbleibenden Lebenszeit abhänge. Je nach Alter oder Vorerkrankungen wären demnach Menschenleben in ihrem »Wert« von vornherein unterschiedlich zu bemessen. Für Menschen, die womöglich in einem halben Jahr »sowieso tot« sein könnten, wie es manchmal zynisch heißt, sollten lebenserhaltende medizinische Investitionen dann ggf. zurückgehalten werden; sie »lohnten« sich ja nicht mehr. Manche Verwirrung ist auch dadurch entstanden, dass Überlegungen zu einer in der Notfallmedizin ggf. unvermeidlichen, wenn auch tragischen »Triage«, in denen Gesichtspunkte von individueller Behandlungsdringlichkeit und Erfolgschance im Vordergrund stehen, mit utilitaristischen Kalkülen über zu erwartende Le-

55 Vgl. Cahill (2018). 56 Warum die Metapher der Menschheitsfamilie in der offiziellen deutschen Übersetzung zur »menschlichen Gemeinschaft« verblasst, ist unerfindlich.

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bensdauer und Lebensqualität im Alter vermischt werden. Hier können Grauzonen entstehen, die insbesondere für Menschen mit Vorerkrankungen, Behinderte oder Ältere existenziell bedrohlich sind. Darüber hinaus können sie die Gesellschaft spalten und das Ethos der Rechtsgemeinschaft unterminieren. Deshalb ist klarer Widerspruch angezeigt: Als Ausdruck der Menschenwürde, die für alle Menschen und in allen Lebensphase die gleiche ist, gilt auch das Recht auf Leben kategorisch für alle und jederzeit. Wer es einer Art »Altersrabatt« unterzieht, legt damit die Axt an den Menschenrechtsanspruch im Ganzen. Es gibt offenbar Gründe dafür, an diese elementare Wahrheit erneut zu erinnern.

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Ältere Menschen in der Sprache der Medizin Ethische Fragen von Ausgrenzung und Ageism ANDREAS FREWER

1. E INLEITUNG Das geht doch »im Alter« gar nicht mehr, »dafür ist der Patient viel ›zu alt‹« – die Diskriminierung Älterer fängt oft mit kleinen sprachlichen Details an.1 Vermeintlich als Fachbegriffe auftretende Termini wie »Altersfalle«, »Methusalem-Komplott« oder »Überalterung« markieren Tendenzen zur Altersdiskriminierung (»Ageism«).2 Gesellschaftliche Strömungen lassen sich in gängigen (un)sozialen Slogans diagnostizieren: Klassiker wie »Forever Young«3 oder »Fit for Fun!« zeigen Rahmenbedingungen kultureller Ent-

1

Zur Vereinfachung und in Zitaten ist teils nur ein Geschlecht genannt, selbstver-

2

»Ageism« als analoge Bildung zu »Racism« und »Sexism« etc., vgl. dazu u.a.

ständlich sind immer gleichzeitig weibliche und männliche Form gemeint. Levin/Levin (1980); Palmore (1999) und (2004); Bytheway (1995); Kramer (1998); Macnicol (2006); Achenbaum (2015). Im vorliegenden Beitrag geht es um einen Überblick der Diskriminierung älterer Menschen; ageism beinhaltet natürlich auch die andere Seite der Lebensspanne mit einer schlechten Behandlung oder Ausgrenzung aufgrund (zu) jungen Alters, etwa bei Wahlrecht oder anderen Formen der Partizipation. Zum »Methusalem-Komplott« Schirrmacher (2004), zum »Methusalem-Komplex« Burmeister/Müller-Scheeßel (2005) und Müller (2005), 91. Auf Spiegelungen in der Jugendsprache (»Ey Alter«, »Grufti«, »jemanden ›alt aussehen‹ lassen« etc.) kann hier nur punktuell hingewiesen werden. 3

Analog der häufige Satz »Alle wollen länger leben, aber niemand will alt sein«.

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wicklungen, die sich im 20. Jahrhundert in einer besonderen Weise auf Jugendlichkeit und Altersablehnung konzentrieren. Hier sind deutlich Symptome von Altersdiskriminierung und auch übergreifend eine »Anti-AgeingKultur« vorhanden.4 Besonders verstärkt wird dies, wenn sich in einem Feld wie der Medizin, die generell als kompetent erachtet wird für die fachliche Einschätzung von Sachverhalten zu Körper und Menschsein, Zuspitzungen ergeben wie in verdichteten Begriffen von »Restlaufzeit« eines Menschen oder gar ein im Sinne des Gemeinwohls vermeintlich nötiges »früheres Ableben«. In der Medizin trifft man beim Thema »Ältere Patienten« auf verschiedenen Ebenen außerordentlich erstaunliche Wahrnehmungs- und Umgangsformen mit Blick auf die zahlreichen Typologien sprachlicher Ausgrenzung, Stigmatisierung oder Altersdiskriminierung. Im Folgenden soll zunächst anhand ausgewählter Beispiele das klinische Spektrum kurz illustriert und umrissen werden (Kap. 2), dann nach übergreifend bzw. strukturell vorhandenen »Zynismen« im System der Sprache der Medizin gefragt (3) und das zugrundeliegende Konzept von Ageism rekonstruiert werden (4). Auf dieser Basis sollen zum Kontrast auch (inter)nationale Gegenentwürfe ausgewählter positiver Beispiele von wertschätzendem sprachlichem Umgang mit älteren Personen im Gesundheitswesen exemplarisch angesprochen (5) sowie abschließende Überlegungen zum Thema angestellt werden (6).

2. S CHLAGLICHTER ZUM A GEISM

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Was bedeuten die Abkürzungen »Go-Go, Slow-Go, No-Go« und »Gomer«? Die ersten drei bilden ein sprachlich doch relativ flapsiges Triple-Schema zur Einteilung von älteren Patienten in noch gehfähige Menschen (»GoGo«), bereits nur noch langsam sich fortbewegende ältere Personen (»SlowGo«) und schließlich ernsthaft erkrankte bzw. bettlägerige Patienten (»NoGo«). Bewegungsfähigkeit ist das zentrale Kriterium für diese vereinfachend-einseitige, aber vielleicht auch noch mit ein wenig Humor zu verstehende Trias. Die Assoziation von dynamischen älteren Menschen mit »GoGo«-Tänzerinnen mag für den einen oder anderen etwas Schmeichelhaftes haben, auch wenn sie im Kern deplatziert wirkt. Aber was ist ein »Gomer«?

4

Zu »Pro-Age versus Anti-Ageing« vgl. u.a. Kumlehn/Klie (2009); Maio (2011); Schicktanz/Schweda (2012). Siehe ferner Backes (1997); Bobbio (2002).

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Der Psychiater Samuel Shem5 schreibt in seinem Schlüsselwerk »The House of God«:6 »Gomers« sind alte Patienten, die »Ärzte quälen«.7 Mediziner »hassen« Gomers. Dieser Begriff steht für die Anfangsbuchstaben von »Get out of my emergency room«. Gomers sollen so schnell wie möglich die Notaufnahme verlassen. Sie seien extrem betreuungsintensiv, machten Ärzten und Pflegepersonal (zu) viel Arbeit, aber wollten einfach nicht sterben (sic). Das offizielle Glossar des Millionen-Bestsellers zitiert den erfahrenen Oberarzt (»Der Dicke«) der Station wörtlich mit dieser »Definition« eines Gomer: »Ein menschliches Wesen, das, oft durch Alter, verloren hat, was einen Menschen ausmacht«. Alt oder älter sein – »ohne Mensch zu sein«? Selbstverständlich ist dies eine bestürzende Form von Diskriminierung und pure Stigmatisierung – auch im Spiegel der Literatur. Aus Sicht der Medizinethik ist es ein Fall von Ageism, eine massive Diskriminierung wegen des Alters – quasi ein »No-Go«. Noch makabrer sind dann Sprache und Verhalten der Mediziner, wenn geschildert wird, was sich »Halbgötter in Weiß« im Bostoner Medizin-Mekka an der Harvard University8 – in den 1960er bis 70er Jahren und natürlich hier im Spiegel der Literatur – ausdachten, damit ältere Patienten nicht länger auf ihrer Station für Innere Medizin liegen bleiben: Das Bett wird einfach mechanisch höhergestellt. Die oft nachts aus der klinischen Schlafstätte fallenden älteren und verwirrten Patienten erleiden – auf diese Weise gewollt – Verletzungen und können in die Chirurgie »abgeschoben« werden. Aber natürlich sind auch dort Altersdiskriminierung und Stigmatisierung vorhanden, vielleicht sogar in noch stärkerem Maße: Um den Gomer auf der neuen Station nicht zum »Dauerpflegefall« werden zu lassen, bleibt dem zynischen Operateur nur, das Bett auf die sogenannte »neurochirurgische Höhe« zu stellen, denn dann sind die beim folgenden Bett-Sturz entstehenden Kopf-Verletzungen gleich so stark, dass der Patient wiederum weiterverlegt wird – in die Abteilung für Neurochirurgie. Dieser

5

Samuel Shem ist ein Pseudonym von Stephen Joseph Bergman (geb. 1944), USA.

6

Gemeint ist das Krankenhaus in der Tradition des französischen »Hotel Dieu«.

7

Vgl. hier wie im Folgenden Shem (1978) sowie auch (1985) und (1997).

8

Bergman erhielt in den frühen 1970er Jahren seine Ausbildung als Assistenzarzt am Bostoner Beth Israel Hospital; der spätere Professor für Psychiatrie an der Harvard Medical School bezeichnet sich selbst als »Produkt der sechziger Jahre«. Seine Werke sind realitätsnahe Fiktionalisierungen des Klinik- und Psychiatriealltags, die typische Erfahrungen junger Ärzte in der Ausbildung widerspiegeln.

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blanke Zynismus von (literarischer) Sprache und (vermeintlichem) Handeln im amerikanischen Kliniksystem der 1960er und 70er Jahre, die durchaus auch noch in der Gegenwart zitiert werden, soll an dieser Stelle in Bezug auf diskriminierende Beispiele als kurzes Schlaglicht reichen, aber mit Blick auf grundsätzliche »Zynismen« medizinischer Sprachverwendung in der Gesamtperspektive noch etwas erweitert und vertiefend untersucht werden.

3. Z YNISMEN IN DER M EDIZIN FÜR Ä LTERE ? P ROBLEMATISCHE STRUKTURELLE A NALOGIEN Der Philosoph Peter Sloterdijk beschreibt in seiner »Kritik der zynischen Vernunft« auch einige »Medizinzynismen«.9 Er hebt die »Analogien zwischen der modernen medizinischen Diagnostik und den Machenschaften der Geheimdienste« hervor: »[D]er Arzt betreibt gewissermaßen somatische Spionage. Der Körper ist der Geheimnisträger, der so lange beschattet wird, bis über seine inneren Umstände so viel bekannt ist, dass ›Maßnahmen‹ getroffen werden können. Wie in der Geheimdiplomatie und der Spionage wird auch in der Medizin viel ›sondiert‹, abgehorcht und beobachtet. In die Körper werden medizinische Hilfsgeräte ›eingeschleust‹, Sonden, Kameras, Verbindungsstücke, Katheter, Lampen und Leitungen. Bei Auskultationen lauscht der Medikus am Leib wie der Horcher an der Wand. Reflexe werden notiert, Sekrete (secrets) abgezapft, Spannungen gemessen, Organwerte gezählt.«10

Dieser Medizin-Zynismus sei in besonderer Weise auf eine Versachlichung und »Objektivierung« des Geschehens im Gesundheitswesen gerichtet: »Quantitative Aussagen, sei es über Produktionszahlen, Truppenstärken, Harnwerte oder Diabetespunkte[,] werden wegen ihrer ›Sachlichkeit‹ hier wie dort besonders ge-

9

Sloterdijk (1983), Band 2, 628–631. Verwiesen sei auch auf die »Militär-« (403– 421) und »Wissenszynismen« (526–548).

10 Ebd., 628.

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schätzt. […] Und wie die Agenten setzen die Mediziner großen Ehrgeiz in die Verschlüsselung ihrer Informationen, damit das ›Objekt‹ nicht weiß, was man über es weiß.«11

Neben manchen treffenden Parallelen12 kann man aber durchaus sogar noch über Sloterdijk und die beschriebene Geheimdienst-Analogien hinausgehen. Die Sprache der Medizin weist häufig eher »unheimliche« Parallelen zum Militär und dessen soldatischer »Sachlichkeit« bzw. spezifischer »Objektivierung« auf. Die Behandlung des individuellen Patienten droht auf diese Weise zum »Kampfplatz«13 gegen die Krankheit zu werden. Die Chirurgie hat mit dem Militär den Begriff »Operation« gemeinsam; Stationen werden häufig auch als »Stützpunkte« bezeichnet und gleichermaßen hierarchisch oder autokratisch organisiert. Patienten sollen auf allen Ebenen des Lebens systematisch »überwacht« werden. Blutbestandteile bezeichnet man als »Fress-« oder sogar auch als »Killer-Zellen«. Ohne an dieser Stelle weiter in die Sprach- oder Handlungs(un)kultur der operativen Disziplinen oder von Klinikstrukturen insgesamt eindringen zu wollen, sind auf der sprachlichen Ebene einige interessante und zumindest bedenkliche Perspektiven vorhanden. Begriffe wie »Fremdkörper«, »Eiterherd«, »Pestbeule«, »Vergiftung«, »Fäulnis« etc. werden in Medizin wie auch Gesellschaft verwendet und schlagen eine heikle Brücke zwischen Vorstellungswelten von Medizin

11 Sloterdijk (1983), Band 2, 630. 12 »Auch bleibt dem Arzt wie dem Agenten oft kein anderer Weg, als in den Ausscheidungen und Abfällen zu wühlen, weil die Untersuchungen in der Regel indirekt geschehen müssen, ohne den normalen Betrieb des Körpers oder der belauschten Körperschaft zu stören. Nur raffinierte und oft auch anrüchige Methoden führen zu Aufschlüssen über das schwer durchdringliche Geheimgebiet. Allerdings scheut die neuere Ausspähung des Körperinnern immer weniger vor direkten und aggressiven Vorstößen zurück; stellenweise verwischt sich die Grenze zwischen Diagnostik und Eingriff: Fremdstoffe werden in den Körper eingeschleust. Bei diesen Ausspähungen und Durchleuchtungen des Körpers dienen nicht nur die natürlichen Ein- und Ausgänge als Schleusen, oft wird der Körper sogar direkt aufgeschnitten, der Safe geknackt.« Ebd., 628–629. 13 Zu den dabei entstehenden »Diskursdynamiken« etwa in Bakteriologie und Virologie vgl. u.a. Berger (2009); Gredel (2014). Zur »Macht medizinischer Metaphern« und speziell Sprachbildern in der Humangenetik siehe Kovács (2008).

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(-Theorie) zu Polizei(-Staat) oder Militär und zurück zur Gesundheitspraxis. Untersuchungen zum Band des Harvard-Psychiaters Shem alias Bergman zeigen auch, dass seine autobiographischen – natürlich bzw. hoffentlich überzeichneten – Beschreibungen in einer gewissen Parallelität zum US-Report über den Alltag beim Militär14 gestaltet wurden. Beides sind in gewisser Hinsicht auch heute noch »totale Institutionen«.15 Die Sprache der Klinik kommt bei Shem jedoch fast noch schlechter weg – sie ist nicht nur zynisch, sondern massiv altenfeindlich-diskriminierend. Die Militarisierung der Heilkunde ist aber keineswegs ein Privileg von amerikanischen Elite-Institutionen oder nur ein Symptom der Zeitgeschichte. Davon ist sogar die allgemeine akademische Medizin in gewisser Weise strukturell schon sehr lange und systematisch betroffen: Bereits in der für offizielle Anlässe häufigen Anrede »Kommilitoninnen und Kommilitonen« spiegelt sich dies. Sie kommt aus dem Lateinischen (»Com-milites«) und bedeutet wörtlich »Mitsoldaten«. Diese Hinwendung an (Medizin)Studierende als »Mitkämpfer« verwendet soldatische Traditionen und militaristische Muster. Wenn in der Klinik von »Krankheitsbekämpfung« die Rede ist, sind damit unbewusst oder unterschwellig aggressive und kriegerische Konnotationen verbunden, die in der Übertragung auf medizinische Situationen mit Patientenbezug problematisch sein können, etwa wenn von einem »Ausmerzen« der Krankheitserreger und Krankheiten gesprochen wird – und damit gleich auch von Kranken? In der Schnittmenge von Klinik und Gesellschaft gibt es problematische Konnotationen oder zahlreiche zynische »Unworte« wie etwa »Alterslast«, »Pflegefall«, »zu alt für die Intensivstation«, »Altersfalle« und »sozialverträgliches Frühableben«. Diese Formen von Sprache »sprechen für sich«, sie zeigen zugrundeliegende Denk- und damit leider auch Handlungsmuster. Es ist hier nicht der Raum, noch ausführlicher über relevante Hintergründe und einschlägige Theorien von »Sprache, Denken und Wirklichkeit« zu schreiben.16 »Sprechakt«-Konzepte und das Verständnis als »Sprach-Handeln« zeigen die gravierenden Konsequenzen für die

14 Siehe u.a. »Catch 22« als »Antiheroic antinovel«; vgl. Heller (1961) sowie Potts (1989); Ram (2012). 15 Goffman (1961) und (1973). Er entwickelte seine Konzepte am Beispiel der sozialen Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen (u.a. Gefängnis). 16 Siehe den diesbezüglichen Klassiker von Whorf (1971) sowie ähnliche und neue Ansätze etwa bei Schramm/Wüstenhagen (2017).

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Praxis – in Medizin wie auch Gesellschaft.17 Die hippokratischen Prinzipien der Medizinethik von Nichtschaden und Wohltun müssen jedoch bei der Sprache anfangen. Die Wertschätzung jedes Patienten basiert auf der Würde als Mensch und der Anerkennung seiner Autonomie. Der Begriff Wertschätzung ist synonym zum Terminus »Respekt«; er bezeichnet das Gegenteil von »geringschätzender«, »abschätziger« oder eben diskriminierender Einordnung.18 Hierzu sei noch ein kurzer Blick gerichtet auf den Spezialfall von »Menschen mit Demenz« (eher nicht: »demente Menschen«) als eine außerordentlich große und stark wachsende Gruppe, ist doch in naher Zukunft wohl etwa jeder Dritte ab höherem Alter davon betroffen.19 In Bezug auf demenzielle Erkrankungen ist dies bereits auf einer sehr grundsätzlichen Ebene relevant, erscheint doch vielfach die Einordnung eines Patienten etwa im Sinne »der hat doch ›Alzheimer‹ …« bereits als eine negative »Zuschreibung« mit stigmatisierendem und diskriminierendem Charakter. Nomina sunt omina. Derartige Stereotypen der Medizin werden in der Folge nicht selten auch zu häufig verwendeten Klischees in der Gesellschaft.20 Bereits auf dieser basalen Ebene spielt die Sprache eine große Rolle. Gerade in vielen gebräuchlichen Floskeln medizinischen Jargons schwingen Konnotationen mit, die sich Handelnde im Gesundheitswesen zu wenig bewusstmachen. Wenn in der Medizin unbewusst oder unterschwellig aggressive und kriegerische Konnotationen eingesetzt werden, wird die Übertragung auf Situationen mit Patientenbezug und ältere Menschen problematisch. Auf die zahlreichen historischen Entwicklungen etwa bis hin zur »LTI« – Lingua tertii imperii, der Sprache im »Dritten Reich« – kann hier nur hingewiesen werden.21 Es war die Diskriminierung von »Viertel- und Achtelkräften«, »leeren Menschenhülsen« u.v.m., die letztlich in den Morden an älteren und behinderten Patienten endete. Die Sprache war häufig schon viel früher auf einer »schiefen Ebene« (slippery slope): Etwa das Buch mit dem perfiden Titel »Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens« stammte in erster

17 Vgl. u.a. Krämer (2001) und (2018). 18 »Klassiker« degradierend-reduktionistischer Behandlung sind die Bezeichnungen eines Patienten als Fall (»Der Alte in Zi. 7«) oder »Organ« (»Der Leber-Tumor«). 19 Siehe generell Foster et al. (2014); Frewer et al. (2015); Schmidhuber et al. (2019). 20 Vgl. frühe Studien von Lehr (1980) und Schonfield (1982) sowie Nelson (2002). 21 Klemperer (1947). 2005 erschien bereits die 20. Auflage dieses Standardwerks.

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Auflage aus dem Jahr 1920 von dem Leipziger Strafrechtler Karl Binding und dem Freiburger Psychiater Alfred Hoche; die zweite Auflage unter dem Namen dieser einflussreichen Hochschullehrer erschien bereits zwei Jahre später und damit sogar mehr als ein Jahrzehnt vor der Machtübernahme.22 Das NS-Gesundheitswesen vollstreckte am Ende diese Konzepte der Medizineliten in den sprachlich noch euphemistisch als »Gnadentod« oder »Euthanasie« kaschierten Mordaktionen (1939–1945). Der »Geisteskranke« hatte keinen Platz im »starken«, »reinen« und »idealen« NS-»Volkskörper«. Auch heute sehen sich Menschen mit Demenz einer erheblichen Stigmatisierung ausgesetzt: Der »Demenz-Fall« passt nicht in das Raster der modernen Krankenhausstrukturen oder Abrechnungssysteme (DRG), die ebenfalls immer stärker ökonomisiert und rationalisiert werden.23 Es besteht die latente Gefahr, dass die Zuschreibung und Einordnung als »Fall« von »(Morbus) Alzheimer« auch als »Ab-Klassifizierung« verstanden werden kann, der primär aus der Perspektive des »Defizitären« betrachtet wird.24 Oft wird nicht von einem individuellen Patienten gesprochen, sondern im Sinne eines epidemiologischen bzw. gesundheitspolitischen Blicks auf das Thema etwa von einer »Alzheimer-Welle« oder gar einem »Tsunami der Demenzkranken« in den nächsten Jahren ausgegangen. Ein britischer Premierminister hat Demenz sogar »Pest des 21. Jahrhunderts« genannt und damit bereits sprachlich altersdiskriminierende Ängste evoziert oder ältere Menschen generell zur »Risiko-Gruppe« stigmatisiert.25 Ähnlich problematisch ist es, wenn beim Thema demenzielle Erkrankungen gleich die – vermeintlich plausible – Assoziation zum assistierten Suizid hergestellt wird. Diese Beispiele und problematische Verbindungen von sprachlich entworfenen Szenarien zu ihrer radikalen Umsetzung sollen an dieser Stelle genügen.

22 Vgl. Binding/Hoche (1920) und (2006) sowie u.a. Braune (2010). 23 Hier sind viele Begriffe kritisierbar: »Patientengut« (analog zu »Stückgut«) etc. 24 Zum Problemfeld »Alte Menschen im Krankenhaus« vgl. Remlein/Nübel (2001). Ihr kritischer Untertitel »Umsorgt oder entsorgt?« nutzt wie der schwierige Begriff »Restlaufzeit« die sprachliche Assoziation zu Atommeiler und Reaktormüll. Ähnlich bei zynischen Abfallbegriffen wie »Komposti« oder »Gammelfleisch«. 25 Diese Aussage wird für David Cameron dokumentiert im Rahmen eines Londoner G-8-Gipfels 2013. Ähnlich in der Corona-Krise: »Die ›Risiko-Gruppe‹ Ältere«.

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4. »A GEISM «

ALS A LTERSDISKRIMINIERUNG : EIN KURZER HISTORISCHER A BRISS

Die simplifizierende und gefährliche Gleichsetzung von »alt« als »krank« wie auch von alt mit »zu vermeiden« oder gar »hässlich« hat selbstverständlich eine sehr lange abendländische Entwicklungsgeschichte.26 Einschlägig und traditionsbildend erscheint etwa der Mythos der Sibylle von Cumae.27 Der Gott Apollo begehrte sie und stellte ihr einen Wunsch frei. Sibylle wünschte sich so viele Lebensjahre, wie Staubkörner in einem Häufchen Sand waren. Ihre Bitte wurde gewährt (1.000 Jahre), aber Sibylle vergaß offenbar, sich auch Jugendlichkeit hinzuzuwünschen, und litt stark an der massiven Alterung. Apollo bot ihr zwar Abhilfe an, wenn sie ihm zu Diensten wäre, sie weigerte sich aber und wurde in der Folge immer stärker von Altersproblemen geplagt. Vom hohen Alter schwer gezeichnet – so berichtet es der Mythos – klagte Sibylle nach 700 Lebensjahren und schlechten Aussichten für die noch folgenden 300: Sie werde allen unkenntlich und nur noch als Stimme vorhanden sein. Eine weitere Exegese dieses gleichermaßen klugen wie vielschichtigen Bildes von menschlichen Wünschen, Kurzsichtigkeit und Altersleiden ist an dieser Stelle nicht möglich; die Geschichte des Mythos von erstrebter Langlebigkeit oder einem »Jungbrunnen« mit ihren eben erheblichen Risiken und Nebenwirkungen kann jedoch sinnbildlich für die zu ambitionierten Wünsche und die Hybris der Sterblichen in Bezug auf die Überwindung des Alter(n)s stehen. Der Trend, das unvermeidliche Entwickeln von menschlichem Leiden im letzten Lebensabschnitt für negativ zu erachten, hat dabei eine lange Tradition und ebenso die damit verbundene Form der Ausgrenzung des Alters wie auch der alten Menschen. Es soll die lange Entwicklung von Alter(n)sforschung und Altersdiskriminierung keineswegs reduzieren, aber als geschichtliche Erstnennung des Fachterminus »Ageism« durch den amerikanischen Gerontologen Robert Butler wird das

26 Die durchaus längere Vorgeschichte der Alter(n)sforschung und die (ur)alte Geschichte der Altersdiskriminierung kann hier aus Platzgründen nicht ausgeführt werden. Zu Konzepten in Bezug auf Alter als Krankheit in der Geschichte siehe insbesondere Schäfer (2004); Dammann/Gronemeyer (2009); zur Entwicklung der Alter(n)sforschung im 19. und 20. Jh. Conrad (1994), Tölle (1996); Moses (2005); Blumenthal (2019). Zu Diskriminierung u.a. Herrmann (2011). 27 Ovid, Metamorphosen 14, 130–153.

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Jahr 1969 verzeichnet.28 Gut 20 Jahre nach Prägung und Verwendung dieses Begriffs durch den Namensgeber Butler publizierte ein weiterer Pionier dieses Feldes, Bill Bytheway,29 zusammen mit einer Kollegin grundlegende Überlegungen zur Definition der Altersdiskriminierung (»On defining ageism«).30 Eine Skala zur Altersdiskriminierung ist auch bereits eine Generation »alt« bzw. jung: Vor 30 Jahren wurde die »Fraboni Scale of Ageism« (FSA)31 in den wissenschaftlichen Diskurs eingeführt. Sie bezieht sich insbesondere auf Akzeptanz durch andere Menschen und Kriterien zu vorhandenen Wünschen in einer Gesellschaft. Dabei zitieren die Autoren Butler als Grundlage einer Definition von Ageism. Die Fraboni Scale of Ageism möchte das (Aus)Maß der Altersdiskriminierung empirisch analysieren und quantitativ vergleichbar machen.32 Seit mindestens einem Vierteljahrhundert wird auch durch das »International Longevity Center« in Amerika ein Bericht zum Stand von Altersdiskriminierung herausgegeben. Dieser »Status Report of Ageism«33 bezieht sich aber primär auf die USA. 2009 hat das Zentrum auch einen Entwurf für eine »Convention on the Rights of Older Persons« entwickelt.34 Was aber versteht man unter dem Phänomen in systematischer Hinsicht? »Ageism« ist komplex und besteht aus mehreren verschiedenen Facetten. Er kann als Prozess in vier Schritten beschrieben werden, bei denen sich aufeinander aufbauend verschiedene soziale Vorgänge verbinden:35

28 Vgl. Butler (1969). Siehe ferner auch Butler (1975) und (2008). 29 Bytheway trat offenbar 1971 einer geriatrischen Fachgesellschaft bei und beschäftigte sich nach eigenen Angaben ebenfalls bereits seit Anfang der 1970er Jahre intensiver mit Ageism, vgl. Bytheway (1995), 65 sowie auch (2005). 30 Bytheway/Johnson (1990). 31 Vgl. Fraboni et al. (1990). 32 Sie ist dabei auf weitere Instrumente empirischer Forschung bezogen, insbesondere die »Acceptance of Others Scale« und »The Marlowe-Crowne Social Desirability Scale«. 33 International Longevity Center in Amerika (2006). 34 Dieses »International Longevity Center Advocacy Paper for a Convention on the Rights of Older Persons« wurde offenbar von der US-Kanzlei »Schulte Roth & Zabel LLP« (USA) für das New Yorker Zentrum erarbeitet. 35 Vgl. Angermeyer/Matschinger (2005); Rüegger (2018a).

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Etikettierung/Labeling Stereotypisierung Ausgrenzung (Alters-)Diskriminierung

Aus Sicht der Medizinethik ist hier speziell zu konstatieren, dass aus vermeintlich rein deskriptiven Formen der Beschreibung normativ (ab)wertende Zuschreibungen entstehen: Bei der ersten Stufe, der »Etikettierung« – international wird auch der Begriff »Labeling«36 verwendet, – geht es um eine (stark) vereinfachende, pauschalisierende Zuordnung von Personen zu einer Gruppe. An dieser Stelle erfolgt dann die Subsumierung unter »die Alten«. Die so Etikettierten werden dabei in gewisser Hinsicht auf den Aspekt des »Altseins« reduziert und kollektiv mit bestimmten, eher negativen Vorstellungen von Altsein identifiziert. Etikettierung bzw. Labeling passiert auf einer kognitiven Ebene, wobei dies bewusst, aber auch ganz unbewusst ablaufen kann. Mit dem zweiten Schritt, der »Stereotypisierung«, bezeichnet man in der Folge den Vorgang, dass der durch Etikettierung bezeichneten Gruppe undifferenziert gewisse Eigenschaften zugeschrieben werden. So gibt es etwa Stereotype »starrsinniger«, »unattraktiver« oder »nicht (mehr) leistungsfähiger« alter Menschen. Durch derartige klischeehafte StereotypenBildung erfolgt implizit eine Diskreditierung des gesamten Prozesses des Alterns. Hier ist es wichtig, dass man folgenden Mechanismus erkennt: Stereotypisierung läuft primär auf einer emotionalen Ebene ab. Etikettierung und Stereotypisierung zusammen bewirken sozialpsychologisch eine Ausgrenzung der ins Visier genommenen Personengruppe: »Hier die Jungen und die in der Mitte des Lebens stehenden dynamischen Aktiven, dort die immer weniger leistungsfähigen, immer mehr zu einer gesellschaftlichen Belastung [sic] werdenden Alten«.37 Diese und andere Formen der Ausgrenzung führen dann auf Ebene der Handlungen letztlich zu spezifischen Benachteiligungen oder Diskriminierungen. Wenn mit Ageism auch meist Formen direkter Be-

36 Vgl. u.a. Angermeyer/Matschinger (2005). 37 Vgl. Rüegger (2018a), 131.

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nachteiligung gemeint sind, ist es doch wichtig, für das nicht minder relevante Problem der indirekten, strukturellen Benachteiligung sensibel zu werden. Altersdiskriminierung ist ein weit verbreitetes Phänomen.38 Seit 15 Jahren gibt es schließlich sogar eine »Encyclopedia of Ageism«.39 Diese akademische Verarbeitungsform ist immer gleichermaßen ein Zeichen für die dringende Notwendigkeit der Auseinandersetzung wie auch eine fundamentale Verarbeitung der Thematik in Forschung und Gesellschaft. Insofern wird mittlerweile zurecht das Hauptaugenmerk besonders auf Möglichkeiten zum Stoppen der sozialen Diskriminierung Älterer gelegt.

5. »GEGENWELTEN«: INITIATIVEN ZUR WERTSCHÄTZUNG DES ALTERS Auf dem Weg zur Reduzierung des allerorten wahrnehmbaren Ageism ist auch international eine Reihe von Schritten in Gang gesetzt worden.40 Wichtige Impulse gab es dabei interessanter Weise insbesondere aus Mittelund Lateinamerika. Im Rahmen der »Regional Intergovernmental Conference on Ageing in Latin America and the Caribbean« wurden u.a. 2007 und 2009 Treffen veranstaltet, die letztendlich die »Brasilia Declaration«41 hervorbrachten. Als Zielrichtung hob man hervor: »Towards a society for all ages and rights-based social protection«. Aus den sich immer breiter entwickelten Strömungen von Veranstaltungen zur Reflektion des Alter(n)s und zum Forschungsaustausch zwischen den sich weltweit etablierenden Gebieten von Geriatrie, Gerontologie oder sozialwissenschaftlicher Altersfor-

38 Rüegger (2018a). In einer neueren (»jüngsten«) Studie über Ageism, so berichtet Rüegger, die in Zusammenarbeit mit »Pro Senectute« durchgeführt wurde, geben 75% der Befragten in der Schweiz an, bereits selbst Erfahrungen mit Altersdiskriminierung zu haben. Interessanter Weise gibt hier allerdings die Altersgruppe der 16–29-Jährigen an, am stärksten betroffen zu sein, erst danach folgen die Hochbetagten. Die Studie wurde von Walter Rehberg (FH St. Gallen) durchgeführt. 39 Palmore et al. (2005). 40 Vgl. generell The Times (2003): »Quotations celebrating ›the senior moment‹«. 41 Vgl. auch via https://social.un.org/ageing-working-group/ [31.03.2020].

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schung können an dieser Stelle nur wenige Beispiele mit Schwerpunkt Menschenrechte und Ethik herausgegriffen werden.42 Im Jahr 2009 gab es etwa in London das »International Symposium on the Rights of Older People« und den Bericht einer Expertengruppe zum Thema »Rights of Older Persons« des UN Department of Economic and Social Affairs, Division for Social Policy and Development sowie auch eine Tagungsfolge im »Programme on Ageing« in Bonn.43 Im April 2010 wurde bereits von 165 Staaten weltweit der »International Covenant of Civil and Political Rights« (ICCPR) ratifiziert;44 Altersfragen sind integriert, aber eine eigene Konvention zu Rechten älterer Personen war es nicht. Auch das in Genf beheimatete »Human Rights Council« ist jedoch in diesem Feld immer wieder aktiv. Schon vor rund zehn Jahren veranstaltete es »Panel Discussions« zur Realisierung des »Right to Health of Older Persons« (Herbst 2011, Schweiz). Seit Oktober 2011 gibt es auch die Initiative zur Feier eines »International Day of Older Persons«.45 Nach zahlreichen öffentlichen Veranstaltungen und Konferenzen zu den Menschenrechten älterer Personen weltweit konnte im Mai 2014 durch das Human Rights Council erstmals ein »Independent Expert on the enjoyment of all human rights by older persons« (HROP) ernannt werden. Die Chilenin Rosa Kornfeld-Matte wurde erste UN-Expertin für die Rechte älterer Personen. Einzelne Fokusgruppen innerhalb der Älteren werden dabei auch zunehmend hervorgehoben. Im Juni 2015 veranstalteten etwa das Office of the High Commissioner for Human Rights (OHCHR) und das »NGO Committee on Ageing« in Genf ein Forum mit dem folgenden Titel: »Falling Between the Cracks: Abuse and Violence against Older Women«. Ebenfalls zu erwähnen sind die internationalen »REIACTIS«-Konferenzen: »Aging and Empowerment – Between Resources and Vulnerabilities«, so etwa das Thema des fünften Forums 2016 in Lausanne. Selbstverständlich gab es zahlreiche

42 Zu Grundlagen siehe generell Frewer/Bielefeldt (2016). 43 Vgl. www.un.org/esa/socdev/ageing/documents/egm/bonn09/report.pdf [31.03. 2020]. 44 Die »ICCPR« stammt aus dem Jahr 1966 und ist seit 1976 in Kraft. Aktuell sind es 173 Länder, vgl. OHCHR, https://indicators.ohchr.org/ [31.03.2020]. 45 »The Growing Opportunities and Challenges of Global A[e]ging« (»Launch of Madrid +10«).

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weitere Initiativen auf europäischer Ebene, im April 2016 etwa die »International Conference on Ageing« der Europäischen Union in Slowenien (jeweils mit Teilnahme des UN »Independent Expert …«). Diesen nötigen und langdauernden Prozess zur Etablierung von Menschenrechten für Ältere beschreibt am besten der Titel der UN-Arbeitsgruppe in ganz expliziter Form: Im April 2017 fand mittlerweile das achte Treffen der »Open-Ended Working Group on Ageing« statt.46 Die Zielrichtung geht dabei auf eine allgemeingültige Konvention: »Towards a UN Convention« und für das »Strengthening Older People’s Rights«. Nach der Amtsperiode von sechs Jahren seit 2014 wurde gerade jüngst im März 2020 durch das Human Rights Council die bisher am Deutschen Institut für Menschenrechte in Berlin tätige Expertin Dr. Claudia Mahler als neue »Independent Expert on the enjoyment of all human rights by older persons« ernannt (Amtsperiode bis 2026), wobei die globalen Rahmenbedingungen der Corona-Pandemie nicht dramatischer sein könnten. Gerade die Verletzlichkeit der Gruppe der Älteren macht in der Gegenwart besondere und wohldosierte Schutzmaßnahmen erforderlich. Altersdiskriminierung hat sich auch hier sprachlich auf verschiedenen Ebenen entlarvt: Ältere Personen wurden als Menschen abklassifiziert, die »in einem halben Jahr ohnhehin tot« seien.47 Zur Schaffung von »Gegenwelten«48 ist in mancherlei Hinsicht aber wohl auch ein Wechsel der üblichen sprachlichen Ebenen hilfreich und nötig. Der Frankfurter Schriftsteller und Seelsorger Werner Pockrandt (*1952) hat mit Bezug zum Themenfeld ältere Menschen mit Demenz das bemerkenswerte Gedicht »Nomen est omen« gestaltet:

46 So der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer (geb. 1972); vgl. dpa (2020). In der Medizin gibt es die ähnlich diskriminierende Bezeichnung »austherapiert«. Da das griechische Verb »therapeuein« nicht nur behandeln, sondern auch respektieren und verehren umfasst, trifft diese Bezeichnung für Menschen mit schweren und nicht mehr kurativen Erkrankungen gerade nicht zu. Es kann noch sehr viel – palliativ – getan werden; dabei sollte es keinesfalls am Respekt fehlen. 47 Dies sind selbstverständlich nur einzelne Beispiel für vielfältige, rund um den Globus laufende wissenschaftliche Aktivitäten zu diesem Themenfeld. 48 Zur bereits sprachlichen Distanzierung von der letztlich mörderischen »LTI« sei exemplarisch auf die Herausgabe von Dichtung und Wahrheit von Geisteskranken verwiesen: Mit dem poetischen Titel »Sprachlöchersterne« wurden etwa Werke aus der Prinzhorn-Sammlung in Erinnerung gerufen; vgl. Fritsch (1998).

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geistlos einen menschen geistlos zu nennen nur weil ihm versagt zu erinnern was war geistlos zu vergessen dass alles erinnern weil vergänglich dem vergessen anheim gegeben geistlos der versuch gefangen zu nehmen was flüchtig bleibt am ende bleibt nur das dementi49

Pockrandts Poesie macht die sprachliche Gratwanderung der gesellschaftlichen »Zuschreibung« von »Geistlosigkeit« für die Betroffenen deutlich. Er schützt damit auf der einen Seite Kranke vor dem »Zugriff« durch soziale Anforderungen und stigmatisierende Diskriminierungen; auf der anderen Seite wird durch die Betonung der Vergänglichkeit als zentralem Signum der Condito humana der Blick auf die Vulnerabilität50 des Menschen gelenkt, der den Ausfall bestimmter körperlicher oder geistiger Dimensionen erleiden – und damit auch bewältigen – muss. Das Heranziehen der Formen und Methoden der »Medical Humanities«,51 von Dichtung, Literatur und anderen Künsten wie Musik, Theater oder Film, sollte vielfach der einzelnen Person mit demenziellen Erkrankungen gerecht(er) werden und auf Defizite der aktuellen medizinischen wie gesellschaftlichen Debatten hinweisen können.

49 Vgl. Pockrandt (2015). 50 Vgl. u.a. Kruse (2016); Bergemann/Frewer (2018). 51 Vgl. in Bezug auf Sprache und Demenz u.a. Frewer et al. (2017).

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6 . S CHLUSSÜBERLEGUNGEN »Die Sprache ist das Haus des Seins«. Man muss weder der Existentialontologie Martin Heideggers zuneigen noch seine historischen Verwicklungen in die NS-Politik gutheißen – trotzdem verdichtet dieser Satz aus seinem »Humanismus-Brief« eine zentrale Perspektive menschlicher Sprachlichkeit.52 Der Mensch lebt und spiegelt sich in »Sprachwelten«.53 Definitionen und Terminologie der Medizin geraten dabei ebenso wie alltäglicher Jargon des Fachpersonals in strukturelle und immanente Gefahren: Die Sprache der Medizin ist nicht selten das »Krankenhaus des Seins«. Gerade manche Bezeichnungen der Geriatrie und (Psycho-)Gerontologie sollten kontinuierlich und kritisch überprüft werden. Die in allen Teildisziplinen aus Gründen der Zeiteffizienz und damit der Ökonomisierung vorhandene Abkürzungswut der Mediziner ist dabei nur ein Teilproblem. Auch hier hat Shem alias Bergman mit einer interessanten Formulierung einen ambivalenten Satz geprägt: »LAD in GAZ«. Dies bezeichnete im House of God eine »Liebe Alte Dame in Gutem Allgemeinzustand«. Trotz der Skurrilität dieser Sprachformen hat er damit wenigstens auch eine gewisse positive Konnotation erreicht und indirekt gleichzeitig den Akronym-Wahn der Medizin wie auch latente oder offensichtliche Formen des Ageism »aufs Korn genommen«. So ist im Kern wohl auch die Intention von Shem als Professor für Psychiatrie und Schriftsteller, kritisch auf Probleme aufmerksam zu machen. Sein Engagement als Mediziner und Redner gilt dem Widerstand gegen die Entmenschlichung im modernen Krankenhausbetrieb und Arztberuf. Seine vermeintlich realen Darstellungen der Medizin aus der Sicht junger Ärzte in der Ausbildung sollen – im Idealfall – letztlich für einen reflektierteren Umgang mit dem Menschen sensibilisieren.54 Ob sie dies getan haben bzw. in den Neuauflagen tun oder eher Klischees bedienen und Gräben des Ageism vertiefen, ist fraglich. Auf die Spitze getrieben wird Altersdiskriminierung, wenn älteren Personen das Sterben automatisch nahegelegt wird55 oder etwa Menschen mit

52 Heidegger (1947). 53 Vgl. etwa Freiburg (2018). 54 Als Arzt und Psychiater vertritt Bergman/Shem – auch in Abgrenzung zum Menschenbild der Freudschen Tradition – einen relationalen Ansatz. 55 Der Passus »sozialverträgliches Frühableben« kam sogar aus dem Mund eines Präsidenten der Bundesärztekammer und wurde 1998 zum »Unwort des Jahres«.

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Demenz als »(Un)Tote« oder gar »Zombies« bezeichnet werden und damit quasi schon eine sprachliche Form des sozialen Sterbens vorweggenommen wird: »The living dead?« – »The construction of people with Alzheimer’s disease as zombies«.56 Positiv gesehen haben der einzelne Mensch und die Gesellschaft durch die demographische Entwicklung kostbare Lebenszeit geschenkt bekommen. Diese in Wissenschaft und Forschung als »Gewonnene Jahre«57 bezeichnete Lebensspanne steht unter zahlreichen Spannungen. Auch hier zeigen sich bereits auf sprachlicher Ebene mögliche Gefahren und drohende Instrumentalisierung. Kann die Zeit als Rentner/in auch genossen und frei von grundsätzlichen Anforderungen gehalten werden oder steht sie bereits wieder unter dem Druck »produktiven Alter(n)s« auch im Sinne des »Active Ageing«?58 So gut manche aktivierende oder integrative Konzepte gedacht sein mögen, hier stellt sich schnell die grundsätzliche Frage: Kann bzw. darf der alternde Mensch einfach auch er oder sie selbst – und damit »gelassen« – sein, ohne bereits wieder neue gesellschaftliche Normen oder implizite Anforderungen an ein aktives, jugendliches oder ästhetische(re)s Altern erfüllen zu müssen?59 Ist nach der Pensionierung die Stelle als produktiver Senior Expert

Ob BÄK-Präsident Prof. Karsten Vilmar diese Formulierung primär benutzt hatte, um die Sparpläne der Bundesregierung im Gesundheitswesen zu kritisieren, muss offenbleiben. »Die Sprachkritische Aktion, die den Titel verleiht, wertete die Formulierung als ›blanken Zynismus, der eines Sprechers der Ärzteschaft unwürdig sei‹. Die Bundesärztekammer erklärte, die bewusst ironisch überzogene Äußerung sei ein Versuch gewesen, eine ehrliche Diskussion über die Folgen von Ausgabenbegrenzungen zu provozieren«. Vgl. Korzilius (1999). 56 Vgl. Behuniak (2010). Menschen mit Demenz als »nachtaktiv-mordende Gefahr« im Medium Film spitzt dies nochmals zu. Siehe der Horror-Thriller zur Demenz »The Taking of Deborah Logan« sowie Holzhauser et al. (2019). 57 Imhof (1981); Kocka/Staudinger (2009). 58 Vgl. u.a. Baltes/Baltes (1990); Schroeter (2004); Katz/Calasanti (2015). 59 Der Titel der »Open-Ended Working Group on Ageing« sollte als dauerhafte Aufgabe verstanden werden, im Sinne der Freiheit von älteren Menschen für ein gutes Leben einzutreten – nicht als »Arbeit ohne Ende für den Einzelnen«. Freie ehrenamtliche Beschäftigung und Muße ohne Leistungsdruck sind im Alter zentral.

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oder ein anderer Bereich des Arbeitsmarkts die gesellschaftlich anerkannteste Perspektive?60 Sind moderne Techniken bis hin zum Unsterblichkeitswahn des Transhumanismus Ausprägungen eines postmodern maßlos gewordenen Zeitalters des Anthropozän? Anstatt auf allen Ebenen der Gesellschaft eine »Anti-Ageing«-Haltung mit Jugendlichkeits-/Fitness-Wahn,61 Plastischer und Kosmetischer Chirurgie zu verbreiten, sollte eine »Pro-AgeKultur« entwickelt werden.62 Diese kann zwar das »Leiden an der verrinnenden Zeit«63 und die generell ubiquitäre »Athanasiophilie«64 als Conditio humana nicht verhindern, aber eine Kultur der Sorge entgegensetzen.65 Dies korrespondiert mit einer Grundhaltung der Gelassenheit im Alter66 und Möglichkeiten zur Gerotranszendenz.67 Auch hier ist der Blick zurück bis zur Lebenskunst der Antike fruchtbar, ohne in Zynismus zu verfallen, sondern mit der Souveränität und dem freien Lachen des antiken Kynismus die letzte Lebensphase aus einer gesunden Distanz sehen zu können und sich von den

60 Speziell zum Arbeitsmarkt vgl. Ilmarinen (2000) und (2005); Rothkirch (2000); Görlich (2007); Nurney (2007); Börsch-Supan et al. (2005) und (2009); Brauer (2010). 61 »Wir leben in einer jugendbetonten und leistungsbetonten Zeit. Unsere Ideale sind jung, schön, erfolgreich, gesund, reich. […] Wir haben wenig primären Kontakt und wenig menschliche Erfahrung mit Alten und Kranken […]. Sie sind nicht Teil unseres Lebens und unserer Kultur: Das ist die Diagnose für den Gesundheitszustand unserer Kultur und Gesellschaft und den Stellenwert, den Alte und Kranke lebensweltlich und existentiell für jeden von uns haben.« Vgl. Sass (2007), 16 sowie auch Illhardt (1996); Teising et al. (2007); Bockenheimer-Lucius (2019). 62 Josef Kraft, der Begründer einer Stiftung zur Hilfe für Ältere (Sitz in München), hat dies auf die schöne Formel gebracht: »Ich möchte in einer Gesellschaft leben, in der das Alter genauso gefeiert wird wie die Jugend«. Siehe auch Frewer (2019), 17 sowie ferner Dass (2000); Ayalon/Tesch-Römer (2018); Applewhite (2019). 63 Vgl. Bozzaro (2014). 64 Frewer (2010a) und (2010b). 65 Vgl. insbesondere die Beiträge in Zimmermann (2018) sowie Klie (2019). 66 Siehe etwa die extrem erfolgreiche populärphilosophische Ratgeberliteratur, u.a. bei Schmid (2009), inzwischen bereits in der 23. Auflage erschienen. 67 Vgl. insbesondere Tornstam (1989), (1996) und (1999) sowie Auer (1995) zum »geglückten Altern«.

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Maßlosigkeiten der Gegenwart oder einer antizipierten Zukunft zu distanzieren. »Die bessere Hälfte« hat der Arzt-Humorist Eckart von Hirschhausen zusammen mit dem Kollegen Tobias Esch das Senium genannt und die gelassene Vorfreude auf eine souveräne Altersphase hervorgehoben.68 Auch hier ist die Sprache als »Mittel von Identifikation und Distanzierung«69 eine entscheidende Dimension, wie Undine Kramer in germanistischer und linguistischer Forschung an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften herausgearbeitet hat. Dieselbe Autorin hat es zudem in den sprachlich kreativen Titel »Runzelrabatt für gierige Grufties«70 gegossen. Die kontinuierliche Sensibilisierung und kritische Bewusstmachung von Altersbildern wie auch Altersklischees in der (Fach-)Literatur wie auch im Bereich Medical Humanities sind wichtige Korrektive. Dabei sollten in älteren Menschen eben nicht nur »Gesichter aus Schlafgips und Totenkalk«,71 sondern mit »Faltenstolz«72 die faszinierende Lebensgeschichte wie auch das übergreifende »Schmunzeln trotz oder über Runzeln« als wichtige Dimension zur Bewältigung der Altersphase gesehen werden. Wir erleben ein Zeitalter mit außergewöhnlichen neuen Möglichkeiten für ein langes Leben (»Longevity Revolution«73) wie auch gleichzeitig besondere Herausforderungen für vulnerable ältere Menschen und eine GeroEthik der Altersmedizin.74 Als »Global Perspectives on Aging«75 wurde die Zielperspektive sehr pointiert – und sprachlich durchaus grenzwertig – im folgenden Desiderat zusammengefasst: »Ending Ageism, or How Not to Shoot Old People«.76

68 Vgl. von Hirschhausen/Esch (2018). 69 Vgl. Kramer (1995); Reiher/Kramer (1998). 70 Vgl. Kramer (1998). Der »Vielfalt« älterer, runzlig-faltiger Menschen – so könnte man dies aufgreifen – sollte Spielraum zur »Entfaltung« gegeben werden. Trotz latent bis deutlich diskriminierender Bezeichnungen können gerade in »Alten Säcken« oder »Alten Schachteln« große Überraschungen und kostbare Schätze verborgen sein. »Alte Krücken« und »Lahme Alte« lehren gut das wichtige Hinken. 71 Vgl. Blumenthal et al. (2009). 72 Honoré (2018), (2019) und (2020). 73 Siehe auch die Einleitung des vorliegenden Bandes. 74 Vgl. Ehni (2014); Ehni et al. (2018). 75 Vgl. WHO (2002), (2017) und (2020) zum »Healthy Ageing« (2020–2030). 76 So der zugespitzte wie gleichermaßen makabre Titel bei Gullette (2017).

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Gutes Leben im Alter Verletzlichkeit und Reife älterer Menschen H ARTMUT R EMMERS

1. V ORBEMERKUNG Gemäß Berechnungen des Statistischen Bundesamtes auf der Grundlage der Sterbetafel 2015/2017 betrug die Lebenserwartung neugeborener Jungen 78,4 und die der Mädchen 83,2 Jahre. Männer, die im Zeitraum 2015/2017 65 Jahre alt waren, konnten durchschnittlich weiteren 17,8 Lebensjahren entgegensehen, während 65-jährige Frauen durchschnittlich weitere 21 Lebensjahre erhoffen durften.1 Trivialerweise sagt jedoch die Länge der Lebenszeit nichts aus über die qualitativen Eigenschaften dieses Lebens im gesamten Verlauf und vor allem nichts über seine Bewertung im Alter. Was gutes Leben im Alter qualitativ bedeutet, ist abhängig von individuell möglicherweise sehr unterschiedlichen Wertpräferenzen, die wiederum von soziokulturell verankerten Einstellungen und Orientierungssystemen stark beeinflusst sein können. Diese erschließen sich auf dem Wege einer beispielsweise auf Fragen der sozialen Lebensqualität spezialisierten empirischen Sozialforschung, während im Zusammenwirken mit der Sozialgerontologie insbesondere Einsichten in differierende Alterslagen gewonnen werden können. Auch die akademische Philosophie hat sich gerade wegen der evaluativen Aspekte mit Fragen eines guten Lebens im Alter befasst.2 Bedauerlicherweise bewegt sich aber die philosophische Reflexion auf einem sowohl erfahrungswissenschaftlich als auch historisch wenig informierten Niveau. Ein 1

Statistisches Bundesamt (2019).

2

Rentsch (2012).

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umso größerer Stellenwert ist daher auch in der ethischen Diskussion um würdevolles Altern der gerontologischen, insbesondere der alternspsychologischen Studienlage zuzuschreiben – freilich nicht, um daraus normative Maßstäbe abzuleiten, was ethisch unzulässig wäre, sondern um ethisch bedeutsame Möglichkeits- bzw. Gefahrenhorizonte aufzeigen zu können. Die internationale alternswissenschaftliche Studienlage ist thematisch höchst verzweigt. Zu besonderen Fragen von Verletzlichkeit und Reife gerade im höheren und hohen Lebensalter hat jüngst Kruse3 ein enzyklopädisch breites, verschiedene disziplinäre Sichtweisen zusammenführendes Werk vorgelegt, auf das wir uns deswegen auch in starkem Maße beziehen werden. Ergänzend dazu halten wir die Einbeziehung sozialhistorischer Sichtweisen für sinnvoll. Denn erst unter Berücksichtigung der Historizität psychologischer wie auch gesellschaftlicher Sachverhalte lässt sich eine Perspektive aufzeigen, in der Lernprozesse als evolutionäre Antriebsressourcen der Verbesserung von Lebensbedingungen und der Erweiterung von Aktionsspielräumen fassbar werden. In historischer Perspektive den Blick auf Lernprozesse zu schärfen ist deswegen bedeutsam, weil anders sich die Weiterentwicklung des moralischen Bewusstseins in unserer Gesellschaft und damit – vielfach vermittelt – auch des Rechts (im Sinne des Schutzes, aber auch der Garantie berechtigter subjektiver Ansprüche) nicht hinreichend verstehen ließe. Diese Überlegung werden wir am Schluss des Beitrages noch einmal aufgreifen. Im Sinne einer historisch ergänzenden Perspektive werden wir zunächst das Alter als eine zeitlich variierende Gestalt des Lebens zu explizieren versuchen und uns sodann in der gebotenen Kürze mit ethischen Bewertungsaspekten und Normierungsproblemen eines guten Lebens im Alter befassen. Im Zentrum unseres Beitrages stehen Ausführungen zu Entwicklungsmöglichkeiten ebenso wie zu Abbauprozessen und Verlusten im Alter. Damit sollen unter anderem einseitige, häufig negative Altersstereotype in unserer Gesellschaft, unter Einschluss auch des medizinischen Versorgungswesens,4 sachlich dementiert werden, ohne das Faktum lebensgeschichtlich zunehmender Verletzlichkeit zu leugnen, es vielmehr in seiner Vielgestaltigkeit als eine Herausforderung angemessener sozialer und gesundheitlicher Hilfeleis-

3

Kruse (2017).

4

Dazu kritisch: Zentrale Ethikkommission (2007).

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tungen zu würdigen. Abrunden werden wir unseren Beitrag mit einem mehrdimensional ausdifferenzierten Konzept der Reifung im Alter, das insofern ethisch von Belang ist, als es dem Alter auch in Abhängigkeit von Potenzialen gewisse Verantwortlichkeiten zuweist. Konsequenzen, die sich für die Diskussion von Menschenrechten und Ethik in der Medizin für Ältere ergeben, werden wir abschließend aufzeigen.

2. A LTER ALS EINE HISTORISCH G ESTALT DES L EBENS

VARIIERENDE

Alter als einer Phase des Lebens werden bestimmte Merkmale oder Eigenschaften zugeschrieben. Dabei können individuelle und gesellschaftliche Zuschreibungen, die häufig mit Wünschen oder Ängsten assoziiert sind, stark variieren. Beeinflusst werden sie wiederum durch wissenschaftliche Erkenntnisse, die in Aufklärungsprozesse der politischen Öffentlichkeit einfließen. Ein Beispiel wären die in einer gewissen Regelmäßigkeit vorgelegten Altenberichte der Bundesregierung. Aus all diesen Gründen ist Skepsis geboten gegenüber einer Quasi-Ontologisierung von Merkmalsbeschreibungen des Alters. Beschreibungen des Alters variieren in Anhängigkeit von zufälligen gesellschaftsgeschichtlichen Konstellationen und Interessenslagen, aber auch von epochal übergreifenden, wiederum einem Wandel unterliegenden Weltbildstrukturen.5 Versteht man Alter in eher phänomenologischer Tradition als eine sinnhafte, individuell gestaltbare Phase des Lebens, so ist auch diese in Abhängigkeit von kulturell variierenden Traditionen sowie gesellschaftlichen Vorstellungen, nicht zuletzt aber auch materiellen Voraussetzungen, mit sehr unterschiedlichen Bildern und Stereotypen belegt.6 Sehr entscheidend scheint dabei die zeitliche Struktur kollektiven Bewusstseins zu sein: Unter der Dominanz zyklischer Vorstellungen versteht sich Alter eher als ein »Werden und Vergehen«, als ein »Fertig- und Vollwerden«.7 Dem im Wesentlichen

5

Zu Aspekten universalhistorischer Analysen siehe klassischerweise: Weber

6

Vgl. Göckenjan (2000); Remmers (2017).

7

Guardini (1965), 81–83.

(1920).

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vormodernen, zyklischen Zeitbewusstsein nach ist Alter in naturhafte Kreisläufe des ›immer Gleichen‹ eingebunden. Diesen Vorstellungen korrespondieren Altersbilder eines unvermeidbaren Abstiegs. Sie wirken sich auch auf jene »Affekt-Ökonomie«8 unterschiedlicher Altersgruppen aus, durch welche die Beziehungen zwischen unterschiedlichen Generationen mit reguliert werden. Dass das Alter nicht als eine irreversible Gestalt des Lebens betrachtet werden sollte, zeigen Gesellschaften, in denen eher linearen Zeitvorstellungen im Sinne eines unendlichen Progresses maßgebend sind. Vollkommen offene Zukunftshorizonte sind eine Bedingung dafür, dass Erwartungen der Perfektibilität des Menschen und seiner Welt entstehen können.9 Unter Bedingungen unseres modernen Fortschrittsglaubens verändern sich Erwartungen auch an das Alter. Zu bedenken wäre, inwiefern sich vor diesem Hintergrund mit zunehmendem Alter aufdrängende Sinnfragen möglicherweise verschärfen. Nicht zufällig reagieren auf diesen Umstand die Alternswissenschaften mit »Alterströstungen«, mit eher therapeutischen Vorschlägen zur »Bewältigung existentieller Probleme von Verlust und Tod«.10 Vom gesellschaftsgeschichtlichen Wandel sind aber mit den Erwartungen an das Alter auch dessen Rollen betroffen. Im Zuge der Transformation agrarischer in hochdynamische industrielle Gesellschaften erleidet das Alter nicht allein innerfamiliale Funktionseinbußen; es verliert infolge hierarchischer Nivellierungen auch seine originäre Dignität: und zwar als Autorität, exklusive Erfahrung, Meisterschaft, Reife, Weisheit.11 Bei diesen Charakteristika handelt es sich selbstverständlich auch um Altersstilisierungen. Denn mit der zunehmenden Marginalisierung des Alters vor allem in hochindustriellen Gesellschaften verbinden sich Ausgrenzungen seiner anstößigen, beschämenden Phänomene wie Gebrechlichkeit, Siechtum, Demenz. Inzwischen befinden wir uns auf dem Weg zu den »neuen Alten«, mit dem sich lange gehegte und gepflegte Altersstereotype verändern.12 Heute

8

Elias (1976), 40f.

9

Vgl. dazu die immer noch lesenswerte, luzide geistesgeschichtliche Untersuchung von Löwith (1983). Nach wie vor lesenswert ebenso die Einleitung in: Heller (1982); und selbstverständlich Blumenberg (1966).

10 Göckenjan (2000), 388. 11 Schelsky (1979). 12 Walter/Remmers (2010); Remmers/Walter (2013).

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wird die kreative Leistungsfähigkeit des Alters stärker denn je akzentuiert.13 Denn Alter als eine zeitlich ausgedehnte Phase individuellen Lebens ist nicht allein durch physische, seelische und geistige Verlusterfahrungen charakterisiert, sondern auch durch vermehrte Möglichkeiten der Beteiligung am öffentlichen Leben. Potenziale der Aktivität und Kreativität im Alter können freilich nur unter der Voraussetzung einer altersgerechten Gestaltung des Lebensumfeldes entfaltet werden.14 Die Sinnhaftigkeit des Lebens älterer Menschen ist abhängig davon, inwieweit die von ihnen erbrachten Leistungen von ihrer sozialen Umwelt als produktiv angesehen, bewertet und auch eingefordert werden. Nur dann können auch Prozesse der Reifung gelingen, mit denen wir uns später ausführlicher befassen werden, um damit die hier erst sehr vorläufig umrissenen Merkmale eines guten Lebens im Alter weiter auszudifferenzieren. Einschränkend muss allerdings konstatiert werden, dass die bisherigen Annahmen mit Lebens- und Leidenstatsachen des Alters bei Zunahme chronischer Erkrankungen, Multimorbidität und den sich in Zukunft mehrenden demenziellen Leiden kontrastieren. Gebrechlichkeit im Alter kann sich über eine längere Zeit verbliebenen Lebens erstrecken und wird Fragen des Lebenssinns zuspitzen. Und noch in einer anderen Hinsicht wandeln sich Rahmenbedingungen für ein sinnvolles Alter: Lebte man einst im traditionellen Familienverbund im Bewusstsein der Verantwortung für Nachkommen, in denen man sich nach dem eigenen Lebensende existenziell aufgehoben wusste, so sind diese Voraussetzungen in einer Gesellschaft mit fortgesetzten Singularisierungstrends und bei zunehmendem Traditionsschwund unserer soziokulturellen Moderne kaum noch gegeben. Ältere Menschen werden sich mehr und mehr mit der Vorstellung arrangieren, dass die »Sorge für sich selbst ohne die Vorhergehenden und ohne Nachfolgende« auskommen muss.15

13 Kruse (2011). 14 Häfner et al. (2010); Böhme (2009). 15 Göckenjan (2000), 410.

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3. »G UTES L EBEN « IM A LTER : B EWERTUNGS ASPEKTE UND N ORMIERUNGSPROBLEME »Gutes Leben« ist ein Wertbegriff, der auf deskriptiven Aussagen in Verbindung mit bestimmten moralischen Überzeugungen gründet. Menschen bewerten ihr Leben mehr oder wenig regelmäßig, zumeist unbewusst. Das Resultat dieser Bewertungen – auch als eine Sinnquelle – drückt sich in Stimmungen aus. Stimmungen und Gefühlslagen können wiederum in Bewertungen einfließen. Bewusst werden sich Menschen ihrer die Lebenspraxis ständig begleitenden Bewertungen in Situationen, wenn vermeintliche Normalität fragwürdig, kritisch wird; wenn Alltagsroutinen versagen; wenn Kompetenzen Einbußen erleiden oder geschwächt werden; wenn Grenzen der Selbstachtung erreicht sind;16 kurzum: wenn sich mehr oder weniger stark Sinnfragen stellen. »Gutes Leben« ist eine wertende Aussage, die perspektivisch abhängig ist vom Standpunkt der Person, welche die Bewertung vornimmt, und von ihren Bewertungsmaßstäben, die ihrerseits in bestimmte kulturelle Traditionen und Selbstverständlichkeiten einer nicht weiter problematisierten Lebenspraxis eingelassen sind.17 Allerdings sollte gegenüber Wertaussagen wie »gutes Leben« aus mehreren Gründe eine gewisse skeptische Zurückhaltung geübt werden: aus Gründen eines in modernen Gesellschaften stark ausgeprägten Wertepluralismus vor dem Hintergrund stark individualisierter Lebensstile.18 Einigungen eines Kollektivs darauf, was als ein »gutes Leben« gelten soll, sind zwar wünschenswert, beispielsweise als Grundlage makroökonomischer Entscheidungen der Allokation gesundheitsbezogener Leistungen; sie sind aber eher unwahrscheinlich. Sie sind abhängig von kulturell inzwischen stark erweiterten und diversifizierten Interpretationsspielräumen – letztlich von nicht mehr sicheren Definitionen eines politischen Gemeinwesens als Garant von Möglichkeitsbedingungen eines guten Lebens.19 »Gutes Leben« im Alter zu reklamieren, scheint stillschweigend die Prämisse zugrunde zu liegen, dass dies in Gesellschaften mit hohem Beschleunigungspotenzial bei gleichzeitiger Entwertung eines in der Provinzialität der

16 Bieri (2013), 241ff. 17 Berger/Luckmann (1994), im Anschluss an Schütz (1993). 18 Inglehart (1990). 19 Nussbaum (2011).

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Lebenswelt erworbenen Erfahrungswissens (»lebenslanges Lernen«) keine Selbstverständlichkeit ist; dass vielmehr das Leben im Alter eines besonderen Schutzes bedarf; dass besondere Voraussetzungen zu schaffen sind, und zwar im Sinne einer Gestaltungsfreiheit des Lebens im Alter nach eigenen Wertvorstellungen in Abgrenzung von immer noch stark verbreiteten negativen Stereotypen des Alters.20 Die Begründung normativer Ansprüche an die Schaffung gesellschaftlicher Voraussetzungen eines guten Lebens – zum Beispiel materiell gesicherter, möglicherweise sogar rechtlich zu beanspruchender bzw. einklagbarer Entfaltungs- und Entwicklungsmöglichkeiten im Zeichen einer wachsenden Altersarmut21 – darf mit der Begründung von Bewertungsmaßstäben eines guten Lebens nicht verwechselt werden. Dabei sollte immer auch der Standpunkt derer, die Bewertungen vornehmen, kritisch mitbedacht werden. Auf damit zusammenhängende Begründungsfragen einer Ethik des Alters und Alterns möchte ich im Folgenden nicht weiter eingehen. Vielmehr möchte ich mich auf empirische Aspekte beschränken, die gewissermaßen als Referenzrahmen einer ethischen Diskussion jener Fragen eines »guten Lebens« im Alter dienen können. Dabei wird »gutes Leben« im Anschluss an klassische entwicklungspsychologische bzw. gerontopsychologische Befunde als eine ›integrale‹ – man könnte auch sagen: ›stimmige‹ – Lebensform verstanden.

4. A LTERN – E NTWICKLUNGSMÖGLICHKEITEN UND V ERLUSTE 4.1 Entwicklungspotenziale Aus der Perspektive einer biografischen Strukturierung des Alters, insbesondere in Anlehnung an Erik Erikson (1994), wird Alter als eine der letzten

20 Siehe dazu insgesamt den Sechsten Bericht zur Lage der älteren Generation in der Bundesrepublik Deutschland zum Thema Altersbilder, vgl. BMFSFJ (2010). 21 Siehe dazu soziologische Befunde zu sich verschärfenden Depravationserfahrungen wachsender Bevölkerungsgruppen beispielsweise in Bude (2008).

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Entwicklungsstufen menschlichen Lebens thematisiert.22 Unter Gesichtspunkten der Ontogenese sind für Erikson alle Entwicklungsstufen des Menschen mit jeweils für diese Stufen typischen Entwicklungskrisen verbunden, die als solche bewältigt und verarbeitet werden müssen. Freilich bergen lebensgeschichtliche Entwicklungskrisen stets auch Entwicklungsmöglichkeiten. Nur so können über einen längeren lebensgeschichtlichen Zeitraum jene Potenziale aufgebaut werden, welche für die Entfaltung einer integralen Lebensform des Alters von großer Bedeutung sind. Auf der Grundlage dieser entwicklungspsychologischen Erkenntnis können Erklärungen dafür gegeben werden, warum unter ganz spezifischen materiellen und geistigen Voraussetzungen sich ein praktisches Bewusstsein von gelebter Generativität im Alter zu entwickeln vermag. Generativität ist ein hervorstehendes Charakteristikum des Alters. Dazu gehören bestimmte Einstellungen und Motivationen, welche Personen in die Lage versetzen, einen über den Horizont wie auch über die Begrenztheit des eigenen Lebens hinausreichenden Beitrag für zukünftige Generationen zu leisten. Unter dem Titel »Generativität und Integrität« werden wir diesen Zusammenhang später vertiefen. Verweilen wir noch einen Augenblick bei den Entwicklungspotenzialen des Alters, die in der Psychogerontologie gut belegt sind und beispielsweise im Fünften Altenbericht der Bundesregierung23 gut dokumentiert sind. Welche mit biologischen sowie sozioemotionalen Veränderungen im Alter assoziierten Entwicklungsmöglichkeiten sind feststellbar? Es zeigt sich, dass Menschen in der Lage sind, die mit dem Alter verbundenen Verluste auszugleichen. Dies geschieht auf sozialer Ebene durch Neuorganisation der Lebensumwelt. Aber auch im Persönlichkeitssystem des älteren Menschen können sich Entwicklungsprozesse vollziehen. Ältere Menschen verfügen nicht allein über Fähigkeiten, Aufgaben und Anforderungen gedanklich vorwegzunehmen. Sie sind in der Lage, von bislang Maß gebenden Zielen Abstand zu nehmen und sich neue Ziele zu setzen sowie darauf bezogene neue Handlungsschemata und Routinen zu entwickeln. Und was dabei besonders bemerkenswert ist: Sie erwerben Fähigkeiten, funktionelle Kapazitäten der Alltagsbewältigung, deren biologische Begrenztheit zunehmend erfahren wird,

22 Vgl. im Folgenden auch meine Ausführungen in Remmers (2017). 23 BMFSFJ (2005).

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durch die Entwicklung anderer Fähigkeiten zu kompensieren. Diese alternswissenschaftlichen Befunde haben Baltes und Baltes24 in einem Entwicklungsmodell zusammengefasst, welches folgendermaßen lautet: Es zeichnen sich Alternsprozesse durch selektive Optimierung einzelner Funktionsbereiche des Lebens in Verbindung mit einer Kompensation von Einbußen in anderen Funktionsbereichen aus. Was besagt diese sogenannte Sozioemotionale Selektivitätstheorie von Baltes und Baltes in concreto? Die im sozioemotionalen Haushalt älterer Menschen sich vollziehenden Veränderungen lassen sich keineswegs nur als eine Folge der Bewältigung von Verlusterfahrungen begreifen. Vielmehr müssen bestimmte sozioemotionale Veränderungen im Alter als eine originäre Errungenschaft in der Evolution des Menschen verstanden werden. Nur so lässt sich beispielsweise erklären, warum Menschen auf Kapazitäten zurückgreifen können, die erst mit dem Alter erworben werden. Diese evolutionäre Selektion wirkt sich auf das Leben im Alter zum Beispiel so aus: Es werden vermehrt Fähigkeiten erworben, anderen kompetent zu helfen und eigene Erfahrungen an Jüngere weiterzugeben. Damit wird ein sozialer Beitrag zur Reproduktion der Nachkommen auf höherem Niveau geleistet. Es kann der soziale Zusammenhalt zwischen Generationen verbessert und es können emotional ausgeglichene Beziehungen hergestellt werden. Ein wichtiger Gewinn besteht darin, der nachwachsenden Generation einen breiten Fundus an Welt- und Beziehungswissen bereitzustellen. Was nun das bereits angesprochene Zeitbewusstsein betrifft, so scheinen sich auch hier Veränderungen beim älteren Menschen einzustellen. Es öffnen sich Horizonte, sich stärker für das Wohlergehen anderer Menschen einzusetzen, persönliche Erfahrungen weiterzugeben, Bleibendes zu schaffen. Auch sind ältere Menschen durchschnittlich besser in der Lage, zwischen unterschiedlichen Interessen sozialer Gruppen, aber auch divergierender Generationslagen zu vermitteln. Entwicklungsfähigkeit in bestimmten Bereichen ist demnach bis ins hohe Alter nachweisbar. Auf kognitivem Niveau zeigen sich Ältere häufig zu kreativen Leistungen in der Lage, selbst unter Bedingungen gesundheitlicher Einbußen. Bis ins hohe Alter ist die Bereitschaft vorhanden, sich nicht nur mit der gegebenen Lebenssituation ausei-

24 Baltes/Baltes (1990).

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nanderzusetzen, sondern sie auch mit Sinn zu erfüllen. Entwicklungspsychologisch werden solche Phänomene als Zeichen von Kreativität und Weisheit gedeutet. Im Anschluss an die Sozioemotionale Selektivitätstheorie von Baltes und Baltes ist ein weiterer analytischer Befund erwähnenswert. Es zeigt sich, dass, je mehr mit zunehmendem Alter die Zukunft als begrenzt erfahren wird, desto mehr wächst die Bedeutung emotionaler Ziele im Vergleich mit instrumentellen Zielen. So werden wenige, aber von Vertrauen und gegenseitiger Wertschätzung getragene Beziehungen höher bewertet als eher flüchtige Beziehungen zu Personen, mit denen etwa in zurückliegenden Jahren etliche gewohnheitsmäßige Urlaubsreisen unternommen wurden. Auch kommt wiederum langfristigen Zielen eine größere Bedeutung zu als kurzfristigen. Diese Neugewichtung ist ebenso ein Hinweis darauf, dass sich auch die Verarbeitung emotional relevanter Informationen im Laufe des Erwachsenenalters verändert. Die emotionalen Valeurs einer Information oder einer Begegnung werden von älteren Menschen stärker beachtet, höher gewichtet, effektiver verarbeitet und besser erinnert.25 Bei all diesen positiven Befunden sollte nicht verkannt werden, dass Alternsprozesse nicht allein sehr heterogen verlaufen können, sondern dass auch bereits früher bestehende interindividuelle Unterschiede im Alter generell zunehmen. Daher wächst auch der Einfluss sozialer Unterschiede im Alter. Hinzu kommt, dass sich vor allem im hohen Alter zunehmende soziale Ungleichheiten mit Armuts- und Gesundheitsrisiken mit einem gewissen Kumulationseffekt auswirken.26 Deshalb ist ›gutes Leben‹ im Alter kein persönliches Gut, über welches Individuen lebensgeschichtlich gewissermaßen frei verfügen können, sondern es hat einen vielschichtig nur begrenzt erklärbaren und ausdeutbaren Kontingenzcharakter. 4.2 Verluste und Verletzlichkeit (a) Verletzlichkeit als conditio humana Es dürfen also, trotz produktiver Entwicklungspotenziale, andere Entwicklungstatsachen nicht unterschlagen werden. Vor allem im hohen Alter von

25 Baltes/Baltes (1990). 26 Richter-Kornweitz (2012).

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80 und mehr Jahren wächst das Risiko einer Multimorbidität und einer Chronifizierung von Erkrankungen. Es nehmen chronisch-degenerative Erkrankungen einschließlich neurodegenerativer Erkrankungen vom AlzheimerTyp exponentiell zu, die meist mit Pflegebedürftigkeit einhergehen. Besonders das hohe Alter ist durch zunehmende Verletzlichkeit charakterisiert.27 Solcher Verletzlichkeit durch vorhandene, nicht selten auch begrenzte psychische Widerstandsfähigkeit begegnen zu können, gehört zu den großen Aufgaben medizinischer, psychotherapeutischer und pflegerischer Rehabilitation. Was aber heißt eigentlich Verletzlichkeit? In älteren klinischen Handwörterbüchern wird der Begriff der Vulnerabilität je nach disziplinärer Herkunft unterschiedlich erläutert: In der Medizin geht es vorrangig um genetische Prädispositionen. In der klinischen Psychologie werden zusätzliche biografische Einflüsse und soziale Faktoren sowie entwicklungs- und persönlichkeitspsychologische Faktoren berücksichtigt wie Bindungsfähigkeit, Fähigkeit zur Impulskontrolle, Widerstandsfähigkeit, Bewältigungskompetenz.28 Das Konstrukt der Verwundbarkeit wurde eingeführt, um die Schutzlosigkeit und die Unsicherheit jener Menschen besonders hervorzuheben, die eine ungleich stärkere Anfälligkeit für Stress aufweisen und die nicht über Bewältigungsstrategien verfügen, die notwendig sind, um Belastungen verarbeiten zu können.29 Über diese disziplinäre Herkunft des Konzepts der Verletzlichkeit muss hinausgegangen werden. Dabei ist der Blick auf einen viel grundlegenderen Tatbestand zu lenken. Denn Verletzlichkeit ist ein konstitutiver Bestandteil der conditio humana, jener Grundverfasstheit des Menschen, die durch wechselseitige soziale Angewiesenheit und Abhängigkeit charakterisiert ist, die lebensgeschichtlich unterschiedliche Intensitätsgrade aufweisen können. In dieser Grundverfasstheit sind wiederum Dispositionen des Menschen verankert, die ich als Sorge bezeichnen möchte: die Sorge für kranke, hilfe- und pflegebedürftige Menschen, die mit dem Bewusstsein verbunden ist, dass ein jeder dieses Schicksal wird erleiden können. Die Fähigkeit, sich Hilfebedürf-

27 Kruse (2017), 167–272, 317–353. 28 Wittchen/Hoyer (2011). 29 Chambers (1989); Hinweis in Kruse (2017), 171.

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tigen zuwenden zu können, hat mit der anthropologischen, freilich nicht fixierten, sondern zeitlich variierenden Erfahrungstatsache menschlicher Ausgesetztheit (Ek-sistenz) zu tun. Sorgendes Verhalten scheint daher zur Grundverfasstheit des Menschen zu gehören. Sie verdankt sich einem antizipatorischen Vermögen des Menschen, einem ›Sich-vorweg-sein-können‹, wie Heidegger30 sagen würde, und versteht sich als etwas Wesenhaftes menschlicher Ko-Existenz. »Mitdasein Anderer« und »Fürsorge« sind gewissermaßen gleichursprünglich Gestalten eines »In-der Welt-Seins«. Sorgendes Verhalten wiederum ist charakterisiert als eine notwendige Antwort auf ein ontisch unvermeidliches »Verfallen«31 als Grund menschlicher Schutzlosigkeit.32 Dass sich unter Gesichtspunkten existenziell fundierter Sorge bzw. Fürsorge im Übrigen auch ein Beitrag zu einer Theorie der menschlichen Kultur begründen ließe als jene Sphäre ebenso sozialer wie instrumenteller Praktiken, mit denen Schutzlosigkeit, Verletzlichkeit und Hilfebedürftigkeit kompensiert werden, sei nur am Rande erwähnt. Eine solche Theorie der Kultur bliebe selbstverständlich noch unterkomplex. (b) Einflussfaktoren auf und Dimensionen von Verletzlichkeit Nun ist das Alter zwangsläufig jene Lebensphase, in welcher zunehmend eine Auseinandersetzung mit Entwicklungsprozessen, Einbußen und Schwächen stattfindet. Dabei kann Verletzlichkeit in verschiedenen Dimensionen untersucht werden: als körperliche, kognitive und soziale Verletzlichkeit. Besonders in den Blick zu nehmen ist emotionale Verletzlichkeit. Dies gilt vor allem deswegen, weil eine allgemeine Schwächung der Person sich aus Erfahrungen der Abnahme bestimmter Leistungsfähigkeit speist, die von sehr unterschiedlicher Qualität sein kann, sehr häufig aber von existenziellen

30 Heidegger (1986), § 41. 31 Ebd., 193. 32 Wenn wir uns hier auf daseinsanalytische Bestimmungen in Heideggers »Sein und Zeit« beziehen, so sollte daran erinnert werden, dass sie mit einer Todesmetaphysik verbunden sind, die ohne die epochale Erfahrung des ersten industrialisierten Massenkrieges in Europa nicht recht verstanden werden können. Vgl. Remmers (2019).

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Ängsten bis hin zu depressiven Störungen und auch suizidalen Wünschen begleitet wird.33 Weitgehend Einigkeit besteht, dass Lebensbedingungen, insbesondere persönliche (materielle und soziale) Ressourcen, von zentraler Bedeutung sind, weil sie unmittelbaren Einfluss auf den Grad und die Formen der Verletzlichkeit haben.34 Aus diesem Grunde darf Verletzlichkeit im (hohen) Alter keinesfalls bloß schicksalhaft im Sinne einer biologischen Entwicklungsdeterminante verstanden werden. Verletzlichkeit ist ebenso das Ergebnis einer lebenslangen Entwicklung, die durch objektiv gegebene Lebensbedingungen gefördert oder aber verzögert wird. Auch kann Verletzlichkeit das Ergebnis eines unvorhersehbaren Ereignisses sein. Wie eine Person ihre Verletzlichkeit erlebt und verarbeitet, ist auch abhängig vom Ausmaß sozialer Teilhabe. Fehlende Möglichkeiten der Teilhabe am Entwicklungs- und Wohlstandsniveau einer Gesellschaft sind ein entscheidender Grund für ausgeprägte Vulnerabilität. Allerdings reagieren Menschen auf objektiv vergleichbare Belastungen sehr unterschiedlich. Es können Belastungen bei einer Gruppe von Menschen in hohe emotionale Verletzlichkeit münden, in einer anderen Gruppe aber nicht. Dies zeigt, dass ältere Menschen auch bei verschiedenen Einbußen zu produktiven Anpassungsleistungen fähig sind. Die von ihnen entwickelte Widerstandsfähigkeit erweist sich dabei als ein jeweils spezifisches Ergebnis der Plastizität menschlichen Leistungs- und Organisationsvermögens bis ins Alter.35 Mit dieser Tatsache hat sich vor allem die Resilienzforschung intensiv befasst. (c) Resilienz Bis heute ist die bis in die 1950er Jahre zurückreichende Resilienzforschung stark psychologisch fundiert. Dabei hat sich das Konzept der Resilienz in den letzten 30 Jahren noch einmal stark gewandelt. Der Gegenstand der Resilienzforschung lässt sich, vereinfacht gesagt, als menschliche Antwort auf konstitutive, in verschiedenen Dimensionen des Lebens angelegte Verletzlichkeit beschreiben. Eine immer wiederkehrende Frage der Forschung lau-

33 Kruse (2017), insbesondere 229–257. 34 Ebd., 168. 35 Staudinger et al. (1995). Vgl. auch Staudinger (2000).

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tet, wie Menschen mit belastenden Ereignissen oder Entwicklungen ihres Lebens fertig werden, ohne dass sie mit teils krankheitswertigen seelischen Dysfunktionen reagieren. Allgemein handelt es sich bei der Verarbeitung von Belastungen um einen komplexen Anpassungsprozess. Als internaler Prozess vollzieht er sich in Form kognitiver oder emotionaler Selbstregulation, als externaler Prozess wird er durch bestimmte Bedingungen der sozialen Lebenswelt und Institutionen beeinflusst. Auf der Ebene internaler Prozesse der Belastungsverarbeitung spielen zumeist biografisch entwickelte Fähigkeiten sowie bestimmte Selbstwirksamkeits- und Kontrollüberzeugungen eine große Rolle. Inzwischen werden vermehrt auch neurobiologische Einflussfaktoren des Individuums berücksichtigt. Externale Prozesse der Belastungsverarbeitung wiederum sind vorrangig gekoppelt an soziale Umweltbedingungen wie beispielsweise eine als Schutzraum erlebte Familie, größere soziale Netzwerke wie etwa Freunde oder Nachbarn, aber auch professionelle Unterstützungssysteme.36 In der Regel handelt es sich bei Stressverarbeitungsprozessen um ein multifaktorielles bzw. multisystemisches Geschehen.37 Mittlerweise empfiehlt sich, das psychologische Konstrukt der Resilienz umfassend zu definieren und ihm unter diagnostisch-therapeutischen Gesichtspunkten der Person-Umwelt-Interaktion größere Aufmerksamkeit zu schenken. Aus psychologischer Sicht wird Resilienz allgemein als die Fähigkeit der Aufrechterhaltung und Wiederherstellung psychischer Gesundheit bei kontinuierlichem oder episodischem Stresserleben verstanden.38 Die Tatsache, dass sich im Verhältnis von Person und Umwelt laufend Veränderungen auch in Abhängigkeit von Lebensphasen und Lebensereignissen ergeben, hat zu einem dynamischen Verständnis von Resilienz als lebenslangem Prozess geführt,39 weshalb prospektive Longitudinal-Studien besonders angezeigt sind. All dies besagt, dass Entstehungsprozesse von Resilienz gekoppelt sind an ein Zusammenspiel psychischer, sozialer und institutioneller Faktoren einerseits und belastender Ereignisse andererseits.40 Diese Zusammenhänge

36 Bengel et al. (2001). 37 Kunzler et al. (2018). 38 Kalisch et al. (2015) und (2017). 39 Bengel/Lyssenko (2012). 40 Rutter (1990).

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sind auch bei diagnostisch-therapeutischen Verfahren zu beachten. Im Mittelpunkt stehen keineswegs Erkrankungen, sondern psychische Dysfunktionen. Das Vorhandensein von Resilienz sollte sich daher auf dem Wege einer Exploration jener Mechanismen identifizieren lassen, die Schutz vor stressinduzierten Dysfunktionen in verschiedenen Dimensionen des Lebens bieten. Auf eine Vertiefung klinischer Diagnostik, etwa der Bildung quantitativer Scores psychischer Dysfunktionen in mehreren Dimensionen,41 kann hier verzichtet werden. Spiegelbildlich zur Identifikation von Resilienz kann nun aber gesagt werden, dass bei einer explorativen Erhebung von Verletzlichkeit sowohl Eigenschaften der Person, insbesondere ihre intrapsychischen Regulationsmechanismen, als auch Charakteristika ihrer Lebenssituation und ihrer sozialen Umwelt maßgebend sein sollten. Da Resilienz keine unveränderliche Persönlichkeitseigenschaft ist, sondern das Ergebnis eines Anpassungsprozesses, soll im Folgenden diesem prozesshaften Geschehen etwas größere Beachtung geschenkt werden. Bekanntlich haben Lazarus42 und Lazarus mit Folkman43 zur Beantwortung der Frage, wie Personen Belastungen wahrnehmen und wie sie mit ihnen umgehen, ein transaktionales Stressbewältigungsmodell entwickelt, das sich insofern als wegweisend erwiesen hat, als es explanatorisch rein behavioristische Annahmen überschreitet. Denn für Lazarus und Folkman ist das Erleben von Stress abhängig von der jeweils subjektiven Situationsdeutung und Situationsbewertung. Dem zweistufigen Modell zufolge stellt sich demnach zunächst die Frage, wie eine Person ein Ereignis oder eine Situation wahrnimmt. Auf einer nächsten Stufe der persönlichen Auseinandersetzung mit situativen Belastungen stellt sich die Frage, inwieweit die Person Eigenschaften bzw. Kompetenzen besitzt, mit der Situation positiv, das heißt produktiv umzugehen. Das nunmehr erfolgende Bewältigungsverhalten kann vorrangig entweder problemorientiert, emotionsorientiert oder bewertungsorientiert sein. Stets wird eine Neubewertung der Situation erfolgen in Abhängigkeit davon, ob das Verhalten zu einem Erfolg oder Misserfolg geführt hat. Bei erfolgreichem Bewältigungshandeln wird das ursprüngliche Belastungserleben eher als eine Herausforderung gedeutet, bei Misserfolg eher als eine fortbestehende Gefahr.

41 Dazu näher Kunzler et al. (2018). 42 Lazarus (1999). 43 Lazarus/Folkman (1984).

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Diese Erkenntnisse der Stressforschung lassen sich nun auch auf Verläufe des Alterns übertragen. Allgemeinen Einsichten der Biografieforschung zufolge sind Lebensläufe durch charakteristische (sogenannte normative und eher zufällige) Wendepunkte mit spezifischen Belastungseigenschaften charakterisiert.44 Dies gilt ebenso für die sich zeitlich immer weiter ausdehnenden Alternsprozesse. Wendepunkte im Lebenslauf treten quasi regelhaft auf und sind, wie beispielsweise Ausbildungs- oder Schulbeginn, Eheschließung, Geburt eines Kindes usw., ›normiert‹. Zu den ›nicht-normierten‹ Wendepunkten im Lebenslauf gehören zum Beispiel schwere Unfall- oder Krankheitsereignisse. Als Krisen bergen solche Wendepunkte in Abhängigkeit von (erworbenen) Schutzfaktoren sowohl ein Risiko- als auch ein Entwicklungspotenzial.45 Um darüber genauere Aussagen machen zu können, sind diagnostisch persönliche (psychische), familiale und soziale Ressourcen sowie spezifische, häufig lebensgeschichtlich angelegte, aber auch in der ökonomischen Lage aufzusuchende Risikofaktoren zu erfassen, welche sich zudem wechselseitig beeinflussen können. Auf diese Weise lassen sich jeweils auf ein Individuum bezogene ›Vulnerabilitätskonstellationen‹ feststellen. Freilich sollte man sich dabei stets bewusst sein, dass Wechselwirkungen zwischen Risiko- und Resilienzfaktoren ein prozesshaftes Geschehen darstellen, das beeinflusst werden kann mit dem Ziel, Schutzmechanismen aufzubauen bzw. persönliche Risiken zu verringern. Wie bereits dargelegt, wird die Art und Weise, wie Belastungen erlebt, verarbeitet und bewältigt werden, nicht nur von der Persönlichkeit des älteren Menschen bestimmt, sondern es wirken sich umgekehrt Erfolg oder Misserfolg der Belastungsverarbeitung auch auf dessen Persönlichkeit aus. So können nicht bewältigte Belastungserfahrungen eine Ursache für das Entstehen von Depressionen sein. Inzwischen zeigt die Studienlage jedoch auch, dass ältere Menschen über verschiedene Möglichkeiten des Umgangs mit belastenden Erfahrungen verfügen. Dies illustrieren beispielsweise Ergebnisse der Berliner Altersstudie,46 in der sich ein paradoxer Tatbestand zeigte: Auch wenn sich die Lebenssituation älterer Menschen objektiv verschlechtert hatte, wirkte sich das nicht zwangsläufig auf die subjektive Bewertung der

44 Filipp (1990). 45 Bengel/Lyssenko (2012). 46 Lindenberger et al. (2010).

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Situation aus. Auch Depression muss nicht unbedingt Folge einer Verschlechterung sein. Sie ist eher unwahrscheinlich bei Vorhandensein psychischer Widerstandsfähigkeit. Es ist also nicht ausgeschlossen, dass Menschen trotz widriger Umstände »gedeihen« können,47 was freilich nicht den Umkehrschluss zulässt, dass objektive soziale Depravationen menschlichem Gedeihen nicht entgegenstehen würden. Angesichts der Tatsache, dass ältere Menschen auch bei verschiedenen (subjektiven und objektiven) Einbußen zu produktiven Anpassungsleistungen fähig sind, geht man von einem sogenannten »Zufriedenheitsparadoxon« aus.48 Es ist daher anzunehmen, dass bei eingetretenen Verlusten, jedoch gleichzeitigem Vorhandensein produktiver Anpassungskapazitäten ein früheres psychisches Funktionsniveau wiederhergestellt bzw. zu einem neuen Anpassungs- und Funktionsniveau zurückgefunden werden kann.49 Diese Form der Resilienz scheint Ausdruck einer spezifischen Plastizität persönlichen Leistungs- und Organisationsvermögens zu sein. Findet erfolgreiche Anpassung statt, so vermag sich das betroffene Individuum auf diese Weise seiner produktiven und kreativen Kräfte zu versichern. Bei deren Aktivierung bleibt es aber immer auch auf die Verfügbarkeit verschiedener externaler Ressourcen – ökonomische Ressourcen und soziale Netzwerkressourcen einschließlich Bildungsangebote – angewiesen. Auch wenn gesundheitliche Beeinträchtigungen und sozioökonomische Einschränkungen nicht zwangsläufig zu geringerer Zufriedenheit und schlimmstenfalls zu Depression führen müssen, so lässt sich – wie bereits erwähnt – daraus nicht der Schluss ziehen, dass sie im Sinne gesellschaftspolitischer Verantwortung ohne Belang sind. Auch beeindruckende Erkenntnisse zur Plastizität neuronaler Funktionen sowie kognitiver Leistungsfähigkeit sollten nicht zu dem Fehlschluss führen, dass Alternsprozesse selbst bei Zunahme von Vulnerabilität sowie bei Abnahme von Ressourcen im hohen Alter subjektiv beliebig manipulierbar seien. Das gesellschaftlich mehr und mehr dominierende Leitbild der Selbstoptimierung als Motor der Wertschöpfung in postindustriellen Arbeits- und Berufswelten50 wäre hier völlig fehl-

47 Werner (2006). 48 Staudinger (2000). 49 Kruse (2017), 185f. 50 Bröckling (2007).

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geleitet. Verkannt wird, dass Grenzen der Resilienz nicht beliebig verschiebbar sind. Dem steht letztlich die Irreversibilität menschlicher Vergänglichkeit entgegen – ein Faktum, das allerdings nicht dagegen spricht, Anstrengungen beispielsweise der Prävention zu entwickeln mit dem Ziel, bestimmte Formen von Verletzlichkeit zu reduzieren sowie persönliche Ressourcen aufzubauen und zu erhalten, die sich positiv auf die Widerstandsfähigkeit auswirken. Bei alledem sollten zentrale Fragen nicht unbeantwortet bleiben, die folgendermaßen lauten: Wie kann seelisch-geistiges Wachstum auch im Alter gefördert werden? Wie kann Offenheit für verschiedene Sinnquellen auch im Alter ermöglicht werden? Und welche Sinnquellen erweisen sich jeweils individuell als geeignet, belastende Situationen besser zu verarbeiten und zu bewältigen?

5. E NTWICKLUNGSKRISEN

UND

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Reifung durch Entwicklungskrisen ist ein Topos, der uns bereits in der psychologischen Coping-Forschung begegnet. Jedoch werden damit zentrale, in der auf den gesamten Lebenslauf bezogenen Entwicklungspsychologie namentlich Eriksons51 thematisierte Fragen angesprochen. Erikson zufolge durchläuft die Entwicklung der Persönlichkeit und der Ich-Identität mehrere Stadien. Für jedes dieser Stadien sind bestimmte Krisen und Verarbeitungsweisen von Konflikten charakteristisch. Angesichts des dynamischen Wandels sozialer Lebensbedingungen müssen Individuen einen erheblichen Integrationsaufwand leisten, damit sich ein stabiler Kern des Persönlichkeitssystems bilden kann. Ein Charakteristikum dieses Entwicklungsprozesses besteht darin, dass sich mit wachsendem Lebensalter seelisch-geistige Horizonte der Person erweitern; dass sich soziale Bindungen vertiefen oder aber lockern. Den Einsichten Eriksons zufolge lässt sich die biografische Verarbeitung und Lösung altersspezifischer, im Kindesalter sich bereits manifestierender Krisen als Prozess der Reifung einer Person verstehen. Dieser Prozess ver-

51 Erikson (1994).

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läuft in der Regel nicht linear, zumal sich Lebensläufe in modernen Gesellschaften massiv gewandelt haben.52 Die für das mittlere Erwachsenenalter typische Krise firmiert bei Erikson als »Generativität versus Stagnation«. Dabei war er zunächst davon ausgegangen, dass diese Krise erfolgreich gelöst sein müsse, um beispielsweise den für das höhere Alter charakteristischen Konflikt zwischen »Ich-Integrität« und »Verzweiflung« erfolgreich zu meistern. Diese Annahme hatte sich jedoch nach weiteren Untersuchungen als unzureichend erwiesen. Denn wie sollte es im höheren Alter gemäß dieser Annahme möglich sein, auch Versäumtes, das sogenannte ›ungelebte Leben‹, persönlich zu akzeptieren? In späteren Arbeiten hat Erikson53 zeigen können, dass Ich-Integrität auch dann erreicht wird, wenn in vorausgegangenen Lebensphasen typische Entwicklungsaufgaben nur unzureichend erfüllt werden konnten. Für das sehr hohe Alter nämlich ist nicht untypisch, dass auch zuvor gelöste Krisen aufgrund altersbedingter Verlusterfahrungen nochmals thematisiert werden: zum Beispiel als Vertrauen. Dies scheint offenbar notwendig zu sein, um körperliche und geistige Verluste in das Ich integrieren zu können. Gelingt dies, so ist auch in dieser Lebensphase »weiteres Wachstum der Persönlichkeit« möglich.54

6. G ENERATIVITÄT

UND I NTEGRITÄT

Bereits ältere Studien zur persönlichen Entwicklung im hohen Alter von Lehr55 sowie Lehr und Thomae56 kommen zu dem Ergebnis, dass die zunehmende Erfahrung von Endlichkeit zu einer qualitativ neuen Sichtweise der Person auf sich selbst und seine Welt beitragen kann. Diese neuen Sichtweisen und Einstellungen werden mit den Begriffen »Generativität« und »Integrität« umschrieben. Jüngere theoretische Beiträge hierzu stammen vor allem von McAdams.57

52 Kohli (2003). 53 Erikson (1998). 54 Kruse (2012), 41. 55 Lehr (1986). 56 Lehr/Thomae (1987). 57 McAdams (2009). Vgl. im Folgenden auch Remmers (2017).

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Was besagt Generativität? Dieser Begriff drückt eine fundamentale Gemeinschaftlichkeit von Menschen aus, vergleichbar der Aristotelischen Bezeichnung des Menschen als zoon politicon. Des Weiteren verweist Generativität auf das Bedürfnis von Menschen, einen über den Horizont wie auch über die Begrenztheit des eigenen Lebens hinausreichenden Beitrag zu leisten. Das generative Verhältnis des Menschen erstreckt sich aber über den familialen Kontext hinaus auf den gesamten gesellschaftlichen Lebenszusammenhang. Insofern versteht sich Generativität als ein interpersonales Konzept. Generatives Verhalten wiederum resultiert aus dem uns vertrauten Bedürfnis nach symbolischer Unsterblichkeit. Dieses Bedürfnis bedarf indessen einer Materialisierung in Gestalt gesellschaftlicher Lebenszusammenhänge, deren Grundlage Solidarität ist, weil andernfalls das Engagement für andere Menschen als Ausdruck individuellen Überlebenswillens sinnlos erschiene. Gesellschaftlicher Zerfall, die Auflösung sozialen Zusammenhalts würde das Vertrauen in eine vital auf Kooperation verweisende Natur des Menschen von Grund auf erschüttern. Was wiederum besagt Integrität? Gemeint ist damit die Fähigkeit vor allem älterer Menschen, rückblickend ihre individuelle Lebensgeschichte trotz unerfüllter Wünsche zu akzeptieren. Selbstakzeptanz beschränkt sich allerdings nicht auf einen individualistischen Horizont der Sinnerfüllung, sondern bezieht die soziale Umwelt als Resonanzboden, als jene eigenwertige Sphäre wechselseitiger Anerkennung und Bestätigung mit ein. Freilich werden mit diesem Horizont persönlicher Sinnerfüllung zugleich Probleme angesprochen, die sich im Falle älterer Menschen mit einer Demenz und damit einhergehenden Einschränkungen beispielsweise kommunikativen Verhaltens dramatisch zuspitzen können. Aber schon unter Bedingungen eines kognitiv und physisch relativ stabilen Alternsprozesses stellt sich die Frage, inwieweit dem Individuum gesellschaftlich ermöglicht wird, Fähigkeiten der Entwicklung eines generativen Verhältnisses sowie personaler Integrität auszubilden und in dieser Weise eigenes Handeln als sinnvoll zu erfahren. In verschiedenen Untersuchungen von Moss und anderen58 sowie von Rott59 konnte gezeigt werden, dass individuelle Spielräume der Selbstakzeptanz und damit der Lebensbejahung auch bei Zunahme physischer und kog-

58 Moss et al. (2007). 59 Rott (2010).

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nitiver Verluste und damit einhergehender persönlicher Verletzlichkeit davon abhängen, inwieweit Chancen der sozialen Teilhabe gegeben sind. Möglichkeiten sozialer Teilhabe sind demnach eine entscheidende Voraussetzung dafür, dass ältere Menschen ihr Leben bejahen und wertschätzen können. Ein weiterer Faktor sind emotionale und instrumentelle Unterstützungspotenziale, die durch das soziale Umfeld zur Verfügung gestellt werden können. Empfinden Menschen im hohen Alter ihr Leben als sinnlos, so kann das damit zusammenhängen, dass ihr Leben von ihrer sozialen Umgebung nicht mehr als ein gutes Leben bewertet und anerkannt wird. Verstärkt wird soziale Entwertung durch demütigende Erfahrungen, die zu einer »Selbstverachtung des Individuums« als Ausdruck von »Verzweiflung« führen.60 Für Lawton61 können ältere Menschen eine positive Lebensperspektive nur dann entwickeln, wenn neben Möglichkeiten der sozialen Teilhabe das eigene Leben sinnvoll gestaltet und als solches positiv bewertet werden kann.

7. G EROTRANSZENDENZ Im Alter bestehen Tendenzen eines Rückzugs aus bisherigen Rollen und damit verbundenen Aufgaben. Diese Erkenntnis lag der seit den 1960er-Jahren verbreiteten Disengagement-Theorie zugrunde. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass bislang ausgeübte Tätigkeiten häufig zugunsten neuer Aktivitäten aufgegeben werden. An diese Beobachtungen hat vor allem Tornstam,62 über Erikson hinausgehend, in seiner Theorie der »Gerotranszendenz« angeknüpft. Für ihn bezeichnet Gerotranszendenz eine Entwicklung, die über die Ebene des Selbst und die Ebene sozialer Beziehungen hinausweist und eine kosmische Dimension eröffnet. Folgende Charakteristika lassen sich im Alter finden. Auf der Entwicklungsebene des Selbst sind es: bessere Integration von positiv und negativ bewerteten Aspekten der eigenen Person; Gelassenheit gegenüber Versäumtem; Zunahme altruistischer Einstellungen; Transzendenz der eigenen Körperlichkeit; Wiederentdeckung persönlicher Wurzeln in der Kindheit und dadurch Stärkung von Ich-Integrität.

60 Erikson (1994), 119. 61 Lawton (2000). 62 Tornstam (1989) und (1992).

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Auf einer Ebene sozialer Beziehungen lassen sich folgende Charakteristika finden: zunehmende Selektivität hinsichtlich derjenigen sozialen Beziehungen, die emotional bedeutsam sind; Bedeutungsverlust materieller Werte; Asketismus; reiferes Urteilsvermögen; Umrisse von Weisheit. Folgende Entwicklungen lassen sich auf einer kosmischen Ebene finden: Integration von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft; emotionale Verbundenheit mit nachfolgenden Generationen; verminderte Todesfurcht; mystische Dimension des Lebens. Entscheidend für Tornstam ist, dass Sichtweisen auf die eigene Person im hohen Alter überschritten werden zugunsten neuer Sichtweisen auf die Zukunft, die allerdings als ein Geschehenszusammenhang betrachtet wird, der dem einzelnen Individuum entzogen ist. In den Augen Tornstams werden damit überhaupt erst Voraussetzungen für reife Formen sozialen Engagements geschaffen. Ob Rückzüge aus bisherigen sozialen Rollen im Alter immer selbstgewählt sind, kann bezweifelt werden. Ob dagegen solche Rückzüge notwendig sind, um echtes Engagement in der sozialen Lebensumwelt entfalten zu können, ist eine interessante Frage, die empirisch zu beantworten wäre. Freilich hat das theoretische Konstrukt der Gerotranszendenz Kontroversen ausgelöst, in denen ernst zu nehmende Einwände erhoben wurden. So macht beispielsweise Jewell63 geltend, dass ein Bewusstsein der Transzendenz keineswegs nur altersassoziiert sein müsse, wofür im Übrigen schon Alltagserfahrungen sprächen. Auch der theoretisch universale Anspruch Tornstams sei überzogen und ließe sich entkräften mit Hinweisen auf kulturelle Abhängigkeiten oder besondere Persönlichkeitsmerkmale untersuchter Populationen. Es bedarf daher in den Augen Jewells methodisch sensibler Instrumente zur Erfassung von Gerotranszendenz. Jewell hält eine differenzierende Neuformulierung des Konstrukts Gerotranszendenz durchaus für möglich. Dabei werden aber, wie er bereits nahelegt, kulturelle Einflussfaktoren sehr kritisch zu beachten sein. Aus dieser kritischen Perspektive untersuchen Laceulle und Baars64 Stereotype des Alters, auf die sich verschiedene Ideologien des Alters stützen. Es sind diese Ideologien, die einen objektiven wissenschaftlichen Zugang zu individuellen Einstellungen, Erwartungen und Wünschen im fortgeschrittenen Lebensalter

63 Jewell (2014). 64 Laceulle/Baars (2014).

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erschweren. Daraus ergeben sich für Laceulle und Baars folgende Schlussfolgerungen: Aufgrund starker Stereotypisierungen des Alters empfehlen sich kulturkritische Ansätze in der Erforschung von Einstellungen oder Wünschen (z.B. Selbstverwirklichung), die sich am Besten in einer narrativen Gerontologie einlösen lassen mit dem Ziel, gewissermaßen kulturelle Gegenerzählungen zu ideologisch verzerrten subjektiven Bedeutungszuschreibungen des Alters zu schaffen. Es ist also durchaus möglich, dass das Konzept einer Gerotranszendenz einer Revision unterzogen werden muss.

8. S CHLUSSFOLGERUNGEN FÜR M ENSCHENRECHTE UND E THIK Aussagen über ›gutes Leben im Alter‹ bewegen sich in einem evaluativen Horizont, der zumindest in westlichen Gesellschaften durch plurale Anschauungen und Überzeugungen gekennzeichnet ist. Überdies kann auf die Frage, was als ein ›gutes Leben im Alter‹ gelten soll, erfahrungswissenschaftlich nur sehr eingeschränkt eine Antwort gegeben werden. Sie könnte sehr verkürzt vielleicht so lauten: Es sind Alternsprozesse, die durch Verletzlichkeit ebenso wie durch seelisches Wachstum und durch Reifung charakterisiert sind, in ihrer jeweils individuellen Ausprägung eine besondere diagnostische Aufmerksamkeit zu schenken. Es sind, in Anknüpfung beispielsweise an die Resilienzforschung, Risiko- ebenso wie Entwicklungspotenziale zu identifizieren. Gutes Leben im Alter könnte sein: sich als integraler Bestandteil eines gesellschaftlich solidarischen Lebenszusammenhangs zu verstehen und sich in seinen höchst individuellen Anteilen anerkannt zu fühlen; gutes Leben könnte sich in einer Selbstbejahung zum Ausdruck bringen, die auch das, was im Leben versäumt wurde, akzeptiert. Allein im Potentialis drückt sich die notwenige Zurückhaltung gegenüber individuell variierenden Wertvorstellungen und Ansprüchen aus. Von Generalisierungen wird also eher sparsam Gebrauch gemacht werden dürfen. Dagegen wird eine Ethik des Alters als Ethik auf generalisierende Ansprüche nicht (ganz) verzichten können. Von ihr wird aber kaum mehr erwartet werden können, normativ gehaltvolle Konzepte zu entwickeln für die Begründung jener gesellschaftlichen und kulturellen Voraussetzungen, welche erfüllt sein müssen, damit ältere und alte Menschen auch unter Beeinträchtigungen und Verlusten ein für sie stimmiges Leben führen können.

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Ethik und Recht verstehen sich als ebenso normsetzende wie normanwendende Wissenschaften, insofern als praktische Wissenschaften. In Abgrenzung dazu lassen sich aus erfahrungswissenschaftlichen Erkenntnissen keine direkten normativen Schlussfolgerungen ziehen, weil andernfalls – zumindest unter deontologischen Gesichtspunkten – der berechtigte Einwand eines naturalistischen Fehlschlusses erhoben werden könnte. Anders jedoch verhält es sich, wenn man erfahrungswissenschaftliche Erkenntnisse gleichsam als Spiegel eines Entwicklungsniveaus gesellschaftlicher und individueller Prozesse betrachtet, von denen angenommen werden kann, dass sie in der einen oder anderen Weise mit – politisch bestenfalls institutionalisierten – Lernprozessen verbunden sind. Historisch haben, wenn oft auch auf schmerzhaften Umwegen, Ergebnisse kollektiver Lernprozesse Eingang in das sittliche Bewusstsein einer Gesellschaft gefunden, sozusagen als Hegelsche Gestalt des objektiven Geists. Dabei fungiert sittliches Bewusstsein wiederum als Katalysator und als Legitimationsquelle von sich ebenso entwickelnden Rechtsnormen. Davon zu unterscheiden sind wissenschaftliche Erkenntnisfortschritte, die es erlauben, gleichsam Möglichkeitshorizonte zu umreißen, die implizit moralische Ansprüche etwa eines zivilisatorischen Minimums mit sich führen. So ließen sich als zivilisatorisches Minimum beispielsweise jene Voraussetzungen beschreiben, welche erfüllt sein müssen, damit alte Menschen Entwicklungspotenziale entfalten, ebenso aber auch vor schwerwiegenden Folgen altersbedingter Verluste bewahrt werden können. An diesen mit wissenschaftlich-kritischer Aufklärung verwobenen normativen Ansprüchen hätte sich auch die Grundrechtsentwicklung zu orientieren. Andererseits werden die praktische Anwendung und Umsetzung von Grund- bzw. Menschenrechten nur dann eine Chance haben, wenn gleichzeitig ein relevantes Publikum wissenschaftlich darüber informiert ist, dass bestimmten Rechtsansprüchen nur unter den dafür zu schaffenden gesellschaftlichen Voraussetzungen Genüge geleistet werden kann. Gesellschaftspolitisch angesprochen sind damit Aufgaben einer Kantischen ›pragmatischen Vernunft‹, das heißt einer Verbindung des Gesollten mit der Erkundung der dafür möglichen beziehungsweise der dafür notwendigerweise zu bahnenden praktischen Wege.65 Allerdings erhebt sich die Frage, inwieweit jenes für die ethische Debatte maßgebende zivilisatorische Minimum eines ›guten Lebens

65 Kant (1785), 36.

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im Alter‹ auch unter Bedingungen des modernen Wertepluralismus politisch durchdringende Überzeugungskraft haben kann in einer Gesellschaft, welcher eine strukturelle Kommerzialisierung aller Lebensbereiche quasi als Systemimperativ eingeschrieben ist; welche die ›Würde des Alters‹ mit einem Preis assoziiert.

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(K)ein gutes Leben im Alter? Ethische Perspektiven auf Konzepte des Active Aging L ARISSA P FALLER , M ARK S CHWEDA

1. E INLEITUNG Der International Council on Active Aging (ICCA), ein Netzwerk mit mehr als 10.000 Mitgliedern in 37 Ländern, hat sich ganz der Förderung des aktiven Alterns verschrieben. Er will Active-Aging-Strategien einer breiteren Öffentlichkeit bekannt machen und ihren Einsatz unterstützen. Auf seiner Website vertritt der ICAA die Überzeugung, »dass man die Qualität des späteren Lebens signifikant verbessern kann, wenn man aktiv bleibt und am Leben teilnimmt«1. Programmatisch heißt es, der ICAA wolle mit »gesellschaftlichen Mythen über das Altern«2 aufräumen und ältere Menschen dazu befähigen, ihre Lebensqualität zu verbessern und ihre »Würde« zu wahren.3 Dieses Beispiel verdeutlicht bereits wesentliche Aspekte der zeitgenössischen Auseinandersetzung um Active Aging. Es veranschaulicht zunächst exemplarisch, wie die Leitidee eines von Aktivität geprägten höheren Lebensalters mediale, politische und ökonomische Diskurse in alternden Gesellschaften durchdringt. Darüber hinaus zeigt es, dass »aktives Altern« dabei nicht nur auf die Erfassung und Beschreibung einer sich verändernden Erfahrung des späteren Lebens, sozusagen ein neues Lebensgefühl der Alten, 1

ICAA (2018a). Wo nicht ausdrücklich anders vermerkt, handelt es sich bei wörtlichen Zitaten aus englischsprachigen Texten um eigene Übersetzungen der betreffenden Stellen.

2

ICAA (2018b).

3

Ebd.

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abzielt. Wie die Zitate deutlich machen, stellt das Konzept vielmehr traditionelle defizitorientierte Vorstellungen des Alterns im Zeichen von Niedergang und Verfall – die »gesellschaftlichen Mythen« des Alterns – in Frage und betont die Ressourcen und Potenziale älterer Menschen. Dabei kommen positive Leitbilder eines gelingenden und erstrebenswerten Lebens im höheren Alter ins Spiel, die in diesem Fall etwa »Lebensqualität« und »Würde« in den Vordergrund rücken. Dass solche Leitbilder und Vorstellungen einen evaluativen und normativen Gehalt haben, wird von ihren Vertreterinnen und Vertretern allerdings kaum thematisiert, geschweige denn problematisiert. Infolgedessen erweisen sie sich im Rückblick oftmals als mehr oder weniger unmittelbarer Ausdruck des Wertesystems einer bestimmten Zeit, einer politischen Agenda oder soziokulturellen Perspektive. Aus diesem Grund trifft Konzepte gelingenden Alterns vielfach der Vorwurf einer politisch-ideologischen Voreingenommenheit, die bestimmte Handlungs- und Lebensweisen privilegiert oder gar forciert.4 Dies erscheint gerade in modernen pluralistischen Gesellschaften und liberalen Demokratien problematisch, weil dadurch die Chancengerechtigkeit auf ein gutes Leben im höheren Alter beeinträchtigt wird und bestimmte Gruppen sogar von vornherein davon ausgeschlossen werden, z.B. Menschen mit Behinderung, chronischen Krankheiten, kognitiven Beeinträchtigungen sowie ethnische Minderheiten oder sozioökonomisch unterprivilegierte Gruppen. Vor diesem Hintergrund zielt unser Beitrag darauf ab, Vorstellungen aktiven Alterns aus einer ethischen Perspektive genauer unter die Lupe zu nehmen. Wir geben zunächst einen Überblick über die politischen Diskurse, in denen das Konzept des Active Aging ursprünglich geprägt wurde. In Anknüpfung an die kritische Auseinandersetzung in der sozialwissenschaftlichen Alternsforschung arbeiten wir sodann die moralischen Implikationen des Konzepts heraus, wobei insbesondere evaluativ und normativ gehaltvolle Vorstellungen von Aktivität und Lebensstil zum Vorschein kommen. Im Anschluss führen wir die Perspektive einer Ethik des guten Lebens ein, um diese Vorstellungen einer moralphilosophischen Erörterung zu unterziehen und Schwachstellen und blinde Flecken kenntlich zu machen. Abschließend erörtern wir Konsequenzen für eine ethisch reflektierte Alternsforschung und

4

Timonen (2016).

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Sozialpolitik, wobei wir insbesondere den Zusammenhang zwischen einseitigen Idealen des guten Lebens im Alterund gesellschaftlicher Benachteiligung und Ausgrenzung hervorheben.

2. »A CTIVE A GING « – E NTSTEHUNG

UND

K RITIK

Das Konzept des Active Aging fand seinen Weg in die wissenschaftliche Diskussion Anfang der 2000er Jahre. Im Jahr 2002 veröffentlichte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) ihr Strategiepapier »Active ageing: a policy framework«, das als Grundlage für die Formulierung politischer Aktionspläne zur Förderung eines aktiven und gesunden Alterns dienen sollte. Im Jahr 2004 erreichte die Anzahl wissenschaftlicher Veröffentlichungen zum Thema erstmals den zweistelligen Bereich. Gab es von 2000 bis 2009 insgesamt nur 176 Publikationen, so verdreifachte sich die Zahl von 2010 bis 2018 auf 481.5 Mittlerweile ist das Konzept des Active Aging nicht nur in der Politik präsent,6 sondern ist auch in den Sprachgebrauch von Gerontologie und Sozialwissenschaften eingegangen.7 Beim »Active Aging« handelt es also um ein vergleichsweise junges Konzept. In der wissenschaftlichen Auseinandersetzung werden unterschiedliche Herkunftslinien rekonstruiert. Boudiny8 führt das Konzept ideengeschichtlich auf die Aktivitätstheorie des Alterns9 der 1960er Jahre zurück. Dieser Ansatz setzte sich von der zeitgenössischen Disengagement-Theorie10 ab und ging davon aus, dass die Aufrechterhaltung von Aktivität und sozialer Teilhabe eine Voraussetzung für anhaltende Gesundheit, Lebensqualität und gesellschaftliche Produktivität im Alter darstellt. Moulaert und Biggs konzentrieren sich auf das Aufkommen des Active Aging in der internationalen Politik im Zuge der G7- und G8-Gipfel Ende der 1990er Jahre, erkennen aber an, dass die Idee der Aktivität in der Gerontologie seit den 1920er Jahren

5

Internationale sozialwissenschaftliche Datenbank (IBSS), Suche: Stichwort im Titel oder Abstract.

6

Boudiny (2013), 1078.

7

van Dyk (2014), 94.

8

Boudiny (2013), 1077.

9

Havighurst et al. (1968).

10 Cumming/Henry (1961).

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eine wichtige Rolle spielt.11 Walker, der als Schöpfer des Ansatzes gilt, beschreibt »Active Aging« selbst als ein politisches Konzept, sieht seinen Ursprung aber im gerontologischen Diskurs um Successful-Aging12, wobei er erfolgreiches Altern vor allem mit der Aufrechterhaltung von Aktivitätsmustern des mittleren Erwachsenenalters13 in Verbindung bringt.14 Auch darüber, was »Active Aging« eigentlich bedeutet, besteht keineswegs Einigkeit.15 Der Ausdruck steht nicht für ein klar definiertes Konzept, sondern verschwimmt mit Vorstellungen von gesundem16, produktivem17 oder erfolgreichem Altern18. In jedem Fall ist die Diskussion um aktives Altern vergleichsweise jung und eher in politischen als in gerontologischen Zusammenhängen verwurzelt.19 Boudiny unterscheidet drei Arten von Definitionen: eindimensionale und mehrdimensionale Ansätze sowie Ansätze, die über die reine Verhaltensebene hinausweisen.20 Eindimensionale Ansätze konzentrieren sich auf nur einen Aspekt, in der Regel auf körperliche Aktivität oder Beschäftigung. Im Gegensatz dazu berücksichtigen mehrdimensionale Ansätze auch andere Lebensbereiche wie soziales Engagement und Freizeitaktivitäten. Ansätze, die mehr als nur die reine Verhaltensebene im Blick haben, erweitern den Definitionsrahmen, indem sie Dimensionen wie Autonomie, soziale Unterstützung, wirtschaftliche Rahmenbedingungen und insbesondere Gesundheit und Unabhängigkeit einbeziehen. Die Aufnahme von Konzepten aktiven Alterns durch die internationale Politik wurde aufseiten der zeitgenössischen Gerontologie weitgehend begrüßt.21 Diese folgte damit Walkers Diktum von der »beauty of this strategy

11 Moulaert/Biggs (2013), 26; siehe auch Katz (1996). 12 Rowe/Kahn (1987). 13 Havighurst (1961); Havighurst et al. (1953). 14 Walker (2002). 15 Boudiny (2013), 1078. 16 WHO (2015). 17 Butler/Gleason (1985). 18 Rowe/Kahn (1987) und (1997); Baltes et al. (1990); Baltes et al. (1996); Boudiny (2013), 1078; Katz (2013); Walker (2002), 122. 19 Walker (2002), 122. 20 Boudiny (2013), 1079–1084. 21 Moulaert/Biggs (2013), 26–29.

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[that is] good for everyone«22. Allerdings wurden – wie vorher schon bei verwandten Konzepten wie dem Successful und Productive Aging – auch skeptische Stimmen laut, vor allem aus den Reihen der Kritischen Gerontologie und Alter(n)ssoziologie. Neben der Kritik einseitiger theoretischer Grundlagen und mangelnder empirischer Evidenz des Konzeptes wurden vor allem moralische und politische Bedenken vorgebracht. So eröffne das Leitbild des Active Aging nicht nur positive Möglichkeitshorizonte für das Leben älterer Menschen, sondern führe auch zu Formen von Exklusion.23 Insbesondere gebe es entlang der Dimensionen sozialer Ungleichheit (speziell Geschlecht, Herkunft, Klasse und sexuelle Orientierung) gravierende strukturelle Unterschiede in der Verteilung der Ressourcen für erfolgreiches und aktives Altern. Die Auswirkungen dieser sozialen Ungleichheiten auf individuelle Lebenschancen aggregieren sich zudem über den gesamten Lebensverlauf und spitzen sich daher im höheren Alter noch zu. Darüber hinaus sind ältere Menschen mit fortschreitendem Alter auch zunehmend Altersfeindlichkeit und Altersdiskriminierung ausgesetzt, wodurch bereits bestehende Benachteiligungen zusätzlich verschärft werden.24 Vor diesem Hintergrund kritisiert Ranzijn das Konzept des Active Aging als »nur eine weitere Möglichkeit, Marginalisierte und Benachteiligte zu unterdrücken«25. Es spiegele das Leitbild eines Lebensstiles wider, zu dessen Umsetzung die angesprochenen Gruppen strukturell nicht in der Lage seien. Das Konzept blende so nicht nur die Vielfalt an Lebenserfahrungen aus, sondern werte systematisch diejenigen Personen ab, die dem Ideal der Aktivität nicht entsprechen könnten. Ranzijn setzt sich deshalb für alternative Konzeptionen eines »guten Alterns« ein, die die kulturelle Vielfalt des Alterns stärker berücksichtigen und damit soziale Integration fördern.26 Boudiny wiederum spricht Probleme der Exklusion unter den Vorzeichen sozioökonomischer und körperlicher Vielfalt an. So hielten die eindimensionalen Konzepte des Active Aging an einem einseitigen Verständnis von Aktivität im Sinne von Erwerbsarbeit fest und vernachlässigten damit andere Formen

22 Walker (2002), 137. 23 Katz/Calasanti (2015), 29. 24 Ebd., 296. 25 Ranzijn (2010), 716. 26 Ebd., 716.

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der gesellschaftlichen Beteiligung. Damit schlössen sie alle aus, die einer bezahlten Arbeit nicht (mehr) nachgehen, sich jedoch unter Umständen auf eine andere Art gesellschaftlich einbringen, aber auch diejenigen, die unter körperlichen Einschränkungen leiden, sowie hochaltrige Personen im vierten Lebensalter.27 Auch mehrdimensionale Ansätze ließen die letztgenannte Gruppe von vornherein außen vor, da diese per Definition mit verminderter Aktivität assoziiert und gleichsam stigmatisiert sei. Letztlich scheinen sogar Ansätze, die nicht nur eigenständig ausgeführte Handlungen als Gradmesser erfolgreichen Alterns gelten lassen, Hochaltrigkeit kategorisch auszuschließen, da sie zumeist auf Gesundheit als entscheidende Dimension ausgerichtet sind. Die Folge ist eine begriffliche Unschärfe, die insbesondere die Abgrenzung von Konzepten des »gesunden Alterns« erschwert, die sich explizit auf die Erhaltung und Verbesserung der Gesundheit älterer Menschen konzentrieren.28

3. K ERNDIMENSIONEN DES A CTIVE A GING : P RODUKTIVE A KTIVITÄT UND INDIVIDUELLER L EBENSSTIL Moulaert und Biggs rekonstruieren die Entstehung, Entwicklung und Etablierung des Konzeptes »Active Aging« in der internationalen Politik.29 Dabei zeichnen sie den Einfluss der verschiedenen beteiligten Akteure (z.B. G7/G8, OECD, WHO, Vereinte Nationen) und die damit einhergehenden Bedeutungsverschiebungen nach. Ihnen zufolge manifestieren sich in der Konzentration auf Produktivität sowie Gesundheit und Lebensqualität zwei vorherrschende zeitgenössische Narrative des Alterns, die durch »ökonomische Zweckrationalität« (»economic instrumentalism«) und die Vorstellung »umfassender Selbstentfaltung« (»holistic self-development«) bestimmt sind.30 In ihnen scheint letztlich das Leitbild einer produktiven, von individueller Entscheidungsfreiheit geprägten Lebensführung auf.31 27 Boudiny (2013), 1080–1081. 28 Ebd., 1084–1087. 29 Moulaert/Biggs (2013). 30 Ebd., 29. 31 Ebd., 28.

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Als ersten Text, der den Begriff »Active Aging« auf der Ebene der internationalen Politik explizit verwendet, machen die Autoren ein Hintergrundpapier des US-Gesundheitsministeriums mit dem Titel »Active Aging: A Shift in the Paradigm« aus, das im Kontext des G8-Gipfels 1997 entstanden ist. Von hier aus fand das Active Aging seinen Weg in das Kommuniqué des Gipfels.32 Ein Zitat aus diesem Papier veranschaulicht eindrucksvoll, wie die Rede vom aktiven Altern Aktivität als produktive Tätigkeit und Lebensstil als eine Frage individueller Entscheidungen darstellt: »Wir haben die Idee eines ›aktiven Alterns‹ diskutiert – den Wunsch und die Fähigkeit vieler älterer Menschen, bis ins höhere Alter weiter zu arbeiten oder andere sozial produktive Tätigkeiten auszuüben – und waren uns einig, dass überkommene Stereotype von abhängigen, hilfsbedürftigen Senioren aufgegeben werden müssen. Dabei haben wir neue Hinweise berücksichtigt, dass die Invaliditätsraten unter Senioren in einigen Ländern tatsächlich sinken, auch wenn es in puncto Gesundheit natürlich große Unterschiede unter älteren Menschen gibt. Wir haben erörtert, wie das aktive Altern unserer älteren Bürger bei angemessener Berücksichtigung individueller Neigungen und Lebensumstände gefördert werden kann. Dies schließt auch die Beseitigung von Fehlanreizen ein, die einer Erwerbsbeteiligung im Wege stehen, sowie den Abbau von Hürden bei flexiblen Beschäftigungsverhältnissen und Teilzeitarbeit, die in einigen Ländern bestehen. Darüber hinaus haben wir den Übergang von der Arbeit in den Ruhestand diskutiert sowie lebenslanges Lernen und Möglichkeiten zur Förderung ehrenamtlichen Engagements und zur Unterstützung familiärer Sorgebeziehungen.«33

Das Zitat thematisiert die Vorstellung des aktiven Alterns im Kontext der von sozialstaatlichen Vorgaben geprägten modernen Arbeitsbiographie. In diesem ökonomischen Bezugsrahmen wird Aktivität ausschließlich im Sinne von Erwerbsarbeit oder anderen »sozial nützlichen« Aktivitäten definiert und aktives Altern so letztlich mit (ökonomisch) produktivem Altern gleichgesetzt. In dieser Lesart erscheint der Ruhestand in alternden Gesellschaften als eine »Verschwendung von Humankapital«.34 Allerdings bleibt meist unklar,

32 Moulaert/Biggs (2013), 27. 33 G8 (1997), Abs. 7. 34 G7 (1996), 7.

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warum gerade Produktivität eine angemessene Operationalisierung für ›Aktivität‹ sein sollte oder – umgekehrt – was genau an einer solchen Perspektive falsch und zu kritisieren sein sollte. In den folgenden Jahren wurde der Active-Aging-Diskurs von der WHO und den Vereinten Nationen durch ein erweitertes Konzept von Aktivität ergänzt, das sich an der Vorstellung umfassender Selbstentfaltung (holistic self-development) orientiert. Dies führte zu einer ausgewogeneren und differenzierteren Definition des Active Aging im Policy Framework der WHO von 2002: 35 »Aktives Altern bedeutet eine Optimierung der Chancen auf Gesundheit, Teilhabe und Sicherheit, um die Lebensqualität im Alter zu verbessern. Aktives Altern ist als Konzept sowohl auf Einzelpersonen als auch auf Bevölkerungsgruppen anwendbar. Es ermöglicht den Menschen, ihr Potenzial körperlichen, sozialen und geistigen Wohlergehens im gesamten Verlauf ihres Lebens zu verwirklichen und entsprechend ihren Bedürfnissen, Wünschen und Fähigkeiten an der Gesellschaft teilzuhaben und gleichzeitig bei Bedarf angemessenen Schutz, Sicherheit und Betreuung zu erhalten. Das Wort ›aktiv‹ bezieht sich auf die anhaltende Teilnahme an sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen, spirituellen und zivilgesellschaftlichen Angelegenheiten und nicht nur auf die Fähigkeit, körperlich aktiv zu sein oder am Erwerbsleben teilzunehmen.«36

Nichtsdestoweniger bleiben diese Bemühungen der internationalen Politik um ein ganzheitliches Verständnis von aktivem Altern vielfach oberflächlich. Der Diskurs weist weiterhin eine ökonomische Schlagseite auf, eine einseitige Tendenz, Aktivität im Sinne wirtschaftlicher Produktivität zu deuten.37 Empirische Studien zum aktiven Altern stellen in der Regel Erwerbsbeteiligung in den Mittelpunkt. Darüber hinaus betonen konkrete ActiveAging-Strategien auf nationaler Ebene meist zuvorderst wirtschaftliche Aspekte.38 Daher treten bei der konkreten Umsetzung umfassender Konzepte rasch pragmatische Erwägungen in den Vordergrund und weiter reichende

35 Moulaert/Biggs (2013), 28. 36 WHO (2002), 12. 37 Boudiny (2013); Moulaert/Biggs (2013); van Dyk (2014). 38 Boudiny (2013), 1079.

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Perspektiven finden nur solange Akzeptanz, wie sie den Produktivitätsgedanken nicht in Frage stellen.39 So formulierte Walker bei der Vorstellung seiner sieben Prinzipien des aktiven Alterns eine Definition von Aktivität, die sich auf »alle sinnvollen Bestrebungen« beziehen sollte, die »zum Wohlbefinden des betreffenden Individuums, seiner Familie, seines persönlichen Umfelds oder der Gesellschaft insgesamt beitragen«40. Obwohl er ausdrücklich betont, dass Aktivität nicht auf Erwerbstätigkeit reduziert werden sollte, nimmt die Definition Aktivität jedoch keineswegs als Selbstzweck in den Blick, sondern stellt sie in einen Verwertungszusammenhang. Sie betont, dass die Bedeutung der Erwerbsarbeit durch die Anerkennung anderer Arten von Aktivität nicht in Frage gestellt werden dürfe. Vor diesem Hintergrund wird die Idee eines umfassenderen Verständnisses von Active Aging vielfach als »leere Rhetorik« empfunden.41 Allerdings werden Konzepte, die dem Narrativ der umfassenden Selbstentfaltung folgen, nicht nur aufgrund ihrer inkonsequenten Umsetzung, sondern auch ganz grundsätzlich hinsichtlich ihrer evaluativen und normativen Prämissen in Frage gestellt. Insbesondere werden sie als Ausdruck einer zunehmend neoliberalen politischen Agenda kritisiert. Aus dieser Perspektive erscheint »Active Aging« als strategischer Propagandaslogan einer aktivierenden Sozialpolitik und einer grundlegenden »Neuverhandlung des Alter(n)s« in Zeiten des Sozialabbaus, in denen die Alten zugleich als Kostenfaktor und ökonomisch nutzbare Ressource entdeckt werden.42 Dabei kritisiert die Kritische Gerontologie ganzheitliche Ansätzen des Active Aging auch für die durch sie vorangetriebene Responsibilisierung des Alterns.43 So argumentieren etwa Moulaert und Biggs, dass internationale Diskurse zum aktiven Altern im Grunde die neoliberalen Ideen einer nutzbaren Produktivität des Alters transportieren und normalisierend und responsibilisierend wirken.44 Mit der Rede von Identität und persönlicher Entwicklung wird demnach die Verantwortung für das Gelingen oder eben Scheitern des Alterns-

39 Moulaert/Biggs (2013), 29–30. 40 Walker (2002), 124. 41 Boudiny (2013). 42 van Dyk (2014). 43 Cardona (2008). 44 Moulaert/Biggs (2013), 38.

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prozesses letzten Endes an die Individuen selbst delegiert. Tatsächlich interpretiert Walker die WHO-Definition im Sinne von Ratschlägen für eine Lebensführung, die zum Erhalt der körperlichen und geistigen Gesundheit im Alter beitragen soll und eben nicht lediglich zur Verlängerung der Beschäftigungsdauer im Alter.45 Auf diese Weise werden ältere oder allgemein alternde Menschen nicht nur in Bezug auf ihre Leistungsfähigkeit und als Erbringer von Arbeitskraft adressiert. Stattdessen werden sämtliche Bereiche des Alltagslebens unter dem Paradigma der Aktivität und damit als Frage der persönlichen Lebensführung gedeutet. Dabei ignoriert die Annahme, dass der individuelle Lebensstil letztlich entscheidend für das Altern sei, nach Ansicht von Kritikern jedoch den Einfluss sozialer Ungleichheiten und systematischer Benachteiligungen.46 Auch die Vorstellung, dass aktives Altern sowohl dem Individuum als auch der Gesellschaft insgesamt zu Gute komme, indem es Lebensqualität mit produktivem Potential verbindet47, hat Kritik hervorgerufen.48 So gilt die Rede vom aktiven Altern als einer »WinWin-Situation«49 mit Vorteilen für den Einzelnen wie für die Gesellschaft vielen ebenfalls als Ausdruck neoliberaler Ideologie. Die Betonung der Eigenverantwortung fungiert für die Kritische Gerontologie als reiner Vorwand für den Abbau des Sozialstaates und die Verlagerung von Risiken und Kosten auf den Einzelnen. Aus dieser Sicht ist die Responsibilisierung des Alterns nicht mit mehr Agency50 und Empowerment verbunden, sondern nur mit der Überantwortung von Risiken und negativen Konsequenzen des Alterns an das Individuum.

4. A KTIVES A LTERN AUS S ICHT DES GUTEN L EBENS

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Konzepte aktiven Alterns betonen die Potentiale und Möglichkeiten des Alterns und sollen damit vor allem positive Vorstellungen des späteren Lebens

45 Walker (2002), 124. 46 Holstein/Minkler (2003), 787; Katz (2013). 47 Walker (2002), 137. 48 Stückler (2016), 29. 49 van Dyk (2014), 94. 50 Emirbayer/Mische (1998).

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fördern. Die Kritische Gerontologie kritisiert diese Ausrichtung hingegen als Teil einer neoliberalen Ideologie. Dabei liegen beiden Perspektiven moralisch gehaltvolle Annahmen über das Alter und Altern zu Grunde, die allerdings kaum je benannt oder gar begründet werden. Die Explikation dieser impliziten Annahmen kann somit entscheidend zur Klärung und Fundierung der in der Debatte vorgebrachten Positionen und Argumente beitragen. Im Folgenden sollen daher die evaluativen und normativen Prämissen des aktiven Alterns und seiner Kritik vom Standpunkt einer Ethik des guten Lebens betrachtet werden. Eine solche ethische Perspektive rückt allgemein die Frage nach den Bedingungen eines sowohl subjektiv erfüllten als auch objektiv gelingenden Lebens in den Vordergrund. In diesem Rahmen lassen sich die moralischen Aufladungen der Aspekte produktiver Arbeit und individueller Lebensführung ausbuchstabieren und so auch eine fundiertere und differenziertere Auseinandersetzung erzielen. Aus Sicht einer Ethik des guten Lebens wirft schon die zentrale Rolle und positive Bewertung von Aktivität in Ansätzen aktiven Alterns grundlegende Fragen auf: Was genau ist eigentlich so gut daran, aktiv zu sein? Warum sollte Aktivität als solche konstitutiv für ein gutes Leben im Allgemeinen und ein gutes Leben im höheren Alter im Besonderen sein? Im Lichte der philosophischen Überlieferung erscheint eine solche Auffassung jedenfalls alles andere als selbstverständlich. Tatsächlich wurde in maßgeblichen Traditionslinien der antiken und mittelalterlichen Philosophie der geistigen Betrachtung und Kontemplation ein sehr viel höherer Wert beigemessen als praktischen Tätigkeiten. Für Platon und Aristoteles übertrifft ein theoretisches, der intellektuellen Betätigung und Einsicht verpflichtetes Leben (bios theoretikos) alle übrigen menschlichen Lebensweisen an Glück und Dignität.51 Auch für weite Teile der christlichen Theologie erhebt ein der spirituellen Einkehr und Kontemplation gewidmetes Dasein die Gläubigen über weltliche Zwänge und die Unrast alltäglicher Geschäftigkeit und bringt sie damit näher zu Gott.52 Gemäß buddhistischem Denken löst sich der Geist in der Meditation aus den oberflächlichen Illusionen der materiellen Welt und den ruhelosen Interessen und Leidenschaften des praktischen Alltagslebens. Daran anknüpfend versprechen auch moderne Lehren und Übungen der

51 Cooper (1987). 52 Butler (2001).

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Achtsamkeit einen Weg zu höheren Ebenen des Bewusstseins, der Authentizität und der Selbstverwirklichung.53 Auch das Thema Alter und Altern spielt in diesem Zusammenhang von Anfang an eine Rolle. Schon das antike Denken zog immer wieder Verbindungen zwischen theoretischer Weisheit und höherem Lebensalter.54 So ging Platon davon aus, dass das Altern dem Philosophieren zuträglich sei, da es den Geist von körperlichen Trieben, Affekten und Neigungen sowie der Geschäftigkeit des praktischen Lebens befreie und ihn so für wahrhafte Einsicht und Erkenntnis öffne.55 In der modernen Alternsforschung klingen mitunter ganz ähnliche Vorstellungen an. So sah die Disengagement-Theorie der 1960er Jahre den Rückzug aus beruflichen und öffentlichen Verpflichtungen als einen natürlichen und angemessenen Vorgang an, in dem die alternde Person sich dem Rückblick auf ihr vergangenes Lebens sowie Betrachtungen über die Endlichkeit und den nahenden Tod zuwendet.56 Die damit einhergehende Reduktion sozialer Interaktionen wurde dabei nicht selten im Sinne einer Entlastung vom Zwang gesellschaftlicher Normen und der Idee einer »späten Freiheit« gedeutet.57 Gewiss war die Disengagement-Theorie auch ein Kind ihrer Zeit und spiegelte insbesondere die Verhältnisse einer Industriegesellschaft wider, die für ältere Menschen nach der Entbindung aus dem Erwerbsleben kaum mehr positive Identifikationsangebote vorsah.58 Gleichwohl finden sich auch in späteren Alternstheorien durchaus ähnliche Denkansätze. So verbindet auch der Psychologe Erik Erikson das hohe Alter in der Weiterführung seines Stufenmodells der Persönlichkeitsentwicklung mit Weisheit. Sie kommt in der Bewältigung der entscheidenden Entwicklungsaufgabe der letzten Lebensphase zum Tragen: der Auseinandersetzung mit der eigenen Vergänglichkeit, die gelassen zu akzeptieren ist, um sich als Teil eines größeren Ganzen, etwa der Kette der Generationen oder der Menschheit als ganzer zu begreifen.59 In ähnlicher Weise rehabilitiert der Ansatz der

53 Bodhi (2011). 54 Robinson (1990). 55 McKee et al. (2001). 56 Cumming/Henry (1961). 57 Rosenmayr (1987). 58 Estes et al. (1992). 59 Erikson et al. (1997).

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»Gerotranszendenz« Vorstellungen des Disengagements, indem er die zunehmende De-Zentrierung und Überschreitung des eigenen Selbst sowie die Integration in umfassendere Zusammenhänge betont, in der das alternde Individuum die Verbundenheit mit seiner sozialen und natürlichen Umwelt realisiert.60 Auch aktuelle gerontologische Beiträge weisen auf die wichtige Rolle von Achtsamkeit, Transzendenz und Spiritualität für das Wohlergehen älterer Menschen und die Sinnerfahrung im höheren Alter hin.61 Doch selbst wenn wir einräumen, dass der aktiven Betätigung eine zentrale Bedeutung für ein gutes Leben im Alter zukommt, bleibt die Frage, ob dies wirklich für jede beliebige Aktivität gleichermaßen gilt. Aus ethischer Sicht ist für die Bewertung von Aktivitäten jedenfalls entscheidend, um welche Form von Aktivität es sich genau handelt, in welchem Kontext sie stattfindet und zu welchen Ergebnissen sie führt. In ihrem wegweisenden Werk Vita Activa oder Vom tätigen Leben unterscheidet die Philosophin Hannah Arendt paradigmatisch drei Formen menschlichen Tätigseins: Arbeiten, Herstellen und Handeln.62 Der Begriff des Arbeitens umfasst instrumentelle Tätigkeiten zur Erfüllung menschlicher Grundbedürfnisse, zur Sicherung des Überlebens und zur Erhaltung der Familie. Dabei betont Arendt, dass diese Form von Aktivitäten traditionell in den privaten Bereich gehörten und als niedere Tätigkeiten angesehen wurden, weil sie lediglich den Notwendigkeiten der biologischen Selbsterhaltung dienten und nicht die handwerkliche Meisterschaft oder die Würde der freien Staatsbürgerschaft widerspiegelten.63 Die Kategorie des Herstellens umfasst technische Tätigkeiten, die einer gewissen Geschicklichkeit und Kunstfertigkeit bedürfen und an deren Ende ein bestimmtes Ergebnis oder Produkt steht, z.B. handwerkliche oder künstlerische Tätigkeiten. Sie weisen nach Arendt über das Privatleben hinaus und haben einen spezifischen Wert, da sie zur Ausbildung individueller Fähigkeiten und zum Aufbau einer gemeinsamen kulturellen Welt beitragen.64 Der Begriff des Handelns schließlich bezieht sich auf öffentliche Aktivitäten und Interaktionen als Bürgerinnen und Bürger einer politischen Gemeinschaft. Sie sind für Arendt von höchstem und intrinsischem Wert, da allein sie die

60 Tornstam (1989). 61 Ardelt/Ferrari (2018); Bester et al. (2016); Thauvoye et al. (2018). 62 Arendt (1958/1998). 63 Ebd., 79–135. 64 Ebd., 136–174.

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öffentliche Manifestation des Selbst sowie die kollektive Regelung der gemeinsamen Angelegenheiten (res publica) ermöglichen und fördern.65 Allerdings ist das moderne Leben aus Arendts Sicht wesentlich durch technischen Fortschritt und Industrialisierung geprägt und daher vor allem mit industrieller Erwerbsarbeit und technischen Herstellungsprozessen beschäftigt, während das klassische republikanische Ideal des politischen Handelns, der individuellen Selbstdarstellung, öffentlichen Interaktion und kollektiven Selbstregierung in Vergessenheit geraten ist und zurückgewonnen werden muss.66 Von diesen philosophischen Überlegungen aus ergeben sich wichtige Bezüge zu den sozialgerontologischen Debatten über aktives Altern. So spiegeln zunächst auch viele zeitgenössische gerontologische Ansätze die moderne Fixierung auf Arbeit wider, die Arendt diagnostiziert. Gerade frühe soziologische Theorien des Alterns im Kontext des Strukturfunktionalismus scheinen vor allem das Wertesystem und die Prioritäten der modernen Industriegesellschaft zur Geltung zu bringen.67 Tatsächlich fassen sowohl die Disengagement- als auch die Aktivitätstheorie ungeachtet ihrer diametral entgegengesetzten Ausrichtung beide den Übergang vom Arbeitsleben in den Ruhestand als den entscheidenden Prozess, der die Altersphase mitsamt ihren charakteristischen Möglichkeiten und Herausforderungen definiert. Während die erstere im Grunde mit dem Gedanken des »Ruhestandes« Ernst macht, propagiert die letztere eine »Ethik der Geschäftigkeit«68, die auf die Aufrechterhaltung der Aktivitätsniveaus des mittleren Erwachsenenalters abzielt.69 Beiden Theorien fehlt jedoch der Sinn für Bedeutungsdimensionen des Alterns, die über den institutionalisierten Lebenslauf der modernen Industriegesellschaft und ihrer wohlfahrtsstaatlichen Verwaltung hinausweisen. Selbst Beiträge, die die Relevanz von nicht-beruflichen Aktivitäten wie handwerklichen Tätigkeiten und bürgerschaftlichem Engagement anerkennen, scheinen dabei letztlich immer auf einen instrumentellen Nutzen zu schielen, sei es für das psychische Wohlbefinden des Individuums oder die

65 Arendt (1958/1998), 176–247. 66 Ebd., 248–326 67 Estes et al. (1992). 68 Ekerdt (1986). 69 Katz (2000).

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gesamtgesellschaftliche Wohlfahrt.70 Was in dieser utilitaristischen Perspektive fehlt, ist ein Bewusstsein dafür, dass solche Aktivitäten nicht nur eine therapeutische oder ökonomische Funktion haben, sondern auch einen inhärenten Wert für ein gutes Leben im hohen Alter, da sie für personale Identität, sinnvolle Praxis und letztlich für das menschliche Gedeihen überhaupt konstitutiv sind. In der Tat unterstreichen neuere gerontologische Studien die Bedeutung handwerklicher Freizeitaktivitäten, ehrenamtlicher Tätigkeiten und politischen Engagements für Erfüllung und Sinn im späteren Leben.71 Doch auch wenn wir den ›produktivistischen‹ Fokus vieler Konzeptionen aktiven Alterns akzeptieren, können die eingeführten philosophischen Unterscheidungen dazu beitragen, die ethischen Probleme der zugrundeliegenden ökonomischen Engführung von Produktivität zu verdeutlichen. Für Arendt ist die eigentlich produktive Tätigkeit das Herstellen, da es zur Schaffung dauerhafter Artefakte und damit zum Aufbau einer gemeinsamen objektiven Welt, einer wahrhaft humanen Kultur führt.72 Dagegen hält sie die Arbeit nicht für produktiv in diesem substantiellen Sinne, da sie Teil des Prozesses der bloßen biologischen Selbsterhaltung und Bedürfnisbefriedigung ist und kein wirkliches Telos, kein Endziel und keine spezifische Vollendungsgestalt vorsieht. Gelegentlich scheint Arendt hier fast mit Albert Camus übereinzukommen, der die moderne Industriearbeit mit den sinnlosen und absurden Aktivitäten vergleicht, zu denen Sisyphos und die anderen Bewohner der Unterwelt der griechischen Mythologie auf ewig verdammt sind.73 So gesehen kranken viele Vorstellungen aktiven Alterns nicht nur an einer Reduktion von Aktivität auf produktive Aktivität, sondern auch an einer Reduktion von Produktivität auf etwas letztlich vollkommen Unproduktives und Sinnloses: die Beteiligung des Menschen an dem end- und ziellosen »Stoffwechsel mit der Natur« (Marx). Diese Perspektive bietet somit eine wichtige normative Grundlage und Differenzierung für die gerontologische Kritik eines ökonomischen Instrumentalismus. Plakativ gesagt: Problematisch an diesem Paradigma ist, dass es letztlich die ethisch maßgebliche Unterscheidung zwischen den Notwendigkeiten des nackten Überlebens und der

70 van Dyk (2014). 71 Kenning (2015); Kruse/Schmitt (2015); Morrow-Howell et al. (2003). 72 Arendt (1958/1998), 136–139. 73 Ebd., 96–101.

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inneren Dignität und Vollendung eines guten, gelingenden und erfüllten Lebens einebnet. Unter dem Strich erweist sich Hannah Arendts philosophische Typologie und ihre Bewertung verschiedener Arten von Tätigkeiten somit als durchaus hilfreich, um die evaluativen und normativen Prämissen der Kritik am aktiven Altern ethisch auszubuchstabieren und zu untermauern. Tatsächlich verweist ihr Ansatz mit der Wertschätzung des Konzepts des (politischen) Handelns auch bereits auf eine positive Vision von Aktivität im Alter. Allerdings ist die Unterscheidung zwischen Arbeiten, Herstellen und Handeln auf einer eher abstrakten und allgemeinen handlungstheoretischen Ebene angesiedelt und ihre Verschränkung mit unterschiedlichen Lebenssphären verschiedentlich kritisiert worden. Eine differenziertere Darstellung des Wertes verschiedener menschlicher Aktivitäten könnte noch konkretere und zeitgemäßere Anhaltspunkte für die gerontologische Verständigung über das aktive Altern und insbesondere für die Entwicklung einer umfassenderen positiven Konzeption guten Alterns liefern. Eine solche Darstellung wurde etwa von der Philosophin Martha C. Nussbaum im Rahmen ihres Befähigungsansatzes entwickelt.74 Ähnlich wie Arendts Überlegungen zur vita activa geht auch der Befähigungsansatz von einer ethischen Bewertung menschlicher Aktivitäten aus. Nach Nussbaum ist die zentrale Frage der politischen Ethik: »Was kann jeder Mensch tun und sein?«75. Entsprechend definiert sie Aktivitäten und Aspekte des Lebens, die ihr zufolge Kernelemente menschlichen Wohlergehens und Gedeihens darstellen, so dass jede politische Gemeinschaft die Verantwortung hat, sie zu sichern und zu fördern.76 Konkret nennt Nussbaum eine Reihe grundlegender Bereiche menschlicher Erfahrung und entsprechender Tätigkeiten, die jeder Mensch verwirklichen können muss, um überhaupt die Möglichkeit zu haben, ein gutes Leben zu führen. Die resultierende Liste stellt eine offene Zusammenstellung zentraler Befähigungen dar, die notwendige Voraussetzungen für menschliches Gedeihen und ein menschenwürdiges Dasein bilden.77 Sie bezieht sich zunächst auf elementare Bedürfnisse und Anforderungen wie die Möglichkeit, bis zum Ende eines vollen Menschenlebens normaler Länge zu leben, ohne

74 Nussbaum (2011). 75 Ebd., 18. 76 Ebd. 77 Ebd., 33–34.

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vorzeitig zu sterben (Leben), oder sich guter Gesundheit zu erfreuen, sich ausreichend zu ernähren und eine angemessene Unterkunft zu haben sowie sich frei von Ort zu Ort zu bewegen, vor gewaltsamen Übergriffen sicher zu sein und über reproduktive Autonomie zu verfügen (körperliche Integrität). Weitere Grundbefähigungen verweisen auf die sinnlichen, emotionalen und intellektuellen Dimensionen der menschlichen Existenz, etwa die Fähigkeit, Bindungen zu Dingen und anderen Menschen zu entwickeln und Liebe, Trauer, Sehnsucht, Dankbarkeit sowie berechtigte Wut zu erleben (Gefühlserfahrung), die Fähigkeit, sich seiner fünf Sinne zu bedienen und Vorstellungskraft und Intellekt in einer wahrhaft menschlichen Weise zu betätigen (kognitive Fähigkeiten) sowie die Fähigkeit, sich eine Vorstellung vom Guten zu machen und sich kritisch mit der Planung des eigenen Lebens auseinanderzusetzen (Vorstellung vom Guten). Eine dritte Gruppe von Grundbefähigungen umfasst schließlich die Fähigkeit, Beziehungen aufzunehmen und an Interaktionen teilzunehmen, die für ein sinnvolles menschliches Leben konstitutiv sind, insbesondere die Fähigkeit, in Beziehungen mit anderen Menschen zu leben, sie anzuerkennen und sich um sie zu kümmern (Sozialität), Beziehungen zu Tieren, Pflanzen und zur Natur insgesamt zu unterhalten (ökologische Verbundenheit) oder Freude an spielerischer Betätigung und Freizeitaktivitäten zu haben (Freizeitgestaltung), sowie die Fähigkeit, sich an politischen Entscheidungen zu beteiligen, die für das eigene Leben von Belang sind (Kontrolle über die eigene Umwelt). Auch wenn diese Liste wesentliche Bedingungen für ein gutes Leben zu umfassen scheint, bedarf sie im Hinblick auf das Altern und Alter noch der Spezifikation.78 Tatsächlich erscheinen nicht alle Befähigungen gleichermaßen relevant und aussagekräftig für ethische Diskussionen über das spätere Leben. Insbesondere die Kriterien des Lebens und der körperlichen Gesundheit sind zu allgemein gefasst, um mit Blick auf das höhere Lebensalter wirklich aufschlussreich zu sein. So erscheint keineswegs ausgemacht, was genau eine ›normale Lebensspanne‹ oder eine ›gute Gesundheit‹ in diesem Zusammenhang bedeuten. Sind etwa medizinische Maßnahmen, die in jüngeren Jahren als lebensverlängernd oder gesundheitserhaltend angesehen werden, auch für Menschen im höheren und höchsten Alter standardmäßig vorzuhalten?79 Darüber hinaus scheinen einige der bei Nussbaum erörterten Aspekte

78 Ehni et al. (2018). 79 Kaufman (2015).

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vorrangig auf das mittlere Erwachsenenalter ausgerichtet zu sein. Es ist etwa nicht klar, inwiefern Reproduktion als Teil eines guten Lebens im höheren Alter angesehen und daher z.B. durch solidarische Leistungen wie die Kostenübernahme für Reproduktionstechnologien unterstützt werden muss.80 Andere Befähigungen hingegen sind für das Alter schon auf den ersten Blick offensichtlich von hoher Relevanz. Dies gilt insbesondere für den Aspekt der körperlichen Integrität, einschließlich der Fähigkeiten, sich frei zu bewegen, sich vor gewalttätigen Übergriffen zu schützen und sexuelle Befriedigung zu finden. Sie werden bei älteren Menschen vielfach eingeschränkt, gerade wenn sie hilfsbedürftig sind und in entsprechenden Betreuungsverhältnissen oder Pflegeeinrichtungen leben.81 Auch die Betätigung von Sinnen, Vorstellungskraft und intellektuellen Fähigkeiten ist für das Alter von erheblicher Bedeutung. Mit ihr bringt der Befähigungsansatz auch die im Diskurs über das aktive Altern weitgehend vernachlässigten kontemplativen Dimensionen der menschlichen Existenz zur Geltung. Ihm zufolge muss die Fähigkeit zur Entfaltung von Phantasie und Intellekt, zum Beispiel im Zusammenhang mit dem Erleben oder der Herstellung von Kunstwerken, als zentrale Dimension des guten Lebens im höheren Alter betrachtet werden.82 Tatsächlich unterstreichen neuere gerontologische Studien das Potenzial kreativer Aktivitäten für das Wohlergehen älterer Menschen.83 Dasselbe gilt für Befähigungen, die mit Emotionen zu tun haben. Die Möglichkeit, emotionale Bindungen zu Dingen und Menschen aufzubauen und zu unterhalten, zu lieben, zu trauern, Sehnsucht, Dankbarkeit und Wut zu erfahren, ist auch und gerade im späteren Leben von vitaler Bedeutung. Die gerontologische Forschung weiß schon lange, dass ein emotional reiches und erfülltes Leben in Beziehungen zu anderen eine zentrale Voraussetzung für Wohlbefinden im Alter darstellt.84 Die Möglichkeit, sich eine Vorstellung vom Guten zu machen und über die eigene Lebensplanung nachzudenken, wird dagegen erst in jüngster Zeit als berechtigtes Anliegen des höheren Alters anerkannt, wo einst weithin defätistische und nihilistische Ansichten vorherrschten und positive Ideale oder 80 Rimon-Zarfaty/Schweda (2019). 81 Tuominen et al. (2016). 82 Die Frage, welche Implikationen Nussbaums Ansatz für Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen wie z.B. fortgeschrittener Demenz hat, wird allerdings kontrovers diskutiert. Vgl. Nussbaum (2009). 83 Creech et al. (2013); Reynolds (2010). 84 Courtin/Knapp (2017).

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sinnvolle Vorbilder für Ältere oft noch immer fehlen.85 Aspekte der sozialen Zugehörigkeit und Interaktion sind im Alter außerordentlich wichtig, nicht nur aufgrund ihrer therapeutischen oder ökonomischen Funktion, sondern auch als integraler Bestandteil eines guten menschlichen Lebens älterer Menschen. Die Fähigkeiten, andere Wesen und die Natur zu erleben und sich spielerisch zu betätigen, erscheinen besonders interessant, da sie offenkundig über die ökonomistische und produktivistische Ausrichtung aktiven Alterns hinausweisen, aber gleichwohl als wesentliche Optionen eines guten Lebens im Alter angesehen werden müssen. Entsprechend macht auch die zeitgenössische gerontologische Forschung Tätigkeiten wie Gartenarbeit oder Spielen als wichtige Faktoren für das Wohlergehen im späteren Leben aus.86 Das Gleiche gilt für die Befähigung, sich an politischen Entscheidungen zu beteiligen, die das eigene Leben betreffen. Diese Perspektive reicht über ein wirtschaftlich verwertbares bürgerschaftliches Engagement hinaus und erfordert stattdessen Möglichkeiten substantieller politischer Teilhabe im Alter, unabhängig von ihrem volkswirtschaftlichen Nutzen. Tatsächlich zeigen auch neuere gerontologische Arbeiten ein zunehmendes Bewusstsein für die Wechselwirkungen zwischen Wohlergehen und politischer Beteiligung im Alter.87

5. S CHLUSS

UND

A USBLICK

In Abgrenzung von früheren defizitorientierten Vorstellungen von unvermeidlichem Niedergang und sozialem Rückzug zielt der Diskurs über das aktive Altern auf ein positives Bild des späteren Lebens. Die Frage, warum ausgerechnet fortwährende Aktivität eine vielversprechende und lohnenswerte Perspektive für ältere Menschen eröffnen sollte, wird allerdings kaum erörtert, geschweige denn beantwortet. Die wiederkehrenden Verweise auf Gesundheit, gesellschaftlichen Nutzen und wirtschaftliche Wohlfahrt helfen hier nur bedingt weiter, da nicht klar ist, warum und inwieweit Gesundheit, Nutzen und Wohlfahrt ihrerseits überhaupt als wertvoll angesehen werden

85 Moody (1992); Riley et al. (1994). 86 Gerling et al. (2015); Scott et al. (2015). 87 Barnes et al. (2018).

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sollten. Im Zentrum des Diskurses über aktives Altern steht so ein weitgehend unartikuliertes Ideal eines guten Lebens im höheren Alter. Dieses unartikulierte Ideal macht politische Strategien aktiven Alterns zum leichten Ziel für Kritik. Insbesondere Vertreterinnen und Vertreter der Kritischen Gerontologie wenden ein, dass solche Programme verzerrte Modelle des Alterns propagieren, deren politische Umsetzung ganze Gruppen von älteren Menschen diskriminiert und ausschließt. Doch solange die zugrundeliegende ethische Frage des guten Lebens im Alter nicht ausdrücklich erörtert wird, vollzieht sich die gesamte Auseinandersetzung auf unsicherem Grund. Die Tatsache, dass die Kritiker sich auf eine andere Art moralphilosophischer Maßstäbe berufen, nämlich auf gerechtigkeitsethische Normen, trägt nicht zur Lösung des Problems bei. Schließlich wäre der Ausschluss von einer Lebensweise, die sich letztlich als unattraktiv und wertlos herausstellte, nicht unbedingt als eine Ungerechtigkeit anzusehen (vielleicht sogar im Gegenteil). Umgekehrt allerdings würde ein System von moralischen Normen und politischen Regelungen, das auf einem fehlgeleiteten Ideal der menschlichen Existenz beruht, letztlich alle bei der Verwirklichung eines guten Lebens behindern. Wie Walsh, Scharf und Keating feststellen, ist die Forschungslage im Bereich der sozialen Ausgrenzung im Alter noch immer vergleichsweise dürftig.88 Die vorhandenen empirischen Studien konzentrieren sich häufig auf Probleme der Arbeitsmarktintegration und ignorieren daher Formen der Ausgrenzung in zahlreichen anderen sozialen Bereichen sowie die Frage ihrer intersektionalen Wechselwirkung. Auf diese Weise läuft die kritische Sozialforschung zur Ausgrenzung im Alter Gefahr, denselben konzeptionellen Verkürzungen verhaftet zu bleiben, die bereits in den kritisierten Vorstellungen vom aktiven Altern selbst angelegt sind. Darüber hinaus beklagen Walsh, Scharf und Keating, dass die bestehenden Bemühungen und Diskussionsbeiträge sich in der Regel innerhalb der Grenzen ihrer jeweiligen Teildisziplinen bewegen, so dass ihnen nicht nur möglicherweise relevante empirische Erkenntnisse entgehen, sondern auch Potenzial für eine kritische Theoriebildung über soziale Ausgrenzung älterer Menschen verschenkt wird.89

88 Walsh et al. (2016), 81. 89 Ebd., 82.

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Unsere Analyse unterstreicht den Mehrwert eines solchen interdisziplinären Ansatzes. Eine ethische Analyse kann dazu beitragen, evaluative und normative Vorannahmen zu klären und damit die argumentativen Grundlagen der Diskussion zu stärken. Sie macht zunächst deutlich, dass die Betonung von Aktivität keineswegs selbstverständlich ist und andere wertvolle Dimensionen menschlichen Lebens vernachlässigt, die gerade für viele ältere Menschen bedeutsamer und auch naheliegender sein könnten, z.B. intellektuelle, ästhetische oder spirituelle Erfahrungen. Darüber hinaus hilft die ethische Unterscheidung verschiedener Arten menschlicher Aktivitäten zu erklären, was genau das Problem von ökonomistischen Konzepten aktiven Alterns ist. Ein Verständnis von Aktivität im Sinne wirtschaftlicher Produktivität bleibt einem verengten, einseitig an Erwerbsarbeit ausgerichteten Modell sinnvollen Handelns verhaftet und vernachlässigt dabei andere, produktivere und wertvollere Arten von Aktivitäten, die zu einem guten Leben im Alter beitragen können – insbesondere Selbstsorge, künstlerische und handwerkliche Betätigung sowie politische Beteiligung. Schließlich kann ein Befähigungsansatz einen Ausgangspunkt für die Formulierung eines tatsächlich umfassenden Konzepts individueller Selbstentfaltung und einer systematischen Matrix von Aspekten und Dimensionen guten Lebens im Alter bieten. Mit seinem breiten und offenen anthropologischen Ansatz kann er dazu beitragen, Defizite zeitgenössischer Ideale des Alterns aufzudecken und die Bedeutung verschiedener Aspekte guten Lebens im höheren Alter zu erhellen. Natürlich muss die weitere empirische Forschung die tatsächliche subjektive Bewertung verschiedener Dimensionen des späteren Lebens aus Sicht älterer Erwachsener sowie die Rolle weiterer individueller Faktoren untersuchen, z.B. die der Resilienz.90 Damit könnte die gerontologische Forschung im Gegenzug gleichzeitig auch zu einer Erweiterung und Konkretisierung des Befähigungsansatzes im Hinblick auf das höhere Lebensalter beitragen. Aus einer ethischen Perspektive lässt sich verdeutlichen, was genau an voreingenommenen und einseitigen Idealen guten, gelingenden Alterns moralisch problematisch ist: Indem sie relevante Dimensionen menschlicher Werterfahrung und Selbstverwirklichung ausblenden, missachten oder benachteiligen sie bestimmte Lebensformen im Alter und untergraben so letztlich auch ihre öffentliche Anerkennung und politische Unterstützung. Gleichzeitig eröffnet die kritische Analyse auch konstruktive Perspektiven

90 Z.B. Kok et al. (2015); Kok et al. (2018).

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für ein mehrschichtiges Modell einer inklusiven Alternspolitik. So hilft ein Befähigungsansatz bei der Definition gesellschaftflich-politischer Mindeststandards, die erfüllt sein müssen, um im Alter ein menschenwürdiges Leben führen zu können. Insbesondere prekäre Lebenssituationen und soziale Ungleichheiten, die das Leben, die körperliche Integrität und die persönliche Freiheit im Alter bedrohen, müssen klar benannt und entschlossen bekämpft werden. Gleichzeitig sollte ein integrativer Begriff des guten Lebens im Alter allerdings auch die zunehmende Pluralität der individuellen Lebensstile und Lebenslagen berücksichtigen, die gerade das spätere Leben kennzeichnet. Über das grundlegende Niveau der Grundbedürfnisse und -fähigkeiten hinaus ist die Sozialpolitik in modernen liberalen Demokratien daher gut beraten, ein Spektrum legitimer Differenz und Diversität zuzulassen und damit Raum für individuelle Interpretationen und Priorisierungen verschiedener Aspekte des guten Lebens wie ästhetischer Erfahrung und Produktion, handwerklicher Betätigung oder aktiven politischen Engagements zu lassen. Nur so lässt sich die Fülle der Möglichkeiten, auch im späteren Leben Wert zu erfahren, voll ausschöpfen. Danksagungen Dieser Artikel ist im Rahmen des Projektes »Erfolgreiches = gesundes = gutes Altern?« gefördert vom Bundesministerium für Gesundheit (Förderkennzeichen ZMV I 1-2516 FSB 017) entstanden. Er stellt eine überarbeitete Version der folgenden Veröffentlichung dar: Pfaller, Larissa/Schweda, Mark (2019): »Excluded from the Good Life? An Ethical Approach to Conceptions of Active Ageing«, in: Social Inclusion 7, 3 (2019), 44–53. Open Access: https://www.cogitatiopress.com/socialinclusion/article/view/1918/1918. Wir danken Lena Stange und Tobias Schramm für die Unterstützung bei der Übertragung ins Deutsche.

LITERATUR Ardelt, Monika/Ferrari, Michel (2018): »Effects of wisdom and religiosity on subjective well-being in old age and young adulthood: Exploring the pathways through mastery and purpose in life«, in: International Psychogeriatrics, 31, 4 (2018), 477–489.

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Menschenrechte und Fairness in der Versorgung dementer Patient*innen Ethische Überlegungen auf dem Weg zu einer altersund demenzgerechten Versorgung im Krankenhaus L UTZ B ERGEMANN

1. H INFÜHRUNG : M ENSCHENRECHTE , W ÜRDE UND DIE REALE P RAXIS DER C HANCENUNGLEICHHEIT »Where after all, do universal human rights begin? In small places, close to home – so close and so small that they cannot be seen on any maps of the world. Yet they are the world of the individual person; […] unless these rights have meaning there, they have little meaning anywhere.« (Eleanor Roosevelt)1 »Probleme bestehen oft auf der Beziehungsebene: sich einlassen, Empathie und Zuverlässigkeit bzw. Stabilität in der Beziehung herzustellen. Das wollen die Chefs oft gar nicht. Der Stil ist eher, am Fließband einzelne Tätigkeiten abzuspulen, als dass sich einer mal kontinuierlich um eine Person kümmert, weil der das gut tut.« (Dr. Beate Baumgarte, Deutsche Gesellschaft für Gerontopsychiatrie und -psychotherapie e.V.)2

Die Feststellung Eleanor Roosevelts zur Relevanz von Menschenrechten und Menschenrechtsprinzipien wie Fairness und Gerechtigkeit in der lebenswelt-

1

Zitiert in Scottish Human Rights Commission (o.J.), 18.

2

Zitiert in Kirchen-Peters/Krupp (2019), 13.

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lichen Realität jeder einzelnen Person hat nichts von ihrer Brisanz und Bedeutung verloren, wie das zweite Zitat von Beate Baumgarte zeigt: Besonders in den Kontexten der Versorgung und Pflege alter, kranker Personen muss sie von den Pflegenden und Behandelnden immer wieder als Appell gehört und bewusst gemacht werden. In jeder Situation sind die zu Behandelnden und zu Pflegenden in ihrer Abhängigkeit und ihrer Verletzlichkeit wahrzunehmen: Zu einer guten Versorgung und zu ihrem Schutz gehört es ganz wesentlich, ihre Rechte zu achten, denn diese sollen gewährleisten, dass Abhängigkeiten und Verletzlichkeiten gerade auf der strukturellen Ebene und der Ebene der Institutionen, in denen behandelt und gepflegt wird, nicht zum Nachteil der Betroffenen ausgenutzt werden. Denn auch hier besitzen die persönliche Lebenswelt der Menschen sowie deren unmittelbares Erleben der eigenen Befindlichkeiten und Bedürfnisse handlungsrelevante Bedeutung.3 Der Grund dafür ist darin zu sehen, dass das fundamentale Prinzip der universellen, unverlierbaren Menschenwürde in seiner konkreten, empirischkontingenten Bedeutung für den einzelnen Menschen wesentlich mit dem Erleben der eigenen Würde, d.h. dem persönliche Würdeempfinden, verbunden ist. Damit wird zugleich »eine Brücke [geschlagen], zwischen dem Bekenntnis zur Menschenwürde als axiomatischem Prinzip einerseits und der konkreten Lebenswelt der Menschen andererseits, die so gestaltet sein muss, dass diese tatsächlich die Möglichkeit haben, ein Bewusstsein ihrer eigenen Würde und der Würde anderer zu entwickeln«.4

Dieses persönliche Würdeempfinden ist stark situationsabhängig. Es lässt die Abhängigkeit des einen Menschen von anderen Menschen sowie von den Umständen, unter denen die aktuelle Beziehung gestaltet wird, deutlich hervortreten. Aus einem derartigen Blickwinkel zeigt sich Menschenwürde zwar zum einen als hochgradig situationsgebunden und prekär, zugleich offenbart sich aber auch ihr Potenzial zur konkreten Ausdifferenzierung bzw. Anwendbarkeit und Beachtlichkeit in den Kontexten medizinischer Versorgung. Würdeverletzungen sind hier zu begreifen als Handlungen, die in einer

3

Die Menschenrechte selbst bringen in der UN-Behindertenrechtskonvention diesen Anspruch im Konzept des »sense of dignity« zum Ausdruck, siehe Bielefeldt (2016), 29–30 und (2018), 33 sowie Bergemann (2018), 74–81.

4

Bielefeldt (2016), 30.

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»Entfremdung und Beraubung unserer einzigartigen menschlichen Vermögen«5 resultieren. Menschen müssen daher z.B. auch in Kliniken so versorgt werden, dass sie darin gestärkt und unterstützt werden, die ihnen erhaltenen Fähigkeiten soweit möglich zu erhalten bzw. nicht zu verlieren, und sie sich immer in ihrem individuellen Personsein erleben können, d.h. dass ihre Bedürfnisse z.B. nach Geborgenheit und Beschäftigung als wichtig anerkannt werden und ihnen die Möglichkeit gegeben wird, sie bestmöglich zu befriedigen. Zugleich sind gerade auch Menschen mit Demenz im Krankenhaus vor den von Kitwood beschriebenen »17 Formen des Umgangs mit Menschen mit Demenz« zu schützen, die er nach Langner (2020) einer »malignen Sozialpsychologie« zuschreibt: »Betrug, zur Machtlosigkeit Verdammen, Infantilisieren, Einschüchtern, Etikettieren, Stigmatisieren, Überholen, Entwerten, Verbannen, zum Objekt Erklären, Ignorieren, Zwang, Vorenthalten, Anklagen, Unterbrechen, Lästern, Herabwürdigen«.6

Um ihre Vermögen zu verwirklichen, ihre Bedürfnisse zu befriedigen und um vor negativen Handlungen geschützt zu sein, brauchen Menschen allerdings einen unterschiedlichen Aufwand an Ressourcen und Unterstützung, um das gleiche Maß an Umsetzung, Verwirklichung und Schutz zu erreichen bzw. zu empfinden.7 Entlang des normativen menschenrechtlichen Prinzips der Gerechtigkeit als Fairness und des Prinzips der mit dieser Gerechtigkeitsvorstellung verwobenen Diskriminierungsfreiheit sowie der damit verbundenen Forderung nach Barrierefreiheit, Partizipation und Inklusion sind dann die Realisierungsbedingungen individuell erlebter und gelebter Würde zu denken.8 Die kranke Person ist also immer so wahrzunehmen und zu behandeln, dass sie in ihren (noch) verfügbaren Ressourcen und Möglichkeiten, sich selbst zu bestimmen und der eigenen Autonomie Ausdruck zu verleihen, fachgerecht gefördert, unterstützt und befähigt wird, z.B. bevor jemand an

5

Bergoffen (2013), 58.

6

Langner (2020), 34.

7

Vgl. u.a. Munk (2013), 92–94.

8

Siehe Curtice/Exworthy (2010), 152; Bergemann (2018), 83, Anm. 30 sowie Bielefeldt (2019), 38–50.

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ihrer Stelle entscheidet.9 Derart betrachtet wird Selbstbestimmung zu einem »humanen Beziehungsbegriff«,10 der zahlreiche, konkrete Pflichten hinsichtlich seiner differenzierten, konkreten Umsetzung und Beachtung in sich trägt.11 Man spricht in diesem Fall passenderweise von relationaler Autonomie, einer Autonomie, die direkt mit den Prinzipien der Fürsorge und der Partizipation verschränkt ist (siehe unten Kapitel 3: Selbstbestimmung und Selbstbefähigung in Situationen passiver Relationalität). In diesem Zusammenhang ist es umso bedenklicher, wenn immer noch konstatiert werden muss, dass »für Menschen mit einer Demenz [...] Krankenhäuser [...] besonders ungünstige Orte [sind]«, weil »ein sensibler Umgang mit den [demenzerkrankten Menschen] und ihren Bedürfnissen [dort] viel zu selten [gelingt]«.12 Zugleich ist mit Claudia Mahler zu konstatieren, dass zentrale Rechte älterer Menschen wie z.B. auf Gesundheit, körperliche Unversehrtheit, Freiheit der Person oder Selbstbestimmung ebenso missachtet werden wie die des Pflegepersonals aufgrund widrigster Arbeitsbedingungen.13 Es darf durchaus angenommen werden, dass sich diese beiden Defizite wechselseitig bedingen und sogar verstärken, denn es ist die Missachtung »von Menschenrechtsprinzipien wie Nicht-Diskriminierung, Teilhabe, Autonomie und Inklusion«,14 die zu einer problematischen Versorgung von Menschen mit Demenz in der Klinik führt. Leider haben bisher die Menschenrechte und die sie fundierenden Prinzipien keine ausreichende Berücksichtigung bei der Bestimmung der Versorgungs- und Pflegequalität in

9

Siehe Bielefeldt (2019), 53.

10 Ebd., 54. 11 Vgl. konkret zur Förderung und Achtung von Autonomie in der stationären Altenpflege Trost (2018). 12 Für beide Zitate siehe Kirchen-Peters/Krupp (2019), 6. Vgl. auch ebd., 9: »Trotz des allgemeinen Auftrags und des grundsätzlichen Selbstverständnisses der medizinischen und pflegerischen Professionen, für alle Patienten eine bedarfsgerechte Versorgung sicherzustellen, gelingt dies für Patienten mit der Nebendiagnose Demenz nicht flächendeckend.« D.h. das Menschenrecht auf Gesundheit kann für diese Patientengruppe in (zu) vielen Fällen nicht gewährleistet werden. Vgl. auch Brandenburg (2018), 192. 13 Mahler (2018), 15. 14 Ebd., 17.

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Deutschland gefunden.15 Hier liegt – wie auch unten in Kapitel 2 ausgeführt wird – ein zentraler Missstand vor, der durch die verantwortlichen Institutionen dringend behoben werden sollte. Wie das gelingen kann, ließe sich u.a. aus dem von der Robert Bosch Stiftung 2019 vorgelegten Praxisleitfaden zum Aufbau demenzsensibler Krankenhäuser,16 der Charta der Rechte hilfeund pflegebedürftiger Menschen und den mit der Charta zusammen zu verwendenden Arbeitsinstrumenten ableiten,17 wenn die verantwortlichen Stakeholder daran auch nur das geringste Interesse zeigen. Dies gilt es in den nächsten Jahren zu prüfen. Bisher wurden in diesem Bereich offenbar flächendeckend keine ausreichenden Fortschritte gemacht. Für die Betroffenen (Menschen mit Demenz und diejenigen, die sie pflegen) bedeutet dies aktuell das Erleben einer Ungerechtigkeit, die zu massiven und erheblichen Beeinträchtigungen des individuellen Würdeempfindens führen kann (und führt). Das ist nicht hinzunehmen.

2. G ERECHTIGKEIT

UND

D EMENZSENSIBILITÄT

Um eine bessere Versorgung alter und an einer Demenz erkrankter Personen im Krankenhaus zu ermöglichen, ist zunächst eine Orientierung der gesamten Institution am Prinzip einer gerechten Versorgung notwendig. Deren Gewährleistung in der Praxis ist u.a. im Menschenrecht auf Gesundheit durch die Beachtung der Kategorien Availability (Verfügbarkeit), Accessibility (offener Zugang), Acceptability (Annehmbarkeit) und Quality (Qualität, d.h. mindestens angemessene Versorgung nach wissenschaftlichen und medizinischen Gesichtspunkten) als Aufgabe des Staates – und damit ebenfalls aller öffentlich und gemeinschaftlich finanzierten Versorgungsinstitutionen – festgeschrieben.18 Angestrebt wird durch die Beachtung und konkrete Umsetzung dieser Kategorien in Institutionen der Gesundheitsversorgung und

15 Mahler (2018), 21 sowie 27–28. 16 Kirchen-Peters/Krupp (2019). 17 Siehe dazu u.a. Mahler (2018), 20–23; Bergemann/Bielefeldt (2019). 18 Zu diesen Kategorien siehe u.a. Krennerich (2016), 65–69 sowie 74–82: »Der Anspruch eines jeden Menschen auf das für ihn erreichbare Höchstmaß an Gesundheit dient daher als kritisches Korrektiv, damit eine umfassende medizinische

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der Pflege Chancengleichheit. D.h., dass in diesen Bereichen Unterschiede abzubauen sind, die sich auf vermeidbare und/oder ungerechtfertigte und damit unfaire Ungleichheiten zurückführen lassen.19 Gesundheitliche Ungerechtigkeit ist demnach »die unfaire und ungerechte Verteilung von Gesundheitschancen in der Gesellschaft [...], die auf sozialer Ungleichheit, unterschiedlichen gesundheitlichen Belastungen und Ressourcen, Barrieren und Schranken zu und in der Gesundheitsversorgung sowie in unterschiedlichen, meist ebenso sozial bedingten Lebensstilen gründet«.20

Aufgrund der Beobachtungen zur problematischen Versorgungslage von Menschen mit einer Demenz im deutschen Krankenhauswesen von KirchenPeters und Krupp, die oben bereits angeführt wurden, lässt sich also feststellen, dass für diese Personengruppe (und leider nicht nur für sie!) eine gesundheitliche Chancenungleichheit herrscht, die gegen die Menschenrechte und deren Grundsätze der Gleichheit und der Diskriminierungsfreiheit verstößt. Gestützt wird diese Analyse durch die Beurteilung des Deutschen Ethikrats, der in seiner Stellungnahme Patientenwohl als ethischer Maßstab für das Krankenhaus bereits im Jahr 2016 zu folgender Einschätzung kommt: »[…] [S]ystematische Verzerrungen bei einer als besonders vulnerabel einzustufenden Patientengruppe [geriatrischen Patient*innen] können vor dem Hintergrund des Systems der Abrechnung nach Fallpauschalen ein gravierendes Gerechtigkeitsproblem begründen. […] Beklagt wird, dass der hohe Versorgungsbedarf und die notwendigen erheblichen zusätzlichen Aufwendungen bei den betroffenen Patienten weder bei Demenz als Hauptdiagnose noch als Nebendiagnose in den Fallpauschalen ausreichend, das heißt kostendeckend abgebildet sind. Zudem ist das wünschenswerte Ziel einer integrierten Versorgung geriatrischer Patienten im Krankenhaus bereits aus […] Gründen altersassoziierter funktioneller Einschränkungen unter den gegebenen Umständen kaum zu erreichen. Überdies stellen sich bei geriatrischen Patienten, insbesondere solchen mit Demenz, die mit einer fragmentierten Versorgung im stationären

Versorgung sowie gesunde Lebens- und Arbeitsbedingungen nicht bestimmten Gruppen in der Gesellschaft vorenthalten werden.« 19 Domenig/Cattacin (2015), 104. 20 Ebd., 115.

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und ambulanten Bereich verbundenen Probleme in besonderer Schärfe. […] Für Patienten, die wegen einer somatischen Erkrankung im Krankenhaus behandelt werden müssen und gleichzeitig an einer bereits festgestellten oder erst dann im Krankenhaus diagnostizierten Demenz leiden, ergeben sich oft erhebliche Probleme. Die Deutsche Alzheimer Gesellschaft beklagt, dass die Allgemeinkrankenhäuser kaum auf die angemessene Umgangsweise mit Demenzpatienten vorbereitet sind […]. Entmündigende Pflege, die die noch vorhandenen Selbstständigkeitspotenziale ignoriert, und Behandlungen und Maßnahmen ohne Kommunikation, die die Betroffenen noch mehr als die ohnehin fremde Situation verwirren, seien die Folge. Fähigkeiten, die zu Hause noch bestanden, würden schnell verlernt und könnten nach Krankenhausaufenthalten nur mühsam wiedererlangt werden. Die meisten Schwierigkeiten beim Umgang mit den Patienten entstünden im Verlauf des Krankenhausaufenthaltes dann aber weniger aufgrund der kognitiven Einschränkungen, sondern meist aufgrund bestimmter Verhaltensweisen wie Herumlaufen, Schreien oder permanentes Nachfragen, deren Sinn und deren Ursachen oftmals nicht erkannt würden. Auch fehle das Wissen über die richtigen Strategien, um mit solchen Verhaltensweisen ohne den Einsatz von Psychopharmaka angemessen umzugehen.«21

Auch der Ethikrat konstatiert also für Menschen mit Demenz im Krankenhaus höchst bedenkliche Umstände, die eine »Entfremdung und Beraubung [ihrer] einzigartigen menschlichen Vermögen« (s.o., Kapitel 1) zulassen und begünstigen. Um entgegen dieser ungerechten Defizite dennoch eine möglichst gute Versorgung kranker, alter Menschen mit Demenz zu gewährleisten, müssen die Versorgungsstrukturen und die Institutionen, in denen behandelt und gepflegt wird, demenzsensibel verändert werden. Dahinter steht die grundsätzliche Annahme, dass eine Demenz zwar biomedizinisch als Krankheit anzusehen ist, die ungerechten Defizite im Umgang mit den daran erkrankten Personen z.B. im Krankenhaus aber in veränderbaren Reaktionen der Gesellschaft auf diese Erkrankung ihre Ursache haben: D.h. die Behebung der Ungerechtigkeiten und die Verbesserung der Versorgungsqualität müssen neben der medizinischen Therapie auch – und aktuell primär – »soziologische, sozialpolitische und versorgungspolitische Aspekte« umfassen.22

21 Deutscher Ethikrat (2016), 101–104. 22 Vgl. dazu u.a. Bielefeldt (2019), 40–41, 44.

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Gerade bei Menschen mit fortgeschrittener Demenz ist daher der menschenrechtlich orientierte Ansatz zu ergänzen durch das Konzept der »Passiven Relationalität«, das die Überlegungen zur relationalen Autonomie lebensweltlich ausweitet und modifiziert sowie Auswirkungen einer »malignen Sozialpsychologie« abmildert bzw. eventuell sogar verhindern kann: »Und selbst wenn offenbar kein aktiver Bezug mehr zu erkennen ist, den ein Bewohner zu seiner Umwelt oder zu sich selbst wahrnimmt, gibt es eine ›passive Relationalität‹, die Beziehung, die die Umwelt zu dem Betroffenen aufrechterhält: ›Selbst in der extremen Hilflosigkeit der Demenz kann die Würde des Menschen von anderen wahrgenommen werden‹ […] Eine solche Ethik der Relationalität wird im Altenhilfebereich vielleicht stärker gefragt sein als eine Ethik der Autonomie. Lebensqualität wird subjektiv empfunden und intersubjektiv, durch Beziehung, gefördert – oder durch Beziehungslosigkeit vernichtet.«23

Das Konzept der »Passiven Relationalität« verweist damit in Kontexten der Versorgung älterer und dementer Menschen darauf, dass in diesen Situationen von den verantwortlichen Institutionen und deren Personal personenbezogen und reflektiert deutlich mehr Verantwortung für eine gerechte und faire Beziehungsgestaltung übernommen werden muss als bei anderen, weniger vulnerablen Gruppen.24 Dies bedeutet allerdings nicht, den älteren Personen mit Demenz alles abzunehmen und sie bedingungslos Abläufen und Vorstellungen zu unterwerfen, die ihnen fremd sind, z.B. den Abläufen einer auf ökonomische Effizienz durchstrukturierten Klinik.25 Es bedeutet viel-

23 Malteser Trägergesellschaft gGmbH (2009), 9. 24 Siehe dazu auch Langner (2020), 3: »Menschen mit Demenz können irgendwann von sich aus keine Beziehung mehr aufbauen und gestalten. Sie sind darauf angewiesen, dass sie in Beziehungen mit hineingenommen werden.« 25 Vgl. dazu Deutscher Ethikrat (2016), 74: »Durch seine Fokussierung auf erbrachte Leistungen begünstige das Abrechnungssystem der DRGs [Diagnosebebezogenen Fallgruppen] möglichst weitgehend standardisierte Eingriffe.« Das hat allerdings für die Gruppe älterer und dementer Patientient*innen die bemerkte Chancenungleichheit zur Folge, denn statt der für sie nötigen personenorientierten Versorgung liegt der Fokus der Behandlungen im Krankenhaus primär auf »technischen Anwendungen und Prozeduren« (ebd., 80), innerhalb derer wenig Raum

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mehr die Verpflichtung, Strukturen und Räume zu schaffen, in denen Menschen mit Demenz nach den ihnen eigenen, biografisch verbürgten Möglichkeiten der Äußerung wahrgenommen und in den ihnen eigenen Potenzialen zur Selbstwirksamkeit geachtet, bestärkt und gefördert werden können, ohne ihr medizinisches Wohl aus dem Auge zu verlieren. Gemäß dem Expertenstandard »Beziehungsgestaltung in der Pflege von Menschen mit Demenz« des Deutschen Netzwerks für Qualitätsentwicklung in der Pflege aus dem Jahr 2018 soll durch die entsprechende Beziehungsarbeit erreicht werden, »dass der Mensch mit Demenz durch die Beziehungsgestaltung das Gefühl bekommt, gehört, verstanden und angenommen zu werden sowie mit anderen verbunden zu sein«,26 was wesentlich zu einem positiven, individuellen Würdeempfinden im Sinne des menschenrechtlichen Konzepts des sense of dignity beitragen kann. Das ist keine leichte Aufgabe, sondern erfordert mitunter mühsame und schwierige Verstehens-, Verständigungs- sowie Aushandlungsprozesse in der leiblichen Begegnung von Betreuenden, Behandelnden und Pflegenden einerseits sowie zu Betreuenden und zu Pflegenden andererseits. Diesen Grundannahmen sind auch die verschiedenen Konzepte verpflichtet, in Krankenhäusern eine demenzsensible Versorgung zu gewährleisten. Die Entwicklung zu einer demenzsensiblen Einrichtung betrifft »die Krankenhauseinrichtung in ihrer Gesamtheit, Prozesse im Stationsalltag, Behandlungsabläufe sowie ihre internen wie externen Schnittstellen – alles sollte geprüft und gegebenenfalls angepasst werden«.27

Bei der Anpassung der Abläufe und der Umgebung an die Bedürfnisse sowie Bedarfe von Menschen mit Demenz spielt – anstelle hochtechnisierter Interventionen – »das Verstehen von Menschen mit Demenz und das Erlernen der

für die Beachtung individueller Bedürfnisse und Förderung bleibt. Vielmehr werden auch Menschen mit Demenz in einem derartigen System als »pauschalisierte Behandlungsfälle wahrgenommen« (ebd., 71) und auf diese Weise »entindividualisiert« (ebd., 79). Für Personen, die sich – wie z.B. Menschen mit fortgeschrittener Demenz – in Situationen passiver Relationalität befinden, ist das ein gravierender, nicht zu rechtfertigender und damit ungerechter Nachteil! 26 Siehe Langner (2020), 4 und öfter. 27 Poppele et al. (2018), 60.

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erforderlichen Achtsamkeit«28 seitens des gesamten an der Betreuung und Behandlung beteiligten Personals gegenüber der »›Demenzlogik‹, die es für das betreuende Personal zu entdecken gilt«,29 eine zentrale Rolle. Trotz dieser inhaltlichen Ansätze aus Einzelinitiativen gibt es allerdings bisher kein allgemeinverbindliches Konzept, an dem sich die verantwortlichen Institutionen orientieren und nach dem ihre Bemühungen, die Versorgung älterer Menschen mit einer Demenz zu verbessern, bemessen werden könnten. Allerdings lassen sich mit Kirchen-Peters und Krupp zwei grundsätzliche Säulen bestimmen, die Demenzsensibilität ausmachen:30 Zum einen wird als ein Erfolgskriterium einer demenzsensiblen Umgestaltung z.B. eines Krankenhauses die »Haltungsänderung aller Mitarbeitenden ›von der Pforte bis zum ärztlichen Direktor‹« bestimmt,31 die ihrerseits an der Personenorientierung/-zentrierung der Haltung des Personals ausgerichtet sein sollte: »Eine PERSONzentrierte Haltung im therapeutischen Team setzt ein empathisches Grundverständnis im Sinne von einfühlendem Verstehen und Wertschätzung gegenüber den Menschen mit kognitiven Einschränkungen voraus. Zudem fußt sie auf der Mitwirkung und Beteiligung der Menschen mit Demenz und deren Angehöriger als Qualitätskriterium.«32

Es ist zu erwarten, dass gerade dass Schaffen einer derartigen Haltung maßgeblich dazu beitragen könnte, die bereits mehrfach angesprochenen Defizite in der Beziehungsgestaltung, die bisher in der Versorgung von Menschen mit Demenz in der Klinik zu beklagen sind, abzumildern. So ließe sich eventuell die lebensweltliche Situation der Menschen mit Demenz – die sich in ihrer Komplexität erheblich von der rein klinischen Situation unterscheidet – verbessern, was dazu beitragen könnte, das Würdeempfinden dieser Personen zu verbessern, bzw. Missachtungen auf dieser Ebene menschlicher Würde zu verringern.

28 Poppele et al. (2018), 61. 29 Ebd., 69. 30 Siehe Kirchen-Peters/Krupp (2019), 22–23. 31 Ebd., 22. 32 Ebd.

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Korrespondierend müssen zugleich entsprechende Rahmenbedingungen geschaffen werden, damit das Personal gegenüber den zu Versorgenden diese Haltung in der Praxis auch tatsächlich leben kann. Bevor diese zweite Säule der Demenzsensibilität einer Institution der Gesundheitsversorgung hinsichtlich der menschenrechtlichen Begründung der Pflicht zur interprofessionellen Zusammenarbeit konkretisiert werden soll, ist sie inhaltlich zunächst allgemein zu umreißen: Sie besteht aus einem Fächer oder Bündel unterschiedlicher und zugleich aufeinander abgestimmter Maßnahmen, die an dem gemeinsamen Ziel ausgerichtet sind, einerseits das Personal dazu zu befähigen, die Haltung der Personenorientierung in der Praxis umzusetzen, und andererseits die Menschen mit Demenz in ihrer Selbstwirksamkeit und ihrem Wohlbefinden zu fördern. Zu diesen Maßnahmen zu zählen sind z.B. der spezifische Wissens- und Kompetenzaufbau beim Personal, ein effektives Delir-Management, demenzgerechte räumliche Anpassungen der Krankenhausumgebung, Angebote und Maßnahmen zur Tagesstrukturierung und eine konstruktive, wertschätzende und förderliche Einbindung von Angehörigen.33 Allerdings erweist sich eine gesamtgesellschaftlich zu beobachtende Haltung als wenig förderlich für eine demenzsensible Umgestaltung der Institutionen der Gesundheitsversorgung. Diese Haltung bringt einer hochtechnisierten, sich selbst als solche bezeichnenden »Spitzen«-Medizin, die auf die Heilung von Krankheiten ausgerichtet ist, höhere Wertschätzung entgegen als einer Spitzen-Betreuung und -Begleitung von Menschen in ihrem Kranksein.34 Dieser problematischen Grundhaltung korrespondierend wird die Haltung mancher Ärzt*innen in den Kliniken zu einer weiteren »institutionelle[n] und arbeitsorganisatorische[n] Barriere«,35 die entsprechende Ungerechtigkeiten und Chancenungleichheiten gegenüber Menschen mit Demenz in der klinischen Versorgung zementiert:

33 Kirchen-Peters/Krupp (2019), 23, vgl. auch ebd.: »Bei den Bausteinen geht es eigentlich immer um sechs wesentliche Elemente: die Sensibilisierung und Bildung des Personals, die Strukturierung von Tagesabläufen, die Intensivierung persönlicher Zuwendung vor allem in Krisensituationen, baulich-räumliche Anpassungen, die Sicherstellung therapeutischer Maßnahmen sowie die Vernetzung nach Außen.« 34 Ebd., 28. 35 Ebd.

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»Dabei spielen traditionelle Hierarchien und berufliche Orientierungen eine große Rolle. Insbesondere eine mangelnde Bereitschaft von Ärzten, sich aktiv mit eigenen Zeitanteilen an Maßnahmen zur Steigerung der Demenzsensibiltät zu beteiligen, wird vielerorts als Umsetzungserschwernis beschrieben.«36

Eine derartige, unangemessene Haltung der Verweigerung ist umso unverständlicher, als dass auf ärztlicher Seite das Wissen darum, »[w]elche komplexen Auswirkungen die Erkrankung jedoch auf die Lebenswelt der Patientin/des Patienten hat, […] in der medizinischen Aus- und Weiterbildung bislang nicht ausreichend berücksichtigt [wird]«.37

Im Sinne einer menschenrechtsgemäßen, gerechten und fairen Versorgung und Gestaltung der Beziehung zu Menschen mit Demenz im Krankenhaus könnte gerade in diesem Bereich sinnvoll durch eine positive, interprofessionelle Komplementarität gegengesteuert und die Situation der Betroffenen und des Personals verbessert werden. Für angemessenes Verhalten – für das z.B. der Expertenstandard Beziehungsgestaltung in der Pflege von Menschen mit Demenz Kriterien formuliert – ist eine interprofessionelle Zusammenarbeit der behandelnden Ärzt*innen, der Pflegenden und aller therapeutisch und in der Betreuung Tätigen sowie der Angehörigen wesentlich, um Betreuungskontinuität herzustellen und die Menschen mit Demenz in ihrer Situation zu stabilisieren. Professionelle Synergie steht hier im Zentrum der Ermöglichung einer personenzentrierten, gerechten Versorgung: »Die verschiedenen Professionen haben aufgrund ihres beruflichen Hintergrunds unterschiedliche Herangehensweisen und Perspektiven auf bestimmte Situationen. Durch den fachlichen Austausch werden die Teilnehmenden in die Lage versetzt, über die Grenzen der eigenen Disziplin hinauszudenken. Im fachübergreifenden Dialog kann herausgefunden werden, ob ein bestimmtes Verhalten einer Patientin/eines Patienten für ein unbefriedigtes psychosoziales Bedürfnis steht, oder ein krankheitsbezogenes Symptom ausdrückt. Das Ziel von multidisziplinären Fallbesprechungen ist es, durch einen hierarchiefreien, gleichberechtigten Austausch Lösungsmöglichkeiten

36 Kirchen-Peters/Krupp (2019), 28, vgl. dazu auch ebd., 58. 37 BMFSFJ (2018), 9.

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für die besondere Situation einer Patientin/eines Patienten zu entwickeln, die auf einem umfassenden Verständnis des Geschehens basiert.«38

Aufgrund ihrer Nähe zu den Patient*innen stehen Pflegende hier ganz besonders im Fokus.39 Sie entwickeln wegen der Kontinuität ihrer Beziehungen zu den gepflegten Patient*innen eine normativ relevante Empfindung und Wahrnehmung der Verletzlichkeit von Personen in Situationen passiver Relationalität, bemühen sich um einen achtsamen sowie verstehenden Umgang mit den Kranken und fühlen sich gegenüber deren Bedürfnissen und Bedarfen besonders verantwortlich.40 Entsprechend hebt der Deutsche Ethikrat die Rolle der Pflegenden für eine gerechtere Versorgung von Personengruppen, die in einem nach ökonomischen Kriterien durchorgansierten Gesundheitswesen besonders vulnerabel sind, hervor: »Festzustellen ist, dass gerade die von der Pflege entwickelten prozess- und kooperationsorientierten Ansätze für eine Neuorientierung im Krankenhaus von besonderer Bedeutung sind. Vor diesem Hintergrund ist es erforderlich, die Bedeutung der Pflege für eine identitätsstiftende Entwicklung des Krankenhauses neu zu bewerten und der Pflege insgesamt eine höhere Wertschätzung zukommen zu lassen.«41

Auf diese Weise würde die Umsetzung des Konzepts der Demenzsensibilität in der Klinik nicht nur die Situation der Menschen mit Demenz im Krankenhaus erheblich verbessern, sondern auch dazu beitragen, die zwischen Pflegenden und zu Pflegenden empfundene »geteilte Ohnmacht« gegenüber Strukturen, von denen beide diskriminiert und in ihrem sense of dignity erheblich eingeschränkt werden, zu überwinden.42 Die Berücksichtigung der Menschenrechte und der sie fundierenden Prinzipien bei der Bestimmung der Versorgungs- und Pflegequalität mit dem Ziel einer demenzsensiblen Versorgungspraxis in Krankenhäusern führt da-

38 BMFSFJ (2018), 14; siehe auch ebd., 36. 39 Siehe z.B. ebd., 11. 40 Bryon et al. (2012), bes. 288–289 u.ö. 41 Deutscher Ethikrat (2016), 81. 42 Vgl. Poppele et al. (2018), 69–70.

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mit zugleich zur Forderung nach längst überfälligen, grundsätzlichen Reformen im Gesundheitswesen. Denn nur so lassen sich die Rechte hilfe- und pflegebedürftiger Menschen in der Praxis vor Ort im Sinne der betroffenen, kranken Personen adäquat umsetzen und die mit ihnen verbundenen Ansprüche gewährleisten.43 Im Folgenden soll anhand der Beachtung der Selbstbestimmung beschrieben werden, wie dies konkret aussehen könnte.

3. S ELBSTBESTIMMUNG UND S ELBSTBEFÄHIGUNG IN S ITUATIONEN PASSIVER R ELATIONALITÄT »Selbstbestimmung hat in verschiedenen Phasen einer Demenzerkrankung unterschiedliche Ausprägungen.«44 Alle diese Formen, von der stets vorauszusetzenden Einwillungsfähigkeit bis hin zu Ausdrücken des »natürlichen Willens« oder der »Autonomie des Augenblicks« sind jeweils situationsangemessen und adäquat zu berücksichtigen. Die Beachtlichkeit des »natürlichen Willens« weist dabei erheblich über den Bereich rein juristischer Rele-

43 Zur menschenrechtlich begründeten Advokatenfunktion, die Pflegende im Unterschied zur ärztlichen Profession explizit für die zu Pflegenden einnehmen sollen, siehe International Council of Nurses (2011), 1: »ICN recognizes that all human rights are interdependent and indivisible and that individuals’ health and wellbeing can be harmed when their human rights in any category are violated. Nurses have an obligation to safeguard, respect and actively promote people’s health rights at all times and in all places. This includes ensuring that adequate care is provided within the resources available and in accordance with nursing ethics. As well, the nurse is obliged to ensure that patients receive appropriate information in understandable language prior to consenting to treatment or procedures, including participation in research. The use of coercion or manipulation to obtain consent is unethical and a violation of human rights and professional codes of conduct. Nurses are accountable for their own actions and inactions in safeguarding human rights, while national nurses associations (NNAs) have a responsibility to participate in the development of health and social policy and legislation related to patient rights.« Vgl. dazu Giese (2019), 57–60 und 64 sowie Bergemann/Bielefeldt (2019), 30–31 und 33–34. 44 Poppele et al. (2018), 66.

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vanz hinaus: In seiner Bedeutung für das Würdeempfinden und die Selbstbestimmung einer Person mit Demenz ist er in seiner Leiblichkeit zu denken: Zum einen besitzt der Leib des Menschen eine biografische Struktur, wir sind immer »einverleibte Geschichte«.45 Zum anderen können sich derart einverleibte biografische Bezüge auch bei fortgeschrittener Demenz ebenso leiblich durch Regungen, Gesten, Blicke etc. in Beziehungen zu anderen ausdrücken und manifestieren.46 Diese Ausdrücke der Leiblichkeit sind besonders in Situationen passiver Relationalität als Ausdrücke der Person als Person in ihrer Vielschichtigkeit aufmerksam, kompetent und differenziert wahrzunehmen, anzuerkennen und zu deuten. Es gilt also, sämtliche Artikulationsmöglichkeiten, die Menschen mit Demenz zur Verfügung stehen, ernstzunehmen.47 Dies bringt Artikel 1 der Charta der Rechte hilfe- und pflegebedürftiger Menschen klar zum Ausdruck: »Jeder hilfe- und pflegebedürftige Mensch hat das Recht auf Hilfe zur Selbsthilfe sowie auf Unterstützung, um ein möglichst selbstbestimmtes und selbstständiges Leben führen zu können. Sie haben das Recht, dass Ihr Wille und Ihre Entscheidungen beachtet werden sowie auf Fürsprache und Unterstützung. Die an Ihrer Pflege, Betreuung und Behandlung beteiligten Personen müssen ihr Handeln danach ausrichten. Das gilt auch, wenn Sie Ihren Willen nicht durch Worte zum Ausdruck bringen können, sondern beispielsweise durch Ihr Verhalten. Wenn Ihre geistigen Fähigkeiten beeinträchtigt sind, haben Sie das Recht, Ihrem Verständnis entsprechend in Entscheidungen, die Sie betreffen, einbezogen und bei Entscheidungen unterstützt zu werden. Auch wenn Sie nicht alleine entscheiden oder Ihre Wünsche benennen können, muss in Ihrem Sinne gehandelt werden. Dafür sollten die für Ihre Pflege, Betreuung und Behandlung zuständigen Personen Sorge tragen. […] Das Ziel, das Selbstbestimmungsrecht hilfe- und pflegebedürftiger Menschen so weit wie möglich zu gewährleisten, verpflichtet dennoch alle an der Pflege, Betreuung und Behandlung Beteiligten.«48

45 Agbih (2010), 95. 46 Ebd., 96–99. 47 Vgl. Bielefeldt (2019), 47. 48 BMFSFJ/BMG (2019), 8 und 10.

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Nur die umfängliche Beachtung und Umsetzung dieses Rechts auf Selbstbestimmung in der Beziehungsgestaltung garantiert den Schutz der Würde der Menschen mit Demenz vor ungerechten Missachtungen oder Vereinnahmungen. Erst im Kontext menschenrechtlicher Bemühungen um Demenzsensibilität kann sich »Autonomie« in Situationen zunehmender passiver Relationalität als – wie bereits oben in Kapitel 1 erwähnt – »humaner Beziehungsbegriff«49 bewähren und der »klare Vorrang eines ›supported decision making‹ gegenüber den traditionell üblichen Formen eines ›substituted decision making‹ – mit dem Ziel maximaler Förderung der Autonomie«50 tatsächlich in der Praxis gewährleistet werden.51 Diese Überlegungen bilden sich dann konkret und entscheidungs- wie handlungsrelevant ab in den Hinweisen und Empfehlungen der Bundesärztekammer zu Patientenverfügungen und anderen vorsorglichen Willensbekundungen bei Patienten mit einer Demenzerkrankung.52 Gemäß dieser Hinweise und Empfehlungen gilt zunächst jeder Mensch als einwilligungsfähig und damit legitimiert, selbstbestimmt zu entscheiden und handeln, bis in der jeweils konkreten Situation trotz adäquater, personengerechter Aufklärung das Gegenteil festgestellt werden muss. Gleich allen anderen Patient*innen ist jeder Mensch mit Demenz durch den Arzt/die Ärzt*in über bestehende Maßnahmen aufzuklären; erst danach kann und darf über die Einwilligungsfähigkeit im jeweiligen Fall bezüglich der jeweiligen Maßnahme entschieden werden. Im Aufklärungsgespräch sind alle nötigen unterstützenden Maßnahmen zu ergreifen, um die aufzuklärende Person zu ihrem selbstbestimmten Entscheiden zu befähigen und ihre Position in Situationen zunehmender passiver Relationalität zu stärken:

49 Bielefeldt (2019), 54. 50 Ebd., 53. 51 Vgl. dazu auch Schmidt (2014), 319: »The CRPD [UN Convention on the Rights of Persons with Disabilities] forces abandonment of substituted decision making paradigms that treat persons with disabilities as objects of protection and take away rights, and replaces them with supported decision-making paradigms that treat persons with disablities as persons with autonomy, independence and dignity and which add a profusion of rights […]«. Vor diesem Hintergrund wird relationale Autonomie »a quality to be developed – and not lost – through context and relationship with others«. Vgl. Hall (2014), 348. 52 Bundesärztekammer (2018).

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»Ziel der Aufklärung ist es, die Entscheidungsfähigkeit des Patienten zu fördern. […] Bei nicht einwilligungsfähigen Patienten kann das patientengerechte Aufklärungsgespräch dazu beitragen, diese stärker an der Entscheidung zu beteiligen. Information und Aufklärung des Patienten sind daher unabhängig von dessen Einwilligungsfähigkeit eine grundlegende Verpflichtung des Arztes.«53

Die Ausführungen der Bundesärztekammer, die hier exemplarisch verdeutlichen sollen, wie in einer konkreten Situation eine gerechte, faire und demenzsensible Handlungsweise in einer Klinik aussehen müsste, die einen Menschen mit Demenz in seinen vorhandenen Fähigkeiten bestärkt und zentrale Aspekte seines Würdeempfindens berücksichtigt, lassen klar erkennen, dass nicht der Mensch mit Demenz sich an die Abläufe der Klinik anzupassen hat, sondern dass diese an seine Bedürfnisse und Fähigkeiten anzupassen sind. Wie alle anderen Patient*innen auch sind ältere Menschen mit Demenz keine bloßen Objekte der Versorgung – kein »Patientengut«, das es ökonomisch effizient, dem Stück- oder Frachtgut vergleichbar, abzufertigen

53 Bundesärztekammer (2018), 953. Ebd. werden von der Bundesärztekammer folgende Aspekte und Hinweise für eine »adressatengerechte Aufklärung bei Patienten mit einer Demenzerkrankung« genannt, die zugleich als Aspekte einer positiven Beziehungsgestaltung in dieser wichtigen Situation verstanden werden können: (1) mit dem Patienten sprechen bzw. den Patienten in das Gespräch einbeziehen, nicht über den Patienten in seiner Gegenwart reden; (2) biographische Kenntnisse über den Patienten mitbringen; (3) persönliches Interesse und persönliche Nähe vermitteln, auch (insbesondere) durch Körpersprache; (4) respektvolles Verhalten zeigen (keine Verkindlichung der Sprache, keine Hinweise auf Defizite, keine Belehrungen oder Zurechtweisungen); (5) Ansprache von vorn, langsam und klar sprechen, Blickkontakt, Ruhe und Sicherheit vermitteln; (6) Seh- und Hörhilfen nutzen und Funktionstüchtigkeit dieser Hilfen sicherstellen; (7) kurze Sätze mit jeweils einem klaren und einfachen Sachverhalt formulieren; (8) die Sprache des Patienten sprechen, ggf. einfache Wortwahl und einfachen Satzbau benutzen, möglichst wenig abstrakte Begriffe; (9) möglichst Fragen benutzen, die mit ›ja‹ oder ›nein‹ beantwortet werden können, keine offenen Fragen (›Wieso? Weshalb? Warum?‹); (10) Aussagen und Fragen durch Mimik, Gestik oder Berührungen unterstreichen; (11) wenn nötig, Sätze oder Fragen wiederholen, nicht variieren; (12) Zeit zum Antworten lassen, bei Bedarf fehlende Wörter anbieten.«

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gilt –,54 sondern Rechteinhaber*innen, d.h. Personen, die in ihrem persönlichen Kranksein und ihrer persönlichen Situation umfänglich ernst genommen werden müssen.

L ITERATUR Agbih, Sylvia (2012): »›Fühlen heißt Involviertsein‹. Zur Bedeutung von Emotionen und Erzählung für die Klinische Ethik«, in: Frewer et al. (2012), 91–113. Bergemann, Lutz (2018): »Ethische Probleme im Gesundheitswesen und Konzepte von Vulnerabilität. Chancen für ein menschenrechtliches Empowerment?«, in: Bergemann/Frewer (2018), 73–112. Bergemann, Lutz/Bielefeldt, Heiner (2019): »Nurses and Physicians as Human Rights Defenders? Menschenrechte im Krankenhaus«, in: Hack et al. (2019), 25–49. Bergemann, Lutz/Frewer, Andreas (Hg.) (2018): Autonomie und Vulnerabilität in der Medizin. Menschenrechte – Ethik – Empowerment, Bielefeld: transcript. Bergoffen, Debra (2013): »Body politics: Debra Bergoffen«, in: Gröschner et al. (2013), 57–59. Bielefeldt, Heiner (2016): »Der Menschenrechtsansatz im Gesundheitswesen. Einige Grundsatzüberlegungen«, in: Frewer/Bielefeldt (2016), 19– 56. Bielefeldt, Heiner (2019): »Würde und Rechte von Menschen mit Demenz. Umrisse neuer menschenrechtspolitischer Herausforderungen«, in: Schmidhuber et al. (2019), 35–59. Bonacker, Marco/Geiger, Gunter (Hg.) (2018): Menschenrechte in der Pflege. Ein interdisziplinärer Diskurs zwischen Freiheit und Sicherheit, Opladen u.a.: Verlag Barbara Budrich. Bryon, Els/Dierckx de Casterlé, Bernadette/Gastmans, Chris (2012): »›Because We See Them Naked‹ – Nurses’ Experiences in Caring for Hospitalized Patients with Dementia: Considering Artificial Nutrition or Hydration (ANH)«, in: Bioethics 26, 6 (2012), 285–295.

54 Zur Problematik der Verwendung dieses entlarvenden Begriffs in der »Spitzen«Medizin siehe Mahrenholz (2012).

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Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) (2018): »Demenz und Krankenhäuser – Aufbau demenzfreundlicher Strukturen. Handreichung zum Bundesmodellprogramm Lokale Allianzen für Menschen mit Demenz«, Berlin, Online: https://www.dkgev.de/ fileadmin/default/Mediapool/2_Themen/2.3_Versorgung-Struktur/2.3.6 _Versorgungsformen/2.3.6.8._Demenz/BMFSFJ_LokaleAllianz_De menz_und_Krankenhaus_Aufbau_demenzfreundlicher_Strukturen.pdf [16.04.2020]. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend/Bundesministerium für Gesundheit (BMFSFJ/BMG) (2019): »Charta der Rechte hilfe- und pflegebedürftiger Menschen«, Berlin, Rostock, Online: https://www.bmfsfj.de/blob/93450/534bd1b2e04282ca14bb725d684bdf 20/charta-der-rechte-hilfe-und-pflegebeduerftiger-menschen-data.pdf [16.04.2020]. Brandenburg, Hermann (2018): »Demenz: Deutungskämpfe, Versorgung, Gutes Leben«, in: Sauer et al. (2018), 187–198. Bundesärztekammer (2018): »Hinweise und Empfehlungen der Bundesärztekammer zu Patientenverfügungen und anderen vorsorglichen Willensbekundungen bei Patienten mit einer Demenzerkrankung (Stand: 16.03.2018)«, in: Deutsches Ärzteblatt 115, 19 (2018), 952–956. Curtice, Martin J./Exworthy, Tim (2010): »FREDA: a human rights-based approach to healthcare«, in: The Psychiatrist 34 (2010), 150–156. Deutscher Ethikrat (2016): »Patientenwohl als ethischer Maßstab für das Krankenhaus. Stellungnahme«, Berlin, Online: https://www.ethikrat.org /fileadmin/Publikationen/Stellungnahmen/deutsch/stellungnahme-patientenwohl-als-ethischer-massstab-fuer-das-krankenhaus.pdf [16.04.2020]. Domenig, Dagmar/Cattacin, Sandro (2015): Gerechte Gesundheit. Grundlagen – Analysen – Management, Bern: Hogrefe Verlag. Foster, Charles/Herring, Jonathan/Doron, Israel (Eds.) (2014): The Law and Ethics of Dementia, Oxford, Portland (Oregon): HART Publishing. Frewer, Andreas/Bielefeldt, Heiner (Hg.) (2016): Das Menschenrecht auf Gesundheit. Normative Grundlagen und aktuelle Diskurse, Menschenrechte in der Medizin/Human Rights in Healthcare 1, Bielefeld: transcript.

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Poppele, Georg/Förster, Marion/Lüdecke, Daniel/Ostojic, Svenja/Kofahl, Christopher (2018): »Das Projekt ›Station DAVID‹ und die Entwicklung zum demenzsensiblen Krankenhaus«, in: Sauer et al. (2018), 59–72. Sauer, Timo/Schnurrer, Valentin/Bockenheimer-Lucius, Gisela (Hg.) (2018): Angewandte Ethik im Gesundheitswesen. Aktuelle Entwicklungen in Theorie und Praxis, Berlin: LIT Verlag. Schmidt, Winsor C. (2014): »Proxy Decision-Making: A Legal Perspective«, in: Foster et al. (2014), 311–326. Schmidhuber, Martina/Frewer, Andreas/Klotz, Sabine/Bielefeldt, Heiner (Hg.) (2019): Menschenrechte für Personen mit Demenz. Soziale und ethische Perspektiven, Menschenrechte in der Medizin/Human Rights in Healthcare 7, Bielefeld: transcript. Scottish Human Rights Commission (o.J.): »Care about Rights? Human Rights and the Care of Older People Information Pack«, Online: http://careaboutrights.scottishhumanrights.com/resources/documents/ CareAboutRightsCourse.zip [16.04.2020]. Trost, Bernd (2018): »Respekt vor der Autonomie der Bewohner im Altenpflegeheim«, in: Sauer et al. (2018), 135–148.

Menschenrechte und Lebensqualität in Alten(pflege)heimen Alles eine Frage der Perspektive? M ARIE -K RISTIN D ÖBLER

1. E INLEITUNG In den vergangenen Jahren sind verschiedene Bewegungen zu beobachten, die für ältere/alte Menschen eintreten. Ziele dabei sind die institutionalisierte Berücksichtigung bestimmter, mit dem Alter(n) verbundener Vulnerabilitäten,1 die Realisierung der universellen Menschenrechte angesichts der spezifischen und heterogenen Lebenslagen des »Alters«,2 sowie die Bestimmung und anschließende Verbesserung der Lebens- und Pflegequalität gerade auch

1

ENNHRI (2017); BMFSFJ/BMG (2019). Die Berücksichtigung von Vulnerabilitäten hat auch in den, in einer ersten Fassung bereits 1953 verfassten, ICN-Ethikkodex Eingang gefunden – allerdings eher durch die Formulierung von »Pflichten« für Pflegende; ICN (2012/2014).

2

Es geht bei den Menschenrechten für Ältere folglich nicht um die Einführung von Sonderrechten oder eine partikulare Ergänzung der universalen Menschenrechte. Vielmehr ist die Forderung, den Universalitätsanspruch durch die Berücksichtigung spezifischer Lebenslagen auch in der Lebensphase Alter durchsetzbar und realisierbar zu machen und die universellen Menschenrechte entsprechend zu präzisieren (vgl. Bielefeldt in diesem Band).

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im Alter oder angesichts des Alterns.3 Entscheidende, dennoch als exemplarisch zu verstehende Schritte hierbei sind die Konzeptualisierung des Alters als Lebensphase,4 die Wahrnehmung alter- und hilfsbedürftiger Menschen als Person bzw. Rechtssubjekt und als Gegenüber auf Augenhöhe5 wie auch Versuche auf internationaler und nationaler Ebene, die teils spezifischen Bedürfnisse der Personengruppe »alte Menschen«, ihre speziellen Schutz-, Hilfs- bzw. Care-Bedarfe explizit zu machen und auch ihre Perspektiven anzuerkennen, da beides bisher vielfach nur indirekt thematisiert oder am Rande gestreift wird.6 Neben zivilgesellschaftlichen, teils lokalen, teils nationalen oder sogar internationalen Bemühungen, in unterschiedlichsten Disziplinen festzustellender Aufmerksamkeit für »ethische Aspekte des Altern(s)«7 sowie der Veröffentlichung von Chartas und Kodizes,8 die sich eben diesen Themen annehmen, erfolgte 2010 bei den Vereinten Nationen (UN) die Einrichtung einer Open-Ended Working Group on Ageing (OEWG-A). Auch wenn umstritten ist, ob es eine Konvention zur Realisierung besonderer Menschenrechte der älteren Bevölkerung braucht,9 wurde diese Arbeitsgruppe 2012 von der UN-Generalversammlung beauftragt, ein »comprehensive and integral international legal instrument« auszuarbeiten, »rights and dignity of older persons« zu fördern und zu schützen.10 Begleitet wurde die Arbeit der OEWG-A u.a. von »Fachgesprächen« des Deutschen Instituts für Menschenrechte, die in Vorbereitung der Treffen auf nationaler Ebene jährlich schwerpunktmäßig Themen diskutiert haben, die mit der Realisierung der Menschenrechte für ältere Menschen sowie der Würde im Alter genauso wie beim Altern in Verbindung stehen. Zum Gegenstand wurden u.a. jene Umstände, die die Gleichheit und die Wahrnehmung sowie Wahrung der Würde aller

3

Vgl. Beiträge in Kovács et al. (2016); Lang et al. (2007); Weidekamp-Maicher

4

Döbler (2019); Höffe (1989); Kruse (2017); Schweda et al. (2018).

5

Deutsches Institut für Menschenrechte (2016); Höffe (1989).

6

Deutsches Institut für Menschenrechte (2016) und (2018); Döbler (2019).

(2015).

7

Schweda et al. (2018).

8

ICN (2012/2014); BMFSFJ/BMG (2019).

9

Verein humanrights.ch (2016).

10 General Assembly (2013).

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Menschen auf Grund ihres Alter(n)s sowie der Heterogenität der Lebenslagen im Alter aktuell noch verhindern bzw. künftig fördern sollen.11 Dabei ist das erklärte Ziel der Fachgespräche, »Erkenntnisse, Erwartungen und gute Beispiele aus Deutschland zu bündeln«,12 und mittel- bis langfristig eine beispielsweise der Kinder- und Behindertenrechtskonvention vergleichbare Vereinbarung auf internationaler Ebene zu etablieren, um zu gewährleisten, dass die »Menschenwürde […] unabhängig vom Lebensalter und der individuellen Leistungsfähigkeit und also auch unabhängig vom Unterstützungsbedarf oder von eventuellen demenziellen Erkrankungen« anerkannt wird und jeder einzelne Mensch, sein Recht »auf Achtung, Schutz und Gewährleistung der menschenrechtlich geschützten Freiheiten« gegen den Staat durchsetzen kann.13 Parallel dazu wird, teilweise losgelöst von Überlegungen zu Menschenrechten, die kontinuierlich und schnell steigende Zahl der alten/älteren Menschen sowie der damit verbundene zunehmende Pflegebedarf diskutiert. In öffentlichen, massenmedialen wie politischen Debatten, häufig aber auch in interpersonellen Kommunikationszusammenhängen werden dabei Ambivalenzen genauso wie Vorurteile sichtbar und Schreckensszenarien entworfen.14 Es geht dabei sowohl um Budgets bzw. Fragen der Finanzierbarkeit und Generationengerechtigkeit als auch um das Verhältnis der Generationen zueinander, Solidarität und Verantwortung.15 Welche Haltung individuelle wie korporative Diskutant*innen, Aktivist*innen und andere in diesen Debatten oder Kommunikationszusammenhängen einnehmen, ob von ihnen Ambivalenzen wahrgenommen oder erlebt werden, wie düster die skizzierten Zukunftsszenarien ausfallen, scheint ne-

11 Kruse (2017). 12 Deutsches Institut für Menschenrechte (2018). 13 Deutsches Institut für Menschenrechte (2020b), vgl. auch Deutsches Institut für Menschenrechte (2019a). 14 Exner et al. (2015). 15 Laborde (2013); Bengtson/Roberts (1991); Bengtson et al. (2002); Katz/ Whitehouse (2017).

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ben institutionellen und politischen Rahmen(bedingungen) von oftmals unreflektierten oder implizit bleibenden Altersbildern16 sowie Formen und Graden der Betroffenheit abzuhängen. Anders gesagt, es ist eine Frage der Perspektive. Die einen erkennen beispielsweise eine »graue Gefahr«, eine »Alt(en)last« und es ist die Rede von Ungerechtigkeit, weil »die Alten« auf Kosten »der Jungen« leben, die Ressourcen sowie die Zukunft der kommenden Generationen aufbrauchen.17 Vielfach ist dies gepaart mit der Annahme, jeder solle selbst für sich und sein Alter(n) vorsorgen und man bekomme ausschließlich das, was man (sich) verdient habe. Für menschenrechtlich proklamierte Gleichbehandlung und Nicht-Diskriminierung bleibt dabei kaum Raum, während gleichzeitig ein Fokus auf die Verwaltung des Alter(n)s und die Verwahrung »der Alten« erkennbar wird, die das (Da-)Sein insbesondere pflegebedürftiger, älterer Menschen auf Arbeits- oder Fürsorgeobjekte zu reduzieren scheinen.18 Dem stehen Vertreter*innen einer Perspektive gegenüber, von der aus betrachtet »die Verantwortung« der jüngeren Generationen gegenüber den Älteren oder die Chancen des demographischen Wandels betont werden.19 Dies geschieht u.a. im Kontext einer Diskussion um zeitversetze Reziprozität oder die bedingungslose Anerkennung als Person/Mensch, was mit dem – u.a. menschenrechtlich begründeten – Ruf nach der Gewährleistung eines »angemessenen Lebensabends«, einem »Alter(n) in Würde« und einer hinreichenden finanziellen, sozialen, emotionalen Grundversorgung verbunden ist und auf einen aus dem Mensch- oder Bürger*in-Sein abgeleiteten Anspruch gründet:20 Bis zum Lebensende steht jedem/jeder eine entsprechende Versorgung und Behandlung zu, weil man entweder in einem anthropologischen Sinne Teil der Gesellschaft ist oder in einem staatsbürgerlichen Sinne für die Gesellschaft gelebt und etwas zu ihrer Reproduktion beigetragen hat.21

16 Ehmer (2019); Hildebrandt/Kleiner (2012); Schweda et al. (2018). 17 Höffe (1989); Exner et al. (2015). 18 Deutsches Institut für Menschenrechte (2016). 19 Höffe (1989); Bott (2015). 20 Deutsches Institut für Menschenrechte (2019b); Kruse (2017). 21 Vgl. Beiträge in Schweda et al. (2017).

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Die Perspektive beeinflusst dann auch die Positionierung in den parallel dazu geführten Debatten, die in den unterschiedlichsten Zusammenhängen über die Pflege- oder allgemeiner über Care-Bedingungen im privaten, häuslichen, professionellen und/oder institutionellen Kontext geführt werden. So werden selbst Verhandlungen über praktische Care-Aspekte vielfach mit Grundsatzfragen über Rechte, Pflichten und Verantwortungen sowohl von Empfänger*innen als auch Geber*innen von Care unterschiedlichster Art und auf diversen Ebenen verknüpft,22 d.h. es geht z.B. um informelle oder vertraglich geregelte, interpersonelle oder gesellschaftliche Verhältnisse im Kontext einmaliger oder wiederholt stattfindender, direkter oder vermittelt erfolgender Hilfe- oder Austauschpraktiken, um Verantwortungen für sich und die eigene Zukunft sowie für andere und Verpflichtungen, für sich vorzusorgen, anderen zu helfen und die Berechtigungen, Unterstützung verschiedenster Art zu beanspruchen.23 Diese Verhandlungen müssen jedoch nicht immer im Sinne einer menschenwürdigen Versorgung ausfallen und die Menschenrechte als »objective minimum standards required for all individuals to live with dignity«24 anlegen. Stattdessen kann es beispielsweise ausschließlich um eine Körper-, Grund- und Behandlungs- bzw. medizinisch-geriatrische Pflege gehen, die zwar ggf. fachlich korrekt ist, aber andere, für das würdevolle Altern und das Erleben guter Behandlung relevante Care-Dimensionen ausklammert oder vernachlässigt,25 etwa die subjektiven Bedürfnisse und die Autonomie der zu Pflegenden. Hintergrund ist z.B., dass insbesondere Alten(pflege)heim-Bewohner*innen als Fürsorge- und eben nicht als Rechtssubjekte wahrgenommen werden,26 was selbst in Kodizes und Chartas deutlich wird, die etwa primär wenn nicht gar ausschließlich die Förderung und Wiederherstellung von Gesundheit oder das Verhindern von Leiden fokussieren. Dennoch finden sich vielerorts vielfältige Bemühungen, die teilweise in privaten Initiativen, teilweise in Vereinen oder gut organisierten Verbänden allein oder in Kooperation mit der (lokalen) Politik für die Würde und die

22 Österle (2014); Gerhard (2014); Appelt/Fleischer (2014). 23 Vgl. Beiträge in Schweda et al. (2017). 24 ENNHRI (2017), 9. 25 Döbler (2019). 26 Deutsches Institut für Menschenrechte (2016).

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Menschenrechte gerade der vulnerabelsten Personengruppen wie etwa älterer, institutionalisiert lebender oder nicht mehr zu Äußerungen fähiger, weil z.B. an Demenz erkrankter Menschen eintreten. Vieles davon wird jedoch unter anderen Überschriften verhandelt. Aber auch wenn es explizit oder vordergründig um anderes, etwa die Lebensqualität älterer Menschen geht, werden in der Regel mindestens implizit auch Menschenrechte adressiert. Deutlich wird dies bei einem Exkurs auf die zivilgesellschaftlichen Aktivitäten: Nachbarschaftshilfen, die eine tägliche Versorgung organisieren, unterstützen oder wahren gar die Autonomie und Eigenständigkeit der älteren Menschen, die weiterhin zu Hause leben können. Andere bemühen sich um die soziale Einbindung älterer Menschen und tragen so zur Realisierung des Rechts auf Kulturerleben und Teilhabe am Sozialleben (Anerkennung, Zuwendung, zwischenmenschlicher Begegnung etc.) bei. Wieder andere versuchen Standards für die gute Behandlung im Alter, insbesondere im Kontext von Pflege und bei institutioneller Unterbringung zu etablieren, was wiederum dem »Recht auf Wohlfahrt«27, dem Erhalt oder der Realisierung eines angemessenen Lebensstandards entspricht. Mehr oder weniger stark finden hierbei interindividuelle und regionale Unterschiede, das Zusammenwirken verschiedener Ungleichheiten28 oder die Pluralität von Kategorisierungen Berücksichtigung,29 die in der Heterogenität des Alter(n)s kumulieren.30 Während Alter(n) somit einerseits zwar als universelles Phänomen behandelt wird, mit dem angesichts der Prognose, dass 2050 »more than 20 per cent of the world’s population« über 60 Jahre sein werden, nicht nur die »developing world« konfrontiert ist,31 wird andererseits deutlich, dass verschiedene personelle, interpersonelle und kontextuelle Faktoren das Alter(n) beeinflussen:32 Alter(n) unterscheidet sich zwischen Personen und Settings, etwa weil unterschiedliche Ressourcen verfügbar sind, um altersbedingte Veränderungen zu beschleunigen bzw. zu ver-

27 Amnesty International (2019), Artikel 25. 28 Hirschauer (2014) und (2017b); Simonson/Vogel (2019); Fachinger (2019). 29 Graefe/van Dyk (2012); Bennani/Müller (2018). 30 Deutsches Institut für Menschenrechte (2018) und (2019b). 31 General Assembly (2013). 32 Sarmah/Das (2017); Lang et al. (2007).

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langsamen bzw. (nicht) auszugleichen, oder weil die Infrastrukturen so gestaltet sind, dass das Alter(n) (keine) negative(n) Auswirkungen auf die Teilhabe am sozialen Leben entfaltet. Eine derartige Heterogenität scheint eine Differenzierung »der Alten« oder eine differenzierte, konkreten Bedarfen und Umständen angepasste Behandlung zu erfordern; so können interpersonelle, regionale und kontextuelle Unterschiede sowie Ungleichheiten ausglichen werden. Weil die Etablierung und Verwendung von Personenkategorien in der Regel mit Vereinheitlichungsprozessen verbunden ist und die Formulierung von Menschenrechten sowie mit bestimmten Gruppierungen verbundene Konventionen auf Pauschalisierungen und Vereinheitlichungen zurückgreifen müssen, wird in unterschiedlichen Foren und Diskurszusammenhängen daher auf die Notwendigkeit verwiesen, die Vielfalt des Alterns zu berücksichtigen und das Gespräch mit »den Alten« zu suchen.33 Vor diesem Hintergrund stellt sich dann die Frage, ob und inwiefern angesichts der Heterogenität des Alter(n)s überhaupt Standards etablierbar oder sinnvoll sind, um welche Standards es dabei geht sowie wessen Definition oder Verständnis dabei welche Berücksichtigung findet, d.h. auch hier geht es um die eingenommene, akzeptierte und umgesetzte Perspektive. Denn auch wenn proklamiert wird, dass »die Alten« gehört werden und eine Stimme bekommen, legen alltagsweltliche Einsichten genauso wie Studien und eigene empirische Befunde nahe, dass tendenziell alle älteren Menschen, insbesondere aber die sogenannten »schwer zugänglichen Gruppen« (z.B. Arme, Bildungsferne, Migrant*innen, isoliert wie institutionalisiert Lebende) u.a. in Gremien und wissenschaftlichen Untersuchungen unterrepräsentiert sind,34 eher über sie als mit ihnen geforscht wird35 und nicht alle Gruppen von alten Menschen gleichermaßen bei der Entwicklung von Strukturen, Regelungen, Institutionen berücksichtigt werden.36 Letzteres zeigt sich insbesondere hinsichtlich Bildung, ökonomischen Ressourcen und vor allem auch kultureller Vielfalt: Zwar findet Migration bzw. das Alter(n) von Migrant*innen seit dem Beginn der 2000er in der

33 Deutsches Institut für Menschenrechte (2019b). 34 Das gilt nicht nur für medizinische Studien, vgl. Gießelmann (2018); Alisch/ Kümpers (2015). 35 Döbler (2019). 36 Alisch/Kümpers (2015); Cahill (2018).

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deutschsprachigen Forschung zunehmend mehr wissenschaftliche Beachtung und unter dem Schlagwort »kultursensibler Pflege« soll sich dies auch in der Praxis niederschlagen,37 allerdings erscheinen die Ergebnisse immer noch partikular oder singulär und die realisierten Praktiken vor Ort eurozentristisch und monokulturell. Ähnlich scheint sich die Situation für institutionalisiert lebende Menschen, insbesondere Personen mit Demenz, darzustellen.38 Die einen argumentieren nun, ein »menschenrechtlicher Ansatz« eigne sich dennoch, der Vielfalt des Alter(n)s gerecht zu werden und trotz der Heterogenität allgemein, d.h. in diesem Fall sogar weltweit, kultur- und zeitunabhängig gültige Formulierungen und Konventionen zu etablieren, die alle »möglichen Bedarfe älterer Menschen«, »Schutzlücken« und Schutzbedarfe berücksichtigen ließen,39 so dass die Menschenrechte aller Älteren respektiert, bestmöglich gestärkt und gerade auch angesichts verschiedener Vulnerabilitäten realisiert werden könnten. Dennoch läuft ein »menschenrechtlicher Ansatz« Gefahr, innerkategoriale Heterogenität genauso zu vernachlässigen oder zu dethematisieren40 wie verschiedene Formen von Intersektionalität oder Mehrfachzugehörigkeiten,41 da er in der Regel mit der Etablierung von Personenkategorien und damit zwangsläufig mit Homogenisierung verbunden ist. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob und wenn ja welche Art von Vereinheitlichungen gerechtfertigt oder möglich sind, d.h. beispielsweise ob eine Menschenrechtskonvention für Ältere, die u.a. auf Standards und allgemeingültige Definitionen setzt, überhaupt entwickelt werden kann.

37 Steinbach (2019); Baykara-Krumme et al. (2012); Dietzel-Papakyriakou (2012); Zeman (2012). 38 Morbey et al. (2019). 39 Mahler (2017), 281. 40 Dies wird z.B. im Kontext der (globalen Personen-)Kategorien »Indigene Völker«, »Menschen mit Behinderungen« und »Geschlecht«, vgl. Bennani/Müller (2018); Hirschauer (2017b), oder hinsichtlich schicht-, klassen- und »ethnischer Differenzierungen«, vgl. Müller/Zifonun (2010) und Hirschauer (2014), problematisiert. 41 Hirschauer (2014) und (2017a); Bennani/Müller (2018).

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Die Beantwortung oder zumindest Diskussion dieser Frage ist das übergeordnete Ziel dieses Beitrags. Hierfür werden schwerpunktmäßig Interviews mit Bewohner*innen bayerischer Alten(pflege)heime ausgewertet und daraufhin untersucht, ob es konsensuale Aspekte bezüglich guter Behandlung und Lebensqualität gibt und wenn ja, worin dieser Konsens besteht. Ergänzt wird dies durch eine knappe Darstellung der Analyse von Gesprächen mit Mitarbeiter*innen derselben Heime, in der ein Fokus auf die gleichen Themen gelegt wird, die auch hinsichtlich der Bewohner*innen behandelt werden. Die Untersuchung und Fokussierung von Alten(pflege)heimen ist aus mindestens drei Gründen hinsichtlich menschenrechtlicher Überlegungen relevant: Erstens, die »Nationale Stelle zur Verhütung von Folter« hat u.a. in den Jahren 2018 und 2019 über in Alten(pflege)heimen angetroffene Praktiken und Umstände berichtet, die den Menschenrechten entgegenstehen. Hierzu zählen z.B. Barrieren, der Einsatz von Freiheitsentziehenden Maßnahmen sowie andere Formen der Autonomieeinschränkung. Zweitens, gerade Alten(pflege)heim-Bewohner*innen fehlt häufig eine Stimme und Gehör, trotz der verpflichtenden und verbindlichen Einrichtung von Heimbeiräten, in denen Bewohner*innen repräsentiert und vertreten sein sollen und über die sie etwa die »Unterkunft, Betreuung, Aufenthaltsbedingungen, Heimordnung, Verpflegung und Freizeitgestaltung« mitbestimmen können sollen,42 so dass ihre Perspektive auf Lebensqualität oder auf die für sie relevanten Strukturen und Regelungen zur Realisierung ihrer Menschenrechte, der Wahrung ihrer Würde kaum bis keine Berücksichtigung finden. Drittens, sollte sich selbst unter Umständen, in denen verschiedene äußere, insbesondere strukturelle Einflussfaktoren konstant gehalten werden bzw. die Variabilität der Kontexte des Alter(n)s reduziert wird, kein gemeinsamer Nenner finden lassen, steht das Bestreben, zu einer allgemein gültigen Definition von guter Behandlung zu gelangen sowie Strukturen zu etablieren, um die subjektive Lebensqualität aller gleichermaßen zu gewährleisten, unter einem schlechten Stern. Die Untersuchung des empirischen Materials wird mit Blick auf Menschenrechte im Alter in das abschließende Fazit dieses Artikels münden: Zwar hängen Verständnisse von guter Behandlung und von Lebensqualität

42 Vgl. Heimgesetz in der Fassung von 2001 mit den Erweiterungen von 2009, § 10.

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sowie die Einschätzung, ob und inwiefern diese unter den gegebenen Umständen erfüllbar sind, von der eigenen Perspektive ab und es sind interindividuelle, ressourcen- und rollenbedingte genauso wie statusgruppenspezifische Unterschiede festzustellen. Dennoch scheint ein zwar nicht überall praktizierter, aber dennoch weitverbreiteter, verbal anerkannter Grundkonsens vorhanden, der sich in den folgenden Kernaussagen zusammenfassen lässt: • • •

• •

Es ist zentral, Mensch-, Person- und In-Beziehung-Sein zu können. Bewohner*innen sollen/wollen tun dürfen, was sie (noch) tun können. Gute Behandlung besteht aus dem Erkennen oder Erleben von Sinnhaftigkeit bei gleichzeitiger Wahrnehmung von Wahlmöglichkeiten bzw. Spielräumen. Adäquate Versorgung bedeutet die Befriedigung von Grund- und individuell als essenziell eingestuften Bedürfnissen. Lebensqualität ist gegeben, wenn Menschen ihren Gesundheitszustand mindestens als erträglich, ihre Beziehungen als emotional befriedigend und positiv sowie das Essen für gut befinden.

Bevor diese Aussagen anhand des empirischen Materials erarbeitet werden, ist es jedoch notwendig in die verwendeten Methoden und die Datengrundlage einzuführen.

2. M ETHODEN

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D ATENGRUNDLAGE

Im Rahmen der Förderung durch das Bayerische Staatsministerium für Bildung und Kultus, Wissenschaft und Kunst wurden zwölf Alten(pflege)heime unterschiedlicher Größe (30–150 Betten), Lage (Stadt/Land) und Trägerschaft (privat, kirchlich, freigemeinnützig) in Bayern besucht. Im Zuge dessen wurden in jedem Heim Expert*inneninterviews mit der Pflegedienstund/oder der Heimleitung, schriftliche Leitfadenbefragungen (2–15 Rückläufer pro Heim) und offene, unstrukturierte Gespräche mit dem Personal sowie 128 semistrukturierte Leitfadeninterviews mit Bewohner*innen (9–15

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pro Heim) im Alter zwischen 65 und 102 durchgeführt. Während die Pflegegrade variieren,43 hat die Voraussetzung der Befragbarkeit verhindert, dass Personen mit schwereren Formen von Demenz, kognitiven oder anderen, die Kommunikation verhindernden Einschränkungen in die Studie aufgenommen werden konnten. Interviews und Gespräche wurden audioaufgezeichnet, transkribiert und anonymisiert, bevor sie zunächst einer inhaltsanalytischen44 Grob- und passagenweise einer hermeneutisch-rekonstruktiven Feinanalyse45 unterzogen wurden. Tabelle 1: Übersicht über die Verteilung der Pflegegrade Pflegegrad 0 1 2 3 4 5

Anteil (%) 26.25 8.75 35 25 3.75 1.25

Personen 21 7 28 20 3 1

Noch einmal explizit hinzuweisen gilt es an dieser Stelle auf Spezifika und Charakteristika des Datenmaterials und damit verbundene potenzielle Begrenzungen bezüglich der Reichweite gewonnener Erkenntnisse: (i) Befragt wurden Bewohner*innen bayerischer Alten(pflege)heime, die in der Lage waren, mit den Interviewer*innen zu kommunizieren. Über Menschen mit Kommunikationseinschränkungen unterschiedlichster Art kann daher nur indirekt geschlossen werden. (ii) Vor allem ist jedoch die Selektivität des Heimsamples zu erwähnen, da lediglich dort Datenerhebungen stattfinden konnten, wo bereitwillig Zutritt gewährt wurde. Diese Freiwilligkeit der Teilnahme an der Untersuchung hat einerseits vermutlich verhindert, dass »besonders schlechte Heime« oder Pflegeeinrichtungen im Sample auftauchen, in denen vieles im Argen liegt. Andererseits hat sie möglicherweise dazu geführt, dass tendenziell eher Heime besucht werden konnten, in denen mindestens der Selbstwahrnehmung der Heimleitung zufolge »alles gut ist«, Interesse an der (Verbesserung der) Lebensqualität bestand oder wo die Untersuchung genutzt werden sollte, um »äußere Bedingungen« anzuprangern 43 Vgl. Tabelle 1: Übersicht über die Verteilung der Pflegegrade. 44 Mayring (2010). 45 Bohnsack (2014); Reichertz/Schröer (1994).

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oder andere, interne Evaluationen zu ersetzen. (iii) Ebenfalls kann über die Übertragbarkeit der Ergebnisse in andere Bundesländer, alternative Wohnformen und andere Pflegekonstellationen – beispielsweise häusliche, private und/oder durch professionelle Pflegekräfte unterstütze ambulante Pflege – nur eine vorsichtige Einschätzung abgegeben werden. Dennoch stellen die zwölf Expert*innen-Interviews mit Heim- und Pflegedienstleitungen, die 128 Bewohner*innen-Befragungen und die Vielzahl an Gesprächen mit dem Heimpersonal die Grundlage dafür dar, fundierte Aussage über (i) das Verständnis dieser Personengruppen von guter Betreuung, adäquater Versorgung und Lebensqualität im Alter bzw. Altenpflegeheim (ii) sowie die potenzielle Heterogenität der Perspektiven treffen zu können.

3. E RGEBNISSE Die folgenden Abschnitte widmen sich zunächst der Perspektive der Alten(pflege)heim-Bewohner*innen und ihrer Sicht auf die Dinge, die erforderlich sind, um ein eine gute Behandlung und eine adäquate Versorgung zu erfahren sowie um subjektiv Lebensqualität, aber auch um ein menschenwürdiges Alter(n) zu erleben. Anschließend rückt – aber in einer wesentlich kürzeren Abhandlung – die Perspektive des heiminternen Personals, der professionellen Pflege- und Betreuungskräfte in den Fokus. Im Gegensatz zur Ersten-Person-Singular-Perspektive ersterer, bei der trotz potenzieller Verallgemeinerung immer eine persönliche, vielfach auch leibliche »Betroffenheit« bzw. das »Involviert-Sein als zu Pflegende« vorhanden ist, argumentieren und diskutieren letztere auf einer abstrakteren Ebene über andere, d.h. in einer Dritten-Person-Perspektive, und beschreiben Care-Konstellationen, in die sie selbst primär bis ausschließlich in ihrer Rolle als Care-Geber*innen involviert sind.46

46 Das bedeutet, dass man nicht in der Tätigkeit aufgeht, eine gewisse Distanz zum Geschehen gewahrt und bspw. die persönliche Betroffenheit oder Involviertheit durch »professionelle Strategien« geringgehalten werden kann. Diese Option haben die Alten(pflege)heim-Bewohner*innen nicht, sowohl weil ihnen andere Rollen als auch andere Kontexte fehlen, vgl. Backes (2014); auch ohne Alten(pflege)heime als totale Institutionen – vgl. Goffman (1973) – zu betrachten,

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Eine Vorbemerkung zur Terminologie ist an dieser Stelle noch nötig: Der Begriff »Care« wird als Sammelbegriff verwendet, weil – das zeigen nicht nur eigene Analysen, aber eben auch diese – selbst in Altenpflegeheimen und innerhalb von vertraglich geregelten, vermeintlich auf bestimmte Tätigkeiten fokussierten Begegnungen weit mehr als Grund- und Behandlungspflege erfolgt – oder erfolgen sollte und erfolgen muss, um ein menschenwürdiges Dasein und Altern, aber auch ein menschenwürdiges Gepflegt-werden und Pflegen zu ermöglichen. Im Kontext des Alter(n)s subsumiert der Care-Begriff neben einer gerontologischen Versorgung, die geriatrische und gerontopsychologische Maßnahmen umfasst und Praktiken den altersspezifischen Fähigkeiten, Vulnerabilitäten und Multimorbiditäten anpasst, auch verschiedenste Formen der Betreuung, emotionalen Zuwendung, praktischen Sorge, finanziellen Fürsorge sowie der Selbstsorge.47 Daraus ergeben sich Care-Netzwerke unterschiedlicher Komplexität, Ausdehnung und Form, d.h. es sind unterschiedlich viele Personen oder Rollenträger*innen an einem solchen Netzwerk beteiligt und die Gestalt der Netzwerke variiert mit der fokussierten Person. In jedem Fall zeigen u.a. eigene Analysen auch in anderen Kontexten einerseits, dass in Netzwerken Care-Leistungen ausgetauscht werden; es handelt sich um ein Geben-und-Nehmen, das ggf. nicht immer sofort erfolgt und vielleicht nicht immer als »gleichwertig« zu bezeichnen ist, aber dennoch auf Gegen- oder Wechselseitigkeit beruht.48 Andererseits legen eigene Analysen nahe, dass das Aufrechterhalten der Tausch-Praxis oder zumindest eines entsprechenden Deutungsrahmens für das Wohlbefinden der Alten(pflege)heim-Bewohner*innen und der Pflegekräfte essenziell ist.

ist das Heim für die meisten Bewohner*innen mehr oder weniger deren »ganze Welt«. 47 Döbler (2019) und (2020). 48 Döbler (2020); Ellwardt/Hank (2019); Vries (2018).

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3.1 Die Sicht der Bewohner*innen 49 Die Analyse der Bewohner*innen-Interviews verdeutlicht verschiedene Voraussetzungen, die gegeben sein müssen, damit Bewohner*innen meinen, eine gute Behandlung zu erfahren sowie angesichts ihres Alters und ihrer u.a. altersbedingten Bedürfnisse adäquat versorgt zu sein. Gleichzeitig werden Rahmenbedingungen und Faktoren sichtbar, die zwar ggf. nicht dem subjektiven Erleben von Lebensqualität abträglich sind, aber eine positive Bewertung der Behandlung und Versorgung genauso in Frage stellen wie die Wahrung der Menschenwürde. Ordnen lassen sich diese verschiedenen Überlegungen entlang der Modalverben, die verschiedene Möglichkeitsformen (»können«, »dürfen«) bezeichnen. Alten(pflege)heim-Bewohner*innen sprechen von »Können« in unterschiedlichen Ausprägungen. Es geht ihnen dabei um • • •



Fähigkeiten, d.h. dass sie imstande sind, etwas zu tun, in der Regel, das zu tun, was sie tun wollen, Möglichkeiten, d.h. dass ihre Fähigkeiten zum Einsatz kommen können und ihr Wollen realisierbar ist, Gelegenheiten, d.h. dass es entsprechende Räume, Zeiten und Personen gibt, in, zu bzw. mit denen gewünschte Handlungen durchführbar sind und sich Bedürfnisse oder Wünsche befriedigen lassen, Befähigung, d.h. dass sie, wenn und wo nötig, technische, materielle Hilfsmittel oder Unterstützung durch andere zur Verfügung haben, um ihre Bedürfnisse und Wünsche zu befriedigen; hierzu gehören auch (infra-)strukturelle Rahmenbedingungen.

Fast unweigerlich wird etwas »können« im Kontrast zum »nicht-(mehr-)können« dargestellt. Erzählt wird von Befragten über das, wozu sie selbst nicht mehr in der Lage sind oder was sie, anders als viele andere Mitbewohner*innen, doch noch können. Häufig ist es dieser Kontrast, der die Bedeutung und

49 Die Grundlage für diesen Abschnitt stellen die Interviews mit den Bewohner*innen dar. Alle Zitate in diesem Kapitel sind diesen Interviews entnommen. Es wurde wortgetreu transkribiert, weshalb Zitate teils Wortabbrüche, Grammatikfehler u.ä. enthalten. Pausen im Sprechen sind mit (.) gekennzeichnet, Lachen wird durch ein @ symbolisiert.

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Wertigkeit entsprechender Fähigkeiten steigert sowie die Möglichkeiten, Gelegenheiten und Befähigungen konturiert, die durch die institutionelle Unterbringung entweder verhindert, reduziert oder ermöglicht werden. Bedauernd wird von den einen angemerkt, was sie angesichts der Nicht-Präsenz der Familie, des Nicht-mehr-Zuhause- oder des Zusammenlebens mit vielen nicht (mehr) können. Wieder andere scheinen dankbar für die (neuen) Möglichkeiten und Gelegenheiten, die ihnen die Heim-Infrastruktur bietet, indem sie den Bewegungsradius, den Kreis der sozialen Kontakte oder die selbst mit altersbedingten Einschränkungen erreich- und wahrnehmbaren Angebote erweitert. Deutlich wird bei alldem, selbst wenn es vermeintlich um individuelle Fähigkeiten geht, dass diese vielfach eingebettet oder verknüpft sind; das was sich unter dem Schlagwort »können« zusammenfassen lässt hat verschiedene Dimensionen, involviert unterschiedlichste Akteur*innen bzw. basiert auf variierenden soziomateriellen Beziehungen: Es geht um individuelle, persönliche kognitive und körperliche Ressourcen, Unterstützung und Hilfestellungen durch andere Personen, z.B. Angehörige oder Pflegekräfte, die zusammen mit (Infra-)Strukturen etwa in Form von Barrierefreiheit oder Rollatoren, genauso aber auch durch Medien, die Voraussetzungen, die Gelegenheiten und Möglichkeiten bestimmen, was Bewohner*innen tun können. Während von Bewohner*innen Fähigkeiten, Befähigungen etc. primär als alltägliche Aspekte präsentiert werden – angefangen davon, was jemand noch hinsichtlich der eigenen Körperpflege schafft über die Frage, welche Nahrungsmittel genossen, weil sie verdaut werden können oder welche körperlichen Aktivitäten noch leistbar sind bis hin zu den Ausführungen zum eigenen Mobilitätsradius – klingen dabei essenzielle Dimensionen an, und es dokumentieren sich menschenrechtlich relevante Fragestellungen: Bewohner*innen diskutieren mindestens implizit das Mensch-, Person- oder In-Beziehung-Sein-Können. Auch hierfür braucht es Fähigkeiten, insbesondere Soziabilität und Kommunikationskompetenzen, d.h. beispielsweise, dass jemand in der Lage ist, sich zu äußern, zu artikulieren, aber auch zu hören und zu verstehen. Gleichzeitig sind aber auch entsprechende Rahmenbedingungen erforderlich, etwa Möglichkeiten in Form von Präsenz von Personen, zu denen man sich in Beziehung setzen möchte, und Gelegenheiten, wie z.B. Anlässe, um sich ungezwungen zu begegnen.

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Mensch-Sein-Können Hinsichtlich des Mensch-Sein-Könnens werden neben (dem Erhalt der) Gesundheit und der Freiheit oder der Vermeidung von Schmerz vor allem Aspekte erwähnt, die etwas mit den infrastrukturellen Bedingungen zu tun haben oder an der Befähigung durch Dritte hängen. Hierzu gehören die Befriedigung anthropologischer sowie sozialer Grundbedürfnisse.50 Ersteres bedeutet vor allem, satt, sauber und trocken, d.h. hinreichend mit Nahrung und im Idealfall auch Nährstoffen versorgt und nicht unterernährt zu sein sowie sich entweder selbst um die Körperhygiene kümmern zu können oder eine entsprechende Unterstützung zu erhalten. »Die Leute haben kein Interesse, die Leute haben keine Zeit. Ich versteh das ja, es ist so wenig da. Schauen Sie her, ich gehe alleine auf’s Klo, ich brauche nachts niemanden. Das ist mein Glück.« »Wissen’s wann mein schönster Tag war? Wo ich allein aufs Klo gehen konnte und zum Waschen. Da habe ich, das war wie Ostern, Weihnachten und alles miteinander. Da habe ich, habe, da habe, ich bin ich mir wieder wie ein Mensch vorgekommen.«

Die sozialen Grundbedürfnisse wiederum beziehen sich auf das äußere Erscheinungsbild, das Aus- und damit auch das vermutete soziale Ansehen; erwähnt wird etwa, »angemessen angezogen«, »frisiert« und »gut gekleidet« zu sein, was an sozialen, kulturellen Standards gemessen wird. Aber auch das Erleben von Respekt und Wertschätzung gehört in diese Kategorie. Hierunter fallen etwa die Bedürfnisse und Wünsche – sowie Ansprüche und Rechte – der Alten(pflege)heim-Bewohner*innen, nicht nur als Arbeitsgegenstand wahrgenommen oder als Objekt behandelt zu werden, aber auch die Einsicht in die Notwendigkeit pflegerischer Zuwendung, die Sinnhaftigkeit entsprechender Maßnahmen sowie die Wahrnehmung der Natürlichkeit eines altersbedingt wachsenden Unterstützungsbedarfs. Offenbar förderlich ist in dieser Hinsicht die Einsicht oder Erkenntnis der Alten(pflege)heim-Bewohner*innen, dass Hilfsbedürftigkeit normal und dass es mindestens im Kontext von Alten(pflege)heimen Normalität ist, Hilfe zu benötigen und anzunehmen.

50 Doyal/Gough (1991).

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»Wenn ich immer hätt gewusst, jetzt muss mir bald schon der Arsch gewaschen @ werden und was weiß ich noch! @ Und na! @(.)@ Und hier ist das selbstverständlich! Hier sind-, bin ich nicht alleine so.«

Person-Sein-Können Neben dem Wunsch und Bedürfnis, Mensch-Sein zu können, wird in den Interviews mit Alten(pflge)heim-Bewohner*innen auch deutlich, dass es und wie wichtig es ist, Person-Sein zu können. Angesprochen sind hierbei Dimensionen und Aspekte des Seins, die jenseits oder zusätzlich zu den erwähnten anthropologischen und menschlich-sozialen Grundbedürfnissen wirken. Es geht insbesondere um Identität und Persönlichkeit oder berührt u.a. jene Bereiche des Lebens, die mit der Sozialität des Menschen in Verbindung stehen. Person-Sein zu können bedeutet dann z.B., dass man nicht nur als Alte*r oder Pflegebedürftige*r wahrgenommen und behandelt, sondern dass mindestens in der Summe der Begegnungen auch andere Facetten der Persönlichkeit wahrgenommen und anerkannt werden, etwa dass man Frau/Mann, (Groß-)Mutter bzw. Vater ist, als Bauer, Sekretärin, Jurist oder Ärztin gearbeitet hat, gerne Musik macht, strickt oder liest. In einem allgemeineren Sinne geht es darum, nicht auf eine einzige Rolle – die des alten (pflegebedürftigen) Menschen, die oftmals auch noch geringgeschätzt wird – oder gar auf einen »Objektstatus« reduziert zu werden. Dies steht in enger Verbindung damit, dass Befragte aktiv sein können wollen und es ihnen wichtig ist, sinnstiftende Aufgaben übernehmen und sinnvolle Beschäftigungen wahrnehmen zu können, weil sie sich dann »gebraucht« und »noch am Leben« fühlen. »Ich, ich brauche doch keine Pflege, und da bin ich auch froh und ich hoffe, dass ich für meinen Mann noch da sein kann und noch einkaufen gehen kann. Und sonst habe ich keine Wünsche.«

Weitere zentrale Aspekte, die in den Interviews geäußert werden und sich unter dem Person-Sein-Können zusammenfassen lassen, sind die Handlungs- und Entscheidungsautonomie. Bezieht sich ersteres auf die Fähigkeiten, Gelegenheiten und Möglichkeiten, tun zu können, was man möchte und frei, uneingeschränkt im Handeln zu sein, so verweist letzteres auf die Freiheit und Chance, zwischen tatsächlichen Alternativen wählen zu können oder aber zu beeinflussen, wie andere für einen Handlungen ausführen und wer

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welche Tätigkeiten auf welche Weise übernimmt, die man selbst nicht mehr erbringen kann. Im Untersuchungskontext gehört zur Entscheidungsautonomie in der Regel der Einfluss der Bewohner*innen auf den Heimeinzug, ihre Pflege, Versorgung und Betreuung, so dass selbst dann, wenn die Älteren in ihrer Handlungsautonomie eingeschränkt sind, Entscheidungsautonomie ermöglicht wird und erhalten bleibt. Dies realisiert sich etwa, wenn Bewohner*innen den Pflegekräften sagen (können), »wie sie es machen sollen, wie ich es gern hab.« Insbesondere Entscheidungsautonomie hat viel mit (dem Erleben von) Eigenständigkeit und Selbstwirksamkeit zu tun, was – das dokumentieren die ausgewerteten Interviews – gerade auch von den alte(r)n(den) Menschen als wichtig empfunden wird. Sowohl zur Entscheidungsautonomie als auch zum Erleben von Selbstwirksamkeit gehört neben dem Einfluss auf das Wo, Wer, Was und Wie der Pflege, die Möglichkeit und die Gelegenheit, auf die sozialen Kontexte ihres Lebens und die Lebenswelt einzuwirken. In einem weiten Sinne geht es dabei vor allem um die Gestaltung und Umgestaltung von Care, d.h. der Care-Beziehungen, der Care-Rollen und die Art der Involvierung in das eigene Care-Netzwerk. »Was würden Sie da jetzt sagen, wenn man zu Ihnen sagt: ›Jetzt geben Sie den Geldbeutel her, alles, was Sie auf der Bank haben, alles, was Sie überhaupt besitzen, geben Sie jetzt sofort her. Und jetzt gehen Sie in ein Heim, in ein ganz fremdes Heim und Sie kennen da ja auch niemand.‹ Des glaubt man eigentlich gar nicht so. Weil die Jungen sagen: ›Du bist dann wenigstens versorgt.‹ Ja, des muss ich bejahen. Aber da brauchen Sie Zeit, bis Sie das innerlich überhaupt überstehen. Das Ganze, gell.«

Exemplarisch für und besonders wichtig hinsichtlich der Care-(Netzwerk-) Umgestaltung ist die Akzeptanz der wachsenden Einschränkungen der eigenen Fähigkeiten, die dementsprechend zunehmende Unterstützung durch Pfleger*innen oder die die Nutzung entsprechender Hilfsmittel. Hierbei profitieren die Älteren davon, die Sinnhaftigkeit oder Notwendigkeit der Maßnahmen erkennen und Care-Aktivitäten als reziprok interpretieren können. Das heißt zum einen, dass sie wahrnehmen, »etwas zurückzugeben« und selbst noch etwas zur Unterstützung anderer beizutragen. Diesbezüglich genannt werden die Weitergabe von »Lebensweisheiten« und auf Lebenserfahrung zurückzuführende Lehren gerade auch ans Personal, das zu ihnen als Bewohner*innen käme, um sich Rat zu holen oder Sorgen zu besprechen.

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Erwähnt werden ferner ganz alltagspraktische Aspekte der Vergemeinschaftung von Bewohner*innen untereinander, wo einer »ein Maggi und Salz hat«, das er mit anderen zur »Verbesserung des Essens im Heim« teilt und dafür Gespräche, zwischenmenschliche Wärme und Freizeitvergnügen bekommt. Zum anderen äußert sich dies in der Überzeugung der Älteren, in der Vergangenheit etwas für konkrete Andere getan oder zur gesellschaftlichen Reproduktion beigetragen haben, so dass sie nun legitimer Weise die gegenwärtig unidirektionale Care empfangen; der Grundgedanke hier ist der eines zeitversetzten Tausches. »Wir haben die Kinder finanziell beim Hausbau unterstützt, die Enkel gehütet. Jetzt sind sie dran.« »Mir geht’s darum wie der Mensch lebt und mit den anderen umgeht. Das habe ich praktiziert und die Leute laufen mir heute noch hinter- Frau B., was Sie alles gemacht haben. […] Die unterstützen mich daher gerne.«

Person-Sein-Können durch das Erleben von Autonomie, Eigenständigkeit und Selbstwirksamkeit äußert sich meistens mit Bezug auf die Freizeitgestaltung oder das Essen. Wie wichtig dies ist, zeigt sich bei einem Vergleich von Interviews mit Bewohner*innen von Heimen, in denen bereits zwei Wochen im Vorfeld für Mittag und Abend zwischen vielfach lediglich zwei Optionen gewählt werden muss, und Bewohner*innen von Heimen, in denen Entscheidungen entweder am Tag selbst in Abhängigkeit vom »eigenen Appetit« getroffen werden oder in denen sogar individuelle Speisewünsche eingebracht werden können und vom Koch berücksichtigt werden.51 In den beiden letztgenannten Kontexten wird im Vergleich mit dem erstgenannten Kontext eine höhere Zufriedenheit berichtet und diese Zufriedenheit beschränkt sich in der Regel nicht auf das Essen selbst, sondern zeigt sich in einem weitaus umfassenderen Sinne als »Lebenszufriedenheit«. Das veranlasst zur Vermutung, dass Essen einerseits symptomatisch für die Würdigung der Individualität, der Autonomie und Rechte der Bewohner*innen, anderseits wesentlicher

51 Dass nicht in allen Heimen und nicht in vollem Umfang die Möglichkeit für Bewohner*innen besteht, über ihr eigenes Essen bestimmen oder Einfluss darauf ausüben zu können, belegen etwa auch Ergebnisse der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (2016).

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Teil der Lebensqualität gerade älterer Menschen ist oder ihnen aber das Gefühl gibt, als »alt« und »pflegebedürftig« abgestempelt zu werden, nicht beoder gar missachtet, ggf. wie ein kleines Kind behandelt und reglementiert zu werden. Resigniert bemerkt eine Bewohnerin über das Heimessen: »Es ist auf alte Leute ausgerichtet. […] Man kann sich was Besseres vorstellen.«

Und eine andere erklärt auf die Frage, aus wie viel Gerichten sie auswählen könne, was sie essen möchten: »Das kann ma net, mir kriegen- muss halt des Essen, was ma hingestellt kri- äh hingestellt bekommt, aber aussuchen kann man sich des nicht.« »Es gibt keinen Speiseplan, wo man sagen kann, ich hätt lieber das, oder das?« »Na, na, na, nein, des gibt’s net hier. Gell? Des wär ja großzügig.« »Und wenn Sie was nich mögen, kriegen Sie dann was anderes, oder?« » Dann lass ichs, no, lass ichs am Teller. Und das geht dann zurück.« »Sie kriegen dann auch nichts anderes?« »Na, na. Na wenns des net essen, dann kriegen se nix anders.«

Ferner zeigt sich auch in den besuchten Alten(pflege)heimen die in anderen Zusammenhängen beobachtete identitätsstiftende Wirkung von Essen,52 die wesentlich zum Person-Sein-Können beizutragen scheint. So finden sich in der Literatur, nicht nur in Goffmans Ausführungen über die Situation der Bewohner*innen »totaler Institutionen«,53 Abhandlungen darüber, was dem Person-Sein abträglich ist und die (menschenrechtlich und für die Menschenwürde relevante) Ehre, d.h. Ansehen, Anerkennung, (Selbst-)Achtung und Wahrung des Gesichts in Frage stellt. Exemplarisch zu nennen ist, dass das, was auf den Tisch kommt, wie etwas zubereitet und präsentiert erniedrigende oder infantilisierende Formen annimmt, beispielsweise indem es kein Besteck sondern ausschließlich einen Löffel gibt, nicht auf einem Teller, sondern auf einem Tablett mit vorgesehenen Mulden und insbesondere passierte

52 Barlösius (2016); Reitmeier (2013); Teuteberg et al. (1997). 53 Im Kontext psychiatrischer Einrichtungen finden sich hierzu auch bei Goffman (1973) sowohl empirische als auch theoretische Ausführungen.

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Kost als undefinierbarer Brei serviert wird, bei dem die einzelnen Komponenten nicht voneinander zu unterscheiden sind.54 In den ausgewerteten Bewohner*innen-Interviews werden derlei Umstände nicht beschrieben, aber es finden sich zahlreiche Belege dafür, dass das Essen in Gemeinschaft für manche eine Herausforderung darstellt, es als übergriffig oder gar als unwürdig erlebt wird, sehen oder hören zu müssen, wie andere, die nicht (mehr) die zivilisatorischen Standards der Esskultur einhalten, ihre Nahrung zu sich nehmen. Befragte scheinen dadurch peinlich berührt oder beschämt zu werden, d.h. sich für sich selbst oder für andere fremdzuschämen, oder ihre eigene Freiheit als eingeschränkt und ihr Person-Sein in Frage gestellt zu erleben.55 »Das Essen, ich ess auf’m Zimmer, weil ich das nicht mag, wenn andere husten, oder irgendetwas.«

Gleichzeitig belegen die Interviews, dass »Essen wie daheim« oder ein »Geschmack wie früher« Gefühle von Vertrautheit, Sicherheit, Zuhause-, Geborgen- und Gut-aufgehoben-Sein fördern und dazu beitragen, Person-Sein zu können, während die Fremdheit genau das verhindert.

54 Dass dies nicht immer gewährleistet ist, bestätigen auch die Ergebnisse der DGEErhebung, vgl. Deutsche Gesellschaft für Ernährung (2016), 80–101. 55 Vgl. Goffman (1973). Derlei Formen der empfundenen Übergriffigkeit, Beschämung oder Verletzung der Privats- wie Intimsphäre durch die bloße Anwesenheit, körperliche oder kommunikative Äußerungen von Mitbewohner*innen werden in den in den für diesen Aufsatz gesichteten Chartas und Kodizes nicht thematisiert, obwohl z.B. die Pflegecharta in Artikel 2 »Körperliche und Seelische Unversehrtheit, Freiheit und Sicherheit« auf das Recht aller hilfe- und pflegebedürftiger Menschen verweist, »vor Gefahren für Leib und Seele geschützt zu werden« und in Artikel 3 »Privatheit« das Recht auf Rückzug und die Beachtung des Schamgefühls hervorhebt. Eine mögliche Erklärung dafür ist die ausschließlich Individuums- wie (Körper-)Pflegebezogene Sichtweise auf Alter(n) im Care-Kontext unter Vernachlässigung interpersoneller Aspekte bzw. der notwendigen und bei stationären Unterbringung zwangsläufigen Eingebundenheit in soziale Zusammenhänge. BFSFJ/BMG (2019), 10–13.

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»Weil ich bin keine bayerische Frau und meine russische Speise, die werde bissche anders gekocht. […] Die andere, die, die von hier, die, die bayerischen Leute, die esse zum Beispiel Kartoffelsalat esse sie gerne, Wurstsalat gerne. Und ich nicht und die H. weiß schon, dass ich äh, die Weißwürste, die schmecken mir nicht.«

In eine ähnliche Richtung, wenn auch aus ganz anderen Gründen, wirken die Möglichkeit, selbst bei der Zubereitung des (eigenen) Essens mitzuwirken, sowie die Eigenständigkeit bei der Portionierung oder Zusammenstellung der eigenen Speisen, aber auch die Wahl der Essenspartner*innen oder Sitznachbar*innen: Es werden Identitäten reproduzierbar, Selbstwirksamkeit und Einfluss auf die Lebenswelt erlebbar und teilweise sogar das Gefühl geschaffen, einer sinnvollen Betätigung nachzugehen, noch eigenständig und nicht überflüssig zu sein. »Ma’ setzt sich gerne zum a’ Bestimmten hin, des schon. Und des können wir. Wir können also aussuchen, wo wir sitze’. Also persönliche Freiheit is des da.« »Einmal habe ich kochen dürfen mit der mit der Hauswirtschafterin, weil ich auch immer habe ich immer den Mund so weit aufgerissen. Wir haben ja einmal in der Woche ist Speiseplanbesprechung. […] Und da habe ich so gemeckert. […] Da hat’s einen Scheiterhaufen [gegeben] und da habe ich gesagt das ist ja kein Scheiterhaufen das ist ja ein Batzen, das kann man ja nicht essen was ihr da angeboten habt. Ich habe mir natürlich einen Scheiterhaufen bestellt, weil ich den von daheim so gerne gegessen habe. […] Die Ha- Hauswirtschafterin, hat gesagt, wenn’s wollen, dann kochen wir mal einen, einen solchen wie Sie meinen. Und hat dann alles von sich zuhause mitgebracht […] Und dann haben wir, haben wir miteinander den Scheiterhaufen gekocht. […] Und dann haben ja alle, haben’s halt was probieren dürfen. Ist schon gut geworden unser Scheiterhaufen. Und die vo- von von der Verwaltung sind alle gekommen, mit einem Teller und haben gesagt die haben gesagt, das ist so gut, wir wollen auch was davon @(.)@ Null Komma nichts war das alles weg. Und dann haben haben die Frau W. und ich gesagt, ja wenn sie wieder Zeit hat, dann kochen wir mal wieder. Aber es ist nie dazu gekommen weil die überhaupt, momentan haben haben wir niemanden weil […] die Köchin ist […] in Urlaub und und die Köchin ist, glaube ich, die ist ins Krankenhaus gekommen, und die Stations- und Heimleitung haben heute bedient und und Tische abgeräumt weil’s niemanden gehabt haben. Und dann

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kann ich nicht verlangen, dass die mit mir kocht @(.)@ Ja die, die da ist jeder ausgelastet von denen das sehe ich selber ein, das weiß ich schon. Aber es sind zu wenige. Es ist ein schwerer Beruf.«

Mehr noch als beim Essen wird bei der Freizeitgestaltung deutlich, dass für das Erleben von Selbstwirksamkeit und das Ausüben von Handlungs- wie Entscheidungsautonomie tatsächliche Alternativen vorhanden sein müssen. Vorausgesetzt sind hinreichende Informationen über entsprechende Optionen und Angebote sowie über Rechte und Pflichten, was jedoch nicht immer gewährleistet ist, wie die Interviews mit den Heimbewohner*innen belegen; die Desinformation und damit verbunden die fehlende Chance und Gelegenheit, entscheiden zu können, wird dabei offenbar wesentlich mehr als Einschränkung der Selbstwirksamkeit und des Person-Sein-Könnens erlebt, als der Mangel der Fähigkeit oder körperlichen Befähigung, handeln zu können; ersteres verdammt zur Passivität oder macht zum Objekt, dem »Spielball« der Entscheidungen und Handlungen anderer. »Ich hab im Büro g’fragt, wie ich mich habe registriert, hab ich gfragt, äh ich möchte jetzt wissen, welches Recht das ich habe. Eine Mitarbeiterin hat gesagt, Frau K, Sie haben doch den Mietvertrag, aber weiter weiß ich nichts. Und ich weiß bis jetzt noch nicht, ich kenn mein Recht nic-. Ich weiß net, ich hab gehofft, dass des auch mal eine Sitzung, oder vielleicht eine Versammlung gibt, weil ich bald ein Jahr schon. Das gibt doch noch irgendwelche Informationen müsste sein, oder wo ich mich kann hinwende, wenn mir was gar nicht, gar nicht passt.«

Neben Selbstwirksamkeit und Eigenständigkeit, Einfluss auf soziale Kontexte und die Lebenswelt, Handlungs- und Entscheidungsautonomie sowie dem Mehr-als-nur Rollenträger*in-Sein trägt auch soziale Partizipation dazu bei, dass Menschen weiterhin auch im Alter, angesichts des Alterns und selbst bei stationärer Unterbringung erleben, Person-Sein zu können. Soziale Partizipation bezieht sich einerseits auf die passiv-rezeptive Teilhabe am Welt- und am lokalen Geschehen vermittelt durch Massenmedien, die auch im Heim verfügbar und barrierefrei zugänglich sind, oder über mündliche Berichte, Klatsch und Tratsch. Andererseits geht es um eine potenziell aktive Teilhabe am örtlichen Leben etwa auf Festen oder durch den Kontakt mit Familie und Freunden, was direkt oder ebenfalls medial vermittelt geschehen kann.

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»Wird alles ein wenig erzählt, was so läuft und auch die Neuigkeiten von daheim, wer dann einmal daheim war in W-Dorf, wer was Neues weiß, das wird dann alles ein wenig ausgebreitet und erzählt, naja dann haben wir die Zeitungen vorne, die werden dann gelesen, da wird auch drüber gesprochen dann, da haben wir auch unser Heimatblatt, noch von W-Dorf was da immer aufliegt da am Tisch.« »Aber mein Sohn oder Schwiegertochter, die kommen also jeden Tag (eine) (Weile) her und da bin ich sehr zufrieden drüber. Und zwischendurch irgendwann kommt auch mal mein Enkel vorbei. Der ist in E-Stadt, Studium und, naja, er irgendwie ko- macht er da ist er mal ne Stunde hier dann (quaddeln) wir. Aber wir haben beide ein Handy und wir schreiben uns. […] Foto habe ich nicht, ich habe wirklich nur zum Schreiben.« »Dann ich hab ja mein Facebook, alles hab ich, ne? @.@ Ja, ja WhatsApp und Instagram und alles hab ich.«

Aber auch die Möglichkeit, das Wahlrecht wahrnehmen zu können, wird von Bewohner*innen erwähnt und in manchen der besuchten Heime offenbar, z.B. durch die Unterstützung bei der Briefwahl oder die Chance, über die Zusammensetzung des Heimbeirats mitzuentscheiden, auch realisiert. Dies trägt ebenfalls zum Person-Sein-Können bei und ist notwendig, sollen sich die vollen und gleichen Menschenrechte, in diesem Fall insbesondere Artikel 21, aber auch Artikel 19 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR) sowie Artikel 6 der Pflegecharta,56 im Heimkontext entfalten. Rechnung getragen wird dabei ebenfalls dem menschenrechtlichen Prinzip der Teilhabe, das aber nicht in politischer Partizipation aufgeht, sondern ganz entscheidend auch soziale Partizipation voraussetzt. Insbesondere letztere scheint für das Erleben des Person-Sein-Könnens immens wichtig und erfordert sowohl Kontinuität als auch In-Beziehung-Sein zu können. Letzteres hat zwei Seiten, da es genauso um die Beziehung zu sich selbst wie um die Beziehung zu anderen geht.

56 AEMR Artikel 21: Allgemeines und gleiches Wahlrecht, AEMR Artikel 19: Meinungs- und Informationsfreiheit. Pflegecharta Artikel 6: Wertschätzung, Kommunikation und Teilhabe an der Gesellschaft. BFSFJ/BMG (2019), 18–19.

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In-Beziehung-Sein-Können Zu sich selbst in Beziehung sein zu können beinhaltet ebenfalls Aspekte von Autonomie und Selbstwirksamkeit und stellt in gewisser Weise den Gegensatz zur Entfremdung dar,57 die sich u.a. zu ereignen scheint, wenn angebotene und wahrzunehmende Aktivitäten als »Beschäftigungstherapie«, »kindisch« oder aus anderen Gründen als »sinnentleert« interpretiert werden. Die Möglichkeit und Gelegenheit hingegen, sich aktiv mit etwas zu beschäftigen, was Freude bereitet, den eigenen Interessen entspricht und sinnvoll erscheint, wirkt sich offenbar positiv auf die Selbst-Beziehung aus. »Die versuchen einen zu beschäftigen, aber des ist für Leute, die dement sind, aber Leute, die wie ich, für die gibts keine Beschäftigung grade, ja weil des, weil des doof ist, ne? Des sind so Erst-, Zweitklässler-Sachen, ne? Namen mit N und so weiter, ne?«

Ferner scheint sich Entfremdung zu ereignen, wenn es zu Zwangsvergemeinschaftung kommt und es an Rückzugsmöglichkeiten mangelt oder der persönliche Bereich nicht geschützt ist. Den Hintergrund dafür stellt die empfundene Übergriffigkeit dar, die von Verhaltensweisen, Äußerungen oder altersbedingten, teils als abjekt58 interpretierten Veränderungen der Mitbewohner*innen ausgehen und die Integrität der eigenen Person, das Verhältnis zu sich selbst und vor allem fundamentale Sicherheitsbedürfnisse in Frage zu stellen scheinen. »Meine Mitbewohnerin, die im Rollstuhl sitzen muss, die jammert dann auch immer so und das belastet mich auch etwas.« »Neulich hat mich ne auch demente Frau mit dem Glas auf den Handrücken gehauen.« »Da gibt’s zum Beispiel welche, die haben immer die Badtür auch offen und dann wenn’s zu denen ins Zimmer reinschaust, wenn eine Tür offen ist, schaust du willkürlich nei und dann siehst du aufs Klo rein […]. Oder die kommen zu dir rein.« »Naja da hat jetzt eine ghabt, meine Nachbarin da. […] Und die hat immer ins Bett gemacht, alles voll gemacht.«

57 Rosa (2016). 58 Kristeva (1982).

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»Dann geht die Tür auf, kommt ein Mann rein, Entschuldigung, wenn ich das jetzt sage, seucht die ganze Nasszelle voll und geht wieder ause, sagt keinen einzigen Ton. Dann läute ich der Schwester, die kommt ja erst nach zwanzig Minuten, die kommen so schnell nicht, das können Sie gerne ausprobieren. Warum? Weil wir zu wenig Leute haben. Die ham zwei drei Stationen, die kann ja nicht fliegen. Verstehen Sie? Ich geb der Schwester keine- Na hab ich gesagt, ich war ganz aufgeregt: ›Schwester, da drinnen ist alles voll, das ganze Klo, alles unten und oben. Ich setz mich da nimmer hin, ich geh ja auch gar nimmer nei.‹ Dann hat sie gesagt: ›Ja, glauben Sie, ich putz das?‹ Ja, hab ich gesagt: ›Wer das putzt ist mir wurscht! I ned.«

Demgegenüber kristallisieren sich das Allein-Sein und die Möglichkeiten, anderen aus dem Weg gehen zu können sowie vor ihnen geschützt zu sein, als wesentlich dafür heraus, mit sich selbst in einer positiven, resonanten, nicht-entfremdeten Beziehung zu sein.59 Doch nicht nur hinsichtlich des InBeziehung-Sein-Könnens zu sich selbst werden menschenrechtliche Fragen, u.a. hinsichtlich des Schutzes und der Unverletzlichkeit der Person, berührt, sondern auch im Kontext der Beziehung zu anderen sind diese von Relevanz. In diesem Kontext geht es – damit werden einige bereits erwähnte Aspekte aufgegriffen – um Selbstwirksamkeit, Freiheit und Autonomie, die sich in diesem Fall in der Freiwilligkeit von Begegnungen sowie der Möglichkeit äußert, die Personen wählen zu können, mit denen man zusammen ist. Hinzukommt die Chance, jemanden zum Reden zu haben, dem man Sorgen und Ängste anvertrauen kann. »Es is auch nicht so, dass ma sagt, ja also der muss da sitzen, sondern man kann wirklich äh frei wählen. Man hat die persönliche Freiheit schon.« »Und können Sie sich auch die Personen, mit denen Sie zusammen essen, aussuchen?« »Ja, ob man das könnte, weiß ich nicht. Ich war nicht in der Lage nachzufragen. Man hat mir den Platz zugewiesen und der hat mir ausgerechnet gepasst. Also, wenn ich gesagt hätte: ›Ich möchte woanders sitzen‹, könnte es sein, dass man dem Wunsch etwas nachgekommen wäre.«

59 Das könnte man einerseits aus Artikel 20 AEMR herauslesen und findet dieses Bedürfnis andererseits auch in der Pflegecharta, etwa in Artikel 3 unter der Überschrift »Möglichkeit des Rückzugs« Berücksichtigung. BFSFJ/BMG (2019), 12.

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»Daheim war ich mit meinen Sorgen alleine und mit meinem ganzen Zeug ne wenn mir was gefehlt hat, und ich muss sagen, mir hat auch dann immer mehr gefehlt, also ich habe mir dann auch sehr viel eingebildet was, ich hab’s halt schlimmer gemacht, wenn ich was gehabt habe, wissen Sie, das hat sich dann in mir dann immer, naja, dann kam die Angst dazu, allein und so gell, ja und das ist halt hier weg.«

In aller Regel nimmt die Familie diese Position ein. Sie kann aber auch von anderen Personen insbesondere aus dem Care-Netzwerk übernommen werden, sofern hinreichend Kontinuität, Verlässlichkeit und Vertrauen vorhanden ist, d.h. auch Pflege- oder Betreuungskräfte sowie Mitbewohner*innen können entsprechend emotionale Unterstützungsleistungen erbringen oder die Anerkennung als Person, als Individuum ermöglichen. Nicht-pflegerische Care-Aspekte wie affektuelle, emotionale Zuwendung, zwischenmenschliche, Individualität und Persönlichkeit wahrnehmende, ggf. anerkennende und respektierende Begegnungen im Idealfall auf Augenhöhe, die wertschätzende Wahrnehmung, die Betrachtung als Personen, die (Be-)Achtung der Autonomie und Freiheitsbedürfnisse sowie die Reziprozität von Austauschverhältnissen in variierenden und empirisch näher zu bestimmenden Mischungsverhältnissen zeichnen sich als Voraussetzungen dafür ab, dass Menschen sich nicht als einsam und isoliert erleben, was vorkommen kann, selbst wenn sie von vielen umgeben sind. »Also, mir ist wichtig, dass ich da unter Gemeinschaft bin hier, das ist mir sehr wichtig, dass ich nicht alleine bin wie daheim […] wenn einem dann was fehlt, dann ist man alleine, hat keinen, ich habe schon meine Kinder, aber die arbeiten alle […], die sind dann erst (aufs) Wochenende gekommen. […] Da bin ich jetzt (ja) unter Leuten, und und da fühle ich mich direkt geborgen hier, […] ich bin beruhigt, dass ich weiß, da kommt früh jemand, da kommt abends jemand gell.« »Fühlen Sie sich hier im Heim einsam?« »Ich bin total allein. Ich fühl mich total allein.«

Dürfen Die Thematisierung des Könnens wird von einer Diskussion des Dürfens begleitet. Denn es geht nicht nur um die Fähigkeiten und Befähigung durch Dritte oder Hilfsmittel, sondern Möglichkeiten und Gelegenheiten sowie Infrastrukturen werden genauso von Regeln und Vorgaben bestimmt; das was

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Menschen (nicht) können, wird auch dadurch definiert, was ihnen erlaubt und zugestanden wird. Wenn Bewohner*innen sagen können: »Ich darf alles machen, was ich noch kann«, scheint dies der subjektiv empfundenen Lebensqualität zuträglich zu sein und dazu beizutragen, dass sie sich gut behandelt und adäquat versorgt fühlen. Sie scheinen dann zumindest den Eindruck zu haben, ihre Eigenständigkeit, Autonomie und Freiheit werde berücksichtigt, ein sinnvolles Dasein zu erleben und zu meinen, noch gebraucht zu werden und aktiv mindestens in die Gestaltung ihres eigenen Lebens involviert zu sein. Sicherlich erfordert das Zusammenleben gewisse Beschränkungen bzw. es dient – je nach Perspektive – dem Wohle aller oder es ist eigennützig, wenn sich der Einzelne einer zentralen Autorität oder der Gemeinschaft, allgemeinen Gesetzen und Ordnungen unterordnet, dafür aber Sicherheit, Schutz von Leib, Leben und Eigentum sowie Care erhält60 und das Ausleben der eigenen Freiheit dort enden lässt, wo die Grund- und Menschenrechte anderer beeinträchtigt würden (Artikel 29 AEMR). Allerdings liegen in manchen besuchten Heimen offenbar stärkere oder umfangreichere Restriktionen für Bewohner*innen vor, als angesichts des Lebens in einer Heimgemeinschaft und mit Blick auf das Wohlbefinden aller nötig erscheint, so dass Bewohner*innen wesentlich weniger tun dürfen, als sie eigentlich angesichts ihrer eigenen Kapazitäten noch tun könnten und unter Berücksichtigung der Rechte und Freiheiten der anderen möglich wäre. Ebenso fehlen manchmal auch die sowohl von Philosophen geforderten als auch im Heimgesetz kodifizierten Möglichkeiten, Widerstand gegen die »Staats-« respektive »Heimgewalt« zu leisten und die eigenen Rechte einzufordern oder zu verteidigen,61 u.a. da es an Informationen und Gelegenheiten mangelt. Im Folgenden werden die als empirisch zu betrachtenden Fragen nach der Angemessenheit des Grads und der Freiwilligkeit der Einschränkung ausgeklammert, da es stattdessen um allgemeine Strukturen geht, die die Grenzen des Könnens der Bewohner*innen definieren und die Spannung zwischen Autonomie und Selbstbestimmung der Bewohner*innen einerseits und ihrer Hilfsbedürftigkeit und der Fürsorgepflicht für sie andererseits sichtbar machen.62

60 Rousseau (1925) und (2012); Locke (2017). 61 Siehe ferner Locke (2017); HeimG, vom 29.07.2009. 62 Giesbers (2016).

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Aus Sicht der Bewohner*innen zeigt sich eine Hierarchisierung von Rechten, Pflichten und Gesetzen. Die alltagswirksamsten und damit auch die für das Alter(n) im Heim relevantesten Regeln oder Strukturen sind die innerhalb des Heims praktizierten und durchgesetzten, die vielfach auch heimintern etabliert und aufgestellt werden und primär oder nur dort Gültigkeit haben. Nicht immer scheint für Bewohner*innen wahrnehmbar, dass auch Gesetze, juristische Vorgaben und politische Regulierungen von außen auf das Heim und das Leben im Heim einwirken oder die Heimpraxis bestimmen. Zwar bemerken einige der Befragten, dass »den Pflegekräften die Hände gebunden sind«, dass »die Politik das eben so entschieden hat« oder dass »die Kranken- und Pflegeversicherungen bestimmen«, wie das Leben im Heim aussehen kann. Die Mehrheit scheint jedoch der Annahme zu sein, dass es in ihrem Heim so ist und dass es sich um lokale Vorgaben handelt, nach denen sie (zusammen) leben, gepflegt werden und altern. Ein*e Heimbewohner*in beispielsweise beschreibt, dass sie gerne anderen helfen, z.B. den Rollstuhl von Mitbewohner*innen schieben oder in der Küche tätig werden würde, aber das sähe die »Heimleitung nicht gern«. Beides – so berichteten einige der Heimleiter*innen – ist jedoch aus versicherungstechnischen Gründen nicht möglich und wird deswegen in vielen Heimen unterbunden. Entsprechende Einschränkungen der individuellen Freiheit resultieren folglich aus heimexternen Vorgaben, werden lediglich von heiminternen Akteur*innen an Bewohner*innen vermittelt; doch ungeachtet des Ursprungs von Erlaubnissen oder Verboten, die Effekte auf die Bewohner*innen sind die gleichen. In jedem Fall scheinen heimexterne Rechte, aber auch heimexterne Pflichten erst an zweiter Stelle zu kommen. Während letzteres von einigen der Befragten fast schon als Befreiung erlebt zu werden scheint, ist nicht immer eindeutig, welche Konsequenzen für institutionalisiert lebende ältere Personen damit verbunden ist, dass heimexterne Rechte weniger zu zählen scheinen als heiminterne Pflichten, Regeln, Vorschriften, denn diese Unteroder Nachordnung trifft auch auf die Menschenrechte zu; auch diese werden von Seiten der Bewohner*innen teils den heiminternen Rechten, Pflichten und Regelungen unter- oder zumindest als nachgeordnet dargestellt. Einschränkungen der Handlungs- und auch der Entscheidungsautonomie etwa hinsichtlich des eigenen Tagesablaufs, der (Frei-)Zeitgestaltung, der Speisepläne etc. werden von Bewohner*innen mit Verweis auf das Zusammenleben

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mit vielen anderen und die Zeitknappheit des Personals legitimiert. Aus Beobachter*innenperspektive ist oftmals jedoch erkennbar, dass es anders ginge und andere Heime demonstrieren, dass es anders geht. Oben wurde exemplarisch schon aufgezeigt, wie unterschiedlich die Küche in Heimen organisiert und bewertet wird und ein damit verbundenes Zitat kann hier ebenfalls zur Illustration der Selbstbeschränkung auf Grund einer erkannten oder vermuteten Verantwortung für und Beschränkung durch ein Kollektiv dienen. »Und da habe ich so gemeckert, […] ich sage immer, wenn wenn einem was nicht passt, dann soll man’s auch sagen dürfen. Und wenn mir’s Essen nicht passt dann sage ich’s dem Koch und sage ich das, könnten’s auch anders machen, obwohl ich, ich sehe das schon ein, man kann nicht für, für fa- fast dreihundert Leute kochen, also im Haus sind ja nicht so viele, aber die, die tuen ja Essen auf Rädern auch verteilen. Und so viel Essen kochen, da kann man nicht kochen wie in einem Haushalt. Das sehe ich schon ein.«

Insbesondere aber das Verständnis für das Personal sowie die Angehörigen, deren Zeitknappheit und Belastung wird von Bewohner*innen immer wieder erwähnt, um zu rechtfertigen oder für sich selbst als davon betroffene*r Bewohner*in zu plausibilisieren, wie Care-Netzwerke sich mit dem Altern oder dem Heimeinzug verändern und/oder warum Care-Leistungen beschränkt oder reduziert werden bzw. ganz ausbleiben. Dies mündet dann in Aussagen darüber, dass beispielsweise die Gründe, sich zu beschweren sehr gut sein müssten und das nicht wegen »Lappalien« geschehen dürfe. Gleiches gilt für den »Ruf nach der Schwester«; auch dies darf scheinbar nur in »wirklichen Notsituationen« geschehen, da die Personalkapazitäten sonst überstrapaziert würden und die Ressourcen nicht für jene da wären, die es »wirklich nötig haben«. »Ich klingle schon so wenig wie möglich, weil ich sehe, was die für nen Ablauf haben und dass die wirklich auch zu tun haben. Also, da will ich nicht auch noch hier rumjammern und rumbimmeln, das mach ich nicht.«

Doch in einem wesentlich allgemeineren Sinne werden von Bewohner*innen Berechtigungen für Care-Leistungen diskutiert. So meinen Bewohner*innen beispielsweise, emotionale Zuwendung nicht einfordern oder beanspruchen

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und sich nicht beschweren zu dürfen, wenn manchmal sogar grundpflegerische Handlungen nicht zu Ende gebracht würden, z.B. »wenn dann halt ein Notfall dazwischenkommt«, sondern den Bewohner*innen oder deren Angehörigen überantwortet werden. Dennoch fühlen sich Bewohner*innen offenbar im Recht, Forderungen zu stellen, wenn sie sich des kontraktualen Verhältnisses mit dem Heim bewusst sind bzw. sie argumentieren im Sinne von Austauschverhältnissen. Im Heim mit Blick auf das Personal heißt das etwa: Geld gegen Pflege. Im Falle der Familie greift dann eher die Idee des zeitversetzen Tausches oder hinsichtlich der von Angehörigen erwarteten Care-Leistungen wird eine ebenfalls auf Rollenkonstellationen zurückzuführende Berechtigung bzw. Verpflichtung sichtbar; aber auch hier werden vielfach Einschränkungen oder notwendige Selbst-Zurücknahmen thematisiert. »Ja, das geht doch net, bin ich da in einem Irrenhaus, oder wie? Warum behandelt man uns a so? Ich bin doch nicht im Armenhaus, dass ich kein Geld mehr hab. Ich zahl doch das alles, die haben doch ihren Arbeitsplatz wegen uns.« »Ich wollte auch nicht meiner Familie zur Last fallen. Also, dass ich ganz in ihrer Nähe wohnen wollte – das hab’ ich gleich gesagt. Nicht, dass die immer denken, sie müssten kommen oder so.«

Worauf jemand Anspruch erheben zu dürfen meint, wird neben konkreten Vorgaben von Faktoren beeinflusst, die sich als »Gouvernementalität«63 bezeichnen lassen. Mit Foucault sind damit Formen der Selbstführung gemeint, die Disziplin, Regelhaftigkeit und Machtausübungen indirekt und scheinbar ohne Zwang hervorbringen und die Regierung sowie die Effizienz der Machtausübung optimieren.64 Unter Gouvernementalität zusammenfassen lassen sich die in den Bewohner*innen-Interviews aufscheinenden Effekte von Zuschreibungen und Diskursen sowie die Anpassungen an Erwartungserwartungen, d.h. die Antizipationen von Erwartungen, die andere an einen stellen, und wie sie auf das eigene Verhalten oder Handeln reagieren.65 Viele der Bewohner*innen machen beispielsweise etwas nicht, obwohl sie es könnten, weil sie versuchen, sich so zu verhalten, wie sie meinen, dass es

63 Foucault (2000). 64 Foucault (2006a) und (2006b). 65 Mead (2010); Elias (2010); Schütz (2004).

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andere (Pflegekräfte, Angehörige, andere Heimbewohner*innen) von ihnen als Person oder als Angehörige bestimmter Kategorien erwarten. So erlauben sich manche Bewohner*innen verschiedene Äußerungen, Handlungen oder Wünsche selbst nicht, weil sie die anderen unterstellten Erwartungen nicht konterkarieren und nicht aus der Reihe tanzen wollen. Handelt es sich hierbei um eine alltägliche und gewöhnliche Praxis von sozialen Wesen bei der Interaktion und im Zusammenleben mit anderen,66 ist das Maß entscheidend, welche Folgen diese Form der Selbstreglementierung zeitigt. So ist es im Kontext von Alten(pflege)heimen z.B. fraglich, ob die stationäre Unterbringung, die damit verbundene Abhängigkeit von der Institution und den darin Arbeitenden sowie eine nicht selten zu beobachtende Autoritätshörigkeit und (in der Regel unbegründete) Angst vor Reglementierungen nicht zu Ausmaßen der Unterordnung und Selbstbeschränkung führt, die gerade auch aus menschenrechtlicher Perspektive problematisch erscheinen. »Du musst einfach eine Einstellung haben, Rücksicht nehmen, dann kommst eher durch […]. Lieber sage ich nichts, wenn mir’s nicht passt.« »Naja, wie gesagt, immer sind se nett, san nett, aber die haben keine Zeit. Ehrlich gesagt, die haben keine Zeit, das richtig gut zu machen, zum Beispiel […] die Frau, die hat mehr Sch-Shampoo mitten drauf und hat paar mal hin und her und hat g’meint, dass is scho’ abgespült und wollte weitermachen, hab ich gsagt, dankeschön, hab ich gsagt, ich will Sie jetzt nicht länger-, dankeschön, Sie haben mir schon geholfen. Du hast ja eh keine Zeit […], setz mich jetzt da auf mein’ Stuhl und mach langsam weiter. Die haben keine Zeit, muss man auch Verständnis haben.«

Die erwähnten Ängste als unbegründet aufzufassen, fußt darauf, dass einige Befragte zwar entsprechende Befürchtungen erwähnen und unsicher nachfragen: »darf ich das denn sagen, wenn mir etwas nicht passt?«, aber weder die offensten Kritiker*innen noch Befragte, die sich frei heraus im Interview über alles beschweren oder in der Interviewsituation gar schriftliche Eingaben vorlegen, die sie an das Heim gemacht haben, können von einem Vorfall der Reglementierung oder einer bereits erfahrenen Sanktion berichten. So

66 Mead (2010).

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scheint vieles dieser Erwartungserwartungen dann auch mit einer individuellen Einstellung oder Erfahrung aus dem Prä-Heim-Leben zusammenzuhängen. Andere Erwartungserwartungen hingegen sind offenbar auf Äußerungen und Handlungen abstrakter sowie konkreter Anderer, virulente soziokulturelle Annahmen und bestimmte Formen der Adressierung oder das Angebot an Subjektpositionen zurückzuführen: Es gibt Vorstellungen davon, wie alte Menschen und Alten(pflege)heim-Bewohner*innen sind, wie sie sein sollen und vor allem was »gute Alte« oder »gute Bewohner*innen« ausmacht. In engem Zusammenhang mit den Erwartungserwartungen der Bewohner*innen und den daraus folgenden, berichteten Handlungen und Verhaltensweisen der älteren Menschen stehen die Sichtweisen des Heimpersonals, d.h. jener Personen, mit denen die Bewohner*innen hauptsächlich Kontakt haben und die die Lebenswelt der institutionalisiert lebenden Menschen und die Heimpraxis prägen. 3.2 Die Sicht des Personals 67 Auch in den Gesprächen mit dem Heimpersonal dokumentieren sich Faktoren, die sich unter den Modalverben »können« und »dürfen« zusammenfassen lassen. Vieles, was in dieser Hinsicht berichtet wird, dreht sich um die Handlungsnotwendigkeiten und -möglichkeiten variierenden Umfangs des Personals. Im Folgenden werden jedoch jene Aspekte fokussiert, die aus Sicht der Betreuungs- und Pflegekräfte sowie Heimleitungen beeinflussen oder gar bestimmen, was Bewohner*innen können oder dürfen. Können Auch in den Personalgesprächen geht es bei der Diskussion des Könnens der Bewohner*innen um Fähigkeiten, Befähigungen und damit verbundene Infrastrukturen, insbesondere baulich-architektonische Aspekte und die Verfügbarkeit technischer Instrumente.

67 Die Grundlage für diesen Abschnitt stellen die Gespräche mit dem Personal und die Experteninterviews dar. Alle wörtlichen Zitate in diesem Kapitel sind diesem Sample entnommen. Es wurden die gleichen Transkriptionsregeln wie bei den Bewohner*innen-Interviews angewendet.

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»Kann ich mich entsprechend meiner Fähigkeiten bewegen, also habe ich die nötigen Hilfsmittel, Lifte, ähm Schwellenfreiheit – diese Dinge sind ganz wichtig und halt überhaupt nicht selbstverständlich.«

Weniger Aufmerksamkeit hingegen erhalten die für Bewohner*innen relevanten Möglichkeiten und Gelegenheiten zur Nutzung oder gar Ausschöpfung der vorhandenen körperlichen und geistigen Kapazitäten. Auch Differenzierungen in Mensch-, Person- und In-Beziehung-Sein zu können dokumentieren sich weniger bis gar nicht in den Personalgesprächen. Stattdessen fallen offenbar auf die Rolle zurückzuführende Unterschiede in deren Thematisierung auf. Während das Pflegepersonal sich primär mit dem MenschSein-Können der Bewohner*innen zu befassen scheint, geht es Betreuungskräften eher um das Person-Sein-Können und die Heimleitungen, die für die übergeordneten Heimstrukturen und etwas wie eine Heimkultur zuständig sind, erwähnen hauptsächlich Aspekte des In-Beziehung-Sein-Könnens der Bewohner*innen. Letztere wissen dann durchaus auch um die Ambivalenz des Zusammenlebens und betonen, dass ein Heimeinzug zwar einerseits einer Isolation und Vereinsamung entgegenwirke und helfe, Alterungsprozesse zu verlangsamen oder zumindest die Lebensqualität der älteren Menschen zu steigern, andererseits aber auch Herausforderungen berge bzw. als Belastung und Einschränkung erlebt werde. »Es gibt Menschen, die hier richtig aufblühen, weil sie Gemeinschaft, Gesellschaft und irgendwie anders leben wie zuhause im Wohnzimmer, wo halt einmal in der Woche die Nachbarin vorbeikommt.« »Manche belastet des a viel, wenn Kinder nimmer da, also net in der Nähe san.«

Um den Umzug in ein Heim zu erleichtern und damit verbundene Herausforderungen abzumildern, wurden in einigen Heimen spezielle »Biographiebögen« entwickelt oder gar ein »Eingliederungsmanagement« etabliert. Das ermöglicht es dem Personal, neue Bewohner*innen kennenzulernen und möglichst viel über sie und ihre Vorlieben, Bedürfnisse, Eigenheiten und auch jene Dinge zu erfahren, die Bewohner*innen nicht mögen oder ablehnen. Entsprechende Fragen richten sich entweder – und angeblich primär – an die älteren Menschen selbst oder an deren Angehörige, sofern erstere nicht mehr kommunizieren könnten, und beziehen sich auf die Freizeitgestaltung

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und (ehemalige) Hobbys, religiöse Überzungen, Hygienepraktiken, Essensund Tagesroutinen. »Wir machen dann a noch vier, sechs, acht Wochen immer wieder so Integrationsgespräche: Wie ham Sie sich einglebt? Wie schmeckt (Ihnen) ‘s Essen? Passt’s Zimmer?«

Übergeordnetes Ziel hierbei ist es, Bewohner*innen zu ermöglichen, weiterhin Person-Sein zu können bzw. sich als Person wahrgenommen zu fühlen. Die Grundlagen hierfür liefern Kontinuität, individualisierte Care und die Förderung der Autonomie, Freiheit und Selbstwirksamkeit, so dass Persönlichkeit, Identität sowie Biographie gewürdigt und reproduzierbar werden. Dem Heim und dem Personal sind dabei allerdings Grenzen gesetzt, u.a. durch die Verantwortung für viele oder die gemeinschaftliche Unterbringung. Dürfen So werden auch vom Personal Regelungen, Rechte, Pflichten und Gesetze diskutiert, die das Mensch-, Person- und In-Beziehung-Sein-Können rahmen bzw. bestimmen, was Bewohner*innen dürfen. Aus Sicht der Heimleitungen heißt das beispielsweise, dass Bewohner*innen all das dürfen, wozu diese selbst in der Lage sind bzw. wofür diese, ggf. unterstützt von Angehörigen und/oder dem Personal, noch die Verantwortung übernehmen und entsprechende Care leisten können. In manchen Heimen sind z.B. Tiere erlaubt: »Die dürfen a Tiere mitnehmen. Des steht a in unserem Heimvertrag so drinnen, aber sie müssen sich natürlich selber um die Tiere kümmern könna. Also mir ham zwar im, im Garten a zwei Hasen, also da dürfen a die Bewohner streicheln, alles, aber da kümmern sich jetzt d’Hausmeister drum, aber wir ham halt relativ groß Grundstück, die könnas net o-, ja wenn jeder Bewohner 120 Bewohner, @ 120 Tiere des geht gar net.«

Ferner geht es bei den Erlaubnissen auch darum, welche Befugnisse Angehörige von Bewohner*innen im Heim haben, ob und auf welche Weise etwa deren Besuche reglementiert werden, oder aber auch, wessen Stimme mehr gehört findet: Die der (zahlenden und ggf. zum Vormund ernannten) Angehörigen oder die der Bewohner*innen.

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»Wie viel Raum lasse ich dem Angehörigen hier, wenn der Mensch hier lebt?« »Dann gibt’s aber auch welche, da sagen die Angehörigen: ›Die müssen da teilnehmen.‹ Und dann sage ich: ›Die müssen überhaupt nichts.‹ Und wenn sie den ganzen Tag im Bett liegen wollen und fühlen sich wohl, das ist das effektiv Wichtige, dann dürfen die Leute das. Zwingen ist gar nicht gut und das geht auch nicht, weil wir im Leitbild ja stehen haben, dass wir jeden achten und die Würde wahren und wenn jemand selbstbestimmt sagt, ich will das nicht, dann will er nicht.«

Gleichzeitig wird deutlich, dass Heimleitungen ihren eigenen Einfluss darauf erkennen, z.B. inwiefern die Menschenrechte auf Privatheit und Familienleben sowie Selbstbestimmung im Heim realisiert, ob und in welchem Umfang Gefühle von Sicherheit sowie des Daheim-Seins für Bewohner*innen erlebbar werden. Hierzu gehört für Führungskräfte einerseits die eigene Offenheit sowie die Bereitschaft soziomateriell, d.h. personell, finanziell, architektonisch und juristisch umgrenzte Spielräume auszunutzen oder gar auszureizen. Andererseits fragen sie: »Wie viel Zuhause lasse ich hier im Zuhause Zuhause sein?«, und sprechen sowohl einen Schutz vor insbesondere willkürlichen Ein- und Übergriffen in jenen, der Person eigenen Raum bzw. deren »Territorien des Selbst«68 sowie mindestens eine gewisse Gestaltungsfreiheit bezüglich des Wohnraums an. Das Personal, unabhängig von der Statusgruppe, diskutiert dann aber auch, überwiegend kritisch, heimexterne Vorgaben, die dem Personal die Hände binden und zu – für unnötig befundenen – Einschränkungen der Bewohner*innen führen. Hierzu gehören die »starren Trennungen« zwischen Pflege- und Betreuungskräften, die mit insbesondere für Bewohner*innen unverständlichen und Irritationen auslösenden Zuständigkeitsbereichen, Handlungsfeldern, vor allem aber Rechten und Pflichten verbunden sind und auf Grund fehlenden Verständnisses oder mangelnder Sinnhaftigkeit zu »Kapriolen im Alltag« führen: »Jetzt darf sozusagen die Betreuungsassistentin nur im Notfall den Toilettengang machen. Das heißt, die sitzt beim Mensch-ärger-dich-[nicht-]Spiel und ruft dann die Pflegekraft, […] des baut Spannungen auf, wenn die eine Mitarbeiterin dann der anderen dann die Arbeit anschafft. […] Des mit dem Essen eingeben is es ja der- de- genau so

68 Goffman (1974).

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lächerlich. Die Betreuungsassistentin, die is da, aber darf eigentlich nichts, den Tee nicht anreichen zum Trinken und darf der jetzt nicht beim Kuchen essen, wenn mir jetzt a Betreuungsangebot ham, die dürfen nur reden. […] Natürlich sollte des fließender sein […] zum Wohle der Bewohner, weil der Bewohner kann des ja au net nachvollziehen. Der- der sagt ja au: ›I möcht jetzt was trinken‹. Und dann sagt die: ›Jetzt müssen’s warten, bis die andere kommt.‹ Also des- mein- wennst’de dich da selber in den Bewohner nei versetzen, denkt der: ›Was is’n des für a Organisation?‹ Oder: ›Wie- wie unfreundlich is die, dass die mir jetzt (nicht da) hilft?‹«

4. D ISKUSSION : K ONSENS DER P ERSPEKTIVE ?

ODER EINE

F RAGE

Während in den Interviews mit Alten(pflege)heim-Bewohner*innen primär alltägliche, alltagspraktische und in den Personal-Gesprächen vor allem arbeitsbezogene oder für das Zusammenleben vieler und die Grundversorgung vulnerabler Personen relevante organisationale Aspekte diskutiert werden, klingen dabei vielfach auch menschenrechtliche Überlegungen an. Diesbezüglich sind verschiedene Gemeinsamkeiten innerhalb einer Statusgruppe, aber auch statusübergreifend festzustellen, die im Folgenden zusammengefasst werden und aufzeigen, wo lokale Bemühungen zur Wahrung und verbesserten Berücksichtigung der Würde der Alten(pflege)heim-Bewohner*innen sowie umfassendere, menschenrechtliche Bestrebungen ansetzen könnten. Zunächst gilt es zu erkennen, dass ungeachtet der im Speziellen fokussierten Care-Ausschnitte, um die herum sich entsprechende Erzählungen auffächern, eine Vielzahl unterschiedlichster Akteur*innen adressiert oder als relevant erkannt werden: individuelle, konkrete und abstrakte, kollektive, kommunale, gesellschaftliche, politische und staatliche. Gemeint sind damit – je nach Perspektive oder Thema – jene, die heute oder morgen Pflege benötigen, praktisch Pflege leisten (Angehörige, Pflegekräfte, Ehrenamtliche etc.) oder die Strukturen beeinflussen bzw. schaffen, dass und wie Pflege möglich ist, z.B. Kranken- und Pflegekassen, »die Politik« und Heimbetreiber. Auf verschiedene Weise werden diese Akteur*innen mit unterschiedlichen Rechten und Pflichten assoziiert, die alle mindestens implizit um Fragen guter Behandlung und adäquater Versorgung im Alter sowie Lebensqua-

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lität in Alten(pflege)heimen kreisen – und nicht selten auch Fragen der Menschenwürde im Alter oder des würdevollen Alterns selbst oder gerade bei Pflegebedürftigkeit aufgreifen. Ausdruck dessen sind – und die folgenden fünf Nennungen von Akteur*innen sowie Rechten und Pflichten, die mit diesen assoziiert werden, müssen als exemplarisch verstanden werden – erstens, die Individuen zugeschriebene Verantwortung, insbesondere finanziell für das Leben und die Pflege im Alter vorzusorgen, sowie der Versuch, durch verschiedene Formen des Advance-Care-Planning selbst eine Zukunft zu gestalten, in der man ggf. nicht mehr in der Lage ist Entscheidungen zu treffen69 und damit eine Art zeitversetzte Autonomie zu schaffen. Gleichzeitig geht es um den individuellen Anspruch, den eigenen (noch verbleibenden) Fähigkeiten entsprechend behandelt zu werden sowie beispielsweise die eigene Freiheit wahrnehmen und selbst bei körperlichen/geistigen Einschränkungen ein menschenwürdiges Leben bis zum Tod führen zu können.70 Zweitens angesprochen wird das von Familien empfundene Gefühl der Verpflichtung, Unterstützung für ältere/alte Familienmitglieder zu leisten, oder die soziale, gesellschaftliche, ggf. sogar juristisch abgesicherte Erwartung, dass Angehörige die Pflege übernehmen oder zumindest finanzieren.71 Ebenfalls zum Thema werden die innerfamiliäre Berechtigung, Hilfe einzufordern, oder die Möglichkeit, emotionale Zuwendung und psychischen Beistand zu leisten/zu erhalten. Drittens ist der innerhalb von Nachbarschaften und Quartieren erfolgende Austausch von Hilfeleistungen anzuführen, der es älteren Menschen ermöglichen kann, länger zuhause zu wohnen, oder das Engagement lokaler Gemeinden etwa im Kontext der Freizeitgestaltung und Betreuung von Alten(pflege)heim-Bewohner*innen.72 Genauso ist die Verantwortung der Kommunen zu erwähnen, die »[a]ls Träger der Altenhilfe und der Daseinsfürsorge« allen Menschen die Möglichkeit zu bieten hat, »Zugang zu alternsbezogenen Angeboten und Leistungen [zu] finden und nach Möglichkeit in

69 Jox (2017). 70 Sen (2009); Nussbaum (2003). 71 Albert/Ferring (2018); Attias-Donfut et al. (2005). 72 Vgl. verschiedene Beiträge in Bleck et al. (2018).

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die alternsgerechte Gestaltung ihres sozialräumlichen Umfelds aktiv einbezogen [zu] werden«.73 Viertens zu beachten sind die Versuche, die gesellschaftliche Anerkennung von Lebens- genauso wie Pflegeleistungen zu steigern, indem eine bedingungslose Grundrente gewährleistet, »auch bei geringem Lohn, Teilzeit oder Arbeitslosigkeit in Würde leben [und altern zu] können«,74 und die höhere Entlohnung von Pflegekräften durchzusetzen, so dass diese von ihrem Verdienst leben und eine Familie versorgen können und selbst nicht später auf Grundrente angewiesen sind.75 Fünftens gilt es den Staat im Blick zu behalten und die Mahnung zu beachten, dass er seiner Verpflichtung nachzukommen habe, »alle Menschenrechte von Gepflegten und Pflegenden zu achten und sie vor Schäden durch Dritte, beispielsweise in privaten Pflegeheimen, zu schützen« sowie die »Strukturen in der Pflege [zu] schaffen, die eine Umsetzung der Rechte ermöglichen und somit zu einer menschenwürdigen Pflege führen«,76 sowie Maßnahmen zu etablieren etwa durch Kontrollen oder die Einführung von Standards dafür zu sorgen, dass im häuslichen wie stationären Umfeld die Pflegequalität stimmt. All diese Akteur*innen sind maßgeblich, wenn auch in variierendem Umfang daran beteiligt oder gar dafür verantwortlich, eine gute Behandlung, adäquate Versorgung im Alter und Lebensqualität her- oder sicherzustellen; und es sind die damit assoziierten Care-Netzwerke, die innerhalb soziomaterieller Kontexte bestimmen, ob und wenn ja, inwieweit die Menschenrechte im Alter, bei stationärer Unterbringung und Pflege gewahrt werden und aus Sicht aller Betroffenen ein menschenwürdiges Leben gegeben ist. Die sich hierbei als konsensual abzeichnenden Voraussetzungen sind die Möglichkeiten und Gelegenheiten für Bewohner*innen, Mensch-, Person- und In-Beziehung-Sein zu können sowie deren Chance, tun zu dürfen, was sie (noch) tun können. In welchem Verhältnis gute Behandlung, adäquate Versorgung und subjektiv empfundene Lebensqualität zueinander und zur Entfaltung der Menschenrechte stehen, ist an dieser Stelle nicht abschließend zu klären. Es

73 Zeman (2012), 451. 74 Netzwerk Gerechte Rente (2019). 75 Deutsches Institut für Menschenrechte (2020a); ver.di (2017). 76 Deutsches Institut für Menschenrechte (2016), 1.

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scheint sogar, als sei dies stets aufs Neue zu bestimmen, u.a. da sich die Perspektiven eben doch unterscheiden, gegenwärtige Heterogenität vorliegt, sich Gesellschaften und die Kontexte des Alterns genauso wie die Verhältnisse im Zeitverlauf verändern, so dass auch immer wieder neu oder situativ austariert werden muss, wie der »bestmögliche Schutz für alle Menschen im Hier und Heute«77 gewährleistet werden kann. Dennoch zeichnet sich im Material ab, dass – und hier sind sich die verschiedenen Statusgruppen einig – gute Behandlung aus dem Erkennen oder Erleben von Sinnhaftigkeit bei gleichzeitiger Wahrnehmung von Wahlmöglichkeiten/Spielräumen besteht, eine adäquate Versorgung bedeutet, dass Grund- und individuell als essenziell eingestuften Bedürfnisse befriedigt werden, während subjektiv Lebensqualität erlebt wird, wenn der Gesundheitszustand mindestens als erträglich, Beziehungen als emotional befriedigend und positiv sowie das Essen für gut befunden wird. Hierbei handelt es sich auch um Allgemeinplätze, die ungeachtet der individuellen Ressourcen geteilt, aber eben nur in Abhängigkeit der individuellen sowie lokal verfügbaren Ressourcen realisiert werden, aber einen essenziellen Anteil daran haben, ob jemand in Würde altern kann und alle Menschen in den Genuss ihrer Menschenrechte kommen.

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77 Amnesty International (2019), 3.

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Versorgung alter Pflegebedürftiger in der häuslichen Umgebung durch »24-Std.-Betreuungskräfte« Menschenrechtliche und ethische Fragen B ARBARA S TÄDTLER -M ACH

1. P RÄSENTATION

VON

F AKTEN

Die Ausgangslage ist bekannt: Eine der großen gesellschaftlichen Transformationen stellt der demographische Wandel dar. Aufgrund dieses Wandels in Europa nimmt die Zahl der älteren und damit häufig auch pflegebedürftigen Menschen ständig zu. Sieht sich die Gesellschaft im Ganzen vor eine ansteigende Überalterung gestellt, wird das Älterwerden vom einzelnen Menschen sowie seiner privaten Umgebung häufig als persönliche Veränderung von der Selbständigkeit zu einer Unterstützungsbedürftigkeit erlebt. Charakteristisch für diese Pflegebedürftigkeit ist vielfach die sukzessive Entstehung: Mit dem Älterwerden verändern sich die Fähigkeiten zur eigenen Lebensorganisation und zur Übernahme von Verantwortung für die eigene Lebensgestaltung. Zwar gibt es immer wieder auch eine plötzlich entstehende Pflegebedürftigkeit, z.B. nach einer Erkrankung, insbesondere auch nach einem Krankenhausaufenthalt. Dann entstehen für den akut pflegebedürftig gewordenen Menschen und seine Angehörigen Herausforderungen zur sofortigen Versorgung. Doch viel häufiger vollzieht sich das Älterwerden und damit vielfach die Entwicklung zur Pflegebedürftigkeit eher »schleichend«: In zunehmendem

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Maß entstehen Bedarfe in der täglichen Lebensgestaltung in der eigenen Umgebung, ein Angewiesensein auf Unterstützung in bestimmten Erfordernissen wie z.B. Medikamentengabe oder Arzt-Besuche. Können An- und Zugehörige durch punktuelle Unterstützung hier helfen, lässt sich das tägliche Zurechtkommen noch aufrechterhalten. Stehen keine unterstützenden Personen zur Verfügung, wird die Frage nach einer Fremdunterstützung virulent. Entsteht eine Demenz, werden die Bedarfe nach Unterstützung in besonderer Weise relevant. Sowohl gesellschaftlich als auch individuell werden die komplexen Vorgänge um eine anstehende Pflegebedürftigkeit mit der Frage nach der Menschenwürde in Verbindung gebracht. Der Blick auf stationäre Pflegeeinrichtungen ist – wiewohl häufig auch nur von ferne oder gar ausschließlich durch Medien erworben – mit der Haltung verbunden, dort nicht leben zu wollen. Dabei zählen kaum die Leistungen und Ressourcen von fachlicher Pflege und seniorengerechter Wohnumgebung, die durchaus eine Steigerung der Lebensqualität für Menschen mit Unterstützungsbedarf im Alter darstellen. Vielmehr sind die Einschätzung und damit die Ablehnung durch negative, mitunter auch skandalträchtige mediale Berichterstattungen geprägt. Infolgedessen äußern die älteren Unterstützungsbedürftigen, dass sie in ihrem eigenen Zuhause verbleiben wollen »solange es geht«. Bekanntermaßen wird ein großer Teil von Unterstützern und Pflegenden durch die Angehörigen gebildet. Insofern sind sie – ob sie tatsächlich die Pflege übernehmen oder lediglich organisieren – von der Entscheidung für oder gegen eine stationäre Pflegeeinrichtung wesentlich mit betroffen. »Eine Gesellschaft des langen Lebens« – so fasst Thomas Klie zusammen – »steht vor der kulturellen Herausforderung, ihr Verhältnis zu einem Leben in Abhängigkeit, einem Leben mit Demenz neu zu bestimmen. Das verlangt auch nach einer Neubestimmung dessen, was wir unter Persönlichkeit verstehen, was Normalität heißt, was wir Lebensqualität nennen.«1

Hinzu kommt der ebenfalls hinlänglich bekannte Fachkräftemangel in der Pflege. Die Bundesagentur für Arbeit stellt in ihrem Bericht 2019 erneut fest, dass sowohl in der Kranken- wie in der Altenpflege die Beschäftigung wei-

1

Klie (2014), 44.

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terwachsen wird, und dass zugleich ein großer Mangel insbesondere an qualifizierten Altenpflegekräften besteht.2 Auch in ambulanten Pflegediensten – eventuell als Ergänzung für die persönliche Pflege eines Angehörigen zur professionellen Unterstützung möglich – ist dieser Fachkräftemangel ein virulentes Problem. In vielen Familien beeinflusst die durch diesen Fachkräftemangel entstandene Situation in stationären Pflegeeinrichtungen zunehmend den Wunsch nach möglichst langem Verbleiben in der eigenen Häuslichkeit. Für viele ältere Menschen in Deutschland wie auch für ihre Angehörigen zählt spätestens in dieser Phase, in der nach einer Hilfe gesucht wird, die Unterstützung durch eine Betreuungskraft aus Osteuropa zu den Möglichkeiten der Wahl. Mit Schlagworten wie »24-Stunden-Betreuung« und »Hilfe durch eine Polin« hat sich eine Versorgungsform etabliert, die nahezu jedem (älteren) Menschen in Deutschland – zumindest vom Hörensagen – vertraut ist. Diese nicht legal gefasste Form der Versorgung ist in keiner Weise im Rahmen der für die Pflegebedürftigkeit im Alter in SGB XI geregelten Leistungen vorgesehen. Dennoch hat sie sich in Deutschland als eine eigene Versorgungsform neben der stationären und ambulanten Unterstützung durch Fachkräfte entwickelt. In ihrer reellen Verbreitung und mit ihrer steigenden Tendenz ist sie einer der Beweise dafür, dass die Versorgung von Pflegebedürftigen in Deutschland eine prekäre gesellschaftliche Situation darstellt. Aufgrund der nicht erfassten und offiziell nicht geregelten Arbeitssituation hat sich für diese Versorgungsform seit mehreren Jahren der Begriff »Grauer Pflegemarkt« etabliert. Dabei sind mehrere Komponenten dieser Versorgungsform im »grauen« Bereich, bilden also eine Wirklichkeit ab, die es »eigentlich« nicht gibt und vor allem auch nicht geben darf. Die Bezahlung der Versorgenden, die arbeitsrechtliche Gestaltung ihrer Tätigkeit, die Qualität ihrer Leistungen an immerhin pflegebedürftigen, vielfach sogar dementen Menschen und die Einbindung in offizielle Leistungen nach SGB XI sind nicht nur nicht umfassend geregelt, sondern völlig im Dunklen. »Das Problem« – so der Jurist Thomas Klie – »ist, dass keine Kontrolle stattfindet und der Staat auch kein Interesse daran hat. Er ist konfrontiert mit einer Grauzone, die er auch und gerade unter arbeitsschutzrechtlichen Gesichtspunkten nicht akzeptieren

2

Bundesagentur für Arbeit (2019).

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kann. […] Die osteuropäischen Pflegekräfte fungieren als ›Schockresorber‹, als Pflegepuffer, und sie stabilisieren das häusliche Pflegearrangement und kompensieren die fehlende oder überforderte Familie«.3

Durch diese Situation ist auch keine Übersicht über die Zahl dieser Versorgenden bzw. der Haushalte, in denen sie tätig sind, gegeben. Da sich die Tätigkeit in Privathaushalten vollzieht, kann sie auch schwer erfasst werden. Die Gewerkschaft ver.di gibt in ihrer Broschüre »Raus aus der Schwarzarbeit. Gute Arbeit in Privathaushalten« die Zahl der in Deutschland im Versorgungbereich häuslicher Pflege Tätigen mit 300.000 an.4 Die Unklarheit der Situation wird auch daran deutlich, dass für die Versorgenden keine offizielle Bezeichnung besteht. Zum einen werden sie nach ihrer Tätigkeit benannt: dann wird von Haushaltshilfe oder Pflegekraft gesprochen. Die Bezeichnung Haushaltshilfe trifft dann zu, wenn tatsächlich überwiegend hauswirtschaftliche Tätigkeiten wie Kochen und Putzen, Waschen und Bügeln, Aufräumen und Einkaufen übernommen werden. In den meisten Haushalten werden von den Unterstützenden jedoch auch grundpflegerische Aufgaben wie Hilfe bei der Körperpflege und beim Toilettengang, Unterstützen beim Ankleiden und beim Essen, Betreuung bei Tätigkeiten in der häuslichen Umgebung und außerhäuslichen Unternehmungen wie der Gang zum Arzt, zu einer Therapie oder zum Friseur übernommen. In der Abgrenzung von professionell Pflegenden ist die Bezeichnung Pflegekraft insofern problematisch, weil es sich in aller Regel nicht um eine »gelernte« Pflege(fach)kraft handelt. In diesem Fall führt die Bezeichnung nicht nur zu Abgrenzungsschwierigkeiten gegenüber den Fachkräften eines Pflegedienstes, sondern wirft auch Fragen hinsichtlich der Konsequenzen bei Pflegefehlern oder Unterlassungen auf. Um einer Klassifikation nach der Tätigkeit zu umgehen, wird vielfach auch die Bezeichnung dieser Versorgenden nach ihrer Wohn- und Lebensform in diesem Rahmen gewählt. Dann wird von einer »Live-in«-Pflege gesprochen, da die Versorgende in der Häuslichkeit des Unterstützungsbedürftigen wohnt und in gewisser Weise mit ihm zusammenlebt. Als Sprachregelung für eine ungeklärte Position und Tätigkeit hat sich in den letzten Jahren die Bezeichnung »Betreuungskraft« durchgesetzt. Auch

3

Klie (2014), 53.

4

Vgl. ver.di (o.J.).

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sie ist nicht unproblematisch, ist doch im Bereich der Altenpflege die Betreuungskraft eine Unterstützung für Menschen mit Demenz im stationären Pflegebereich mit geregelter Qualifikation und einem definierten Beschäftigungsprofil. Im Weiteren verwenden wir dennoch den Begriff »Betreuungskraft«, weil er die in der Regel überwiegend ausgeübte Tätigkeit am ehesten trifft. Die Vermittlung einer Betreuungskraft aus Osteuropa geschieht zum einen durch persönliche non-formale Beziehungen, die häufig zur Arbeitsform der Schwarzarbeit führen. Dabei werden sowohl auf deutscher wie auf osteuropäischer Seite Netzwerke genutzt: Familien mit einem unterstützungsbedürftigen Mitglied informieren sich bei Bekannten oder Verwandten, wie sie zu ihrer Betreuungskraft gekommen sind. Die Betreuungskraft sucht ihrerseits in ihrem Bekanntenkreis im Herkunftsland nach einer Frau, die sie in die deutsche Familie vermitteln kann. Zum anderen existiert seit Jahren ein sich ständig erweiterndes Angebot so genannter Agenturen, die als Firmen Frauen aus Osteuropa per Vertrag in deutsche Familien – manchmal auch über eine deutsche oder osteuropäische Kooperationsfirma – vermitteln. Durch die zunehmende Attraktivität und Nachfrage auf beiden Seiten dieser Arbeitsmöglichkeit haben sich in Deutschland und den Herkunftsländern, vor allem in Polen, Firmen etabliert, die die Vermittlung der Frauen organisieren. Mit den so genannten Vermittlungsagenturen, die in Deutschland, im osteuropäischen Herkunftsland oder zugleich in beiden tätig sind, hat sich ein Geschäftsfeld entwickelt, das sich seit ca. 20 Jahren zunehmend entwickelt und etabliert hat. Die Zahl der Vermittlungsagenturen lässt sich nur schätzen, ein Blick in die Internet-Ergebnisse bei der Suche nach »24-Stunden-Pflege« oder »Polin zur Pflege« zeigt eine Fülle von Anzeigen und Kontaktadressen. Die Anzahl der Agenturen ist inzwischen so groß, dass es bereits zwei Berufsverbände gibt, in denen sich die Agenturen organisieren und im Verbund als gesellschaftliche Akteure auftreten, um ihre (politischen) Interessen zum Ausdruck zu bringen. Es handelt sich um den Verband für häusliche Betreuung und Pflege (VHBP)5 und den Bundesverband häuslicher Seniorenbetreuung (BHSB).6 Für die Gesundheitspolitik, insbesondere auf Bundesebene, stellen die beiden Berufsverbände mittlerweile auch Ansprechpartner zur Verfügung.

5

Vgl. www.vhbp.de.

6

Vgl. www.bhsb-ev.de.

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Für zahlreiche unterstützungsbedürftige ältere Menschen und ihre Angehörigen ist diese Form der Versorgung in vielfacher Hinsicht »ideal«: Der ältere Mensch kann in seiner gewohnten Umgebung bleiben, was einen gewichtigen, wenn nicht den wichtigsten Punkt überhaupt in der Überlegung von Unterstützungs- und Pflegemöglichkeiten darstellt. Auf der anderen Seite beinhaltet diese Versorgungsform für die Frauen aus Osteuropa eine Verdienstmöglichkeit, die sie in ihrem Herkunftsland nicht haben. Sie stellen sich als Betreuungskraft in deutschen Haushalten entweder in einer Lebensphase zur Verfügung, in der sie keine ähnlich lukrative Beschäftigung in ihrer Heimat finden, oder sie kommen in ihrer nachberuflichen Phase, also als Rentnerinnen nach Deutschland.7 Nach erfolgter Vermittlung zieht eine Betreuungskraft aus Polen, Ungarn, Rumänien oder einem anderen osteuropäischen EU-Land in den Haushalt des älteren Menschen ein. Je nach den Gegebenheiten wohnt sie in einem Zimmer, manchmal auch in einer abgeschlossenen Wohnung im Haus des Unterstützungsbedürftigen. Sie lebt mit dem älteren Menschen nicht nur unter einem Dach, sondern teilt gleichsam den größten Teil ihrer Zeit mit ihm: gemeinsame Mahlzeiten, gemeinsames Erleben von Freizeit wie Fernsehen, eventuell Spaziergang, sogar Besuch und Familienfeste sind charakteristisch. Darüber hinaus übernimmt die Betreuungskraft auch alle anfallenden Hausarbeiten wie Einkaufen und Kochen, Wäschepflege und Hausputz. Für grund- und behandlungspflegerische Vollzüge ist sie in vielen Fällen ebenfalls verantwortlich: Unterstützen beim Waschen und Anziehen sowie beim Toilettengang, Richten und Verabreichen von Medikamenten, Blutdruckmessen, Blutzuckerkontrolle und ähnliches mehr. In der Regel bleibt die Betreuungskraft für einige Wochen bis zu drei Monate im Haushalt des älteren Menschen und geht dann in ihr Heimatland zurück, um nach einer abgesprochenen Zeitspanne von ebenfalls einigen Wochen bis zu drei Monaten wieder zu kommen. Währenddessen ist eine andere Betreuungskraft im Einsatz, die sich in der Versorgung des älteren Menschen die Arbeit mit ihr teilt. Diese Tandems sind häufig sehr gut eingespielt, informieren sich gegenseitig über Veränderungen bei dem Pflegebedürftigen und stimmen sich in ihren Einsatzzeiten aufeinander ab. Dass diese Versorgungsform grundsätzlich möglich ist, erfordert bestimmte Vorausset-

7

Kniejska (2016), 83–90.

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zungen: Die rechtliche Rahmenbedingung schafft das Arbeitnehmerfreizügigkeitsgesetz innerhalb der EU. Es besagt, dass jede/r Unionsbürger/rin die Möglichkeit hat, in einem anderen EU-Land als seinem Herkunftsland eine Beschäftigung aufzunehmen.8 Vor allem müssen Menschen zur Verfügung stehen, die ihre eigene Häuslichkeit, oft genug auch ihre eigene Familie, verlassen, um zeitweise in Deutschland zu arbeiten. Sie müssen nicht nur bereit sein, in ein anderes Land zum Arbeiten zu gehen, sondern eben auch in die persönliche Umgebung eines zunächst völlig fremden Menschen einzuziehen, sich auf dessen Wohn- und Lebensumstände einzulassen und gleichsam für eine bestimmte Zeit das Leben mit ihm zu teilen. Im Wesentlichen handelt es sich dabei um Frauen, weshalb im Folgenden auch ausschließlich von ihnen, nicht von Männern gesprochen wird. Die Voraussetzungen in den Herkunftsländern der Frauen, die sich für die Unterstützung von alten Menschen in Mitteleuropa im häuslichen Umfeld zur Verfügung stellen, sind durch den Prozess der Transformation in Osteuropa gegeben: Die Umstellung der gesellschaftlichen Formen aus den ehemaligen Ostblock-Staaten zu westlichen Gesellschaften führte bei vielen Frauen zum Verlust des Arbeitsplatzes oder zumindest eines ausreichenden Einkommens. Die Möglichkeit, als EU-Bürgerin innerhalb der EU auch einer Arbeit nachzugehen, hat sich seit der sukzessiven Einführung des Freizügigkeitsgesetzes entwickelt und wird – natürlich nicht nur für Unterstützungsarbeit bei älteren Menschen in Deutschland – genutzt. Insofern handelt es sich bei dieser Versorgungsform um einen Ausdruck von Transnationalität bzw. der so genannten Pendelmigration.9 Viele Beteiligte in diesem Versorgungsarrangement deklarieren es als Win-win-Situation für alle: Deutsche Pflegebedürftige sind zuhause versorgt, deren Angehörige sind entlastet, weil die Alten der Familie eine Rundum-Betreuung haben, Frauen aus Osteuropa verdienen sich zusätzliches Geld und bezeichnen die Arbeitsform als »Erfolgsstory«;10 Krankenund Pflegekassen werden nicht oder– bei Inanspruchnahme bestimmter Pflegeleistungen – nur gering belastet. In dieser aus verschiedenen Perspektiven »guten Lösung« der häuslichen Versorgung für Pflegebedürftige sind die

8

Vertrag über die Arbeitsweise der EU (AEUV) Art. 46 und Charta der Grund-

9

Lutz (2018).

rechte der EU (2000/C 364/01) Art. 15 Abs. 2. 10 Kalwa (2007), 216.

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Gründe für die bereits jahrelange Beibehaltung dieses Grauen Pflegemarktes zu sehen. Emunds beschreibt gerade diese Konnotation der Situation als »Win-Win-Strategie« als die einzige öffentlich geäußerte Haltung gegenüber dieser Versorgungsform.11 Gleichwohl sind damit erhebliche Herausforderungen verbunden.

2. KO N K R ETE PR O B LEMA N ZEI GEN Die skizzierte Versorgungsform beinhaltet zahlreiche Problemkonstellationen in arbeitsrechtlicher, pflegewissenschaftlicher, soziologischer und ethischer Hinsicht. Die vielen Facetten der Fragestellungen sind weitgehend erkannt, ebenso gibt es auch verschiedene Forschungen dazu. Im Vordergrund stehen Arbeiten zu den Pflegearrangements12 sowie grundsätzliche soziologische Auseinandersetzungen.13 Dabei liegt ein großer Schwerpunkt auf der Genderperspektive, die den Privathaushalt als besonderen Arbeitsplatz für Migrantinnen in den Blick nimmt.14 Das Zusammenwirken mit professionellen Pflegediensten15 – also die pflegewissenschaftliche16 und pflegeethische Fragestellung – rückt ebenfalls in den Vordergrund wie auch Betrachtungen in anderen Fachdisziplinen, beispielsweise der Kulturgeographie.17 Innerhalb sozialpolitischer und sozialethischer Reflexionen existieren profilierte Aussagen kritischen Inhalts, sind allerdings auf wenige Akteure beschränkt. Besonders hervorzuheben sind dabei die Projekte in der Verantwortung des Oswald-Nell-Breuning-Instituts in Frankfurt.18

11 Emunds (2016), 119. 12 Ignatzi (2014); Kniejska (2016). 13 Haubner (2014). 14 Lutz (2018), dort zahlreiche weitere Literatur. 15 Kiekert/Schirilla (2020); Ostermann (2020). 16 Schreyer (2020). 17 Schneider (2018). 18 Emunds (2016).

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2.1 Rechtliche Aspekte Die ungeordnete Lage von Betreuungskräften aus Osteuropa ist bereits seit Jahren bekannt und zumindest partiell im Fokus. So haben beispielsweise schon 2012 mehrere Abgeordnete der Fraktion DIE LINKE im Deutschen Bundestag eine Kleine Anfrage zum Thema »Arbeitnehmerrechte ausländischer Pflegehilfskräfte im grauen Pflegemarkt« gestellt.19 2012 hat der Deutsche Bundestag Grundsätzliches zur Rechtslage klargestellt.20 In der Realität existieren verschiedene Formen des Arbeitsverhältnisses bzw. des Zustandekommens eines Vertrags. Vielfach arbeitet die 24-Stunden-Betreuungskraft ohne jeglichen Vertrag, ohne eine klare Regelung von Arbeits- und Freizeit, von zusammenhängenden Urlaubstagen und einer Regelung im Krankheitsfall. Auch die Bezahlung wird nur mündlich vereinbart, meist erfolgt sie auch in barer Auszahlung, erscheint also auf keinem Konto. Dieses Konstrukt kann nicht als eine rechtlich korrekte Arbeitsform bezeichnet werden, bestenfalls kann hier von einem irregulären Arbeitsverhältnis gesprochen werden. Häufig geschieht der Einsatz über eine Vermittlungsagentur in Deutschland, die mit einem polnischen Partnerunternehmen zusammenarbeitet. Das polnische Unternehmen »entsendet« seine Mitarbeiterinnen für eine bestimmte Zeit nach Deutschland, was – wie bereits kurz benannt – durch das Arbeitnehmer-Entsendegesetz21 möglich ist. Finanziell geht die Versorgungsform durch eine Betreuungskraft auf Kosten persönlicher Bezahlung durch die Familie. Die seit 1995 gesetzlich vorgeschriebene Pflegeversicherung stellt bekanntermaßen ein Finanzierungsmodell aus Beiträgen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern dar. Damit ist sie – anders als andere Versicherungssysteme – weder ein privat finanziertes noch ein steuerfinanziertes Versicherungsmodell. Mehrfach seit ihrer Einführung modifiziert übernimmt die Pflegeversicherung Leistungen auch im ambulanten Bereich, wenn die Pflege durch die Angehörigen oder einen ambulanten Pflegedienst erbracht werden. Die einzelnen Leistungen, insbesondere die nach einem festgestellten Pflegegrad bemessene Unterstützung sowie die Pflegesachleistungen, sind

19 Deutscher Bundestag (2012). 20 Ebd., 4. 21 Arbeitnehmer-Entsendegesetz (AEntG) vom 20. April 2009, BGBl. I 799.

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hier nicht näher darzustellen. Festzuhalten ist, dass die Versorgung durch eine Betreuungskraft von diesen Versicherungsleistungen nicht profitiert. Pflegebedürftige und ihre Familien übernehmen also in voller Höhe die Finanzierung des Honorars und der An- und Abreise aus dem Herkunftsland, unabhängig ob sie es über eine Agentur oder direkt an die Betreuungskraft bezahlen, sowie die geldwerten Leistungen von Wohnung und Essen. Eine Ausnahme bildet das in Bayern seit 2018 eingeführte Landespflegegeld in Höhe von jährlich 1.000 Euro für Patienten mit Pflegegrad 2 oder höher. Es stellt eine staatliche Fürsorgesorgeleistung für Menschen mit Hauptwohnsitz in Bayern dar. Dieses Geld kann zur Teilfinanzierung der Kosten für eine osteuropäische Betreuungskraft verwendet werden. Alternativ wird die Familie des Pflegebedürftigen selbst zum Arbeitgeber. In diesem Fall wird zwischen der Familie bzw. dem Pflegebedürftigen und der Betreuungskraft ein Arbeitsvertrag geschlossen. Dadurch wird die Betreuungskraft eine abhängige Beschäftigte im Verständnis des SGB V. Damit sind sowohl die Versicherungspflicht im Rahmen der gesetzlichen Sozialversicherung als auch die Steuerpflicht verbunden. Die Betreuungskraft hat sich beim Einwohnermeldeamt sowie beim zuständigen Finanzamt anzumelden. Es ist leicht nachvollziehbar, dass diese Anstellungsform für die meisten Familien und insbesondere für Pflegebedürftige, die mit den Aufgaben und Verpflichtungen eines Arbeitgebers nicht vertraut sind, schwer realisierbar ist. Der Vollständigkeit halber sei noch die Möglichkeit erwähnt, dass sich die Betreuungskraft als Selbständige meldet, wobei hier eine genaue Differenzierung zwischen selbständiger Tätigkeit und einer abhängigen Beschäftigung erforderlich ist. Im konkreten Alltag ist dieser Einsatz als selbständig Tätige eher als marginal zu bezeichnen. 2.2 Pflegewissenschaftliche Aspekte In pflegewissenschaftlicher Hinsicht stellt sich vorrangig die Frage nach der Qualität der Versorgung von unterstützungsbedürftigen, unter Umständen sogar pflegebedürftigen Menschen. Für die professionelle Pflege ist die Ausrichtung an einem wissenschaftlich fundierten Qualitätsverständnis die Grundlage ihres beruflichen Handelns. So widmet sich der jährlich erscheinende »Pflege-Report« im Jahr 2018 der »Qualität und Qualitätssicherung in

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der Langzeitpflege«.22 Die Bedeutung einer aus- und nachgewiesenen Qualität in der Pflege ist unabdingbarer Bestandteil des Pflegeverständnisses, das für Fachpersonal gilt. Zudem ist die Qualität – auch in der häuslichen Pflege – gesetzlich geregelt, nicht nur um entsprechende Leistungen zu finanzieren, sondern auch, um die Versorgungsqualität zu gewährleisten.23 Für die Versorgung durch eine Betreuungskraft existiert keinerlei Qualitätskontrolle. Auch wenn sie kein Familienmitglied ist, indem sie Bezahlung erhält und auch einen Quasi-Status als Arbeitnehmerin hat, leistet sie ihre Arbeit doch in einer familienähnlichen Beziehung. Da die 24-Stunden-Betreuungskräfte praktisch Personen des eigenen Haushalts darstellen, befinden sie sich im gleichen Status wie pflegende Angehörige: Sie pflegen, ohne dass eine »offizielle« Befähigung dazu nachgewiesen ist. Eine Betreuungskraft kann dafür in der Regel keine Befähigung oder gar Qualifikation nachzuweisen, unterliegt damit keiner Qualitätskontrolle und kann auch haftungsrechtlich nicht belangt werden. Hier wird deutlich, dass Pflege zuhause als Angehörigen-Tätigkeit völlig anderen Kriterien als professionelle Pflege, gerade auch im ambulanten Setting, unterworfen ist. An dieser Stelle ist hervorzuheben, dass aus pflegewissenschaftlicher und ethischer Sicht sich genau in diesem »Zwischenraum« wesentliche Merkmale von Pflege vollziehen: »Die affektive Natur, (latente) Einstellungen des Moralverständnisses einer Person gelten als schlecht messbare Konstrukte, die in der Überprüfung von Pflegequalität bislang kaum eine Rolle spielen […]. Doch genau jene Konstrukte sind es, die bestimmen, ob Pflege außerhalb von qualitätsüberprüfenden Situationen entsprechend den vorgegebenen Kriterien ›qualitätskonform‹ umgesetzt wird, z.B. in der Einhaltung hygienischer Richtlinien oder in der Wahrung der Persönlichkeitsrechte Pflegebedürftiger.«24

Dass die Tätigkeit der Betreuungskraft im jeweiligen Betreuungsverhältnis auch Pflege (im professionellen) Sinn mit graduellen Unterschieden beinhaltet, ist eindeutig. In manchen Situationen bzw. Haushalten werden sich die

22 Jacobs et al. (2018). 23 Für die häusliche Krankenpflege beinhaltet dies die Richtlinie des GKV-Spitzenverbandes (2018). 24 Luderer/Meyer (2018), 16.

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Aktivitäten auf den hauswirtschaftlichen Sektor konzentrieren. Dennoch sind viele osteuropäische Betreuungskräfte mit pflegerischen Aufgaben betraut, die weitgehend ohne Qualifikation und ohne Qualitätskontrolle durchgeführt werden. 2.3 Soziologische Aspekte Die Öffnung der osteuropäischen Länder als Voraussetzung für die Transmigration zum Zweck der pflegerischen Versorgung wurde schon benannt. Damit wird nicht nur die internationale Kooperation in Firmen und (nicht)staatlichen Organisationen ermöglicht, sondern insbesondere die Migration einzelner Menschen zu Verdienstzwecken. In besonderer Weise trifft dies für den häuslichen Sektor zu, der sich auch in Europa zu einem Arbeitsort für Migrantinnen entwickelt.25 Kindererziehung und Pflege von Angehörigen sowie hauswirtschaftliche Unterstützung sind wieder neue, »klassische« Arbeitsbereiche für Migrantinnen.26 Im globalen Vergleich vollzieht sich die Migration in Europa dabei in einer Ost-West-Bewegung, wohingegen sie generell in einem Süd-Nord-Migrationsverhalten erfolgt. Das wird umso deutlicher, als beispielsweise Polinnen, die als Betreuungskraft in Deutschland arbeiten, für die Pflege ihrer eigenen Eltern neben den Verwandten und gut bekannten Nachbarn eine Unterstützung aus weiter östlichen Ländern wie der Ukraine oder Moldawien anheuern. Dieses allgemein im Versorgungsbereich feststellbare Phänomen beschreibt Speranta Dumitru bereits 2014 als »Care drain«: Für die Sorgearbeit in häuslichen Gemeinschaften verlassen Frauen ihre eigene Familie, um in einem anderen Land eine familiäre Sorgearbeit zu verrichten, während sie für die Sorgearbeit in ihrer Herkunftsfamilie wiederum eine Migrantin beauftragen.27 Transmigrantinnen, die zur Sorgearbeit ihre Familie und ihre Nation zeitweise verlassen, stellen im Rahmen der Pendelmigration zum Zweck der Verdienstarbeit eine besondere Gruppe dar, weil sie sich in ausschließlicher Weise auf eine andere Familiensituation einlassen. Somit lernen sie nicht nur

25 Apitzsch/Schmidbauer (2011). 26 International Labour Organization (2015). 27 Dumitru (2014).

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eine andere Arbeitswelt, ein anderes »Land« kennen, sondern werden gleichsam Teil eines zunächst fremden privaten Lebensraumes. Lebensgewohnheiten, Essen, tägliche individuelle Abläufe, Kommunikationsformen, Medienverhalten, religiöse Praxis, weltanschauliche Haltungen und individuelle Formen des Lebens werden ihnen vertraut und gewohnt wie die eigene Lebensform in der Herkunftsfamilie. Da die osteuropäischen Betreuungskräfte in hoher Regelmäßigkeit mit ihrer Herkunftsfamilie und ihrem Freundeskreis – überwiegend per Internet, etwa Skype und Chats in sozialen Netzwerken – kommunizieren, leben sie gleichzeitig in »zwei Welten«, Sprachen und Denk- sowie Verhaltensweisen. Tobias Schneider spricht deshalb von »hybriden Zugehörigkeitsgefühlen«: »Die Transmigranten fühlen sich sowohl in dem Heimat- als auch im Zielland zuhause und leben in einer Form der sozio-kulturellen Hybridität.«28 Die Soziologin Helma Lutz unterscheidet in ihrer letzten Veröffentlichung zum Thema bei der Analyse der vorhandenen Studien zwischen einer Vorder- und einer Hinterbühne des Problems.29 Mit der Hinterbühne beschreibt sie die Situation der im Herkunftsland der Migrantinnen zurückbleibenden Familien, insbesondere die Kinder der in Deutschland arbeitenden Frauen.

3. E THISCHE UND MENSCHENRECHTLICHE F RAGESTELLUNGEN Unter ethischen Gesichtspunkten beinhaltet die Versorgungsform des Grauen Pflegemarktes Herausforderungen in mehrfacher Perspektive. Sie können nach den einzelnen Akteuren in diesem System unterschieden werden: Pflegebedürftige, deren Angehörige, die Betreuungskräfte selbst und insgesamt die Gemeinschaft aller am Pflegeprozess alter Menschen Beteiligter, die summarisch hier als »Community des Wohlfahrtsstaates« bezeichnet werden kann. Da es sich bei Pflege und Betreuung um ein interaktives Geschehen handelt, sind ethische Reflexionen – also das Verhalten der Menschen untereinander betreffende Überlegungen – natürlich auch auf die Relationen der genannten Gruppen zueinander zu beziehen. Dadurch entsteht

28 Schneider (2019), 19. 29 Lutz (2018).

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eine hohe Komplexität. Zum besseren Verständnis betrachten wir die ethischen Fragen in jeweils einer Perspektive, ohne dabei die Tatsache einer hohen Kohärenz aller Betroffenen aus dem Blick zu verlieren. Die zunächst zentral betroffenen Menschen in dieser Versorgungsform sind die alten pflege- und unterstützungsbedürftigen Personen. An ihnen entsteht in mehrfacher Hinsicht der Ausgangspunkt aller Überlegungen: Ihre Pflegebedürftigkeit einerseits und ihr Wunsch nach dem Verbleiben in ihrer angestammten häuslichen Umgebung andererseits sind die Voraussetzungen für das Entstehen dieser Versorgungsform. Das Recht auf Unterstützung und Pflege ist in vielfacher Hinsicht unstrittig. Artikel 1 der Charta der Rechte hilfe- und pflegebedürftiger Menschen beschreibt: »Jeder hilfe- und pflegebedürftige Mensch hat das Recht auf Hilfe zur Selbsthilfe sowie zur Unterstützung, um ein möglichst selbstbestimmtes und selbständiges Leben führen zu können.«30

Damit wird die Selbstbestimmung bei dem Recht auf Pflege gleichsam in einem Gedanken direkt zum Beginn der Beschreibung einzelner Rechte mit aufgeführt. Damit verbunden ist das Recht auf eine entsprechende Qualität der Unterstützung. Im Fall der Versorgung durch 24-Stunden-Betreuungskräfte entsteht hier ein Dilemma: Beinhaltet das Recht auf Selbstbestimmung den Wunsch nach Verbleib in der eigenen Häuslichkeit sowie eine »Rundum-Versorgung« durch eine Person außerhalb des familiären Verbundes, lässt sich die pflegerische Qualität professioneller Kräfte nicht gewährleisten. Die in der Charta der Rechte hilfe- und pflegebedürftiger Menschen im Artikel 4 »Pflege, Betreuung und Behandlung« formulierte Beschreibung kommt zwar ohne das explizite Wort Qualität aus, beinhaltet aber dem Sinne nach genau das, worum es bei Pflegequalität geht: »Pflegerische Maßnahmen und Hilfestellungen sowie medizinische und therapeutische Behandlungen sollen so erfolgen, dass geistige und körperliche Fähigkeiten unterstützt und gefördert werden«.31

30 BMFSFJ/BMG (2010), 7. 31 Ebd., 10.

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Des Weiteren sind die Angehörigen der Pflegebedürftigen unter ethischen Aspekten zu betrachten: Wie weit reicht ihre Verantwortung in der Übernahme von Versorgung? Wie ist es um die Wahrung ihrer Menschenrechte bestellt, wenn die Versorgung von Angehörigen in hohem Maß ihr Leben, ihre Privatheit, ihre Freizeit, ihr Recht auf Pausen etc. betrifft? Im Zusammenwirken mit den Akteuren der Unterstützung bei der Pflegebedürftigkeit kommt es dabei zu einer Interaktion sowohl mit professionellen Pflegediensten – sofern einer in die Versorgung mit eingebunden ist – als eben auch mit den Betreuungskräften des Grauen Pflegemarktes. An dieser Stelle entsteht vielfach eine komplexe Gemengelage: Angehörige finden ihre Entscheidung für die Versorgung durch eine osteuropäische Betreuungskraft ethisch korrekt – dem Wunsch des Pflegebedürftigen nach Leben im eigenen Zuhause und seinem Bedürfnis nach Geborgenheit und Sicherheit wird entsprochen. Osteuropäische Betreuungskräfte sehen in ihrer Tätigkeit keine fragwürdige Handlung, pflegerisches Fachpersonal stellt die Qualität der Versorgung durchaus in Frage. Gerade aus ethischen Gründen wird die mangelnde Qualifikation – gemessen an den professionellen Qualitätsvorstellungen32 – als problematisch zu bezeichnen sein. Doch nicht nur mit Blick auf die Qualitätsthematik sind ethisch ausgerichtete Fragen zu stellen. In der pflegewissenschaftlichen Forschung wird dem Zusammenwirken von der pflegebedürftigen Person, ihren Angehörigen sowie dem professionellen Pflegepersonal zunehmend Aufmerksamkeit gewidmet. Stand lange Zeit der einzelne Patient (oder in der stationären Altenpflege der Bewohner/die Bewohnerin) im Vordergrund, wird heute der Blick auf das Dreieck »Pflegebedürftiger – professionell Pflegende – pflegende (oder auch nicht pflegende) Angehörige« gerichtet. Wenn über menschenrechtliche und ethische Aspekte in der Beziehung zu den pflegenden An- und Zugehörigen nachgedacht wird, ist in einem Pflegesetting mit einer 24-Stunden-Betreuungskraft auch die Dynamik zwischen den Angehörigen, der Betreuungskraft und dem professionellen Pflegedienst miteinzubeziehen. Sei es, dass Angehörige, z.B. Ehefrau oder Ehemann, zusammen mit dem Pflegebedürftigen im Haushalt leben, sei es, dass die Angehörigen, z.B. Kinder und Enkel, in einer anderen Stadt leben und nur sporadisch zu Besuch kommen: Die 24-

32 Luderer/Meyer (2018).

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Stunden-Betreuungskraft nimmt durch ihren quasi-familiären Status in diesem Dreieck (bei mehreren Angehörigen auch einem Vieleck) eine besondere Stellung ein. Zwei konkrete Berichte von Familien mit der Versorgung durch Frauen als Live-Ins können die Komplexität veranschaulichen: In einer Pflegesituation, in der eine osteuropäische Betreuungskraft für die Versorgung des Mannes eingestellt wird, die Frau des Mannes aber auch im Haushalt lebt, jedoch nicht mehr in der Lage ist, ihren Mann zu versorgen, muss die Betreuungskraft erst durch die Kinder des Ehepaares überzeugt werden, dass sie auch für die Mutter kocht, wäscht etc. Die Polin wehrt sich anfangs vehement dagegen, deckt z.B. den Tisch nur für sich und den alten Herrn, da sie – so versteht sie ihren Einsatz – nur für den Mann eingestellt worden sei. Aus einer weiteren Familie erzählt die einzige Tochter einer 94-jährigen Patientin, die für ihre Mutter eine Betreuungskraft aus Polen engagiert hat, dass diese – als die Tochter am Wochenende aus ihrem über 200 Kilometer entfernten Wohnort zur Mutter zu Besuch kommt – ihr mitteilt, sie sei jetzt an ihre Stelle getreten und sehe und entscheide (!) schließlich die ganze Woche, wie das Leben der Mutter aussieht. In nicht seltenen Fällen entstehen Konkurrenzen und Konflikte, die aus der Zusammenarbeit von professioneller und informeller Pflege (durch Angehörige) bekannt sind. Im Anschluss an Coser beschreibt Helen Güther die »Konflikte an der Schnittstelle zur informellen Pflege aus der Sicht der beruflichen Pflege«, die ohnehin von hoher Komplexität gekennzeichnet sind.33 Im Zusammenwirken mit einer 24-Stunden-Betreuungskraft verdichten sich die Herausforderungen. In ethischer Hinsicht ist neben der Abgrenzung der jeweiligen Rechte Einzelner auf Selbstbestimmtheit, Freizeit etc. vor allem die Zuordnung der Akteure von Bedeutung. Wer klärt die jeweilige Verantwortung? Wie sind die einzelnen Prozesse des Zusammenwirkens beschrieben? Wessen Aufgabe ist es, bei divergierenden Interessen oder Partikularinteressen auszugleichen? Die Konflikte, die bereits im Zusammenwirken mit professioneller Pflege entstehen,34 werden durch die Betreuungskraft in ihrer unklaren Zuordnung noch verstärkt.

33 Güther (2017), 29–33. 34 Ebd.

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Wie zu Beginn beschrieben, lebt eine Betreuungskraft gleichsam innerfamiliär in dem Haushalt des Pflegebedürftigen mit, ohne zur Familie zu gehören. Ihr Recht auf Privatheit ist häufig bestenfalls ansatzweise umgesetzt, abhängig von ihrer jeweiligen Wohnmöglichkeit. So ist beispielsweise das Teilen von Bad und Toilette mit einem pflegebedürftigen alten Menschen, der zunächst fremd und in jedem Fall nicht Mitglied der eigenen Familie ist, für viele Frauen eine Einschränkung ihrer Privatheit. Das ethische Problem entsteht im Zusammenwirken von pflegebedürftigem Angehörigen, Pflegedienst und Betreuungskraft vorrangig dadurch, dass es sich bei dieser Tätigkeit einerseits um eine Dienstleistung in einem fremden Haushalt handelt, andererseits die Arbeits- und Lebensweise doch in hohem Maße einer innerfamiliären Beziehung entspricht. Neben dieser eher gruppenbezogenen ethischen Problematik entsteht für die Betreuungskräfte selbst eine weitere Herausforderung: Sie übernehmen eine Verantwortung für einen pflegebedürftigen, manchmal multimorbiden, eventuell sogar dementen Menschen, ohne in der Regel dafür ausgebildet oder mindestens in den Rahmenbedingungen vorbereitet zu sein. Unter Umständen ist das der einzelnen Frau nicht wirklich bewusst, wenn sie das Beschäftigungsverhältnis eingeht. Im Lauf einer längeren Betreuung kommt es jedoch vielfältig zu Situationen, in denen der Betreuungskraft ihre mangelnde Kenntnis von Pflege deutlich wird bzw. sie dadurch unsicher wird und sich ihrer Aufgabe nicht mehr ausreichend gewachsen sieht. In besonderer Weise sind im Rahmen dieser Verantwortung auch die weitgehend mangelnden deutschen Sprachkenntnisse zu nennen. Dass es Betreuungskräfte mit guten deutschen Sprachkenntnissen gibt, ist unbestritten.35 Vielfach sind die Sprachkenntnisse im Deutschen jedoch sehr schlecht. Manche Betreuungskräfte sind kaum zu einer Alltagskommunikation mit den Patienten in der Lage. Persönlich kann ich eine Situation anführen, in dem eine osteuropäische Betreuungskraft aus sprachlichen Gründen nicht in der Lage war, bei einem ausbrechenden Brand in der Wohnung der von ihr Betreuten die Feuerwehr anzurufen.

35 Dass der Grad der Sprachkenntnisse auch ein Parameter für die Qualität der Betreuungskraft darstellt, der sich auf den Preis für ihre Arbeit auswirkt, sei hier am Rande erwähnt. Sowohl Agenturen verlangen für Frauen mit guten Deutschkenntnissen mehr Geld von den Familien als auch Betreuungskräfte, die direkt von den Familien bezahlt werden.

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Auch ohne solche Notfälle ist eine Kommunikation mit älteren Menschen von hoher Bedeutung. Im Hinblick auf die Verständigung in der Arbeit mit Migrantinnen und Migranten innerhalb des Gesundheitswesens ist die Bedeutung von Sprache völlig unstrittig. Das gilt sowohl für das Arztgespräch36 wie auch für das Gespräch in der Pflege und in sozialer Arbeit. Sieht man die Tätigkeit der Betreuungskraft als eine, die sich im quasi-familiären Kontext abspielt, erscheint es umso dringlicher, auf die Sprachfähigkeit zu achten. Gleichsam die alltäglichen Lebensverhältnisse und Gewohnheiten mit einem Menschen zu teilen, setzt im Grunde das Kommunizieren in einer gemeinsamen Sprache voraus. Dabei ist zunächst nur an die Verständigung über Alltagsabläufe wie Essen, Waschen, Toilettengang u.ä. zu denken. Persönliche Betreuung geht dabei noch deutlich weiter. So zählt die Kommunikation zu den Aktivitäten des täglichen Lebens, die in der häufig sehr eingeschränkten (Um)Welt alter Pflegebedürftiger auf wenige Menschen in einem kleinen Radius beschränkt ist. Wirklich persönlich wichtige Gespräche über Schmerzen, Ängste, Wünsche und Erinnerungen setzen tatsächlich bei Betreuungspersonen ein umfassenderes Verständnis der Sprache des Pflegebedürftigen voraus. Die Bedeutung der Verständigungsmöglichkeit wird durch die vielfach ausgeprägte altersbedingte Schwerhörigkeit der zu Betreuenden noch unterstrichen. Aus dem bisher Ausgeführten wird ersichtlich, dass die Verantwortung für die vielfach ungeklärten Rahmenbedingungen dieser Versorgungsform nicht nur bei den einzelnen individuellen Akteuren liegt. Dass Menschen zu dieser Versorgung greifen, dass sich in Deutschland Pflegebedürftige auf sie einlassen und in Osteuropa Frauen sich für diese Arbeitsform zur Verfügung stellen, ist ein Ergebnis unzulänglicher Organisation und Finanzierung von häuslicher Pflege im Alter durch die Systeme unserer sozialen Sicherung sowie des Einkommensgefälles in Europa. Letzten Endes verursacht die Diskrepanz zwischen den Aufgaben unseres Sozialstaates und den Möglichkeiten zu selbstbestimmter und ausreichend finanzierter Unterbringung bei Pflegebedürftigkeit im Alter eine ethisch brisante Situation. Für die einzelne Familie wird die Versorgung eines pflegebedürftigen Mitglieds im eigenen Zuhause zur schier nicht zu bewältigenden Aufgabe, für die eine Betreuungskraft als (bezahlbare) Lösung erscheint. Diese »Lösung« wiederum schafft

36 Kliche et al. (2018).

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neue unlösbare Aufgaben, nämlich die einer legalen und finanzierbaren Anstellung von Frauen zur Unterstützung in der häuslichen Umgebung. Im Hinblick auf die ethisch relevanten Themen im Setting der 24-Stunden-Betreuung wird deutlich: Alle betroffenen Akteure stehen grundsätzlich vor vielen Fragen und Problemanzeigen. Die Tatsache, dass sich sicherlich zahlreiche Familien dessen nicht bewusst sind – beispielsweise sehen viele Betreuungskräfte in ihrem irregulären Beschäftigungsverhältnis kein Problem –, ändert nichts daran, dass legale, finanzierbare und qualitätsgeleitete Konstrukte für diese Versorgungsform gegenwärtig nicht vorhanden sind. Gleichzeitig ist diese Versorgungsform nicht nur bereits weit verbreitet, sondern auch im Zunehmen. Die Zurückhaltung politisch Verantwortlicher lässt sich bis zu einem gewissen Grad mit der Komplexität des Problemfeldes erklären. Für viele – darauf wurde hier schon hingewiesen – stellt die Versorgungsform eine für alle Beteiligten gute Lösung dar. Dennoch kann eine pragmatisch eingeübte Verfahrensweise bei einer Vielzahl von nicht zuletzt ethischen Fragestellungen nicht als »gut« bezeichnet werden. Gerade wer mit Blick auf ethische, insbesondere durch Menschenrechte geleitete Grundlagen die Situation älterer und pflegebedürftiger Menschen wie auch deren betreuender Personen in den Blick nimmt, kommt um ein entsprechendes Engagement nicht herum: »Wie lange und wie weit dürfen Menschen gegenüber dem Unrecht, das Menschen angetan wird, ›tolerant‹ sein, und ab wann gibt es eine rechtfertigbare Unduldsamkeit?«37 Schwerlich lässt sich leugnen, dass die Grenze einer solchen »rechtfertigbaren« Duldsamkeit erreicht ist.

4. F ORSCHUNGSDESIDERATA Wie aus den dargestellten Anfragen an das System der so genannten 24-Stunden-Betreuungskräfte hervorgeht, existieren an verschiedenen wesentlichen Punkten und Schnittstellen große Herausforderungen für die weitere wissenschaftliche Bearbeitung, um Fakten für dringend erforderliches politisches Handeln zu generieren. Aus unserer Sicht geht es dabei weniger um weitere Einzeluntersuchungen über das Ergehen der Frauen und der Pflegebedürftigen sowie ihrer Familien. An dieser Stelle sind in den vergangenen Jahren

37 Brieskorn (1997), 182.

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verschiedene Untersuchungen durchgeführt worden, überwiegend im Bereich von Qualifikationsarbeiten. War die wissenschaftliche Bearbeitung zu Beginn des Jahrhunderts gering,38 sind in den vergangenen Jahren aus verschiedenen Perspektiven Untersuchungen durchgeführt worden und Publikationen zu dem Thema entstanden. Mittlerweile stehen die Fragestellungen und Problemanzeigen im gesellschaftlichen Gesamtkontext von Pflege innerhalb der immer älter werdenden Gesellschaft im Fokus. Die im politischen Raum übliche Bezeichnung als »Grauer Pflegemarkt« weist bereits darauf hin, dass diese Versorgungsform in klar geregelte Rechts- und Finanzierungsverhältnisse überführt werden muss, um eben nicht in grauen oder »halb-dunklen« Verhältnissen zu existieren. Der Titel einer umfangreichen Studie zum Leben und Arbeiten von Migrantinnen in Deutschland – »Leben in der Schattenwelt«39 – macht die Lebensweise deutlich. Die Forderung nach einer politischen Regulierung ist mehrfach ausgesprochen worden, insbesondere von gewerkschaftlichen40 und sozialethischen41 Denkvoraussetzungen her. Gleichzeitig sind auch die Ressourcen dieser Versorgungstruktur als transnationale Mobilitätsform zu sehen und zu nutzen: Die Fähigkeit, in zwei verschiedenen Ländern (begrenzt) dauerhaft zu leben, in verschiedenen Familiensystemen agieren zu können, sich auf einen Menschen anderen Alters, anderer Sprache und Kultur »hautnah« einstellen zu können, ist in einer transnationalen Welt auch als Paradigma für individuelle Transnationalität zu sehen und anzuerkennen. Die osteuropäischen Betreuungskräfte selbst sind es, die sich mit deutschen Lebensgewohnheiten, den jeweiligen Umständen am Wohnort sowie Einkaufs- und Unterstützungsmöglichkeiten und persönlichen Einzelheiten der von ihnen Betreuten vertraut machen und sich damit zurechtfinden. Selbst Agenturen sind in der Regel bei der Orientierung am Arbeitsort nur sehr begrenzt hilfreich bei der Eingewöhnung und dem alltäglichen Umgang in einer zunächst fremden Welt.

38 Ignatzi spricht beispielsweise 2014 noch von einer »bisher miserabel zu nennenden Datenlage im Bereich der häuslichen 24-Stunden-Betreuung«. Ignatzi (2014), 485. 39 Alt (2003). 40 Vgl. ver.di (o.J.). 41 Emunds (2016).

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Aus den beschriebenen Problemstellungen ergibt sich eindeutig, dass zunächst die rechtlichen und finanziellen Fragestellungen geklärt werden müssen: Wie kann die Arbeit als so genannte 24-Stunden-Betreuungskraft rechtlich korrekt gestaltet werden? Wie lassen sich Finanzierungsmodelle entwickeln, die den Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen finanzielle Unterstützung für diese Versorgungsform bereitstellen? An welcher Stelle unserer sozialen Sicherungssysteme lässt sich diese Versorgungsform – möglicherweise in einer Mischfinanzierung – mit unterbringen? Darüber hinaus sind die komplexen Zusammenhänge auch in ihrer gegenseitigen Verflochtenheit zu betrachten. Solange das gesamte System, innerhalb dessen sich diese Versorgungsform entwickeln konnte, nicht in den Blick genommen wird, können Einzellösungen – beispielsweise hinsichtlich der Qualitätskontrolle von Pflegeleistungen – nur Teilaspekte verbessern. Für eine solche Gesamtschau sind grundsätzliche Untersuchungen erforderlich, um eine Perspektive zu entwickeln, die nicht nur aktuell vorhandenen Problemstellungen begegnet, sondern zukünftige Verhältnisse mit in den Blick nimmt. Emunds beschreibt unter der provozierenden Kapitelüberschrift »Ein langer Weg raus aus der Schmuddelecke. Die Erwerbsarbeit in den Pflegehaushalten muss reguliert und gefördert werden«42 einzelne Schritte, wobei seine Hauptadresse die politischen Verantwortlichen sind: »Wenn es aber um die Gestaltung der ›24-Stunden-Pflege‹ und die Live-in-Pflegekräfte geht, dann duckt sich die deutsche Politik einfach nur weg; sie entzieht sich ihrer Verantwortung.«43

In die gleiche Richtung argumentiert auch Klie: »Das Problem ist, dass keine Kontrolle stattfndet und der Staat auch kein Interesse daran hat. Er ist konfrontiert mit einer Grauzone, die er auch und gerade unter arbeitsschutzrechtlichen Gesichtspunkten nicht akzeptieren kann.«44

Vertreterinnen und Vertreter der Politik, der Gewerkschaften und der Freien Wohlfahrtspflege sind mit ihren je unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen

42 Emunds (2016), 149–170. 43 Ebd., 151. 44 Klie (2014), 53.

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zusammenzubringen, um einen multiperspektivischen Lösungsansatz zu denken und entsprechende Einzelschritte vorzunehmen. Die politisch umzusetzenden Vorschläge zur Verbesserung der Situation bedürfen einer evidenzbasierten Forschung, um politische Akteure zu Veränderungen, z.B. der Gesetzeslage, zu aktivieren. Bislang sind an diesem Punkt überwiegend zivilgesellschaftliche Akteure sowie Hochschulen in Vorleistung gegangen.45 Aus meiner Sicht ist deshalb zur Gewinnung von Lösungsstrategien für die bekannten Probleme eine interdisziplinäre und multiprofessionelle Untersuchung anzustreben, die vor allem der Frage nach einer gesteuerten Entwicklung für diese Versorgungsform nachgeht. Bevor sich ein derartiges großes Forschungsprojekt konzipieren und durchführen lässt, sind – vielleicht sogar unabdingbar – die Fragen zu klären, warum der Graue Pflegemarkt sich so lange überhaupt entwickeln konnte und – noch wichtiger – warum auf politischer Seite mit selten großer Unbeirrtheit an einer Versorgungsform festgehalten, statt ihren Problemanzeigen nachgegangen wird.

LITERATUR Alt, Jörg (2003): Leben in der Schattenwelt. Problemkomplex »illegale« Migration. Neue Erkenntnisse zur Lebenssituation »illegaler« Migranten aus München und anderen Orten Deutschlands, Karlsruhe: von Loeper Literaturverlag. Apitzsch, Ursula/Schmidbauer, Marianne (Hg.) (2010): Care and Migration. Die Ent-Sorgung menschlicher Reproduktionsarbeit entlang von Geschlechter- und Armutsgrenzen: Die Entsorgung menschlicher Reproduktionsarbeit in der globalen Peripherie, Opladen: Verlag Barbara Budrich. Brieskorn, Norbert (1997): Menschenrechte. Eine historisch-philosophische Grundlegung, Stuttgart: Kohlhammer.

45 Exemplarisch ist der Fachworkshop der Schader-Stiftung, der Heinrich-Böll-Stiftung, der Universität Duisburg-Essen und des Nell-Breuning-Institus der Hochschule Sankt Georgen am 04.06.2019 zu nennen. Er wurde mit der Frage nach einer künftigen politischen Regelung in der häuslichen »24-Stunden-Pflege« in Darmstadt durchgeführt.

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Bundesagentur für Arbeit (2019): »Arbeitsmarktsituation im Pflegebereich«, Nürnberg, Online: http://statistik.arbeitsagentur.de [14.05.2020]. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BFSFJ)/ Bundesministerium für Gesundheit (BMG) (2010): Charta der Rechte hilfe- und pflegebedürftiger Menschen, Berlin: BFSFJ/BMG. Deutscher Bundestag (2012): Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Klaus Ernst, Kathrin Senger-Schäfer, Jutta Krellmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Arbeitnehmerrechte ausländischer Pflegehilfskräfte im grauen Pflegemarkt, Drucksache 1//8373, Berlin: Bundesanzeiger Verlagsgesellschaft. Dumitru, Speranta (2014): »From »brain drain« to »care drain«: Women’s labor migration and methodological sexism«, in: Womens Studies International Forum 47 (2014), 203212. Emunds, Bernhard (2016): Damit es Oma gutgeht. Pflege-Ausbeutung in den eigenen vier Wänden, Frankfurt/M.: Westend. Güther, Helen (2017): »Anerkennung in der partnerschaftlichen Pflege mit (pflegenden) Angehörigen älterer Menschen«, in: Zeitschrift für medizinische Ethik 63, 1 (2017), 2535. Haubner, Tine (2014): »Osteuropäische Careworkers im Licht der neueren Sozialwissenschaftlichen Forschung und Theoriebildung«, in: Zeitschrift für Gerontologie und Ethik 2 (2014), 927. Ignatzi, Helene (2014): Häusliche Altenpflege zwischen Legalität und Illegalität, dargestellt am Beispiel polnischer Arbeitskräfte in deutschen Privathaushalten, Berlin: LIT Verlag. International Labour Organization (2015): ILO Global estimates on migrant workers. Results and methodology. Special focus on migrant domestic workers, Geneva: International Labour Office. Jacobs, Klaus/Kuhlmey, Adelheid/Greß, Stefan/Klauber, Jürgen/ Schwinger, Antje (Hg.) (2018): Pflege-Report 2018. Qualität in der Pflege, Berlin: Springer. Kalwa, Dobrochna (2007): »›So wie zuhause‹. Die private Sphäre als Arbeitsplatz polnischer Migrantinen«, in: Nowicka (2007), 205226. Kiekert, Jasmin/Schirilla, Nausikaa (2020): »Mittel- und osteuropäische Migrantinnen in häuslichen Pflegearrangements – Unterstützungsmöglichkeiten und Kooperation seitens ambulanter Pflegedienste«, in: Städtler-Mach/Ignatzi (2020), 29–39.

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Kliche, Ortrun/Agbih, Sylvia/Altanis-Protzer, Ute/Eulerich, Sabine/ Klingler, Corinna/Neitzke, Gerald/ Peters, Tim/Coors, Michael (2018): »Ethische Aspekte des Dolmetschens im mehrsprachig-interkulturellen Arzt-Patienten-Verhältnis«, in: Ethik in der Medizin 30 (2018), 205220. Klie, Thomas (2014): Wen kümmern die Alten? Auf dem Weg in eine sorgende Gesellschaft, München: Pattloch. Kniejska, Patrycja (2016): Migrant Care Workers aus Polen in der häuslichen Pflege. Zwischen familiärer Nähe und beruflicher Distanz, Wiesbaden: Springer. Luderer, Christiane/Meyer, Gabriele (2018): »Qualität und Qualitätsmessung in der Pflege aus ethischer Perspektive«, in: Jacobs et al. (2018), 1526. Lutz, Helma (2018): Die Hinterbühne der Care-Arbeit. Transnationale Perspektiven auf Care-Migration im geteilten Europa, Weinheim, Basel: Beltz Juventa. Nowicka, Magdalena (Hg.) (2007): Von Polen nach Deutschland und zurück. Die Arbeitsmigration und ihre Herausforderungen für Europa, Bielefeld: transcript. Ostermann, Damian (2020): »Ambulante Pflegedienste im Zusammenwirken mit osteuropäischen Betreuungskräften – eine Gestaltungsherausforderung für multirationales Management«, in: Städtler-Mach/Ignatzi (2020), 61–74. Schneider, Tobias (2019): »Leben zwischen den Welten«. Transnationale Alltagsorganisation osteuropäischer 24-Stunden-Betreuungskräfte in der häuslichen Altenpflege, Masterarbeit im Master-Studiengang Kulturgeographie, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Institut für Geographie. Schreyer, Irena (2020): »›Zwischen Pflegeheim und osteuropäischer Betreuungsperson ist quasi nichts‹ – die Bedeutung der Helfer*innen aus dem Osten aus pflegewissenschaftlicher Sicht«, in: Städtler-Mach/Ignatzi (2020), 47–56. Städtler-Mach, Barbara/Ignatzi, Helene (Hg.) (2020): Grauer Pflegemarkt. 24-Stunden-Unterstützung durch osteuropäische Betreuungskräfte, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. ver.di (ohne Jahr): Raus aus der Schwarzarbeit. Gute Arbeit in Privathaushalten, Berlin: Bundesvorstand.

Inwiefern und warum mangelt es an konkreter Umsetzung des besonderen Schutzes der Menschenrechte älterer Personen? B ENJAMIN B ROW

1. EINLEITUNG Infolge der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte aus dem Jahr 1948 entwickelten sich mittlerweile zum Beispiel eine Kinder-, eine Frauen- und eine Behindertenrechtskonvention, die je eine besondere Ergänzung zum Schutze vulnerabler Personengruppen darstellen und allesamt den Fokus auf die jeweilige Personengruppe und damit einhergehende politische Handlungen verstärkt haben. Seit einiger Zeit wird nun auch über eine spezifische Konvention über die Rechte Älterer diskutiert. Auf internationaler Ebene sind diesbezüglich aber noch keine Durchbrüche zu verzeichnen. Dabei kann die Situation älterer Menschen je nach Land, Region und Lebenslage weltweit problematisch sein. In den meisten Ländern steigt das Risiko, im Alter zu verarmen, insbesondere gilt dies für ältere Frauen.1 Die immer schnellere Alterung der Gesellschaft geht zudem häufig mit schlechter Gesundheit einher, obwohl die meisten der mit steigendem Alter vorkommenden gesundheitlichen Komplikationen wie chronische und nicht übertragbare Krankheiten anders als bislang verhindert oder hinausgezögert werden könnten.2 Der Fokus auf das Menschenrecht auf Gesundheit und andere, damit verknüpfte 1

United Nations Department of Economic and Social Affairs (2015).

2

World Health Organization (2015).

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Menschenrechte Älterer, macht zudem auf die gesundheitlichen Bedürfnisse spezifischer und marginalisierter Gruppen älterer Menschen, u.a. ältere Menschen mit Behinderungen sowie sexuelle und ethnische Minderheiten, aufmerksam.3 Außerdem gehören ältere Menschen beispielsweise auch zu den Gruppen, die besonders stark durch die für die Gesundheit relevanten Veränderungen des Klimawandels, insbesondere durch extreme Hitze, betroffen sind.4 Neben gesundheitlichen Gefahren im Alter sind ältere Menschen außerdem von Formen der Altersdiskriminierung (ageism)5 sowie dem Entzug von Freiheitsrechten betroffen. So soll es in deutschen Pflegeheimen nach Schätzungen des Alternsforschers und Juristen Thomas Klie täglich bis zu 340.000 freiheitsentziehende Maßnahmen geben.6 Altersarmut, Einsamkeit und Missstände in der Pflege sind nur einige der zahlreichen Probleme, die ältere Menschen zu einer sehr verletzlichen Personengruppe machen, die häufig nicht angemessen von ihren Menschenrechten Gebrauch machen kann. Gleichzeitig wächst die Gruppe der Älteren immer schneller; so wird sich der Anteil der über 60-Jährigen von ca. 1 Milliarde im Jahr 2019 auf 2,1 Milliarden im Jahr 2050 mehr als verdoppeln.7 Auch wenn die Herausforderungen älterer Personen sehr divers und kontextabhängig sind, betonte auch Ban Ki-moon, der damalige Generalsekretär der Vereinten Nationen, in einem Bericht8 über die Menschenrechtslage älterer Personen, dass man vier übergreifende Probleme feststellen kann: Diskriminierung (1), Armut (2), Gewalt und Missbrauch (3) sowie der Mangel spezieller Dienstleistungen und Rahmen (4).9 Daher haben die Vereinten Nationen dem Thema in den letzten zehn Jahren eine neue Qualität zugeordnet, indem sie eine eigene Arbeitsgruppe, die Open-ended Working Group on Ageing, gründeten. Dennoch gibt es bislang keine auf ältere Menschen zugeschnittene weltweit bindende Konvention. Dieser Artikel fokussiert sich besonders darauf, inwiefern es an der konkreten Umsetzung des Schutzes der Menschenrechte Älte-

3

Baer et al. (2016), 207 und 211.

4

Watts et al. (2019), 1837.

5

World Health Organization (2015), 7.

6

Stukenberg (2019).

7

World Health Organization (2020), 2.

8

United Nations General Assembly (2011).

9

United Nations Human Rights Office of the High Commissioner (2011a).

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rer fehlt. Diesbezüglich wird die Arbeit der OEWG-A, dem dafür geschaffenen UN-Gremium für diese Fragen, untersucht indem der Arbeitsmodus, die inhaltlichen Schwerpunkte sowie die Probleme der Arbeitsgruppe analysiert werden. Anschließend folgt ein Überblick über die regionalen und historischen Entwicklungen auf dem Weg zu einer eigenen Konvention sowie Pround Contra-Stimmen hierzu. Zuletzt folgt ein Ausblick darüber, welche weiteren Aspekte für die mangelnde Wahrnehmung der Rechte Älterer innerhalb der Gesellschaft relevant sein könnten.

2. DIE ARBEIT DER UNITED NATIONS OPEN-ENDED WORKING GROUP ON AGEING 2.1 Arbeitsmodus, Aufgaben und Akteure Die zeitlich offene Arbeitsgruppe der Vereinten Nationen zur Stärkung der Menschenrechte Älterer (United Nations Open-ended Working Group on Ageing, kurz: OEWG-A) wurde im Dezember 2010 auf Bestreben von Argentinien und Brasilien bei der Generalversammlung ins Leben gerufen.10 Sie versteht sich als Arbeitsgruppe, die den schon bestehenden internationalen Rahmen der Menschenrechte Älterer betrachtet, mögliche Lücken identifiziert und sich mit diesen befasst. Darüber hinaus erwägt sie, falls angebracht, die Umsetzbarkeit weiterer Instrumente und Standards.11 Zudem wurde die Resolution, aus der die Gründung der Arbeitsgruppe hervorging, im Jahre 2012 um die Kompetenz, ein integrierendes, internationales und rechtlich bindendes Instrument auszuarbeiten, erweitert.12 Nach den ersten beiden Sitzungen im Jahre 2011 folgten jährlich weitere Treffen, die letzte hier berücksichtigte Sitzung fand im April 2019 statt. Bereits in der ersten Sitzung wurde festgestellt, dass es bislang keinen einheitlichen Rahmen gibt, der die Menschenrechte Älterer umfassend schützt. Zwar gelten die vorhandenen Menschenrechtsschutzsysteme auch für Ältere, aber der spezifische Fokus auf Ältere fehle – und damit auch zielgenaue Empfehlungen für die 10 Mahler (2017), 282. 11 United Nations Open-ended Working Group on Ageing (o.J.b). 12 Mahler (2017), 282.

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Verbesserung der Situation Älterer. Es wird betont, dass im Menschenrechtsschutz Älterer Lücken bezüglich Information, Monitoring und Regelung bestünden und die Forschung hierzu bislang nicht ausreiche.13 In den Sitzungen der Arbeitsgruppe werden viele Rechte ausführlich diskutiert. Mittlerweile wurde auf UN-Ebene außerdem eine unabhängige Expertin14 für die Rechte Älterer eingesetzt.15 Zudem haben sich auf regionaler Ebene menschenrechtliche Instrumente entwickelt, auf die im Folgenden noch genauer eingegangen wird. Ansonsten blieb es in den ersten Sitzungen vor allem bei Kommentaren der Staatenvertreter*innen zu Beispielen guter Praxis.16 Die Zivilgesellschaft beteiligt sich in den Arbeitssitzungen vor allen Dingen über Vorund Beiträge im Dialogformat.17 Die meisten Sitzungen kamen zu dem Ergebnis, dass es am Ende zwei verschiedene Positionen der Beteiligten gab. So plädiert man entweder für eine bessere Implementierung oder für ein völlig neues Instrument. Dabei änderten sich die Positionen im Laufe der Treffen nur geringfügig.18 Ab der achten Sitzung gab es einen neuen Arbeitsmodus, nach dem den Teilnehmenden bereits im Vorfeld zwei Themenvorschläge übermittelt werden, die es dann bei der Sitzung zu bearbeiten gilt. So wurden »[i]m Vorfeld […] die Staaten aufgefordert, zu den [OEWG-A-]Hintergrundpapieren nationale Informationen anhand von Antworten zu Fragebögen«19 zur Verfügung zu stellen. Zudem konnten nationale Menschenrechtsinstitute ab der achten Sitzung mitdiskutieren und schriftliche Beiträge zu jedem Punkt auf der Tagesordnung einreichen.20 Weiterhin sind erstmals Themen unter rechtlichen Gesichtspunkten besprochen worden. So könne ein deutlicheres Bild davon geschaffen werden, inwieweit der menschenrechtliche Schutz reicht

13 Mahler (2017), 282. 14 Die unabhängige Expertin der UN für die Menschenrechte Älterer war von 2014 bis 2020 die Chilenin Rosa Kornfeld-Matte. Als ihre Nachfolgerin wurde im März 2020 Claudia Mahler bestimmt. Die aus Österreich stammende Juristin ist seit vielen Jahren am Deutschen Institut für Menschenrechte beschäftigt. 15 United Nations Human Rights Office of the High Commissioner (2011b). 16 Mahler (2017), 281. 17 Ebd. 18 Ebd., 282. 19 Deutsches Institut für Menschenrechte (2017b), 8–9. 20 Deutsches Institut für Menschenrechte (2017a).

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oder weiter gestärkt werden muss.21 Schon zu Beginn war die Zivilgesellschaft durch NGOs (Non-Governmental Organizations) und Organisationen vertreten, aber bis zur sechsten Sitzung handelte es sich hierbei vor allem um international agierende Netzwerkorganisationen. Hierzu gehört beispielsweise das Netzwerk HelpAge International,22 die auch Berichte zu jeder OEWG-A-Sitzung verfasst hat. Erst danach konnten auch national tätige NGOs teilnehmen und sich fortan aktiver beteiligen.23 Auch Nationale Menschenrechtsinstitute können erst seit der achten Sitzung an der OEWG-A teilnehmen, nachdem sie zuvor nur als Teil der Staatendelegationen oder über Expertenvertretungen beteiligt waren.24 Das Deutsche Institut für Menschenrechte befand nach der neunten Sitzung der OEWG-A, dass deutlich mehr zivilgesellschaftliche Akteure Stellungnahmen und Antworten einreichten als früher.25 2.2 Inhaltliche Schwerpunkte der Arbeitsgruppe Zu den Themen der ersten sieben Sitzungen, die ausführlich und mehrfach diskutiert wurden, gehörten unter anderem Altersdiskriminierung, Pflege und Gewalt gegen Ältere, soziale Sicherheit, Gesundheit und Autonomie.26 Es ist erwähnenswert, dass in den Berichten der OEWG-A zwar von inhaltlichen Diskussionen und bestimmten Themen die Rede ist, diese aber nicht explizit ausgeführt werden. Seit der achten Sitzung gibt es jedoch im Vorfeld festgelegte Themenschwerpunkte. Für die achte Sitzung im Juli 2017 wurden dementsprechend entweder Altersdiskriminierung/Gleichheit oder Misshandlung von Älteren/Autonomie diskutiert.27 Auf das Thema Langzeit- und Palliativpflege der neunten Sitzung der OEWG-A28 konnten sich die beteiligten Staaten vorbereiten. Das Thema wurde aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet und durch Vorträge u.a.

21 Deutsches Institut für Menschenrechte (2017a). 22 Vgl. https://www.helpage.org/ [01.04.2020]. 23 Mahler (2017), 282. 24 Ebd. 25 Deutsches Institut für Menschenrechte (2018a). 26 Deutsches Institut für Menschenrechte (o.J.). 27 Mahler (2017), 282. 28 United Nations Open-ended Working Group on Ageing (2018).

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der unabhängigen Expertin der UN für die Menschenrechte Älterer und eines Vertreters des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte (OHCHR) begleitet. Als Ergebnis wurde festgestellt, dass in der Langzeit- und Palliativpflege erhebliche nationale Unterschiede bestehen, strukturelle Mängel aber durchgängig erkennbar seien. Dazu gehörten beispielsweise die nicht ausreichende Aus- und Fortbildung von Pflegebeschäftigten sowie die fehlende Partizipation älterer Menschen. Außerdem wurde länderübergreifend Gewalt und Missbrauch gegen Ältere in der Pflege festgestellt.29 In der zehnten Sitzung wurden die Themen Bildung, Training und lebenslanges Lernen sowie Sozialer Schutz und Soziale Sicherheit behandelt.30 Auch die zwei Schwerpunktthemen der neunten Sitzung wurden noch einmal aufgegriffen und diskutiert. Im abschließenden Bericht wurde Wert auf die aktive Teilhabe älterer Menschen gelegt. Es gehe nicht nur darum, dass sie Empfänger besonderen Schutzes und spezieller Pflege sein sollen, sondern aktive und unabhängige Mitgestalter: »It is therefore imperative that older persons be fully empowered to allow them […] becoming not only recipients of special care and social protection, but also the holders of specific rights and active, autonomous and independent agents and beneficiaries of change.«31

Es ist in allen erschienenen Berichten der OEWG-A auffällig, dass die Inhalte nur einen marginalen Teil des Berichts einnehmen. Es werden die besprochenen Themenfelder genannt und anschließend maximal in aller Kürze zusammengefasst. Eine fundiertere und strukturierte Beschreibung der relevanten Themen leisten eher die Berichte der Mitgliedsstaaten, NGOs oder nationalen Menschenrechtsinstitute. So wird auf regionale oder nationale Schwierigkeiten und Lösungsansätze eingegangen. Das auf ältere Menschen spezialisierte Hilfsnetzwerk HelpAge macht in einem eingereichten Sonderbericht beispielsweise ebenfalls auf die verbesserungswürdigen sozialen Sicherungssysteme für ältere Menschen aufmerksam und unterstreicht die Wichtigkeit von Autonomie. So haben ältere Menschen das Recht auf Auto-

29 Mahler (2017), 15. 30 United Nations Open-ended Working Group on Ageing (2019). 31 Ebd., 10.

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nomie und Unabhängigkeit sowie das Recht auf Unterstützung bei Entscheidungsfindungen in Bezug auf soziale Sicherheits- und Schutzsysteme. Zum Erreichen sozialen Schutzes und sozialer Sicherheit werden neben Autonomie die Beachtung des Diskriminierungsverbots, der Zugänglich- und Erreichbarkeit und Angemessenheit sowie ein Beschwerdemechanismus als Empfehlungen angeführt.32 Auch Herausforderungen bei der Umsetzung der Rechte Älterer werden expliziter benannt. HelpAge macht beispielsweise insbesondere auf die desolate Situation Älterer in Katastrophen- und Krisengebieten aufmerksam. So stellten z.B. beim Taifun Haiyan auf den Philippinen 2013 Menschen über 60 Jahre mit 38 Prozent die größte Opfergruppe dar, obwohl sie nur 7 Prozent der philippinischen Bevölkerung ausmachten. Das liege an einer – im Vergleich zu anderen verwundbaren Gruppen wie Kindern oder Frauen – unzureichenden Berücksichtigung älterer Menschen als Personengruppe und führe zu einem mangelhaften Schutz dieser.33 Auch konkrete Ansätze zur Problemlösung werden genannt: Um Rechte älterer Menschen in betroffenen Gebieten zu stärken, wird neben massiven finanziellen Hilfen der internationalen Staatengemeinschaft die Gründung und Stärkung lokaler Selbsthilfegruppen vorgeschlagen, um auf lokale Regierungen besser einwirken zu können.34 Neben eingereichten Dokumenten von internationalen NGOs gibt es aber auch jene Zusatzdokumente zu den genannten Schwerpunkten der Sitzung, die von den Mitgliedsstaaten, Menschenrechtsinstituten und NGOs vorbereitet werden. Hier können Akteure substantive and normative inputs35 einreichen. Es handelt sich um die Beantwortung eines Fragenkatalogs zur allgemeinen und wesentlichen rechtlichen Situation der Rechte Älterer in Bezug auf die Schwerpunktthemen innerhalb der jeweiligen Länder. Normative inputs beziehen sich hierbei auf normative Inhalte über die Entwicklung möglicher internationaler Standards zu den Themen der vorangegangen Sitzung und substantive inputs auf wesentliche inhaltliche Einreichungen zu den Schwerpunkten der aktuellen Sitzung.36 Gleiches gilt für nationale NGOs,

32 HelpAge International (2019). 33 HelpAge Deutschland (o.J.). 34 Ebd. 35 United Nations Open-Ended Working Group on Ageing (o.J.a). 36 Ebd.

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nationale Menschenrechtsinstitute (NHRIs) und Inter-governmentale Organisationen (IGOs). Auch sie können substantive inputs und normative inputs einreichen und beantworten den Fragenkatalog aus einer nicht-staatlichen Perspektive.37 So lautete eine Frage beispielsweise in Bezug auf Bildung, welche zentralen Probleme und Herausforderungen für ältere Menschen bei der Nutzung von Bildungsmöglichkeiten im Rahmen des lebenslangen Lernens bestehen. Vor der Änderung des Sitzungsverlaufes konnten auch schon Dokumente eingereicht werden, jedoch in einem deutlich unstrukturierteren Rahmen auf freiwilliger Basis. Nach der Änderung sind nun mehr und genauer zugeschnittene Statements zu finden. Neben den dünn beschriebenen inhaltlichen Diskursen in den offiziellen Abschlussberichten befasst sich die OEWG-A seit der siebten Sitzung vermehrt mit der grundsätzlichen Ausrichtung der Vorgehensweise zur Stärkung der Rechte Älterer sowie mit der Frage, ob ein neues und umfassendes Instrument geschaffen werden soll. Die Debatte hierüber wird später genauer beleuchtet. Es wird abschließend deutlich, dass in den (nur spärlich schriftlich festgehaltenen) inhaltlichen Diskussionen zwar ein Konsens darüber besteht, dass die Menschenrechte Älterer gestärkt werden müssen, aber die Umsetzung des Schutzes Älterer durch grundsätzliche Meinungsverschiedenheiten über die rechtliche Situation und Vorgehensweise – und so auch den Fortschritt der OEWG-A – gehemmt wird. Auch anhand der Abschlussberichte der OEWG-A wird erkennbar, dass sich die wesentlichen Debatten um den Grundansatz drehen: Wie lassen sich die Rechte Älterer besser in den Menschenrechtsschutz einbetten? Ist eine eigene Konvention notwendig? Was ist das Ziel und die Aufgabe der OEWG-A? Was sind Problemfelder und Barrieren? 2.3 Barrieren und Probleme Den Sitzungen scheint es trotz Verbesserung der Sitzungsstruktur erheblich an Inhalten und Dynamik zu mangeln. In den Beschreibungen der Sitzungsabläufe des Deutschen Instituts für Menschenrechte wird deutlich, dass sich die Staaten der Europäischen Union ab der siebten Sitzung erstmals auf in-

37 United Nations Open-Ended Working Group on Ageing (o.J.a).

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haltlicher Ebene geöffnet und sich bereit erklärt haben, eine offene Diskussion über Inhalte zu führen.38 Dementsprechend scheint es vorher kaum inhaltliche Debatten mit diesen Staaten gegeben zu haben. Es wurde vor der Öffnung gar von einer »Pattstellung«39 gesprochen. Erstaunlicherweise leidet die Arbeit der Arbeitsgruppe außerdem daran, dass in nur zwei der ersten sieben Sitzungen Dolmetscherdienste eingesetzt wurden. Der Vorsitzende Mateo Estrémé zeigte sich enttäuscht darüber, dass die Arbeitsgruppe dadurch daran gehindert werde, ihre Arbeit im vollen Umfang durchzuführen. Dies brachte der abschließende Bericht der siebten Sitzung mit Bedauern zum Ausdruck: »I would also like to express my most serious concern about and dissatisfaction with the fact that, during two meetings of the seventh working session, interpretation services were not provided. […] In that regard, I would like to reiterate my disappointment with the fact that the Working Group was prevented from fully performing its work. The provision of interpretation in the six official United Nations languages is fundamental to the correct and successful functioning of any subsidiary body of the General Assembly. We sincerely hope that this unfortunate situation does not happen again so that it does not endanger the fulfilment of the mandate of the Working Group.«40

Abgesehen von derartigen Schwierigkeiten gibt es Differenzen der Teilnehmenden, wenn es um die Umsetzung einer neuen internationalen Konvention zum Schutze älterer Menschen geht. So befürworten die Staaten Latein- und Mittelamerikas die Schaffung einer völlig neuen Konvention einstimmig, da nur ein verbindliches, einheitliches Instrument einen wirklichen umfassenden Schutz für ältere Menschen biete.41 Die Staaten Afrikas bezogen ab der fünften Sitzung deutlich Stellung und sprachen sich zeitweise ebenfalls einstimmig für eine Konvention aus.42 Die Staaten der Europäischen Union sowie Kanada und die USA lehnen eine solche internationale Konvention bisher ab und stehen stattdessen für eine bessere Implementierung der bereits

38 Vgl. Mahler (2017), 282. 39 Ebd. 40 United Nations Open-ended Working Group on Ageing (2016), 10–11. 41 Mahler (2017), 282. 42 Ebd.

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bestehenden Rechte.43 Die Asiatisch-Pazifische Staatengruppe hat keine Position hierzu eingenommen.44 Interessant ist auch die Position zivilgesellschaftlicher Akteure, die sich einheitlich für ein solches Instrument aussprechen.45 Auf die unterschiedlichen Positionen wird in Kapitel 3.2 eingegangen. Während die ersten sieben Sitzungen jene Pattstellung (Stärkung der Rechte Älterer durch bessere Implementierung vs. Neues Instrument zum Menschenrechtsschutz für Ältere) zum Ergebnis hatten, gab es ab der achten Sitzung die bereits erwähnte Änderung der Sitzungsstruktur, welche eine Debattenöffnung mit Themenschwerpunkten ermöglichte. Trotz dieser inhaltlichen Spezialisierung und neuen Anstößen innerhalb der Sitzungen, bleiben weitere grundsätzliche Unstimmigkeiten ungeklärt. So wurde »die Definition der Gruppe der Älteren oder Überprüfungsmöglichkeiten für die Einhaltung der Menschenrechte Älterer«46 bisher ausgespart. Auf UN-Ebene wird die Gruppe der Älteren bisher insbesondere als Personengruppe bestimmten Alters definiert. Sowohl in Wissenschaft als auch bei Regierungs- und Interessenvertretungen stoßen solche Altersgrenzen jedoch auf Ablehnung, da das Alter sehr von jeweiligen Lebensumständen abhängt.47 Der UN-Sozialpaktausschuss sieht in seiner allgemeinen Bemerkung zu den Rechten Älterer beispielsweise auch eine Altersgrenze von 60 Jahren vor.48 Hierbei wird ausgeblendet, dass »eine 60-jährige Person in Europa – ökonomisch abgesichert und mit einer guten medizinischen Versorgung in einer Großstadt lebend – anders gealtert sein dürfte, als eine Person gleichen Alters in einer ländlichen Region mit schlecht ausgebautem medizinischen Versorgungsnetz, wie dies in Ländern des globalen Südens gängig ist.«49

Es müsse daher die Heterogenität der Gruppe beachtet werden. Außerdem lässt dies auf eine soziale Konstruktion von Alter schließen. Es solle ähnlich wie beim Begriff der Behinderung in der Behindertenrechtskonvention auf

43 Mahler (2017), 282. 44 Ebd. 45 Ebd. 46 Deutsches Institut für Menschenrechte (2018b), 1. 47 Deutsches Institut für Menschenrechte (2018c), 22. 48 Ebd. 49 Ebd.

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eine abschließende Definition des Alters verzichtet werden.50 In der UN-Behindertenrechtskonvention wurde sich schließlich am sozialen Verständnis von Behinderung orientiert: Die betroffenen Menschen mit ihren körperlichen oder seelischen Beeinträchtigungen sind demnach nicht per se behindert, sondern einstellungs- und umweltbedingte Barrieren51 machen sie behindert. Diese Barrieren hinderten sie schließlich am vollständigen Gebrauch ihrer Rechte. Bei der Definition der Gruppe der Älteren müssten ebenfalls altersspezifische Lebenslagen und Aspekte einbezogen und berücksichtigt werden, um die Rechte Älterer zu stärken.52 Die Definitionsfrage spielt bei der Frage einer neuen Konvention eine wichtige Rolle. Ein weiteres Problem der OEWG-A ist, dass der inhaltliche Teil in den Berichten und Sitzungen zu wenig Raum einnimmt. Beim zehnten Treffen wurde gefordert, in Zukunft mehr Zeit für inhaltliche Debatten über normative Elemente einzuräumen.53

3. WARUM SCHEITERT ES BISHER AN DER UMSETZUNG DES BESONDEREN SCHUTZES DER RECHTE ÄLTERER? 3.1 Regionale und historische Entwicklungen In diesem Abschnitt soll beleuchtet werden, welche Gruppen und Akteure sich für eine eigene Menschenrechtserklärung für ältere Menschen aussprechen. Zunächst soll ein wenig auf die Entwicklung und Geschichte des Schutzes der Rechte Älterer eingegangen werden, indem die wichtigsten, bereits bestehenden Verträge und Dokumente genannt werden. Anschließend folgen regionale Differenzen, Gemeinsamkeiten sowie Stimmen für und gegen eine eigene Konvention. Das erste offizielle internationale Dokument, welches das Thema Alter in den Fokus nahm, ist der Vienna International Plan of Action on Ageing,54 50 Mahler (2017), 285. 51 United Nations Convention on the Rights of Persons with Disabilities (2007). 52 Mahler (2017), 286. 53 United Nations Open-Ended Working Group on Ageing (2019). 54 United Nations (1982).

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welcher auf der General Assembly on Ageing in Wien 1982 beschlossen wurde. Es folgte 1991 ein kurzes Grundsatzpapier, die United Nations Principles for Older Persons, verabschiedet von der Generalversammlung der Vereinten Nationen, welches bereits wichtige Grundlagen festlegte, so z.B. die Wahrnehmung und Berücksichtigung der riesigen Diversität der Situationen Älterer zwischen und innerhalb der Staaten.55 Die zweite General Assembly on Ageing erfolgte erst 20 Jahre nach der ersten und brachte ein wichtiges und richtungsweisendes Dokument hervor: Den Madrid International Plan of Action on Ageing (MIPAA).56 Er ist die erste globale Vereinbarung, die ältere Menschen als Mitwirkende und Teilhabende der Entwicklung ihrer Gesellschaften anerkennt und Regierungen in die Verantwortung nimmt, das Thema Alter in allen sozialen und ökonomischen Entwicklungen miteinzubeziehen57 und Fragen des Alters an Menschenrechte zu knüpfen.58 Dieser Übereinkunft stimmten 150 Mitgliedsstaaten zu; gleichzeitig handelt es sich um ein freiwilliges, nicht bindendes Instrument.59 Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) veröffentlichte 2017 den Global Strategy and Action Plan on Ageing and Health60 und erarbeitete 2019/20 in einem weiteren Schritt einen zweiten Action Plan (Decade on Healthy Ageing),61 der den Zeitraum 2020–2030 als Jahrzehnt des Healthy Ageing62 bezeichnet und das Leben älterer Menschen, die selbst im Mittelpunkt des Plans stehen, nachhaltig verbessern will.63 Er ist auf den MIPAA sowie auf die United Nations

55 United Nations Human Rights (1991). 56 United Nations (2002). 57 HelpAge International (o.J.a). 58 United Nations (2002). 59 HelpAge International (o.J.a). 60 World Health Organization (2017). 61 World Health Organization (2020). 62 Healthy Ageing (dt.: gesundes Altern) definiert die WHO als Prozess der Entwicklung und Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit, die das Wohlbefinden im Alter ermöglicht: World Health Organization (2015). 63 World Health Organization (2020).

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Sustainable Development Goals (SDGs)64 und die United Nations Agenda 2030 on Sustainable Development65 ausgerichtet.66 Ein bindendes weltweites Abkommen ist bislang noch nicht entstanden, allerdings gibt es einige regional entstandene Instrumente. Das Wichtigste ist die Inter-American Convention on Protecting the Human Rights of Older Persons,67 welche im Juni 2015 von der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) – jedoch ohne die USA und Kanada – beschlossen wurde und 2017 in Kraft trat. Es ist die bislang einzige Menschenrechtskonvention für die Rechte Älterer. Sehr detailliert werden in dieser Charta Rechte hervorgehoben, die in besonderem Maße Ältere betreffen. So wird das Recht auf ein Leben mit Würde in hohem Alter hervorgehoben (Artikel 6). Damit gehen Langzeitpflegemaßnahmen (Artikel 12), Unabhängigkeit und Autonomie (Artikel 7) sowie das Recht auf freie und insbesondere informierte Einwilligung bei Gesundheitsfragen einher (Artikel 11). Letzteres bezieht sich also auf die Eingriffe in der medizinischen Versorgung, die ohne ausreichende Aufklärung und/oder Einwilligung vorgenommen werden: »Public or private institutions and health professionals may not administer any medical or surgical treatment, procedure, or research without the prior and informed consent of the older person.« (Artikel 11)68

Die Konvention betont auch die Rechte auf palliative Versorgung am Lebensende, persönliche Freiheit, Meinungsfreiheit, Privatsphäre und persönliches Eigentum sowie gesellschaftliche und kulturelle Teilhabe. Außerdem wird besonders sozialer Sicherheit und Gesundheitsversorgung viel Platz in der Konvention eingeräumt.69 Die Wahrnehmung all dieser Rechte sind bei der Gruppe der Älteren durch ihre Vulnerabilität und Einschränkung gefährdet. Es ist weiterhin gar von Inklusion älterer Menschen in alle gesellschaftlichen Bereiche die Rede (Artikel 1) – hiermit sind deutliche Anleihen aus

64 SDGs: https://sustainabledevelopment.un.org/?menu=1300 [03.05.2020]. 65 United Nations (2015). 66 World Health Organization (2020). 67 Organisation Amerikanischer Staaten (2015). 68 Ebd. 69 Mahler (2017), 283.

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der UN-Behindertenrechtskonvention erkennbar (UN-BRK, Artikel 26, Absatz 1).70 Die Inter-Amerikanische Konvention für die Rechte Älterer ist eine Vorreiterin und zeigt durch ihre spezifischen Zuschreibungen, dass die Rechte Älterer in den schon bestehenden Menschenrechtsschutzssystemen nur unzureichend gedeckt sind. Eine Schwachstelle der Konvention ist jedoch die Definition der Gruppe der Älteren, die lediglich das Lebensalter der Person (60 Jahre oder älter) umfasst (Artikel 2). Auch das Protocol to the African Charter on Human and People’s Rights on the Rights of Older Persons in Africa71 sieht eine ähnliche Definition vor und definiert ältere Personen als 60-jährig oder älter (Artikel 1). Das Protokoll ist der Inter-Amerikanischen Konvention ähnlich, legt den Fokus aber zusätzlich auf ältere Menschen in Kriegs- oder Katastrophengebieten, den Schutz älterer Frauen und jener, die schutzbedürftige Kinder pflegen, sowie Ältere mit Behinderungen. Das Afrikanische Protokoll wurde 2016 verabschiedet und hat wie die InterAmerikanische Konvention einen Überprüfungs-, Klage- und Beschwerdemechanismus. Beide sind dementsprechend verbindliche Menschenrechtsverträge.72 Ein nichtbindendes Instrument zur Stärkung der Rechte Älterer hingegen legte der Europarat im Jahre 2014 vor. Es handelt sich hierbei um eine Empfehlung (Recommendation of the Committee of Ministers to Member States on the promotion of human rights of older persons), die im Vergleich zu den Verträgen aus Amerika und Afrika den inhaltlichen Fokus mehr auf Autonomie und Pflege legt. Zudem unterscheidet sich die Definition der Gruppe der Älteren wesentlich. So gelte die Empfehlung für jene Menschen, deren hohes Alter sie an der Inanspruchnahme ihrer Menschenrechte hindert: »The present recommendation applies to persons whose older age constitutes, alone or in interaction with other factors, including perceptions and attitudes, a barrier to the full enjoyment of their human rights and fundamental freedoms and their full and effective participation in society on an equal basis.«73

70 United Nations Convention on the Rights of Persons with Disabilities (2007). 71 African Union (2016). 72 Mahler (2017), 283. 73 Council of Europe (2014), Punkt I.2.

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Zudem führt die Empfehlung Beispiele guter Praxis in einzelnen europäischen Ländern auf. Eine vorgesehene Prüfung der Umsetzung dieser Empfehlung war im Rahmen des Ministerkomitees fünf Jahre nach Veröffentlichung der Empfehlung vorgesehen74 und führte zu einem Bericht der Umsetzung der Empfehlung im Jahre 2019.75 Dieser berichtet ausführlich über bereits getroffene Maßnahmen der einzelnen Mitgliedsstaaten,76 benennt jedoch auch weitere Erfordernisse, u.a. die Notwendigkeit, bestimmte Behörden in den einzelnen Ländern für die Umsetzung der Empfehlung festzulegen.77 Zudem berichteten einige Staaten, dass das Wissen über Menschenrechte Älterer in ihren Ländern unzureichend sei78 und viele Staaten die Empfehlung noch nicht in die jeweiligen Landessprachen übersetzt haben.79 Alle drei Instrumente – die Inter-Amerikanische Konvention, das Afrikanische Protokoll und die Empfehlungen des Europarats – haben viele inhaltliche Schnittmengen. So werden beispielsweise Schutz vor Gewalt und Misshandlung und Altersdiskriminierung mehrfach und wiederkehrend genannt. Jedoch nennt das Afrikanische Protokoll die Mehrfachdiskriminierung nicht,80 auf die auch von einigen Teilnehmern in der zehnten Sitzung der OEWG-A hingewiesen wurde, da die Gruppe der Älteren keine homogene Gruppe sei.81 Dafür sieht das Afrikanische Protokoll eine eigene Regelung zu Frauen und das Modell der assistierten Autonomie vor.82 Im Bereich des Rechts auf Pflege gibt es ebenfalls Unterschiede.83 Inwiefern diese Unterschiede Vor- und Nachteile bei einer möglichen Entwicklung einer Konvention haben, wird im Folgenden erläutert.

74 Mahler (2017), 284. 75 Council of Europe (2019). 76 Ebd., Punkt 6–31. 77 Ebd., Punkt 34. 78 Ebd., Punkt 37–38. 79 Ebd., Punkt 38. 80 Mahler (2017), 284. 81 United Nations Open-Ended Working Group on Ageing (2019). 82 Mahler (2017), 284. 83 Ebd.

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3.2 Auf dem Weg zu einer universell verbindlichen Konvention für die Menschenrechte Älterer? Die festgestellten Unterschiede und Differenzen zeigen einmal mehr die Diversität und Komplexität der Rechte älterer Menschen – und der Ruf nach einer eigenständigen universellen Konvention wird immer lauter. Der Bericht der letzten Sitzung der OEWG-A offenbarte, dass einige Staatendelegationen die Wichtigkeit der Entwicklung eines rechtlich bindenden Instruments betonten.84 Weiterhin stellen sich auch die beteiligten NGOs und Netzwerke einheitlich hinter die Ausarbeitung einer Konvention. Laut HelpAge International ist eine Konvention der effektivste Weg, um Stigmatisierungen entgegenzutreten und die Verantwortlichkeit der Staaten deutlicher zuzuschreiben; ein solches Regelwerk kann außerdem ein Rahmen für politische Entscheidungen sein.85 In der zehnten Sitzung der OEWG-A wurde während der Diskussion der normative inputs auch seitens der NGOs und Menschenrechtsinstitute auf die Dringlichkeit einer Konvention, mit Blick auf die schon bestehenden regionalen Menschenrechtsverträge in Amerika und Afrika, hingewiesen.86 Auch das Deutsche Institut für Menschenrechte spricht sich für eine universelle Konvention aus, da sie einen Überprüfungsmechanismus und damit auch Rechenschaft und Verantwortlichkeit der Staaten mit sich bringe. Eine Konvention könne sich auf staatliches Handeln auswirken und durch die Einbindung der Gruppe der Älteren in die Konzeption einer solchen Menschenrechtserklärung die Betroffenen stärker auf ihre Rechte aufmerksam machen.87 Die damalige UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Navi Pillay, hat zur Sitzung der OEWG-A 2012 ein Papier vorgelegt, welches den Menschenrechtsschutz untersucht und gleich zu Beginn ebenfalls das Problem der Definition verdeutlicht. Es fällt an dieser Stelle auf, dass das Definitionsproblem schon wenige Jahre vor der Verabschiedung der Inter-Amerikanischen Konvention und des Afrikanischen Protokolls in der OEWG-A thematisiert wurde und trotzdem nicht als solches in den beiden Instrumenten genannt wurde. Die Hochkommissarin spricht davon, dass es zum damaligen Zeitpunkt weder regional noch international eine umfassende

84 United Nations Open-Ended Working Group (2019). 85 HelpAge International (o.J.b). 86 United Nations Open-Ended Working Group (2019). 87 Mahler (2017), 286.

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Definition der Gruppe der älteren Personen gegeben habe und die Lage älterer Menschen ein soziales, politisches und ökonomisches Konstrukt sei.88 Zudem unterstützt sie eine neue Konvention. Die Forderung nach einer universell gültigen Konvention wird also von vielen Seiten erhoben. 3.3 Gründe für die bisherige Ablehnung einer Konvention Dennoch kam es bisher noch nicht zu einer solchen Konvention. Mehrere Gründe sind hierfür ausschlaggebend. So zeigen sich insbesondere die europäischen Staaten ablehnend gegenüber einer neuen Konvention. Auf ihrer Seite wird argumentiert, dass Lücken im Menschenrechtsschutz Älterer nicht auf der Ebene der normierten Rechte bestünden, »sondern nur auf der Ebene der Umsetzung dieser Rechte.«89 Die bestehenden Rechte müssten lediglich besser auf Ältere angewendet und die Umsetzung überwacht werden. Konkrete Vorschläge für ein solches Monitoring im Blick auf ältere Menschen wurden aber nicht vorgelegt.90 Ein weiteres zentrales Argument der europäischen Staaten ist die Ablehnung einer Zersplitterung des Menschenrechtsschutzsystems. Der Fokus auf die bereits bestehenden allgemeinen Konventionen könne durch eine solche Zersplitterung verloren gehen.91 Tatsächlich zeigt die Praxis aber, dass der Blick auf die schon bestehenden Verträge durch zusätzliche Konventionen, die eine bestimmte Gruppe besonders schützt, sogar verstärkt wird.92 Weitere Bedenken der europäischen Staaten richteten sich auf die mit einer Konvention einhergehenden Berichtspflichten sowie schwierige Definitionsfragen. Allerdings zeigen sich Probleme der Komplexität und interner Diversität nicht nur mit Blick auf die Gruppe älterer Menschen: Auch Kinder, Frauen und Menschen mit Behinderungen, für die eigene Konventionen existieren, unterscheiden sich erheblich in ihren sozialen und kulturellen Hintergründen.93 Die USA schalteten sich ebenfalls als Gegner einer Schaffung einer Konvention ein und betonten in der neunten

88 United Nations Human Rights Office of the High Commissioner (2012). 89 Mahler (2013), 37. 90 Ebd. 91 Ebd., 38. 92 Ebd. 93 Ebd., 39.

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Sitzung, dass der MIPAA ausreiche und es keiner weiteren Instrumente bedarf, die Kosten verursachen.94 Der Bericht der UN-Hochkommissarin Nava Pillay kommt hingegen trotz aller Kritik auch ausdrücklich zu dem Schluss, dass der bestehende internationale Rahmen Schutzlücken enthalte:95 »[…] [T]he United Nations General Assembly established the OEWG, with a mandate to consider the existing international framework, its gaps and ways to address these […].«96

Ältere Menschen seien als Gruppe bisher nicht sichtbar gewesen, was schließlich zur Verletzung ihrer Rechte führte.97 Die Analyse der Argumentation der beteiligten Akteure über das Für und Wider der Schaffung einer Konvention zum besonderen Schutze der Rechte Älterer zeigt, dass mehrere Gründe die Schaffung einer neuen Konvention bisher verhindert haben. Zum einen sind Befürchtungen vor praktischen Konsequenzen zu nennen: hohe Kosten, erhöhte Berichtspflichten sowie eine Zersplitterung des Menschenrechtsschutzssystems. Zum anderen argumentieren die Gegner damit, dass die bereits bestehenden Rahmen zum Schutze der Rechte Älterer (Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Behindertenrechtskonvention, MIPAA) ausreichten und es lediglich bei der Umsetzung hapere. Auch die Frage, welche Menschen überhaupt unter die Gruppe der Älteren fällt, führt zu unterschiedlichen Ansichten und Definitionen. Im Kern liegt das bisherige Fehlen einer Konvention über die Menschenrechte Älterer demzufolge an grundsätzlichen Differenzen der verantwortlichen Staaten innerhalb der OEWG-A, die die Entwicklung einer neuen, weltweit bindenden UN-Konvention bisher noch nicht ermöglichen.

94 Deutsches Institut für Menschenrechte (2018a). 95 Mahler (2013), 37. 96 United Nations Human Rights Office of the High Commissioner (2012), 5. 97 Mahler (2013), 37.

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4. AUSBLICK: WEITERE GRÜNDE FÜR DIE MANGELNDE WAHRNEHMUNG DER RECHTE ÄLTERER In diesem Kapitel werden auch abseits von der UN-Ebene weitere Gründe hinter der sich nur langsam abzeichnenden Stärkung der Rechte älterer Menschen gesucht. Es stellt sich nicht nur die Frage, warum die OEWG-A langsame Fortschritte macht, sondern auch, warum das ganze Thema der Menschenrechte Älterer trotz der deutlichen Dringlichkeit so wenig Aufmerksamkeit in Gesellschaft, Medien, Literatur und Politik gefunden hat. Hierbei sollte zunächst verdeutlicht werden, dass es auch bei diesem Phänomen weltweit große Unterschiede gibt. Die zwei erwähnten, bereits entwickelten rechtsverbindlichen Instrumente aus Lateinamerika und Afrika zeigen schließlich, dass Bereitschaft und Anerkennung regional sehr verschieden sein können. Daher sei der Fokus hier insbesondere auf Europa bzw. die sog. westliche Welt gelegt, die sich auf UN-Ebene am vehementesten gegen eine Konvention für ältere Menschen stellt. Unabhängig von der Region sei aber angemerkt, dass eine Verdeutlichung der Dringlichkeit sicher auch durch große Menschenrechtsorganisationen vorangetrieben werden kann. Transparency International ist die einzige der großen internationalen Menschenrechtsorganisationen, die eine eigene Rubrik zum Thema Pflege und Betreuung auf ihrer Website bereitstellen.98 Amnesty International,99 Human Rights Watch100 und FIAN101 haben das Thema Rechte älterer Menschen nicht als einzelnes Themenfeld aufgeführt. Eine mögliche Antwort auf die Frage, warum sich der Blick auf die Rechte einer so großen Gruppe nicht schärft, ist sicherlich deren besondere Vulnerabilität. Simone de Beauvoir schrieb hierzu bereits 1970, dass Ältere keine wirtschaftliche Kraft und daher auch keine Mittel hätten, um ihre Rechte durchzusetzen. Zudem beschreibt sie ein gesellschaftliches Bild von älteren Menschen, das auch aktuell noch ein Problem darstellt:102

98

Transparency Internationa (o.J.).

99

Amnesty International (o.J.).

100 Human Rights Watch (o.J.). 101 FoodFirst Informations- und Aktions-Netzwerk (o.J.). 102 Beauvoir (1972), 8.

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»Wenn die Alten die gleichen Wünsche, die gleichen Gefühle, die gleichen Rechtsforderungen wie in der Jugend bekunden, schockieren sie; bei ihnen wirken Liebe, Eifersucht widerwärtig oder lächerlich, Sexualität abstoßend, Gewalttätigkeit lachhaft. […] Weichen sie von dem erhabenen Bild ab, das man ihnen aufnötigt, nämlich dem des Weisen mit einem Heiligenschein weißer Haare, reich an Erfahrung und verehrungswürdig […], so fallen sie tief darunter.«103

Durch an Stereotypen orientierte Vorstellungen werden die Rechte älterer Menschen in Frage gestellt und gefährdet. Stereotypisierung, Vorurteile und Diskriminierung gegenüber Menschen aufgrund ihres Alters haben zudem besonders schädliche Auswirkungen auf die Gesundheit und das Wohlergehen älterer Menschen.104 Fehlende Menschlichkeit in Bezug auf ältere Menschen habe außerdem mit der Ökonomisierung der Pflege zu tun, so Thomas Klie. Er stellt die Frage, ob sich Pflege rechnen dürfe, und kritisiert, dass Qualitätssicherung in Altenwohnheimen nie menschen-, sondern immer gewinnorientiert sei, um eine kosteneffiziente Betriebsführung zu gewährleisten. Ihm zufolge erzielen stationäre Pflegeeinrichtungen in Deutschland hohe Gewinnmargen. Erreicht werden diese beispielsweise durch geringe Kostenplanung beim Essen; pro Bewohner*in soll dementsprechend mit 2,14 Euro pro Tag ausgekommen werden. So entstehen zwar zusätzliche Gewinne von ca. 200.000 Euro jährlich, aber es gebe auch wenig ausgewogene Mahlzeiten für die Bewohner*innen. Klie führt weitere Beispiele von unhaltbaren Zuständen an, die durch massive Kosteneinsparungen herbeigeführt werden.105 Ein weiteres zentrales Problem ist, dass man das Thema nicht als gesamtgesellschaftliche Aufgabe versteht. So wird zu wenig aus einer gesellschaftlichen Perspektive auf das Thema Alter geblickt, die die Verantwortung und Einstellung der Gesellschaft gegenüber älteren Menschen betont. Bei der politischen Debatte komme laut Klie zudem zu kurz, dass es nicht nur um Gewährleistung und Verbesserung medizinischer Versorgung geht, sondern, »auch darum, dass ich mich in einer sorgenden Gesellschaft aufgehoben weiß bis zum Ende des Lebens.«106 Andreas Kruse macht darauf aufmerksam, dass zwar ständig auf den demografischen Wandel und die Alterung der

103 Beauvoir (1972), 8. 104 World Health Organization (2020), 8. 105 Klie (2014), 73–74. 106 Eusterholz (2015).

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Gesellschaft hingewiesen wird, aber ohne dementsprechend zu handeln und die Verantwortung der Gesellschaft zu erkennen: »Es genügt nicht, auf die zunehmende Anzahl alter Menschen hinzuweisen und dabei die Verantwortung, die damit der Gesellschaft zuwächst, auszublenden.«107 Er legt dar, dass auch ältere Menschen, trotz ihrer durch die Umstände im Alter entstandene Verletzlichkeit, erhebliches Potenzial zur Verbesserung ihrer Lebenssituation haben. Es sei daher dringend notwendig, Konzepte zur Erhaltung von Kompetenz, Autonomie und Teilhabe auch alten Menschen verstärkt auch alten Menschen anzubieten, um präventiv und rehabilitativ wirksam zu sein und so die Wahrscheinlichkeit für Hilfs- und Pflegebedürftigkeit zu verringern. Um die Würde und Rechte älterer Menschen nicht zu verletzen, verlangt er eine altersfreundliche Gestaltung von Gesellschaft und Kultur und betrachtet das hohe Alter als sozialen, politischen und kulturellen Handlungsauftrag.108

5. FAZIT Demzufolge könnte ein Paradigmenwechsel innerhalb der Gesellschaft ein Schlüssel zur Veränderung der Probleme sein. Im Jahr 2019 veröffentlichte HelpAge International einen Bericht mit dem Titel Living, not just surviving, der betont, dass Menschenrechte nicht das bloße Überleben, sondern ein erfülltes Leben als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft ohne Angst bedeuten.109 Die Einnahme einer solchen Perspektive durch die Gesellschaft kann durch eine eigene Konvention zur Stärkung der Rechte Älterer angestoßen werden. Zudem könnte sie die weltweite Diversität der Problemlagen dieser Personengruppe abbilden. Menschenrechtler, NGOs und Regierungen unterstützen bereits voll und ganz die Umsetzung einer Konvention. Die Arbeit der OEWG-A mit zahlreichen Bemühungen um eine Menschenrechtskonvention für die Rechte Älterer in den letzten Jahren zeigt hier einen leichten Vorwärtstrend, aber der Fortschritt ist durch die Blockade der europäischen Staaten eher schleppend. Die Ergebnisse der nächsten Sitzung und mögliche positive Entwicklungen der OEWG-A 2020 bleiben abzuwarten.

107 Kruse (2017), 414. 108 Ebd., 413–414. 109 HelpAge International (2019).

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Autorinnen und Autoren mit Adressen

PD Dr. phil. Lutz Bergemann Wiss. Mitarbeiter an der Professur für Ethik in der Medizin Geschäftsstelle des Klinischen Ethikkomitees am UK Erlangen Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Glückstraße 10, 91054 Erlangen Email: [email protected] Prof. Dr. phil. Dr. h.c. Heiner Bielefeldt Lehrstuhl für Menschenrechte und Menschenrechtspolitik Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Kochstraße 4, 91054 Erlangen Email: [email protected] Benjamin Brow, B.A. Student der Politikwissenschaft und Theater- und Medienwissenschaft Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Kochstraße 4, 91054 Erlangen Email: [email protected] Dr. phil. Marie-Kristin Döbler Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziologie Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Bismarckstr. 6, 91054 Erlangen Email: [email protected]

276 | G UTE B EHANDLUNG IM A LTER ?

Prof. Dr. med. Andreas Frewer, M.A. Professur für Ethik in der Medizin Leiter der Geschäftsstelle des Ethikkomitees am UK Erlangen Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Glückstraße 10, 91054 Erlangen Email: [email protected] Dr. phil. Christoph Herrler Wiss. Mitarbeiter an der Professur für Ethik in der Medizin GRK „Menschenrechte und Ethik in der Medizin für Ältere“ Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Glückstraße 10, 91054 Erlangen Email: [email protected] Dipl.-Pol. Sabine Klotz Wiss. Mitarbeiterin an der Professur für Ethik in der Medizin GRK „Menschenrechte und Ethik in der Medizin für Ältere“ Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Glückstraße 10, 91054 Erlangen Email: [email protected] Dr. phil. Larissa Pfaller Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziologie Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Bismarckstr. 6, 91054 Erlangen Email: [email protected] Prof. Dr. phil. Hartmut Remmers Institut für Gesundheitsforschung und Bildung (IGB) Universität Osnabrück Barbarastr. 22c, 49076 Osnabrück Email: [email protected]

A UTORINNEN

UND

A UTOREN

Prof. Dr. phil. Mark Schweda Abteilung für Ethik in der Medizin Department für Versorgungsforschung Carl von Ossietzky Universität Oldenburg Ammerländer Heerstraße 114-118, 26129 Oldenburg Email: [email protected] Prof. Dr. theol. Barbara Städtler-Mach Evangelische Hochschule Nürnberg Bärenschanzstraße 4, 90429 Nürnberg Email: [email protected] Prof. Dr. phil. Dipl.-Psych. Susanne Wurm Abteilung Sozialmedizin und Prävention Institut für Community Medicine Universitätsmedizin Greifswald Walther-Rathenau-Str. 48, 17475 Greifswald Email: [email protected]

MIT

A DRESSEN

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Philosophie Ashley J. Bohrer

Marxism and Intersectionality Race, Gender, Class and Sexuality under Contemporary Capitalism 2019, 280 p., pb. 29,99 € (DE), 978-3-8376-4160-8 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4160-2

Jürgen Manemann

Demokratie und Emotion Was ein demokratisches Wir von einem identitären Wir unterscheidet 2019, 126 S., kart. 17,99 € (DE), 978-3-8376-4979-6 E-Book: 15,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4979-0

Harald Lemke

Szenarien der Ernährungswende Gastrosophische Essays zur Transformation unserer Esskultur 2018, 396 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-4483-8 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4483-2 EPUB: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4483-8

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Philosophie Jürgen Manemann, Eike Brock

Philosophie des HipHop Performen, was an der Zeit ist 2018, 218 S., kart. 19,99 € (DE), 978-3-8376-4152-3 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation, ISBN 978-3-8394-4152-7

Anke Haarmann

Artistic Research Eine epistemologische Ästhetik 2019, 318 S., kart. 34,99 € (DE), 978-3-8376-4636-8 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4636-2 EPUB: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4636-8

Hilkje Charlotte Hänel

What is Rape? Social Theory and Conceptual Analysis 2018, 282 p., hardcover 99,99 € (DE), 978-3-8376-4434-0 E-Book: 99,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4434-4

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