Evangelische Christenheit in Politik, Gesellschaft und Staat: Orientierungsversuche [Reprint 2020 ed.] 3110156350, 9783110156355

Book by Honecker, Martin

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German Pages 386 [384] Year 1998

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Evangelische Christenheit in Politik, Gesellschaft und Staat: Orientierungsversuche [Reprint 2020 ed.]
 3110156350, 9783110156355

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Martin Honecker Evangelische Christenheit Politik, Gesellschaft und Staat

W

Theologische Bibliothek Töpelmann Herausgegeben von O. Bayer • W Härle • H.-P. Müller

Band 90

Walter de Gruyter • Berlin • New York

1998

Martin Honecker

Evangelische Christenheit in Politik, Gesellschaft und Staat Orientierungsversuche

Walter de Gruyter • Berlin • New York 1998

© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

Die Deutsche Bibliothek — CIP-Einheitsaufnahme Honecker, Martin: Evangelische Christenheit in Politik, Gesellschaft und Staat Orientierungsversuche / Martin Honecker. - Berlin ; New York : de Gruyter, 1998 (Theologische Bibliothek Töpelmann ; Bd. 90) ISBN 3-11-015635-0

© Copyright 1998 by Walter de Gruyter GmbH & Co., D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen Printed in Germany Druck: Werner Hildebrand, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer-GmbH, Berlin

Vorwort Bis auf einen Beitrag, der Vortrag vor der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften von 1981 „Evangelische Theologie vor dem Staatsproblem", dessen Fragestellung freilich unverändert nach wie vor aktuell ist, wurden alle Beiträge dieses Buches während der letzten zehn Jahre verfaßt. Sie waren zumeist ursprünglich Vorträge. Den Bemühungen meiner studentischen Mitarbeiter Jochen Ringel, Anja Thalau, Rolf Schopen, Christoph Rollbühler, Simone Werner, meiner Sekretärin Frau Christel Finke und vor allem meines Assistenten Tobias Schlingensiepen ist die nochmalige Veröffentlichung in einer zusammenhängenden Form zu verdanken. Herr Schlingensiepen hat auch um das Register sich verdient gemacht. Für mancherlei Unterstützung und Zusammenarbeit schulde ich also vielfachen Dank. Die Erstveröffentlichungen erfolgten zum Teil an für den theologischen Normalbetrieb entfernten und schwer zugänglichen Stellen. Um Überschneidungen zu vermeiden, wurden, verglichen mit der Erstveröffentlichung, Kürzungen vorgenommen. Ferner wurde außerdem darauf verzichtet, Anmerkungen durchgängig zu vereinheitlichen. Die einleitenden Hinweise der einzelnen Beiträge benennen jedoch den ursprünglichen Anlaß; für die Publikation sind gleichwohl gelegentliche Kürzungen und kleinere Veränderungen vorgenommen worden. Hinter den einzelnen Beiträgen steht ein „roter Faden", eine übergreifende Fragestellung und Thematik. Es geht um gegenwärtige Orientierung und Klärung der Aufgabe und des Orts der evangelischen Kirche in Gesellschaft, Politik und Staat. Inhalt und Perspektive evangelischer Ethik behandeln meine beiden Lehrbücher „Einführung in die theologische Ethik. Grundlagen und Grundbegriffe", 1990, und „Grundriß der Sozialethik", 1995, beide im Verlag de Gruyter erschienen. Die ethischen und geschichtlichen Dimensionen einer praktischen Ekklesiologie haben mich während der Arbeit an der Ethik beschäftigt, genauso wie die Thematik eines evangelischen Kirchenrechts. Die einzelnen, thematisch zumeist vorgegebenen Überlegungen waren und sind freilich „Orientierungs-

VI

Vorwort

versuche", worauf der Untertitel ausdrücklich hinweist. Sie sind dennoch mehr als eine bloße Dokumentation kontextueller und zeitbedingter Äußerungen; hinter ihnen steht vielmehr eine Grundauffassung und eine Gesamtsicht von Stellung und Verantwortung evangelischer Kirche in Gesellschaft, Staat und Politik. Zu danken habe ich schließlich dem Verlag Walter de Gruyter, vor allem Herrn Dr. Hasko von Bassi, für die Aufnahme des Buches in die Reihe und für die verlegerische Betreuung. Bonn, den 29. Juni 1998

Martin Honecker

Inhaltsverzeichnis Vorwort

V

Einführung: Evangelische Christenheit und Modernisierung .

1

1.

Kirche und Staat, Politik und Glaube

13

2.

Der Auftrag der Kirche und die Aufgabe des Staates . .

21

3.

Evangelische Theologie vor dem Staatsproblem

59

4.

Öffentliche Erinnerung an Gott

99

5.

Christlicher Glaube, Religion und moderne Gesellschaft 107

6.

Individuelle Schuld und kollektive Verantwortung. Können Kollektive sündigen?

127

7.

Nationale Identität und kollektive Verantwortung . . . .

149

8.

Nach dem Ende des Sozialismus

173

9.

Reformatorische und revolutionäre Sicht eschatologischer Freiheit

199

10.

Der lange Schatten der Französischen Revolution

223

11.

Wie christlich wird Europa sein? Eine evangelische Perspektive

247

Wahrheit und Freiheit im Spannungsfeld des Pluralismus

265

13.

Natur als ethischer Maßstab

285

14.

Die Auseinandersetzung um die Militärseelsorge in der Evangelischen Kirche

301

12.

VIII

Inhaltsverzeichnis

15.

Stadtkultur im Wertewandel

319

16.

Gemeinschaft der Christen in der Spannung von Relativismus und Fundamentalismus

335

Sachregister Personenregister Bibelstellenregister Nachweis der Erstveröffentlichung

361 366 370 372

Einführung: Evangelische Christenheit und Modernisierung (1) Das Thema, oder wahrscheinlich besser und genauer gesagt, das Problem Kirche, hat mich seit der Dissertation „Kirche als Gestalt und Ereignis", die 1960 abgeschlossen wurde, beschäftigt. 1 Es war damals die Erfahrung einer Spannung, eines spannungsvollen Verhältnisses zwischen dem, was von der Kirche theologisch gelehrt und dem, wie sie empirisch erfahren wird, welche zum Fragen Anlaß gab. Eine Kluft tat sich mir als jungem Theologen auf zwischen den Vorstellungen der Universitätstheologie und den Alltagserfahrungen in der real existierenden Kirche. Dabei ging es weder um ein zeitloses Idealbild von „Kirche" noch um ein beziehungsloses Nebeneinander oder gar eine Trennung zwischen erfahrener, sichtbarer Kirche, Kirche als Organisation oder Institution einerseits, dem Bekenntnis zur Kirche als Glaubensgemeinschaft andererseits, sondern um die offene Frage, wie ein erkennbares Auseinanderklaffen von realer Erfahrung und geglaubter Verheißung zu vertreten sei. Hinter den Studien und Beiträgen dieses Bandes steht nach wie vor diese theologische Erfahrung und Fragestellung. Die Beiträge wurden aus unterschiedlichen Anlässen verfaßt, beispielsweise im Jubiläumsjahr 1989. Den Anstoß zum Nachdenken und zur Ausformulierung ergab sich fast immer aus Einladungen und Anfragen. Bis auf einen Beitrag zum evangelischen Staatsverständnis aus dem Jahr 1981 sind alle Texte also in den letzten zehn Jahren entstanden. Kirche wird in den Überlegungen im Kontext von Politik, Staat und Gesellschaft, also in Lebenszusammenhängen betrachtet. Dabei ist die heimliche Leitfrage, wie denn der Auftrag der Kirche und ihr Ort in der Welt des Politischen in der Kultur und im öffentlichen Raum der Gesellschaft zu verstehen sei.

1

Martin Honecker, Kirche als Gestalt und Ereignis. Die sichtbare Gestalt der Kirche als dogmatisches Problem FGLP 10, X X V , München 1963.

2

Einführung

Da es um Auftrag, Mission und Diakonie der evangelischen Kirche geht, ist das Wort „Christenheit" als Leitwort gewählt worden. Gemeint ist mit „Christenheit" allerdings nicht die Vorstellung von der einen echtkatholischen oder echtchristlichen Zeit wie sie Novalis in der Romantik mit Rückblick auf das Mittelalter idealisiert in seiner Schrift „Die Christenheit oder Europa", 1799. Christenheit ist vielmehr nichts anderes als die Verdeutschung von orbis christianus oder ordo christianus. Von Christenheit sprach auch der Reformator Martin Luther vor der im Konzil von Trient besiegelten Kirchenspaltung. Das Wort „Christenheit" erinnert somit an bekannte Aussagen. Martin Luther erläutert im Kleinen Katechismus den dritten Artikel des Glaubens folgendermaßen: „Ich glaube, daß ich nicht aus eigener Vernunft noch Kraft an Jesum Christ, meinem Herrn, glauben oder zu ihm kommen kann, sondern der heilige Geist hat mich durchs Evangelium berufen, mit seinen Gaben erleuchtet, im rechten Glauben geheiligt und erhalten, gleichwie er die ganze Christenheit auf Erden beruft, sammelt, erleuchtet, heiligt und bei Jesus Christus erhält im rechten einigen Glauben, in welchen Christenheit er mir und allen Gläubigen täglich alle Sünde reichlich vergibt und am jüngsten Tag mich und alle Toten auferwecken wird und mir samt allen Gläubigen in Christus ein ewiges Leben geben wird." Die Christenheit auf Erden ist der Ort des Glaubens. Im Großen Katechismus besagt nach Luther Christenheit auf „recht Deutsch und unser Muttersprach" „eine christliche Gemeinde oder Sammlung" oder aufs allerbeste und klarste „eine heilige Christenheit". 2 Auch in der Vorrede zum Großen Katechismus spricht er ebenso von der „Christenheit". Der Begriff „Christenheit" hat gegenüber dem Wort Kirche den Vorzug, daß Christenheit nicht auf den Aspekt der Organisation und Institution abstellt. Von Kirche ist in vielen Komposita die Rede, welche die institutionelle Verfaßtheit von Kirche betonen; Komposita wie Kirchenrecht, Kirchensteuer, Kirchenmitglied, Kirchenamt, Kirchenleitung sind hier ebenso zu nennen wie Worte: Territorialkirche, Landeskirche, Nationalkirche, Reichskirche, Rechtskirche, Volkskirche. Manche dieser Begriffe erhalten erst durch ihre Gegen2

Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, 3. Aufl. Göttingen, 1 9 5 6 , S. 6 5 6 , 2 2 - 2 5 ; vgl. S. 5 5 4 , 2 8 ; 5 5 5 , 5 : das lateinische Wort ist „Christianismus".

Evangelische Christenheit und Modernisierung

3

begriffe, etwa Bekenntniskirche, Geistkirche, Freikirche ihr eigentliches Profil. Komposita wie Provinzialkirche, Kirchenprovinz, Landeskirchenamt, Amtskirche bezeichnen die jeweilige Organisationsform, die Kirchenverfassung. Beim Wort Kirche denkt man zunächst entweder an eine Organisation oder an das Kirchengebäude. Auf das Gebäude beziehen sich Komposita wie Kirchenfabrik, Kirchenraum, Kirchenstuhl, Kirchenbank, Kirchenglocke, Kirchenraub usw. Weder das Gebäude noch die kirchliche Organisation, die verfaßte Kirche, sind jedoch ohne weiteres mit der Glaubensgemeinschaft, mit der geistlichen Christenheit gleichzusetzen. Auch das seit den Apostolischen Vätern Ignatius in der griechischen Fassung als Christianismos, lateinisch Christianismus übliche Wort „Christentum" ist weiter als das Wort Christenheit. 3 Das Wort Christianismos ist ursprünglich eine Neubildung analog zum Wort Judaismos, Judentum, (2. Makk. 2,21; 14,38) und zu Hellenismos, Griechentum. Christentum bezeichnet zwar in gleicher Weise wie Christenheit die Gemeinschaft der Christen, das „consortium Christianitatis", aber ebenfalls den dogmatischen und ethischen Lehrinhalt christlichen Glaubens, die fides Christiana, die doctrina. Mit Christentum verbindet sich ferner die Frage nach dem „Wesen", dem „Prinzip", der „Idee", dem Grundgedanken des Christentums. Diese Fragestellung wird aber nicht ausdrücklich in den folgenden Überlegungen aufgenommen. Deshalb erhält das Wort Christenheit den Vorzug. Es gibt diese eine Christenheit freilich nur in konfessioneller Vielfalt und in unterschiedlichen Gestaltungen und Erscheinungsformen. Somit präzisiert das Wort „evangelisch" den konkreten Ausgangspunkt und die Perspektive, unter welcher Ort und Aufgabe evangelischer Christenheit in Politik, Staat und Gesellschaft bedacht wird. (2) Die Kirchenaustrittsbewegung Ende der 80er Jahre veranlaßte die EKD 1972 zu einer Meinungsumfrage. Die Ergebnisse dieser Umfrage wurde veröffentlicht unter der Leitfrage „Wie stabil ist die Kirche? „Weitere Umfragen bestätigten das Bild der Erosion der Volkskirche wie der Bedeutung persönlicher Verbundenheit mit der

3

Ignatius Magn. 10,3

4

Einführung

Kirche. 4 Kirchenaustritt ist freilich oft nur die letzte Konsequenz eines längeren Prozesses der Entfremdung von den kirchlichen Institutionen. Sinkende Kirchenmitgliedschaft hat sodann Auswirkungen auf die kirchlichen Finanzen, auf das Kirchensteueraufkommen, auf kirchliche Aktivitäten, und also auf die kirchlichen Handlungsmöglichkeiten insgesamt. Deshalb verdienen diese Umfrageergebnisse und die Vorstellungen und Erwartungen der Kirchenangehörigen an „ihre" jeweilige Kirche Aufmerksamkeit und Beachtung. Handlungsvorschläge sind aufgrund der Umfrageergebnisse für die EKD entwickelt und veröffentlicht worden, vor allem in der Studie „Christsein gestalten". 5 Die Studie ist allerdings sowohl wegen ihrer Prognosen, als auch wegen Wahrnehmungs- und Theoriedefiziten und vor allem wegen ihrer Handlungsempfehlungen scharf kritisiert worden. 6 Es wird gegen diese Studie eingewandt, sie sei von einem Fehlschluß geleitet, wonach allein der Rückzug der evangelischen Kirche auf eine überschaubare Nahbereichsethik und die Festigung der subjektiven Verortung von Glaube und Kirche der Entkirchlichung und dem Kirchenaustritt entgegenzusteuern vermöge. Diese Studie sei damit „geradezu fixiert auf den Individualismus und auf die Ablösung traditioneller Bindungen durch das frei entscheidende Individuum". 7 Bemängelt wird ferner die erstaunliche Distanzierung der Studie von der wissenschaftlichen Theologie, wie eine scharfe Kritik der Studie an der Gemeindeaufbaubewegung. Zusammenfassen läßt sich die Kritik im Vorwurf mangelnder Fähigkeit, zwischen evangelischem Verständnis von Freiheit, das an die Wahrheit von Evangelium und Glauben gebunden bleibt, und einem trost- und haltlosen Relativismus zu unterscheiden. 8 4

5

6

7 8

Helmut Hild (Hg.), Wie stabil ist die Kirche? Bestand und Erneuerung, Berlin 1974. Johannes Hanselmann (Hg), Was wird aus der Kirche? Ergebnisse der 2. EKD-Umfrage über Kirchenmitgliedschaft Gütersloh, 1984. Christsein gestalten. Eine Studie zum Weg der Kirche, hg. vom Kirchenamt im Auftrag des Rates der EKD, Gütersloh, 1986, 4. Aufl. 1987. Auch EKDSynoden haben sich mehrfach mit dem Thema befaßt, z.B. 1988 und 1993: Glauben heute, Christ werden - Christ bleiben, Gütersloh 1988. Leben im Angebot. Das Angebot des Lebens. Protestantische Orientierung in der modernen Welt, Gütersloh 1994. Michael Welker, Kirche ohne Kurs? Aus Anlaß der EDK-Studie .Christsein gestalten', Neukirchen 1987. Welker aaO S. 40 Welker aaO S. 51

Evangelische Christenheit und Modernisierung

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Von einer Krise evangelischen Kirchentums ist folglich aus äußeren Gründen, vor allem die Kirchenaustrittsbewegung und die Entkirchlichung sind Symptom, und ebenso aus inneren Gründen, wie einem Orientierungsverlust und wachsender Unkenntnis christlicher Überlieferung, zu reden. Diese Krise hat sich infolge der Rückkehr der ehemaligen evangelischen Kirchen in der DDR noch zugespitzt und verschärft. „Eine Studie zum Profil und zur psychosozialen, kulturellen und religiösen Situation von Konfessionslosigkeit in Ostdeutschland und den Voraussetzungen kirchlicher Arbeit (Mission)" unter der einprägsamen Überschrift „gründlich ausgetrieben" erläutert, warum marxistische Religionskritik, religiöses Unwissen und Entfremdung von der Kirche noch recht lange Zeit nachwirken werden. 9 Die Realität nötigt somit bereits zur Reflexion und zum Nachdenken über Gestaltungsmöglichkeiten. Mit einfachen und eindimensionalen Programmen ist Abhilfe nach bisherigen Erfahrungen dennoch schwerlich möglich. Geboten ist vielmehr eine genaue Betrachtung und Wahrnehmung der realen Lage. Insofern sind sozialwissenschaftliche Analysen in der Tat erforderlich. 10 Die Analyse des Kirchenamtes der EKD greift freilich zu kurz. Es mangelt ihr an historischer Tiefenschärfe. In modernen Gesellschaften stehen alle Kirchen seit 200 Jahren vor denselben Herausforderungen. Sie haben darauf nur jeweils verschieden reagiert. Der deutsche Katholizismus hat im 19. Jahrhundert, anders als der Protestantismus damals, zunächst mit einer scharfen Abgrenzung zur nicht-katholischen Umwelt reagiert. Es bildete sich ein geschlossenes „katholisches" Milieu. Die Amtsträger, Hierarchie und Papst, setzten der Entkirchlichung eine Sakralisierung der Kirchenstrukturen entgegen. Vor allem durch Pius IX. und die folgenden Pius-Päpste wurde eine Sakralisierung der kirchlichen Organisationsstrukturen vorangetrieben und der Antimodernismus zur verpflichtenden katholischen Weltanschauung erklärt. Das 2. Vatikanische Konzil hat mit seiner Öffnung zur Welt diesen Katholizismus als festgefügte und geschlossene Sozialform und Weltanschauung aufgelöst. Die Entwicklung des Protestantismus verlief im 19. Jahrhundert anders. 9

10

Erhard Neubert, „Gründlich ausgetrieben" Begegnungen 13, Berlin 1996 (Herausgeberin: Studien- und Begegnungsstätte, Berlin) Vgl. Franz-Xaver Kaufmann, Kirche begreifen. Analysen und Thesen zur gesellschaftlichen Verfassung des Christentums, Freiburg 1979.

6

Einführung

Erst der Zusammenbruch des landesherrlichen Kirchenregiments nach dem 1. Weltkrieg, die Erfahrungen des Kirchenkampfs und die Nachkriegszeit nach 1945 brachten auch hier eine Verkirchlichung und eine Stärkung der kirchlichen Organisation. Zwischen Verkirchlichung protestantischer Strukturen und Entkirchlichung im Kirchenvolk besteht sogar ein Zusammenhang. Der Organisationsstärke entsprechen nicht notwendig Kreativität und Wahrnehmungsfähigkeit. Organisationen und Amtsträger neigen zudem zu Machtausübung und Machterhaltung. Es ist deshalb kurzsichtig, distanzierte Kirchlichkeit und Entfremdung von der Kirche bloß mit Werbung, Mitgliederpflege - was ist denn „Kirche" überhaupt anders als ihre Mitglieder? - und Imagewerbung abhelfen zu wollen. Auch eine nach heutigen Marketingstrategien konzipierte Mitgliederzeitschrift wirkt höchstens wie ein Pflaster, bringt aber keine Abhilfe. Man muß die historische Dimension der Unkirchlichkeit mitbedenken, will man den Sachverhalt insgesamt erfassen. Karl Gottlieb Bretschneider hat schon Anfang des 19. Jahrhunderts das Phänomen und die Ursachen der Unkirchlichkeit beschrieben, und 1819 festgestellt, es sei darüber „schon so viel geschrieben worden, daß man Bedenken finden könnte, noch ein Wort darüber zu sagen". 1 1 Bretschneider bemerkte bereits, daß Kirchlichkeit ein neu gebildetes, aber „treffendes" Wort sei, um damit das Interesse am Institut der christlichen Kirche zu bezeichnen. Unkirchlichkeit meint dagegen Gleichgültigkeit gegenüber dem religiösen Verbände, der Anstalt und deren Zwecken. Er sieht die Wurzel der Unkirchlichkeit in der Religionskritik der französischen und der englischen Aufklärung und in der Popularisierung der Religionskritik, der „Religionsspötterei". Bretschneider betonte die Bedeutung der natürlichen und christlichen Religion für die Erhaltung des Gemeinwesens und deren Nutzen für die sittliche Erziehung. Religion ist „Hebel der Tugend", der Atheismus befördert hingegen den Egoismus. 12 Entschieden wendet er sich freilich als Protestant gegen Glaubenszwang und gegen jede Einschränkung der Gewissens- und Lehrfreiheit. Die einzelnen

11

Karl Gottlieb Bretschneider, Über die Unkirchlichkeit dieser Zeit im protestantischen Deutschland. Den Gebildeten der protestantischen Kirche gewidmet, Gotha, 2. Aufl. 1822. Zitat S. III, aus der Vorrede zur 1. Aufl. 1819.

12

Bretschneider aaO S. 2 0 5

Evangelische Christenheit und Modernisierung

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Reformvorschläge sind dieselben wie heute: Stärkung der Gemeinden; Verbesserung des Gottesdienstes; Reform der Kirchenverfassung. Vor allem geht es auch ihm schon um eine Reform des Theologiestudiums wie um die Verbesserung der materiellen Lage und des Ansehens des Pfarrerstandes. Damals wie heute war das zentrale Thema die Finanzlage, und dabei nahmen die Pfarrer die Schlüsselstellung in der Repräsentation von Kirche ein. Es ist aufschlußreich, heutige Diskussionen um Werte, Ethos und Religion, ebenso um Pfarrerausbildung und Pfarramt mit den damaligen Vorschlägen zu vergleichen. Weithin hat sich nur die Begrifflichkeit verändert und außerdem wurde das Instrumentarium der Analyse verfeinert. Zu bedenken ist sodann, daß ausgeprägt theologische Äußerungen zum Kirchenverständnis empirische und historische Bezüge in der Regel nahezu ausblenden. Dies gilt beispielsweise auch für die Kirchenkonstitution des 2. Vaticanum „Lumen gentium", die die Kirche nur im religiös- symbolischen Sinne anspricht. Dabei könnte ein historischer Rückblick die Vielfalt der Sozialformen des Christentums und der Kirchenverfassungen sichtbar machen: Die Kirchenstrukturen - Episkopalordnung, Papsttum, Presbyterialordnung, Konsistorialverfassung, Synodalsystem, bürokratische Leitung der Kirche u.a. - sind jeweils historisch bedingt, also als solche kontingent. Es gibt kein theologisches Monopol einer einzigen Kirchenstruktur. Das spricht gegen eine Sakralisierung der Kirchenverfassung. Eine Sakralisierung, wonach eine bestimmte kirchliche Struktur „iure divino" ist, steht immer unter dem Verdacht einer Begründung zu Legitimationszwecken. Beachtet man hingegen die Kontingenz der geschichtlichen Erscheinungsformen von Kirche, so hat dies eine doppelte Konsequenz. Einmal eröffnet die Einsicht in die Geschichtlichkeit und Kontextualität kirchlicher Institutionen die Möglichkeit einer Reform der Kirchenstrukturen. Historische Vergleiche verhindern einen morphologischen Fundamentalismus in der Ekklesiologie. Zum anderen ist bei der Reflexion kirchlichen Selbstverständnisses immer zugleich schon die kulturell-soziale Vermittlung des Auftrags von Kirche mitzubedenken. Aus solchen Überlegungen heraus betonen die Beiträge dieses Buches das Wechselverhältnis zwischen Kirchenverständnis oder Kirchenbild und Zeitwahrnehmung. Historischer Rückblick und grundsätzliche Erwägungen sind daher methodisch und sachlich zu verbinden.

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Einführung

(3) Bezieht man die kulturell-soziale Vermittlung in das Verständnis von Kirche mit ein, dann ist weder eine rein dogmatische Ekklesiologie noch eine lediglich gesellschaftstheoretische oder sozialethische Betrachtung möglich. Empirische Sicht und theologische Urteilsfindung müssen vielmehr ineinander greifen. Daher kann weder die Selbstinterpretation von Kirche allein noch die Sicherung der Institution Kirche vordringliches Thema sein. Es geht an erster Stelle um die Frage: „Wozu ist Kirche da?", ehe zu diskutieren ist: „Was wird aus der Kirche?" Bestandssicherung und Bestandserhaltung sind nicht die kirchliche Hauptaufgabe. Zu fragen ist vielmehr nach einem Leitgedanken, einer Zielvorstellung, einer „Idee", einer Konzeption, welche evangelische Christenheit zu vertreten, an der sie sich auszurichten hat. Sicherlich bedarf jede Idee eines Rückhalts an der Institution; auch Glaube und Glaubensüberlieferung bedürfen der Institution Kirche. Aber ohne Leitidee verliert eine Institution ihren Sinn, wird sie zum historischen Relikt. Das ist dann ein Grundproblem von Kirche heute, daß sie oftmals nur noch als Traditionsbestand in Blick kommt und wahrgenommen wird. Sie teilt dieses Schicksal freilich mit anderen Institutionen, Kirche, Religion wird überdies weithin im Gegensatz zu Modernität und Modernisierung gebracht. Mit dem Begriff „Modernisierung" ist die Ortsbestimmung für die heutige evangelische Christenheit genannt; Modernisierung ist die Quelle von Unsicherheiten und Orientierungslosigkeit im Blick auf die Zielvorstellung. „Modernisierung" benennt ein Faktum, einen Vorgang, nicht ein Programm. Das Projekt „Modernität" wird in Gesellschaft und Christenheit nämlich auch kritisch bewertet, und dies ist nicht ohne gewisse Berechtigung. Es ist nämlich die Komplexität von Moderne und Modernisierung zu beachten. Aufklärung und Industrialisierung vereinigen sich im Modernisierungsprozeß der Neuzeit. Mit Begriffen wie Rationalisierung, Säkularisierung, Differenzierung, Verselbständigung gesellschaftlicher Teilbereiche, Bürokratisierung, aber auch Technisierung ist der Vorgang Modernisierung zu beschreiben. Modernisierung ist neben anderen, aber nicht zuletzt, auch ein Vorgang ständig sich ausweitender räumlicher und regionaler, auch sozial wechselseitiger Abhängigkeiten. Informationssysteme, Reiseverkehr, Globalisierung, Weltmarkt, kurzum immer stärkere Kommunikation, treiben sie voran. Wertewandel und Strukturwandel beeinflussen sich außerdem gegenseitig. Kollektive Mentalitäten und

Evangelische Christenheit und Modernisierung

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Lebensverhältnisse ändern sich, zum Teil sehr rasch. Der Streit, ob Modernisierung eine Orientierungskrise oder eine Steuerungskrise verursacht hat, mag offen bleiben; vermutlich ist im Einzelfall sowohl eine Krise der Orientierungen als auch eine Krise der Steuerung angesichts komplexer Sachverhalte - man denke an Worte wie „Politikversagen" oder „Marktversagen" - festzustellen, gelegentlich sogar beides. Wie sollen sich Christen und Kirchen zur Modernisierung verhalten? Die Ablehnung der Neuzeit im Antimodernismus hat sich als Holzweg erwiesen; die unreflektierte Anpassung an den jeweilig modernen Zeitgeist ist jedoch genauso ein Fehlweg. Die Ambivalenz der Moderne zeigt sich bereits an der Zweideutigkeit des Fortschritts: Technische Fortschritte und gesellschaftlicher, sozialer, kultureller Fortschritt treten auseinander. Im allgemeinen assoziierte man mit Modernisierung Fortschritt, Evolution. Es gibt freilich auch einen Fortschritt der Unmenschlichkeit! Einen dritten Weg zu finden ist schwierig. Modernisierung im wertfreien Sprachgebrauch bezeichnet die Ersetzung eines Bisherigen durch ein Neues. Soziologische Modernisierungstheorien suchen den sozialen und kulturellen Wandel zu erklären: Aus traditionalen Gesellschaften werden moderne, deren Merkmale u. a. Urbanisierung, physische und soziale Mobilität, demokratische Partizipation u.a. sind. Seit 200 Jahren vollzieht sich unbestreitbar in allen Gesellschaften eine derartige Modernisierung. Ihre Folge sind Individualisierung und Pluralisierung. Die Freiheitsgeschichte, verkörpert in den Menschenrechten, ist das hervorstechende Kennzeichen der Neuzeit. Die Freiheit des Individuums ist zweifellos ein hohes und schützenwertes Gut. Individualisierung ermöglicht Identität, sie gefährdet aber zugleich Identität, weil sie Bindungen, „Ligaturen" auflöst und beseitigt. Individualität befördert auch Indifferenz, Beliebigkeit. Mit der Anerkennung der Glaubens- und Gewissensfreiheit als Individualgrundrecht endet ferner die konfessionelle Geschlossenheit des Territorialstaates. Wo Religionsfreiheit herrscht, gibt es unausweichlich viele religiöse Richtungen und Gruppierungen, wird religiöser Dissens zulässig, entstehen neue Religionen. Der Staat ist zur weltanschaulichen Neutralität verpflichtet und wird zum Garanten und Hüter von Toleranz. Die religiöse und kulturelle Homogenität der Gesellschaft schwindet. Aus der christlichen Gesellschaft, einem corpus Christianum, wird eine nachchristliche Gesellschaft. Weltanschaulicher und religiöser Pluralismus - neben sozialem und politi-

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Einführung

schem Pluralismus - ist unausweichlich. Die Modernisierung betrifft inzwischen global Religionen und Kirchen, auch wenn deren Reaktionen auf diesen Vorgang unterschiedlich ausfallen. Leitgedanken für die kulturelle-soziale Bestimmung des Ortes der Christenheit in der gegenwärtigen Gesellschaft sind also Modernisierung, Individualisierung, Pluralismus, nicht jedoch Säkularisierung. Hinter dieser Überlegung steht die Einsicht, daß Säkularisierung ein höchst zweideutiger Begriff ist. 13 Die Spannweite des Wortes Säkularisierung reicht von der Bezeichnung einer zwangsweisen Enteignung religiöser und kirchlicher Besitztümer und Vorstellungen durch weltliche, säkulare Usurpation und Indienstnahme bis hin zu einer kirchlich und theologisch bewußten Bejahung der Legitimität autonomer Weltlichkeit. 14 Verfahren und Erscheinungsformen von Säkularisierung sind also höchst unterschiedlich. Der Streit um die Beurteilung der Säkularisierung ist zudem stets auch ein Streit um die Legitimität der Neuzeit. Der Begriff Säkularisierung impliziert immer schon eine Wertung. Schließlich ist umstritten, ob überhaupt durchgängig eine Säkularisierung ein prinzipielles Ende von Religion und religiösen Weltanschauungen herbeigeführt hat, oder ob nicht doch nur eine Transformation kirchlicher und christlicher Vorstellungen in säkulare Religiosität, in neue religiöse Wertungen dessen, „was unbedingt angeht", in Ideologien und Weltanschauungen sich vollzogen hat. 1 5 Säkularisierung ist, so gesehen, nur ein Teilaspekt von Modernisierung, aber nicht der Schlüsselbegriff schlechthin zur Interpretation des sozialen und kulturellen Wandels. Nicht zu übersehen ist allerdings eine Demonopolisierung von Kirchenstrukturen. Allein schon der Rückgang der Kirchlichkeit ist dafür Symptom. Das Idealbild und das Realbild von Kirche decken sich nicht mehr; oder anders gesagt, zwischen der Außenansicht von Kirchen und der Innenansicht, der Selbstdeutung vom Standpunkt des Glaubens her, tritt ein immer größer werdender Riß zu Tage. 13

Vgl. zur Säkularisierung die umfassende Studie von Martin Heckel, Säkularisierung. Staatskirchenrechtliche Aspekte einer umstrittenen Kategorie. Zeitschr. der Savigny Stiftung für Rechtsgeschichte 97, Kan. Abt. 6 6 , 1 9 8 0 , S.l-163 = Ges. Schriften, Bd. II, Jus ecclesiasticum 38, Tübingen 1989, S. 7 3 3 - 9 1 1 .

14

Vgl. z.B. die Pastoralkonstitution „Gaudium et Spes" des 2. Vatikanischen Konzils, 1965, Nr. 36: Die richtige Autonomie der irdischen Wirklichkeiten.

15

Vgl. dazu beispielsweise Gottfried Küenzlen, Der Neue Mensch. Eine Untersuchung zur säkularen Religionsgeschichte der Moderne, München 1994.

Evangelische Christenheit und Modernisierung

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Der Kirchenbegriff war jedoch schon immer doppelschichtig. Terminologische Unterscheidungen von sichtbarer und unsichtbarer, von erfahrener und geglaubter, von äußerer und innerer Kirche, von ecclesia externa und ecclesia interna verweisen auf diese Doppelschichtigkeit. Für die Vergrößerung des Risses in der Betrachtung der Kirche gibt es freilich Symptome. Da ist einmal ein Auseinandertreten von theologischer und soziologischer, sozialwissenschaftlicher Sichtweite von Kirche zu beachten. Sozialogische Analyse beschreibt und untersucht Kirche als Organisation, Institution, Anstalt, auch als Verband, Vereinigung (societas), Verein. Verbands- und Organisationsstrukturen in ihrer Vorfindlichkeit können sozialwissenschaftlich untersucht und kritisch beurteilt werden. Dabei kann sich beispielsweise ergeben, daß die Verfestigung von Gemeinschaften notwendig zu einer Ausbildung eines Amtes, von Ämtern, der Verteilung von Kompetenzen und damit zur Bürokratisierung führt. Oder es zeigt sich für die Moderne die Kulturpositivität von Kirche daran, daß und wie die kirchlichen Amts- und Mandatsträger das Christentum öffentlich repräsentieren. Die theologische Legitimation von Aufträgen, symbolischem öffentlichem Handeln von kirchlichen Amtsträgern und Gremien und Zielen und Absichten kirchlichen Handelns wird dabei jedoch schwieriger, weil Theologie in den Verdacht gerät, lediglich ideologischen Zwecken der Legitimation zu dienen und instrumentalisiert zu werden. Zum anderen ist die Unterscheidung von Kirche und Sekte nicht mehr tragfähig und ist heute als sozialwissenschaftliche Kategorie unbrauchbar. Ernst Troeltsch unterschied drei Typen religiöser Vergemeinschaftung, Kirche, Sekte, Mystik. Kirche ist nach ihm Heilsanstalt und damit unabhängig von der Entscheidung der einzelnen Mitglieder. Sekte ist dagegen die freiwillige Vereinigung aufgrund bewußter Entscheidung der einzelnen Mitglieder und kann eine rigorose Moral und Möglichkeiten der Kirchenzucht und des Ausschlusses praktizieren. Die Mystik ist schließlich individualistisch. Die einfache Alternative von Kirche und Sekte ist angesichts der Vielfalt der Gestaltungsformen von kirchlichen Gemeinschaften, Denominationen (amerikanische Begrifflichkeit spricht von „cults") zu undifferenziert. Überdies ist der Begriff „Sekte" negativ besetzt. Er bezeichnete ursprünglich Abspaltung, Separation, Abkapselung, und ist insofern immer schon bezogen auf eine Kirche als Maßstab. Ge-

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Einführung

messen am Maßstab der kirchlichen Lehre enthält das Wort Sekte den Vorwurf der Lehrabweichung, der Häresie, einer separatistischen Gruppenbildung. Wenn jedoch das Selbstverständnis der jeweiligen Großkirche gar nicht mehr politisch und öffentlich-rechtlich verbindlich ist, wird der Sektenbegriff unscharf. Die Abgrenzung zwischen Kirche und Sekte verlagert sich damit auf das Spannungsverhältnis von Institution und Individuum. Dadurch wird die Unterscheidungen von Kirche und Sekte im Endergebnis zu Problemen innerkirchlicher und zwischenkirchlicher Auseinandersetzungen. In den europäischen Großkirchen selbst driften die Richtungsmilieus auseinander. Polarisierungen nach konservativ und progressiv, die Alternative von einem fundamentalistischen Rückzug in eine gegenüber Welt und Kultur abgeschotteten kirchlichen Eigenwelt oder von einem alternativen Aufbruch von Basisgruppen, Initiativen und Reformbewegungen mit neuen Zielen, führt zu innerkirchlichen Spannungen. Diese Spannungen werden sowohl durch gesamtgesellschaftliche Modernisierung wie durch innerkirchliche Gegensätze verursacht. In diesem Spannungsfeld zwischen den Extremen drohen dann immer wieder zahlreiche Christen kirchlich heimatlos zu werden. Da nämlich die extremen Positionen sich lautstark zu Wort melden, wird die schweigende Mehrheit im Protestantismus - manchmal ebenso im Katholizismus von den Leitungsinstanzen der kirchlichen Organisation vernachlässigt. Gerade ihre Stimme ist freilich im Dialog innerhalb der Kirche wie in der Gesellschaft unentbehrlich und nicht zu ersetzen. Denn die Zustimmung zur Pluriformität der Christenheit und die Anerkennung „versöhnter Verschiedenheit" innerhalb der eigenen konfessionellen Tradition wie in zwischenkirchlichen Dialogen hängt davon ab, ob man überhaupt noch eine gemeinsame Vision, ein gemeinsames Ziel im Blick auf die Zukunft von Kirche und Kultur hat. Die Wege zu diesem Ziel können verschieden sein und bleiben. Respektierung persönlicher Freiheit und gemeinsame Suche nach einer verbindenden Wahrheit schließen sich nicht aus, solange man die Zielvorstellungen teilt. Wo Spannungen sind, können und werden freilich Konflikte nicht ausbleiben. Das Spannungsfeld von Politik, Staat und Gesellschaft ist nie konfliktfrei. In diesen Konflikten ist evangelische Christenheit nach ihrem spezifischen Beitrag gefragt. Sie kann diesen nur dann leisten, wenn sie den Herausforderungen der Modernisierung offen und unbefangen begegnet. Das ist Gegenstand der folgenden Analysen und Reflexionen.

1. Kirche und Staat, Politik und Glaube Der skizzenhafte Überblick unter der Fragestellung „ Was haben die evangelische Kirche, was haben Christen der Politik zu sagen?" wurde anläßlich des 25. Deutschen Evangelischen Kirchentages vom 9. bis 13. Juni 1993 in München im Rheinischen Merkur unter der Überschrift veröffentlicht: „Wer sich einmischt, muß autorisiert sein." Die Intention des Beitrags ist, auf die historische Dimension der Fragestellung aufmerksam zu machen. Zum Verhältnis von Kirche und Staat, von Politik und Glaube ist seit Jahrtausenden schon unendlich viel geredet und geschrieben worden. In der Diskussion, sogar im Gerede ist Beziehung zwischen Kirche und Politik also immer. Es ist außerdem richtig, wenn man unter dem Gesichtspunkt evangelischen Glaubens nicht versucht, in sachlicher Hinsicht überhaupt zu unterscheiden zwischen dem, was die Kirche und dem was die Christen zu sagen haben. Die Kirche das ist doch die Gemeinschaft der Glaubenden, das sind die Glaubenden. Zwar äußern sich Christen in ihrem politischen Beruf auf andere Art und Weise als dies offizielle kirchliche Gremien tun. Aber inhaltlich können diese, vom Glauben hergesehen, nichts anderes sagen. Nur was sollen Christen denn sagen? Wollen sie der Politik Bescheid sagen, sagen, wo es lang zu gehen hat, was zu tun ist. Das wäre dann eine Art politisches Lehramt - ein prophetisches Mandat. Nur: Wie wäre denn ein solches Lehramt evangelisch überhaupt zu begründen? Oder soll man der Politik die Meinung sagen, sagen was falsch ist, Kritik üben? Das wäre dann ein Auftrag zur Gerichts- und Mahnrede. In der Tat gibt es gegenwärtig viel Anlaß zur Kritik. „Politikverdrossenheit" lautete ein Schlagwort des Jahres! Christen und kirchliche Gremien sind jedoch wohlberaten, wenn sie nicht einfach in den Chor der Kritiker einstimmen; die Misere ist auch ohne ihre Einrede erkennbar genug. Sollten sie deswegen nicht vielmehr den

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Kirche und Staat, Politik und Glaube

Politikern Dank sagen, die sich in dieser schwierigen Zeit redlich mühen? Christen sind freilich auch hier wohlberaten, wenn sie sich zurückhalten und zuerst Gott Dank sagen und sich nicht zur Verklärung irgendwelcher politischer Entscheidungen verleiten lassen. Denn wenn man zu jemand sagt: „Ich habe dir etwas zu sagen", dann erwartet man ein Doppeltes: Einmal muß derjenige, der so spricht, tatsächlich etwas zu sagen haben. Das „Sagen haben" heißt auch: Macht ausüben, Einfluß haben. Wieweit haben heute überhaupt Kirche und Christen wirklich auf die Politik Einfluß. Die Antwort auf diese Fragen, wer hier etwas zu sagen hat, ist offen. Und desweiteren sollte derjenige, der etwas sagen will - berufen oder unberufen, gelegen oder ungelegen - tatsächlich etwas Bemerkenswertes, Bedenkenswertes zu sagen haben. Nur was hat die Kirche zur Sache der Politik denn Bedenkenswertes zu sagen? Orientieren wir uns dazu zunächst an geschichtlichen Erfahrungen: (1) Jesus sagte dem politischen Machthaber Pilatus „Mein Reich ist nicht von dieser Welt" (Joh. 18,36). Denn sonst würden seine Jünger in der Stunde der Gefahr für ihren Meister und Herrn kämpfen. Das ist ein unbequemes Wort des johanneischen Jesus: Hier auf der einen Seite die Welt der Politik, Pilatus - da auf der anderen Seite das Reich Gottes, Jesus. Zwischen dem Vertreter staatlicher Macht und dem Erlöser gibt es keine Brücke. Die johanneische Schilderung des Prozesses Jesu zeigt, wie prinzipiell fremd die ersten Christen dem römischen Staat gegenüberstanden. Die Antwort auf die Frage: Was haben Christen der Politik zu sagen, lautet an vielen Stellen des Neuen Testaments knapp, lapidar: „Nichts". Politik nach dem Modell Jesu betrieben, heißt dann: „Dem Übel nicht widerstehen"; „Den Feind lieben"; „Nicht schwören"; „Keine Prozesse führen"; in der Armut Jesu leben und - anders als der Reiche Jüngling - den eigenen Besitz weggeben und anderes mehr. Solche Lebensführung von Christen gibt es heute noch - auf den Bruderhöfen der Hutterer. Eberhard Arnold, ein Theologe, hat nach dem 1. Weltkrieg einen Bruderhof in der Rhön, den Habertshof, gegründet. Nach 1933 konnte sich dieser Bruderhof freilich nicht in Deutschland halten. Im Deutschland Adolf Hitlers war für dieses Streben, nach dem Vorbild Jesu zu leben, kein Platz mehr. Über England, Paraguay kam die Gemeinschaft in die USA und fand dort Anschluß an die aus den Taufgesinnten der Reformationszeit hervorgegangenen Hutterer. Seit

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1988 sollte es wieder einen Bruderhof in Birnbach, im Westerwald geben. Von den evangelischen Christen am Ort wird freilich diese Gruppe argwöhnisch beobachtet: Sind die Hutterer bloß bessere Christen - oder nicht doch Schwärmer, weltflüchtige Sektierer? Die Großkirchen haben den Weg Jesu so nicht fortgesetzt: Die Christen der ersten Jahrhunderte erwarteten das nahe Weltende, sahen sich von feindlichen Machthabern unterdrückt und verfolgt - und dachten nicht daran, im Spiel der Politik um Macht mitzumachen, sich einzumischen. Das änderte sich unter Kaiser Konstantin. Der Kaiser selbst wurde Christ. Die Bischöfe gingen an den Hof, gehörten zum Hofstaat. Aus den Märtyrern wurden staatstragende Stützen der Macht. Nach wenigen Generationen wurden sogar die noch heidnischen Bevölkerungsteile rechtlich benachteiligt und unterdrückt. Seit dem 4. Jahrhundert zahlte es sich dann auch für die politische Karriere aus, Christ zu sein. Aus der Distanz von Politik und Glaube wurde das Bündnis, die Symphonie, der Einklang von Kirche und Staat. Herrscher und Priester, Kaiser und Papst wirkten jetzt zusammen. Politische Macht diente dazu, kirchliche Ansprüche durchzusetzen; kirchliche Autorität salbte den Herrscher und verlieh ihm dadurch göttliche Autorität. Der Glaube wirkte herrschaftsstabilisierend. „Politik im Namen Gottes" - das hieß nunmehr nach der konstantinischen Wende: religiöse Weihe der Herrschermacht. (2) Auf dem Hintergrund solcher Durchdringung und Vermischung von Glaube und Politik ist Luthers Einspruch zu verstehen. Herzog Georg von Sachsen verbot damals, daß die Übersetzung von Luthers Neuem Testament in seinem Land verbreitet werden durfte. Das war eine politische Maßnahme, welche eindeutig in den Bereich des Glaubens, in das Heiligtum des Gewissens eingriff. Luther antwortete auf dieses Verbot mit einer seelsorgerlich ermahnenden Schrift, „Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei" (1523). Er betont darin zunächst, daß die politische Macht von Gott eingesetzt sei, und das heißt zugleich: nicht von der Kirche ihre Autorität abzuleiten hat. Die Aufgabe der weltlichen Obrigkeit ist es, den Bösen zu wehren und den äußeren Frieden unter den Menschen zu sichern. Die Macht weltlicher Obrigkeit ist jedoch begrenzt. Davon handelt dann der 2. Teil der Schrift. Weltliche Macht hat nur das äußere Leben zu schützen, nicht über die Seele zu

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herrschen. Herzog Georg hat somit mit seinem Edikt eindeutig die Grenzen seiner Zuständigkeit überschritten: „Nicht ein Blättlein" sollen ihm deshalb evangelische Christen ausliefern. „Leidender Ungehorsam" - so lautet Luthers Rat im konkreten Konfliktfall zwischen der Forderung politischer Macht und der Überzeugung des Glaubens. Wenn aber die Fürsten nicht über die Seelen regieren dürfen, dann haben umgekehrt die Prediger auch nicht zum Schwert zu greifen und die Welt zu regieren. In einem abschließenden dritten Teil gibt Luther schließlich in Gestalt eines „Fürstenspiegels" noch praktische Ratschläge, wie man als Christ denn ein politisches Amt ausüben soll. Luthers viel diskutierte, so umstrittene, und oft genug auch mißbrauchte Zweireichelehre hat also ihren Ursprung in einer bestimmten geschichtlichen Lage und wurde ausgelöst durch eine konkrete Anfrage. Der Reformator machte geltend, mit dem Evangelium in dieser Situation könne man nicht die Welt regieren; im öffentlichen Leben müsse man sich an vernünftige, „weltliche", menschliche Regeln halten, an Grundsätze des Menschenwürdigen. Gegen die mittelalterliche Einheit von Glaube und Politik, gegen die Idee eines Corpus Christianum tritt die Reformation um des Evangeliums willen für die Unterscheidung von Reich Christi und Weltreich, von Heilsbotschaft und politischer Verantwortung ein. Die Folge der Reformation war zunächst einmal die Auflösung der christlichen Einheitsgesellschaft, die konfessionelle Spaltung, sogar der Glaubenskrieg. Aber ohne Reformation wäre es auch nicht zum säkularen, zum weltanschaulich neutralen Staat in Europa gekommen. Dieser Staat, der zunächst gegen den Einspruch der Kirchen seinen Bürgern („Untertanen") Toleranz gewährte, ist ein Staat, der nur noch die äußere Friedensordnung garantieren kann, aber nicht mehr eine Wahrheitsordnung zu sichern hat. In Sachen des Glaubens besitzt jeder Bürger das Grundrecht der Glaubens- und Gewissensfreiheit. Das Seelenheil der Bürger geht die Politik nichts an. Der Staat ist nur noch innerweltlichen Zwecken verpflichtet. Die Kirche ist weder Teil der Staatsgewalt noch ist sie für die Erfüllung von Staatsaufgaben zuständig. So scheinen Glaube und Politik klar geschieden zu sein, je zu ihrem Recht zu kommen und schließlich friedlich nebeneinander zu existieren. (3) In diese neuzeitliche, scheinbar konfliktfreie Scheidung von Kirche und Staat, von Politik und Glaube bricht das totalitäre Politik-

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Verständnis ein. Der totale Staat beansprucht den Menschen ganz. Er ist bewußt Weltanschauungsstaat. Die Kirche muß sich dabei für politische Zwecke instrumentalisieren lassen - und wenn sie dazu nicht bereit ist, soll sie abgeschafft werden. Die Deutschen Christen im Kirchenkampf waren ein Versuch, die Kirche von innen her zu erobern. Der Nationalsozialismus und der Kommunismus haben aber auch mit Gewaltmethoden versucht, die Kirchen zu unterdrükken. Angesichts staatlicher Eingriffe in die Kirche und der Politisierung der Kirche hat die Barmer Theologische Erklärung in ihrer 5. These die Unterscheidung der Aufgabe des Staates vom Auftrag der Kirche eingeschärft. Die Abgrenzung zum totalitären Verständnis von Politik verdeutlichen am schärfsten die Verwerfungssätze: „Wir verwerfen die falsche Lehre, als solle und könne der Staat über seine besonderen Aufgaben hinaus eine einzige und totale Ordnung menschlichen Lebens werden und also auch die Bestimmung der Kirche erfüllen. Wir verwerfen die falsche Lehre, als solle und könne sich die Kirche über ihren besonderen Auftrag hinaus, staatliche Art, staatliche Aufgaben und staatliche Würde aneignen und damit selbst zu einem Organ des Staates werden." Die Barmer Erklärung wehrt den „Totalitätsanspruch" des Staates ab: Kein Weltanschauungsstaat, keine Allzuständigkeit des Staates. Der Staat ist keine Heilsveranstaltung. Für das Heil ist allein die Kirche zuständig. Der Staat hat keinen Anspruch auf die Gewissen. Damit fordert die Barmer Erklärung indirekt für alle Bürger Grundfreiheiten und Grundrechtsschutz ein. Die Aufgaben des Staates sind beschränkt. Darauf macht die Kirche den Staat aufmerksam, wenn sie „an Gottes Reich, an Gottes Gebot und Gerechtigkeit und damit an die Verantwortung der Regierenden und Regierten" erinnert. Die Kirche wiederum soll im Vertrauen auf die „Kraft des Wortes, durch das Gott alle Dinge trägt", sich auf ihre besondere Aufgabe beschränken. Sie ist kein politisches Instrument. Sie hat auch nicht hilfsweise, „subsidiär" für den Staat zu handeln. Sie soll sich nicht selbst politische Macht leihen, um sich behaupten und durchsetzen zu können. Die 5. These der Barmer Erklärung bewegt sich gegenüber dem totalitären Staat überraschend klar in den Spuren der gemeinreformatorischen Zweireichelehre. Aber trotz solcher klaren Aussagen hat es nach 1945 in der evangelischen Kirche nicht an Bestrebungen gefehlt, den eigentlich zuständigen Instanzen den richtigen, einzigmöglichen politischen Weg zu weisen, wie ebenso an Versuchen politischer Macht-

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haber, instrumenteil die Kirche für ihre Zwecke zu nutzen. Nicht nur die vieldeutige Formel „Kirche im Sozialismus" steht dafür. Es gibt mancherlei Beispiele einer oft gar nicht mehr wahrgenommenen und reflektierten Verfilzung von Glaube und Politik. Aber es geht hier nicht um historische Aufarbeitung, um Vergangenheitsbewältigung. (4) Das Ergebnis eines solchen skizzenhaften geschichtlichen Rückblicks ist einigermaßen erstaunlich und verwirrend. Eine Reihe von Modellen stehen als Ergebnis vor uns. Die Absage an die Politik im Namen des Glaubens, die Indienstnahme der Politik durch den Glauben wie eine politische Instrumentalisierung des Glaubens, das Bemühen, Glaube und Politik sauber zu unterscheiden, das Bestreben, dem Mißbrauch der Aufgaben von Kirche und Staat zu wehren. Alle diese historischen Modelle sind nach wie vor gegenwärtig, die schwärmerische Absage an jede Politik ebenso wie der Anspruch des Fundamentalismus, nur auf religiöser Basis sei richtige Politik möglich. Die Vielfalt der Erfahrungen weist in ganz verschiedene Richtungen. Der Grat, auf dem die Kirche mit ihren politischen Worten wandelt, ist schmal, und die Abgründe, zur rechten und zur linken, in die die Kirche hinein abstürzen kann, sind tief und unauslotbar. Was soll die Kirche der Politik also überhaupt sagen? Am besten gar nichts? Wer nichts sagt, macht vermutlich keine Fehler - oder macht nicht doch auch derjenige einen Fehler, der zu Irrtümern und Unrecht schweigt? Oder kommt es heute überhaupt nicht mehr darauf an, was man sagt, sondern nur noch, daß man es laut genug sagt? In einer Mediengesellschaft wird nur der Lautstärkste gehört, wird beachtet, wer Schlagzeilen produziert. So wäre das Wort der Kirche ein Mittel, der Gesellschaft die Existenz von Kirche bekanntzumachen? Nichtssagendes und Lautstärke können aber doch nicht die eigentliche Botschaft der Kirche sein, auch wenn manchmal dieser Eindruck entsteht. Die Formel, die Kirche habe auch der Politik nichts anderes als das Evangelium zu verkündigen, ist freilich ebenfalls zu pauschal. Denn ein zeitlos verstandenes Evangelium bleibt oberhalb der Niederungen und Zweideutigkeiten politischer Realität. Zum zurechtbringenden und gewißmachenden Wort kann das Evangelium nur dann werden, wenn es der politischen Realität in aller Zwiespältigkeit sich aussetzt. Wenn Christen der Politik etwas

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zu sagen haben, so müssen sie folglich zuerst ehrlich und nüchtern die Wirklichkeit wahrnehmen und versuchen ideologischer Selbsttäuschung wie lügenhafter Täuschung anderer zu widerstehen. Politik geschieht in einer noch nicht erlösten Welt; das sollte man manchmal auch sagen. Aber Ehrlichkeit allein genügt nicht; die Wahrheit kann auch zynisch ausgesprochen werden. Christen sollten als Christen deshalb vom Glauben her nur dann etwas zur Politik sagen, wenn sie nicht bloß politische Meinungen, Forderungen und Ratschläge mitzuteilen haben, sondern wenn sie auf eine meta-politische Dimension hinweisen können, auf etwas, das vor aller Politik und jenseits aller Politik Herzen zu bewegen und Gewissen anzusprechen vermag. Zusagen und Zumutungen könnten beispielsweise darauf hinweisen, daß es zwar unbestreitbar Schuld in der Geschichte gibt, daß aber sogar die Fatalität der Schuld durch Vergebung aufgebrochen werden kann, oder daß angesichts vieler drängender und ungelöster Fragen wir Menschen gewiß das zu verantworten haben, was wir im einzelnen konkret falsch machen und versäumen, daß es aber gerade nicht wir sind, welche die Schöpfung im ganzen bewahren. Was hat somit die evangelische Kirche, so sie sich nicht einfach als politischer Interessenverband begreift, sondern Gemeinschaft im Glauben sein will, der Politik zu sagen? Sie kann sicherlich nicht Programme einer besseren Politik anbieten, aber vielleicht kann sie auf Voraussetzungen und auf eine Perspektive des Glaubens aufmerksam machen, durch welche die Politik wieder Boden unter den Füßen und Orientierung in einer unübersichtlichen Lebenswelt finden könnte. Um dies aussprechen zu können, müssen allerdings zuerst einmal Kirche und Christen der Botschaft des Glaubens gewiß sein und diese Botschaft verständlich und glaubenswürdig weitersagen können.

2. Der Auftrag der Kirche und die Aufgabe des Staates Die Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche erörterten 1990 das Thema „Die Verantwortung der Kirche für den Staat". Neben einem historisch-politischen Beitrag von Hans Maier „Dienste der Kirche am Staat. Entwurf einer Typologie" und einem staatsrechtlichen Beitrag von Josef Isensee: „Verfassungsrechtliche Erwartungen an die Kirche"' stand der folgende Beitrag aus der Perspektive evangelischer Theologie. In der Themenstellung verknäueln sich eine Reihe von Problemen. Man kann bei der Zuordnung von kirchlichem Auftrag und staatlichen Aufgaben auch nicht von konfessionellen Unterschieden und Differenzen absehen. Unterschiede können sowohl im Verständnis von Kirche begründet sein als auch in der Sicht des Politischen und im Staatsverständnis. Konfessionelle Verschiedenheit ist freilich gerade nicht Gegenstand der folgenden Überlegungen. Diese Verschiedenheit steht allerdings im Hintergrund der Erörterung, wenn man als evangelischer Theologe Ansätze und Knotenpunkte vor allem aus der eigenen Tradition aufgreift. Das Verhältnis von Kirche und Staat kann man zudem nicht losgelöst von geschichtlichen Erfahrungen und Prägungen betrachten oder abstrakt-rational konstruieren.

I. Die Themenstellung ist insoweit der exemplarische Fall einer kontextuellen Theologie! Wer die geschichtliche Dimension ausblendet, kann der Fragestellung des Themas nicht gerecht werden. Wer die Geschichte einbeziehen will, steht freilich in der Gefahr, in den historischen Kulissen sich zu verirren und im Labyrinth der Historie den Ariadnefaden zu verlieren, der ihm den Weg aus dem Labyrinth zu zeigen vermag. Und schließlich, wer sich mit dem Auftrag der

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Kirche in der politischen Welt befaßt, stößt auf ein ekklesiologisches Grundproblem. Kirche ist Gemeinschaft des Glaubens. 1 Ohne Glaube keine Kirche - ohne Kirche - wie auch immer Kirche näher bestimmt wird - freilich auch kein Glaube. Martin Luther sagt in der Auslegung des 3. Artikels von der christlichen Gemeinde in der Welt, sie sei „die Mutter, so ein iglichen Christen zeugt und trägt durch das Wort Gottes, welches er offenbaret und treibt, die Herzen erleucht und anzündet, daß sie es fassen, annehmen, daran hangen und dabei bleiben". 2 Mit Bedacht wurde allerdings nicht von der Gemeinschaft der Glaubenden, communio fidelium, sondern von der Gemeinschaft des Glaubens, communio fidei, gesprochen. Die erste Umschreibung von Kirche als Gemeinschaft der Glaubenden hat durchaus ihren guten Sinn und ihre Wahrheit. Aber der Glaube als solcher kommt nicht von allein. Er entsteht in der geschichtlichen Gemeinschaft des Glaubens. Die Vermittlung des Glaubens durch eine das Ursprungsgeschehen des Glaubens in Jesus von Nazareth, dem Christus, bezeugende und weitergebende Sprach- und Lebensgemeinschaft reißt freilich die Kirche sogleich in die Turbulenzen der Kirchengeschichte und der Profangeschichte hinein. Das Evangelium wird in der Geschichte durch die Kirche als Gemeinschaft des Glaubens tradiert. Die Kirche wird dadurch Teil der Geschichte. Auch die Anfänge der Gemeinde im Neuen Testament sind nicht außer- oder übergeschichtlich; sie markieren vielmehr den Beginn der Kirchengeschichte. Wenn beispielsweise ein Theologe heute über die Aufgabe des Staates nachdenkt, kann er sich aus diesem Grund nicht einfach auf die Auslegung der biblischen Aussagen zur Obrigkeit zurückziehen. Geschichte ist freilich immer im Wandel. Von daher steht nun der gegenwärtige Theologe vor der Aporie, daß er einerseits die geschichtliche Herkunft der Kirche zu beachten hat, andererseits Geschichtlichkeit immer Relativismus bedeutet. Die dogmatische Lehrbildung hat sich angesichts dieser Aporie mit einer Unterscheidung zu helfen versucht. Bekannt sind Dichotomien, wie sichtbare und unsichtbare Kirche (ecclesia visibilis-invisibilis), manifeste und latente Kirche (Paul Tillich), Geistkirche und Rechtskirche, erfahre1 2

G. Ebeling, Dogmatik des christlichen Glaubens III, Tübingen 1979, S. 331. M. Luther, Großer Katechismus. Die Bekenntnisschriften der ev.-luth. Kirche. 10. Aufl., Göttingen 1986, S. 655, 4-9.

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ne und geglaubte Kirche, wirkliche und wahre Kirche. Diese Unterscheidungen hat nicht erst die Reformation erfunden. Sie sind viel älter. Die Lehre von der Kirche steht jedoch angesichts dieses Sachverhalts in einer doppelten Gefahr:3 Man kann eine Erscheinungsform der erfahrenen Kirche mit der geglaubten Kirche so gleichsetzen, daß im Grunde der Glaube entbehrlich wird. Man kann aber erfahrene und geglaubte Kirche auch so voneinander trennen, daß im Grunde für die Gestalt der Kirche in der Welt der Glaube irrelevant wird, weil die wahren Gläubigen völlig unabhängig von der sichtbaren Kirche ihre Gottesbeziehung leben. Man mag die eine ekklesiologische Gefahr die der Veräußerlichung oder auch des Triumphalismus nennen, die andere dann die Gefahr des Doketismus oder Spiritualismus. In beiden Fällen erübrigt sich freilich die theologische Klärung des Verhältnisses von Kirche und Staat, im einen Fall jedoch deshalb, weil die Kirche selbst nichts anderes als ein politisches Phänomen ist, im anderen Fall hingegen, weil die Kirche gar nichts mit der politischen Welt zu tun hat. Dagegen ist auf die Unterscheidung zwischen der geschichtlich erfahrbaren und der geglaubten Kirche zu dringen, aber so, daß das theologische und das empirische Reden der Kirche aufeinander bezogen bleiben. Freilich ist zwischen dem theologischen Zugang zum Verständnis der Kirche und einem empirischen Zugang dabei klar zu unterscheiden. Da ich im folgenden zunächst den theologischen Zugang suche, muß ich erläuternd hinzufügen, daß ich damit einen historischen, soziologischen, juristischen oder auch rechtsvergleichenden Zugang zur Beschreibung der empirischen, erfahrbaren Kirche nicht ablehne. Es geht allein um distinkte Zugänge, nicht um prinzipielle Alternativen. Eine Fundamentalunterscheidung zwischen dem Leben oder der Wirklichkeit von Kirche einerseits und der Existenz, dem Wesensgrund von Kirche andererseits ist allerdings unerläßlich.4 Unterscheidung meint jedoch nicht Scheidung. Zu unterscheiden ist zwischen dem, was Kirche erst zur Kirche macht, also dem Grund von Kirche und der geschichtlichen Lebensgestalt von Kirche. Eine erste Antwort auf die Frage, was die Aufgabe der Kirche in der Welt ist, habe ich damit indirekt gegeben. Sie lautet: Die Aufgabe der Kirche ist es, den Glauben an Jesus Christus weiterzugeben und zu erwek3 4

G. Ebeling, a.a.O., S. 333. G. Ebeling, a.a.O., S. 356f.

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ken; der Lebensgrund der Kirche ist Jesus Christus. Die Kirche ist Leib Christi. In den Schmalkaldischen Artikeln heißt es einprägsam: „denn es weiß gottlob ein Kind von 7 Jahren, was die Kirche sei, nämlich die heiligen Gläubigen und „die Schäflein, die ihres Hirten Stimme hören" (Joh. 10,3). 5 Wie diese Aufgabe sachgerecht wahrzunehmen ist und welche, sehr weitreichende, Folgen sich aus dem Auftrag, den Glauben weiterzugeben, ergeben, ist ein eigenes Thema. Die Existenzfrage der Kirche, nämlich Glaubensgemeinschaft zu sein auf ihrem Lebensgrund Jesus Christus, ist damit von den gewiß bedrängenden Lebensfragen der wirklichen, empirischen Kirche zu unterscheiden.

II. Nach dieser Einleitung in die Fragestellung des Themas sei der Auftrag der Kirche zunächst an einigen Bekenntnisaussagen der reformatorischen Lehrüberlieferung verdeutlicht. Auftrag heißt auch Mandat. Mandat steht ferner für Vollmacht, Weisung, Befähigung, Gebot, Vollzug, aber auch für Kompetenz, Befugnis und Legitimation, schließlich für „Sitz", Tätigkeit und Stellung (status). Nach reformatorischer Überzeugung ist die eine heilige christliche Kirche, welche zu allen Zeiten bleiben wird „die Versammlung aller Gläubigen, bei welchen das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakramente laut des Evangelii gereicht werden" (CA 7: „Est autem ecclesia congregatio sanctorum in qua evangelium pure docetur et recte administrantur sacramenta"). Eine Auslegung dieser vielzitierten, vieldiskutierten und umstrittenen Grundlage reformatorischen Kirchenverständnisses hat zunächst einmal zu verdeutlichen, daß damit gar nicht eine Definition des Kirchenbegriffs gegeben werden soll. 7 Es geht vielmehr nur um die Frage des Bestandes der 5

Schmalkaldische Artikel, BLK, (s. Anm. 2), S. 594, 2 0 - 2 2 .

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H.-R. Lipphardt, Art. Mandat, in: Staatslexikon. Bd. 3, 7. Aufl., 1987, S. 990.

7

G. W. Forell und ]. F. McCue, Weltliches Regiment und Beruf in der Confessio Augustana, in: H. Meyer und H. Schütte, Confessio Augustana. Bekenntnis des einen Glaubens. Gemeinsame Untersuchung lutherischer und katholischer Theologen, Paderborn, Frankfurt/M. 1980, S. 3 1 9 - 3 3 2 . Zudem: L. Grane, Die Confessio Augustana, Göttingen 1970. W. Maurer, Historischer Kommentar zur Confessio Augustana. Bd. 1, Gütersloh 1976, S. 73ff. Zu CA 28, S. 96f. Bd. 2, 1978, S. 163ff.

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Identität und der wahren Einigkeit der Kirche. Zur wahren Einigkeit der Kirche reicht die Übereinstimmung in der Verkündigung des Evangeliums und die einsetzungsgemäße Verwaltung der Sakramente aus, Wort und Sakrament, nämlich Taufe und Abendmahl sind nach diesem reformatorischen Bekenntnis die Kennzeichen der Kirche. Es fehlen ferner andere Kennzeichen, wie beispielsweise in reformierten Bekenntnissen, der Hinweis auf die Kirchenzucht. Eine Ämterordnung ist ebenfalls nicht erwähnt. Von Diakonie und sonstigem öffentlichem Handeln der Kirche ist keine Rede. Die Kirche ist zurückverwiesen auf das sie je neu in Erscheinung treten lassende und ihr Wort weitersagende Geschehen des Gottesdienstes. Der Auftrag der Kirche wird offenbar im Gottesdienst. Darauf ist später nochmals zurückzukommen, auch im Blick auf die Stellung zum Staat. Diese Bestimmung des Auftrags der Kirche führt dann im letzten 28. Artikel des Augsburgischen Bekenntnisses zu einer Abgrenzung: „Von der Bischofen Gewalt", „De potestate ecclesiastica". Es ist dies übrigens die einzige Stelle in den lutherischen Bekenntnisschriften, in denen die sog. Zweireichelehre angesprochen wird. Daran zeigt sich der ursprüngliche Ansatz der Unterscheidung der zwei Reiche: Es geht um die richtige Unterscheidung von kirchlicher und staatlicher Kompetenz, von „potestas ecclesiastica et potestas gladii". 8 Der Anlaß dieser Unterscheidung ist die Ausübung weltlicher Macht durch Bischöfe, geistliche Reichsfürsten. Die geistliche Gewalt ist nach dem Evangelium allein „ein Gewalt und Befehl Gottes, das Evangelium zu predigen, die Sünde zu vergeben und zu behalten und die Sakramente zu reichen und zu handeln". (So lehren die Evangelischen „potestatem clavium seu potestatem episcoporum iuxta evangelium potestatem esse seu mandatum Dei praedicandi evangelii, remittendi et retinendi peccata et administrandi sacramenta" 9 ). Weltliche Herrschaft (imperium) ist daher von geistlicher Vollmacht zu unterscheiden. 10 Es ist hier nicht auf die in diesem Artikel enthaltenen Ausführungen über Kirchenleitung und Kirchengewalt einzugehen. Deutlich ist 8

9 10

CA 28,1 vgl. CA 28,12: „Darumb soll man die zwei Regiment, das geistlich und weltlich, nicht in einander mengen und werfen." CA 28,5. CA 28,20f.

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jedenfalls, daß aus dem Verständnis des Auftrags der Kirche die Aufgabe folgt, das kirchliche Handeln vom staatlichen Handeln abzugrenzen. Im deutschen evangelischen Landeskirchentum ist freilich diese theologisch notwendige Abgrenzung gerade nicht durchgehalten worden. Das landesherrliche Kirchenregiment und Staatskirchentum nahmen die evangelische Landeskirche in Dienst. Die staatliche Obrigkeit legte fest, was von der Kirche als Leistung für Staat und Gesellschaft erwartet wurde. Das Ende des landesherrlichen Kirchenregiments 1918 machte folglich eine Neubesinnung und Neuorientierung der evangelischen Kirche notwendig. Die Aufmerksamkeit der Kirchenleitungen galt in den 20er Jahren freilich zunächst vorrangig Kirchenverfassungsfragen. Erst die innerkirchlichen Konflikte des Jahres 1933 und die Versuche, eine deutsche evangelische Staatskirche mit nationalsozialistischer Hilfe zu errichten, führten zu einer erneuten theologischen Besinnung. Sie ist zusammengefaßt in der Barmer Theologischen Erklärung. 11 Zunächst ist dazu auf die 3. Barmer These hinzuweisen. Die 3. These wendet sich gegen eine Trennung zwischen Lehre und Ordnung der Kirche. 1934 wurde die Meinung vertreten, Ordnungsfragen dürften in der

11

Zur Barmer Theologischen Erklärung, vgl.: K. Barth, Texte zur Barmer Theologischen Erklärung. Hg. v. M. Rohkrämer, Zürich 1984. A. Burgsmüller und R. Weth (Hg.), Die Barmer Theologische Erklärung. Einführung und Dokumentation, Neukirchen 1983. M. Honecker, Zur gegenwärtigen Interpretation von Barmen V., in ZEE, Bd. 16 (1972), S. 207-219. E. Jüngel, Mit Frieden Staat machen. Politische Existenz nach Barmen V, München 1984. M. Karnetzki, Ein Ruf nach vorwärts. Eine Auslegung der Theologischen Erklärung von Barmen 30 Jahre danach, in: ThExh NF, Bd. 115 (1964), S. 19-44 (zu Barmen V).W. Krötke, Der Staat als Gottes Anordnung und die politische Verantwortung (V. These), in: W. Krötke, Bekennen-Verkündigen-Leben. Barmer Theologische Erklärung und Gemeindepraxis, Stuttgart 1985, S. 55-66. F.-W. Marquardt, Staatsbejahung oder Staatskritik? Über den Gebrauch von Barmen V, in: Zumutungen des Friedens. Kurt Scharf zum 80. Geburtstag. Hg. v. V. Deile, Hamburg 1982, S. 83-99. W. Pöhlmann, Gehorsam um der Liebe willen. Römer 13 und die 5. Barmer These, in: Bekenntnis, Widerstand, Martyrium. Von Barmen 1934 bis Plötzensee 1944. Hg. v. G. Besier und G. Ringhausen, Göttingen 1986, S. 110-125. H. Simon, Die 2. und die 5. These der Barmer Erklärung und der staatliche Gewaltgebrauch, in: Bekennende Kirche wagen. Barmen 1934-1984. Hg. v. J. Moltmann, München 1984, S. 191-222. E. Wolf, Barmen. Versuchung und Gnade, München 1957, 2. Aufl. 1970. G. Brakelmann, Barmen V. Ein historisch-kritischer Rückblick, in: EvTh, Bd. 45 (1985), S. 3-20.

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Kirche nicht zum Dogma erhoben werden. Ich zitiere als Beispiel Emanuel Hirsch: „Die Kirche kann auf eine Verfassung verzichten, wo sie nicht Kirche unter dem Kreuz ist, also nicht ohne politischen Anschluß bestehen muß. Die Reichskirche ist kein kirchliches Ideal, sie ist eine politische Notwendigkeit des kirchlichen Lebens. Die Kirche muß in ihrer Verfassung dem Staat angepaßt sein". 1 2 Dagegen hält die 3. Barmer These fest: „Wir verwerfen die falsche Lehre, als dürfe die Kirche die Gestalt ihrer Botschaft und ihrer Ordnung ihrem Belieben oder dem Wechsel der jeweils herrschenden weltanschaulichen und politischen Überzeugungen überlassen." Diese These wollte ich nur ins Gedächtnis rufen, um zu verdeutlichen, daß zwischen der eigenen Verfassung der Kirche, der Kirchenordnung und ihrer Stellung zum Staat ein unmittelbarer Zusammenhang besteht. Die für das zur Verhandlung stehende Thema der Kirche-Staat-Beziehungen ist entscheidend die 5. These. „Barmen V enthält die erste bekenntnismäßige und definitorische Erklärung zum Verhältnis von Kirche und Staat seit der Reformation." 1 3 Das biblische Leitwort „Fürchtet Gott, ehret den König" (1. Petr. 2,7) unterscheidet bewußt zwischen Gottesfurcht und dem Respekt, den der Christ politischer Autorität schuldet: „Die Schrift sagt uns, daß der Staat nach göttlicher Anordnung die Aufgabe hat, in der noch nicht erlösten Welt, in der auch die Kirche steht, nach dem Maß menschlicher Einsicht und menschlichem Vermögen unter Androhung und Ausübung von Gewalt für Recht und Frieden zu sorgen. Die Kirche erkennt in Dank und Ehrfurcht gegen Gott die Wohltat dieser seiner Anordnung an. Sie erinnert an Gottes Reich, an Gottes Gebot und Gerechtigkeit und damit an die Verantwortung von Regierenden und Regierten. Sie vertraut und gehorcht der Kraft des Wortes, durch das Gott alle Dinge trägt. Wir verwerfen die falsche Lehre, als solle und könne der Staat über seinen besonderen Auftrag hinaus die einzige und totale Ordnung menschlichen Lebens werden und also auch die Bestimmung der Kirche erfüllen.

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Zit. bei: A. Burgsmüller und R. Weth (Hrsg.), Die Barmer Theologische Erklärung. Einführung und Dokumentation, Neukirchen 1983, S. 36. W. Hüffmeier (Hrsg.), Für Recht und Frieden sorgen. Auftrag der Kirche und Aufgabe des Staates nach Barmen V. Theologisches Votum der EKU, Gütersloh 1986, S. 61.

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Wir verwerfen die falsche Lehre, als solle und könne sich die Kirche über ihren besonderen Auftrag hinaus staatliche Art, staatliche Aufgaben und staatliche Würde aneignen und damit selbst zu einem Organ des Staates werden." Wiederum ist nicht in eine Einzelauslegung einzutreten. Gewiß bleibt manches an der These im einzelnen strittig. So nennt die Erklärung als Aufgabe des Staates „für Recht und Frieden zu sorgen". Das ist die Formel „iustitia et pax". Man vermißt freilich die Erwähnung der Achtung der Freiheit der Bürger, ein Defizit, das Karl Barth, der Autor der These, später bemängelt hat. 1 4 Die Fragestellungen von Rechtsstaat, Demokratie, nationaler Souveränität, Gewaltmonopol des Staates, Mittel und Grenzen der staatlichen Aufgaben der Friedenssicherung im Atomzeitalter, des Widerstandsrechts, sind selbstverständlich damit nicht abschließend geklärt. Darüber gibt es deshalb bis heute Diskussionen. Aber auf die Aufarbeitung der Kontroversen um die zutreffende Auslegung von Barmen V und damit um den Anspruch auf das „Erbe" der Bekennenden Kirche im deutschen Protestantismus will ich nicht eingehen. 15 Eindeutig ist jedoch die Grundorientierung der 5. Barmer These: Sie dringt auf die Unterscheidung von kirchlichem Auftrag, Mandat und politischer Zuständigkeit, politischem Mandat. 1 6 In der Linie dieser Grundunterscheidung - die also gemeinreformatorisch ist - liegt die Denkschrift der EKD zum Staat. Die Denkschrift „Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie. Der Staat des Grundgesetzes als Angebot und Aufgabe", 1985 hat seit dem 9. November 1989 eine neue Aktualität erhalten. 17 Nach der Veröffentlichung der

14

Hüffmeier,

15

Vgl. z. B. den gemeinsamen Text von EKD und Bund evangelischer Kirchen in der DDR, in: A Burgsmüller und R. Weth, Barmer Theologische Erklärung, a.a.O., S. 79-87: „Barmen 1934/84. Zur gegenwärtigen Bedeutung der Theologischen Erklärung von Barmen".

a.a.O., S. 66.

16

Vgl. dazu: Hüffmeier,

17

E. Jüngel/R. Herzog/H. Simon, Evangelische Christen in unserer Demokratie, Gütersloh 1986. M. Honecker, Gedanken zur Denkschrift der EKD. „Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie", in: Schriftenreihe für Kirche und Wirtschaft, Heft 3 (1987). T. Rendtorff, Eine kirchliche Lektion in Sachen Demokratie, in: ZEE, Bd. 2 9 (1985), S. 3 6 5 - 3 7 0 . A. Püttmann, Ein ,Ja, Aber' zur Bonner Demokratie. Die EKD-Denkschrift „Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie. Der Staat des Grundgesetzes als Angebot und Aufgabe",

a.a.O.

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Denkschrift kam aus der DDR Kritik (von Hanfried Müller). Der Vorwurf lautete, die Denkschrift zeige nicht eine „Spur von Eigenständigkeit" gegenüber der Gesellschaftsordnung der Bundesrepublik. 1 8 Sie begründe nämlich ihre Zustimmung zur freiheitlich-demokratischen Staatsordnung nicht einfach politisch, sondern legitimiere sie darüberhinaus theologisch. Damit unterstelle sie, daß die freiheitliche Staatsordnung, wie sie das Bonner Grundgesetz repräsentiert, die für den Christen einzig mögliche Staatsform sei. Dagegen sei es gerade der Vorzug des atheistischen Staates in sozialistischen Gesellschaften, daß er ausdrücklich auf eine theologische Legitimation verzichte. Diese Kritik ist noch nicht einmal vier Jahre alt! Um auf diese Kritik einzugehen, ist zunächst einmal festzustellen, daß niemand heute die Idee eines christlichen Staates vertritt. Es geht allein um den menschengerechten, den menschenwürdigen Staat. Dieser Staat ist ferner keine Schöpfung des Glaubens. Aber aus dieser Erkenntnis folgt mitnichten eine theologische Indifferenz gegenüber dem jeweiligen Staat und seine Verfaßtheit. Ein Staat kann die Menschenwürde besser oder schlechter achten, ja sogar mißachten und zynisch verfehlen. Ein Staat kann seine Aufgaben besser oder schlechter wahrnehmen. Daraus folgt, daß die Staatsform und die geschichtliche Realität eines Staates für Theologie und Kirche nicht gleichgültig sind. Der christliche Glaube ist nicht gleichgültig gegenüber der Staatsordnung. Die Denkschrift behandelt daher in 3 Teilen folgende Themen: „I. Demokratie im evangelischen Verständnis. Alte Fragen und neue Aufgaben". „II. Grundelemente des freiheitlichen demokratischen Verfassungsstaates". „III. Die Demokratie vor der Herausforderung der Gegenwart". Gleichgültigkeit gegenüber der Verfassung eines Staates wäre historisches Versagen, also Schuld. Für ein solches Versagen und Verschulden gibt es in der Geschichte des deutschen Protestantismus genügend anschauliche Beispiele. Die Denkschrift orientiert sich bei ihrer Beurteilung der demokratischen Staatsform freilich nicht an einer Staatstheorie, sondern an der anthropologischen Grundnorm 1 9 8 5 , in: ZfP, Bd. 3 6 ( 1 9 8 9 ) , S. 7 5 - 8 7 . T. Rendtorff,

Die Autorität der Freiheit.

Die Stellung des Protestantismus zu Staat und Demokratie, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Bd. 4 6 - 4 7 , S. 2 1 - 3 1 . 18

Vgl. den Nachweis dieser Kritik bei: M. Honecker,

a.a.O., S. 14f.

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der Menschenwürde. Die Auseinandersetzung mit der jeweils bestehenden Staatsform trägt deswegen „notwendigerweise den Charakter kritischer Solidarität mit einer verbesserungsfähigen, aber auch verbesserungsbedürftigen Ordnung". 19 Entscheidend für die Bewertung einer bestehenden Staatsform sind das Vorhandensein rechtsstaatlicher Garantien, die Kontrolle der Macht (Gewaltenteilung), die Gewährleistung der Menschen- und Grundrechte und heute ebenfalls die Legitimation durch demokratische Verfahren. Die Denkschrift stellt deshalb im 2. Teil die Grundelemente der freiheitlichen, demokratischen und rechtsstaatlichen Verfassung anhand des Grundgesetzes dar. Sie betont zugleich, daß die politische Existenz des Christen zu seinem „weltlichen Beruf" gehört. 20 Demokratie als Herrschaftsform hat nur solange Bestand, als sie Lebensform der Bürger ist. 21 Zu den Leistungen der Kirche für den Staat ist auch die Ermutigung der Eigenverantwortung der Bürger und die Vermittlung von Demokratie als Lebensform zu zählen. „Ein demokratischer Staat braucht eine ihm entsprechende demokratiebewußte Gesellschaft, die sich Grundentscheidungen der Demokratie zu eigen macht und aus ihnen lebt". 22 Zu den Aufgaben von Kirche und Christen gehört es allerdings genauso, auf Gefährdungen und Herausforderungen des demokratischen Staates in der Gegenwart aufmerksam zu machen. Davon handelt der 3. Teil. Er beschwört zwar nicht eine „Krise der Demokratie", rückt aber Aufgaben und Probleme ins Bewußtsein. Eine Bewältigung dieser Aufgaben wird nämlich nur soweit gelingen, als man sich diesen Herausforderungen bewußt stellt und zu neuen Wegen wie zu Kompromissen bereit und fähig ist. In diesem Zusammenhang geht die Denkschrift nochmals auf den Unterschied zwischen Auftrag der Kirche und Aufgaben des Staates ein. 23 Das geistliche Amt der Kirche hat keine besondere politische Kompetenz, wohl aber im demokratischen Staat eine Pflicht zur Mitverantwortung. „Die Kirche hat nicht die Funktion, dem einzelnen Christen die Entscheidungen, die er als Bürger zu 19

20 21 22 23

Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie. Der Staat des Grundgesetzes als Angebot und Aufgabe, Gütersloh 1985, S. 17. Denkschrift (s. Anm. 19), S. 22, 45. Denkschrift (s. Anm. 19), S. 34f. Denkschrift (s. Anm. 19), S. 35. Denkschrift (s. Anm. 19), S.45-47.

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treffen hat, abzunehmen. Es ist jedoch ihre Aufgabe, ihm bei der Meinungs- und Urteilsbildung zu helfen. Dabei kann sie keine Autorität in Anspruch nehmen als die Überzeugungskraft ihrer Sachargumente und, gemäß ihrer Tradition, der Gründe aus Schrift und Bekenntnis." 24 Über diese Mitverantwortung der Kirche für den Staat und über die Art und Weise dieser Mitwirkung ist am Schluß nochmals eigens zu sprechen. Den Überblick über die Tradition der Lehraussagen in der evangelischen Kirche beschließe ich bewußt mit dem Hinweis auf die Demokratiedenkschrift und lasse manche andere kirchliche Stellungnahmen beiseite.25

III. Nach der informierenden Darstellung dessen, was heute in der evangelischen Kirche im Blick auf das Verhältnis von Kirche und Staat ganz grob umrissen als Grundlage vorausgesetzt werden kann, ist zu den theologischen Fragestellungen und damit zur Beurteilung überzuwechseln. Für einen evangelischen Theologen liegt es nahe, zur Beurteilung der Aufgabe der christlichen Gemeinde und des Auftrags des Staates auf Schrift und Bekenntnis zurückzugreifen. Wieweit Bekenntnisaussagen tragfähig sind, wäre gesondert zu erörtern. Ausdrücklich eingegangen sei nur auf das Schriftzeugnis. Dabei scheidet eine unmittelbare Berufung auf die politisch-staatlichen Aussagen des Alten Testamens aus - es sei denn, man vertrete einen fundamentalistischen Standpunkt. Weder die vorexilische religiöse Legitimation des davidischen Königtums, noch die weithin nachexilische deuteronomistische oder auch vorexilische prophetische Kritik von Königen und Königtum, noch die Proklamation theokratischer Ideale sind unmittelbar politisch anwendbar. Auch die spärlichen neutestamentlichen Aussagen zur politischen Gewalt sind wenig ergiebig. Denn einmal sind diese Ausführungen Konkretion eines zutiefst zweideutigen und ambivalenten Verständnisses von 24 25

Denkschrift (s. Anm. 19), S. 46. Vgl. z. B. die Denkschrift: „Aufgaben und Grenzen kirchlicher Äußerungen zu gesellschaftlichen Fragen", Gütersloh 1970. Das Votum der Arnoldshainer Konferenz: „Möglichkeiten und Grenzen eines politischen Zeugnisses der Kirche und ihrer Mitarbeiter", Neukirchen-Vluyn 1982.

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Welt im N T . 2 6 Das Alte Testament kennt noch kein Wort, das dem abstrakten Begriff „Welt" entspricht. 27 Die Gesamtheit der Schöpfung wird mit Wendungen wie „Himmel und Erde", „alle Völker", „alles Fleisch" umschrieben. Erst das Neue Testament benutzt das Wort „Kosmos" als Allgemeinbegriff. Kennzeichnend für den Gebrauch von „Welt" ist freilich, daß die Welt nur in der Beziehung zu Christus und zum Leben der Gemeinde gesehen wird. Die Welt ist der Inbegriff des Geschaffenen. Sie ist Inbegriff der guten Schöpfung Gottes. Das Evangelium richtet sich an den ganzen Kosmos (Mk. 16,15). Gott liebte die Welt so sehr, daß er seinen Sohn sandte (Joh. 3,16) und den Kosmos in Christus mit sich selbst versöhnte (2. Kor. 5,19). Die Christen sind berufen, das Licht des Kosmos zu sein (Mt. 5,14). Neben diesen höchst positiven Aussagen über die Welt, finden sich freilich ganz andere Wertungen. Welt ist negativ gesehen der Herrschaftsbereich der Sünde. „Der ganze Kosmos liegt im Bösen befangen" (1. Joh. 5,19). Der „Fürst", Herrscher der Welt ist der Satan (Joh. 12,32). Christus erlöst, befreit die Seinen aus der Welt (Joh. 16,33). Wer die Welt lieb hat, in dem ist nicht die Liebe des Vaters (1. Joh. 2,15). In äußerster Schärfe erklärt der Jakobusbrief: „Wenn jemand ein Freund der Welt sein will, wird er zum Feind Gottes" (4,4). Diese ungeheure Spannung in der Beurteilung der Welt zwischen der Welt als Schöpfung Gottes, aufgrund derer die manichäische Verteufelung der Welt vom Christen nachdrücklich verworfen wurde, und der gefallenen Welt unter der Herrschaft des Teufels, die jede religiöse Weltverherrlichung ausschließt, wird besonders deutlich bei der Bewertung der politischen Welt. In der konkreten Bewertung von staatlichen Gewalten und politischen Mächten tritt besonders signifikant darum die Spannung zwischen Anerkennung der Schöpfung und Wissen um die Verfallenheit und Bosheit der Welt zutage. Die Aussagen zum Politischen sind im Neuen Testament außeror-

26

M. Honecker, Kirche und Welt, in: TRE, Bd. 18 (1989), S. 4 0 5 - 4 2 1 (mit Literaturangaben). O. H. Steck, Welt und Umwelt. Biblische Konfrontationen, Stuttgart 1987.

27

W. Joest, Dogmatik. Bd. 2: Der Weg Gottes mit dem Menschen, 2. Aufl., Göttingen 1987, S. 5 9 2 - 6 1 2 .

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dentlich spärlich und spannungsgeladen.28 Die wenigen Texte, die überhaupt das Verhältnis von Glaube und politischer Macht, Staat ansprechen, sind in der Auslegungsgeschichte weithin überbeansprucht worden. Auf Jesus zurück geht die kurze Szene des Zinsgroschenwortes (Markus 12,13-17 par.). In diesem Streitgespräch beantwortet Jesus die Frage, ob es zulässig sei, dem Kaiser Steuer zu zahlen, ein Thema, das im zeitgenössischen Judentum aus religiösen Gründen (Gebrauch heidnischer Münzen mit dem Bild des Kaisers) wie aus politischen Gründen (die bedrückende Abhängigkeit vom römischen Staat) sehr umstritten war, mit dem lapidaren Satz „Was des Kaisers ist, gebt dem Kaiser, und was Gottes ist, Gott" (Mk. 12,17). Dieses vieldeutige Wort mag man als „ironischen Parallelismus" deuten. 29 Jesus entzieht sich mit dieser Antwort bekanntlich einer Fangfrage. Ein Aufruf zum Widerstand ist dieser Rat gewiß nicht. Aber ebensowenig kann man daraus eine uneingeschränkte Anerkennung politischer Autorität herleiten. Das Fazit kann allenfalls sein: „Von einer Anerkennung des Tiberius als Divi Augusti Filius, wie es auf den Münzen meist zu lesen war, kann gewiß keine Rede sein; Jesus hat den Staat weder vergöttlicht noch gegen ihn revoltiert". 30 Die Frage, was Gottes ist - gedacht ist vielleicht an den Menschen als das Ebenbild Gottes - , und was des Kaisers ist, bleibt also auslegungsbedürftig.

28

R. M. Grant und H. D. Betz, Art. Kirche und Staat I, in: TRE, Bd. 18 (1989), S. 354-365. Zum Staat im NT vgl.: O. Cullmann, Der Staat im NT, 2. Aufl., Tübingen 1961. W. Schräge, Die Christen und der Staat nach dem Neuen Testament, Gütersloh 1971. A. Lindemann, Christliche Gemeinden und das Römische Reich im ersten und zweiten Jahrhundert, in: Wort und Dienst, Bd. 18 (1985), S. 105-133. M. Dibelius, Rom und die Christen im ersten Jahrhundert, in: Botschaft und Geschichte II, Tübingen, S. 177-228. K. Aland, Das Verhältnis von Kirche und Staat nach dem NT und den Aussagen des 2. Jahrhunderts, in: Neutestamentliche Entwürfe, München 1979, S. 26-126 (ThB 63). H. Schlier, Die Beurteilung des Staates im NT, in: Die Zeit der Kirche, Freiburg 1956, S. 1-16. J. Blank, Kirche und Staat im Urchristentum, in: G. Denzler (Hrsg.), Kirche und Staat auf Distanz, München 1977, S. 9-28. M. Honecker, Evangelische Theologie vor dem Staatsproblem, Opladen 1981.

29

Vgl. W. Schräge, Ethik des Neuen Testaments, 5. Aufl., Göttingen 1989, S. 119122. E. Lohse, Theologische Ethik des Neuen Testaments, Stuttgart u. a., 1988, S. 33-43.

30

TRE, Bd. 18 (1989), S. 360, 47-49.

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Die grundlegende Stelle Römer 13,1-7 kann ebenfalls nicht die Beweislast für eine ausgearbeitete Staatslehre und Staatsmetaphysik tragen. 31 Die Ableitung aller Autorität von Gott, die Ablehnung eines Widerstandes gegen Autorität als Widerstand gegen Gott, die Aufforderung zur Erfüllung der Bürgerpflichten, also die Anleitung zu einer Ethik des Rechtsgehorsams sind zwar in der Auslegungsgeschichte oft als prinzipielle Aussage gedeutet worden. Dabei wird freilich einmal die Eigenart und Begrifflichkeit des Textes verkannt. Römer 13,1-7 ist Paränese, Mahnrede an Christen in einer konkreten Situation in Rom. Paulus äußert sich nicht als Theoretiker des Staates. Gegen eine enthusiastische christliche Haltung, die meint als Christ sei man frei von allen politischen-bürgerlichen Verpflichtungen und Beanspruchungen, fordert er die Christen zur Nüchternheit, zur Anerkennung von Autorität und zur Unterordnung auf. Die staatlichen Repräsentanten sind „Diener" und „Beamte" Gottes (13,4.6). Ihre Tätigkeit wird in Begriffen der römischen Verwaltungssprache geschildert. Wie in den Vorstellungen der hellenistischen Diasporasynagoge ist ihre Aufgabe die Abwehr des Bösen. Der Staat repräsentiert eine „antichaotische Ordnungsmacht". 32 Karl Barth sprach 1922 vom „sang- und klang- und illusionslosen Geltenlassen des Bestehenden". 33 Der Eindruck „als wolle der Text einer ziemlich unkritischen Devotion gegenüber dem Staate Ausdruck verleihen", 34 relativiert sich, zieht man zum Vergleich 1. Kor. 6, 111 heran: Die Christen sollen besser überhaupt nicht die staatliche Rechtspflege in Anspruch nehmen, sondern Rechtsverzicht üben. Paulus sieht wohl durchaus die Möglichkeit eines drohenden Konfliktes zwischen Kirche und Staat. Aber: „Die Zügelung der Machthaber ist nicht die Aufgabe der Kirche, sondern des eschatalogischen Wirkens Gottes in der Geschichte". 35 Diese paulinische Linie wird aufgenommen und fortgeführt in 1. Petrus 2,13-17, der Mahnung an die Christen zur Loyalität, 36 und 31

32 33 34 35 36

Vgl.: W. Schräge, a.a.O., S. 244-248. E. Lohse, a.a.O., S. 84-88. TRE, Bd. 18 (1989), S. 363, 30-40. Vgl.: W.Schrage, a.a.O., S. 247. K. Barth, Der Römerbrief, 2. Aufl., München 1922, S. 469. TRE, Bd. 18 (1989), S. 363, 48f. TRE, Bd. 18 (1989), S. 364, 15-17. Vgl.: W. Schräge, a. a. O., S. 247f. W. Schräge, a.a.O., S. 284f.

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im Gebet für die Obrigkeit (1. Tim. 2,2). 3 7 Das Gebet für eine friedvolle Kirche in einem friedlichen Staat knüpft an jüdische Gepflogenheit an. Wer Fürbitte leistet, verneint den Anspruch des Staates auf Anbetung. Und wer der Fürbitte bedarf ist ein Mensch, mag er Kaiser, König oder Statthalter sein. G. Kittel betonte: „Fürbitte, so positiv sie ist, ist schlechterdings Verneinung der Anbetung. Wer der Fürbitte bedarf, ist, ob Kaiser oder König oder Statthalter, ein Mensch." 3 8 Anders als die paulinische Tradition äußert sich dagegen die Johannesapokalypse. Hier findet sich kein Hinweis darauf, daß die irdische, die römische Herrschaft auf Gott zurückzuführen sei. Im Gegenteil. In der Johannesoffenbarung wird der Konflikt des Christen mit dem Staat zum Thema. 3 9 Die Forderung des Herrscher- und Staatskultes führt ins Martyrium. Im Anspruch des römischen Kaisers auf Vergottung, wie ihn bereits Caligula erhob, begegnet dem Christen der Antichrist. In der Staatssysmbolik und Staatsideologie und im Staatskult fordert die politische Macht das, was allein Gott und Christus zukommt. Freilich ruft auch der Seher der Apokalypse nicht zu Revolte und Rebellion, oder gar zum heiligen Krieg, sondern allein zur Weigerung und zum gewaltlosen, passiven Widerstand auf. „Hier ist Standhaftigkeit und Glaubenstreue vonnöten" (13,10). 4 0 So widerspruchsvoll die Mahnungen von Römer 13 und Offenbarung 13 auf den ersten Blick auch wirken, so wenig besteht freilich dieser Widerspruch, sieht man auf die gemeinsame Grundhaltung. Dabei ist dann das jeweils geforderte Verhalten gegenüber den staatlichen Autoritäten gegensätzlich aufgrund ganz verschiedener politischer Verhältnisse. Vom Christusbekenntnis her ist in einer Situation ausbrechender Christenverfolgung und der geforderten Teilnahme am Kaiserkult ein anderes Verhalten gegenüber dem römischen Imperium gefordert als in der Normallage eines einigermaßen funktionierenden Staatswesens. Der pervertierte, verkehrte Staat

37 38

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40

W. Schräge, a.a.O., S. 273f. G. Kittel, Das Urteil des NT über den Staat, in: Zeitschrift für systematische Theologie, Bd. 14 (1937), S. 651-680, Zitat S. 665. W. Schräge, a.a.O., S. 342-347: Der Konflikt mit dem Staat. E. Lohse, a.a.O., S. 121f. Vgl.: W. Schräge, a.a.O., S. 346.

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kann dabei freilich nicht das Modell für das übliche Verhalten des Christen abgeben. Auch gibt die Mahnung an den Christen zur bürgerlich-politischen Loyalität in der noch nicht erlösten Welt keine Auskunft über Staatsaufgaben und institutionelle und strukturelle Aufgaben kirchlichen Handelns. Die Staatsaufgaben konkret zu bestimmen, ist vielmehr Sache der politischen, rechtswissenschaftlichen und öffentlichen Diskussion und Willensbildung. Dafür gibt es keine unmittelbar verfügbaren theologischen Vorgaben, sondern nur negative Grenzziehungen. Auch für die Kennzeichnung der Aufgaben der Kirche gegenüber dem Staat gibt die neutestamentliche Botschaft nur eine Grundorientierung, aber nicht einzelne Normierungen. Es ist also über die neutestamentlichen Texte hinaus systematisierend nach dem Auftrag der Kirche zu fragen.

IV. Der Auftrag der Kirche wird häufig mit Worten wie Martyria, Leiturgia (oder auch: Koinonia), Diakonia, d.h. Zeugnis oder Verkündigung, Gottesdienst und Dienst am Nächsten bezeichnet. Man kann auch von den Grundvollzügen der Verkündigung, des Kerygmas (einschließlich der Verwaltung der Sakramente), dem Auftrag zur Diakonie und zur Sendung in die Welt, Mission und Ökumene sprechen. Gelegentlich wird dieser Auftrag der Kirche auch formelhaft mit der biblisch begründeten Trias beschrieben: Zeugnis, Dienst, Gemeinschaft. Das alles sind Versuche, kirchliches Handeln klassifizierend zu beschreiben. Folgt man solcher schematisierender Klassifizierungen, so kann man eine Typologie kirchlicher Grundvollzüge benennen, die auch in den politischen Bereich hinein ausstrahlen. Beispielhaft sind solche Grundvollzüge: 1. Die Verkündigung des Wortes Gottes, die Predigt des Evangeliums ist auch ein politisches Faktum. Dabei sei im Blick auf die Predigt, wie auf alle folgenden Grundvollzüge kirchlichen Handelns grundsätzlich festgehalten, daß sie nicht unmittelbar auf politische Wirkung abzielen. Zwischen Absicht und Wirkung, politischer Intention und politischer Relevanz ist zu unterscheiden. Deshalb wurde nicht abstrakt rein formal auf Verkündigung und Predigt verwiesen, sondern Wort Gottes und Evangelium als deren materialer

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Inhalt benannt. Das Evangelium als Christusbotschaft zielt auf Glauben. Der Ruf zum Glauben ist freilich dann sogleich folgenreich. Zu den Glaubensfolgen gehört auch die politische Existenz des Christen, das Verhalten der Christen als Bürger. Wenn das Evangelium frei verkündigt wird, so strahlt dies aus auf die Freiheit des Wortes in der Gesellschaft und im Staat. Das Evangelium verheißt dem Menschen Heil. Das heilswirksame Wort entmythologisiert dadurch indirekt alle politischen Heilsansprüche. Insoweit enthält die Auslegung des Evangeliums immer auch ein Moment der Ideologiekritik. Mit den Begriffen Politische Existenz des Christen, Freiheit als Ermöglichung öffentlichen Auftretens und Redens und mit der Unterscheidung von Heilszusage Gottes und menschlichem Wohl ist eine politisch-soziale Dimension angesprochen. Die Verkündigung des Evangeliums geschieht nicht im geschichtsleeren, entweltlichten Raum eines zeitlosen Mythos. Sie ist damit notwendig politisch bezogen. Der Begriff politische Predigt weckt freilich Vorbehalte. 41 Gemeint ist mit politischer Predigt freilich nicht eine politisierende Predigt, eine Predigt, die eigene politische Intentionen verfolgt, sondern eine Predigt, die ihren jeweiligen politischen, sozialen Kontext bewußt wahrnimmt. Wer theologisch über die Möglichkeiten und Grenzen politischer Predigt nachdenkt, kann und muß deshalb von „Aporien" reden. Es gibt auch ganz unterschiedliche Formen politischer Predigt. Das ist hier nicht zu entfalten. Bereits Römer 13 und Apokalypse 13 sind Beispiele der Anrede des Christen als Bürger. In Gestalt von Fürstenpredigten, Predigten von Hofpredigern bei der Inthronisation von Fürsten, Eröffnung von Ständeversammlungen, aus Anlaß staatlich verordneter Bußtage usw., hat das Genus politische Predigt eine alte Tradition. Die politische Predigt ist also keine Erfindung der Gegenwart. Ihre Möglichkeiten und Aufgaben sind freilich in einer weltanschaulich pluralistischen, demokratischen, 41

Vgl. zur politischen Predigt: M. Kriener, Aporien der politischen Predigt, in: ThExh NF 180, München 1974. }. Kottrad, Sozialethische Themen auf der Kanzel, Hamburg 1973. D. Schellong, Zur politischen Predigt, in: ThExh N F 72, München 1959. H. Gollwitzer, Erwägungen zur politischen Predigt, in: Forderungen der Freiheit, München 1962, S. 97ff. Ders., Veränderungen im Diesseits. Politische Predigten, München 1973. M. Josuttis, Zum Problem der politischen Predigt, in: Evangelische Theologie, Bd. 2 9 (1969), S. 5 0 9 - 5 2 3 . F. Kamphaus und R. Zerfaß (Hrsg.), Ethische Predigt und Alltagsverhalten. München, Mainz 1977.

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freiheitlichen Gesellschaft und angesichts eines rechtsstaatlich geordneten Verfahrens politischer Willensbildung sorgfältig zu bedenken. Das ist zunächst einmal eine wichtige theologische Aufgabe, weil die Bereitschaft, eine Predigt zu hören und auf sie hin zu glauben, stets eine Sache der Glaubwürdigkeit und Wahrheit der Predigt ist. 2. Das sakramentale Handeln der Kirche scheint auf den ersten Blick völlig bedeutungslos für das politische Leben zu sein. In der Tat wäre eine staatliche Überwachung oder ein staatliches Eingreifen in den Vollzug der Sakramente das Ende des geistlichen Auftrags der Kirche. Wen die Kirche tauft, wen sie zum Abendmahl, zur Eucharistie zuläßt, das ist allein Sache der Kirche. Ein religiös neutraler Staat hat freilich darauf zu achten, daß im staatlichen Bereich aus der Nichtteilnahme an den Sakramenten oder aus dem Ausschluß von den Sakramenten keine bürgerlichen Nachteile erwachsen. Die Taufe als Eingliederung in die kirchliche Gemeinschaft des Leibes Christi überschreitet, transzendiert nationale, soziale, rassische Grenzen. Und die Eucharistie als Mahl der Versöhnung veranschaulicht, daß es in einer unversöhnten Welt eine Versöhnung mit Gott gibt, die nicht erst durch menschliches Versöhnungshandeln bewerkstelligt wird. 42 Das sakramentale Leben der Christen ist zwar nicht durch das staatliche Handeln einzulösen, aber es wird auch nicht völlig folgenlos bleiben können im Blick auf die politische Praxis. Dasselbe wäre im Blick auf die Seelsorge zu bedenken, die 42

Zum politischen Gebrauch von Versöhnung vgl.: H.-E. Bahr, Versöhnung und Widerstand. Religiöse und politische Spielregeln gewaltfreien Handelns, München 1983. Im evangelischen Bereich ist Versöhnung auch politisch bezogen worden: Zunächst vor allem im Darmstädter Wort des Bruderrates zum „Politischen Weg unseres Volkes" (1947). Vgl. dazu: M. Honecker, Art. Darmstädter Wort, in: Evangelisches Soziallexikon, 7. Aufl., 1980, S. 224-226. H. Ludwig, Die Entstehung des Darmstädter Wortes, in: Junge Kirche, Bd. 38 (1977), Beiheft 8/9. D. Schellong, Versöhnung und Politik. Zur Aktualität des Darmstädter Wortes, in: G. Steck und D. Scheliong, Umstrittene Versöhnung, München 1977, S. 35ff. E. Wilkens, Z u m „Darmstädter Wort" vom 8. August 1947, in: G. Metzger (Hrsg.), Zukunft aus dem Wort. Festschrift für H. Class, Stuttgart 1978, S. 151-169. Sodann spielt die Berufung auf Versöhnung eine Rolle in der Denkschrift „Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinem östlichen Nachbarn", 1965 (sog. „Ostdenkschrift").

D e r A u f t r a g der Kirche u n d die A u f g a b e des Staates

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nicht von politischer Zugehörigkeit abhängig ist, wie bei der Vollmacht zur Vergebung der Sünden. Die Kirche kann sich hier aufgrund ihres Auftrags nicht abhängig machen lassen von politischen Vorgaben und Direktiven. 3. Die Bedeutung, welche kirchliche Unterweisung und Erziehung für das Gemeinwesen haben, braucht nicht näher belegt zu werden. Sie liegt auf der Hand - und der Streit um Religionsunterricht und religiöse Erziehung zwischen laizistischem Staat und Kirche ist in der Neuzeit oft genug und vielerorts heftig ausgetragen worden. Die Kirche kann kein totales Erziehungsmonopol des Staates anerkennen. Ihr eigener Auftrag, den Glauben weiterzugeben, steht nicht zur Disposition. Auch wenn die Probleme des kirchlichen Unterrichts schwierig und groß sind, so sind sie nicht dadurch zu lösen, daß die Kirche auf ihren Zeugnisauftrag verzichtet. Eine Christenheit, die ihren eigenen Auftrag der Glaubensvermittlung in Erziehung und Bildung ernst nimmt, leistet damit indirekt auch einen wichtigen Beitrag zur politischen Kultur. Mit den Handlungsvollzügen Verkündigung, Sakrament, Seelsorge und Unterweisung wurde das Stichwort „Zeugnis", Martyria entfaltet. Zur Martyria zählt allerdings nicht nur das Zeugnis des Wortes, sondern auch das Zeugnis des Lebens. So ist im Konfliktfall mit der staatlichen Gewalt in dem so problemlos klingenden Wort Zeugnis das Glaubenszeugnis des Märtyrers mitangesprochen. 4. Daß der Dienst der Diakonie, der tätigen Liebe zu den genuinen Aufgaben der Kirche gehört, ist unbestritten, zumindest im westlichen Christentum. Das Zeugnis des Glaubens und die Tat der Liebe gehören zusammen. Die soziale Bedeutung und allgemeinpolitische Relevanz der Diakonie, der Caritas ist evident. Einverständnis dürfte auch darüber bestehen, daß die Diakonie nicht bloß auf individuelle Hilfe in persönlichen Notfällen beschränkt werden kann, sondern eine gesellschaftliche Dimension hat. Im Prinzip der Subsidiarität ist eine Forderung an den Sozialstaat formuliert, karitative Aktivitäten der Kirche zu fördern und zu ermöglichen. Die individuelle Diakonie erweitert sich daher notwendig zur Gesellschaftsdiakonie. 43 In der 43

Vgl. zur Diskussion: O. Meyer, „Politische" und „Gesellschaftliche Diakonie" in der neueren theologischen Diskussion, Göttingen 1 9 7 4 (Literatur). D e n Begriff benutzte vor allem H. D. Wendland. Vgl. dazu auch: E. Wilkens, Politischer Dienst der Kirche, Gütersloh 1978.

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evangelischen Diskussion hat man, ausgehend von solchen sozialpolitischen Erfahrungen, das politische Engagement der Kirche Gesellschaftsdiakonie genannt. Man spricht auch von politischer Diakonie, weil man mit dem Motiv des „Dienstes" sich bemüht, einen klerikalen Anspruch auf direktive Bestimmung staatlichen Handels zu vermeiden. Die Begriffsbildung politische Seelsorge wird jedoch vermieden - man spricht allenfalls von Seelsorge an der Gesellschaft (so Eberhard Müller) 44 - , weil Seelsorge sich herkömmlich am personalen Gegenüber orientiert. Diakonie kann sich dagegen auch auf institutionelle und strukturelle Gestaltung erstrecken. 5. Nach den Leitbegriffen Zeugnis und Dienst ist nun noch der dritte Leitbegriff „Gemeinschaft" einzubeziehen. Die Ökumenizität oder Katholizität ist ein Kennzeichen der Kirche Jesu Christi. Die Gemeinschaft der Christen ist nicht partikular begrenzt, sondern universal ausgerichtet. Daraus folgt der Auftrag der Mission gegenüber allen Völkern. Die politische Grenzen sprengende Gemeinschaft der Christen ist auch ein politischer Faktor. Für die römischkatholische Kirche ist nur hinzuweisen auf die politische Bedeutung, welche die Verbindung mit dem Papst für die Einzelkirchen hat. Rom hat, wie die Geschichte der Nachkriegszeit in Mittel- und Osteuropa beispielhaft zeigt, immer auch politisch den bedrängten Ortskirchen Halt gegeben und bildete ein auch politisch zu beachtendes Widerlager. Auch die evangelische Kirche kann gar nicht als nationale begrenzte Landeskirche selbstbezogen für sich existieren. Die ökumenischen Beziehungen bringen zwar für die Kirche vor Ort immer wieder politische Unruhe mit sich. Die Forderungen anderer Kirchen, ihre Anliegen im eigenen Staat zu vertreten, ist nicht immer für die damit beauftragte Kirche angenehm. Aber die ökumenischen Beziehungen tragen nicht nur internationale Konflikte ins Land herein; sie schaffen auch internationale Verbindungen, die sich manchmal auch dann noch als tragfähig und haltbar erweisen, wenn andere diplomatische Beziehungen nicht mehr funktionsfähig sind. 6. Mit den vorliegenden Überlegungen zum politischen Bezug und Gehalt in den Leitworten Zeugnis, Dienst, Gemeinschaft, wurde 44

E. Müller, Seelsorge in der modernen Gesellschaft, Hamburg 1961. Dazu kritisch: M. Hortecker, Seelsorge in der Gesellschaft?, in: EvTh, Bd. 21 (1961), S. 544-563. Ders. nochmals: Seelsorge in der Gesellschaft? in: EvTh, Bd. 23 (1963), S. 143-168.

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die Brisanz im Verhältnis von Kirche und Staat scheinbar entschärft. Man könnte es nun damit bewenden lassen, auf den auch verfassungsrechtlich und politisch anerkannten Öffentlichkeitsauftrag der Kirche hinzuweisen.45 Da das Evangelium aller Welt in Freimut öffentlich zu verkündigen ist, folgt daraus ein Auftrag der Kirche, Staat und Gesellschaft auch öffentlich, unmittelbar anzusprechen. Hier liegt denn auch der eigentliche Konfliktstoff. Der lange Anmarsch über den Aufweis einer politischen Dimension fundamentaler Handlungsvollzüge der Kirche sollte die Unausweichlichkeit der jetzt zu thematisierenden und erörternden Fragestellung aufzeigen. Über die Legitimität politischer Predigt als solcher - was selbstverständlich nicht heißt: jeder konkreten politischen Predigt - und über die Notwendigkeit von politischer Diakonie, eines politischen Diakonats kann man sich äußerstenfalls immer noch einigen. Wie aber steht es mit der Anerkennung eines politischen Gottesdienstes und eines prophetischen Mandats der Kirche? Karl Barth hat die Formulierung „politischer Gottesdienst" 1938 in der Auslegung des Artikels 2 4 der Confessio Scotica „Von der bürgerlichen Obrigkeit" benutzt und geprägt. 46 Die reformierte Lehre 45

Zum Öffentlichkeitsauftrag: W. Conrad, Der Öffentlichkeitsauftrag der Kirche, Göttingen 1964. H. Gollwitzer, Einige Leitsätze zur christlichen Beteiligung am öffentlichen Leben, in: Ökumenischer Rat der Kirchen (Hrsg.), Die Kirche als Faktor einer kommenden Weltgemeinschaft, Stuttgart u. a. 1966, S. 280-300. W. Huber, Kirche und Öffentlichkeit, Stuttgart 1973. Th. Strohm und H. D. Wendland (Hrsg.), Kirche und moderne Demokratie, Darmstadt 1973. A. de Quervain, Der Öffentlichkeitsanspruch des Evangeliums, 2. Aufl., ZollikonZürich 1946. L. Kaiser, Die Denkschriften der Evangelischen Kirche in Deutschland als Wahrnehmung des Öffentlichkeitsauftrags der Kirche (1978), in: L. Raiser, Vom rechten Gebrauch der Freiheit, Stuttgart 1982, S. 404-431. K. Schiaich, Öffentlichkeitsauftrag, in: HdStkirchR, Bd. 2 (1975), S. 231-272. D. Pirson, Öffentlichkeitsanspruch der Kirche, in: Evangeliches Staatslexikon, 3. Aufl., 1987, S. 2278-2284.

46

K. Barth, Gotteserkenntnis und Gottesdienst nach reformatorischer Lehre, Zollikon 1938, S. 203ff. Zu Theologie und Politik bei K. Barth vgl.: R. Leuenberger, Politischer Gottesdienst, in: ZthK, Bd. 69 (1972), S. 100-124. B. Klappert und W. Weidner (Hrsg.), Schritte zum Frieden, Wuppertal 1983, S. 224229. Theologie und Politik bei K. Barth: K. Barth, Der Götze wackelt. Zeitkritische Aufsätze, Reden und Briefe von 1930 bis 1960, hg. v. K. Kupisch, 2. Aufl., Berlin 1964. K. Barth, Politische Entscheidung in der Einheit des Glaubens, in: ThExh NF 34, 1952. D. Clausen, Theologischer Zeitbegriff und politisches Zeitbewußtsein in Karl Barths Dogmatik dargestellt am Beispiel der

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kennt nach Barth nicht nur den kirchlichen Gottesdienst und den Gottesdienst des christlichen Lebens im Alltag der Welt. Sie kennt so Barth - „auf einer dritten Ebene der Betrachtung und der Wirklichkeit auch einen politischen Gottesdienst. Diese dritte Ebene wird sichtbar, wenn wir bedenken, daß das christliche Leben und das Leben der Kirche sich im Räume einer Welt abspielt, die das Wort Gottes noch nicht gehört hat, die der Herrschaft und dem Gericht Jesu Christi noch fremd gegenübersteht, die also auch auf dem Gehorsam des Glaubens noch nicht anzusprechen ist. Man bemerke wohl: Zu dieser Welt gehören auch die Christen, auch die Glieder der Kirche, auch die bewußten und lebendigen Glieder der Kirche, sofern ja jenes - noch nicht - immer auch für sie gilt, sofern ja auch sie (und in und mit ihnen die Kirche selbst) immer noch in jenem Kampf des Geistes und des Fleisches stehen. Was wird aus der Kirche, sofern auch sie immer noch in der Welt ist, zur Welt gehört und selber Welt ist?" 47 So lautete Barths Frage. Seine Folgerung ist: Die Kirche hat auch der politischen Welt, dem Staat Gottes Wort zu verkünden. Damit dient die Verkündigung der Kirche auch der politischen Ordnung nicht nur um des „Nutzens und der Wohlfahrt der Menschen" willen, sondern auch zur „Offenbarung der Herrlichkeit Gottes". 48 Wenn die Kirche der Welt bezeugt, daß Gottes Willen gebietet, Recht Freiheit und Frieden in der Welt zu schaffen und zu erhalten, übt sie einen politischen Gottesdienst" aus. Die Kirche hat sehr einfach zu fragen, „was die betreffende politische Prologomena, in: BevTh 90, München 1982. D. Corrtu, Karl Barth und die Politik. Widerspruch und Freiheit. Wuppertal 1969. U. Dannemann, Theologie und Politik im Denken Karl Barths, Mainz 1977. T. Rendtorff (Hrsg.), Die Realisierung der Freiheit. Beiträge zur Kritik der Theologie Karl Barths, Gütersloh 1975. W. D. Marsch, „Gerechtigkeit im Tal des Todes". Christlicher Glaube und politische Vernunft im Denken Karl Barths (1966), in: W. Dantine und K. Lüthi, Theologie zwischen gestern und morgen. Interpretationen und Anfragen zum Werk Karl Barths, München 1968, S. 167-191. H. Zillessen, Dialektische Theologie und Politik. Eine Studie zur politischen Ethik Karl Barths, Berlin 1970. F. W. Marquardt, Theologie und Sozialismus. Das Beispiel Karl Barths, München 1972. E. Jüttgel, Zum Verhältnis von Kirche und Staat nach Karl Barth, in: Beiheft 6 zur ZThK. Zur Theologie Karl Barths. Beiträge aus Anlaß seines 100. Geburtstages, 1986, S. 76-135. 47

48

K. Barth, Gotteserkenntnis und Gottesdienst nach reformartorischer Lehre, S. 204. Schottisches Bekenntnis Artikel 2 4 , zit. bei: A.a.O., S. 2 0 6 .

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Macht will und tut". „Tut sie, was ihres Amtes ist? Hält sie sich an Gottes Gebot? Bleibt sie in den Schranken des Rechts und ihres Auftrags? Hat sie also, indem sie diese Haltung beweist, rechtmäßige Autorität?" 49 Die Kirche hat freilich nicht nur die Macht zu befragen und Kritik zu üben, sie ermutigt auch zur positiven Mitarbeit, solange die Vertreter politischer Macht für Recht, Frieden und Freiheit sorgen. 1938 stellt sich Barth freilich, unter Berufung auf Artikel 14 der Confessio Scotica „der Tyrannei widerstehen" (tyrannidem opprimere) die Frage des Widerstands gegen politische Machthaber, die ihre Aufgabe verfehlen, der aktiven Resistenz. 50 Deshalb war und ist die Erörterung des politischen Gottesdienstes in der evangelischen Theologie von Anfang an mit der Thematik des Widerstands verknüpft gewesen. Auch kann man grundsätzlich fragen, ob die Formel „politischer" Gottesdienst nicht mißverständlich ist. Mißverstanden ist dann das Politische, wenn es nicht nur der Bezugspunkt, der „Kontext" des Gottesdienstes ist, sondern vielmehr sein Inhalt, sein Thema, sein „Text" wird. Der Gottesdienst soll Gott, Gott allein dienen und nicht politisch instrumentalisiert werden. Und die Politik, der Staat sind auf ihre besonderen Aufgaben zu behaften und sollen nicht theokratisch, reglementiert werden. Das Zeugnis des Glaubens kann daher im politischen Raum nur indirekt, vermittelt, nicht unmittelbar zur Sprache kommen. Die Formel „politischer Gottesdienst" als solche läßt diese Beschränkung nicht klar genug erkennen. Darin ist sie mißverständlich. Aber daß man auch politisch Gott dienen darf und soll, ist deswegen nicht aufzugeben, unter der Bedingung, daß dort Gott gedient wird. 51 Die Wirkungsgeschichte der Barthschen Formel vom politischen Gottesdienst im deutschen Nachkriegsprotestantismus ist hier nicht darzustellen. Es gibt zweifellos mancherlei Erscheinungsformen des Mißbrauchs im Sinne eines politisierenden Gottesdienstes und einer fragwürdigen Theologisierung des Politischen. Allerdings: Abusus non tollit usum. Und so ist mit dem Verweis auf eine strittige Wirkungsgeschichte die in Karl Barths' Formel „Politischer Gottes-

49 50 51

A.a.O., S. 208f. A.a.O., S. 213-216. Vgl. E. Busch, Politische Konsequenzen einer theologischen Existenz heute. Karl Barth Gedenkfeier zum 100. Geburtstag am 20. April 1986 in Düsseldorf, S. 20.

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dienst" enthaltene bleibende Anfrage nicht beantwortet. Man tut freilich bei der Beantwortung gut daran, die Formel „Politischer Gottesdienst" gerade nicht programmatisch aufzugreifen. 52 Dasselbe gilt m.E. auch für die Forderung nach einem prophetischen Mandat der Kirche. Der Begriff des Prophetischen hat in der Umgangssprache etwas Schillerndes.53 Man versteht darunter zum Teil eine Zukunftsansage angesichts der Ungewißheiten der Gegenwart, einen Vorgriff auf das Kommende, teils einen Bußruf, eine Zeitkritik gegenüber einer dem Irrtum verfallenden Gegenwart. Angesichts einer inflationären ausufernden Reden von Prophetie ist zudem festzustellen, daß auch Kirchen und Christen über kein besonderes Zukunftswissen verfügen und daß Futurologie und Prognostik nicht mit Eschatologie, dem Credo „vitam aeternam et resurrectionen mortuorum" zu verwechseln ist. Auch gibt es keine politische Kompetenz zur Kirchenzucht und zu Bußmaßnahmen gegenüber politisch Andersdenkenden. Die Inanspruchnahme eines prophetischen Mandats wird häufig in fragwürdiger Weise für die Legitimation bestimmter konkreter politischer Forderungen genutzt. In diesem Sinne versteht sich gelegentlich Theologie der Befreiung selbst als „öffentliche und prophetische Theologie" mit politischer Stoßrichtung. 54 Zu bedenken ist überdies dabei noch, ob es über52

Vgl. auch: B. Wildemann, Zwei-Reiche-Lehre oder Königsherrschaft Christi. Karl Barths Ringen um das rechte theologische Reden von Gott angesichts der Herausforderungen der Zeit, in: W. Schmithals (Hrsg.), Existenz und Sein. Karl Barth und die Marburger Theologie, Tübingen 1989, S. 37-63. E. Jüngel, Reden für die Stadt. Zum Verhältnis von Christengemeinde und Bürgergemeinde, München 1979, S. 7: „Wer der Stadt Bestes sucht - und das ist den Christen geboten! - wird sie nicht gut schlecht machen können". Ders., Mit Frieden Staat machen. Politische Existenz nach Barmen V, München 1984.

53

Zur Politischen Prophetie vgl.: U. H. J. Körtner, Der Geist der Prophetie, in: Wort und Dienst, Bd. 2 0 (1989), S. 281-307. H. J. Kraus, Prophetie heute! Die Aktualität biblischer Prophetie in der Verkündigung der Kirche, 1986. Christen im Widerstand. Das Kairos-Dokument mit ausgewählten Stimmen, Stuttgart 1987. M. Honecker, Autonomie und Prophetie, in: H. Schroer und G. Müller (Hrsg.), Vom Amt des Laien in Kirche und Theologie. Festschrift für Gerhard Krause zum 70. Geburtstag, Berlin, N e w York 1982, S. 256-277. H. Berkhof, Das politische Zeugnis der Kirche - Zwischen Prophetie und Weisheit, in: Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste (Hrsg.), Christen im Streit um den Frieden. Freiburg 1982, S. 190-195.

i4

L. Boff und Cl. Boff, Wie treibt man Theologie der Befreiung?, 3. Aufl., Düsseldorf 1988, S. 104ff.

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haupt das prophetische Mandat einer Institution Kirche geben kann. Die Berufung auf ein prophetisches Mandat ist also eine fragwürdige, zweischneidige Sache. Doch weist diese Berufung gleichwohl hin auf ein offenkundiges Defizit, einen Mangel. Diesen Mangel mag man als Defizit gegenwärtiger Orientierung in den offenen Fragen der Zeit, als Mangel an Zeitbezogenheit, als fehlende Geistesgegenwart bezeichnen. Das Evangelium, das die Gegenwart Christi im Geist offenbart, enthält immer auch eine Enthüllung politischer Verhältnisse im Lichte der Christusoffenbarung. Es will Verborgenes ans Licht bringen, rückt die Politik in den Horizont des in Christus nahegekommenen, aber dennoch dem Menschen unverfügbar bleibenden Gottesreiches. Das Urteil über die politischen Verhältnisse ist damit für den Christen in einen eschatologischen Horizont gestellt. Im eschatologischen Horizont sind Politik und Glaube unverwechselbar, aber im eschatologischen Horizont kann sich der Glaube auch nicht damit abfinden, das Bestehende als unabänderlich hinzunehmen. Im Horizont des Glaubens an die Verheißung Gottes ist der Christ zu einer theologischen Beurteilung politischer Vorgänge und Zustände herausgefordert. In diesem Sinne ist m. E. der Öffentlichkeitsauftrag der Kirche theologisch zu verstehen und zu begründen. 7. Ein solches theologisches Verständnis des Öffentlichkeitsauftrags kann sich freilich nicht auf den Standpunkt eines von außen her neutral urteilenden Beobachtens stellen. Der Christ nimmt am politischen Leben teil. Er nimmt teil als Christ in der Form der Fürbitte. Das Gebet für die Obrigkeit ist seit dem Neuen Testament oder im 1. Clemensbrief (60,4-61,1) die Form der Teilnahme am politischen Leben, die in jedem staatlichen System möglich ist. 55 Im Gebet bittet der Christ Gott um seine Gegenwart, seinen Kairos. Nicht die Christen schaffen den Kairos, die Stunde. Gott allein schafft ihn. Der prophetische Auftrag der Kirche dürfte daher zuerst darin bestehen, um das Wirken des Geistes Gottes zu bitten und für dieses Wirken den Raum freizuhalten, nicht aber dieses Geistwirken selbst herbeizuführen oder gar künstlich zu veranstalten. Wer für einen Staat betet, kann diesem schwerlich prinzipiell die Mitarbeit 55

Vgl. H.-U. Instinsky, Die Alte Kirche und das Heil des Staates, München 1963. Erstaunlicherweise fehlt in der 5. Barmer These der Hinweis auf die Fürbitte für den Staat (Für Recht und Frieden sorgen, S. 56).

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versagen. Der Geist weht, wo er will. Das Wirken der Geister ist aber zu prüfen (1. Joh. 4,1). So ist die Fürbitte für die politischen Verantwortlichen und das Gebet „Veni creator spiritus" für die Kirche selbst ein Sperriegel gegenüber Selbsttäuschung und Selbstüberschätzung. Die Kirche hat nicht politisch Wunder herbeizuführen, sondern in Solidarität die Nöte der Welt vor Gott zu bringen. Das ist ihr politischer Dienst, ihr Gottesdienst. Gefordert ist vor allem theologische Urteilskraft. Die Überlegungen sind nicht an bekannten Interpretationsmodellen der Zuordnung von Glaube und Politik, sondern an kirchlichen Handlungsvollzügen orientiert. Diese Handlungsvollzüge sind die Kennzeichen der Kirche. 56 Theologisches Urteil fragt nach den Kennzeichen der Kirche. In „Von den Konziliis und Kirchen" 1539 nennt Luther sieben Merkmale der Kirche, nämlich 1. das heilige Gotteswort, 2. das heilige Sakrament der Taufe, 3. das heilige Sakrament des Altars, 4. die Schlüssel, 5. daß man Kirchendiener weiht oder Ämter hat, 6. das Gebet des Volkes, das Gott öffentlich lobt und dankt, und 7. das Heiltum des Heiligen Kreuzes. 57 In der Schrift „Wider Hans Worst" (1541) sind es sogar 11 Kennzeichen der rechten alten Kirche, nämlich außer den bereits genannten, das Apostolische Glaubensbekenntnis, das Vaterunser, das Fasten, das Lob des Ehestandes und daß man weltliche Herrschaft ehrt. 5 8 Zum eigentlichen Auftrag der Kirche gehört somit auch der rechte Umgang mit dem Politischen - nicht die politische Neutralität, Distanzierung oder die kirchliche Usurpation des Politischen und des staatlichen Auftrags.

V. Bisher wurde der kirchliche Auftrag, das Handeln der Kirche so beschrieben, daß daran die politischen Bezüge sichtbar werden. Es wäre nunmehr eingehender über die Vermittlung zwischen Glaube

56

57 58

Vgl. E. Kinder, Der Evangelische Glaube und die Kirche, 2. Aufl., Berlin 1960, S. 103ff. M. Luther, WA 50, S. 638ff. M. Luther,

WA 51, S. 478ff.

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und Politik, die rechte Zuordnung und die notwendige Unterscheidung von Glaube und Politik, von Kirche und Staat zu reden. Das wird in der innerevangelischen Diskussion als Thematik der Zweireichelehre wie der Königsherrschaft Christi diskutiert. 5 9 Beide Leitbegriffe sind lediglich theologische Interpretationshilfen, herme-

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Die Literatur zu Zweireichelehre und Königsherrschaft Christi ist unübersehbar. Zur Zweireichelehre vgl. meine Artikel: Zweireichelehre, in: Evangelisches Soziallexikon, 7. Aufl., 1980, S. 1491-1494; in: Evangelisches Staatslexikon, 3. Aufl., 1987, S. 4112-4124; in: Staatslexikon, 7. Aufl., Bd. 5, 1989, S. 185-1188. Von der Literatur nenne ich: /. Heckel, Lex charitatis. Eine juristische Untersuchung über das Recht in der Theologie Martin Luthers, München 1953, 2. Aufl., Köln 1973. Ders., Im Irrgarten der Zweireichelehre. München 1957. H. H. Schrey (Hrsg.), Reich Gottes und Welt. Die Lehre Luthers von den zwei Reichen, Darmstadt 1969. U. Duchrow, Christenheit und Weltverantwortung. Traditionsgeschichte und systematische Struktur der Zweireichelehre, Stuttgart 1970, 2. Aufl., 1983. G. Sauter (Hrsg.), Zur Zweireichelehre Luthers, München 1973. (Darin die Abhandlungen von H. Diem). M. Honecker, Thesen zur Aporie der Zweireichelehre, in: ZThk, Bd. 78 (1981), S. 128-140. E. Ebeling, Leitsätze zur Zweireichelehre, in: Wort und Glaube, Bd. 3, Tübingen, S. 574-592. M. Honekker, Sozialethik zwischen Tradition und Vernunft, Tübingen 1977, S. 175-278. H. J. Gänssler, Evangelium und weltliches Schwert. Hintergrund, Entstehungsgeschichte und Anlaß von Luthers Scheidung zweier Reiche oder Regimente, Wiesbaden 1983. N. Hasselmann (Hrsg.), Gottes Wille in seiner Welt. Zur Diskussion um die Zweireichelehre, in: Zur Sache - Kirchliche Aspekte heute, Heft 19 und 20, Hamburg 1980. M. Seils, Zweireichelehre heute, in: T. Rendtorff (Hrsg.), Charisma und Institution, Gütersloh 1985, S. 199-210. Zur Königsherrschaft Christi: Vgl. M. Honecker, Art. Königsherrschaft Christi, in: Evangelisches Soziallexikon. 7. Aufl., 1980, S. 725-727. Evangelisches Staatslexikon. 3. Aufl., 1987, S. 1802-1805. G. Forck, Die Königsherrschaft Christi bei Luther, Berlin 1958.W. Schmauch und E. Wolf, Königsherrschaft Christi, in: ThExh NF 64, 1958. E. Wolf, Königsherrschaft Christi und lutherische Zweireiche-Lehre, in: Peregrinatio, Bd. 2, München 1965, S. 207-229. W. Trillhaas, Regnum Christi. Zur Geschichte der Idee im Protestantismus, in: Perspektiven und Gestalten des neuzeitlichen Christentums. Göttingen 1975, S. 64-84. A. Burgsmüller (Hrsg.), Zum politischen Auftrag der christlichen Gemeinde (Barmen II). Votum des Theologischen Ausschusses der EKU, Gütersloh 1974. M. Honecker, Zur Interpretation von Barmen II, in: ZThK, Bd. 69 (1972), S. 72-99. Ders., Theologisches Kriterium und politische Urteilsbildung. Anfragen an das Votum des Theologischen Ausschusses der EKU (Barmen II), in: ZThK, Bd. 71 (1974), S. 456-490. H. W. Schütte, Königsherrschaft Christi. Thesen zur Funktion der politischen Theologie, in: ThExh NF 175,1973, S. 16-28. Ders., Zwei-reiche-lehre und Königsherrschaft Christi, in: Handbuch der christlichen Ethik, Bd. 1, 2. Aufl., Gütersloh 1979, S. 339353.

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neutische Anleitungen. Die Unterscheidung der zwei Reiche hält dazu an, zwischen dem, was der Christ Gott schuldet (coram deo) und dem, was er seinen Mitmenschen schuldet (coram mundo, coram hominibus) recht zu unterscheiden - nicht zu trennen. Das Bekenntnis zur Königsherrschaft Christi hält dazu an, nach den Konsequenzen des Bekenntnisses zum Herrsein Christi für die politische Existenz des Christen zu fragen. Beide Interpretationsmodelle sind ferner keine zeitlosen Lehren, keine umfassenden Theorien über das Verhältnis von Theologie und Politik oder von Kirche und Staat. Sie wurden beide außerdem in der heute gebräuchlichen Form erst konzipiert in der Auseinandersetzung mit dem Absolutheitsanspruch eines totalitären Staates und einer ideologisierten Gesellschaft. Beide Interpretationsmodelle sind somit nur im Kontext von Zeit und Geschichte zu verstehen. Dadurch wurden sie freilich auch zu kirchenpolitischen Bannern im innerevangelischen Streit um das politische Mandat der Kirche. Man kann nicht eines der beiden Interpretationsmodelle auf das andere zurückführen - so als überwölbte die Königsherrschaft Christi die Zweireichelehre oder als ob in der kirchlichen Praxis dann die Unterscheidung der zwei Reiche der Anwendungsfall der Königsherrschaft Christi wäre. In beiden Modellen sind implizit auch unterschiedliche Auffassungen vom Politischen enthalten. Es ist freilich auch zu einfach, die klare Alternative einer Wahl zwischen beiden Modellen zu fordern. 60 Gewiß setzen die Modelle unterschiedliche Akzente. Jedes Modell hat ferner seine spezifischen Vorzüge und Schwächen. Die Zweireichelehre tendiert im politischen Bereich zur Hinnahme des Bestehenden und zur politischen Anpassung; die Proklamation der Königsherrschaft Christi tendiert zur politischen Kritik aus prophetischer Vollmacht und zu einer utopischen und theokratischen Programmatik. Beide Interpretationsmodelle sind also der gegenseitigen Korrektur bedürftig. Eine realistische Auffassung von Staat und Politik bestimmt die staatlichen Aufgaben nicht anhand eines theologischen Modells. Aus dem Grunde kann man zwar Verständnis für Konzeptionen einer „Politischen Theologie" haben, die mit Recht die politische Auswir-

60

J. Rogge und H. Zeddies (Hrsg.), Kirchengemeinschaft und politische Ethik. Ergebnis eines theologischen Gespräches zum Verhältnis von Zwei-Reiche-Lehre und Lehre von der Königsherrschaft Christi, Berlin 1980.

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kung jeder Theologie reflektieren will 61 ; aber diese Intention vertritt man besser indirekt. Dasselbe gilt auch für die mithilfe eschatologischer Zeitdeutung theologisch begründete und legitimierte Vorstellung von einer Gesellschaftsdiakonie, welche das Verhältnis von Kirche und Welt in eine eschatologische Geschichtsdeutung übersetzt. 62 Die Aufgabe, zwischen kirchlichem Auftrag und politischem Handeln zu vermitteln, hat zudem zwei Perspektiven. Die eine Perspektive ist die des praktischen Verfahrens, eines nachvollziehbaren Vermittlungsprozesses. Die andere Perspektive ist die grundsätzliche des Zusammenhangs von Glaube und politischer Realität. Beide Perspektiven erörtert die Denkschrift der EKD „Aufgaben und Grenzen kirchlicher Äußerungen zu gesellschaftlichen Fragen", 1970. Diese Denkschrift war eine Antwort auf die öffentliche Kritik an der Ostdenkschrift, soweit diese Kritik die kirchliche Kompetenz zu öffentlichen Äußerungen anzweifelt. Die Denkschriften-Denkschrift beantwortet m.E. die pragmatischen Fragen nach Zuständigkeiten

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Politische Theologie vgl.: S. Wiederhofen Staatslexikon, Bd. 4, 7. Aufl., 1988. Zu nennen sind aus der Fülle der Literatur zur neueren Diskussion v.a.: / . ß. Metz, Zur Theologie der Welt, Mainz 1968. H. Peukert (Hrsg.), Diskussion zur Politischen Theologie, München 1969. G. E. Kafka und U. Matz, Zur Kritik der politischen Theologie, in: Rechtsund staatswissenschaftliche Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft, NF 11, Paderborn 1973. H. Maier, Kritik der politischen Theologie, Einsiedeln 1970. R. Weth, Die gegenwärtige „politische Theologie". Orientierung und Versuch einer Gegenüberstellung zur 2. Barmer These, in: A. Burgsmüller (Hrsg.), Zum politischen Auftrag der christlichen Gemeinde (Barmen 2). Votum des Theologischen Ausschusses der EKU, Gütersloh 1974, S. 94-126. S. Wiedenhofer, Politische Theologie, Stuttgart 1970. /. Taubes (Hrsg.), Religionstheorie und Politische Theologie. 3 Bände, München 1983-1987. J. Moltmann, Politische Theologie - Politische Ethik, Mainz 1984.W. Ockenfels, Politischer Glaube? Zum Spannungsfeld zwischen katholischer Soziallehre und Politischer Theologie, Bonn 1987. Den Begriff Gesellschaftsdiakonie benutzte v.a. H. D. Wendland, Botschaft an die soziale Welt, Hamburg 1959. Ders., Die Kirche in der revolutionären Gesellschaft, Gütersloh 1967, S. 175-180. Zum Recht des Begriffs .gesellschaftliche Diakonie' vgl. meine Besprechung in: Theologia Practica 5, 1970, S. 165172. H. D. Wendland, Art. Diakonie, gesellschaftliche, in: Evangelisches Soziallexikon. 7. Aufl., 1980, S. 247f. P. Heyde, Die gesellschaftliche Diakonie als Aufgabe der Kirche, in: H. D. Wendland (Hrsg.), Sozialethik im Umbruch der Gesellschaft, Göttingen 1969, S. 294-304.

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und Verfahren überzeugend. 63 Sie folgt im Aufbau den alten „rhetorischen" Elementen der „inventio" im Rhetorikunterricht: „qui, quid, quibus auxiliis, cur, quomodo, quando". 6 4 Die Fragen nach formalen Zuständigkeiten, danach, wer redet und formal autorisiert ist, nach dem richtigen Zeitpunkt, nach dem Adressaten, nach dem geordneten Verfahren sind zwar wichtig und gut erörtert. Aber sie sind letztlich nicht entscheidend. Die Antwort auf die grundsätzliche Frage nach der inneren theologischen Legitimation politischer Äußerungen der evangelischen Kirche überzeugt nicht durchweg. Das Unbefriedigende besteht darin, daß die Denkschrift lediglich additiv einen lutherischen oder auch liberalen kulturprotestantischen Standpunkt mit einem barthianischen christokratischen Standpunkt zusammenfügt und verbindet. Die eine Sicht auf dem Boden der Zweireichelehre erwartet von der Kirche einen Beitrag im partnerschaftlichen Dialog zwischen den gesellschaftlichen Kräften. Im Dialog kommt es bei konkreten Forderungen allein auf die vernünftige Überzeugungskraft der Sachargumente an. Die andere Sicht beruft sich dagegen auf ein umfassendes Verständnis des Verkündigungsauftrags der Kirche, heute würde man von einem „prophetischen" Mandat sprechen, und stützt sich auf die Autorität geistlicher Legitimität. Beide Ansätze stehen in der Denkschrift letztlich unverbunden nebeneinander. Hinter dieser Unentschiedenheit steht die ungeklärte Frage, ob das Evangelium als Heilswort, Rechtfertigungszusage ein politisches Programm enthält oder nicht, also ob es einen politischen Gebrauch des Evangeliums, einen usus politicus evangelii gibt. 65

63

Vgl.: M. Honecker, Kriterien öffentlicher Äußerungen der Kirche. Politisches Reden der Kirche, in: Sozialethik zwischen Tradition und Vernunft, Tübingen 1977, S. 63-100. Ders., Welche Legitimation haben Kirchen zu politischen Äußerungen?, ebd. S. 41-62. Sind Denkschriften .kirchliche Lehre'?, in: ZThK, Bd. 81 (1984), S. 93-98. Lehraussagen und Sachautorität in evangelischen Denkschriften, in: A. Auer (Hrsg.), Die Autorität der Kirche in Fragen der Moral, München, Zürich 1984, S. 33-52. Vgl. auch: H. Schröer, Art. Denkschriften, kirchliche, in: TRE, Bd. 8 (1981), S. 493-499.

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zit. nach K. Fröhlich, Art. Bibelkommentare - Zur Krise einer Gattung, in: ZThK, Bd. 84 (1987), S. 465-492. G. Ebeling, Usus politicus legis - usus politicus evangelii, in: Umgang mit Luther, Tübingen 1983, S. 131-163 und ZThK, Bd. 79 (1982), S. 323-348.

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Die Denkschrift behilft sich angesichts dieser ungelösten Streitfrage weitgehend mit Abgrenzungen gegenüber einer Privatisierung des Glaubens wie gegenüber einer Politisierung des kirchlichen Auftrags. Sie ist in dieser Hinsicht ein typisches Beispiel eines kirchlichen Konsenstextes, der vieles aufnimmt und zusammenstellt, aber gerade dadurch letztlich wenig klärt. An diesem Text kann man grundlegende Verlegenheiten der Fragestellung des Themas verdeutlichen. Ein weiteres Votum des Theologischen Ausschusses der Arnoldshainer Konferenz „Möglichkeiten und Grenzen eines politischen Zeugnisses der Kirche und ihrer Mitarbeiter", 1982, ist zweifellos ein Stück weit hilfreich bei der Regelung praktischer Fragen, wie der Teilnahme von Pfarrern im Talar bei Demonstrationen, dem Verhalten von Kirchengemeinderäten, Presbyterien in politischen Konflikten und gibt praktische Erwägungen für das pastorale Handeln. 66 Aber die Grundsatzfragen werden dort nicht aufgegriffen. Vermutlich kann man nämlich diese Grundsatzfragen gar nicht theologisch abschließend klären. 67 Gerhard Ebeling betont zu Recht: „Die Sache des christlichen Glaubens ist nicht Politik. Wohl aber schärft der christliche Glaube die Mitverantwortung für Politik. Seine Wahrheit erfüllt sich nicht im politischen Handeln. Doch auch in ihm hat sich der christliche Glaube zu bewähren." 68 Der Glaube kann „nicht etwa als eine Art Superpolitik die Probleme lösen". 69 Politische Mitsprache setzt nämlich Einblick in die Probleme und Sachverhalte voraus. Dies gilt gerade für die Erfüllung konkreter staatlicher Aufgaben. Fehlt es an Sachkunde, so führt ein Hang zum Konfessorischen in christlichen und kirchlichen Äußerungen zu einer bloßen Moralisierung politischer Sachverhalte. Angesichts einer Hypertrophie des Politischen einerseits, also der Erwartung, politische Aktivitäten und ein allzuständiger Staat vermöchten und müßten alle Probleme lösen, und einer durchgängigen Moralisierung des

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68 69

Vgl. Zur Bewertung konkreter Sachverhalte auch: G. Flor, Politische Aktion. Kirche und Recht. Eine Hilfe für das Verhalten bei politischen Aktionen, Berlin 1987. G. Ebeling, Wort und Glaube III, Tübingen 1975. Darin: S. 593-610, Kirche und Politik, S. 611-634, Kriterien kirchlicher Stellungnahmen zu politischen Problemen. A.a.O., S. 593. A.a.O., S. 603.

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Politischen andererseits im Blick auf die Kompliziertheit der Sachverhalte wie der Dringlichkeit einer Lösung, die doch nur eine Näherungslösung sein kann, schlägt die Erwartung an die Politik oft genug in „Ohnmachtserfahrungen" um. Solche Ohnmachtserfahrungen erinnern den Glauben daran, daß das Maß des Glaubens gerade nicht der Erfolg ist und daß für den Glauben das Leiden und die Erfahrung der Machtlosigkeit, der Ohnmacht geradezu konstitutiv sind. „Hier kann das Gebet seine indirekte politische Relevanz erweisen. Wie sich denn überhaupt der Christ dessen bewußt sein sollte, daß gerade die unpolitische Wahrnehmung von Weltverantwortung in der Art, wie man über Grundfragen des Lebens denkt und sich äußert und wie man auf die Atmosphäre seiner Umwelt einwirkt, von wesentlicher politischer Bedeutung ist. Darum kann gerade auch ein, äußerlich beurteilt, unpolitischer Gottesdienst indirekt eine eminent wichtige politische Funktion ausüben". 70 Mit der Erinnerung an die indirekte Bedeutung des Gottesdienstes sind freilich noch keine Kriterien zur Abgrenzung von staatlicher und kirchlicher Zuständigkeit und zur Unterscheidung von geistlichen weltlichen Angelegenheiten, von corporalia und spiritualia benannt. Kriterien sollen eine objektivierbare Prüfung ermöglichen. Bei der Abgrenzung von kirchlichem Auftrag und staatlichen Aufgaben greifen nun in ungewöhnlich komplizierter Weise theologische und nicht-theologische Gesichtspunkte, normative Wertungen und geschichtliche Erfahrungen ineinander. Grenzüberschreitungen sind folglich oft schwer zu vermeiden. Die Fragen, was ist rechtlich zulässig, was ist politisch tunlich und angebracht, was ist christlich begründet, läßt sich außerdem zumeist überzeugend nur in der jeweiligen konkreten Situation beantworten. Man spricht dann sowohl von Gewissensentscheidungen wie von Ermessensentscheidungen. Auch diese Entscheidungen müssen sich freilich auf ihre guten Gründe hin befragen lassen. Kirchliche Äußerungen und Handlungen können dabei nie rein politisch begründet werden. Christlich vertretbar sind sie nur dann, wenn ein den politischen Sachverhalt transzendierender Bezug auf den christlichen Glauben und auf dessen Grund im Evangelium erkennbar wird. In diesem Sinne sind kirchliche Stellungnahmen zu politischen Fragen

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A.a.O., S. 608.

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an einem doppelten Maßstab zu prüfen: Sie unterliegen den Kriterien der Christlichkeit und den Kriterien der Sachgemäßheit. 71 Die Christlichkeit einer kirchlichen Äußerung ist noch nicht schon durch die formale biblizistische Berufung auf die Schriftgemäßheit sichergestellt. Sie ist vielmehr theologisch sachhaltig, materiell zu belegen. Die Kriterien der Sachgemäßheit sind in sich differenziert; dabei geht es um die Beurteilung dessen, was sachlich geht, realisierbar ist, als auch um die Frage, was menschlich geht, human verträglich, menschlich vernünftig und zumutbar ist. Die konkrete Anwendung der beiden Kriterien auf unterschiedliche Lagen und Verhältnisse hin, ist höchst vielfältig und variabel. 72 Das zeigt jeder historische wie aktuelle Vergleich der Beziehungen von Kirche und Staat. Die Stellung der Kirche ist in einer rechtsstaatlichen Demokratie anders als in einer totalitären Diktatur. Die Staatstätigkeit ist in einer funktionierenden rechtsstaatlichen Demokratie mit demokratischer Kultur und sozialstaatlicher Sicherung eine andere als in einem allenfalls verbal rechtsstaatlichen Staat und in einer sozial völlig desintegrierten Gesellschaft. Die von den Christen und Kirchen erwartete kritische Solidarität gestaltet sich hier ganz unterschiedlich. Das Perplexe am Staat ist freilich die Tatsache, daß er Sünde und Vorsehung, im Sinne der Verwirklichung des Erhaltungswillens Gottes, gleichzeitig verkörpert. 73 Auch ein Unrechtsregime ist jedoch nie so total und perfekt, daß es nicht doch noch ein Minimum an Staatlichkeit gewährleistet. Auf der anderen Seite gibt es auch keinen absolut perfekten Rechtsstaat. Dieses Minimum kann freilich dem Christen und der Kirche gerade nicht genügen.

VI. Am Ende sind deswegen noch einmal prinzipiell die Grenzen staatlichen und kirchlichen Handelns im Blick zu nehmen. Es ist dazu noch einmal an die Verwerfungssätze der Barmer Erklärung zu erinnern. Zunächst zum Verwerfungssatz gegenüber dem Staat: „Wir 71

A.a.O., S. 621 ff.

72

Vgl. auch: W. Schweitzer (Hrsg.), Das Zeugnis der Kirche in den Staaten der Gegenwart, Frankfurt/Main 1979.

73

So Bruce Douglas zitiert bei W. Schweitzer,

a.a.O., S. 93.

54

Der Auftrag der Kirche und die Aufgabe des Staates

verwerfen die falsche Lehre, als solle und könne der Staat über seinen besonderen Auftrag hinaus die einzige und totale Ordnung menschlichen Lebens werden und also auch die Bestimmung der Kirche erfüllen." Die Kirche muß jedem Anspruch auf Vergötzung des Staates widerstehen. Das ist seit der Urkirche die Tradition der Märtyrer, die einem pervertierten Staat den Gehorsam verweigerten. Diese Kritik staatlichen Totalitarismus und totalitärer Ideologien hat im 20. Jahrhundert erneut eine beklemmende neue Aktualität bekommen. Die Kirche hat ferner der Verweigerung politischer Freiheit und sozialer Gerechtigkeit im Staat entgegenzutreten. Dies führt sowohl in der römisch-katholischen Kirche wie im ökumenischen Protestantismus zum theoretisch geforderten und praktisch ausgeübten Eintreten für die Achtung der Menschenrechte theologisch.74 Die Kirche ihrerseits erinnert, wie es die Barmer Erklärung ausdrückt, „an Gottes Reich, an Gottes Gebot und Gerechtigkeit und damit an die Verantwortung der Regierenden und Regierten". Sie hält damit an der Nicht-Perfektibilität des Politischen fest. Die Kirche weiß aufgrund ihres Glaubens um die Tiefe des Bösen und die Macht der Sünde, die sich am Kreuz Jesu Christi offenbart, und sie bezeugt den Sieg der Macht Gottes über das Böse, die Erlösung, die ebenso am Kreuz offenbar und in der Auferstehung vollzogen wurde. Die Botschaft des Evangeliums relativiert damit alles staatliche und politische Handeln. Es geschieht „in der noch nicht erlösten Welt". Damit ist politsches Handeln heilsam relativiert. Der Glaube befreit somit 74

Vgl. Kirche und Menschenrechte: Die Kirche und die Menschenrechte. Ein Arbeitspapier der Politischen Kommission Iustitia et Pax, in: Entwicklung und Friede 5, 1975. J. Schwartländer (Hrsg.), Menschenrechte - eine Herausforderung der Kirche, München 1979. O. Höffe u.a., Johannes Paul II. und die Menschenrechte, Freiburg (Schweiz) 1981. F. Furger und C. Strobel-Neppe, Menschenrechte und katholische Soziallehre, Freiburg 1985. Die Menschenrechte im ökumenischen Gespräch. Beiträge der Kammer der EKD für öffentliche Verantwortung, Gütersloh 1979. J. M. Lochman und J. Moltmann (Hrsg.), Gottes Recht und Menschenrechte, Stuttgart 1977. W. Huber und H. E. Tödt, Menschenrechte, Perspektiven einer menschlichen Welt, Stuttgart 1 9 7 7 , 2 . Aufl., 1978. M. Honecker, Das Recht des Menschen. Einführung in die evangelischen Soziallehre, Gütersloh 1978. Umfassend: M. Heckel, Die Menschenrechte im Spiegel der reformatorischen Theologie. Abhandlungen der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse 87,4, Heidelberg 1 9 8 7 und Gesammelte Schriften, Bd. II, Tübingen 1990, S. 1 1 2 2 - 1 1 9 3 .

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55

das staatliche Handeln dazu, sich am Sachgerechten und Menschengerechten auszurichten. Er schafft Freiräume, indem er das Politische gerade nicht absolut setzt, zum Selbstzweck erhebt und damit den Totalitätsanspruch von Staat und Politik stört, ja zerstört. Um diese Aufgabe wahrnehmen zu können, muß freilich die Kirche ihrerseits zur Selbstbegrenzung fähig sein. Der Verwerfungssatz der Barmer Erklärung warnt daher die Kirche ebenfalls ihrerseits vor Grenzüberschreitungen: „Wir verwerfen die falsche Lehre, als solle und könne sich die Kirche über ihren besonderen Auftrag hinaus staatliche Art, staatliche Aufgaben und staatliche Würde aneignen und damit selbst zu einem Organ des Staates werden." Die Kirche, die sich vom Staat instrumentalisieren läßt oder für sich selbst politische Autorität beansprucht, zerstört ihre eigenen Grundlagen. Sie pervertiert die geistliche Autorität in eine legitimatorische Ideologie. Die Kirche soll Zeuge der Wahrheit des Evangeliums sein. Deshalb hat sie einem Staat zu widerstehen, der keinen Freiraum für die Wahrheit läßt und eine Wahrheitsordnung einfordert. Aber die Kirche bezeugt selbst nur die Wahrheit; sie verwaltet sie nicht und verfügt nicht über die Wahrheit. Darum ist ihr grundsätzlich verwehrt, für sich selbst politische Macht zu beanspruchen oder sich aktiv oder passiv den Mächtigen, dem Staat anzupassen. Nur eine freie, dem Staat gegenüber unabhängige Kirche, kann ihren Auftrag recht wahrnehmen. Gegenüber dem Staat hat christlicher Glaube daher nicht die eigene christliche Macht einzuklagen, sondern für die Freiheit einzutreten, nämlich für die Freiheit zur Wahrheit und für die Freiheit zum Dienst an den Mitmenschen.75 Diese Freiheit verwirklicht sich freilich gerade nicht in einer Flucht aus der Welt des Politischen, in prinzipieller Distanz zum Staat, sondern in der rechten Wahrnehmung der Beziehung zum Staat, also in einer Unterscheidung von kirchlichem Auftrag und staatlichen Aufgaben. In diesem Sinne ist recht verstandene Kirchenpolitik zulässig, sogar notwendig.76 Mit Kirchenpolitik bezeichnet man drei ganz unterschiedliche Handlungskomplexe: Zunächst ein-

75

G. Ebeling,

76

/. Mehlhausen, Kirchenpolitik. Erwägungen zu einem wesentlichen Wort, in: ZThK, Bd. 85 (1988), S. 2 7 5 - 3 0 2 .

a.a.O., S. 634.

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mal fällt darunter das staatliche Einwirken auf die Kirche (staatliche Kirchenpolitik), sodann ein Einwirken der Kirche auf den Staat (kirchliche Kirchenpolitik) und schließlich die innere Auseinandersetzung mit Politik oder mit politischen Mitteln in der Kirche selbst (innerkirchliche Kirchenpolitik). Die handelnden Subjekte sind dabei ebenso verschieden wie die Objekte, an die sich Kirchenpolitik wendet, wie die Ziele und die Maßstäbe. Je nachdem wer wie mit welchen Zielen und mit welchen Mitteln politisch Einfluß zu nehmen versucht, unterscheidet sich daher die Färbung des Begriffs Kirchenpolitik. Nur wenn überhaupt keinerlei Beziehung zwischen Kirche und Staat besteht und nur wenn Politik in der Kirche selbst gar nicht vorkommt, gibt es überhaupt keine Kirchenpolitik. Man sollte deshalb einen abqualifizierenden Umgang mit dem Wort Kirchenpolitik nicht zulassen. Im Spannungsfeld zwischen christlichem Glauben und politischer Macht kann man nicht auf Kirchenpolitik als solche verzichten. Zu erörtern ist allein, inwieweit und ob eine bestimmte Kirchenpolitik politisch und theologisch vertretbar ist. Echte Kirchenpolitik ist nicht auf Strategie und Taktik zu reduzieren; sie fordert Grundsatzentscheidungen. Kirchenpolitik ist, um Wilhelm Kahl zu zitieren, der „Inbegriff der Grundsätze über das richtige und zweckmäßige Handeln bei Gestaltung der Rechtsverhältnisse zwischen Staat und Kirche sowie der Gemeinschaftsordnung innerhalb der Kirche selbst". 77

VII. Folgerungen für Kirchenpolitik und Staatskirchenrecht seien abschließend nur noch wenigstens erwähnt. Die deutsche Einheit hat bislang noch nicht abgeschlossene Auswirkungen, auch wenn das Staatskirchenrecht der Bundesrepublik Deutschland auch in den neuen Bundesländern übernommen wurde. Umstritten ist vor allem die Präsenz der Kirche in der Schule und der konfessionell gebundende Religionsunterricht; die Debatte wird besonders heftig in Brandenburg um das staatlich eingeführte Fach LER (Lebenskunde -

77

W. Kahl, Lehrsystem des Kirchenrechts und der Kirchenpolitik, 1. Teil, Freiburg, Leipzig 1894. S. VI.

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Ethik - Religion) geführt. Sind kirchliche, evangelische Schulen in dieser Lage eine Alternative, wenn eine ideologische Zwangsindoktrination durch den Staat nicht ausgeschlossen ist? Wie sind diese Schulen jedoch zu finanzieren? Damit stellt sich das Problem der Kirchensteuer und des Kirchensteuereinzugsverfahrens wie der Staatsleistungen an die Kirchen. Neben dem Religionsunterricht stellen theologische Fakultäten an staatlichen Hochschulen und das Mitwirkungsrecht von Kirchenleitungen bei der Berufung von Professoren und Dozenten eine schwierige Streitfrage im Überschneidungsfeld von Staat und Kirche dar. Auch die Stellung und Vertretung der Kirche in den Medien oder die Anstaltsseelsorge, Militärseelsorge, Seelsorge bei der Polizei, Gefängnisseelsorge sind nur in vertrauensvoller Kooperation von Staat und Kirche zu regeln. Ein besonders umfangreiches, aber auch komplexes Gebiet ist die Stellung der Diakonie im Rechtssystem des Sozialstaates. Wieweit trägt der Grundsatz der Subsidiarität? Sozialstaat und kirchliche Diakonie sind wie in einem System kommunizierender Röhren miteinander verbunden. Sowohl Sozialstaat wie Diakonie stehen vor einem Wandel. Der Auftrag der Kirche wie die staatlichen Aufgaben stehen angesichts veränderter politischer Bedingungen in Europa, aufgrund des gesellschaftlichen Wandels und wegen Veränderungen im Wertebewußtsein vor neuen Herausforderungen. In dieser Situation ist einerseits Kirchenpolitik notwendig, andererseits aber bedarf es einer theologischen Orientierung, welche historische Erfahrungen und theologische Erkenntnisse gegenwärtig erschließt.

3. Evangelische Theologie vor dem Staatsproblem Der Vortrag vor der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften 1981 beleuchtet eine Fragestellung in der jüngsten Geschichte deutscher evangelischer Theologie. Das Verhältnis des deutschen Protestantismus zum Staat ist auch nach 1989 nach wie vor von der Geschichte her belastet, zwiespältig und unsicher. Deshalb sind die folgenden Überlegungen m.E. keineswegs durch die historische Entwicklung überholt. Vom Staat innerhalb der Ethik evangelischer Theologie heute sachgerecht zu reden, ist ein ungewöhnlich schwieriges Unterfangen. Wie kann nämlich evangelische Theologie überhaupt zu einem theologischen Urteil über politische Wirklichkeit gelangen? Die Botschaft des Neuen Testaments enthält bekanntlich keine Staatslehre und kein politisches Programm. In der kirchlichen Lehre ist deshalb das Staatsverständnis traditionell auf der Grundlage vernünftiger Überlegungen, beispielsweise des Naturrechts, entfaltet worden. Das Verständnis des Staates stellt somit ein gewichtiges Beispiel dar für die Beziehung, aber auch Unterscheidung zwischen Ethik und Theologie. Christlicher Glaube bezieht sich auf Gott als das Geheimnis der Wirklichkeit. Daraus sind jedoch gerade keine konkreten Handlungsanweisungen abzuleiten. Das Bekenntnis zu Gott nötigt aber dazu, das Verhältnis des Glaubens zur politischen Realität mitzubedenken. Der Glaube an Gottes Macht ist also zu beziehen auf menschliche Erfahrungen mit Macht. Menschliche Erfahrungen mit Macht sind freilich stets geschichtlich geprägte Erfahrungen. Dies gilt auch und gerade für den Staat als Inbegriff der Institutionalisierung von Macht. Solche Nötigung zur Unterscheidung von theologischem Urteil, ethischer Einsicht und politisch-geschichtlicher Realität macht es so schwierig, theologische Kriterien für eine christliche Stellung zum Staat aufzuzeigen. Diese Schwierigkeit will ich in drei Schritten verdeutlichen: Zunächst ist die Situation zu beschreiben, welche theologische Besinnung auf den Staat in der evangelischen Christen-

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Evangelische Theologie vor dem Staatsproblem

heit in Deutschland vorfindet. Sodann sind im Umriß theologische Ansätze vorzustellen, mit deren Hilfe eine Erfassung dieser geschichtlichen Situation vorgenommen wurde. Schließlich ist die Grundfrage zu erörtern, vor welche Erkenntnisse und Aporien diese Ansätze führen. 1. Der geschichtliche Hintergrund des Staatsproblems Martin Luther hatte sich 1526 gerühmt, daß seit der Apostel Zeit das weltliche Schwert und Obrigkeit niemals so klar beschrieben und herrlich gepriesen worden sei, wie sogar seine Feinde bekennen müßten1. Der Reformator wollte sich mit dieser Erklärung damals gegen den Vorwurf verwahren, seine Lehre richte sich aufrührerisch gegen die Obrigkeit. Damit verglichen lassen es heutige Stimmen aus evangelischer Theologie und Kirche zweifelhaft werden, ob von der Theologie sinnvollerweise theologische Aussagen zum Staat überhaupt gemacht werden können. Wolfgang Trillhaas, ein lutherischer Theologe, urteilte 1956, „daß bis zur Stunde die Demokratie für sie (sc. die lutherische Theologie) das eigentlich unbewältigte Thema darstellt"2. Die reformatorischen Gedanken über die weltliche Gewalt reichen kaum noch aus „zur Bewältigung unserer heutigen Staatsprobleme". Bischof Otto Dibelius, der Ratsvorsitzende der EKD, ein konservativer Mann, hat zeit seines Lebens - und nicht erst in der Obrigkeitsdebatte 1959 - den modernen Staat als einen Leviathan bezeichnet, dem die Kirche widerstehen muß3. Der Staat tritt in diesem Bild von politischer Wirklichkeit nur als der natürliche Feind Christi in Erscheinung. 1

M. Luther, Ob Kriegsleute auch in seligem Stand sein können, 1526, WA 19, 6 2 5 , 15-17.

2

W. Trillhaas, Die lutherische Lehre von der weltlichen Gewalt und der moderne Staat, in: H. Dotnbois/E. Wilkens, Macht und Redet. Beiträge zur lutherischen Staatslehre der Gegenwart, 1956, S. 22-33; Zitat: S. 26. Vgl. ferner: T. Rendtorff, Staat und Gesellschaft im deutschen Protestantismus der Gegenwart, in: H. Pflaumer (Hg), Demokratische Traditionen im Protestantismus, 1969, S. 5 0 - 8 2 . Rendtorff kritisiert, daß „die lutherische Sozialethik zur reinen Staatslehre mit theologischem Übergewicht" sich entwickelt habe (S. 72).

3

Vgl. K. Scholder, O.Dibelius (1880-1980), ZThK 78, 1981, S. 9 0 - 1 0 4 . Ferner: O. Dibelius, Grenzen des Staates, 1949: Dokumente zur Frage der Obrigkeit. ,Violett-Buch' zur Obrigkeitsschrift von Bischof D. Dibelius, 1 9 6 0 (1963 3 ), darin: S. 2 1 - 3 1 a O. Dibelius, Obrigkeit? (1959).

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61

Man kann diesen Wandel im Staatsverständnis anhand der Auslegungsgeschichte von Römer 13 in unserer Zeit veranschaulichen, wie dies der Exeget Ernst Käsemann eindrucksvoll getan hat. 4 Der hier eingeschlagene Weg geht umgekehrt vor und sieht zunächst einmal im geschichtlichen Wandel einen Anstoß für die Veränderungen auch theologischer Ethik. Dabei sind freilich zwei grundsätzliche Einsichten aus der bisherigen theologischen Diskussion festzuhalten: a) Evangelischer Glaube verfügt nicht über eine zeitlos gültige, in sich geschlossene Staatslehre. Die wenigen Bezüge im Neuen Testament waren zeit- und situationsbedingt durch die damaligen staatlichen Gegebenheiten. Daher kann heute eine ethische Antwort nur gegeben werden als Reaktion auf Herausforderungen und Probleme, die ihr gestellt sind. Man muß deshalb die Fragen kennen, auf welche die Antworten sich beziehen. Dabei wird dann jeweils zu prüfen sein, ob die Antworten mehr als rein zeitbedingte Elemente und Aussagen enthalten, ob also ausschließlich die historische Situation die Antworten bestimmt. Ethik ist dabei mehr als Paränese, welche den Christen in konkreten Situationen anspricht. Sie drängt zu Einsichten, die über die Situation hinausreichen. b) Theologische Reflexion auf das Staatsverständnis setzt stets Aussagen über das Verhältnis von Kirche und Staat voraus. Das Verhältnis von Staat und Kirche prägt sich zunächst einmal aus im Staatskirchenrecht. 5 Aber es greift weit über die institutionelle Ordnung der Beziehungen von Staat und Kirche hinaus und umfaßt die gesamte Einflußnahme der Kirche auf das politische Geschehen in ihren vielfältigen Formen. Von diesem Aspekt muß hier abgesehen werden, wenngleich er den Hintergrund aller Überlegungen zum Staatsverständnis bildet. Ehe die theologischen Antworten und deren Argumente vorgestellt werden können, auf die meine Überlegungen sich konzentrieren werden, sind jedoch in ganz groben Umrissen die entscheidenden

4

E. Käsemann, Römer 13,1-7 in unserer Generation, ZThK 56, 1959, S. 3163 1 7 ; vgl. ders.: Grundsätzliches zur Interpretation von Römer 13, in: Exegetische Versuche und Besinnungen II, 1964, S. 2 0 4 - 2 2 2 .

5

Vgl. dazu umfassend: E. Friesenhahn/U. Scheuner (Hg), Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 1974, Bd. II, 1975.

62

Evangelische Theologie vor dem Staatsproblem

Wendepunkte der politischen und kirchlichen Geschichte in Erinnerung zu rufen. Für Ernst Käsemann stellt der Kirchenkampf die entscheidende Zäsur dar. Man wird jedoch weiter zurückgreifen müssen. Der Sturz der Monarchie 1918 in Deutschland erschütterte auch die Grundlagen der evangelischen Kirche: Seit dem Reformationsjahrhundert war die kirchliche Verfassung im landesherrlichen Kirchenregiment mit der staatlichen Verfassung eng verbunden. Die Forderung der Trennung des Staates von der Kirche traf deshalb die evangelische Kirche ungleich stärker als die katholische, deren Hierarchie in einer Weltkirche Rückhalt finden konnte. Die das 19. Jahrhundert bestimmende Idee eines universalen christlichen Staates war freilich schon zuvor durch Rudolph Sohm und die Lutherforschung erschüttert worden. 6 Die Unterscheidung von Staat und Kirche war anerkannt. Eine radikale Trennung wurde aber nur von Außenseitern befürwortet. Man kann die Stimmung nicht besser einfangen als durch die Worte eines hohen kirchlichen Amtsträgers auf dem ersten Deutschen Evangelischen Kirchentag in Dresden 1919: „Die Herrlichkeit des deutschen Kaiserreichs, der Traum unserer Väter, der Stolz jedes Deutschen ist dahin. Mit ihr der hohe Träger der deutschen Macht, der Herrscher und das Herrscherhaus, das wir als Bannerträger deutscher Größe so innig liebten und verehrten... Das deutsche Volk, durch unabsehbare Opfer an Gut und Blut, durch vierjähriges Hunger leiden in eine Umwälzung aller öffentlichen Verhältnisse hineingestürzt, liegt gebrochen am Boden und blutet noch immer aus tausend Wunden. In diesen Zu-

6

Vgl. dazu: E. Foerster, Unsinn und Sinn des „Christlichen Staates", Vorträge der theologischen Konferenz zu Gießen. 47. Folge, 1932; R. Sohm, Wesen und Ursprung des Katholizismus, 2. Aufl. 1912, S. 2 8 Anm. 17: „Ebensogut wie von einem „christlichen" (d.h. religiösen) Körperschaftsbegriff könnte man von dem christlichen Begriff eines Schießgewehrs sprechen. Aber durch den Katholizismus sind wir so an die Vermengung des Christlichen (Religiösen) mit dem Rechtlichen (Weltlichen) gewöhnt, daß der innere Selbstwiderspruch, der in dem Begriff eines „christlichen Staates" und „christlichen Rechts" liegt, gar nicht mehr empfunden zu werden pflegt." K. Holl, Luther. Gesammelte Aufsätze I, 2 + 3 , 1923, S. 347: „Einen christlichen Staat kennt Luther ebensowenig wie ein christliches Schusterhandwerk" S. 266. „Für Luther ist und bleibt eine christlich-weltliche Ordnung ein Widerspruch in sich." Vgl. außerdem: M. Baumotte, Friedrich Julius Stahls und Richard Rothes Version des .christlichen Staates', in: W.-D. Marsch (Hg), Die Freiheit planen, 1971, S. 173-188.

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63

sammenbruch ist die evangelische Kirche der deutschen Reformation tief hineingezogen." 7 Beim Zusammenbruch des Kaiserreiches galt deswegen die erste Sorge der Organisation der Kirchenverfassung und der Sicherung des kirchlichen Bestandes. Die Gegensätze betrafen allerdings nicht einfach die neue Bestimmung des Verhältnisses von Staat und Kirche im Staatskirchenrecht. Sie reichten tief in das Staatsverständnis hinab. Diese bis heute fortwirkende theologische Differenz vergegenwärtigt man sich am leichtesten zunächst einmal anhand eines Vergleiches zweier Antipoden, die bereits nach dem Ende des ersten Weltkrieges ihren Gegensatz in örtlicher Nachbarschaft in Göttingen herausarbeiteten: Emanuel Hirsch und Karl Barth. Emanuel Hirsch repräsentiert eine auf den deutschen Idealismus, vor allem auf Fichte sich berufende, an der Idee des Nationalen ausgerichtete, radikale Politische Theologie. 8 Karl Barth repräsentiert dagegen die ebenso radikale Infragestellung der politischen Wirklichkeit im Namen der Eschatologie, des Einbruches des Reiches Gottes. Emanuel Hirsch hat in seiner Programmschrift „Deutschlands Schicksal. Staat, Volk und Menschheit im Lichte einer ethischen Geschichtsansicht" 1920 aus der Krise des deutschen Volkes und Staates bereits die Folgerung gezogen, der Staat sei eine Schöpfungsordnung 9 , die jeweils ihre geschichtliche Bestimmung finden müsse. Erst im staatlichen Dasein überwinde die menschliche Natur ihre rohe, wilde Selbstsucht. „Nur innerhalb der staatlichen Ordnung ist eine Erhebung über die Tierheit möglich." 1 0 Die Rechtsordnung des Staa7

8

9

10

D. Moeller, Kirche und Monarchie. Ansprache auf dem ersten Deutschen Evangelischen Kirchentag, in: Dresden 1919, zitiert nach: Karl Kupisch, Quellen zur Geschichte des deutschen Protestantismus, 1960, S. 143f. Vgl. dazu: G. Schneider-Flume, Die politische Theologie Emanuel Hirschs 19181933; Europäische Hochschulschriften XXIII, 5, 1971. Dies., Kritische Theologie contra theologisch-politischen Offenbarungsglauben. Eine vergleichende Strukturanalyse der politischen Theologie Paul Tillichs, Emanuel Hirschs und Richard Shaulls, EvTh 33, 1973, S. 114-137. E. Hirsch, Die gegenwärtige geistige Lage im Spiegel philosophischer und theologischer Besinnung. Akademische Vorlesungen zum Verständnis des deutschen Jahres 1933, 1934. 1933 nennt Hirsch das .natürlich-geschichtliche Volkstum mit seiner Art, seiner Ehre und seiner Sendung" den „verborgenen Souverän" (S. 61). Ders., Deutschlands Schicksal. Staat, Volk und Menschheit im Lichte einer ethischen Geschichtsansicht, 1920, S. 72. A.a.O., S. 73.

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tes wird daher zur „notwendigen Voraussetzung alles sittlichen Lebens" 1 1 . Diese idealistische Wertung des Staates als Wirklichkeit der sittlichen Idee (Hegel) wird verknüpft mit der in der Nationalität sich ausformenden Individualität des Volkstums. Im Kampf der Völker ist letztlich der Krieg „der Vollstrecker der Geschichte und ihrer dem Recht widersprechenden lebendigen Gerechtigkeit" 1 2 . „Doch selbst wenn der Krieg noch ein viel unvollkommenerer Diener der Gerechtigkeit wäre als er es tatsächlich ist, könnte die Geschichte seiner nicht entraten. Er ist auch der große Beweger des Menschengeschlechts und der Erzieher, der die Völker und Staaten dazu zwingt, sich gesund und lebenskräftig zu erhalten." 1 3 „Der Krieg ist die große staatenbildende Potenz der Geschicht e . " 1 4 Der Staat erscheint dabei „als das höchste irdische Gut einer Nation ... als die Form, die ihr allein Leben und Freiheit und Entfaltung ihres Könnens gewährt" 1 5 . Christlicher Glaube geht vom Schöpfungsgedanken aus 16 und sucht in der Geschichte Gott als Herrn der Geschichte. Um die in der Geschichte gestellten Aufgaben erfüllen zu können, fordert Hirsch „die Errichtung einer strafferen Staatsverfassung. Der Staat muß wieder ein geschlossener Wille, eine geschlossene Persönlichkeit werden" 1 7 . Die Synthese von christlichem Glauben und idealistische Motive aufgreifender Geschichtsdeutung führt folglich zur Legitimation eines autoritären Staates und des unbedingten geschichtlichen Rechtes des deutschen Volkes. Gerade entgegengesetzt äußerte sich in seinen Anfängen Karl Barth, Hirschs nachmaliger Göttinger Kollege. In seiner gegen Ende des ersten Weltkrieges 1918 verfaßten Auslegung von Römer 13 wird der Staat radikal unter die eschatologische Kritik gestellt 18 . Man hat sogar Parallelen zwischen Barths Römerbriefauslegung und Lenins Schrift „Staat und Revolution" behauptet, weil Barth erklärt, der Christen „Staat und Revolution ist im Himmel, ,im Verborgenen 11

A.a.O., S. 75.

12

A.a.O., S. 101.

13

A.a.O., S. 103.

14

A.a.O., S. 102.

15

A.a.O., S. 141.

16

A.a.O., S. 161 (Nachwort 1922).

17

A.a.O., S. 149.

18

K. Barth, Der Römerbrief, 1. Ausgabe 1919. Vgl. die Kontroverse über Karl Barths Deutung. Sie wurde ausgelöst durch: F. W. Marquardt, Theologie und

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des Menschen'" 19 . Diese Deutung beruht freilich auf historischen Spekulationen. Eindeutig ist jedoch die negative Wertung des Staates als Gewaltstaat, der an sich böse ist. Unverkennbar wird hier die radikale Staatskritik des religiösen Sozialismus wirksam, wie sie Leonhard Ragaz vertrat. 20 Für den Staat machen „Paragraphen und Maschinengewehre ... die Weisheit der bestehenden Gesellschaft" 21 aus. Der Staat wird als bürgerlicher Gewaltstaat, als Instrument der Herrschenden verdammt. So sei „der ,Rechts'-Staat... unverbesserlich" 22 . Paulus negiere den Staat freilich dadurch, daß er ihn religiös aushungere23 und die Christen ermahne: „Ihr habt als Christen mit dem Gewaltstaat nichts zu schaffen. Ihr gehört ihm als Christen gar nicht an. Ihr habt ihn nicht nötig, und es kann euch als Christen nicht einfallen, ihn erhalten und stärken zu wollen." 24 Auch in seiner Gestalt als Rechtsstaat gehe er den Christen nichts an. 25 Denn Sozialismus. Das Beispiel Karl Barths, 1972. Zur Diskussion um „Theologie und Sozialismus" vgl. bes.: H. Gollwitzer, Reich Gottes und Sozialismus bei Karl Barth, ThEx 169 (1972); W. Schlichting, Sozialismus und biblische Denkform, in: EvTh 32 (1972), S. 595-606; M. Jacob,... noch einmal mit dem Anfang anfangen ..., in: a.a.O., 6 0 6 - 6 2 4 ; E. Thurtteysen, Karl Barth „Theologie und Sozialismus" in den Briefen seiner Frühzeit. Zürich 1973; D. Schellong, Barth von links gelesen - ein Beitrag zum Thema: „Theologie und Sozialismus", in: Z E E 17 (1973), S. 2 3 8 - 2 5 0 ; ders., Karl Barth als Theologe der Neuzeit, in: K. G. Steck/D. Schellong, Karl Barth und die Neuzeit, ThExh 173 (1973) S. 341 0 2 ; W. Härle, Sein und Gnade, Berlin 1975, S. 5 2 - 5 5 ; F. Wagner, Theologische Gleichschaltung, in: Die Realisierung der Freiheit, hg. von T . Rendtorff, Gütersloh 1975, S. 10-43; E. Jüngel, Gottes Sein ist im Werden, Tübingen 1 9 8 6 4 , S. 123-138; Hermann Dient, Die Christologie Karl Barths in der Sicht von Friedrich Wilhelm Marquardt, KuD 20, 1974, S. 1 3 8 - 1 5 7 . 19

K. Barth, a.a.O., S. 380; F. W. Marquardt, Weg zur Revolution, 1971, S. 4 3 3 - 4 3 6 .

a.a.O., S. 127; B. Wielenga,

20

L. Ragaz, Weltreich, Religion und Gottesherrschaft, 2 Bände, 1 9 2 2 . Dazu die Rezension von E. Hirsch, T h L Z 4 8 , 1923, Sp. 69-70: „R. ist halt auch ein .Kriegstheolog', nur einer mit negativem Vorzeichen. „Versucht man z. B. über Recht und Staat mit ihm zu reden, so merkt man, daß zu solchem Dialoge eine wesentliche Voraussetzung fehlt: nämlich die, daß R. überhaupt über Recht und Staat je ernstlich nachgedacht hätte." Vgl. zu Ragaz ferner: M. Honecker, Konzept einer sozialethischen Theorie, 1971, S. 74ff. a.a.O., S. 3 7 7 .

21

K. Barth,

22

A.a.O., S.378.

23

A.a.O., S. 388.

24

A.a.O., S. 377; vgl. F. W. Marquardt,

25

A.a.O., S. 3 7 8 .

a.a.O., S. 131.

Lenins

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Evangelische Theologie vor dem Staatsproblem

der Staat ist für den Christen Repräsentant der vergehenden Welt, so daß der jetzige Staat „nicht zu verbessern, sondern zu ersetzen, die Gewalt der Ungerechtigkeit oben und unten abzulösen" ist „durch die Gewalt der Gerechtigkeit" 26 , die Aufrichtung des Gottesstaates 27 , von der Barth sagt, hier sei „mehr als Leninismus" 28 . Die Gegenüberstellung von Hirsch und Barth zeigt bereits eindrücklich das Schwanken zwischen Verherrlichung und Verwerfung, zwischen Vergöttlichung und Verteufelung des Staates unter Berufung auf theologische Einsichten. Insbesondere wird durch diese jeweils dezidierte - theologische Wertung der Blick verstellt für die institutionellen Probleme des Staates als auch für eine ethische Reflexion auf die konkreten ethischen Aufgaben. Stattdessen wird der Staat pauschal entweder zum Vollstrecker des Willens Gottes oder zum großen Widersacher der „Revolution Gottes" 2 9 . In beiden Fällen wird durch metaphorische Übersteigerung die politische Wirklichkeit verfehlt. Insofern hat Theologie in der Tat die Krise des Staatsgedankens mitvorbereitet und verursacht. Das führt zur Folgerung, daß die Ursachen des Versagens der Kirche gegenüber dem totalen Staat nicht nur im Zeitgeschehen, sondern auch in einer unzulänglichen theologischen Klärung des Staatsproblems zu suchen sind. Unter den Pastoren und bei kirchlichen Persönlichkeiten führte die Erschütterung des Protestantismus durch das Ende des ersten Weltkrieges zu einer weithin vorbehaltslosen Identifikation mit dem nationalen Gedanken. 30 Der Kirchenkampf traf 1933 evangelische Kirche und Theologie also in jeder Hinsicht unvorbereitet. Der Ansbacher Ratschlag beispielsweise, eine Gegenerklärung zur Barmer Theologischen Erklärung, legitimierte den Totalitätsanspruch des

26 27 28 19

30

A.a.O., S. 377. A.a.O., S. 380. A.a.O, S. 379. K. Barth, a.a.O., S. 378-380. Nach F. W. Marquardt, a.a.O., S. 190, lautet Barths aus dem sozialethischen Revolutionsbegriff entstehender Gottesbegriff: „Gottes Sein ist in der Revolution." Vgl. zu Barth auch: A. Dannemann, Theologie und Politik im Denken Karl Barths, 1977, S. 20ff.; 66ff. Vgl. dazu: K. W. Dahrn, Pfarrer und Politik. Soziale Position und politische Mentalität des deutschen evangelischen Pfarrerstandes zwischen 1918 und 1933, Köln und Opladen, 1965. Insgesamt jetzt auch: K. Scholder, Die Kirchen und das Dritte Reich. Band 1, Vorgeschichte und Zeit der Illusionen 1918-1934, 1977.

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Staates theologisch 31 . Das Gesetz Gottes begegnet danach in der „Gesamtwirklichkeit unseres Lebens, wie sie durch die Offenbarung Gottes ins Licht gesetzt wird. Es bindet jeden an den Stand, in den er von Gott berufen ist, und verpflichtet uns auf die natürlichen Ordnungen, denen wir unterworfen sind, wie Familie, Volk, Rasse d.h. Blutzusammenhang". Dem Ansbacher Ratschlag zufolge trifft Gottes Ruf den Menschen in seinem Hier und Heute. Das ermöglicht es sogar, Luthers Auslegung der vierten Vaterunserbitte aktuell aufzunehmen und die national-sozialistische Staatsordnung ein „gut Regiment", ein Regiment mit „Zucht und Ehre" zu nennen. Gegen solche „Politische Theologie" hatte freilich schon zuvor die Barmer Theologische Erklärung Maßstäbe gesetzt und Kriterien genannt 32 . Der hier durchaus bewußt vollzogene Verzicht auf eine Aussage über das Wesen des Staates ermöglicht eine klärende Bestimmung der Aufgaben des Staates sowie die Unterscheidung von Kirche und Staat und die Absage an ein Verständnis des Staates als „die einzige und totale Ordnung menschlichen Lebens". Der Staat wird zu einer Sache menschlicher Einsicht und menschlicher Verantwortung und soll dem Recht und Frieden dienen. Der Staat wird vermenschlicht, entdivinisiert. Diese theologische Aussage bot nach 1945 den Ansatz für eine entschiedene Annahme der rechtsstaatlichen Demokratie. Allerdings steht die Barmer Erklärung mit ihrer zweiten These, wonach Jesus Christus der Herr aller Lebensbereiche sei, in Spannung zu dieser Aussage über den Staat. Während die fünfte These mit ihrer Unterscheidung der Aufgaben von Kirche und Staat im Sinne der Zweireichelehre zu deuten ist, wurde die zweite These der Anknüpfungspunkt für die Programmformel der Königsherrschaft Jesu Christi. 33 Auf diese Spannung wird noch zurückzukommen sein. Neben der Verselbständigung der evangelischen Kirche gegenüber dem Staat und den Erfahrungen mit dem totalitären Staat ist 31

„Ansbacher Ratschlag", zur Barmer Theologischen Erklärung, in: K. D. Schmidt, Die Bekenntnisse und grundsätzlichen Äußerungen zur Kirchenfrage. Bd. 2, Das Jahr 1934, Göttingen 1935, S. 103.

32

Vgl. zur Barmer Erklärung: E. Wolf, Barmen. Kirche zwischen Versuchung und Gnade (1957), 1970 2 . Vgl. dazu: M. Honecker, Weltliches Handeln unter der Herrschaft Christi. Zur Interpretation von Barmen II, ZThK 69 (1972), S. 72-99; ders., Zur gegenwärtigen Interpretation von Barmen V, ZEE 16, 1972, S. 207-219.

33

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nun als dritter Faktor nach 1945 der totale Zusammenbruch und die Teilung Deutschlands zu nennen. Das Kriegsende hinterließ ein politisches Vakuum, das den Kirchen Entfaltungsmöglichkeiten einräumte, die zugleich Chancen und Gefährdungen enthielten. Es wuchs ihnen eine politische Autorität zu, die sich auf evangelischer Seite in Formulierungen wie „Wächteramt der Kirche", Öffentlichkeitsauftrag und Öffentlichkeitsanspruch niederschlug. 34 Zugleich freilich ging der Riß der Teilung Deutschlands durch die Evangelische Kirche hindurch, die sich bis 1969 als letzte, gesamtdeutsche Institution verstand. 35 Diese Betonung der Einheit der Evangelischen Kirche in Deutschland über die politischen und ideologischen Grenzen hinweg kostete viele Kräfte und zwang zu schwierigen Balanceakten. Im politischen Bereich barg sie die Versuchung einer gespaltenen Loyalität gegenüber den beiden Staaten in sich. Mit der Vereinigung Deutschlands 1989/1990 ist die Nachkriegsgeschichte, ist die Frage der Staatsordnung in eine neue Perspektive gerückt, auch für den Protestantismus und die Evangelische Kirche. Dabei ist es notwendig, sich die unterschiedlichen Typen evangelischen Verständnisses des Staates in Erinnerung zu rufen. Die Typisierung schematisiert; aber sie klärt auch Kontroversen und läßt unterschiedliche theologische Ansätze erkennbar werden.

2. Typen evangelischen Staatsverständnisses Drei verschiedene Ansätze lassen sich klassifizierend unterscheiden. (1) Eine theologische Deutung des Staates im Zusammenhang der Schöpfungslehre vertrat die Ordnungstheologie. Eine „Theologie der Ordnungen" findet sich freilich nicht nur im nationalen Luther-

34

35

Vgl. dazu: K. Schiaich, Der Offentlichkeitsauftrag der Kirchen, in: E. Friesenhahn/U. Scheuner, Handbuch des Staatskirchenrechts Bd. II, S. 231-272. Zur kirchlichen Nachkriegsgeschichte vgl. F. Spotts, Kirchen und Politik in Deutschland, 1976 (engl.: The Churches and Politics in Germany, 1973). Vgl. z. B. E. Wilkens, Die Einheit der Evangelischen Kirche in Deutschland und die politische Teilung Deutschlands. Volk, Nation und Vaterland in kirchenpolitischer Sicht (1970), in: Politischer Dienst der Kirche, GTB 2 6 0 , 1 9 7 8 , S. 7594, ursprünglich in: H. Zilleßen, Volk - N a t i o n - Vaterland. Der deutsche Protestantismus und der Nationalismus, 1970, S. 285-299.

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tum (Paul Althaus) 36 , sondern ebenso bei reformierten Theologen wie Emil Brunner. Mit dem Begriff „Ordnung" berief man sich darauf, daß nach Paulus die s^oucria, die Obrigkeit, von Gott verordnet sei (TETCCYHEVT) ). Die Formulierung des Augsburgischen Bekenntnisses, „quod legitimae ordinationes civiles sint bona opera Dei", stützte den Ordnungsbegriff zusätzlich. 37 Das neulutherische Verständnis vom Staat als Ordnung Gottes in seinem faktischen Gegebensein ist freilich vermittelt durch das organologische und geschichtsphilosophische Denken idealistischer und romantischer Staatsmetaphern. Paul Althaus definiert 1922 den Staat so: „Er ist die Form, in der ein Volk Geschichte erlebt." 3 8 Theologische Sicht des Staates wird dadurch zur intuitiven Einsicht in die geschichtliche Aufgabe, in den historischen Beruf einer Nation: „Der Staat ist der gesammelte Wille eines Volkes zu geschichtlichem Leben, zum Aufstieg, zur Freiheit, zur Gestaltung seines Schicksals - mehr noch: unter Umständen der Wille für andere, für ein Zeitalter wohl gar, Schicksal zu sein, der Wille zur Macht, zum Einfluß, zur Geltung, zum Führertum." 39 Die Erkenntnis dieses Schicksals wird dann zur Sache der Divination, der Prophetie. Paul Althaus hat im Namen verantwortlichen Führertums und der Rücksicht auf den geschichtlichen Beruf eines Volkes 1922 die demokratische Verfassung nachdrücklich abgelehnt. „Was Gerechtigkeit in dem politischen Wollen eines Volkes ist, kann ... nur durch immer neue schöpferische Entscheidung seines Führers gesetzt werden." 40 Die Beachtung der „be36

Neben Althaus waren als Vertreter lutherischer Staatsethik zu nennen vor allem Werner Eiert und Friedrich Gogarten. Zu beachten wäre ferner die Schrift des Juristen Hans Gerber, Die Idee des Staates in der neueren evangelisch-theologischen Ethik, 1930. Das Thema insgesamt ist behandelt von: G. Hillerdal, Gehorsam gegen Gott und Menschen. Luthers Lehre von der Obrigkeit und die moderne evangelische Staatsethik, 1955 S. 123ff.; R. Hauser, Autorität und Macht. Die staatliche Autorität in der neueren protestantischen Ethik und in der katholischen Gesellschaftslehre, 1949, S. 91ff.; 153ff. Zur „Volksnomostheologie" vgl.: W. Tilgner, Volksnomostheologie und Schöpfungsglaube. Ein Beitrag zur Geschichte des Kirchenkampfes, AGK 1 6 , 1 9 6 6 . Zu Althaus vgl. H. Graß, Art. Althaus, in: TRE Bd. 2, S. 329-337.

37

Confessio Augustana, Art. XVI.

38

P. Althaus, Staatsgedanke und Reich Gottes, 1923, S. 9; vgl. ders., Theologie der Ordnungen, 1934, S. 7ff. P. Althaus, Staatsgedanke S. 11. A.a.O., S. 44.

39 40

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sonderen geschichtlichen Stunde", der gratia histórica eines Volkes, dient später (1935) zur Legitimation des totalen Staates, der mit seinem Totalitätsanspruch die „Bindungslosigkeit im liberalen Staate" überwindet. 41 Eine solche Deutung des Staates als Ordnung der Schöpfung ist nach Althaus jedoch noch nicht Theologie, sondern der Einsicht der Vernunft zugänglich. Die Ordnung wird freilich immer nur in menschlich-geschichtlicher Gestalt wirklich. Das Kriterium für die Beurteilung eines Staates ist darum, inwieweit die menschlich-geschichtliche Gestalt der Gottesordnung entspricht. Eine derartige Beurteilung ist dann ein Glaubensurteil. Anhalt hat dieses Glaubensurteil an der geschichtlichen Stunde und ihrer Deutung. Paul Althaus grenzt sich mit dieser Meinung ab gegen eine naturrechtliche Sicht des Staates. „Die Lehre von den Ordnungen bedeutet nicht die Behauptung eines Naturrechtes. Die Ordnungen sind wahrhaft geschichtlich, d. h. sie sind für uns immer nur in bestimmter geschichtlicher Gestalt wirklich." 4 2 Die Ordnung des Staates ist geschichtlich. Die „Theologie der Ordnungen" erweist sich im Blick auf den Staat also in eminenter Weise als Geschichtstheologie. Die Hypotheken sind evident, die auf solcher theologischer Legitimation eines bestimmten Staatsverständnisses durch die Theologie der Ordnungen liegen: Die Beanspruchung politischer Wirklichkeit als Kundgabe des Willens Gottes ist mit einem evangelischen Verständnis des Evangeliums als der einen Quelle der Offenbarung Gottes nicht zu vereinbaren. Die Verbindung der Theologie der Ordnungen mit der Ideologie des totalitären Staates, mit dem Mythos von Rasse und Volkstum hat sie zusätzlich diskreditiert. Die konsequente Vergeschichtlichung der Schöpfungslehre läßt außerdem die Berufung auf Schöpfungsordnungen zu Bedingungen geschichtlichen Lebens werden. „Wir nennen die Ordnungen Schöpfungs-Ordnungen, weil sie, obgleich in der Welt der Sünde durch diese bestimmt, Mittel fortgehenden göttlichen Schaffens sind." 4 3 41

P. Althaus, Zum gegenwärtigen lutherischen Staatsverständnis, in: Die Kirche und das Staatsproblem in der Gegenwart, hrsg. von der Forschungsabteilung des ökumenischen Rates für praktisches Christentum, 2. Aufl., 1935, S. 6-9, Zitat S. 7.

42

P. Althaus, Theologie der Ordnungen, 1. Aufl., 1934, S. 12. A.a.O., 2. Aufl., 1935, S. 13. Vgl. zur Theologie der Ordnungen: H.-H. Schrey, Einführung in die evangelische Soziallehre, 1973, S. 72ff. F. Lau, Art. Schöp-

43

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Die Ordnungen menschlicher Gemeinschaft werden so letztlich in einem Geschichtsglauben aufgehoben. Die Staatslehre wird darüber zu einem dezisionistischen Glaubenserleben, zur Erfassung der geschichtlichen Stunde. Freilich ist diese Deutung des Staates, der politischen Gemeinschaft als Ordnung menschlichen Zusammenlebens, die der Glaube der Gnade und dem Willen Gottes verdankt sieht, vielschichtiger als die Ausgestaltung in neulutherischer Theologie erkennen läßt. Emil Brunner, der reformierte Theologe, hat programmatisch in seiner Ethik „Das Gebot und die Ordnungen", 1932, den Staat als ein Werk und Gebot der erhaltenden Gnade Gottes bezeichnet. 44 Anders als Althaus ordnet Brunner freilich den Staat nicht der „Schöpfungsordnung", sondern der „Erhaltungsordnung" zu. Der Staat ist, vom christlichen Glauben her gesehen, nicht „Schöpfungsordnung", sondern „Sündenordnung", „d. h. eine Ordnung, die einzig und allein in dem Sündiggewordensein des Menschen ihren Grund hat. Ohne Sünde braucht es keinen Staat und könnte es keinen Staat geben. Denn die Sünde selbst gehört zum Wesen des Staates: Die organisierte Unmenschlichkeit (der organisierte Zwang) des Staates ist das Mittel der Erhaltung der Menschlichkeit" 4 5 . Aus einer solchen theologischen Auslegung des Staates als „Erhaltungsordnung" läßt sich zwar keine beste Staatsform herleiten. Aber die Tendenz auf „die möglichste Begrenzung der staatlichen Zwangsmacht - d. h. Funktion des Staates" - machen Demokratie, Rechtsstaat und übernationale Rechtsordnung zu der dem christlichen Glauben angemessensten Staatsidee. 46 Zwar oszilliert Emil Brunners gesamter theologischer Entwurf zwischen situationsethischem und normativem Ansatz. 47 Insofern kann man diese seine Äußerungen zum Staatsfungs- Ordnung, in: RGG 3 , V 1492-1494. R. Schäfer, Art. Ordnung, in: Evangelisches Soziallexikon, 1980 7 , 969-972. 44

E. Brunner, Das Gebot und die Ordnungen, 1934, S. 320-323; 426ff.; 321: „Die Ordnungen sind göttliche Schöpfung, deren jeweilige geschichtlich-konkrete Erscheinung ist Wirkung der menschlichen Sünde und ist darum, wie alles Sündige, Gegenstand des sittlichen Kampfes."

45

E. Brunner, Kirche und Staat, in: Die Kirche und das Staatsproblem in der Gegenwart, 1935 (vgl. Anm. 41), S. 10-15, S. 12, Ziffer lOf. E. Brunner, a.a.O., S.15, Ziffer 18. Vgl. dazu die Einleitung von Rudolf Wehrli zur Ausgabe der 4. unveränderten Auflage „Das Gebot und die Ordnungen" 1978, S. V-XXIV, v. a. S. XVff.

46 47

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problem als lediglich situationsbedingt bewerten und relativieren. Aber es zeigt sich doch, daß der Begriff Ordnung in der evangelischen Ethik vielfältiger ist, als daß er nur eine nationalistische und völkische Staatsidee umfassen und legitimieren würde, mit der dieses Wort weithin heute sogleich verbunden wird. Die Bemühungen, den Begriff „Ordnungen" durch andere Worte wie „Mandat" (D. Bonhoeffer) oder „Institution" zu ersetzen, sind vornehmlich durch den Mißbrauch des Ordnungsbegriffs veranlaßt. Sie haben freilich zu keiner überzeugenden theologischen Lösung der im Wort „Ordnung" enthaltenen Frage nach Kriterien der Beurteilung staatlichpolitischer Wirklichkeit geführt. Helmut Thielicke, der den Ansatz der Ordnungstheologie kritisch aufnimmt und weiterführt, versteht den Staat als Notverordnung Gottes. 48 Diese „Verordnung des Willens Gottes" betrifft jedoch nur das Prinzip einer „Ordnung der Staatlichkeit" als solches. „Der Staat ist... nichts anderes als dieser institutionell gewordene Ordnungsruf Gottes." 49 Er dient, wie unter Berufung auf Luther zu sagen ist, als „remedium peccati". Im Unterschied zu Luther ist freilich diese Legitimation staatlichen Handelns nicht mehr auf eine konkrete Obrigkeit bezogen, sondern nur noch auf das abstrakte Prinzip der Staatlichkeit. 50 Die Verwirklichung des Prinzips Staatlichkeit in Staatsformen und Verfassungsprinzipien wird dabei zu einer Aufgabe der politischen Vernunft. Dadurch wandert die Staatslehre letztlich aus der Theologie aus und wird zu einer Sache rationaler politischer Theorie. 51

48

49 50

51

H. Thielicke, Theologische Ethik II, 2, Tübingen 1958 (1974 9 ), S. 15ff., Nr. 66ff., S.22, Nr. 103 u.ö. A.a.O., S. 22, Nr. 104. Vgl. a.a.O., S. 20f., Nr. 96. Der theologische Gedanke, „der Staat sei eine Verordnung Gottes" „ist auch nahtlos auf die modernen Demokratien zu übertragen- eben weil er sich auf die Staatlichkeit als solche bezieht". S. 26, Nr. 130: „Wir brauchen folglich die Aussagen von Paulus und Luther über den Staat nicht... zu eliminieren, sondern wir müssen sie gleichsam nur entinstitutionalisieren. Wir haben den Obrigkeitsstaat, an dem beide ihre Theorie der Staatlichkeit entwickeln, lediglich als ein zeitgeschichtlich bedingtes Modell zu verstehen." Dies läßt sich zeigen z. B. an der Darstellung der Themen „Verfassung, Politik, Recht", im Handbuch der Christlichen Ethik, Band 2, 1978, S. 215-251 (Beiträge von T. Rendtorff, H. Zilleßen, T. Koch). Ferner: H. Zilleßen, Protestan-

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(2) Der entschiedenste Widerspruch gegen die ordnungstheologische Staatsbegründung stammt von Karl Barth. Er entwickelte als Alternative dazu eine christologische Staatslehre.52 Barth hat angesichts des Totalstaates erstmals 1938 in seiner Schrift „Rechtfertigung und Recht" die Frage aufgeworfen, ob es zwischen der göttlichen Rechfertigung und dem menschlichen Recht nicht eine innere, notwendige Beziehung gibt, ob also der Auftrag der Kirche, die Wirklichkeit Gottes zu verkündigen, und der Auftrag des Staates, seine Bürger zu schützen, nicht in einer sachlichen Verbindung stehen. Seine Kritik hält den Reformatoren, Luther und Calvin gleicherweise, vor, hier nur ein bloßes Nebeneinander konstatiert zu haben, und nicht die christologische Begründung der Zusammengehörigkeit von Christusglaube einerseits und Staat und Recht andererseits ausgeführt zu haben. Unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs hat Barth in einer Programmschrift „Christengemeinde und Bürgergemeinde" (1946) diese seine christologische Begründung näher ausgeführt. Seine theologische Sicht des Staates ist im Bereich evangelischer Ethik ungeheuer wirksam geworden.

52

tismus und politische Form. Eine Untersuchung zum protestantischen Verfassungsverständnis, 1971. W. Schweitzer, Der entmythologisierte Staat. Studien zur Revision der evangelischen Ethik des Politischen, 1968. Der von Wolfgang Schweitzer verfaßte Artikel Staat in der 3. Aufl. der RGG (Bd. VI, 297-305) beginnt mit der Feststellung: „Es ist nicht Aufgabe der Theologie eine Lehre vom Staat aufzustellen; wohl aber muß sie fragen: Wie kann die jeweilige staatliche Wirklichkeit, die ja starken Wandlungen unterliege, im Glauben recht erkannt und bewältigt werden?" Vgl. dazu bes.: Rechtfertigung und Recht. ThSt 1 (1938); Christengemeinde und Bürgergemeinde, ThSt 20 (1946); Politische Entscheidung in der Einheit des Glaubens. ThEx 34 (1952); sowie: KD II/l, 434-435, 718-719; III/4, 62-626; IV/1, 587-588; IV/3.1, 27-32; IV/3.2, 932, 1021-1024. Literatur zu Barth: D. Cornu, Karl Barth und die Politik, 1969; U. Dannemann, Theologie und Politik im Denken Karl Barths, 1977; F. W. Marquardt-, Theologie und Sozialismus, Das Beispiel Karl Barths, 1972 2 , W.-D. Marsch, Gerechtigkeit im Tal des Todes. Christlicher Glaube und politische Vernunft im Denken Karl Barths, in: W. Dantine/K. Lüthi (Hg), Theologie zwischen gestern und morgen. Interpretationen und Anfragen zum Werk Karl Barths, 1968, S. 167-191; A. Schwan, Karl Barths dialektische Grundlegung der Politik, Civitas 2,1963, S. 31-71; E. Wolf, „Politischer Gottesdienst". Zum 80. Geburtstag des „Politikers" Karl Barth, in: Blätter für deutsche und internationale Politik XI (1966), S. 289-301; H. Zilleßen, Dialektische Theologie und Politik. Eine Studie zur politischen Ethik Karl Barths, 1970. H.-H. Schrey, Die Wiedergeburt des Naturrechts, ThR NF 19 (1951), S. 193ff.

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Denn sie traf in eine geistige Lage, die von der Auseinandersetzung mit dem Totalstaat und dem Zusammenbruch des Nationalprotestantismus bestimmt war. Freilich fehlte es von Anfang an auch nicht an Stimmen der Kritik und des Widerspruchs. 53 Barth hatte 1938 seine These zunächst exegetisch begründet: Die Stelle Römer 13,1 wird anhand einer inzwischen längst widerlegten These ausgelegt, wonach „Exousiai" Engelmächte bezeichnen sollen. 54 Der Staat wird danach durch eine Engelmacht repräsentiert. Christus sei aber nach dem Zeugnis des Neuen Testaments Herr der Engelmächte. Dafür wird die Kosmokratorchristologie der sogenannten Deuteropaulinen herangezogen. Die exegetische Kombination der Kosmokratorchristologie der Deuteropaulinen mit Römer 13 ist die exegetische Grundlage für Barths Grundaussage, daß diese Macht, „daß der Staat als solcher ursprünglich und endlich zu Jesus Christus gehört, daß er in seiner relativ selbständigen Substanz, Würde, Funktion und Zielsetzung der Person und dem Werk Jesu Christi und also der in ihm geschehenen Rechtfertigung des Sünders zu dienen h a t " 5 5 . Diese exegetische Begründung ist freilich eine unhaltbare Konstruktion. Barth geht es letztlich auch nicht um exegetische, sondern um ethische Überlegungen. Die Engelmacht, und also der Staat als politische Engelmacht, bleiben nur solange ihrer Funktion treu, wie diese Macht sich nicht als absolute Macht versteht und Erlösungsvollmacht beansprucht. Ein solcher Staat, der seine eigentliche Funktion in einem Staatsmythos überhöht, wird vielmehr dämonisiert; er gebärdet sich als das Tier aus dem Abgrund, wie die Johannesoffenbarung (Apk. 13) die römische Herrschaft zur Zeit der Christenverfolgung kennzeichnete. Barth vermag somit zwischen Totalstaat, Unrechtsstaat und Rechtsstaat mit theologischen Argumenten

53

Vgl. außer Anm. 52: G. Hillerdal, S. 164ff; R. Hauser, S. 17ff. (Anm. 36). Ferner: H. Zähmt, Die Sache mit Gott, 1966, S.123ff.; 141ff.; 225ff.

54

Die angelologische Deutung wurde erstmals vertreten von G. Dehn, „Engel und Obrigkeit". Ein Beitrag zum Verständnis von Römer 13,1-7, in: Theologische Aufsätze. Karl Barth zum 50. Geburtstag (hg. v. E. Wolf), 1936, S. 9 0 - 1 0 9 . Sie wurde dann vor allem exegetisch vertreten von O. Cullmann, Königsherrschaft Christi und Kirche im Neuen Testament, ThSt (B) 10, 1941, S. 27ff. Endgültig widerlegt wurde die These von A. Strobel, Zum Verständnis von Römer 13, Z N W 4 7 (1956), S. 67-93. Strobel wies nach, daß die Terminologie von Römer 13 der antiken, und zwar profanen Verwaltungssprache entnommen ist.

55

K. Barth, Rechtfertigung und Recht, 1938, S. 18.

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zu unterscheiden. „Es würde also von der Kirche her wirklich keinen Sinn haben, zu tun, als befände sie sich dem Staat und den Staaten gegenüber in einer Nacht, in der alle Katzen grau sind. 5 6 Der Kirche fällt dabei die Aufgabe zu, den Staat an seinen eigentlichen Auftrag zu erinnern und einer „Vergötterung des Staates" zu wehren. 5 7 Diese Sicht des Verhältnisses von Kirche und Staat enthält den Ansatz für das sog. „Wächteramt" der Kirche, für deren Öffentlichkeitsauftrag und Öffentlichkeitsanspruch, kurz: für das, was man unscharf und zweideutig „Politisierung" der Kirche nennen mag. Denn die Frage der Ordnung des Staates wird nach Barths Ansicht „irgendwie" zu verstehen und zu behandeln sein „als die Frage einer Art da draußen in der Welt aufgerichteten Annexes und Außenpostens des christlichen Gemeindelebens" 5 8 . Die Schrift „Christengemeinde und Bürgergemeinde" entfaltet diesen Ansatz grundsätzlich. Sie vergleicht Kirche und Staat mit Kreisen, die einen gemeinsamen Mittelpunkt haben, nämlich die Herrschaft Christi. 5 9 Später hat man diese ethisch-politische Theorie dem Theologumenon und Schlagwort „Königsherrschaft Christi" zugeordnet. Kirche als innerer Kreis und Staat als äußerer Kreis haben Ursprung und Zentrum gemeinsam. Denn auch der Staat beruht auf einer „göttlichen Anordnung (Ordinatio, Einsetzung, Stiftung)". Da er nicht eine „vom Reich Jesu Christi abstrahierte, eigengesetzlich begründete und sich auswirkende Existenz" hat, sondern innerhalb des Herrschaftskreises Jesu Christi" besteht 6 0 , lehnt Barth den Rückgriff auf eine naturrechtliche, natürliche Begründung des Staates ab. Vielmehr ist für ihn auch die theologische Erkenntnis des Staates aus Gottes Offenbarung zu entnehmen. 6 1 Dabei beruft sich Barth zwar nicht auf eine Gleichung, Gleichsetzung von christlicher Gemeinde und politischem Wesen, wohl aber auf „die Gleichnisfähigkeit und Gleichnisbedürftig-

56

A.a.O., S.19.

57

A.a.O., S. 24.

58

A.a.O., S. 33. Darauf folgt bei Barth der Satz: „Der gewissen notwendigen Politisierung der Kirche selbst entspricht ebenso notwendig eine gewisse Verkirchlichung, in der von der Kirche aus der Staat gesehen, gewürdigt und angeredet wird."

59

K. Barth,

60

A.a.O., S. 9f.

61

A.a.O., S. 17ff.

Christengemeinde und Bürgergemeinde, S. 9.

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keit des politischen Wesens" 6 2 . Er nimmt ein „Gleichnis", eine Entsprechung, ein Analogon zwischen der in der Kirche verkündeten und geglaubten Botschaft vom Reiche Gottes und der politischen Ordnung an. Auf diese Weise kommt Barth zu einer theologischen Sicht politischer Wirklichkeit, wonach der demokratische Rechtsstaat Schweizer Zuschnitts dem christlichen Bekenntnis am nächsten stehe. Die Beispiele, anhand derer Barth diese seine Methode der Analogie durchführt, brauchen hier nicht dargestellt zu werden. 63 Er schließt beispielsweise aus Gottes Rechtfertigung auf den Rechtsstaat, aus der Vielfalt der Charismen in der Gemeinde auf die Gewaltenteilung im Staat, aus der Öffentlichkeit der christlichen Verkündigung auf die Absage an die Geheimdiplomatie, aus dem Vorrang der Gnade vor Gottes Zorn auf die politische Analogie, daß gewaltsame Konfliktlösung nur ultima ratio sein könne, ohne daß ein Frieden um jeden Preis zu fordern wäre. Diesen Beispielen haftet so viel Willkürliches und Spielerisches an, daß sie leicht zum Ansatzpunkt der Kritik werden konnten. Denn auf dieselbe Weise wie Karl Barth den demokratischen Rechtsstaat theologisch sanktionierte, hat einstmals Euseb von Caesarea die Monarchie als politische Entsprechung christlichen Monotheismus gefeiert. 64 Das theologische Problem scheint jedoch gar nicht in den Beispielen im einzelnen zu stecken, sondern sehr viel grundsätzlicher in der Inanspruchnahme der Offenbarung als Erkenntnisquelle der Staatslehre und politischen Theorie. Karl Barths christologische Offenbarungslehre führt nämlich angesichts des Phänomens des Staates offenkundig in eine Aporie. Denn weil er beansprucht, auch die Erkenntnis der Wirklichkeit allein der Heiligen Schrift und der in ihr bezeugten Offenbarung zu entnehmen, lehnt er den Rückgriff auf ein, wie auch 62 63

64

A.a.O., S. 22f. A.a.O., S. 25ff. Vgl. dazu z. B. U. Dannemann, a.a.O., S. 142: „Rückblickend läßt sich freilich nicht leugnen, daß die dort (in ChuB) vollzogene Anwendung der Analogia relationis doch weithin die Vorzüge der Barthschen Lehre von der Königsherrschaft Jesu Christi über alle Bereiche der Welt eher verdunkelt hat. Auch hier haben nicht nur die verkürzten Argumentationen Barths berechtigte Kritik hervorgerufen, ebenso hat die statische Zuordnung von Christengemeinde und Bürgergemeinde den Eindruck hinterlassen können, Barth falle in neuer Form in alte theokratische Konzeptionen zurück. In der Tat fehlt auch bei der Bestimmung der Analogie von Christengemeinde und Bürgergemeinde großenteils die geschichtliche Dimension." Euseb von Caesarea, Panegyricus 3.

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immer geartetes Naturrecht und auf natürliche Evidenz ab. Die theologische Voraussetzung des christologischen Ansatzes ist die Verwerfung der Naturrechtsidee sowohl des klassischen Katholizismus wie auch der Aufklärung, aber auch die Ablehnung jeder Form einer ethischen Aussage, welche unabhängig von der expliziten Offenbarungsaussage des Evangeliums erfolgt, als Anwendung „natürlicher Theologie". Das Problem ist also letztlich zurückzuführen auf den Ansatz der theologischen Erkenntnislehre Barths. Zu welchen Konsequenzen dieser Ansatz führt, zeigt eine bei Karl Barth angefertigte Arbeit über Thomas Hobbes, die in der Hobbesforschung zurecht „bizarr" genannt wurde. 65 Diese Arbeit reduziert das

65

D. Braun, Der sterbliche Gott oder Leviathan gegen Behemoth, Erwägungen zu Ort, Bedeutung und Funktion der Lehre von der Königsherrschaft Christi in Thomas Hobbes .Leviathan', 1963 (erschienen ist nur dieser 1. Band). Braun folgt Carl Schmitts Hobbesdeutung und radikalisiert sie. So gelangt er zur theologischen Aussage: „Das Bekenntnis zum Beginn der Königsherrschaft Christi ist dem eigensten Gehalte nach die Bezeugung einer radikalen Krisis über allen Machtwillen" (S. 22). Hobbes legitimiert den ideologischen Staat, der neben seinem eigenen Öffentlichkeitsanspruch keinen anderen Anspruch anerkennt. Das christliche Bekenntnis von Hobbes ist nur Maskerade: „Hobbes war auf jene religiöse Maskerade seines Staates angewiesen, um ihm zur Verwirklichung in der Geschichte zu verhelfen. Er nahm jene Camouflage vor aus dem eigensten Motiv des Denkens, seiner Furcht vor der Empörung fremder Freiheit. Nichts indessen, was durch ihn aus Furcht geschah, das er nicht zugleich als Mittel zur Erhöhung seiner Macht verwendete" (S. 194). B. Willms, Der Weg des Leviathan. Die Hobbes-Forschung von 1968-1978, Beiheft 3; Der Staat, 1979, nennt Brauns Buch einen „bizzaren Fehlgriff". Willms hat Brauns Werk sehr ausführlich und ebenso kritisch besprochen: B. Willms, Von der Vermessung des .Leviathan', Der Staat Bd. VI, 1967, S. 220-236. Dabei ist natürlich bereits dies strittig, ob Hobbes .Leviathan' ein theologischer Traktat, eine theologische Stellungnahme sein will. Willms merkt zurecht an: „Hobbes konnte weder dialektischer Theologe sein, noch hatte er es mit solchen zu tun. .Offensichtlich' ist hier nur die Unmöglichkeit, mit einem in eine theologische Position eingebundenen Interpretationsprinzip der historischen Situation und dem politischen Argument Hobbes' gerecht zu werden." (S. 229). „Braun ist schlechterdings nicht in der Lage, sich Christentum anders als in der Form seiner subjektiv existentialistischen dialektischen Theologie zu denken, eine Form, für die Widerstand gegen öffentliche Gewalt konstitutiv ist" (S. 232). „Eine systematische Aufstellung aller gegen Hobbes erhobenen Vorwürfe des Atheismus und eine Analyse der jeweiligen Gründe und Motive dürfte hochinteressant sein. Brauns Buch würde in dieser Liste einen mit skurrilen Nuancen versehenen (!) Platz bei den klassischen zeitgenössischen Argumenten der theologischen HobbesGegner finden" (S. 234).

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Hobbesproblem auf die einfache schematische Fragestellung, wonach entweder die Königsherrschaft Christi oder die Macht des Staates anzuerkennen sei und Hobbes Staatsverständnis darum die folgerichtig zu Ende gedachte Ablehnung der Königsherrschaft Christi sei. Der von Ernst Bloch vielfach beschworene Satz „aut Cäsar aut Christus" findet hier seine theologische Rechtfertigung. Über dieser sachlichen Problematik des offenbarungstheologischen Ansatzes der christologischen Staatsanschauung darf man freilich deren bereits geschichtlich gewordenes Verdienst nicht unterschlagen: Sie hat dem Gedanken der rechtsstaatlichen Demokratie in der evangelischen Ethik des Politischen zur unwiderruflichen Anerkennung verholfen. Die von Barth beeinflußte Theologie hat mit ihrer Absage an jede Geschichtsoffenbarung eine nüchterne und realistische Betrachtung der politischen Wirklichkeit ermöglicht, indem sie so etwas wie eine Entmetaphysizierung und Entmythologisierung des Staates einleitete und in der Nachkriegszeit seit 1945 nach den Erfahrungen mit dem Totalstaat eine theologisch-ethische Alternative anbot. Die Konzeption der Barthschen Konzeption war also durchaus situationsbezogen, aber auch situationsbedingt. In dieser Konzeption verbanden sich freilich politische Optionen mit kirchenpolitischen Positionen und mit theologischen Argumentationsweisen, die einen Keim der Zweideutigkeit in sich trugen. Bereits bei Karl Barth blieb letztlich offen, ob er beanspruchte, eine Staatslehre theologisch zu begründen und zu vertreten - darauf wiesen einige seiner Aussagen unverkennbar hin - , oder ob er nur einen theologischen Beitrag zur Zeitdeutung leisten wollte, wofür die Berufung auf ein prophetisches Mandat anzuführen wäre. Diese Mehrdeutigkeit enthielt die Möglichkeit für eine sehr unterschiedliche Weiterführung des Barthschen Ansatzes. 66 66

M. Geiger hat im Nachwort zu: E. Thurneyseti, Karl Barth - .Theologie und Sozialismus' in den Briefen seiner Frühzeit, 1973 (S. 41 46) vom Zerfall der Schüler Barths in eine Barthsche „Rechte" und in eine Barthsche „Linke" gesprochen: „Sehen die einen bei den anderen den Rückfall in eine in ihrer formalen Begrifflichkeit sich selbst genügenden Scholastik und in eine individualisierende Engführung, die sie nur als Ausdruck einer versteckten, aber um so wirksameren bürgerlich-traditionellen Grundhaltung zu interpretieren vermögen, so erscheint den andern bei ihren Gesprächspartnern die angestrebte Verbindung von christlichem Glauben und Sozialismus als Verrat an der Freiheit der theologischen Erkenntnis, als Preisgabe der ersten Barmer These, als Errichtung einer .neuen Götzenfabrik'." (S. 45f.).

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Barths christologische Staatslehre als solche konnte zwar konsequent festgehalten und ausgestaltet werden; dann aber verlor man sich in geistreiche Spekulationen, die „nur in Konventikeln Eingeweihter" Evidenz besaßen und zu einer christlichen Ideologie führen mußten. 6 7 Eine Weiterführung des Barthschen Ansatzes ist freilich auf sehr unterschiedliche Weise und in gegensätzlicher Richtung erfolgt. a) Ernst Wolf verzichtete auf eine Staatslehre überhaupt: Theologische Ethik hat Sinndeutungen von Ursprung und Wesen des Staates als Thema überhaupt nicht aufzugreifen. 68 Sie setzt vielmehr nur die Faktizität des Staates voraus. Es geht also nicht um eine christlich-theologische Lehre vom Staat, sondern um das Verhalten des Christen im Staat und um die Einstellung zur vorfindlichen politischen Wirklichkeit. Die Staatsethik wird deshalb umgebildet zu einer Lehre von den politischen Tugenden des Christen. Ordnung und Verfassung des Staates werden als Thema theologischer Ethik weitgehend ausgeklammert. 69 Solche Überlegungen müssen vielmehr „weithin Ergebnis vernünftiger Erwägung sein, Angelegenheit des Ermessens" 7 0 . Wenn aber dennoch gleichzeitig festgehalten wird: „Die vom Glauben erhellte Vernunft" könne „vom Wort Gottes, gerade auch von Römer 13 her, mit dem Anspruch auf Allgemeinverbindlichkeit Aussagen machen 1. über den Zweck des Staates und damit über Ziel und Grenze des Politischen, und 2. im Rahmen 67

68

69

70

So E. Käsemann, a.a.O., ZThK 56, 1959, S. 368 zu einem Versuch der exegetischen Rechtfertigung der Staatslehre Barths. E. Wolf, Die Königsherrschaft Christi und der Staat, in: W. Schmauch, E. Wolf Königsherrschaft Christi, ThExh NF 64, 1958, S. 39; 41; ders., Barmen, S. 137ff.; ders., Die rechtsstaatliche Ordnung als theologisches Problem, in: E. Wolf (Hg), Der Rechtsstaat. Angebot und Aufgabe, ThExh NF 119, 1964, S. 28-63; ders., Sozialethik, 1975, S. 243ff. Vgl. zu E. Wolf auch: E. Käsemann, a.a.O., S. 371ff. E. Wolf, Königsherrschaft Christi und der Staat, S. 53ff.; Rechtsstaat S. 40; 53: Der Rechtsstaat ist der zentrale Bezugspunkt (S. 40), die „Beziehungsmitte" (S. 53) christlicher Tugendlehre. T. Strohm/H.-D. Wendland betonen gleichfalls in der Einleitung zum Sammelband „Politik und Ethik", WdF CXXXIX, 1969, S. 7: „Der freiheitliche, demokratische und soziale Rechtsstaat muß sich heute nach den vielfältigen Erfahrungen als diejenige Ordnung erweisen, in der das sozial Richtige und Gerechte, die Forderungen der Humanität die größten Chancen ihrer Verwirklichung erhalten." E. Wolf, Königsherrschaft Christi und der Staat, S. 56.

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dessen über konkrete Einzelaufgaben, über Zwecke des Staates" 7 1 , dann bleibt mit dieser Feststellung die Tür für die Ausübung politischer Prophetie und damit politischer Theologie geöffnet. b) Eberhard Jüngel hat beim Nachdenken über das Verhältnis von Glaube und Politik versucht, „Martin Luthers ,Zwei-ReicheLehre' und Karl Barths »politische Theologie' miteinander ins Gespräch zu bringen" 7 2 . Auch diese Modifikation des theologischen Ansatzes Barths verzichtet auf eine Staatslehre. Nur als Paränese, und das heißt im Modus des Zuspruchs, kann christlicher Glaube sich auf das Politische beziehen, wobei er sich vor allem und zuerst das Schielen auf politische Effekte versagen muß. Die christliche Gemeinde erweise sich nur dann als „Salz der Erde", wenn sie weiß, daß sie nur Salz, Konservierungsmittel, aber selbst nicht Speise, erst recht nicht Pfeffer sein kann. „Der Welt Pfeffer zu geben, ist nicht die Aufgabe der Christen." 7 3 Der Ort politischer Verantwortung des Christen ist daher der Gottesdienst, in dem für die Träger staatlicher Gewalt in ehrlicher Sprache und der Wahrheit verpflichtet gebetet wird. Jüngels Korrektur einer bestimmten Richtung gegenwärtiger politischer Theologie ist befreiend, insofern er Theologie und Kirche eine Überschätzung ihrer politischen Aufgaben und Möglichkeiten vor Augen führt. Diese Korrektur bedarf aber doch wohl einer Begründung in einer grundsätzlichen Reflexion des Verhältnisses von Glaube und politischer Wirklichkeit, wie sie beispielsweise in der sogenannten „Zweireichelehre" intendiert ist. c) Schließlich berufen sich auf Barths Legitimation eines politischen Mandats der christlichen Gemeinde und eines prophetischen Amtes in politicis neue Vertreter politischer Theologie. Dabei verbinden sich in einem oft unentwirrbaren Knäuel politische Analysen und Urteile, Gesellschaftskritik und Berufung auf theologische Argumente und auf das Recht, ja die Notwendigkeit politischer Predigt. (3) Von der christologischen Begründung des Staates zu unterscheiden ist eine grundsätzliche eschatologische Verneinung staatlicher Autorität. Während Karl Barths ursprüngliche Absicht eine 71

A.a.O., S. 58.

72

E. Jüngel, Reden für die Stadt. Zum Verhältnis von Christengemeinde und Bürgergemeinde, 1979, S. 8.

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A.a.O., S.16; vgl. bes. S. 22.

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Revision der metaphysischen Staatslehre im deutschen Protestantismus von der christlichen Offenbarung her war, konnte dieser Ansatz radikalisiert werden zu einer völligen Negation des Staates überhaupt. Diese Radikalisierung war beim frühen Barth angelegt und konnte sich auf ihn berufen. Sie wurde erleichtert durch einen Wandel der Fragestellung und Thematik evangelischer Ethik. „An die Stelle der Staatstheorien tritt mehr und mehr die Sozialethik." 7 4 Der Staat wird infolge der Betonung der Gesellschaft zum Widersacher gesellschaftlicher Freiheit stilisiert und somit zum Gegenstand prophetischer Kritik, die sich vielfach ausschließlich an den Erfahrungen mit totalitären Staatsansprüchen orientiert. Die Erfahrungen des Kirchenkampfes werden unter Berufung auf die Kritik des entfremdenden und ausbeuterischen Klassenstaates im doktrinären und undoktrinären Marxismus auf die heutige politische Wirklichkeit übertragen. Daraus ergibt sich als Feststellung: „Im ganzen bleibt die Vorherrschaft der Motivgruppen Widerstand, Kritik, Traditionsabbruch, Antinationalismus und sozialisierende Neigungen im Gefolge dieses Barth'schen Ansatzes kennzeichnend." 75 Sofern diese theologische Ethik sich dabei nicht an den Menschenrechten und der Menschenwürde ausrichtet, treten in ihr Widerstand, Revolution und Gesellschaftsveränderung als Hauptthemen heraus. Das Diktum Ernst Blochs, „der Aufruhr sei die Berufsethik des chiliastischen Christen" 7 6 , wird so zur Grundstimmung einer „politischen Theologie", welche das Reich Gottes der von diesem Reich verneinten Welt und deren Repräsentanten, dem Staat, konfrontiert. Im Namen des künftigen und zu antizipierenden Eschaton wird die jetzige politische Realität entschieden verneint. Diesen Gestus eschatologischer Radikalität hat schon 1918 Ernst Bloch im „Geist der Utopie" vorgeführt: Der Staat, der bereits aus den Unterfiehmerinteressen herausfällt, war bereits „in bürgerlichen Ländern" „zu deren geschäftsführendem Ausschuß" geworden. Nach dem durch den Sozialismus errichteten Frieden und überwundenen Kriegsstaat wird der Staat folglich einfach überflüssig: „Er stirbt ab, er verwandelt

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75 76

So M. Jacobs in der Einleitung der von ihm herausgegebenen, für den akademischen Unterricht sehr nützlichen Quellensammlung: „Die evangelische Staatslehre", Quellen zur Konfessionskunde, Reihe B, Heft 5, 1971, S. 38. So M. Jacobs, a.a. O., S. 44. E. Bloch, Thomas Münzer, 1963, S. 204.

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sich in eine internationale Verbrauchs- und Produktionsregelung, in eine große apparatliche Organisation zur Beherrschung des Unwesentlichen, die nichts Bedeutsames mehr enthält oder an sich ziehen kann, und deren rein verwaltungstechnisches Esperanto unterhalb der einzelnen Nationalkulturen gelegt ist, als welche die nächste gültige Kategorie sozialen Zusammenhangs sein dürften. Der begriffene Staat bedeutet derart schlechterdings nichts anderes als einen relativ stillstehenden Ausschnitt aus der Wirtschafts-, zuweilen der Militär-, grundsätzlich der Verwaltungsgeschichte; auf keiner dieser Stufen enthält er irgend ein Selbständiges, Geistiges, das nicht Ideologie wäre, sondern auf jeder dieser Stufen und erst recht auf der letzten besitzt er lediglich in dem entwirrenden, reibungslosen Funktionieren seiner mitten ins unlogische Leben gesetzten Ordnungsmethode sein Recht, seine einzige, völlig instrumenteile, negative Logik, Notstandslogik" 77 . An seine Stelle tritt eine „gewaltfreie, weil nicht mehr klassenhafte Ordnung" 78 . Solche der Krise entsprungene Utopie einer gewaltfreien Gesellschaft ohne Staat fand in den 70er und 80er Jahren vielfach erneut Anklang. Auch in der evangelischen Theologie fand sie Widerhall, besonders präsent bei Helmut Gollwitzer, der, Karl Barths Ansatz aufnehmend, diesen noch nicht für konsequent genug erklärte und daher weiterentwickelte zu einer Theologie des Sozialismus im Namen des Reiches Gottes. Dabei ist hier nicht der Nachweis der stets bekanntgewesenen Herkunft und Prägung Karl Barths durch die Schweizer Religiös-Sozialen von Bedeutung, sondern allein die Sachkritik an Barths Staatsauffassung. Gollwitzer hält Barth vor, dieser erkenne nicht, „daß das Evangelium auf Beseitigung der bürgerlichen Gesellschaftsordnung dränge" 79 , und „daß wichtige Erkenntnisse des Marxismus nur ungenügend in sein Bewußtsein eingedrungen sind". „Sein lebendiges politisches Interesse wie seine politischen Stellungnahmen bleiben, wie in der theologischen Sozialethik traditionell, auf den Staat, auf Regierungspolitik fixiert." 80 77

78 79

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E. Bloch, Geist der Utopie, 1980 3 , S. 298f. Vgl. dazu auch kritisch: G. Saut er, Zukunft und Verheißung. Das Problem der Zukunft in der gegenwärtigen theologischen und philosophischen Diskussion, 1973 2 , S. 345f. E. Bloch, Geist der Utopie, S. 306. H. Gollwitzer, Reich Gottes und Sozialismus bei Karl Barth, ThExh NF 169, 1972, S.43. A.a.O., S. 45.

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Als Alternative nennt Gollwitzer die Orientierung christlicher Ethik am Reich Gottes als Inbegriff eines „neuen Sozialismus" (im Anschluß an Martin Buber). Zwar unterscheidet Gollwitzer ein Reich Gottes als „absolute Utopie" eines Reiches ohne Schuld und Tod von der „konkreten Utopie" „einer zwar immer noch von Sünde und Tod geprägten, aber gerechteren und freieren Gesellschaft, also einer klassenlosen (d. h. nicht mehr in Klassen mit entgegengesetzten Interessen zerrissenen) Gesellschaft" 81 . Er folgert dann als Aufgabe christlich politischer Verantwortung „die Parteinahme für die konsequenteste Bewegung im Kampf um gesellschaftliche Gerechtigkeit und politische Freiheit" 82 , für die „permanente Revolution" einer „Bewegung auf die konkrete Utopie hin". Der Staat kann in dieser „besseren, sozialistischen Ordnung" 83 „nur noch Volkssouveränität, echte Demokratie" 8 4 sein. Man muß sich hüten, „unter dem ,Staat', der für ,Recht und Frieden' zu sorgen hat, eine Hypostase zu denken, die losgelöst über der menschlichen Gesellschaft schwebt" 85 . Nur der Grundsatz der Volkssouveränität, einer umfassenden Demokratisierung, einer „sozialistischen Demokratie" verhindert „die Hypostasierung des Staates, als habe dieser ein Wesen, das für sie, aus irgendeiner Wesensmetaphysik (die sich immer als Ausdruck sehr konkreter Partikular-Interessen enthüllen läßt) zu definieren wäre" 8 6 . 81

H. Gollwitzer, Befreiung zur Solidarität. Ginführung in die Evangelische Theologie, 1978, S. 152f.; vgl. ders., Die kapitalistische Revolution, 1974, v.a. 106ff.; ders., Forderungen der Umkehr. Beiträge zur Theologie der Gesellschaft, 1976; ders., Christentum, Demokratie, Sozialismus. Aufsätze zu Christentum und Sozialismus, Argument Studienhefte SH 39, 1980. Die Argumentation Gollwitzers findet sich auch bei: Y. Spiegel, Hinwegzunehmen die Last der Beladenen, Einführung in die Sozialethik 1, 1979, S. 282ff.: „Demokratisierung".

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H. Gollwitzer, Befreiung zur Solidarität. Einführung in die Evangelische Theologie, S. 154; zitiert wird: H. J. Kraus, Reich Gottes - Reich der Freiheit, 1975, S. 4 0 9 . H. Gollwitzer, a.a.O., S. 195.

83 84 85 86

A.a.O., S. 204. A.a.O., S. 202. A.a.O., S. 203. Der Begriff „Hypostasierung" dürfte hier wie bei Kant eine Vergegenständlichung von Begriffen meinen, was nach Kant „bloßes Blendwerk" ist, wenn man „das, was bloß in Gedanken existiert... in eben derselben Qualität als einen wirklichen Gegenstand außerhalb dem denkenden Subjekt annimmt", Kritik der reinen Vernunft A 384: Werke (ed. W. Weischedel), Bd. II, 1956, S. 385f.

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Hier hat sich nun der Kreis geschlossen: Ethische Reflexion auf Aufgaben und Grenzen des Staates ist aufgehoben in Geschichtsdeutung. Während jedoch aus der Verherrlichung des Staates als durch geschichtlichen Erfolg sich legitimierender Ordnungsmacht eine kritiklose Verabsolutierung der politischen Wirklichkeit folgte, erhebt diese neue „Politische Theologie" im Namen des Reiches Gottes, unter Berufung auf die Eschatologie die Stimme zum Protest. Theologische Ethik wird für sie zur prinzipiellen Negation des Bestehenden. Man könnte es paradox ausdrücken: Wenn Theologie an der politischen Realität, am Staat scheitert, dann beginnt in Wirklichkeit politische Realität erst da, wo die Theologie am Ende ist. Politische Macht, der Staat müßte sich aber dann auf die reine Funktionalität des Funktionierens reduzieren lassen. Eine ethische Einstellung zum Staat würde damit unmöglich, geschweige denn, daß Theologie das Thema des Staates als Problem der Verfassung in Sicht bekommen könnte. Denn wenn der Staat mit M a x Weber definiert wird durch die Monopolisierung der legitimen Anwendung des Mittels physischer Gewaltsamkeit 87 , dann steht für die Auffassung von Ethik gar nicht mehr die Brauchbarkeit dieser Definition zur Diskussion, sondern überhaupt die Zulässigkeit einer solchen Definition. Macht und Ethik, Macht und christlicher Glaube gelten ihr nämlich von vornherein als unvereinbar. Dies freilich nötigt dazu, will man sich nicht bei völliger Resignation bescheiden, auf Grundsatzfragen theologischer Ethik zurückzugehen. 88

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88

M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 1 9 7 2 5 , S. 5 1 9 ; vgl. Religionssoziologie I, 1972, 1 9 7 8 7 , S. 547. Kritisch zu Max Webers Definition: C. von Ferber, Die Gewalt in der Politik, 1970, S.86, 89ff. An kirchlichen Texten, auf welche eine staatskritische Position sich beruft, wären (z. B.) zu nennen: (1) Das „Darmstädter Wort des Bruderrats" (1947): „Zum politischen Weg unseres Volkes." Literatur dazu: H. Ludwig, Die Entstehung des Darmstädter Wortes, Beiheft zur Jungen Kirche 1977, Heft 8/9; D. Schellong, Versöhnung und Politik. Zur Aktualität des Darmstädter Wortes, in: K. G. Steck/D. Schellong, Umstrittene Versöhnung, ThExh N F 196 (1977), S. 3 5 - 6 6 ; G. Wendelhorn, Charta der Neuorientierung. Die Rezeption des Darmstädter Wortes heute, Fakten, Argumente. Berlin-Ost 1 9 7 7 ; E. Wilkens, Zum Darmstädter Wort vom 8. August 1947, in: G. Metzger (ed), Zukunft aus dem Wort, Festschrift für H. Class, 197S, S. 151-159 (Lit.). Das Darmstädter Wort ist ein

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3 . Theologische Grundlagen politischer Ethik (1) Die Frage nach dem angemessenen Ansatz einer theologischen Ethik des Politischen führt nur scheinbar vor eine Fülle von divergierenden Antworten. Sieht man von gewiß beachtenswerten Nuancen ab, so kann man nämlich diese Antworten auf zwei Grundmodelle zurückführen. Diese Grundmodelle werden üblicherweise mit den Schlagworten „Zweireichlehre" und „Königsherrschaft Christi" bezeichnet. Man hat diese beiden Modelle auch als „duale" und „monistische" Struktur der Ethik gekennzeichnet. 89 Der monistische Ansatz der Königsherrschaft Christi leitet unmittelbar aus dem Evangelium Kriterien für die Weltgestaltung und für politische Entscheidungen ab. Er kann gerade darum entschieden politische Position beziehen. Solche enge Verbindung von Theologie und Politik ist gleichzeitig seine Schwäche, da er nur zu leicht dem Sog politischer Heilslehren verfällt. Der duale Ansatz der Zweireichelehre hingegen unterscheidet zwischen Glaube und Welt, zwischen Theologie und Politik; er ist daher offen für eine rationale Prüfung politischer Entscheidungen und läßt Raum für Ermessensfragen. Diese Zurückhaltung gegenüber Weisungen politischer Theologie kann jedoch auch zur Schwäche werden: Der Rückzug aufs Grundsätzliche tendiert zu einer „Bewahrung des Bestehenden", in manchen Fällen erlaubt er sogar eine fatalistische Haltung der Resignation. 90 Man kann eine derartige Charakterisierung der Wirkung beider Modelle gelten lassen, sofern man sich dessen bewußt ist, daß das eigentlich schwierige Problem der Vermittlung von politischer Wirklichkeit Bußruf, ein Wort kirchlicher Selbstkritik im Blick auf die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts. (2) Die reformierte französische Kirche hat eine radikale gesellschaftskritische Studie veröffentlicht: L'Eglise et Pouvoir (deutsch: Kirche und Macht, Junge Kirche 33, 1972, Heft 3, S. 122-150). Diese Studie stellt unter Berufung auf die „andere" Welt des Gottesreiches die bestehende Gesellschaft (und Staatsordnung) in Frage. Kritisch dazu: C. Walther, Macht und soziale Gestaltung. Antwort auf eine französische Herausforderung, LMH 12 (1973), S. 3 6 5 - 3 7 0 ; vgl. ders., Macht oder Ohnmacht der Hoffnung. Zur französischen Studie über .Kirche und Macht', LMH 11 (1972), S. 3 3 6 - 3 4 1 . 89

So E. Wilkens, Die politische Verantwortung der Kirche in der Gegenwart, in: Zur politischen Verantwortung der Kirche, Bensheimer Hefte 4 5 , 1973, S. 2 4 52, v. a. S. 33ff.

90

A.a.O., S. 36.

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und ethischer Forderung damit nur schematisch und unzureichend erfaßt ist. Die heute gängige Alternative von „Zweireichelehre" und „Königsherrschaft Christi" ist allerdings erst im 20. Jahrhundert so gestellt worden. Zwar zählt die Leuenberger Konkordie von 1971 die Thematik von Zweireichelehre und Königsherrschaft Christi zu den Lehrdifferenzen, die innerhalb reformatorischen Kirchentums nicht kirchentrennend, aber gleichwohl aufzuarbeiten sind. 91 Aber wenn dadurch der Anschein erweckt wird, als habe diese Alternative mit dem tradierten lutherisch-reformierten Gegensatz zu tun, so trügt dieser Anschein. Denn die sogenannte Zweireichelehre war die gemeinsame Überzeugung der Wittenberger und Genfer Reformation, auch wenn das calvinistische Gemeindeverständnis eine theokratische Tendenz eher ermöglichte als das landesherrliche Kirchenregiment deutschen Luthertums. 92 Das Wort „Zweireichelehre" hat sich erst im Kirchenkampf und vor allem nach 1945 als Kurzformel eingebürgert und sogleich von einem Wegweiser in einen „Irrgarten" verwandelt. 93 Inzwischen hat man Grund zu zweifeln, ob das Wort sich noch sinnvoll und klärend in der theologischen Ethik verwenden läßt oder ob es nur noch als Totschlagwort und Etikett taugt. Kontroversen haben dies erneut 91

Zit. nach EKD Struktur- und Verfassungsreform, Dokumente und Materialien zur Reform der Evangelischen Kirche in Deutschland, hg. von H.-W. Heßler, epdDokumentation Bd. 6 , 1 9 7 2 , S. 145-152: Leuenberger Konkordie (Ziffer 39, S. 150f.).

92

Vgl. z.B. M. Luther, Von weltlicher Obrigkeit, 1523 (WA 11, 2 4 5 - 2 8 1 ) , ] . Calvin, Institutio Christianae Religionis, 1559, IV, 20. De politica administratione.

93

Vgl. den Aufsatz von K. Nowak, Zweireichelehre. Anmerkungen zum Entstehungsprozeß einer umstrittenen Begriffsprägung und kontroversen Lehre, ZThK 78 (1981), S. 105-127. Erstmals hat wohl Karl Barth polemisch den Begriff gegen Paul Althaus benutzt (vgl. K. Barth, Grundfragen der christlichen Sozialethik, in: Anfänge der dialektischen Theologie, hg. von Jürgen Moltmann, ThB 17 1 , 1 9 6 2 , S. 152-165, S. 156). Die lutherische Theologie hat das Wort nur sehr zögernd übernommen. Bei H. Dient, Luthers Lehre von den zwei Reichen, untersucht von seinem Verständnis der Bergpredigt aus. Ein Beitrag zum Problem: .Gesetz und Evangelium' (EvThB 5), 1938 (Neudruck bei: G. Sauter (Hg), Zur Zwei-Reiche-Lehre Luthers, ThB 49, 1973, S. 1-173) ist der Begriff dann fester Terminus. Das Wort „Irrgarten" benutzt Johannes Heckel (Im Irrgarten der Zwei-Reiche-Lehre, ThExh NF 55, 1957).

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und verschärft verdeutlicht. Daher hat man sich bei der Verwendung dieses Terminus gegen eine ganze Reihe von Mißverständnissen und Mißdeutungen abzugrenzen. Zunächst einmal ist Zweireichelehre nicht als eine ausgearbeitete oder gar geschlossene Theorie zu verstehen 94 . In dieser Hinsicht ist sie beispielsweise mit der katholischen Soziallehre oder auch mit manchen Naturrechtstheorien nicht einmal ihrem Anspruch nach, geschweige denn ihrer Ausführung nach zu vergleichen. Zweireichelehre bezeichnet vielmehr eine Interpretationshilfe, eine hermeneutische Kategorie, eine Anleitung zur Unterscheidung zwischen Welt und Gott, zwischen politischem Umgang mit weltlicher Macht und Glaube an Gottes Macht. Diese Unterscheidung ist in jeder Situation neu zu vollziehen. Sodann ist allein schon das Wort „Reich" mißverständlich. Eine neuere Interpretation schlägt vor, es durch das Wort „Regierweise" zu ersetzen. 95 Bei Luther werden die Begriffe Reich und Regiment wechselweise benutzt. Versuche, eine Zweireichelehre und Zweiregimentenlehre bei Luther selbst zu unterscheiden, haben jedoch m. E. zu keiner überzeugenden Lösung geführt. Das Wort „Zweireichelehre" legt außerdem das Mißverständnis nahe, als gehe es hierbei um eine Scheidung zweier „Bereiche", „Räume" und um die Etablierung und Rechtfertigung einer „Doppelmoral", während es doch um eine Unterscheidung innerhalb einer bestehenden, vorausgesetzten Zusammengehörigkeit geht. 96 Beide Reiche, das geistliche 94

Die Literatur dazu ist unüberschaubar geworden: J. Haun hat in dem von G. Sauter (Anm. 93) herausgegebenen Band S. 215ff. eine Bibliographie zusammengestellt. Wichtige Aufsätze sind in dem Band: H.-H. Schrey, Reich Gottes und Welt. Die Lehre Luthers von den zwei Reichen, WdF CVII, 1 9 6 9 enthalten. Zu nennen ist ferner: U. Duchrow, Christenheit und Weltverantwortung. Traditionsgeschichte und systematische Struktur der Zweireichelehre, 1970. Meine eigene Interpretation ist zusammengefaßt: Art. Zweireichelehre, Evang. Soziallexikon 1980, 7. Aufl. 1491-1494; sowie: M. Honecker, Thesen zur Aporie der Zweireichelehre, ZThK 78, 1981, S.128-140.

95

Thesen des Theologischen Ausschusses der VELKD: „Die beiden Regierweisen Gottes" in: N. Hasselmann (Hg), Gottes Wirken in seiner Welt. Zur Diskussion um die Zweireichelehre (Band 2), Zur Sache, Heft 20, 1980, S. 1 6 2 - 1 7 2 .

96

Der Vorwurf der „Doppelmoral" wurde von Ernst Troeltsch (Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, Ges. Schriften 1, 1 9 2 3 3 , S. 4 7 8 - 4 8 0 ) und Georg Wünsch (Der Zusammenbruch des Luthertums als Sozialgestaltung, 1921) erhoben. Vgl. dazu: A. Hakatnies, .Eigengesetzlichkeit' der natürlichen Ordnun-

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Reich wie das weltliche Reich, sind Gottes Reiche, in denen er jedoch seine Herrschaft auf unterschiedliche Weise ausübt. Die Terminologie der Zweireichelehre ist also bereits weithin irreführend. Dazu kommt in der Diskussion um die Zweireichelehre die Verquickung von historischer Lutherinterpretation und heutiger Anwendung, welche sie zu einem kaum noch entwirrbaren „Problemknäuel" werden ließ. 97 Für die historische Deutung Luthers ist ein zweifaches zu beachten: Einmal hat Luther keine politische Theorie entworfen. Auch die Zweireichelehre will dies nicht sein. Vielmehr wurde Luther zu theologischen Antworten auf politische Fragen konkret herausgefordert. Seine Unterscheidung von zwei Reichen oder Regimenten Gottes bot ihm eine Orientierungshilfe angesichts konkreter Sachfragen. 98 Zum anderen hat Luther diese Sachfragen nicht ausschließlich von der Zweireichelehre her theologisch beantwortet. Seine Deutungsmuster waren vielfältiger: Er griff z. B. auf die Dreiständelehre, auf die tradierte Unterscheidung von geistlicher und weltlicher Gerechtigkeit, auf konventionelle Gerechtigkeitsvorstellungen, den EpikieGedanken zurück. 99 Man tut Luther historisch Gewalt an, wenn man seine weithin okkasionell bestimmten Äußerungen durchgehend systematisiert. Umgekehrt ist es eine unbedachte und unzulässige Aktualisierung, wenn man meint, die Zweireichelehre lasse sich gegenwärtig nur so rezipieren, daß man ihre einzelnen Inhalte und Wertungen tradiert, also die Äußerungen Luthers und des Luthertums zu Todesstrafe, Widerstandsrecht, Obrigkeitsstaat, Ständeordnung und vieles andere mehr für heute Verbindlich oder auch für Unverbindlich erklärt. Die Zweireichelehre ist gerade nicht in ihren Konkretionen kasuistisch verpflichtend, sondern heute auf ihren Grundsinn hin

97 98

99

gen als Grundproblem der neueren Lutherdeutung. Studien zur Geschichte und Problematik der Zwei-Reiche-Lehre Luthers, 1971. Der Einwand des Denkens in „Zwei Bereichen", „Zwei Räumen" wurde von Dietrich Bonhoeffer formuliert (z. B. Ethik, 1956, S. 36, 19758, S. 208ff.). Das Wort „Problemknäuel" benutzt G. Sauter S. VII. Vgl. dazu: H. Kunst, Evangelischer Glaube und politische Verantwortung. Martin Luther als politischer Berater seiner Landesherrn und seine Teilnahme an den Fragen des öffentlichen Lebens, 1976. Vgl. dazu z. B. G. Müller, Theozentrische Begründung von Luthers ZweiReiche-Lehre, in: N. Hasselmann (Hg), a.a.O., S. 155-161, v. a. S. 161.

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freizulegen. Dieser Grundsinn ist die Einsicht in Fundamentalunterscheidungen. 100 Dazu zählen beispielsweise die Unterscheidung von Gottes Handeln und menschlichem Tun, von Glaube und Handeln des Christen, von Person und Werken, von Evangelium und Gesetz, von Glaube und Liebe, von Kirche und Staat, von geistlicher Gewalt und weltlicher Gewalt. Die Einübung solcher Unterscheidungen soll im konkreten Fall eine sachgemäße Wahrnehmung christlicher Verantwortung weltlichen Handelns ermöglichen. Verantwortung geschieht eben gerade nicht einfach in der bloßen Hinnahme und Sanktion politischer Wirklichkeit. Den Einwand, die Zweireichelehre beinhalte eine Legitimation des Bestehenden, erhebt die Formel „Königsherrschaft Christi". 1 0 1 Sie ist ursprünglich eine Reaktion auf den Mißbrauch der Zweireichelehre im Dritten Reich, welche den Totalstaat mit dem christlichen Glauben vereinbar machen sollte. Die Berufung auf die „Königsherrschaft Christi" sollte den Totalitätsanspruch des Staates auch theologisch als unzulässig erweisen. Die Formel „Königsherrschaft Christi" war ursprünglich also eine Protestformulierung gegen politische Totalitätsansprüche. Sie negiert den Totalitätsanspruch des Staates, indem sie ihm den Herrschaftsanspruch Christi ebenso absolut und total entgegensetzt. Aus der negativen Abgrenzungsformel wurde dann nach 1945 eine positive Programmformel. Damit ist diese Formel jedoch überfordert: Ihre Stärke zieht sie gerade aus der Negation totalitärer politischer Ansprüche: Der christ-

100

Vgl. dazu G. Ebeling, Die Notwendigkeit der Lehre von den zwei Reichen, Wort und Glaube I, i 9 6 0 , S. 4 0 7 - 4 2 8 ; ders., Leitsätze zur Zwei-Reiche-Lehre, in: Wort und Glaube III, 1975, S. 5 7 4 - 5 9 2 . Ebeling hat mit Nachdruck die coramRelation, die Forum-Situation als Ort der Unterscheidung der zwei Reiche herausgearbeitet und damit als ihren theologischen Ansatz die Unterscheidung dessen benannt, worauf es coram deo und worauf es coram mundo, coram hominibus ankommt.

101

Die Formel wurde vor allem von Ernst Wolf geprägt. Erstmals finden sich Überlegungen zu ihr bei A. de Quervain, Die Herrschaft Christi über seine Gemeinde und die Bezeugung dieser Herrschaft in der Gemeinde, EvTh 5, 1938, S. 4 5 - 5 7 . Zur Interpretation vergleiche: H.-W. Schütte, Königsherrschaft Christi. Thesen zur Funktion einer theologisch-politischen Formel, in: M. Baumotte u. a., Kritik der politischen Theologie, ThExh NF 175 (1973), S. 16-28; ders., Zwei Reiche Lehre und Königsherrschaft Christi, in: A. Hertz u.a. (Hg), Handbuch der christlichen Ethik, 1979 2 , S. 339-353. Ferner: M. Honecker, Art. Königsherrschaft Christi, in: Evang. Soziallexikon, 1 9 8 0 7 , 7 2 5 - 7 2 7 .

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liehe Glaube entzieht sich politischer Verfügbarkeit, da ihm Gott nicht im politischen Geschehen offenbarend begegnet, sondern Gottes Herrschaft unter dem Kreuz verborgen bleibt. 102 Richtig verstanden führt eine theologische Interpretation der Berufung des Glaubens auf das Herrsein Christi also wiederum auf die Fragestellung der Zweireichelehre zurück. Damit wird zwar nicht bestritten, daß faktisch oftmals die Berufung auf die Königsherrschaft Christi die Gestalt einer politischen Theologie annahm, welche Glaubensaussagen unmittelbar in politische Postulate umsetzt. Bestritten sei aber die theologische Legitimität solcher Gleichsetzung von Glaubensaussagen und politischer Programmatik. (2) Grundlegend für die reformatorische Zweireichelehre ist die Unterscheidung zwischen Vollmacht des Wortes und politischer Macht, wie sie in der „Schwertgewalt" symbolisiert wird. Das Phänomen der Macht gehört zu den Grundgegebenheiten menschlichen Lebens überhaupt. In Beziehung zu ihm hat sich darum auch christlicher Glaube auszulegen. Die Vorstellung, eine theologische Sicht des Lebens könne am Phänomen der Macht vorbeigehen, ist abwegig. Denn Macht und das Streben, Macht zu gewinnen, kennzeichnen nicht nur politische Vorgänge, sondern bereits die alltäglichen Beziehungen zwischen Menschen. Das Phänomen der Macht ist jedoch in sich selbst strittig. Geht man von der Möglichkeit des Mißbrauchs der Macht aus, so liegt das Urteil nahe, „Macht an sich sei böse". Aber dieses Urteil verkennt, daß nicht nur das Böse, sondern auch Gerechtigkeit und Liebe Macht haben können und der Macht bedürfen. Geht man von solchen allgemeinen Überlegungen zum Phänomen der Macht aus, so ist davon die Institutionalisierung von Macht in politischen Herrschaftsgebilden nicht auszunehmen. Das ist kritisch einzuwenden gegen theologische Tendenzen, welche eine herrschaftsfreie Gesellschaft anstreben und diese zumindest in der Kirche zeichenhaft vorwegnehmen wollen, und denen deshalb politische Ordnung als Institutionalisierung von Macht a priori verdächtig ist. Gewiß werden alle politischen Herrschaftsgebilde durch eine Ambivalenz gekennzeichnet, welche dem Staat ein Janusgesicht verleiht. Diese Ambivalenz kann man in den Satz fassen, es gelte „die Macht zu gebrauchen, um den Mißbrauch von Macht zu

102

Apol CA VII, 18: „regnum Christi ... tectum cruce".

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verhindern" 1 0 3 . Theologische Deutung sieht hier die politische Macht, den Staat in der Spannung zwischen dem Mandat Gottes, wonach er der Erhaltung der Welt zu dienen hat, und der Verkehrung dieses Mandats in den der Macht des Bösen verfallenen Schrekken politischer Gewalttätigkeit. Wegen dieser Beziehung des Staatsgedankens auf den Gottesgedanken verbietet es sich theologischer Ethik, den Staat zu hypostasieren: „Nicht göttlich ist der Staat, sondern er hat Gott zu dienen." 104 Reformatorische Theologie sieht freilich im Staat ein Werkzeug des verborgenen Gottes, nicht jedoch die offenbare Macht Gottes am Werk. Die „Zwiegesichtigkeit" des Staates gründet in der Zwiegesichtigkeit des in der Geschichte verborgenen Gottes. 105 Der Staat selbst wird infolge dieser Unterscheidung von menschlicher Macht und Gottes Macht zu einer profanen Angelegenheit. Diese Unterscheidung schließt die Absage an alle totalitären politischen Ansprüche ein. Aber ist diese Auffassung von politischer Macht möglich, wenn die Spannung zwischen politischer Macht und Glaube an die Macht Gottes überhaupt nicht mehr in Sicht ist? Damit bricht eine sehr tiefgreifende und schwer eindeutig zu beantwortende Frage auf, nämlich die, ob eine letzte Sinndeutung des Staates ohne Religion möglich ist. Für die Legitimation politischer Macht wie für die Begründung des Rechts wurde von jeher Religion beansprucht. Der Mißbrauch solcher Legitimation in Zynismus und Heuchelei, die Benutzung der Religion in einer instrumentalisierten „Politischen Theologie" dispensiert freilich nicht von der Frage, ob der Staat nur als Zweckeinrichtung, als funktionstüchtige Maschinerie legitimiert werden kann. Diese Frage freilich stößt weit ins Grundsätzliche vor: „Ob eine auf rein rationale Zweckmäßigkeitserwägungen begründete Auffassung des Politischen tragfähig ist, hängt von der weitergreifenden Frage ab, ob das humane

103

104 105

G. Ebeling, Dogmatik des christlichen Glaubens. Bd. III, 1979, S. 484; vgl. insgesamt G. Ebeling, Dogmatik. Bd. III, S. 479-491; sowie Bd. II, S. 541-543. Ferner: W.-F. Kasch, Art. Macht, in: Evang. Soziallexikon, 1980 7 , 856-861; P. Tillich, Liebe, Macht, Gerechtigkeit, 1955. G. Ebeling, Dogmatik des christlichen Glaubens. Bd. III, 490. A.a.O., S. 490: „Was von der Herrschaftsgestalt des Staates gilt, stellt... nur die auffälligste Erscheinungsweise dessen dar, wie in den Lebensverhältnissen der Menschheit überhaupt Gottes Mandat wirksam ist."

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Ethos, das geschichtlich mit demokratischem Denken verbunden ist, lebensfähig bleibt, wenn es von seinen ursprünglich religiösen Wurzeln völlig abgetrennt sein wird" 1 0 6 . (3) Die bisherigen Überlegungen beziehen sich zunächst einmal auf das, was man herkömmlich Staatsgesinnung nennt, also auf die Einstellung des Christen als Bürger zur politischen Macht. Eine Staatsform ist daraus unmittelbar nicht abzuleiten. In dieser Hinsicht hat sich Karl Barths Analogiemodell als problematisch erwiesen. Institutionen, nicht nur, aber vor allem auch politische Institutionen sind vielmehr Ergebnis geschichtlicher Erfahrungen. Man kann daher beim Versuch, sie zu verstehen, nicht von der Geschichte absehen. Institutionen sind weder Entwürfe reiner zeitloser Vernunft, noch auf eine außergeschichtliche Offenbarung zu begründen. Darum wird sich evangelische Ethik hüten müssen, bestimmte geschichtliche Entwicklungen mit dem Unbedingtheitsanspruch des Ewigen gleichsam zu überwölben. „Die reine Vernunft ist eine Kampfparole! Ihre Abstraktheit, die in einer bestimmten geschichtlichen Lage polemischen Nutzen bewies, haben folgende Generationen mit dem erbarmungslosen Zwang bezahlt, der ebenfalls im Namen reiner Vernunft ausgeübt wird. Daß die bleiche Göttin ein Gorgonenantlitz besitzt, war nicht auf den ersten Blick zu erkennen. Es hat geschichtlicher Erfahrungen bedurft, um die geschichtliche Bedingtheit des vermeintlich unbedingten Grundsatzes reiner Vernunft im Felde der Praxis zu durchschauen" 107 . Bedenkt man diese Einschränkung, so folgt daraus jedoch freilich nicht, daß für christliche Ethik die Verfassung eines Staates beliebig sei. Arthur Rieh hat das Verständnis von Gottes Macht als gerechter Macht und ihrer Unterscheidung von der Zweideutigkeit menschlicher Macht, unter Berufung auf Schweizer Rechtsphilosophen, zur These zugespitzt, daß die rechtsstaatliche Gewaltenteilungslehre „säkularisierte Trinität" sei 108 . Während ein monokratisches Machtverständnis zur Idee des Machtstaates führe, ergebe sich aus einem 106 107

108

A.a.O., S. 485. R. Bubner, Handlung, Sprache und Vernunft, Grundbegriffe praktischer Philosophie, 1976, S. 275ff., Zitat S. 288. A. Rieh, Radikalität und Rechtsstaatlichkeit 1979, S. 27-60; „Das Problem des Rechtsstaates aus der Sicht christlicher Radikalität", v. a. S. 37ff., 43. Rieh beruft sich auf: Hans Marti, Urbild und Verfassung. Eine Studie zum hintergründigen Gehalt einer Verfassung, o. J. und auf M. lmboden, Die Staats-

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dialogischen Machtgebrauch die Idee der partizipativen Gewaltenteilung. Rechtlich legitimierte Macht bedarf nämlich einer Begrenzung des immer möglichen Machtmißbrauchs. Bereits Montesquieu hat dies so begründet: „Damit man die Macht nicht mißbrauchen kann, ist eine Ordnung der Dinge nötig, kraft derer Macht Macht aufzuhalten vermag" (pour qu'on ne puisse abuser du pouvoir il faut que, per la disposition des choses, le pouvoir arrête le pouvoir). 109 In solchen Überlegungen, die wie gesagt zunächst von Juristen veranlaßt wurden, steckt zweifellos ein Stück Spekulation. Denn bedenkt man die Entstehung des Trinitätsglaubens und die höchst komplexe historische Entwicklung des Trinitätsdogmas, aber auch die Säkularisierung trinitarischer Vorstellungen auf der einen Seite, die Entstehungsgeschichte wie die Auslegungsprobleme der Gewaltenteilungslehre auf der anderen Seite, so verbietet sich die Annahme eines unmittelbaren und direkten Zusammenhangs. Gleichwohl kann dies nicht das letzte Wort sein: Denn das christliche Bekenntnis zur Kondeszendenz Gottes vollzieht eine Wandlung im Gottesverständnis und wird dadurch zur Wurzel christlicher Trinitätslehre. Die Trinität ist, neben dem Kreuz, das Grundsymbol christlichen Glaubens. Dieses Grundsymbol deutet immer auch Wirklichkeit und läßt damit auch die politische Wirklichkeit nicht unverwandelt. Es schließt eine Unterscheidung von politischer Macht und Glaubenszeugnis, konkret von Staat und christlicher Gemeinde in sich ein, weil der dem Glauben offenbare Gott in der politischen und geschichtlichen Realität verborgen ist. Diese Spannung zwischen Glauben an die Macht Gottes und Einsicht in die Notwendigkeit wie Zweideutigkeit politischer Macht scheidet für den recht verstandenen christlichen Glauben die Möglichkeit der Theokratie wie ihrer profanen Varianten ideologischer Tyrannei aus. Christlicher Glaube kann sich, recht verstanden, auch nicht zum Anwalt einer anarchischen, herrschaftsfreien und machtlosen Gesellschaft aufschwingen. Er enthält vielmehr eine Affinität

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formen, 1959. Imboden spricht von einer „Synthese von Demokratie und trinitarischem Rechtsstaate" (S. 103), betont aber zugleich: „Die Rationalität der Funktionendreiheit ist das die Gewaltentrinität tragende und rechtfertigende Motiv" (S. 109); vgl. a.a.O., S. 46ff.: Der Gewaltenpluralismus als Bild der Trinität. Marti (S. 66ff.) nennt die Gewaltenteilungslehre „säkularisierte Trinität" (S. 69). Montesquieu, De L'esprit des Lois XI,4.

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zu gemäßigten Staatsauffassungen, in denen die Macht durch das Recht und durch institutionelle Verfahren gebändigt wird. Die Ausgestaltung solcher rechtsstaatlichen Staatsordnung ist im einzelnen dann jedoch eine Sache politischer Vernunft und geschichtlicher Erfahrung. Im Rahmen des Grundverständnisses christlichen Glaubens und der darin eingeschlossenen Sicht vom Leben des Christen in der Welt, auch und gerade in der politischen Welt, hat daher eine rechtsstaatliche Gewaltenteilungslehre ihren Sinn und ihren Ort. Diese Gewaltenteilungslehre hat sich dann freilich in ihrer politischen und rechtlichen Verwirklichung durch Rationalität als sinnvoll und menschliche Freiheit und Verantwortung schützend zu erweisen, wobei Kriterien der Ethik und gerade auch einer christlichen Tradition verpflichteten theologischen Ethik im einzelnen zur Geltung zu bringen sind. Das Christentum hat nämlich von Anfang an die Überzeugung vertreten, daß das Gewissen die Macht und nicht die Macht das Gewissen zu beurteilen habe. Daraus entspringt kein Anspruch, die rechte Staatstheorie zu besitzen und in der Erkenntnis politischer Realität dem Unglauben, der „bloßen" Vernunft überlegen zu sein. In einer weltanschaulich pluralistischen, säkularen Gesellschaft kann überdies der Staat seinen Anspruch auf politische Gestaltung nicht anders als mit allgemein einsichtigen Argumenten vertreten. Gerade die im christlichen Glauben beschlossene Entmachtung jeden politischen Anspruchs, letzte verbindliche Autorität zu sein, gibt den Staat frei. Sie setzt ihn zwar nicht frei von ethischen Bewertungen, wohl aber gewährt sie ihm die Freiheit zu pragmatischer, zweckdienlicher Gestaltung politischer Verhältnisse. Politische Prophetie der Kirche oder politische Theologie, die dem Staat, kraft besserer Übersicht und überlegenen Wissens, Gestaltung und Handeln meinen vorschreiben zu können, sind eine höchst fragwürdige Angelegenheit. Die unverstellte und offene Wahrnehmung politischer Wirklichkeit und die fehlende Eindeutigkeit jeglicher politischer Macht kann Christen davor warnen, die politische Prophetie dahingehend mißzuverstehen, „als solle und könne sich die Kirche über ihren besonderen Auftrag hinaus staatliche Art, staatliche Aufgaben und staatliche Würde aneignen" (Barmen V). 1 1 0 Der Auftrag der Kirche kann 110

Die EKD-Synode hat 1956 zur Stellung der Kirche in Ost und West erklärt: „Das Evangelium widerstreitet jedem Versuch, eine bestimmte menschliche

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nur die Weitergabe des Evangeliums und der Ruf zum Glauben sein. Dieser Ruf trifft aber auf eine Lebenswirklichkeit, zu der nicht zuletzt die Probleme des Staates als institutionalisierter politischer Macht gehören. Der Ruf zum Glauben kann nicht ohne solchen Bezug und ohne Folgen für die Lebenswirklichkeit laut werden und sich vernehmbar machen. Darum können die Probleme staatlichen Handelns und politischer Ethik gar nicht außen vor der Kirchentür bleiben: Nur in einer unauflöslichen Spannung zwischen Verantwortung des christlichen Glaubens ohne Schielen auf politische Relevanz und Verantwortung im Umgang mit politischer Macht wird eine evangelische Ethik des Politischen theologisch sinnvoll und möglich. Christian Graf von Krockow hat diese Spannung so formuliert, daß er einerseits feststellt: „Menschliche Politik - eine Politik, die Freiheit und Würde des Menschen achtet und wahrt - ist nur in einem Horizont des Unglaubens möglich" 111 , und andererseits gleichwohl fragt: „Ist ungläubige Politik ohne ihre Spannung zum Glauben hin möglich? Muß sie, als Vorletztes absolut genommen, nicht im Opportunismus verdorren und am Letzten scheitern?" 112 Das ist und bleibt in der Tat die offene Frage, deren Antwort darum, weil sie nur

Gesellschaftsordnung als absolut zu behaupten und sie mit Gewalt als letztes Ziel der Menschheit durchzusetzen. Das Evangelium rückt uns den Staat unter die gnädige Anordnung Gottes, die wir in Geltung wissen, unabhängig von dem Zustandekommen der staatlichen Gewalt oder ihrer politischen Gestalt. Das Evangelium befreit uns dazu, im Glauben Nein zu sagen, zu jedem Totalitätsanspruch politischer Macht, für die von ihr Entrechteten und Versuchten einzutreten und lieber zu leiden, als gottwidrigen Gesetzen und Anordnungen zu gehorchnen" (zit. nach Violett-Buch 1963 3 , S. 8). Damit ist eine Spannung treffend bezeichnet, wonach politische Macht, wie sie der Staat darstellt, zugleich Erhaltung, Vorsehung und Sünde verkörpert. (Vgl. dazu auch W. Schweitzer (Hg), Das Zeugnis der Kirche in den Staaten der Gegenwart, 1979, v. a. S. 93 die Bemerkung von Bruce Douglas zum Begriff „institutionalisierte Gewalt".) Dies schließt selbstverständlich nicht aus, daß man die Aufgaben des Staates noch präziser bestimmen kann als dies in Barmen V geschieht (vgl. dazu die von K. Barth berichteten Vorschläge bei E. Wolf, Politischer Gottesdienst, S. 294). Barth führte u. a. aus: Gewaltanwendung könne nur ein äußerster Grenzfall sein. Der Staat habe dem „Gemeinwohl zu dienen und also für Recht, Frieden und Freiheit zu sorgen". 1934 fehlte das Wort Freiheit. 111

112

C. Graf von Krockow, Verantwortung für den Unglauben - ein politisches Traktat über den Glauben, in: H. Albertz/J. Thomseti (Hg), Christen in der Demokratie, 1978, S. 197-209, Zitat S. 197. A.a.O., S. 209.

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eine Antwort des Gewissens sein kann, sich gerade dem direkten politischen Zugriff entzieht und eben deshalb zu konkreter Verantwortung für einen menschenwürdigen Staat verpflichtet. Auf diese Frage hat Jesus seiner Zeit in der Zinsgroschenfrage eine Antwort gegeben: „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist" (Markus 12,17). Leopold von Ranke nannte diese Antwort das wichtigste und folgenreichste Wort Jesu. 113 Diese Wertung ist sicherlich übertrieben. Aber in der Auslegung dieses Wortes und in Auseinandersetzug mit ihm hat seit zwei Jahrtausenden das Christentum das Verhältnis von Glaube und politischer Maßt je neu zu bestimmen gesucht. Eine schiedlich-friedliche Trennung von Politik und Glaube, von theologischer Reflexion und staatlicher Realität wird dabei diesem Bibelwort so wenig gerecht wie eine Vermischung von Theologie und Politik. 114 Die hier gerade theologisch gebotene Differenzierung wird darum die Spannung niemals aufheben können, in welcher im Johannesevangelium die Konfrontation zwischen Jesus und Pilatus, zwischen der Macht des Glaubens und der politischen Macht sich abspielt 115 . Jesu Machtan113 114

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L. von Ranke, Weltgeschichte III, 1, 1883, S. 161f. Vgl. dazu: W. Schräge, Die Christen und der Staat nach dem Neuen Testament, 1971, S. 30-40. W. Schneemelcher, Kirche und Staat im Neuen Testament, in: K. Aland/W. Schneemelcher (Hg), Kirche und Staat. Festschrift Hermann Kunst 1967, S. 1-18; S. 6ff.: Zur Zinsgroschenfrage. Schneemelcher faßt das Ergebnis der Auslegung von Mk 12,13-17 par zusammen: „Damit ist ein anderer Weg gezeigt, als er im damaligen Judentum sonst propagiert wurde. Nicht die Auflehnung der Zeloten, nicht die Flucht der Pharisäer in das Gesetz, nicht die politische Klugheit der Sadduzäer, aber auch nicht die reinliche Trennung der Politik von dem frommen Leben sind dem Jünger Jesu als Wege gewiesen. Sondern der praktische Gehorsam in dieser Welt ist gefordert, Gehorsam gegen Gott, der die Kraft gibt, auch in dieser Welt sich zu bewähren. Gewiß kann man keine detaillierte Vorschrift für das Verhalten der Gemeinde in Staat und Gesellschaft aus diesem Wort herauslesen. Aber dies wird deutlich: Niemals kann irgendein Staatsgebilde mit Gottes Herrschaft gleichgestellt werden. Die Ordnung des Imperium Romanum, wie die eines jeden anderen Reiches dieser Welt steht im Schatten des kommenden, in Jesus anbrechenden Reiches Gottes mit seiner Forderung und seinem Anspruch. Solange aber das Reich des Kaisers besteht, muß die Pflicht erfüllt werden." (S. 9). Vgl. dazu W. Schräge, a.a.O., S. 48f. Auch wenn exegetisch evident ist, daß Joh 19,10f. Pilatus als ein „Werkzeug der Verwirklichung des göttlichen Heilsplanes" (S. 49) bezeichnen will, scheint es mir doch möglich, diesen Satz dahingehend zu verstehen, daß Gott sich in der Welt menschlichen Handelns und menschlicher Einrichtungen bedient, um durch sie verborgen zu wirken.

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spruch ist nicht der eines politischen Machthabers, wenn er Pilatus antwortet: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt" (Joh 18,36). Die Autorität des Staates beruht nicht auf seiner Legitimierung durch den christlichen Glauben. Dennoch macht Jesus auch Pilatus auf seine Verantwortung vor Gott aufmerksam, wenn er ihn daran erinnert, daß auch er keine Macht über ihn hätte, sie würde ihm denn von oben gegeben (Joh 19,10f.).

4. Öffentliche Erinnerung an Gott Anlässe wie die Diskussion um Streichung der invocatio dei in der Verfassung des Landes Niedersachsen, die Abschaffung des Bußund Bettages als gesetzlichem Feiertag zugunsten der Finanzierung der Pflegeversicherung und Kontroversen um die Militärseelsorge innerhalb der evangelischen Kirche waren der Anstoß zur folgenden Grundsatzüberlegung in einem Vortag am Büß- und Bettag 1994 in der Akademie Rastede der Evangelischen Kirche Oldenburg.

1. Öffentliche Erinnerung Was soll die eigenartige Formulierung des Themas „Öffentliche Erinnerung an Gott" eigentlich sagen? Klingt sie nicht wie ein ferner, vergessener Gedanke an etwas Unbekanntes, an etwas Vergangenes, an eine Sage aus alten Zeiten? Die Einladung zur „Öffentlichen Erinnerung an Gott" wirkt auf manche so, als wolle man sagen: da war doch einst etwas, und die Frage anfügen: Was war es denn eigentlich nur. Dunkle Erinnerungen steigen auf. Kindheitserinnerungen. Nachkriegszeit. Konfirmandenunterricht. Richtig - da war doch einmal von Gott die Rede. Das aber ist Vergangenheit. Bei Gebildeten schwingt auch die Erinnerung an die Rede vom „Tode Gottes" mit, das Te Deum, das Nietzsches „toller Mensch" dem toten, dem abhandengekommenen Gott anstimmt. Und daran soll man nun auch noch öffentlich erinnern? Ist denn in unserer Kultur nicht der Glaube, die religiöse Überzeugung zur Privatsache geworden, die niemanden etwas angeht? Im Islam, in Israel, bei den Fundamentalisten in den USA, da mag dies alles ganz anders sein. Aber bei uns - im aufgeklärten, postmodernen Deutschland, da hat Gott doch in der Verfassung und Politik nichts mehr zu suchen. Genau diese kritische Rückfrage ist die Aufgabe. Zur Formulierung des Themas regt an die 5. These der Barmer Theologischen Erklärung.

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Öffentliche Erinnerung an Gott

Es ist nach der Barmer Erklärung der Auftrag der Kirche an Gott, sein Reich, sein Gebot, seine Gerechtigkeit zu erinnern. Erinnern heißt ins Bewußtsein rufen, erinnern heißt ebenfalls eindringlich auf etwas hinweisen, mit Ernst mahnen. Wer sich erinnert, nimmt folglich seine Zeit, die Gegenwart wahr. Er bemüht sich, sie zu verstehen. Der Kirchenvater Augustin hat sogar gemeint, das Gedächtnis, die memoria sei der Ort, in dem wir schon immer in die Wahrheit hineingebunden sind und wo wir Gott finden. Wer sich nicht erinnern kann oder erinnern will, der vergißt daher auch Gott. Der Verlust der Erinnerung macht sprachlos, macht unfähig zur Einsicht. Erinnern ist somit mehr als ein bloßes Gedenken, bloßes Wiederkäuen, also kein Archivieren von Erbstücken der Vergangenheit. Erinnern heißt immer zugleich auch: sich innerlich aneignen, verinnerlichen. Darauf macht gerade die 5. Barmer These aufmerksam, wenn sie betont: Die Kirche „erinnert an Gottes Gebot und Gerechtigkeit". Gottes Gebot und Gerechtigkeit gehen uns gegenwärtig an. Und sie erinnern dabei zugleich „an die Verantwortung der Regierenden und Regierten". Keiner ist von dieser Erinnerung ausgenommen. Wir alle sind als Bürger verantwortlich. Und wir werden zu solcher Verantwortung befähigt durch das Wort, das Gott erinnert. Die Kirche „vertraut und gehorcht der Kraft des Wortes, durch das Gott alle Dinge trägt". Gott trägt alle Dinge. Das sagt uns das Wort. Dieses Wort hat Kraft, Dynamik. Es wirkt. Es ist wirksames Wort. Aus den Vorentwürfen zur 5. Barmer These ist bedauerlicherweise ein Satz entfallen, an den ebenfalls zu erinnern lohnt. In einem Entwurf zur 5. These war formuliert: „Die Kirche, frei in der Bindung an ihren Auftrag, begleitet den in der Bindung an seinen Auftrag ebenso freien Staat mit ihrer Fürbitte." Kirche und Staat sind in ihrem jeweiligen Auftrag frei. Sie sind voneinander unabhängig. Aber die Kirche begleitet den Staat mit ihrer Fürbitte. Die Fürbitte für Obrigkeit und Untertanen, für Herrscher und Beherrschte, für rechte Regierung wie für die Verfolgten und Entrechteten war von Anbeginn an Verpflichtung der christlichen Gemeinde. Christen sollen vor allem anderen zuerst „Bitte, Gebet, Fürbitte und Danksagung für alle Menschen, für die Könige und für alle Obrigkeit tun" (1. Tim. 2,lf). Wer für einen anderen betet, kann dies allerdings nicht gedankenlos tun. Er muß mitdenken. So ist der ursprüngliche, spezifische Ausgangspunkt christlicher Mitverantwortung am öffentlichen Leben die laut gesprochene Fürbitte.

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Die Aufgaben von Kirche und Staat sind zwar nicht dieselben. Sie sind verschieden. Man hat deshalb Kirche und Staat, christlichen Gottesdienst und politische Aufträge, Mandate richtig zu unterscheiden. Das schärft die 5. Barmer These grundsätzlich ein. Aber man darf beide auch nicht voneinander trennen und auseinanderreißen. Der Christ als Bürger hält beides zusammen, Glaube und Politik. Gottes Gebot und Gerechtigkeit gilt für beide, für Kirche und Staat. So geht es um die uns heute aufgegebene rechte Unterscheidung und rechte Zuordnung, öffentliche Erinnerung an Gott ist eine Sache, die Kirche und Staat, Christen und Nichtchristen in unserer Gesellschaft gleicherweise angeht.

2. Gott in der Verfassung Gehört die Anrufung Gottes, die Nennung des Namens Gottes in die Präambel der Verfassung eines weltlichen, säkularen Staates? Darf ein weltanschaulich neutraler Staat seine Bürger überhaupt auf die Verantwortung vor Gott ansprechen? Die Diskussion um die niedersächsische Verfassung hat aufgrund einer christlich-jüdischen Volksinitiative, die in kurzer Zeit mehr als 100 000 Unterschriften zusammenbrachte, erreicht, daß im Vorspruch der überarbeiteten niedersächsischen Verfassung nachträglich das Volk auf seine „Verantwortung vor Gott und den Menschen" angesprochen werden soll. Gerade Christen haben zwar kritisch eingewandt, diese Formel sei „staatliche Anmaßung und ein Stück Blasphemie" (so die katholische Theologin Uta Ranke-Heinemann). Auch bei der Debatte um die Änderung des Grundgesetzes der Bundesrepublik wurde ebenfalls eine Änderung der Präambel vorgeschlagen; danach habe das Deutsche Volk „im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, seine staatliche und nationale Einheit zu wahren und als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa den Frieden der Welt zu dienen" das Grundgesetz beschlossen. Der evangelische Theologieprofessor Wolfgang Ullmann schlug statt dessen vor, zu sagen: „Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor der deutschen Geschichte und gegenüber künftigen Generationen ...". Warum wird die Streichung der invocatio dei, der Anrufung Gottes ausgerechnet von Theologen vorgeschlagen? Was sind die Begründungen, die Argumente dieser Forderung.

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Es ist dies in der Regel eine doppelte Begründung: (1) Der neuzeitliche Staat sei säkular, weltlich. Er ist zu weltanschaulicher Neutralität verpflichtet und hat die Gewissensfreiheit aller Bürger zu achten. Er hat auch Atheisten, Dissidenten Religionsfreiheit zu gewähren und darf keinerlei Bekenntniszwang ausüben. Dies gilt zumal dann, wenn die Gesellschaft weithin atheistisch geworden, von Gott nichts mehr wissen will und nicht zur Kirche gehört. Wolfgang Ulimann kommt von der Erfahrung mit einer atheistischen Ideologie des Marxismus und einem dieser Ideologie verpflichteten Staat her. Der Staat hat sich nicht in das Gewissen der Bürger einzumischen. Die Anrufung Gottes wird damit genauso bewertet wie ein ideologischer Bekenntniszwang in einem totalitären Staat. (2) Dazu kommt ein anderes theologisches Argument. Gott sei nicht allgemeinmenschlich zu erfassen. Er hat nur in Jesus Christus sich offenbart. Es ist dies die Position einer Offenbarungstheologie, für die alles nicht von der Christusoffenbarung bestimmte Reden von Gott nur Religion ist. Religion ist aber nach Karl Barth Menschenwerk und steht im Gegensatz zu Gottes Offenbarung. Hinter Ullmanns Ablehnung der invocatio dei steht also eine Offenbarungsauffassung, nach der von Gott ausschließlich in der Kirche legitimerweise gesprochen werden kann und darf. So spielen eine bestimmte Sicht des säkularen Staates und ein nur im evangelischen Bereich verbreitetes Offenbarungsverständnis bei der Verwerfung der Verfassungsformel „in Verantwortung vor Gott" zusammen. Ein solches evangelisch-konfessionelles Offenbarungsverständnis lehnt jedes Reden von Gott außerhalb der Christusoffenbarung als natürliche Theologie ab. Die katholische Tradition hingegen lehrt ausdrücklich eine Erkenntnis Gottes aufgrund von Vernunfteinsicht und damit eine natürliche Theologie. Politische wie konfessionelle und theologische Hintergründe sind also in der Debatte um den Gottesbezug in der Verfassung zu beachten. Gehört Gott überhaupt ins Grundgesetz? Die Antwort auf diese Frage vorwegnehmend, sei gesagt: Die Nennung Gottes muß nicht sein - aber die Erinnerung ist sinnvoll, gut und richtig. Eine differenzierte Antwort hat also sorgfältig zu klären und zu begründen. Die Verfechter des Gottesbezugs stehen nämlich im Verdacht, nur einem neuen christlichen Fundamentalismus Vorschub zu leisten und den Unterschied von Staat und Kirche verwischen zu wollen. Müßte man

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die Anrufung Gottes so verstehen, so würde sie in der Tat besser unterbleiben. Denn es wäre für einen weltanschaulich neutralen Staat in einer religiös pluralistischen Gesellschaft nicht zumutbar, wollte man den Staat auf eine bestimmte Theologie und religiöse Überzeugung festlegen. Die Präambel setzt aber nicht unmittelbar geltendes Recht. Sie bildet nicht die Rechtsgrundlage, die unmittelbar anzuwenden ist. Die Präambel erinnert - nicht mehr, aber auch nicht weniger. In einer rechtsstaatlichen Verfassung ist das Grundrecht der Religionsfreiheit, der Glaubens- und Gewissensfreiheit unantastbar. Die Religionsfreiheit ist auch als negative Freiheit zu respektieren und zu schützen, also als Freiheit, keinen Glauben zu bekennen und keine Religion anzuerkennen. Der Staat soll Heimstatt aller Bürger sein. Er darf deshalb keine Religion und keine Glaubensüberzeugung vorschreiben. Daraus folgt, daß die Präambel keine konfessionelle Position festschreiben darf, also nicht etwa die allerheiligste Dreifaltigkeit oder die Jungfrau Maria nennen darf. Deutschland ist kein konfessionell einheitliches Land. Es kann somit nur ein allgemeiner, unbestimmter Verweis auf Gott sein. Darum ist denjenigen zu widersprechen, welche die Präambel als Rechtsgrundlage beanspruchen und daraus die Verpflichtung des Staates herleiten, den christlichen Gott anzuerkennen. Die „Verantwortung vor Gott" ist kein staatlicher Grundwert, der bei der Grundgesetzinterpretation allenthalben anzuwenden wäre. So ist es nicht. Man darf also auf die Unterbestimmung der invocatio dei nicht mit einer ebenso maßlosen Überbestimmung reagieren. Auch Agnostiker und Atheisten schützt die Verfassung gleicherweise. Staatliche Ordnung und kirchlicher Auftrag bleiben eben verschieden. Verglichen mit dem Auftrag der Kirche ist die Aufgabe des Staates „nach göttlicher Anordnung" eine andere, aber keine geringere. Die staatliche Ordnung ist kein „Minus", sondern ein „aliud". Auch entsteht und beruht jede Verfassung auf einem politischen Kompromiß. Beachtet man diese Verschiedenheit, so ist Hans-Jochen Vogel recht zu geben, der sich leidenschaftlich in der Debatte um die Änderung des Grundgesetzes gegen die Streichung des Gottesbezugs aussprach. Er begründete den Hinweis auf die Verantwortung vor Gott damit, sie sei eine „Selbsterinnerung an die Grenzen und die Fehlbarkeit menschlichen Tuns". Die Erwähnung Gottes im Grundgesetz stehe dafür, „daß der Mensch nicht allmächtig" sei. Die Nennung Gottes setzt keine Rechtsnorm; sie hält eine Leerstelle

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offen. Die „Verantwortung vor Gott" erinnert daran, daß es keine irdische letzte Macht gibt, daß Politik keine absolute Gewalt über Menschen hat. Die Gewissensbindung des Menschen hat Vorrang vor dem Staat. Gott aus dem Grundgesetz eliminieren wollen, dies würde heute bedenklichen Tendenzen Vorschub leisten. Der Mensch würde nur noch funktional betrachtet; ein banaler Materialismus, blanker Hedonismus, die ausschließliche Orientierung an materiellen Werten und ein Verlust an Tradition und Kultur würden damit offiziell sanktioniert. Die Welt des fröhlichen und gleichgültigen Roboters bekäme Recht. Selbstverständlich schützt auch die Verpflichtung auf Gott nicht automatisch vor Hybris und Machtmißbrauch. Aber eine Selbsterinnerung an die Grenzen menschlicher Macht und an die Fehlbarkeit und Versuchlichkeit des Menschen kann wenigstens zur Besinnung anhalten. Sie ist ein Hemmnis menschlicher Selbstüberschätzung und politischer Allmachts- und Allzuständigkeitsgelüsten und -phantasien. Allerdings ist zu bedenken, daß eine „Leerstelle" eben nicht durch den Staat inhaltlich auszufüllen ist. Ein Staat, der sich als freiheitlicher und säkularer Rechtsstaat versteht, kann nicht Gott verkündigen, predigen wollen. Er schreibt keine Gottesvorstellung vor und legt nicht Glaubensüberzeugungen fest. Für Verkündigung und Theologie ist allein die Kirche zuständig: Glauben zu vermitteln ist keine politische Angelegenheit. Kirche und Theologie können aber nicht davon absehen, daß es auch außerhalb der Kirche und des Christentums eine Ahnung von Gott gibt. Luther fragt in der Auslegung des 1. Gebotes im Großen Katechismus „Was heißt einen Gott haben?" und antwortet, das Vertrauen und Glauben des Herzens mache Gott und Abgott. Die eigentlich theologische Aufgabe beginnt dann da, wo es darauf ankommt, den wahren vom falschen Gott, den Glauben an Gott von Aberglaube, religiösem Mißbrauch und Irrtum zu unterscheiden. Würde die Präambel, ein bestimmtes Gottesbild festlegen und proklamieren, würde sie ihre Zuständigkeit und Kompetenz überschreiten. Solange aber Bürger hinter dem Hinweis auf Gott stehen, ist es weder politisch noch theologisch geboten und auch nicht sinnvoll, den Gottesbezug zu streichen Die Schweizerische Verfassungsdebatte nach 1978 führte zu eben diesem Ergebnis. Die Selbstverständigung eines Volkes in einer Verfassungsdebatte kann somit auch dazu führen, daß man sich wieder auf Gott besinnt und ein Stück Gottesvergessenheit überwindet. Denn mit der Gottesfrage verknüpft sich

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das gesamte Welt-, Rechts- und Staatsverständnis. Ein Vergleich mit anderen Verfassungen, deren Präambeln und Grundrechtskatalogen zeigt dies. Die invocatio dei steht zwar verfassungsgeschichtlich in einer Tradition, wonach Herrschaft „von Gottes Gnaden" legitimiert wird. 1 Man wird jedoch die Präambel des Grundgesetzes nicht im Sinne einer theonomen Legitimation der Verfassung deuten können. Das Grundgesetz bindet den Staat nicht an eine bestimmte Religionsvorstellung. 2 Es tritt nicht für den christlichen Staat ein. Die Aufnahme der Kirchenartikel der Weimarer Reichsverfassung in Artikel 140 des Grundgesetzes bekräftigt vielmehr die „hinkende Trennung von Staat und Kirche" (Ulrich Stutz), wenn festgehalten wird: „Es besteht keine Staatskirche" (WRV Art. 137 I). Nach Artikel 2 0 Absatz 2 Grundgesetz geht die Staatsgewalt vom Volke, nicht von Gott aus. Die theonome Spitze der Präambel schränkt ferner nicht die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses der Bürger ein (Art. 4 I Grundgesetz). Göttliche Ordnung und staatliche Ordnung sind verschieden - im Sinne der lutherischen Unterscheidung der Zwei Reiche. Die Präambel trägt kein „theonomes Superverfassungsrecht". 3 Ist dann aber die Präambel nicht doch bloßes verzichtbares rhetorisches Ornament, Erinnerung an vergangene Formen politischer Legitimation und an das Erbe christlicher Kultur, heute jedoch eine peinliche Verlegenheit? 4 Ganz so konventionell ist die Formel freilich gerade nicht zu deuten. Den Staat erinnert sie - wie gesagt - an 1

Vgl. E.L. Behrendt (Hg.), Rechtsstaat und Christentum, Bd. 1, 1982, darin u.a. 127-152. D. Blumenwitz, Gott und Grundgesetz, 163-186. E. L. Behrendt, Rechtsstaat und Christusbekenntnis, 187-193: „Gott im Grundgesetz". Theologische Bemerkungen zu einer nicht rezipierten Formel.

2

Vgl. die Invocatio dei in der Eidgenössischen Verfassung: „Im Namen Gottes des Allmächtigen ...". Die Irische Verfassung beginnt: „Im Namen der Allerhöchsten Dreifaltigkeit, von der alle Autorität kommt, und auf die, als unserem letzten Ziel, alle Handlungen sowohl der Menschen wie der Staaten ausgerichtet sein müssen, anerkennen wir das Volk von Irland. In Demut alle unsere Verpflichtungen gegenüber unserem göttlichen Herrn, Jesus Christus. ..."

3

Blumenwitz (Anm. 1),132.

4

Vgl. K. Schiaich, Konfessionaliät - Säkularität - Offenheit. Der christliche Glaube und der freiheitlich-demokratische Verfassungsstaat, in: Trutz Rendtorff (Hg.), Charisma und Institution, 1 9 8 5 , 1 7 5 - 1 9 6 . Auf S.187 wird bezüglich des Zitats die Meinung referiert: „Die Präambel gibt die subjektiven Empfindungen der Abgeordneten wieder ..."

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die Grenze aller staatlichen Gewalt. Sie verweist nämlich auf eine höhere Verantwortung als sie die innerweltliche politische Verfassungsordnung einfordern kann. Die unableitbare These „Die Würde des Menschen ist unantastbar" (Grundgesetz Artikel 1) wurzelt nach christlichem Verständnis in der Anerkennung Gottes als Herr und Erhalter aller Menschen. Zugleich erinnert die Präambel die Bürger an ihre politischen Aufgaben und Verpflichtungen. Sie begründet Grundrechte und bürgerliche Pflichten. In diesem Sinne ist sie Benennung eines Grundkonsenses, verweist sie auf Grundwerte und fragt nach dem Beitrag von Religion zur Konsensstiftung in einer Gesellschaft. Das ist das Stichwort einer Zivilreligion. Mehr als ein Hinweis kann die Nennung Gottes in der Verfassung allerdings nicht sein wollen. Keine Verfassung kann die Verkündigung der Kirche ersetzen, sie kann jedoch deren Notwendigkeit und Bedeutung in Erinnerung rufen und in Erinnerung halten.

5. Christlicher Glaube, Religion und moderne Gesellschaft Im November 1987- also vor der Wende 1989- diskutierte die Politische Akademie der Konrad-Adenauer-Stiftung das Thema „Christlicher Glaube und moderne Gesellschaft". Angesichts einer Krise des Fortschrittsglaubens in der säkular-pluralistischen Gesellschaft sollte der Beitrag von Glaube und Religion zur Kultur, zur Sinngebung und Konsensstiftung erörtert werden.

I. Wer von Religion im Blick auf die Konsensbildung in „unserer" Gesellschaft spricht, greift in ein Wespennest. Atheisten, Agnostiker und überzeugte Gläubige halten schon die Fragestellung für abwegig. Die einen halten Religion und christlichen Glauben für völlig entbehrlich; die anderen befürchten eine Instrumentalisierung und Vereinnahmung des christlichen Glaubens. Die Worte Religion, Konsens und „moderne" Gesellschaft sind überdies nicht so klar und eindeutig, wie häufig unterstellt wird. So ist zunächst eine Klärung eines unbestimmten Begriffs, nämlich des Wortes „Religion", notwendig. (1) „Religion" ist ein abstrakter Begriff, den so erst die Aufklärung gebildet und geformt hat. Denn bis dahin sprach man nicht von Religion schlechthin, als etwas allen Menschen Gemeinsamem, sondern von Bekenntnis, Konfession, Glaube, oder allenfalls von wahrer Religion, im Unterschied zu anderen Religionen, wie Islam, Buddhismus, oder auch Judentum, die als falsche Religion, Irrglaube, falsche Gottesverehrung abgelehnt und bekämpft wurden. Religion als allgemeinmenschliches, vernünftiges, universales Phänomen ist also erst ein Postulat der Aufklärung, die einen Allgemeinbegriff von Religion bildete. Bekannt ist die Ringparabel in Lessings

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„Nathan, der Weise". Dagegen hat seit Schleiermachers „Reden über die Nation" evangelische Theologie mit Nachdruck die geschichtliche Herkunft konkreter Religion hervorgehoben. Religion gibt es nämlich nur als kontingente Erscheinung, die Folge geschichtlichen Geschehens, aufgrund von Offenbarungsgeschehen. Man spricht von Religionsstiftern wie Moses, Christus, Mohammed oder von besonderen Manifestationen des Göttlichen. So verstanden kann die Themaformulierung eingeengt nur vom christlichen Glauben und seinem besonderen Verhältnis zur Gesellschaft als „unserer" Gesellschaft sprechen. Das Weltverhältnis des christlichen Glaubens ist freilich ein anderes als das anderer Religionen, etwa des Islam, der keine Unterscheidung zwischen Religion und Politik macht, des orthodoxen Judentums, das dem politischen Ideal der Theokratie verpflichtet ist. Was leistet der christliche Glaube zur Konsensfindung in einer pluralistischen Gesellschaft? - so interpretiere ich also das einem evangelischen Theologen gestellte Thema. (2) An dieser Stelle ist sogleich des weiteren zu verdeutlichen, daß das Selbstverständnis des christlichen Glaubens auf die Wahrheitsfrage hin ausgerichtet ist, und nicht vornehmlich der Konsensstiftung verpflichtet ist. Der Johanneische Christus spricht „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben" (Joh. 14,6) und erhebt damit einen Exklusivitätsanspruch für die von ihm in die Welt gebrachte Offenbarungswahrheit. Eine funktionale Religionstheorie bemißt hingegen Religion nach ihrer konsensbildenden Kraft in der und für die Gesellschaft. Wirksam ist für sie Religion, sofern sie die Gesellschaft integriert. Das ist die Interpretation von Religion als Integrationsfaktor seit Emile Dürkheim, oder negativ bewertet, als Opium des Volkes bei Karl Marx. Es ist dies jedoch gerade nicht die Auffassung, die die biblisch-christliche Religion von sich selbst hat. Der prophetische Protest im Alten Testament wurde in der Regel als desintegrierend und zerstörerisch verstanden. Im Matthäusevangelium (13,57) stellt Jesus nüchtern fest, ein Prophet gelte nirgendwo weniger als in seinem Vaterland. Er klagt seine Religions- und Volksgenossen sogar an, daß sie die Propheten verfolgten (5,12) und töteten (23,37). Jesus selbst ist draußen vor der Stadt ausgestoßen, in der Schmach getötet worden (Hebr. 13,13), und der Hebräerbrief ruft deshalb den Christen zu: „Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir" (13,14). Das Kreuz ist Symbol der Schmach und der Diskriminierung. Die Bergpredigt Jesu

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ist kein Weltgestaltungsprogramm, erst recht natürlich, wogegen Franz Alt protestiert hat, kein Heimatroman - im Gegenteil, nimmt man die Antithesen („Ich aber sage euch") beim Wort, so ist die Bergpredigt ein fundamentaler Einspruch, ein Protest gegen und eine Provokation für die Lebensweise des Menschen in einer Welt, die gottlos ist. Der Verzicht auf den Eid bewirkt den Stillstand jeder Rechtspflege. Der Gewaltverzicht macht wehrlos. Die absolute Feindesliebe schiebt alle Sicherungen hinweg und nimmt dem Räuber und Übeltäter jedes Risiko; das Verbot der lüsternen Blicke und der prinzipielle Verzicht auf die Ehescheidung sind nur zu verwirklichen um den Preis des völligen Rückzuges aus der Welt. Man könnte so fortfahren. Die Bergpredigt ist jedenfalls die Artikulation einer „Kontrasterfahrung" zu dieser Welt und wird daher richtig verstanden nur als Kritik dieser Welt und ihrer Verhaltensweisen begriffen. Dies zielt nicht auf Integration. Dem johanneischen Christus ist nicht zu Unrecht das Wort in den Mund gelegt: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt" (Joh. 18,36). Es ist daher theologisch kritisch anzufragen, ob man - wie in der Titelvignette des von Ethel Leonore Behrendt herausgegebenen Buches „Rechtsstaat und Christentum", 1982 - um das Kreuz den Rechtsparagraphen wie eine Schlingpflanze ranken lassen kann: Durchkreuzt hier das Kreuz Christi die Rechtsordnung, oder nimmt nicht umgekehrt die Rechtsordnung den christlichen Glauben in ihren festen Griff, in einen Polizeigriff und domestiziert ihn? Jedenfalls war man während der Kirchengeschichte in der Kirche sich immer dessen bewußt, daß Christen in der Fremde leben, daß sie Pilger sind, das ihr Politeuma, ihre Bürgerschaft im Himmel sei (Phil. 3,20). In der alten Kirche wurden Christen darum wegen Religionsfeindschaft und Gottlosigkeit verfolgt. Sie gefährdeten die Reichsreligion, waren ein politisch gefährlicher Faktor, unterwühlten durch Nichtteilnahme am Reichskult die Grundlagen das Römischen Reiches. Der Kaiser Diokletian wußte wohl, warum er die Christen, in einer politisch kritischen Situation, zu unterdrücken und auszurotten trachtete. Noch Augustins große geschichtstheologische Schrift „De ci vi täte dei" ist eine Apologie gegen den Vorwurf, daß die Eroberung Roms durch die germanischen Vandalen ihre Ursache im Christentum habe, weil dieses die Religion als sinnintegrierende und konsensbildende Kraft zerstört habe. Man könnte hier im Durch-

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gang durch die Geschichte fortfahren, auf die Reformation und die Folgen der Glaubensspaltung, auf die religiöse Neutralisierung des Reichsrechts, auf die Konfessionskriege, den 30-jährigen Krieg verweisen. Noch im Kirchenkampf wurde der Bekennenden Kirche von Deutschen Christen und vom NS-Regime vorgeworfen, ihr Protest im Namen des Christusbekenntnisses sei Vaterlandsverrat und zersetzend. Auch in der Gegenwart wird gelegentlich der Evangelischen Kirche vorgeworfen, sie schade dem gesellschaftlichen Konsens. Das Problem ist damit klar: Wenn es evangelischem Glauben um Gott und Gottes Wahrheit geht, gehen muß, dann kann er nicht nebenbei gleichzeitig auf den gesellschaftlichen Erfolg schielen. Eine Verkündigung des Evangeliums, die sich im Streitfall an der gesellschaftlichen Wirkung - in welcher Hinsicht und Rücksicht auch immer, ob links oder rechts, progressiv oder konservativ - messen lassen würde, verriete um ein Linsengericht ihr Erstgeburtsrecht, die freie Gnade Gottes. Daher wird christlicher Glaube immer ein Fremdkörper, eine niemals integrierbare Beunruhigung in der Gesellschaft bleiben, gerade auch in einer pluralistischen Gesellschaft. (3) Freilich ist nun, als dialektischer Kontrapunkt sogleich ein anderer Aspekt hinzuzufügen, daß und warum dennoch ein evangelischer Christ keine Schwierigkeiten damit hat, sich in einer pluralistischen Gesellschaft zurechtzufinden. Solange Gewissens- und Glaubensfreiheit gewährt und damit die Möglichkeit öffentlichen Zeugnisses und Bekenntnisses für einen Christen gewährleistet ist, kann ein Christ seinen Glauben in der Gesellschaft leben und andere Menschen von der Wahrheit des Evangeliums und des Glaubens durch sein Beispiel, Vorbild und die Macht des Wortes zu überzeugen versuchen.

II. Die Frage nach der Notwendigkeit eines gesellschaftlichen Konsenses stellt sich heute dringlich und verschärft angesichts des Pluralismus von Wertvorstellungen, Weltanschauungen und Lebensstilen. Wir nennen unsere Gesellschaft pluralistisch. Die pluralistische Gesellschaft, so die bekannte These, bedarf der Integration. Das ist die Frage nach der Vereinbarkeit von Konsens und Pluralismus. Als Integrationsfaktor bietet sich die Religion an. Ehe die Bedeutung der

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Religion für die Konsensfindung naher erörtert werden kann, ist freilich zunächst überhaupt präziser die Notwendigkeit eines Konsenses zu diskutieren. Die Versuchung ist zwar groß, Religion als konsensstiftende Macht anzubieten. Damit gerät man freilich in ein doppeltes Dilemma. Das erste Dilemma habe ich bereits zureichend skizziert: Es ist dies das Dilemma zwischen Wahrheitsanspruch einer Glaubensüberzeugung und gesellschaftlichem Nutzen. Das andere Dilemma ist nicht geringer: Es ist dies die Spannung zwischen Grundkonsens und individueller Freiheit, die der Pluralismus der gesellschaftlichen Kräfte und Weltanschauungen gewährt und sichert.1 Pluralismus besagt nicht nur Konsens, sondern genauso Konkurrenz und Konflikt. Ein vollständiger Konsens wäre somit das Ende der pluralistischen Gesellschaft und damit der individuellen Freiheit. Man spricht deshalb auch im allgemeinen nur von einem Grundkonsens, von einem Minimum an Übereinstimmung über Grundwerte. Grundkonsens heißt seit Aristoteles, daß man übereinstimmt in dem, was gerecht und ungerecht, was gut und böse ist. Wenn es einen solchen Grundkonsens geben sollte, was wird dann freilich aus denen, die inkompatible Rechtsüberzeugungen und ethische Vorstellungen vertreten? In der Aufklärung ist diese Frage erörtert worden unter der Perspektive, ob Atheisten politisch zu tolerieren sind. Man war sich zwar darin einig, das das konfessionelle Bekenntnis nicht mehr unerläßliche Bedingung für die Erlangung der Staatsbürgerrechte sein konnte, wie dies im konfessionellen Territorialstaat der Fall war. Aber noch Pierre Bayle argumentierte so: Wer nicht Gottes Existenz akzeptiert, kennt auch keine letzte Verantwortung. Es fehlt ihm an ethischer Verantwortung und moralischer Verbindlichkeit, daher kann er nicht Bürger sein. Wäre jedoch die Religion tatsächlich die Grundlage der Moral, so wäre folgerichtig Intoleranz gegenüber Atheisten geboten. Im Zuge der Aufklärung ist man dann von einer religiösen Begründung des Konsenses der Gesellschaft abgekommen. Die Vertragsideen forderten nur die Anerkennung der Notwendigkeit einer politischen Vereinbarung auf der Basis eines formalen Konsenses. Die Vertragsidee orientiert sich an der Idee 1

Vgl. dazu: U. Matz, Zur Dialektik von totalitärer Ideologie und pluralistischer Gesellschaft, in: M. Funke (Hg), Demokratie und Diktatur, Bonn 1987, S. 554566.

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eines prinzipiellen Primats, des politischen Überlebens, also am Maßstab der bürgerlichen Sicherheit. Die Menschenrechte orientieren sich an der Grundidee der Freiheit. Wird diese Freiheit altliberal, individualistisch verstanden, dann ist die Folge eines solchen Freiheitsverständnisses konsequenterweise ein Wertrelativismus. Die pluralistische Offenheit schlägt dann um in geistige Leere. Die Frage ist also, was gewährt im gesellschaftlichen Pluralismus Lebensorientierung. Das „Sich-Durchwursteln", d. h. ein konzeptionsloser Pragmatismus der Tagespolitik führt zur Orientierungsleere, Sinnverlust, schafft Verunsicherung und Angst. Aus der Insuffizienz des Pluralismus ziehen wiederum Ideologien als „Religionsersatz", „Sinnstiftung" und Vermittlung von Hoffnung ihre Attraktivität. Denn Ideologien freilich können Sinnstiftung nur leisten, indem sie Frageverbote erlassen. Jede Ideologie fordert Gläubige. Deshalb wird sie zum Religionsersatz. Man kann Ideologiekritik und Ideologiekunde geradezu in Form einer Pathologie der pluralistischen Gesellschaft entwerfen. Der Ideologiebedarf war niemals größer als heute. Die Zustimmung zum gesellschaftlichen Pluralismus einerseits, das Bedürfnis nach ideologischer und weltanschaulicher Orientierung ist also wiederum dialektisch. Wenn auf das Aufleben der Jugendsekten und die Dynamik von New Age und Esoterik, oder auch das große Interesse an Katholikentagen und Kirchentagen als „Beweis für die ungebrochene Kraft von Religion in unserer Zeit" verwiesen wird, so wird Religion ihrerseits in den Sog solcher Dialektik gezogen. Man kann diesem Sog nur entgehen, wenn man zwischen Religion und dem Kalkül von Ideologien auf der einen Seite, Glaube und gesellschaftlicher Kultur auf der anderen Seite unterscheidet und differenziert. Unerläßlich ist für einen gesellschaftlichen Konsens zwar ein kulturelles Minimum, aber nicht notwendig ein religiöser Konsens. Dies sei zunächst veranschaulicht an der reformatorischen Auffassung der Gesellschaft und ihrer Darstellung im Interpretationsmodell der Zweireichelehre. Der Protestantismus, so kritisch er sich in mancher Hinsicht zur Gesellschaft geäußert hat, hat gleichwohl einen eigenständigen und wirksamen Beitrag zur Konsensbildung geleistet. Verwiesen sei auf das Eintreten für Toleranz und Gewissensfreiheit wie auf die Fähigkeit, gesellschaftliche Innovationen mit in Gang zu bringen. Dies war freilich nicht die eigentlich theologische Intention des Protestantismus, ist aber eine Folge der reformatorischen Orientierung am

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Evangelium. Aus dem evangelischen Verständnis von Glaube und Wort ergeben sich Abgrenzungen und Unterscheidungen.

III. Reformatorische Theologie geht aus von Fundamentalunterscheidungen: Sie unterscheidet das, was Gott gebührt, was coram deo gilt, von dem, was ein Christ seinen Mitmenschen schuldet, coram hominibus zu tun hat. Die Verantwortung vor Gott ist etwas anderes als bloße Verantwortung vor einer irdischen, innerweltlichen Instanz. Darum unterscheidet evangelische Theologie Person und Werk, Glaubensgerechtigkeit und weltliche Gerechtigkeit, iustitia spiritualis und iustitia civilis, geistliches Regiment Gottes und weltliches Regiment. Mit einer Formel: Für ein reformatorisches Verständnis der Beziehung von Glaube und Politik ist grundlegend die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium. Was meint freilich diese theologische Formel? Es ist davon auszugehen, daß die sittliche Forderung jeden Menschen angeht und betrifft. Jedem Menschen eignet als Person Würde und Freiheit. Die Person des Menschen ist zu achten unabhängig von seiner Zugehörigkeit zu Geschlecht, Rasse, Religion und Klasse. Die Idee eines universalen Naturrechts ist an dieser Stelle nicht zu erörtern, die sich aus antiken, vor allem stoischen Vorstellungen und biblischem Gedankengut, etwa einer Zuerkennung von Gottebenbildlichkeit bereits im Alten Testament an jeden Menschen, also nicht nur an den König (wie in Ägypten), den freien Mann oder den Israeliten, sowie aus der Auffassung von der Gleichheit aller Menschen vor Gott speist. Gemeint ist mit der Begründung des Menschlichen aus dem Schöpfungsgedanken ein Axiom, das katholische Kollegen die „naturale Unbeliebigkeit der normativen Vernunft" nennen (Franz Böckle, Wilhelm Korff). Das Faktum, daß jedem Menschen mit seinem Menschsein die sittliche Forderung aufgegeben ist, daß die Anerkennung der Freiheit des Menschen die Inanspruchnahme von Verantwortung impliziert, nennt Luther „Gesetz". Er ist in seiner Wortwahl und Überlegung von Paulus beeinflußt (und steht unter dem Einfluß Augustins). Paulus faßte die Forderungen des Alten Testaments, der Thora unter ein Wort: Nomos. Der Anspruch dieser Forderung ist freilich nach ihm nicht nur dem Juden bekannt, sondern geht jeden Menschen an,

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ist allen Menschen ins Herz geschrieben (Rom. 2,14). Für Luther sind ebenfalls die Gebote der 2. Tafel des Dekalogs anthropologische Grundaussagen, die jedem Menschen bekannt sein können. Der Inhalt der sittlichen Anforderung ist materialiter für Christen und Nichtchristen derselbe. Man kann diese Forderung zusammenfassen im Liebesgebot oder in der Goldenen Regel (Mt. 7,12) oder in der Mahnung des Apostel Paulus an die Christen in Philippi, dem nachzudenken, was ehrbar, was gerecht, was anständig, was angenehm und anerkannt ist, was eine Tugend oder ein lobenswertes Verhalten ist (Phil. 4,8). Mit einem Wort gesagt: in der Ethik geht es für Nichtchristen und Christen um die Verwirklichung des Guten. Das Gute ist, wie gesagt, das Konsenswürdige. Allerdings liegt das Interesse von Paulus und Luther nicht darin, die Christen zum Tun des Guten anzuhalten. Vielmehr betonen beide, daß die Verwirklichung des Guten, das pflichtgemäße Handeln und Leben, dem Menschen noch nicht das Heil schafft. Heil ist Gabe Gottes, Gnade. Heil erlangt der Mensch nicht durch eigene Anstrengung, durch Aktivität, auch nicht durch das Bemühen um Sinnstiftung aus eigener Kraft. Heil oder, wie man, wenn auch vorsichtig, sagen kann, Lebenssinn, Vertrauen (als Gegenstück zur Angst) wird dem Menschen zuteil durch Gottes Zuwendung, durch Gottes Wort. Hinter der politischen Unterscheidung von Verheißung (Epangelia) und Nomos und hinter Luthers Dringen auf die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium stehen die Überzeugung und Einsicht, daß Heil, Erlösung, und Gutes, daß Rechtfertigung und Ethik nicht zu verwechseln sind. Die Verwerfung der Werkgerechtigkeit zielt auf diese Unterscheidung. Darin ist eine Unterscheidung zwischen Ethik und Glaube, innerweltlichem Handeln und Verhalten und religiöser Erwartung von Heil und Erlösung angelegt. Diese Unterscheidung wird freilich heute wiederum durch die Entdeckung einer Zivilreligion problematisiert. Die Zweireichelehre scheint sich damit in der neueren Diskussion als unzulänglich und überholt zu erweisen. An ihre Stelle sollte eine nicht-konfessionelle Zivilreligion treten, wie manche derzeit empfehlen. IV. Wenn man von „civil religion" spricht, so erinnert man sich in Deutschland an Weihnachten. Es gibt offenkundig über ein unerläß-

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liches Minimum an ethischen Überzeugungen hinaus einen Grundbestand an religiöser Konvention, unabhängig von der Kirchlichkeit im engeren Sinne 2 . Die Theologie hat dieses Phänomen weithin nicht zureichend wahrgenommen und berücksichtigt. Die Säkularisierungsthese, wonach in einer „mündigen" Welt Religion verschwindet, überflüssig wird, hat sich nicht bewahrheitet. Dietrich Bonhoeffers Formel von der Notwendigkeit einer „nichtreligiösen Interpretation biblischer Begriffe" ist heute zutiefst problematisch geworden. Auch die von Karl Barth dogmatisch verfestigte Antithese von Religion oder Offenbarung führt in eine Aporie. Offenbarung enthält zwar stets ein Element der Religionskritik. Das wurde eingangs herausgearbeitet. Wenn aber Offenbarung sich in Religionskritik erschöpft, was bleibt dann überhaupt - außer eben der Negation von Religion und Frömmigkeit? Die Unzulänglichkeiten der Säkularisierungsthese wie der Entgegensetzung von Wort Gottes, von Offenbarungstheologie und Religion haben empirische Untersuchungen der EKD zur Kirchenmitgliedschaft aufgedeckt. 3 Veranlaßt durch die Zahl der Kirchenaustritte wurden zwei Umfragen über Einstellungen zur Kirche und Erwartungen an die Kirche unternommen. Dabei geht es nicht um die Selbstdeutung der Kirche, also um eine Sicht „von innen" her, sondern um gesellschaftliche Erwartungen „von außen" her an die Kirche. Aus dem Schwund der Kirchenmitglieder entstehen in Zukunft Organisations- und Finanzierungsprobleme. 4 Die Studie „Strukturbedingungen der Kirche auf längere Sicht" rechnet die Bevölkerungsentwicklung zum Jahr 2 0 3 0 hoch. Dabei halbiert sich die Mitgliederzahl der evangelischen Kirche bis zum Jahr 2 0 3 0 . Die Folge ist ein Bedeutungsverlust des Protestantismus. Die Abwärtsspirale hat dann Auswirkungen auf die kirchlichen Haushalte. Die Prioritäten kirchlichen Handelns sind darum neu zu

2

Vgl. Edp-Dokumentation 1985 Nr. 1, vgl. vor allem S. 39ff. K. Hoffmann, „Civil Religion in der Bundesrepublik Deutschland am Beispiel des Weihnachtsfestes. Ferner edp-Dokumentation Nr. 18, 1987: „Civil religion" in Deutschland. H. Kleger, A. Müller (Hg), Religion des Bürgers. Zivilreligion in Amerika und Europa, München 1986.

3

H. Hild (Hg), Wie stabil ist die Kirche? 1975 2 ; / . Hanselmann, H. Hild, E. Lohse, Was wird aus der Kirche? Ergebnisse der zweiten EKD-Umfrage über Kirchenmitgliedschaft, 1985 3 . A.a.O., S. 36f.

4

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überdenken. Eine Studie zum Weg der Kirchen, „Christsein gestalten", 1986, hat aus den empirischen Befunden Überlegungen zu kirchlichen Aufgaben zu ziehen versucht. Beide Studien haben erhebliches, vor allem innerkirchliches Aufsehen erregt und z.T. heftige Kontroversen und Debatten ausgelöst. Dabei muß man sich generell darüber im klaren sein, daß Prognosen zum Finanzbedarf, zur Personallage, bei der Übernahme von Verpflichtungen unerläßlich sind. Prognosen gelten freilich nur unter „wenn ... dann" Bedingungen. Sie determinieren nicht. Die Augen vor der Zukunft prinzipiell zu verschließen, wäre gewiß fahrlässiger Leichtsinn. Aus Prognosen sind aber keine Handlungsanweisungen abzuleiten. Was freilich die empirischen Untersuchungen aufgedeckt haben, ist das Phänomen der „civil religion". Der Soziologe Robert N. Bellah stellte 1967 die These auf, in den USA gebe es so etwas wie eine Zivilreligion, eine civil religion, die allen christlichen Denominationen und den Juden gemeinsam sei. In den Inauguraladressen der Präsidenten fand er diese Zivilreligion. Bellah arbeitet die religiöse Dimension der amerikanischen Gesellschaft heraus. Auch anderwärts in der Welt ist eine Wechselwirkung von Religion und Politik wiederentdeckt worden. Johann Baptist Metz brachte 1968 das Wort „Politische Theologie" zu neuen Ehren, das bis dahin mit Namen wie Nicolo Macchiavelli, Thomas Hobbes und Carl Schmitt verbunden und als mit christlicher Theologie unvereinbar abgelehnt wurde. Inzwischen wird von München aus die Unverzichtbarkeit des Christentums für die Legitimation unseres Staates beschworen, auf evangelischer Seite von Wolfhart Pannenberg, auf katholischer Seite von Robert Spaemann und Peter Koslowski. Ethel Leonore Behrendts eingangs erwähntes Buch ist ein Dokument der Münchner These von der Unersetzbarkeit und Unverzichtbarkeit des Christentums als Grundlage unserer Gesellschaft. Die Begriffe „Zivilreligion", „Politische Theologie" „Religion des Bürgers" sind freilich in ihrer Zielsetzung unterschiedlich akzentuiert. „Zivilreligion" bezeichnet ein Geflecht von Symbolen, Ideen und Handlungsweisen, welche gesellschaftliche Institutionen legitimieren. Sie beschreibt einen Konsens über eine gemeinsame Wertorientierung. „Religiös" ist dieser Konsens, weil er fundiert ist in einer gemeinsamen Sinngebung und Weltsicht. „Zivil" ist er, weil er sich auf das öffentliche Leben bezieht. „Politische Theologie" formuliert hingegen ein theologisch-politisches Programm, ein Hand-

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lungsprogramm. Aus theologischer Theorie soll politische Praxis werden. Es geht darum, die politische Dimension von theologischen Überzeugungen praktisch wirksam werden zu lassen. Unter „Bürgerreligion", „Religion der Leute" versteht man schließlich die durchschnittlichen religiösen Überzeugungen. „Bürgerreligion", „bürgerliche Religion" bezeichnet die Religiosität als allgemeinmenschliche Grundgegebenheit, wie sie sich als solche in konkreten geschichtlichen Erscheinungsformen manifestiert. „Politische Theologie" ist Formulierung eines normativen Anspruchs von Theologie an Politik. „Zivilreligion" liegt zwischen beiden im unbestimmten Überschneidungsfeld von Religion und Politik. Denn wenn sowohl die Politik als auch der christliche Glaube es mit dem ganzen Leben zu tun haben, liegt es nahe, beide zu verbinden. Eine Trennung von Politik und Religion wäre in der Tat schizophren. Die gedankenlose und unkritische Vermengung beider ist freilich nicht minder gefährlich. Alois Müller und Heinz Kleger haben drei Varianten moderner Deutungen von Zivilreligion unterschieden. Die modernitätsskeptische-spiritualistische Kritik fordere eine religiöse Philosophie, um den neuzeitlichen Funktionalismus, Utopismus, Positivismus überwinden zu können. Die Religion dient der Sicherung der gesellschaftlichen Fundamente. Die kulturprotestantische-kulturreligiöse Deutung sucht das religiöse Fundament auch der säkularisierten postchristlichen Gesellschaft wieder sichtbar zu machen. Für die kulturreligiöse Deutung ist Religion in unserer Gesellschaft faktisch nach wie vor präsent. Es gilt nur, diese religiöse Dimension freizulegen, bewußt zu machen. Die mythenfreundliche Interpretation verweist auf die Unausweichlichkeit des Schicksals. Religion ist zuständig für die kontingenten Ereignisse wie Geburt und Tod, Unglück und Leiden, die politisches und gesellschaftliches Handeln nicht zu lösen vermögen. Allen drei Varianten gemeinsam ist, daß sie zwischen Moral und Politik eine sehr enge Verbindung sehen. Die Indienstnahme der Moral durch Politik, die Moralsierung der Politik und die Politisierung der Moral gelten als unhintergehbares Faktum. Die Trennlinie zwischen Ideologie und Religion wird dadurch freilich unscharf. Dagegen plädiere ich für eine schärfere Unterscheidung von Ethik und Glaube, von Moral und Religion. Religion ist mehr als Anweisung für die Praxis der Lebensführung. Sie vermittelt eine umfassendere Lebensdeutung. Die Aufgabe der Religion ist nicht primär die einer Wertvermittlung, der Vermittlung

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von gesellschaftlichen Tugenden. Solche Wertvermittlung ist notwendig, aber sie ist eine allgemein-gesellschaftliche Aufgabe. Die Ethik wendet sich an alle Menschen; Religion will zwar, solange sie nicht jeden Gedanken an eine Mission preisgibt, ebenfalls jedermann ansprechen. Aber sie hat zugleich die Unverfügbarkeit des persönlichen Glaubens zu achten. Ethische Verantwortung zu übernehmen, ist jedem Menschen zuzumuten. Anders steht es mit dem Glauben. Der Glaube ist Sache des Einzelnen. Dabei ist der Glaube im reformatorischen Sinne Vertrauen, nicht einfach bloße Kenntnis von oder Zustimmung zu einer religiösen Meinung. Infragestellung des Glaubens geschieht heute weniger durch die Unmoral, als durch einen fundamentalen Verlust an Vertrauen: Symptom der Glaubenslosigkeit ist das Vorherrschen von Angst und die Erfahrung einer Sinnlosigkeit. Angst und Sinnverlust sind Indizien des Verlustes an religiöser Orientierung. Diese Grunderfahrung einer Sinnlosigkeit hat selbstverständlich Folgen auch in der Ethik, etwa in der Unfähigkeit, etwas unserem eigenen Zugriff Entzogenes anzuerkennen, im Verlust der Fähigkeit zur Ehrfurcht und der Anerkennung von Unantastbarem, von Heiligem. Aber wenn über die gesellschaftlichen Folgen von Religion und Religionslosigkeit räsoniert werden soll, dann muß man zuerst nach dem religiösen Vakuum fragen, und nicht primär den Verlust von Tugenden und Wertorientierungen beklagen. Mit der Kritik einer Transformation, einer Verwandlung von Religion in Moral verbinde ich die Kritik an jeder Form von politischer Indienstnahme des christlichen Glaubens. Eine Erneuerung der religiösen Legitimation von Politik und die Restitution eines „theologisch-politischen Komplexes" einer „civil religion" schadet auf längere Frist sowohl der Religion wie der Politik.

V. Damit ist nach einer Kritik der Idee der „Zivilreligion", die zugleich indirekt eine Kritik an einer programmatischen „Politischen Theologie" enthält, die Frage nach einer konstruktiven Bestimmung des Verhältnisses von Religion und gesellschaftlichem Konsens zu stellen. Das Verhältnis des Glaubens zur Welt der Politik kann nicht nur ein distanziertes und abgrenzendes sein, so sehr solche distanzierende Abgrenzung geboten ist, soweit es sich um den Versuch einer

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politischen Domestikation von Religion handelt. Eine unmittelbare politische Anwendung des Evangeliums, einen usus politicus evangelii ist nicht reformatorisch. Die politische Religion ist von Hause aus antikes Erbe; die „Politische Theologie", die wir heute diskutieren, ist eine Folge der neuzeitlichen Fundamentalpolitisierung der Gesellschaft. Gegen die antike Synthese von Religion und Politik wie gegen die neuzeitliche totalitäre Auffassung von Politik, macht reformatorisches Glaubensverständnis einige Grundeinsichten geltend: (1) Der Glaube macht das Gewissen, die Person frei. Die Freiheit, die der Glaube gewährt, ist freilich keine individualistische Freiheit. Sie ist Freiheit, die zum Dienst am Mitmenschen, zum Dienst in der Welt verpflichtet. Die reformatorisch verstandene Freiheit ist, so gesehen, Freiheit zur Gemeinschaft, kommunikative Freiheit. Aber diese Freiheit ist in ihrem Ursprungsgeschehen der Befreiung im Glauben und durch den Glauben nicht herstellbar, sondern politischem Zugriff entzogen. Daraus ergibt sich eine legitime Vielfalt, eine Pluralität von christlichen Lebensformen. Die Aufgabe der Gestaltung politischer Ordnung wird zu einer Sache der vernünftigen Einsicht. Politischer Konsens kann nur ein vernünftiger Konsens sein, nicht ein mit der Autorität des Glaubens legitimierter Konsens. Daher kann politische Ordnung Anerkennung beanspruchen allein als Freiheitsordnung, nicht aber als Wahrheitsordnung. Die Wahrnehmung der Freiheit des Glaubens trägt zur Entideologisierung der Politik, zu ihrer Befreiung von letzten Absolutheits- und Wahrheitsansprüchen bei. (2) Die Eingrenzung politischer Zuständigkeit führt freilich keineswegs zu einer relativistischen Beliebigkeit. Die Antwort auf die Botschaft des Evangeliums ist der Glaube. Die ethische Forderung beansprucht das Handeln und Leben des Menschen. Ein Verzicht auf letzte Absolutheitsansprüche macht frei zur sachlichen Vertretung des Vorletzten, oder anders gesagt: Eine dialogische, vernünftige Form des Zusammenlebens wird durch die Unterscheidung zwischen Glaubenswahrheiten und Handlungsaufgaben möglich. Politik ist deshalb keine Heilsveranstaltung, sondern das Suchen nach zumutbaren und tragfähigen Übereinkünften, Kompromissen. Die Entlastung der Politik (und des gesellschaftlichen Konsenses ebenso) von Heilsansprüchen und Sinnstiftungsforderungen ist eine wichtige Voraussetzung für demokratische Willensbildung. Demokratische Willensbildung erschöpft sich nicht im Konsens über Verfahrens-

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regeln, so wichtig die Einhaltung von formalen Verfahrensregeln für die Entscheidungsfindung ist, sondern fußt auf einem Einverständnis über ein kulturelles und ethisches Minimum. (3) Das Einverständnis über ethische Grundlagen ist theologisch gesprochen die Anerkennung einer allgemeingesellschaftlichen Verbindlichkeit des Gesetzes, des usus politicus legis. Die Menschenwürde ist Grundnorm und Grundwert der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland. Diese Grundnorm bindet jedermann. Menschenwürde ist kein exklusiv christlicher Begriff, Menschenrechte konkretisieren diese Grundnorm der Menschenwürde. Mit dem Verweis auf Menschenwürde und Menschenrechte beruft sich auch der evangelische Theologe auf die Verfassung. Eine Berufung auf unbestimmte und unscharfe Grundwerte als Bedingungen des gesellschaftlichen Konsenses ist dagegen kritischer zu sehen. Evangelische Kirche und Theologie entdecken zunehmend Menschenwürde und Menschenrechte als Grundlagen eines gemeinsamen Ethos. Der Maßstab für den Gebrauch der Menschenrechte ist dabei weithin deren Nutzen für Mitmenschen, also ein utilitaristisches Kriterium. Menschenwürde ist freilich eine unableitbare Formel. Politik kann nur Menschenwürde und Menschenrechte wahren und schützen, aber sie gewährt sie nicht und kann sie nicht begründen. Wenn Grundnormen menschlichen Zusammenlebens nicht einfach unbegründet gelten sollen, kommt man an einer religiösen oder theologischen Begründung nicht vorbei. Für die Menschenwürde gibt das Bekenntnis zur Gottebenbildlichkeit des Menschen und die vorbehaltlose Annahme des Menschen durch Gott eine solche Begründung. Aber diese Begründung kann nicht theologisch für die Gesellschaft insgesamt verbindlich gemacht werden (4) Damit wurde die Zuordnung und Unterscheidung von Heilsbotschaft und ethischer Praxis, von Gesetz und Evangelium beschrieben. Eine bloße politische Ethik führt zur Überfrachtung gesellschaftlicher Ansprüche mit Heilsvorstellungen. Dagegen gewährt der vom Evangelium zugesagte Glaube der Person „innere" Freiheit und achtet das Gewissen als ein Arkanum. Das autonome Gewissen ist nicht Spiegel des gesellschaftlichen Konsenses, sondern Zeichen der Transzendenz der Person. Hegel nannte aus dieser reformatorischen Einsicht heraus das Gewissen ein „Heiligtum, das anzutasten Frevel wäre".

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VI. Es sind im letzten Gedankengang Folgerungen für die Unterscheidung der Aufgaben von Staat und Kirche zu ziehen. Dabei beschränke ich mich auf Grundsätzliches. Für konkrete Sachfragen verweise ich auf Georg Flor, Politische Aktion, Kirche und Recht, 1987. Flor hat aus den Erfahrungen im kirchenleitenden Amt und als Jurist nüchtern und sachlich zu Rechtsverletzungen, Bürgerinitiativen, Asyl, Kirchenbesetzungen, Streik und Hungerstreik, Teilnahme an Demonstrationen wie zu den daraus entstandenen gesellschaftlichen und innerkirchlichen Konflikten sich geäußert. Verfassung und Gesetz gelten selbstverständlich auch für Christen bei politischen Aktionen. Es gibt grundsätzlich kein besonderes christliches Recht im politischen Bereich. (1) Die Gesellschaft, von der wir reden, ist zwar vielleicht keine postindustrielle, aber sie ist in jedem Fall eine postchristliche, eine nachchristliche Gesellschaft. Sie ist keine vorchristliche Gesellschaft, wie die heidnische Antike, aber auch keine christliche Gesellschaft mehr wie im Mittelalter oder im konfessionellen Zeltalter. Das christliche Erbe ist Teil der europäischen Kultur geworden, auch für Nichtchristen. Es wird sogar die These vertreten, daß die Weltlichkeit, die Säkularität des Staates eine Wirkung des Christentums sei. Christian Graf von Krockow hat in der Formulierung, demokratische Politik sei nur in einem „Horizont des Unglaubens" möglich, der Säkularität des Staates gerecht zu werden versucht. Das Wort „Unglaube" ist hier freilich mißverständlich und zweideutig.5 Denn kann man in der weltanschaulich und religiös pluralistischen Gesellschaft und im säkularen Staat politisch nur handeln, wenn man Gott absagt („Unglaube"), oder geht es nicht sehr viel mehr noch ferner um ein bewußtes Heraushalten des Gottesgedankens aus der Politik? Zuzustimmen ist freilich uneingeschränkt der Intention einer Relativierung das Politischen mit Hilfe von Bonhoeffers Unterscheidung von „Vorletztem" und „Letztem". So verstanden kann sich Religion nur auf ein Letztes, auf Gott beziehen. Die Formulierung, demokratische Politik sei nur möglich, wenn man bewußt darauf verzichtet, 5

Vgl. hierzu K. Schiaich, Konfessionalität - Säkularität - Offenheit. Der christliche Glaube und der freiheitlich-demokratische Verfassungsstaat, in: T. Retidtorff (Hg.), Charisma und Instizution, 1985, S. 175-198.

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mit dem Glauben Politik zu machen, scheint mir hier zutreffender zu sein. Auch die Invocatio dei in der Präambel des Grundgesetzes hat hier dann einen guten Sinn. Die Anrufung Gottes ist gerade keine Leerformel, sondern ein „Platzhalterwort" (K. Schiaich). Sie weist auf eine offene Stelle hin: Gott ist das unverfügbare Geheimnis der Wirklichkeit. Die Transzendenz ermöglicht die Weltlichkeit der Politik und begrenzt diese auf das Innerweltliche. (2) Der christliche Glaube hat kein Monopol auf die Begründung des neuzeitlichen Verfassungsstaates. Die Entkonfessionalisierung der Politik nötigt zur Säkularität, zur Säkularisierung. Die Säkularität ist um der Freiheit der Bürger willen notwendig. Säkularismus, eine Ideologisierung der Säkularität, wäre es freilich, wollte man an die Stelle der Religion im weltanschaulich neutralen Staat eine säkulare, allgemeinverbindliche Weltanschauung setzen. Der Schwund an Religion in der Gesellschaft läßt zwar ein Verlangen nach Substituten oder Surrogaten wachsen; aber dem ist zu widerstehen. Diese Sicht der Säkularitat des Staates entspricht sowohl der Zweireichelehre wie der 5. These der Barmer Theologischen Erklärung. (3) Der moderne Verfassungsstaat zehrt von Voraussetzungen, über die er selbst nicht verfügt. 6 Solche Voraussetzungen sind: Der Staat ist angewiesen auf ein Ethos der Bürger: Verantwortungsbereitschaft, Solidarität, der Wille zur Wahrnehmung von Freiheit, kurzum Bürgertugenden sind Voraussetzungen dafür, daß Demokratie gelebt wird. Das Recht appelliert an die Rechtstreue der Bürger. Der Eid, ursprünglich ein religiöses Institut, die bedingte Selbstverfluchung, inzwischen bei Arthur Schopenhauer zur Eselsbrücke des Juristen erklärt, wie die Strafe, ursprünglich ein Akt der Entsühnung, sind zwar säkularisiert worden; aber als bloße Zweckeinrichtung werden sie in ihrem Verständnis sinnentlehrt. Man könnte fortfahren und als Beispiel auf die Einstellung zur Natur als bloßer, vom Menschen auszubeutender Ressource oder auf ihre Annahme als Schöpfung mit einem Eigenwert, sowie auf die Friedensbereitschaft als Voraussetzung einer Friedenspolitik verweisen. Aber

6

A.a.O., S. 178. Die Formulierung stammt von E. W. Böckenförde, StaatGesellschaft - Freiheit, 1967, S. 60. H. Kleger/A. Müller, a.a.O., S. 2 5 7 ; Anm. 4 4 weisen weitere Berufungen auf diese Formel nach.

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das ist hier nicht weiter zu schildern. Einer funktionalen Benutzung der Religion durch die Politik wurde mit Nachdruck widersprochen. Aber was bedeutet eine postchristliche Gesellschaft und der dadurch bedingte Wertewandel für die Politik? Wird sie dann selbst nolens volens zur sinngebenden Instanz? Muß die Politik auch die Aufgabe der Religion und des Glaubens mitübernehmen? Das wäre eine fatale Entwicklung und endete mit Hybris und mit der Strafe der Reideologisierung der Politik zur eschatologischen Heilsveranstaltung. Die Unterscheidung der Aufgaben von Staat und Kirche ist Voraussetzung für den Dienst der Kirche am Staat. Wenn die Kirche ihre eigene Aufgabe der Verkündigung des Evangeliums und der Seelsorge ernst nimmt und zugleich Fürbitte für Staat und Gesellschaft übt - früher sagte man für „Volk und Vaterland"- dann leistet sie einen unersetzlichen eigenständigen politischen Dienst. (4) Auf dem Hintergrund dieser grundsätzlichen Überlegungen ist die Demokratiedenkschrift einzuschätzen und zu würdigen. Die Denkschrift „Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie. Der Staat des Grundgesetzes als Angebot und Aufgabe", 1985, will nicht die Demokratie als Staatsform religiös oder theologisch oder christlich legitimieren. 7 Es geht nicht um die Berufung auf Religion in der alltäglichen politischen Auseinandersetzung. Wohl aber ist die Verfassung eines Staates auch dem Christen nicht gleichgültig. Man kann Christ sein in einer Demokratie und in einer Diktatur; aber Demokratie und Diktatur sind deshalb nicht gleichrangig. Das wird damit begründet, daß die Anerkennung der Würde des Menschen Maßstab der Beurteilung jeder Staatsform sein muß. Es besteht also eine Nähe zwischen der Sicht des Menschen in einer rechtsstaatlichen Demokratie und dem christlichen Menschenbild. Das Verhältnis des Protestantismus zum Staat ist zwar historisch belastet. Lange Zeit betonte man einseitig die Ordnungsaufgabe des Staates, die Pflicht des Staates, das Böse zu bekämpfen. Damit wurde das Staatsverständnis statisch. „Charakteristisch für die Geschichte des deutschen Protestantismus ist die Bejahung der jeweils bestehenden Staatsform" (S. 17). Die Korrektur der Demokratiedenkschrift besteht nun aber darin, daß sie mit dem Stichwort „kritische Solida7

Vgl. auch: T. Rendtorff, Die Autorität der Freiheit. Die Stellung des Protestantismus zu Staat und Demokratie. Aus Politik und Zeltgeschichte, B 46/ 4 7 , 1 9 8 7 , S. 21 ff.

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rität" (S. 17) einen dynamischen Aspekt einbringt. Der Beruf des Christen in der Welt ist ein „weltlicher" Beruf. Zu diesem Beruf gehört die Pflicht zur demokratischen Mitverantwortung. Der lutherische Amtsgedanke wird dabei aufgenommen. Zum Amt des Bürgers gehört nicht nur eine Ethik der Rechtsbefolgung (S. 21, 25), sondern auch das Recht und die Pflicht zur Kritik. Die einzelnen kritischen Anfragen an das Mehrheitsprinzip und die Ausführungen zum Widerstehen (S. 21f) in der Denkschrift haben Widerspruch gefunden; das ist an dieser Stelle nicht zu erörtern. Entscheidend ist in unserem Zusammenhang: Die Mitverantwortung des Christen und der Beitrag der Kirche zum Gemeinwesen verlangt keinen „christlichen Staat" (S. 18). Der Staat ist säkular. Für Christen gibt es in der Politik keinen besonderen Status (S. 23). Wohl aber wird von ihnen Besonderes erwartet: „Sie sollen in bestimmten Fragen besonders sensibel sein, vor allem, wo es um das Eintreten für Schwache geht; sie sollen die von ihnen erkannte Wahrheit über den persönlichen politischen Ehrgeiz stellen" (S. 23). Soviel zum Prinzipiellen. Der Beitrag der Religion zur Konsensfindung kann nicht nur einseitig stabilisierend und legitimierend, sondern muß immer auch kritisch, machtkritisch sein. Das entspricht auch dem Verständnis von Rechtsstaatlichkeit, Schutz der Grundrechte, Gewaltenteilung, Befristung der Herrschaft auf Zeit. Protestantisches Erbe ist der Schutz des Gewissens in Gewissenskonflikten. „Die Kirche" wird einem durch Gottes Wort „gebundenen Gewissen ihren Beistand nicht verweigern" (S. 27). Die Denkschrift stellt sich dabei nicht im prophetischen Gestus mit Ansprüchen vor Staat und Gesellschaft. Sie beruft sich nicht auf ein besonderes prophetisches Mandat der Kirche. Aber sie betont, daß Demokratie als Herrschaftsform erst durch die Lebensführung der Bürger - und auch Christen sind Bürger - zur Lebensform wird (S. 34f). Damit wird ein Prophetenwort heute aufgenommen, das in Israel im Exil aufrief: „Suchet der Stadt Bestes, dahin Ich euch habe wegführen lassen und betet für sie zum Herrn; denn wenn es ihr wohlgeht, so geht's euch auch wohl" (Jer. 29,7). So schrieb einst Jeremia aus Jerusalem an seine Landsleute im Exil nach Babel. Das war damals kein gewünschtes politisches Wort, sondern eine Provokation. Aber es ist dies die Aufgabe des Predigers: „Predige das Wort, stehe dazu, es sei zur Zeit oder zur Unzeit" (2. Tim. 4,2). Joseph Kardinal Höffner hat das im Zitat genannte „gelegen oder

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ungelegen" immer wieder betont. Ob gelegen oder ungelegen, es geht nicht nur um Anfragen an das Verständnis von gesellschaftlichem Konsens, sondern auch um die Selbstprüfung des Protestantismus: Eine Wiederbesinnung auf Grundanliegen des Protestantismus ist in der evangelischen Kirche notwendig, und eine protestantische Selbstbesinnung wäre auch für die Gesellschaft nützlich. Dabei ginge es dann um die Einsicht in die Profanität der Welt, auch der politischen Welt, und um die Entschlossenheit zur Autonomie, zur Mündigkeit des Christen im politischen Leben. Der Mut zur eigenen Überzeugung - auch gegen kirchliche oder parteipolitische Vorgaben die Bereitschaft zur Sachlichkeit und die Fähigkeit zum Dialog in gesellschaftlichen und innerkirchlichen Konflikten sind Folgen evangelischer „Weltfrömmigkeit". Evangelischer Wille zur Wahrhaftigkeit mag gesellschaftlich unbequem sein; aber billiger ist Konsens nicht zu haben, als daß dies ein auf Redlichkeit und Toleranz gegründeter Konsens sein muß. Die Religion stiftet zwar nicht den Konsens, auch der Protestantismus kann dies nicht leisten; aber der Glaube spricht eine Tiefenschicht an, in die ein Konsens hinabreichen muß, soll er tragfähig und dauerhaft sein. Die Spannung zwischen religiöser Wahrheitsforderung und gesellschaftlichem Konsens muß gewahrt werden, um der Wahrheit willen genauso wie deshalb, damit es ein frei angenommener und nicht erzwungener Konsens ist. Gerade eine dem Evangelium allein vertrauende Kirche, die dadurch ihre politische Unabhängigkeit gewinnt, leistet einen politischen und gesellschaftlichen Beitrag, indem sie Freiheit und Wahrheit aufeinander bezieht.

6. Individuelle Schuld und kollektive Verantwortung Können Kollektive sündigen?

Zur 16. ökumenischen Konferenz des Evangelischen Militärbischofs in Bossey am 29.9.1992 wurde ich zu einem Vortrag eingeladen, der das Thema behandeln sollte: „Können Kollektive sündigen?" Anlaß war die öffentliche Diskussion um die Beziehungen der evangelischen Kirchen in der DDR zum Staatssicherheitsdienst wie ein Vergleich der Diskussion nach 1989 mit der Erörterung der Schuldfrage nach 1945. Im „Philosophischen Wörterbuch", das die „gültige SED-Ideologie" formulierte, herausgegeben von G. Klaus, M . Buhr, Band 2, 1970, 7. Auflage, kamen die Begriffe „Schuld" und „Verantwortung" nicht vor. Das hat seine Ursache darin, daß für Personalität und Individualität im Marxismus kein Platz war. Sind jedoch Kollektive der Schuld und Verantwortung fähig? Man darf in der Auseinandersetzung mit der Entwertung des Individuums nicht in das andere Extrem fallen, und alles Verhalten nur noch individueller privater Schuld und Verantwortung zurechnen und damit einen übergreifenden Verblendungszusammenhang und überindividuelle Gemeinhaftung übersehen oder gar bestreiten. Vielmehr ist die Verflochtenheit persönlicher Verantwortlichkeit und des Verhaltens des Einzelnen in kollektive und strukturelle Bedingtheiten zu betrachten und zu bedenken. 1. Kollektive als ethische Subjekte Ursprünglich wurde das Thema als Frage sogar so formuliert: „Können Völker sündigen?" Diese Formulierung ist provozierend. So provozierend formuliert, ist die Frage jedoch anscheinend klar zu beantworten. „Kollektiv" meint nämlich Gruppen, Gemeinschaften, Vergesellschaftungen. Soziologen (z. B. Emile Dürkheim) sprechen sogar von

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einem Kollektivbewußtsein. Im deutschen Arbeitsrecht nennt man Vereinbarungen zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften Kollektivverträge. Kollektivismus ist Gegenbegriff zum Individualismus; damit wird der Vorrang der Gesellschaft vor dem Einzelnen betont. Der Einzelne ist Glied oder Teil eines Ganzen. Statt von Kollektiven kann man auch von Korporationen, von korporativer Identität, von Handlungs- und Aktionsgemeinschaften sprechen. In der marxistischen Terminologie wurden Interessen- und Arbeitsgemeinschaften Kollektive genannt. Man sprach von Arbeits-, Betriebs-, Produktiv-, Lehr-, Schüler-, Lern-, Sport- und Forschungskollektiven. Gefragt ist somit in unserer Thema-Formulierung, ob Gruppen oder Institutionen wie Nationen, Völker, Staaten, Regierungen, Kirchen oder auch Unternehmen schuldig werden können. Dies ist die Frage nach einer Kollektivschuld. Oder anders gefragt: Gibt es überindividuelle Verantwortungsträger, moral agents einer gemeinsamen kollektiven Verantwortung? Auf die Frage, ob Kollektive denn überhaupt „sündigen" können, kann zunächst einmal eindeutig mit Nein geantwortet werden. Dabei genügt ein knapper theologischer Hinweis: Sünde hat es mit dem Gottesverhältnis zu tun. Vor Gott steht jeder Mensch immer allein für sich selbst. Die als Provokation formulierte Frage kann man freilich auch noch anders verstehen: Inwieweit ist eine überindividuelle Verantwortung und Haftung und bei einem Versagen der Verantwortung, ein überindividuelles Verschulden geltend zu machen? Diese Frage soll im folgenden erörtert werden. Sie ist nicht so eindeutig zu beantworten. In der Sozialethik spricht man von „struktureller" oder „institutioneller" Gewalt, um überindividuelle Verursachungszusammenhänge zu benennen. Gewalt, Unrecht kann nicht nur durch Verhalten von einzelnen Menschen verursacht und ausgelöst werden, sondern Folge von Strukturen, Verhältnissen sein. Reinhold Niebuhr prägte die Formel „moral man, immoral society". 1 Wenn Zustände und Verhältnisse unmoralisch sind, ist es wenig sinnvoll, den Menschen individuelle Moral zu „predigen". In einer Diktatur zahlt sich Aufrichtigkeit oft nicht aus. Systeme können Heuchelei geradezu 1

R. Niebuhr, Moral Man and Immoral Society. A study in Ethics and Politics, New York 1932; vgl. die Darstellung in: D. Lange, Ethik in evangelischer Perspektive, Göttingen 1992, S. 160ff.

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erzwingen. Man spricht deshalb von „strukturell Bösem". 2 Allerdings darf nicht einfach jeder „Sachzwang" mit dem strukturell Bösen gleichgesetzt werden. Es gibt durchaus unvermeidbare Sacherfordernisse, wie z. B. die Endlichkeit der natürlichen Ressourcen, die Grenzen ökologischer Belastbarkeit oder die Erfordernisse der Rentabilität in der Wirtschaft. Sachzwänge sind nicht an sich böse. Sie werden erst dann zu Erscheinungsformen eines „strukturell Bösen", wenn sie Unmenschlichkeit und Unrecht zur Folge haben. Insofern gibt es inhumane Sachzwänge. Die Ursachen und Wirkzusammenhänge solcher Bestimmungen zum Bösen müssen allerdings in sorgfältiger, rational nachvollziehbarer Analyse aufgedeckt werden. „Verschulden" hat mit Ursächlichkeit zu tun. Juristisch betrachtet setzt außerdem die Möglichkeit von Schuld Freiheit voraus. Kann man Menschen, die unfrei waren, schuldig sprechen und auf ihre Schuld behaften, oder sind sie unfreiwillig schuldig geworden? Anders gefragt: Entlastet nicht geradezu die Zugehörigkeit zu einem Kollektiv den Einzelnen von seiner individuellen Schuld? Das Problem der Schuldverstrickung ist im konkreten Fall sicherlich verwickelt und schwer aufzulösen. Gerade die Undurchschaubarkeit der Verflechtungen ermöglicht es, Schuld unsichtbar zu machen und zu verbergen.

2 . Schuld und Sühne Von Schuld ist in rechtlichen und ethischen Zusammenhängen die Rede. Sünde ist hingegen vonhause aus ein theologischer Begriff. Schuld ist rechtlich zurechenbar und vorwerfbar. Sünde geschieht vor Gott, äußert sich als Abkehr von Gott, und kann nur vom sündigen Menschen selbst vor Gott bekannt werden. Der Gegensatzbegriff zur Sünde ist nicht die Unschuld, die Sündlosigkeit, sondern die Gnade, der Glaube. „Was nicht aus Glaube geschieht, ist Sünde" (Rom 14,23). Sünde manifestiert sich in Unglaube, Hoffnungslosigkeit, Lieblosigkeit. Schuld kann geahndet werden; Sünde wird allein in der Vergebung aufgehoben. Sünde hat es mit Heil und Unheil, mit 2

A. Rieb, Sachzwänge und strukturell Böses in der Wirtschaft. Analysen und Konsequenzen aus der Sicht der christlichen Sozialethik, Z E E 26, 1982, S.6282.

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Gnade und Gericht zu tun. Daher sind Sündenerkenntnis wie Sündenbekenntnis Glaubenssache. Ist dem aber so, dann kann man in Politik und Ethik den Sündenbegriff nicht instrumental einsetzen. Sündenbekenntnisse kann man weder einfordern noch beschließen. Das Wort Sünde steht quer zu allen geschichtlichen, ethischen und rechtlichen Wertungen. Die christliche Lehre unterscheidet überdies zwischen der Erbsünde, dem peccatum originale, radicale, der Uroder Grundsünde und den Tatsünden. Man kann auch betonen, zwischen Sündersein und Sündenbegehen sei zu unterscheiden. Die konkreten Verfehlungen, die Sünden, wurzeln in der Sündhaftigkeit des Menschen. Sünde ist zugleich Tat des Menschen und Erfahrung einer Macht, eines Verhängnisses. Traditionell wird die Unausweichlichkeit der Sünde im Symbol der Erbsünde veranschaulicht. Der Begriff Erbsünde ist freilich mißverständlich. Sünde wird nicht biologisch vererbt, durch Zeugung weitergegeben. Augustinus hatte das Phänomen der Erbsünde biologisch und historisch zu erklären gesucht. Solche Erklärungen gehen jedoch fehl. Das Bild der Erbschaft vermag freilich Sünde als Vorgegebenes zu veranschaulichen. Der Mensch wird in der Geschichte durch Vorgegebenes bestimmt („Erbe") und ist zugleich frei, diese Erbschaft zu übernehmen. Das Wort Erbsünde ist ein „hermeneutischer Erschließungsbegriff"3 der die vorgegebene Wirklichkeit der Sünde als Geschichte beschreibt und so die Dialektik der Bestimmtheit durch Sünde und der Selbstbestimmung zur Sünde zur Sprache bringt. F.D.E. Schleiermacher erklärte, die Ursünde könne vorgestellt werden „als die Gesamttat und Gesamtschuld des menschlichen Geschlechts".4 Piet Schooneberg bemühte sich ebenfalls um eine Neuinterpretation der Erbsündenlehre. Er entwirft eine Theologie der Sünde der Welt und der historischen Sünden in der Welt, mit deren Hilfe er einen Zugang zum überlieferten Dogma der Erbsünde finden will. Erbsünde sei zu verstehen „als existentiales Situiert-Sein durch persönliche Sünden anderer". 5 3

4 5

G. Freund, Sünde im Erbe. Erfahrungsinhalt und Sinn der Erbsündenlehre, Stuttgart 1979, S.lOf. F.D.E. Schleiermacher, Glaubenslehre, 2. Ausg., 1830, § 71. P. Schooneberg, in: ]. Feiner IM. Löhrer, Mysterium Salutis, Bd. II, 1967, S.931. Vgl. zum gesamten Thema: M. Sievernich, Schuld und Sünde in der Theologie der Gegenwart, 2. Aufl., Frankfurt am Main 1983; Zu P. Schooneberg, „Situierte Freiheit und Sünde der Welt", S.69-103.

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Mit solchen Interpretationen sollen einerseits der kommunikative und solidarische Aspekt böser Taten herausgearbeitet, die Solidarität der Menschen in ihrem Sündersein erkannt und die sozialen Sündenfolgen bedacht werden. Andererseits wird damit an Sünde als Verhängnis und als freier Entscheidung festgehalten; es wird also die Unableitbarkeit des Sünderseins zugleich mit der Verantwortlichkeit des Menschen zur Sprache gebracht. Sünde wird anschaulich im Phänomen der Schuld. Die kurze Erinnerung an die theologische Sicht von Schuld und Sünde soll erläutern, warum theologische Bedenken gegen die Forderung eines kirchlichen Schuldbekenntnisses geltend zu machen sind? 6 Als Modell und Vorbild einer solchen Schulderklärung nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Systems 1989 wird auf das Beispiel und Vorbild des Darmstädter Wortes des Bruderrats vom 8. August 1947 verwiesen. Der Rat der EKD hatte sich freilich dieses Wort damals nicht zu eigen gemacht - aus gutem Grund. „Denn im „Darmstädter Wort" unternahmen evangelische Christen den Versuch, historische Abläufe zu rekonstruieren und zu analysieren. Durch die Aufdeckung vermeintlich eindeutiger Ursachen-WirkungsZusammenhänge suchte man alternative Beweggründe namhaft zu machen, deren Beachtung Leid und Schuld hätte vermeiden helfen können. Indem man so komplexe Wirkungszusammenhänge auf wenige, leicht bewertbare Ursachen reduzierte, gelang zwar eine vordergründig plausible Interpretation von Realität, die aber über den eigenen Kreis hinaus kaum zu überzeugen vermochte und darum nur neuen Konfliktstoff in sich trug". 7 Es kann bei Schulderklärungen nicht einfach darum gehen, politische Fehler zu erkennen und einzugestehen und mit Hilfe einer theologischen „Kurskorrektur" sodann die richtige politische Option zu treffen. Eine für politische Zwecke instrumentalisierte theologische Schulderklärung ist zweifellos fragwürdig. Wie steht es freilich überhaupt mit einem theologischen Schuldeingeständnis politischen Irrtums und Versagens? Ein Blick auf weitere geschichtliche Beispiele solcher Schulderklärungen stimmt eher skeptisch.

6

7

G. Besier, S. Wolf (Hg), Pfarrer, Christen und Katholiken, NeukirchenVluynl991, S.88 ff. A.a.O., S.92.

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Auch die Stuttgarter Schulderklärung vom 18./19. Oktober 1945 war von Anfang an umstritten und ist in sich selbst zweideutig.8 Die Formulierungen sind auslegbar. Die Ursachen der deutschen Katastrophe von 1945 - mangelnde Christlichkeit, Säkularisierung, Zustimmung zum Totalitarismus usw. - sind nicht unmißverständlich benannt. Vor allem bleibt das Subjekt der Erklärung, das „Wir" derer, die ihre Schuld bekennen, unbestimmt. In wessen Namen spricht diese Erklärung - im Namen des Rates, im Namen der evangelischen Kirchen und Gemeinden, im Namen der Christen, im Namen des deutschen Volkes? Das Stuttgarter Wort war zwar als Signal eindeutig: „Mit großem Schmerz sagen wir: Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden". „Nun soll in unseren Kirchen ein neuer Anfang gemacht werden." In der Ursachenerklärung und dem Inhalt der Umkehraussagen war das Wort hingegen von Anfang an mehrdeutig und ambivalent. Scheinbar eindeutig in der Verbindung von theologischer Begründung und politischer Anwendung ist hingegen das Darmstädter Wort des Bruderrates zum „politischen Weg unseres Volkes", 1947. 9 Aber gerade diese Synthese von Politik und Theologie ist wiederum zutiefst umstritten. Das Darmstädter Wort ist auch das typische Beispiel einer einseitigen Geschichtsdeutung; es ließ sich leicht zu politischen und kirchenpolitischen Zwecken nutzen. Die Schwierigkeit und Mißdeutbarkeit eines kontextuellen und aktuellen Schuldbe8

Vgl. zur Stuttgarter Schulderklärung: M. Greschat (Hg), Die Schuld der Kirche. Dokumente und Reflexionen zur Stuttgarter Schulderklärung vom 18./19. Oktober 1 9 4 5 , 1 9 8 2 ; Im Zeichen der Schuld: 4 0 Jahre Stuttgarter Schuldbekenntnis, hg. von M. Greschat, Geleitwort Wolfgang Huber, Neukirchen 1 9 8 5 ; G. Bester, G. Sauter, Wie Christen ihre Schuld bekennen. Die Stuttgarter Erklärung 1945, Göttingen 1985; M. Honecker, Geschichtliche Schuld und kirchliches Bekenntnis, ThZ 4 2 , 1 9 8 6 , S.132-158.

9

Zum Darmstädter Wort: Der Text und die Vorentwürfe bei: M. Greschat (Hg), Im Zeichen der Schuld, 1 9 8 5 (vgl. Anm 8), S.79-86; D. Schellong, Versöhnung und Politik. Zur Aktualität des Darmstädter Wortes, in: K. G. Steck, D. Schellong, Umstrittene Versöhnung, Th Exh NF 196, 1977, S.35- 66; G. Wendelborn, Charta der Neuorientierung. Die Rezeption des Darmstädter Wortes, Union Verlag, 1977. H. Ludwig, Die Entstehung des Darmstädter Wortes, in: JK, Beiheft zu H. 8/9, 1 9 7 7 ; E. Wilkens, Zum „Darmstädter W o r t " vom 8. August 1947, in: G. Metzger (Hg), Zukunft aus dem Wort. Festschrift für H. Class, 1978, S.151-169. B. Klappert, Bekennende Kirche in ökumenischer Verantwortung. Die gesellschaftliche und ökumenische Bedeutung des Darmstädter Wortes, in: ökumenische Existenz heute 4, München 1988.

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kenntnisses und einer theologisch legitimierten Zuweisung historischer Schuld ist evident. Eine theologische Überhöhung einer Einsicht in Schuld und Versagen und der Annahme von Verantwortung durch ein explizites Schuldbekenntnis der Kirche ist fragwürdig, weil solche Erklärungen eben ausdeutbar sind. Geboten ist freilich eine Klärung des Schuldbegriffs und eine Differenzierung nach Verschulden und Verantwortlichkeit.

3 . Differenzierungen im Schuldbegriff Schuld ist ein mehrdeutiger Begriff, zumindest in der deutschen Sprache. „Schuld" kann einmal besagen schuldig zu sein im Sinne von „verursachen", also ein Äquivalent zu Kausalität bilden (Schuld als „causa"). Schuld kann sodann eine rechtliche Verpflichtung im Sinne von „obligatio" oder „debitum" bezeichnen. Wer sich verschuldet, beispielsweise finanziell verpflichtet, der übernimmt im Blick auf die Zukunft Verantwortung. Er geht Verpflichtungen (Obligationen) ein. „Schuld" kann schließlich „culpa" meinen, nämlich daß man einen Schaden angerichtet hat, gegen eine Regel verstoßen hat, Pflichten verletzt hat. Während die obligatio auf die Zukunft ausgerichtet ist, blickt culpa zurück auf die Vergangenheit. Irreparabel ist eine Schuld dann, wenn Schaden und Verletzungen nicht mehr rückgängig zu machen sind, in äußersten Fällen, wenn z. B. Menschen inzwischen gestorben sind. Schuldhaftes Verursachen im Sinne von culpa setzt ferner die Vorwerfbarkeit einer Tat und Verantwortlichkeit im Sinne von Zurechnungsfähigkeit voraus. Sollen hat Können zur Voraussetzung. In welchem Sinne jeweils von Schuld die Rede ist, ist darum im Einzelfall genau zu klären, ob im Sinne von Verursachung (Kausalität), im Sinne von Verpflichtung (obligatio) oder von vorwerfbarem Versagen (culpa). Es ist auch zu bedenken, daß es tragische Verstrickungen gibt, bei denen man individuelle Schuld nicht im einzelnen zumessen kann. Karl Jaspers unterschied nach 1945 in der Debatte um eine deutsche Kollektivschuld vier Schuldbegriffe: 10

K. Jaspers, Die Schuldfrage. Ein Beitrag zur deutschen Frage, 1 9 4 7 4 , S. lOff.

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1. Kriminelle Schuld: Dabei geht es um eindeutig nachweisbare und individuell zurechenbare Verstöße. 2. Politische Schuld: Staatsmänner und Bürger können schwerwiegende, politische Fehler begangen haben, für die sie und alle Staatsangehörigen haftbar sind. 3. Moralische Schuld: Handlungen können vom Gewissen des Einzelnen beurteilt werden; man macht sich selbst Vorwürfe wegen seines Verhaltens, hat ein „schlechtes Gewissen". 4. Metaphysische Schuld: Die Solidarität der Menschen führt uns alle in Situationen, in denen Unrecht, Ungerechtigkeit und Verbrechen geschehen, für die wir uns mitschuldig fühlen und wissen, ohne jedoch diese Situation überhaupt abwenden zu können. Je nach der Art von Schuld ist in der Antwort auf eine Bewältigung der Schuld ebenfalls zu differenzieren. 11 1. Kriminelle Schuld, Verbrechen sind zu ahnden. Dazu sind rechtliche Verfahren notwendig. Den Verbrecher soll die gerechte Strafe treffen. 12 2. Politische Schuld führt zu gemeinsamer Haftung. 1 3 Für die politischen Folgen eines Versagens haben alle Betroffenen einzustehen. 3. Die moralische Schuld ist Aufgabe der Selbstbeurteilung. Darüber kann nur das Gewissen des Einzelnen urteilen. 14 4. Die metaphysische Schuld stellt vor Gott und kann nur durch Vergebung beseitigt und getilgt werden. 15 Je nach Schuldverständnis ist darum beim praktischen Umgang mit Schuld und Vergebung zu unterscheiden. Die entscheidende Frage ist dabei, „in welchem Sinne ein Kollektiv, in welchem nur der Einzelne beurteilt werden kann. Ohne Zweifel ist es sinnvoll, alle Staatsangehörigen eines Staates für die Folgen haftbar zu machen, die aus dem Handeln dieses Staates entstehen. Hier wird ein Kollektiv getroffen. Diese Haftung aber ist bestimmt und begrenzt, ohne moralische und metaphysische Beschuldigung des einzelnen." 16 K.E. 11 12 13 14 15 16

A.a.O., A.a.O., A.a.O., A.a.O., A.a.O., A.a.O.,

S. S. S. S. S. S.

25ff. 29ff. 39ff. 41 ff. 48ff. 18, vgl. S. 52-58: Die Kollektivschuld.

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Legstrup betont in demselben Sinne: „Kollektive Schuld ist ein Unding; in diesem abzulehnenden Begriff überleben längst überwundene primitiv-religiöse Vorstellungen von magischem Zusammenhang des Staates, der Sippe oder des Volkes. Politische Schuld dagegen besteht in der Mitschuld des einzelnen Bürgers an den Handlungen der Regierung kraft seines Anteils an der Staatsgewalt." 17 Damit ist freilich das Thema einer „Schuld in der Geschichte", wie es beispielsweise im Historikerstreit zutage trat, nicht gelöst. Der Aufweis von Schuld in der Geschichte setzt voraus, daß ein Verursachungszusammenhang zwischen dem Handeln Einzelner und geschichtlichen Ereignissen besteht, daß dieser Zusammenhang prinzipiell erkennbar ist und daß damit Schuld identifizierbar und den handelnden Personen zurechenbar ist. Eilert Herms formuliert diese These so: „Der Mensch muß als schuldfähiges Subjekt seiner Geschichte gedacht werden." Diese These setzt einen Interaktionszusammenhang handelnder Personen voraus, in dem bestimmte Handlungen einzelnen beteiligten Handlungssubjekten zugeschrieben werden können. Die vorhersehbaren und vermeidbaren Folgen setzen Verantwortungsfähigkeit der handelnden Personen voraus und ebenso das Einverständnis hinsichtlich ethischer Maßstäbe, anhand derer Handlungen als richtig oder als falsch bewertet werden können. 18 Das Thema „kollektiver" Schuld verwandelt sich damit in die Frage nach einer kollektiven Verantwortung. 4. Kollektives Handeln Das Thema kollektiven Handelns soll zunächst an drei Beispielen veranschaulicht werden, ehe die daraus folgenden ethischen Überlegungen zu ziehen sind: (a) Unternehmen, Unternehmensethik Eine Unternehmensethik oder Unternehmenskultur bezieht sich auf das Unternehmen als Wirtschaftseinheit, nicht auf den einzelnen 17 18

K. E. Legstrup, Art. Sünde und Schuld, RGG 3 VI, 500. E. Herms, „Schuld in der Geschichte", in: ZThK 85, 1988, S. 349-370, zudem in: Gesellschaft gestalten, Tübingen 1991, S. 1-24. Zitat: S. 9. Herms betont ferner: „Nun sind alle Institutionen einer Gesellschaft zu einem einheitlichen, generationenübergreifenden Funktionszusammenhang verbunden. Deshalb muß der christliche Glaube von .Kollektivschuld' sprechen." (S. 14)

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Unternehmer als Person. Unternehmen sind produzierende Wirtschaftseinheiten, Organisationen, also Kollektive. Unternehmen können ferner mehrere Betriebe umfassen und außerdem nationale Grenzen überschreiten (transnationale Unternehmen), Unternehmen sind daher wirtschaftlich-rechtliche Organisationen. Dieser rechtliche Status schließt ein, daß sie verantwortlich gemacht werden können und also moralisch haftbar sind. Dabei geht es nicht bloß um das moralische Verhalten einzelner Mitarbeiter oder der Unternehmensleitung, also um die Moral der einzelnen wirtschaftenden Subjekte. Es geht aber auch nicht um die Beurteilung des Systems der Marktwirtschaft, also um Probleme der gesamtwirtschaftlichen Ordnung. Es sollten zudem nicht Unternehmen in problematischer Weise personifiziert und hypostasiert werden. Vielmehr kommt es darauf an, zu erkennen, daß Regeln, Kodizes des Verhaltens in einem Unternehmen das leisten können, was einzelne Mitarbeiter je für sich gerade nicht umfassend leisten können, nämlich die Regelung moralischen Handelns als Kennzeichen eines Unternehmens. Das Unternehmen als Organisation bildet folglich eine „Schnittstelle" zwischen individuellen und gesellschaftlichen Erwartungen. Der Zweck einer Unternehmensethik ist es, den Mitarbeitern normative Orientierung für ihr Verhalten im Unternehmen und nach außen zu geben und gleichzeitig dem gesellschaftlichen Umfeld die moralischen Erwartungen zu verdeutlichen, die man an ein Unternehmen richten kann. Unternehmensethik entsteht durch Selbstverpflichtung. Unternehmen haben ein Interesse daran, daß auch im Blick auf das Kollektiv dessen moralische Maßstäbe erkennbar sind. Wirtschaftskriminalität und Korruption haben darum häufig erst die Formulierung von Grundsätzen einer Unternehmensethik und die Festlegung von Kodizes eines Verhaltens für Mitarbeiter von Unternehmen veranlaßt. Das Kredit- und Börsenwesen als Ort des Geld- und Vermögenswerteverkehrs ist ein besonders sensibler Bereich. Unterschlagung, Anlagenbetrug, Insidergeschäfte, Bilanzfälschung, Bestechung sind hier möglich und wurden immer wieder praktiziert. Selbstverständlich gibt es für die Verfolgung von Betrug und Hehlerei strafrechtliche Normen. Aber der alte aus dem römischen Recht stammende Grundsatz „Societas delinquere non potest" - eine Gesellschaft, eine Organisation, eine Unternehmung als solche könne nicht kriminell werden - erweist sich heute als unhaltbar. Zumindest Unternehmen, welche die Form einer Aktien-

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gesellschaft haben, können bei spekulativen Geschäften auch kollektiv kriminell sich verhalten. Bei illegalem Waffenhandel, der Herstellung biologischer und chemischer Waffen, ökologischen Schäden tragen eben nicht nur einzelne Mitarbeiter, sondern trägt das Unternehmen selbst Verantwortung und im Falle des Versagens Schuld. In Zukunft wird man deshalb die strafrechtliche Verantwortlichkeit nicht nur natürlicher Personen, sondern auch juristischer Personen schärfer fassen müssen. Kollektive Verantwortlichkeit erfordert allerdings eine Neugestaltung der bestehenden juristischen Kultur. Auch im Blick auf Anlässe zur Korruption, die auch aus Kollisionen zwischen den individuellen Interessen des einzelnen Funktionsträgers und übergeordneten Interessen eines Auftraggebers entstehen, wird man nicht ohne institutionelle Reformen, ohne Überprüfungen und Kontrollen auskommen. Die Diskussion um die Moralität von Unternehmen hat in der amerikanisch-englischen Umgangssprache im Wort „whistle-blowing" sogar einen eigenen Ausdruck gefunden. Whistle-blowing, mit der Pfeife aufmerksam machen, bezeichnet Äußerungen, Hinweise von Mitarbeitern, die auf ein unethisches oder gefährliches Handeln eines Unternehmens oder seiner Mitarbeiter aufmerksam machen. Internes Whistle-blowing geschieht, indem man außerhalb des Dienstwegs auf gefährliche Handlungen aufmerksam macht. Externes Whistle-blowing informiert die Öffentlichkeit über problematische Vorgänge und Verfahrensweisen in Unternehmen. Es geht an dieser Stelle nicht um die Frage, ob eine Person, die dies tut, ein „moralischer Held" ist oder ob sie nicht im Gegenteil dem Unternehmen oder sich selbst schadet, sondern darum, daß dieses Phänomen ein Indiz dafür ist, daß es offensichtlich kollektives Fehlverhalten gibt. Unternehmen können also insgesamt versagen, umgangssprachlich gesprochen, auch Kollektive können „sündigen". „Whistle-blowing" ist Symptom eines ethisch defizienten Unternehmens. Ethisch vorbildliche Unternehmen werden ihre Unternehmensethik oder Unternehmenskultur so ausgestalten, daß ethische Hinweise ohne Whistle-blowing zur Sprache gebracht werden können.

(b) Nationen als Kollektive Die Nationalitätenkonflikte in Osteuropa und auf dem Balkan bieten weitere Hinweise darauf, daß und wie überindividuelle Gemeinschaften, Kollektive in die Schuld der Vergangenheit verstrickt sind.

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Unternehmen und Nationen sind sicherlich Kollektive von unterschiedlicher Art. In eine Nation wird man hineingeboren. Die Tätigkeit in einem Unternehmen ist Folge einer Arbeitsplatzwahl. Insofern ist die Zugehörigkeit zu einer Nation von anderer Art als die Zugehörigkeit zu einem Unternehmen. Gemeinsam ist beiden freilich, daß sie dem Handeln des Individuums einen Handlungsrahmen vorgeben. Die Nation wird nicht durch Handlungsziele konstituiert, sondern beruht auf Tradition und dem Erbe der Geschichte. Auf dem Kaukasus brechen seit 1989 uralte Konflikte zwischen Aserbeidschanern, Armeniern, Georgiern auf. Der Zerfall der Sowjetunion setzt die Nationalitätenfrage wieder auf die Tagesordnung. Auch in anderen Teilen der Welt, wie in Kambodscha, Korea, in Afrika, in Äthiopien, im Sudan gären nationale Konflikte. Die historischen, kulturellen, religiösen und kirchlichen Gegensätze sind im ehemaligen Jugoslawien besonders ausgeprägt. Die alten Grenzen zwischen Ost- und Westrom, zwischen kyrillischer und lateinischer Schrift, zwischen orthodoxen Serben und römischkatholischen Kroaten brechen heute wieder auf. Die Herrschaft der Türken und die Habsburgische Militärgrenze nach der Eroberung Bosniens 1463, der Kampf um das Kosovo-Gebiet, der Konflikt mit Albanien werden wieder sichtbar. Die Idee des Nationalismus, welche durch die Französische Revolution zur bestimmenden politischen Kraft wurde, erfaßte im 19. Jahrhundert auch die südslawischen Völker. Kroaten und Slowenen wurden die ersten „Nationalisten" auf dem Balkan gegen den Druck der Deutschösterreicher und der Ungarn. Der Traum von Großserbien entstand ebenso im 19. Jahrhundert und bestimmte das jugoslawische Königreich 1918-1941. Der serbisch-kroatische Gegensatz entlud sich danach 1941-1945 in der Gründung eines kroatischen Ustasa-Staates und im Kampf der serbischen Cetniks um den serbischen Oberst Mihajlovic. Die Grausamkeiten im und nach dem 2. Weltkrieg zwischen den Volksgruppen, den Kroaten, Serben und Muslimen, sind bis heute unvergessen. Der jugoslawische Sozialismus unter Tito hatte die Gegensätze nur zugedeckt, aber nicht beseitigt. Die Kosovo-Unruhen 1981, der Sieg des serbischen Nationalismus 1986 (unter Slobodan Milosevic), die Wahlen in Slowenien und Kroatien 1990 führten zum Zerfall und zur Auflösung Jugoslawiens. Seit 1991 herrscht Bürgerkrieg. Die Verbrechen in diesem Krieg sind bekannt und sichtbar. In der Tat können Völker und Nationen Verbrechen begehen und Schuld auf sich laden. Diese

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Entwicklung hat eine wesentliche Wurzel in einem übersteigerten Nationalismus. Das Wort „Nation" knüpft zunächst einmal an die landsmannschaftliche Verbundenheit, an die Abstammungsgemeinschaft an. 1 9 Seit der Französischen Revolution ist die Idee der Nation geprägt vom voluntaristischen Prinzip der Zustimmung des Volkes. In der Französischen Revolution beanspruchte der Dritte Stand, die Nation zu sein. Abbé Sieyès erklärte: „Eine vollständige Nation ist der Dritte Stand." Ernest Renan benannte als Merkmal der Nation: „L'existence d'une nation est un plébiscité de touts les jours." Da aber Nation, Staat und Territorium in Mittel- und Osteuropa nicht identisch sind, kann hier der französische klassische Nationalstaat nicht das Ideal und die Zielvorstellung sein. Um dieser Gemengelage Rechnung zu tragen, suchte man darum zwischen Staatsnation und Kulturnation zu unterscheiden (F. Meinecke). Bei der Suche nach nationaler Identität spielte außerdem bei kleineren Völkern die Religionszugehörigkeit eine wesentliche Rolle. Eine wichtige Bedeutung für den Zusammenhalt einer Nation hat außerdem der Rückgriff auf Geschichte im Sinne eines autorisierenden Mythos. Nationalismus kann als Ideologie wirken, die nicht nur nach innen integrativ wirkt, sondern aggressiv nach außen sich betätigt. Im Namen der Nationen werden dann Aggressionskriege begonnen, Verbrechen und Menschenrechtsverletzungen verübt und zugelassen. Konfrontation mit Nachbarstaaten, die als Feinde, gelegentlich als „Erbfeinde", gekennzeichnet werden und Hegemonialansprüche, welche eine Herrschaft über andere Völker im Namen einer höherwertigen Nation begründen sollen, sind Folgen des Nationalismus. Auf eine „historische Mission" beriefen sich in der Vergangenheit bereits das napoleonische Frankreich und das nationalsozialistische Deutschland. Nationalismus verbindet sich folglich mit Imperialismus. An solchen Machtausübungen sind die Bürger eines Staates und die Angehörigen einer Nation beteiligt, unabhängig davon, ob sie diese Beteiligung selbst wollen und bejahen. Sie sind aufgrund ihrer nationalen Herkunft, also durch Geburt, in kollektive Handlungen ihrer Nation verstrickt.

19

Vgl. W. Bußmann, Art. Nation, in: Staatslexikon III7, Sp. 1265-1270; J. Domes, Art. Nationalismus, in: Staatslexikon III7, Sp. 1272-1275.

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(c) Kirchliche

Organisationen

Als Beispiel kollektiver Verantwortung und kollektiven Verschuldens sollen aber nicht nur wirtschaftliche Unternehmungen, Völker und Nationen, also politische Subjekte, sondern auch Kirchen, kirchliche Institutionen in Blick genommen und angesprochen werden. Die Verstrickung von Nationalkirchen in politische und militärische Konflikte ist hinlänglich bekannt und wurde bereits erwähnt. Wieder genügt der Hinweis auf die gegenwärtige Situation im ehemaligen Jugoslawien und die Erinnerungen an die Rolle der orthodoxen Kirche Serbiens. Man könnte freilich auch an Nordirland denken. Auch Kirchen, Kirchenführer, Kirchenleitungen können Fehler machen und schuldig werden. Martin Luther betonte, auch Konzile könnten irren; so sagte er vor dem Reichstag zu Worms: „Werde ich nicht durch Zeugnisse der Schrift oder durch klare Vernunftgründe überwunden - denn ich glaube weder dem Papst noch den Konzilien allein, da es am Tage ist, daß sie des öfteren geirrt und sich selbst widersprochen haben so bleibe ich überwunden durch die von mir angeführten Stellen der Schrift und mein Gewissen gefangen durch Gottes W o r t . " 2 0 Vor Cajetan in Augsburg und auf der Leipziger Disputation (1519) vertrat Luther die Überzeugung von der Irrtumsfähigkeit der Kirche. 2 1 Auch Konzile sind nicht unfehlbar. Das gilt für ihre Lehraussagen, aber nicht weniger für gesellschaftspolitische Stellungnahmen. Und was von Konzilien zu sagen ist, gilt gleicherweise für Synoden und kirchenleitende Organe. Dazu sei ein Blick auf ein aktuelles Thema gerichtet, nämlich die Stasi-Verstrickung von Mitarbeitern der evangelischen Kirche in der ehemaligen DDR. Man kann diese Stasi-Verbindungen als individuelles, persönliches Versagen beurteilen. Das ist es sicherlich in manchen Fällen auch. Aber es ist dies eben gleichzeitig ein institutionelles Problem. In einem zentralisierten und totalitären Staat und in einer geschlossenen Gesellschaft passen sich auch Verhaltensweisen und Verfahrensformen kirchlicher Organe der politischen Struktur an. Kirchliche Organisationen sind immer zeitabhängig und kontextuell geprägt. Dafür bietet die Entwicklung der Verfassungen und 20 21

M. Luther, WA 7, 838. M. Luther, Responsio, WA 1, 656,32: „Tarn papa quam Concilium potest errare." Vgl. WA 2, 303,16;/. Heckel, Initia iuris ecclesiastici Protestantium, in: ders., Das blinde, undeutliche Wort „Kirche", 1964, S. 197f.

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Verwaltungsstrukturen der deutschen evangelischen Landeskirchen im 20. Jahrhundert genügend Anschauungsmaterial. Zwar kann man fordern, die Ordnung der Kirche müsse im Bekenntnis begründet sein und daher müsse die Kirche verwaltet werden in der Bindung an das Bekenntnis. Aber so durchgehend kontextunabhängig ist keine kirchliche Organisation. Schon grundsätzliche Erwägungen raten zu Zurückhaltung und Vorsicht: „Die kirchliche Verwaltung hat mittelbar Anteil am Auftrag der Kirche. Sie hat keine erlösende, sondern eine dienende Funktion. Sie ist nicht durch sich selbst gerechtfertigt oder durch einen wie auch immer gearteten Nachweis der Notwendigkeit ihrer Existenz, gerechtfertigt wird sie allein aus Gnaden. Kirchliche Verwaltung erscheint mithin als eine Funktion der Knechtsgestalt der Kirche." 2 2 Die theologische Berufung auf die Gnade der Rechtfertigung, oder in anderen Konfessionskirchen auf ein unveränderliches ius divinum, macht ethische Beurteilung und nüchterne, vernünftige Überlegungen nicht überflüssig. Kirchliche Organe sind nicht exemt und immun von öffentlicher Kritik und ethischer Bewertung. In den deutschen Landeskirchen führte das Ende des landesherrlichen Kirchenregiments nach 1919 zur Ausbildung einer eigenen kirchlichen Verwaltung, die sich an das Vorbild der staatlichen Bürokratie anlehnte. Akte kirchlicher Verwaltung umfassen dabei verwaltungsrechtliche, wirtschaftliche und organisatorische Aufgaben. Maßstäbe einer Unternehmensethik und Unternehmenskultur sind auf solche Vorgänge und Verfahren daher auch auf kirchliche Behörden anwendbar. In der Zeit des Kirchenkampfes haben deutschchristliche Kirchenleitungen das „Führerprinzip" einer autoritären Leitung der Kirche aufgenommen und als Herrschaftsprinzip eingeführt. Nachdem das Führerprinzip durch die Barmer Theologische Erklärung abgelehnt wurde - 4. Barmer These: „Die verschiedenen Ämter in der Kirche begründen keine Herrschaft der einen über die anderen, sondern die Ausübung des der ganzen Gemeinde anvertrauten und befohlenen Dienstes" - , suchte man im Luthertum die Autorität der Kirchenleitung auf das 4. Gebot zu stützen. Theodosius Harnack lehrte schon im 19. Jahrhundert: Der Gehorsam gegenüber dem Kirchenregiment ist begründet in der Achtung der kirchlichen Ordnung als 22

So H. Ehnes, Art. Kirchenverwaltung, Kirchenbehörden, in: TRE 19, 1990, S. 165-171, Zitat S. 166,2-6.

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einem „Vateramt". Die Gemeinden und kirchlichen Amtsträger „unterwerfen sich frei der durch den Schöpferwillen Gottes gesetzten und im 4. Gebot des Dekalogs legitimierten und geheiligten objektiven Autorität der Ordnung". 2 3 Die objektive Autorität einer Schöpfungsordnung, nämlich die des Patriarchalismus, sollte die Forderungen nach „Disziplin" der Pfarrer und Gemeinden gegenüber den Kirchenleitungen begründen. Solche autoritäre Legitimation von Gehorsam zu beseitigen, war die berechtigte Intention der bruderrätlichen Konzeption der Kirchenleitung. Vertrauen und Konsens sollten die Grundlagen von Kirchenleitung bilden; im Dialog sollten die richtigen Entscheidungen gefunden werden. Die Geheimdiplomatie in Kirchenleitungen des Kirchenbundes in der DDR zeigt freilich die Grenzen solcher brüderrätlichen oder geschwisterlichen Kirchenleitung auf. 24 Offenkundig war das Zutrauen zur eigenen Geheimdiplomatie gelegentlich größer als die Erwartung an eine brüderliche Beratung, und daher das Bemühen um eine vertrauensvolle Gesprächsbasis mit dem staatlichen Partner wichtiger als das Vertrauen auf die Kraft des Glaubens. Kirchendiplomatie war somit nicht willkürliche Entscheidung Einzelner, sondern die Folge eines rationalen und nüchternen interessengeleiteten Kalküls der Kirchenleitungen, daß man mit Geheimdiplomatie erfolgreicher sein werde als mit dem offenen kirchlichen Wort. Zugleich wurde oft nach außen hin jedoch der Anspruch erhoben, „Kirche für andere" zu sein, unter Berufung auf D. Bonhoeffer. Die Kluft zwischen Reden und Handeln kannten damals nur Eingeweihte. Die theologische Begründung erweist sich jetzt hinterher als Fassade, oder um es anders zu sagen, als ideologischer Überbau. Ziel kirchenleitender Tätigkeit war nämlich ein einsehbares und nachvollziehbares Interesse an der Selbsterhaltung, am Überleben der Kirche unter schwierigen Bedingungen. Ein derartiges Interesse ist nicht prinzipiell verwerflich. Fragwürdig wird solches Handeln, wenn man dieses Interesse nicht offen zugibt, dabei die Unvermeidlichkeit von Kompromissen einräumt und anerkennt und 23

24

T. Harnack, Die Kirche, ihr Amt, ihr Regiment, 1862, S. 66, Nr. 131, vgl. H. Diem, Die Autorität der Kirchenleitung und das vierte Gebot, Ev Th 4, 1937, S. 379-393. Vgl. dazu z. B. T. Berke, Zwiespältige Geheimdiplomatie. Kiirchenleitendes Handeln am Beispiel DDR, LMH 31, 1992, S. 364-366.

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stattdessen eine Rhetorik bekennender Kirche pflegt. Darum stellt sich hinterher die Frage nach Kriterien kirchenleitenden Handelns und einer Verantwortung eben nicht nur Einzelner, sondern der verantwortbaren Struktur kirchenleitenden Handelns. Ist Diskretion tatsächlich ein besonders hoher Wert? Und wie steht es um die „dienende" Funktion von Kirchenleitung, wenn der Preis für die Effizienz kirchenleitenden Handelns ein Verlust an Glaubwürdigkeit ist? Genug der Beispiele und Fragen. Die beschriebenen Phänomene sind jetzt auf grundsätzliche Überlegungen hin zusammenzufassen.

5 . Kollektive Verantwortung Wenn man von kollektiver Verantwortung spricht und sie einfordert, so fragt man nach Subjekten ethischer Zuständigkeit. Generell ist es üblich, drei Ebenen ethischer Kompetenz, Zuständigkeit zu unterscheiden. (1) Ausgangspunkt ist die Mikroebene oder die Individualethik. Hier geht es um die persönliche, individuelle Verantwortung jedes Einzelnen (als Mensch, Bürger, Konsument usw.). Es gibt durchaus Angelegenheiten, für die jeder selbst verantwortlich ist, die allein sein persönliches Gewissen zu entscheiden hat. (2) Von der Ebene der individuellen Verantwortung zu unterscheiden ist die Ebene der Sozialstrukturen oder Institutionen. Die Verfassung eines Staates, die Alternativen von Rechtsstaat oder Diktatur ist ebenso wenig ethisch gleichgültig wie die Frage des Wirtschaftssystems, der Wettbewerbsordnung, der Sozialstaatlichkeit und einer unabhängigen Rechtsprechung (3) Zwischen der Ebene der individuellen Verantwortung des Einzelnen und der institutionalisierten Verfaßtheit einer Ordnung gibt es die Meso-Ebene der Verbände, Kollektive, korporativen Verantwortungsträger. Wenn man die These vertritt, es gebe nicht nur das individuelle ethische Subjekt der Verantwortung, sondern kollektive Handlungssubjekte, 25 dann muß man diese These nach zwei Seiten hin abgren25

Vgl. dazu: D. Lange, a.a.O., S. 350-362: Ethisches Subjekt und kollektives Handlungssubjekt.

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zen: Kollektive Handlungsverantwortung heißt einmal nicht, daß das Kollektiv das Gewissen des Einzelnen als Ort der ethischen Entscheidung ersetzen würde. Es gibt kein „Kollektivgewissen" 26 . Das Kollektivsubjekt verdrängt nicht das Einzelsubjekt. Ein ethischer Kollektivismus, der dem Einzelnen die Verantwortlichkeit abnimmt und abspricht, ist sowohl undemokratisch und illiberal als auch unchristlich (vgl. 2. Kor. 5,10, ein jeder steht vor dem Richterstuhl Christi). Kollektive Handlungsverantwortung meint zum anderen nicht, daß kollektive Handlungen nichts anderes seien als eine Summe individueller Entscheidungen, ein bloßes Aggregat persönlicher Verantwortlichkeiten. Vielmehr geht es bei einer Suche nach angemessenen Formen kollektiven Handelns darum, aus der Sackgasse einer problematischen Alternative herauszufinden. Die Alternative wäre die, entweder rigorose Appelle an den Einzelnen zu richten oder eine Änderung, eine Revolution des Gesamtsystems zu betreiben. Der bloße Appell an das Einzelgewissen bleibt entweder folgen- und wirkungslos, solange die Vermittlung mit den sozialen Strukturen und Handlungsbedingungen unterbleibt; der Einzelne ist dann ohnmächtig den Strukturen und Systemen ausgeliefert. Oder er wird in den Widerstand genötigt und als Zeuge der Moral einem Ideal geopfert. Die Forderung von Strukturreformen dient wiederum oft nur als Alibi für Untätigkeit und ermöglicht die Hinnahme von Unrecht. Zumeist wird sie auch nur abstrakt erhoben. Denn wenn Verhältnisse unverändert bleiben, prallen ethische Forderungen einfach ab; man spricht dann von Sachzwängen, die Änderungen unmöglich machen. Gegen diese Alternative ist auf die Wechselwirkung zwischen Individuen und Gruppen in kollektiven Interaktionszusammenhängen aufmerksam zu machen. Der Einzelne handelt nicht nur für sich allein. Er handelt mit anderen zusammen. Interessen und das gemeinsame Eintreten für eine Sache verbinden. Dies geschieht in 26

A.a.O., S. 352, zur These: „Das eigentlich relevante ethische Subjekt sei somit die soziale Gruppe." Aufgrund dieser Behauptung läßt man den Einzelnen vollständig im kollektiven Subjekt aufgehen und kommt zum imperativen Mandat einer Klasse, einer Partei, eines Volkes. Die Annahme eines „Kollektivgewissens" ist genauso fragwürdig wie die ältere Vorstellung von einem „Volksgeist" oder einer „Volksseele". (Vgl. zu Volksgeist, Volksseele: R. Eisler, Wörterbuch der philosophischen Begriffe 3, 1 9 3 0 4 , 4 2 7 ; Grimm DW 12. Bd. 2. Abt. 1951, S. 481).

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Wechselwirkung. Eine Person wird stellvertretend für andere tätig. Das Handeln anderer wirkt wieder auf die Individuen zurück. So entsteht ein Geflecht gegenseitiger Abhängigkeit und Verantwortlichkeit. Diese Interaktion konstituiert eine Gruppe; damit entsteht „gemeinsame Verantwortung" 27 , (englisch: „shared", geteilte Verantwortung). Die einzelnen Mitglieder eines Kollektivs haben nach innen ihr Handeln gemeinsam zu gestalten und zu verantworten und treten damit nach außen als gemeinsam verantwortliche Handlungssubjekte auf. Es gibt solch eine gemeinsame Verantwortung schon in Familien, nämlich die gemeinsame Verantwortung der Eltern; sie haften beide zusammen. Weil die Zurechenbarkeit von Verantwortung an Einzelne jedoch immer schwierig zu ermitteln ist und der Gruppenegoismus ethische Reflexion häufig überlagert, sind zur Wahrnehmung kollektiver Verantwortlichkeit rechtliche und institutionelle Vorkehrungen erforderlich. Solche Vorkehrungen sind z. B. Gewaltenteilung, Garantie von Menschenrechten, rechtsstaatliche Verfahren, Minderheitenschutz, Anerkennung kultureller Autonomie, Kontrolle durch die Öffentlichkeit. Die Autonomie des Individuums im Verhältnis zum Kollektiv ist ebenfalls zu sichern. Eine totalitäre Gesellschaft läßt hingegen keinen Raum für moralische Verantwortung und Entscheidung. Nur in Freiheit ist Verantwortung möglich. Kollektivismus zerstört Ethik. Insofern sind die Freiheitsstandards einer Gesellschaft Indiz dafür, ob ethische Verantwortung überhaupt möglich ist. Die Tatsache, daß Kollektive unmenschliche Zustände verursachen, ist immer auch Indiz für ein ethischen Anforderungen nicht genügendes politisches System, einer problematischen kollektiven Ordnungsstruktur. Eingangs wurde betont, Kollektive könnten, theologisch präzis formuliert, nicht „sündigen". Diese Formulierung ist abschließend nochmals aufzunehmen und zu erläutern. Sünde bekennen, heißt, theologisch gesprochen, Unrecht vor Gott bekennen und damit zugleich um Vergebung bitten. Man kann immer nur die eigene Sünde so bekennen. Auf die Schuld anderer kann man zwar mit dem Finger zeigen und diese dadurch anklagen; das ist eine Form der Tribunalisierung, der Schuldzuweisung. Vergebung und Sündenbekennt27

A.a.O., S. 361. Lange betont S. 359f., daß Stellvertretung nicht einseitig als ersatzweises Handeln für andere Unmündige erfolgt, sondern auf Gemeinsamkeit und Gegenseitigkeit angelegt ist.

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nis gibt es also nur für Einzelne. Kollektive können auch nicht Buße tun. Auch Umkehr beginnt und ereignet sich sehr persönlich. Deshalb sind ritualisierte öffentliche Geständnisse und Schuldbekenntnisse so problematisch und peinlich. Die Buße, der Neuanfang einzelner ereignet sich allerdings nicht in einem luftleeren Raum, abstrakt, kontextfrei. Umkehr ereignet sich in der Geschichte, in einem Wechselverhältnis, Interaktionszusammenhang. Buße, Sündenbekenntnis, Vergebung erfährt zwar der Einzelne; aber solche Erfahrung kann auf andere befreiend wirken und kollektive Schuldzusammenhänge zerreißen und durchbrechen. Es bedarf daher des Glaubens und des Freimuts einzelner, um Schweigen über Unrecht und Unmenschlichkeit und kollektive Verblendung und Blindheit zu überwinden. Verantwortung setzt außerdem Vertrauen voraus. Die Zusammengehörigkeit von Verantwortung und Vertrauen ist grundlegend. Vergebung gewährt Vertrauen. Leben aus der Vergebung schafft die Möglichkeit eines Neuanfangs. 28 Ein Neuanfang eröffnet damit gemeinsames Leben und gemeinsame Zukunft. Zwar individualisieren Sündenvergebung und Glaube. Aber der Glaube bezieht die Welt ein in Gottes Fürsorge und schafft damit Vertrauen, das Handeln ermöglicht. 29 Das alte Lehrstück „De gubernatione mundi", Von der Fürsorge Gottes - das Wort „Vorsehung" hat Hitler in Mißkredit gebracht - spricht im Blick auf Gottes Führung und die Existenz des Bösen von der Zulassung (permissio), der Verhinderung

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Deshalb ist der Spruch „Die Väter haben saure Trauben gegessen, und den Kindern sind die Zähne stumpf geworden", (Jer 31,29f, Hes 18,2ff) als Orientierung ethischen Verhaltens nicht christlich, sondern eine Aussage des Unglaubens. Die Schwierigkeit wie Verlegenheit, die individuelle Gewissensentscheidung mit institutioneller politischer Verantwortung zu vereinen, zeigt sich bei A. Weyer, Art. Gewissen, in: TRE 13, 1984, S. 232, in folgendem Hinweis: „Die Verwendung des Wortes Gewissen hat im Protestantismus eine deutliche politische Dimension angenommen. In Verlautbarungen der Ökumene und der Evangelischen Kirche in Deutschland wird überwiegend dann von Gewissen und Gewissensprüfung, Gewissensforderung und Gewissensbelastung geredet, wenn zu sozialethischen Fragen Stellung bezogen wird." Damit werde „eine theologische Thematisierung der politischen Dimension von Gewissen unerläßlich. Die aus der individuellen Gewissensentscheidung herrührenden Verhaltensweisen, Taten und Handlungen haben sehr wohl politische Dimensionen". Das Problem ist dabei, ob es ein „politisches" Gewissen geben kann und wie die politische Dimension von Gewissen theologisch sachgemäß thematisiert werden kann.

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(impeditio), der Hinlenkung zum Guten (directio) und der Begrenzung und Befristung (determinatio) des Bösen. Wenn christlicher Glaube ein Handeln Gottes in der Welt erhofft und erbittet, dann kann er mit einer Unabänderlichkeit der Geschichte sich nicht abfinden und Schuld für unausweichlich und dauernd, ewig lastend halten. Der christliche Glaube ermöglicht vielmehr Selbstverantwortung des Menschen in der Geschichte. Damit stellt er vor die Frage, ob das Böse, die Sünde oder Gott die beherrschende Macht der Geschichte ist und wer das letzte Wort behält. Der im gegenwärtigen Erleben von Geschichte begegnende Gott ist zwar der verborgene Gott. Aber christlicher Glaube vertraut dennoch aufgrund des in Christus offenbar gewordenen Versöhnungshandelns Gottes, daß Gottes Sorge für seine Welt verhindert, daß die Sünde, das Böse siegen wird, und kann deswegen einen Neuanfang auch in der Geschichte wagen und selbst Verantwortung übernehmen. Kollektive können zwar Böses, Unrecht, Schuld verursachen; aber zwangsläufig ist dieses Geschehen nicht. Die Freiheit eines Christenmenschen kann gerade in einer Veränderung kollektiven Handelns und kollektiven Fehlverhaltens sich äußern. Reinhold Niebuhr betonte die Fähigkeit des Menschen, kraft seines Geistes „sich frei über den Ablauf der Natur wie der Geschichte zu erheben, in den er eingespannt ist. Diese Freiheit erklärt die schöpferischen wie die zerstörenden Möglichkeiten in der Menschheitsgeschichte" 30 . Wegen dieser Freiheit sind ein genauer sorgfältiger Umgang mit Schuld in der Geschichte geboten und damit eine nüchterne, ehrliche Analyse erforderlich und der Wille zur Verständigung über geschicht30

R. Niebuhr, Die Kinder des Lichts und die Kinder der Finsternis, München 1947, S. 45; vgl. S. 39: „Das Individuum ist das Ergebnis des gesamten soziohistorischen Prozesses, obwohl es ein Maß von Einzigartigkeit erreichen kann, das seine soziale Geschichte völlig zu überschreiten vermag." Ferner: D. Lange, Christlicher Glaube und soziale Probleme. Eine Darstellung der Theologie Reinhold Niebuhrs, Gütersloh 1964, S. 34ff; S. 139ff. E. Herms, Gesellschaft gestalten, S. 24 betont zutreffend: „Freilich, auf der Pflicht zur genauen Identifizierung und Zuweisung von .Schuld in der Geschichte' kann nur insistieren, wer auch einen Weg kennt, mit der identifizierten und richtig zugewiesenen Schuld und angesichts ihrer zu leben. Der bereitwillige Verzicht auf diese Genauigkeit muß also auch als Ausdruck der - nicht durch moralische Empörung aus der Welt zu schaffenden - Tatsache verstanden werden, daß eine solche Möglichkeit dem Menschen nicht einfach zur Verfügung steht, sondern nur geschenkt werden kann."

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liehe Erfahrungen und Grundsätze der Verantwortung notwendig. Wer über das Vergangene nicht sprechen, Fehler nicht zugeben kann und nicht zu einem offenen Dialog bereit und fähig ist, wird auch die befreiende Wirkung von Vergebung nicht erfahren. Die Antwort auf die Frage, inwieweit Kollektive sündigen können, ist daher im tiefsten, wie alle Erkenntnis und jedes Bekenntnis der Sünde, eine Frage und Sache des Glaubens. Der Glaube ermutigt jedoch zu einem offenen Umgang mit vergangener Geschichte und schafft Vertrauen in eine gemeinsame Zukunft.

7. Nationale Identität und kollektive Verantwortung Die Beobachtung einer Renaissance des Nationalen und des Nationalismus in Mittel- und Osteuropa wie Unsicherheiten im Blick auf die nationale Identität der Deutschen in den 90er Jahren lösten Rückfragen aus nach der ethischen Bedeutung von Nation und Volk für das Zusammenleben von Menschen. Die belastete Geschichte des Nationalprotestantismus fordert ferner eine theologische Reflexion des Verhältnisses von Nation und evangelischer Kirche.

1. Das Problem Nationalität, Identität meint die Zugehörigkeit zu einem Staat oder einer Nation. In der österreichischen Umgangssprache wird Personalausweis auch Identitätsausweis genannt. Die Zugehörigkeit zu einem Volk oder einer Nation ist vorgegeben. Das Wort Nation wird deshalb abgeleitet vom lateinischen Wort „natio", das mit Geburt, Abstammung, Volksstamm zu übersetzen ist. Älter ist das Wort Patriotismus, Vaterlandsliebe. 1 Nationale Identifikation, bewußte oder unbewußte, reflektierte wie emotionale Bindung an die politisch-kulturelle Herkunft oder Patriotismus haben es heute schwer. Richard Schröder stellt seine Überlegungen zu einer neuen politischen Kultur unter die Überschrift: „Deutschland schwierig Vaterland." 2 Richard von Weizsäcker meinte 1987 „Patriotismus ist kein Wort aus unserer Zeit. Es ist ein alter Begriff und er hat schwere Schläge hinnehmen müssen. Die Sache, um die es beim Patriotismus geht, ist aber keineswegs zu Ende. Elementare Bedürfnisse, offene Fragen und lebendiger Streit bezeugen es. Die Ausein-

1

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Vgl. H.J. Busch/U. Dierse, Art. Partiotismus, in: HWPh Bd. 7, 1989, Sp. 207217. R. Schröder, Deutschland - schwierig Vaterland, Freiburg u.a.1993.

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andersetzung wird oft unter anderem Namen geführt. Die deutsche Frage, Verständnis von Staat und Nation, Identität der Deutschen, Historikerstreit gehören in diesen Zusammenhang". 3 Ursprünglich hatte der Patriotismus seine Wurzeln in der überschaubaren Welt der antiken Politik und Stadtrepublik. Mit dem Aufkommen des modernen Nationalstaates änderte sich der Begriffsgehalt von nationaler Zugehörigkeit. Nationalismus und Patriotismus verschmolzen allmählich ineinander. Im Namen der Nation wurden in den Kriegen des 19. und 20. Jahrhunderts und im Nationalitätenkampf sinnlose Opfer gefordert; der millionenfache Heldentod wurde in den europäischen Bruderkriegen nationalpatriotisch verklärt. So erstaunt es nicht daß die Fragen von Nation und Nationalismus in der theologischen Ethik weiterhin tabuisiert sind. Die Spannung zwischen nationaler Zugehörigkeit, also einer Gruppenidentität, und ethischer wie theologischer Verantwortung ist freilich in der Sache begründet. Denn Nationalität, Volks- oder Staatszugehörigkeit sind immer partikular. Man gehört als Einzelner einem besonderen Volk, einem besonderen Staat, einer besonderen Nation an. Der Anspruch der Humanität, menschlichen Verhaltens, der Menschlichkeit, ist und gilt hingegen universal. Ob man dafür auf das Gebot der uneingeschränkten Nächstenliebe, auf die Goldene Regel (Mt. 7,12) oder auf das Prinzip der Universalisierbarkeit moralischer Normen als deren Begründung verweist, die ethische Forderung ist ihrem Wesen und Anspruch nach gerade nicht national eingegrenzt. Die Würde des Menschen ist nämlich nicht abhängig von seiner Volks- und Nationzugehörigkeit. Dennoch gehört zur Individualität jedes Menschen die nationale Herkunft und Zugehörigkeit. Diese Individualität stiftet Identität, die unverwechselbar ist und die das „Selbst" mit anderen Menschen verbindet. Nationale Zugehörigkeit ist ein gemeinsames kulturelles, soziales und politisches Merkmal. Sie stellt eine Gruppenidentität, kollektive Identität her. Gruppenidentität kann zwar auch auf anderen Merkmalen beruhen, wie Zugehörigkeit zu einem Stand, z. B. des Adels, des Priesters, einer Klasse, einem Beruf - z. B. des Wissenschaftlers, einer Rasse, einer Vereinigung, einer Partei usw. Der Unterschied zur nationalen Identität

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R. von Weizsäcker, Demokratische Leidenschaft. Reden des Bundespräsidenten, 1994, S. 77-88: Patriotismus: Aufgaben und Geborgenheit, Zitat S.88.

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besteht freilich zumeist darin, daß man in eine Nation „hineingeboren" wird, während andere Gruppenzugehörigkeiten frei gewählt werden können. Die Überlegungen zur Bewertung der Nation werden im folgenden ausschließlich auf die Sicht evangelischer Ethik beschränkt. Das katholische Deutschland hat im Kulturkampf der Bismarckära eine andere Einstellung zum deutschen Nationalstaat, und vor allem zu Preußen, das protestantisch war, gewonnen, die bis heute nachwirkt. Deutschland ist bis heute ein schwieriges Vaterland, eine „verspätete Nation" 4 . Ein deutsches Reich gab es nur von 18701945, wobei die Zeit epochal noch eingeteilt wird in 2. deutsches Reich (deutsches Kaiserreich 1870-1918), Weimarer Republik (19191933), 3. Reich (Zeit der nationalsozialistischen Diktatur 19331945). Nach der vollständigen Niederlage des deutschen Reiches 1945 war Deutschland bis 1989 geteilt. Das deutsche Nationalgefühl war und ist durch die geschichtliche Erfahrung des 20. Jahrhundert tief verunsichert. Kollektive Identität entsteht durch eine gemeinsame Geschichte. Um die Einstellung zur Nation, zu Volk und Vaterland zu verstehen, ist zunächst einmal historische Besinnung erforderlich. Dies beginnt bereits bei der Erforschung der Ethnogenese, der Entstehung einer Ethnie, einer gemeinsamen nationalen Kultur. Die Entstehung von Ethnien kommt weder durch gemeinsame Abstammung, „Blut", noch durch gemeinsame Sprache zustande, sondern erst durch einen komplexen Prozeß gemeinsamen Handelns. Eine gemeinsame Geschichte verbindet allmählich zum gemeinsamen Volk. Hier zeigt sich heute schon das Problem, das mit der Frage nach deutscher Identität umschrieben werden kann. Die deutsche Gemütslage schwankt in diesem Jahrhundert zwischen einem extremen Nationalismus und mangelndem Nationalgefühl hin und her. Die Ursache dafür sind die Geschichtsbrüche, die es so schwer machen, sich auf Themen wie Volk, Vaterland, Nation überhaupt zu verständigen. Das Ende des 1. Weltkriegs und 2. Weltkriegs und die Nachkriegszeit, die Jahre 1945-1989, lösten tiefe Erschütterungen aus. Diese Erfahrung macht es schwer, das auszu-

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H. Plessrter, Die verspätete Nation. Über die politische Verführbarkeit bürgerlichen Geistes, Stuttgart 1959.

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bilden, was der französische Soziologe Maurice Halbwachs kollektives Gedächtnis, mémoire collective nannte (La mémoire collective, 1950). Die erste Frage betrifft deshalb die Feststellung, daß Gedächtnis dem Menschen erst im Prozeß seiner Sozialisation zuwächst. Welches Gedächtnis, welche gemeinsame Erinnerung an deutsche Geschichte teilen Deutsche heute jedoch miteinander? Ein biblischer Vergleich mag die Aufgabe verdeutlichen: Im Deuteronomium werden acht Verfahren kultureller Erinnerung vor Augen gestellt 5 : 1. Bewußtmachung, Beherzigung - Einschreibung ins eigene Herz (Dtn. 6,6; 11,18). 2. Erziehung, Weitergabe an die folgenden Generationen (Dtn. 6,7; 11,20). 3. Sichtbarmachung, Denkzeichen auf der Stirn (Dtn. 6,8; 11,18; Körpermarkierung). 4. Limitische Symbolik. Inschrift auf den Türpfosten (Dtn. 6,9; 11,21: Grenze des Eigenen). 5. Speicherung und Veröffentlichung. Inschrift auf gekalkten Steinen (Dtn. 27,2-8.13ff.). 6. Feste der kollektiven Erinnerung - die 3 großen Versammlungsund Wallfahrtsfeste Israels (Dtn. 16,3; 12; 26). 7. Mündliche Überlieferung. Poesie als Kodifikation von Geschichtserinnerung (Dtn. 31,19-21). 8. Kanonisierung eines Vertragstextes (Dtn. 31,9-13; 4,12; 12,32 der Torah). Überträgt man diese sehr ausführliche und umfassende Vermittlung einer kollektiven Erinnerung, wie sie das Deuteronomium für die Torah vorsieht, auf den Umgang mit der deutschen Geschichte, so bleibt die Frage offen, was denn überhaupt hier Inhalt kollektiver Erinnerung sein könnte und sollte. An was sollte denn in Bewußtmachung, Aneignung, Erziehung, in Denkmälern und Symbolen, bei Festtagen und Feiern, in Poesie und Prosa in der Literatur gedacht werden? Die Erinnerungen der Älteren gehen auseinander. Der gemeinsame Inhalt kollektiven Gedächtnisses ist gering. Die nationale Geschichtsschreibung diente durch die Jahrhunderte der gemeinsamen Identitätsbildung. Von der Geschichtsschrei5

J. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen,1992, S. 218f.

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bung als Erinnerung zu unterscheiden, aber nicht scharf zu trennen, ist der Nationalismus als autorisierender Mythos (Befreiungskriege in Deutschland), ebenso die bloße Hinnahme eines Schicksals (Determinismus) und eine Legitimierungs-Ideologie.

2 . Begriffliche Klärungen Als Geburtsstunde des neuzeitlichen Volks- und Nationgedankens gilt gemeinhin die Französische Revolution. La nation meinte 1789 das Volk. Lessing stellte dagegen noch 1768 nüchtern fest, daß „wir Deutsche noch keine Nation sind" 6 . Erst im Jahr 1800 wird in Deutschland Volk ein Grundbegriff. Seitdem ist das Thema Volk, Nation, Vaterland wichtig und strittig.7 „Volk" bezeichnet zunächst einmal den Haufen, die Kriegsschar (lateinisch: vulgus, populus, gens, natio). Das Wort Volk ist sehr weit gefaßt und benennt eine auf einen bestimmten Zweck hin geeinte Mehrzahl von Menschen, eine Menge, die Bevölkerung. In unserem Zusammenhang ist nicht das gemeine Volk, ein Kriegsvolk, Pfarrvolk, sondern eben die Nation gemeint. Das Wort Nation ist abgeleitet von nasci und bedeutet: Geburt, Abstammung, Volksstamm. Vaterland, das griechische Patria übersetzend heißt: Heimat, Geburtsland. Im folgenden werden die drei Worte gleichsinnig verwendet. 6

Vgl. R. KosellekJK.F. Werner/B. Schönemann, Art. Volk, Nation, Nationalismus, Masse, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 8 , 1 9 9 2 , S. 141-431, Zitat S. 150. Der sehr ausführliche Artikel bietet anhand von Einzelbeiträgen einen umfassenden Überblick und erörtert in dem von R. Kosseieck verfaßten Ausblick S. 420-430 die heutige Problemstellung.

7

Vgl. H. Zilleßen, Volk, Nation, Vaterland. Der deutsche Protestantismus und der Nationalismus, Gütersloh 1970. In diesem Sammelband gilt es besonders, den Beitrag zu beachten: Volk, Nation und Vaterland - Die Bedeutungsgehalte und ihre Inhalte, S. 13-47. Ferner: H. Kohn, Die Idee des Nationalismus. Ursprung und Geschichte bis zur Französischen Revolution, 1950; B. Anderson, Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzeptes, Frankfurt/Main 1985; B. Giesen, Nationale und kulturelle Identität. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit, 1991; O. Dann, Nation und Nationalismus in Deutschland. 1970-1990, München 1994 2 ; D. Oberndorfer, Der Wahn des Nationalen. Die Alternative der offenen Republik, Freiburg u.a. 1993.

154

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Friedrich Meinecke hat 1908 zwischen Kulturnation und Staatsnation differenziert. Die Kulturnation beruht „vorzugsweise auf einem irgendwelchen gemeinsam erlebten Kulturbesitz", 8 während die Staatsnation darin besteht, daß ein „reges dauerhaftes, nach innen und außen hin wirksames politisches Gemeingefühl vorhanden ist". 9 Diese sinnvolle Unterscheidung löst freilich das Problem nur unzureichend. Für Begriffe wie Volk, Nation, Vaterland grundlegend ist die Unterscheidung von Eigenem und Fremdem. Die Zugehörigkeit zu Volk und Nation enthält eine Aussage der Selbstorganisation und Selbstwahrnehmung politischer Handlungseinheiten. Strukturmerkmal solcher Selbstwahrnehmung ist die Unterscheidung einer „Innen-" und „Außenrelation". Dieses Strukturmerkmal ist uralt, man denke an die Unterscheidung von Hellenen und Barbaren. Dazu kommt beim Wort „Volk" als weiteres Strukturmerkmal eine „Oben-Unten-Relation" hinzu. Populus bezeichnet die Bevölkerung, das Staatsvolk, wird aber auch mit Pöbel wiedergegeben. Rainer M . Lepsius unterscheidet sogar zwischen „Volksnation", „Kulturnation", „Klassennation" (DDR) und „Staatsbürgernation". 10 Im Rückblick auf die Entstehung des deutschen Nationalismus wird sodann immer wieder betont, daß der moderne Nationalismus ursprünglich nicht der Integration einer reaktionären Politik diente, sondern freiheitlicher Tradition entstamme. Thomas Mann erklärte beispielsweise 1945 im Vortrag „Deutschland und die Deutschen": „Die .Nation' wurde in der Französischen Revolution geboren, sie ist ein revolutionärer und freiheitlicher Begriff, der das Menschheitliche einschließt und innerpolitisch Freiheit, außenpolitisch Europa meint." Man verweist deshalb auf die Herkunft der nationalen Idee aus einer Wurzel der Freiheit und konstatiert einen Wandel von einem linken zu einem rechten, von einem emanzipatorischen, liberalen zu einem reaktionären, autoritären Nationalismus. 11

8

F. Meinecke,

9

A.a.O., S. 7.

10

11

Weltbürgertum und Nationalstaat, 1 9 2 8 7 , S. 3

R. Lepsius, Nation und Nationalismus in Deutschland, in: H.A. Winkler, Nationalismus in der Welt von heute, Geschichte und Gesellschaft, Zeitschrift für Historische Sozialwissenschaft, Sonderheft 8, Göttingen 1982, S. 12-27. H.A. Winkler, Einleitung. Der Nationalismus und seine Funktionen, in: H. A. Winkler (Hg), Nationalismus, 1 9 8 5 2 , S. 29.

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155

Der ursprüngliche Nationalismus war zwar ein Produkt der Krise, aber er kann gleichzeitig zum Mittel der Emanzipation des 3. Standes werden. Der Gebrauch des Nationalismus kann aber auch als psychologisches Ventil dienen, um inneren Problemdruck zu lösen. Nationalismus eignet sich vorzüglich zur Ablenkung von inneren Schwierigkeiten. Er funktioniert in diesem Fall als symbolische Ersatzintegration. Mit der Unterscheidung zwischen zwei Arten oder Formen des Nationalismus ist es damit Historikern und Politologen möglich, zwischen einem schlechten, abzulehnenden Nationalismus im Nachkriegseuropa und einem guten, emanzipatorischen Nationalismus („nation-building") in der 3. Welt zu unterscheiden. Weiterhin kann man mit Hans Kohn zwei Typen des Nationalismus unterscheiden, 12 einen 1. subjektiv-politischen oder westlichen und 2. einen objektiv-kulturellen oder östlichen Begriff der Nation. Theodor Schieder deutet sogar die Entstehung des Nationalstaates im 19. und 20. Jahrhundert als universalhistorischen Prozeß. Politisch bedeutsam wird die bei Herder, so Schieder, unpolitisch verstandene Idee des Volkes erst durch politisches Handeln. „Das subjektive Bekenntnis zum nationalen Staat bleibt das einzige Merkmal einer politischen Nationalität, nicht etwa Sprache, Volksgeist oder Nationalcharakter." 13 Schieder unterscheidet 3 Phasen der Nationalstaatsbewegung, eine westeuropäische, eine mitteleuropäische, eine osteuropäische. Kennzeichnend für die 1. Phase, die westeuropäische, war die Verbindung von Nationalstaat und Demokratie. Die 2. Phase ist getragen von dem Ziel der nationalen Einigung. In dieser Phase „tritt der ethnisch-sprachlich bestimmte Nationbegriff in den Mittelpunkt und die Sprache wird eine Macht, die über die reine Verwirklichung des Nationalstaates entscheidet". Ludwig Trampe forderte beispielsweise: „Jedes gesunde Staatsvolk, jeder gesunde Volksstaat muß wollen, daß seine Volkssprache die Staatssprache und seine Staatssprache die Volkssprache ist." 14 Beispiele für die sprachliche Bestimmung der Nation sind die Auseinanderset12

13

14

H. Kohtt, Die Idee des Nationalismus: Ursprung und Geschichte bis zur Französischen Revolution, Heidelberg 1964, S. 15. T. Schieder, Der Nationalstaat in Europa als historisches Phänomen, Köln u. Opladen 1964, S. 15. A.a.O., S. 20f, Zitat von L. Trampe S. 21.

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zungen um die offizielle Staatssprache in der Tschechoslowakei, der Sprachenstreit in Belgien oder die Kontroversen um die griechische Volkssprache. Diese 2. Phase ging dann in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts und vor allem nach dem 1. Weltkrieg in die 3. Phase über. Damit veränderte sich zugleich auch die Trägerschicht des nationalen Gedankens. Ursprünglich waren Träger nationalstaatlicher Bewegungen bürgerliche Schichten, nicht die international ausgerichteten Fürstenhäuser und der Adel. Bereits das 18. Jahrhundert unterschied die hochadelige Reichsnation von der Kulturnation. Im Rückblick auf die Entwicklung des Nationalstaatsgedankens konstatierte Schieder 1964, „die Sternstunde des Nationalstaates" sei abgelaufen. 15 Der Nationalismus gilt nur noch als überholte Integrationsideologie. Jürgen Domes 16 klassifiziert und differenziert vier Typen des Nationalismus. 1. Emanzipations-Nationalismus, 2. Integrations-Nationalismus („Nation-building"), 3. KonfrontationsNationalismus (Abgrenzung gegen „Erbfeinde"), 4. HegemonialNationalismus (Unterdrückung nationaler Minderheiten, z. B. in China). Es gibt deshalb gar keine allgemein verbindlichen und generell akzeptierten Definitionen der Begriffe Nation und Nationalismus. Auf dem Hintergrund dieser geschichtlichen Erfahrung wird durch Dolf Sternberger (1979) der Verfassungspatriotismus entdeckt. Sternberger betonte 1982: „Der Patriotismus ist älter als der Nationalismus. Der Patriotismus ist älter als die gesamte nationalstaatliche Organisation Europas". 1 7 Die Verknüpfung von Verfassung und Patriotismus ist nach ihm ebenfalls alt. Patriotismus war vonhause aus zunächst einmal das Eintreten für das Wohl des Vaterlandes. Sternberger begründet damals die noch ausstehende Wiedervereinigung Deutschlands in seiner Neuformulierung des Patriotismus so: „Das Nationalgefühl bleibt verwundet, wir leben nicht im ganzen Deutschland. Aber wir leben in einer ganzen Verfassung, in einem ganzen Verfassungsstaat, und das ist selbst eine Art von Vaterland." 1 8 Sternberger und andere Protagonisten des Verfassungs15 16 17 18

A.a.O., S. 29. ]. Domes, Art. Nationalismus, in: Staatslexikon, Bd. 3, 1987 7 , Sp. 1272-1275. D. Sternberger, Verfassungspatriotismus, 1990, S. 20. A.a.O., S. 13. Vgl. dazu kritisch: G.C. Behrmann, S. Schiele (Hg), Verfassungspatriotismus als Ziel politischer Bildung?, 1993, S. 8.

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Patriotismus dämpfen die emotionale Phase patriotischen Enthusiasmus, verzichten ganz auf Gefühlssemantik und erwähnen den traditionellen Tugendkatalog des patriotischen Altruismus kaum. Sie halten sich an Hegels Warnung (Vorrede zur Philosophie des Rechts), man möge sich hüten vor dem „einfachen Hausmittel, auf das Gefühl, das zu stellen ..., was die Arbeit der Vernunft und des Verstandes ist." 19 Im Vergleich zum nationalen Patriotismus ist der Verfassungspatriotismus folglich aufklärerischer, aber auch kritischer und in gewisser Hinsicht auch destruktiver. Die Nation als große Solidargemeinschaft, für die man Opfer zu bringen hat, tritt zurück. Weniger die Abstammungsgemeinschaft als die Abstimmungsgemeinschaft wird damit tragend. Freilich können andere Begriffe wie Verfassungspatriotismus oder auch das neuerdings so beliebte Wort Kommunitarismus die Probleme des Nationalstaates und des Nationalismus nicht beseitigen und aus der Welt schaffen, auch dann nicht, wenn man von Gemeingeist, Gemeinsinn, Solidarität oder Identität spricht. „Begriffe können Problemstellungen verschieben, aber nicht Probleme aus der Welt schaffen." 20 Deshalb bleibt auch beim Rückzug auf einen Verfassungspatriotismus das Problem der Selbstinterpretation von Nation und Vaterland ungelöst. Inzwischen spricht man sogar schon von einem „postnationalen Patriotismus". 21 Kollektive Identität stellt sich zudem sinnenfällig in Symbolen und gemeinsamen Überzeugungen dar. „Die profane nationale Glaubensgemeinschaft ist auch eine Kultgemeinschaft mit eigener Symbolwelt." 22 Damit ist die Frage nach dem Ursprung der nationalen Idee in der Neuzeit nochmals aufzugreifen.

19

Hegels Vorreden, ed. Erwin Metzke, Heidelberg 1949, S. 121. Hegel schreibt in diesem Zusammenhang auch: „Die besondere Form des üblen Gewissens, welche sich in der Art der Beredsamkeit, zu der sich jene Seichtigkeit aufspreizt, kundtut, kann hierbei bemerklich gemacht werden; und zwar zunächst, daß sie da, w o sie am geistlosesten ist, am meisten vom Geiste spricht, w o sie am totesten und ledernsten redet, das Wort Leben und ins Leben einführen, wo sie die größte Selbstsucht des leeren Hochmuts kundtut, am meisten das Wort Volk im Munde führt" (= ed. Glockner, Bd. 7. Stuttgart, 1952 3 , S. 27f.).

20

G.C. Behrmantt, Verfassung, Volk und Vaterland S. 5-24, Zitat S. 20. Herderkorrespondenz 47, 1993, S. 541-543. M. Hättich, Kann Verfassungspatriotismus Gemeinschaft stiften?, in: Behrmann/S. Schiele (Hg.), a.a.O., S. 25-35, Zitat S. 26.

21 22

G.C.

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3 . Historischer Rückblick Ist die Überzeugung von einer nationalen Sendung eine spezifische Form moderner Ideologie? Georg Lukäcs nannte schon 1916 die ganze westeuropäische Neuzeit mit Fichtes Worten eine „Epoche der vollendeten Sündhaftigkeit". 23 Dieses Verdikt verkennt freilich, daß der neue Patriotismus als ethisches Verhalten definiert wurde, bei dem nicht die Standesinteressen maßgeblich waren, sondern das Wohl aller Bewohner des Landes Maßstab sein sollte. Patriotismus war eine Reformgesinnung, für die zwei Prinzipien konstitutiv waren, das Prinzip der Volkssouveränität und die Achtung unveräußerlicher Menschenrechte eines jeden Bürgers. Wie ist dieser Vorgang einzuschätzen? Ist das Nationalbewußtsein Säkularisierung religiösen Erwählungsbewußtseins? Ist die nationale Idee rein säkular? Wird also der Nationalismus zum Religionsersatz? Reinhard Wittram hat die Geschichte des Nationalgeistes aus dieser Perspektive gedeutet: Nationalismus ist nach ihm Folge der Verweltlichung des christlichen Weltbildes. „Alle modernen nationalen Sendungsideen gehen von einem Erwählungsglauben aus, also von einer ursprünglich christlichen, dann vollständig säkularisierten Vorstellung." 2 4 Herders Volkstumsidee ist nach ihm säkularisiertes Christentum, hervorgegangen aus dem Erlebnis des Alten Testaments. Dieser Säkularisierungsprozeß sei ein gesamteuropäischer Vorgang, der nach F. Meinecke in Deutschland „vielleicht nur offener gepredigt, aber nicht stärker geübt wurde". 2 5 Belege für die Säkularisierung sind Sätze, wie der von W. Eiert in der Morphologie des Luthertums, wonach ein bestimmtes „Deutschtum" säkularisiertes Luthertum

23

Zit. nach S.N. Eisenstädt, Die Konstruktion nationaler Identitäten in vergleichender Perspektive, in: B. Giesen, Nationale und kulturelle Identität, 1991, S. 2 1 - 5 5 , Zitat S. 55.

24

R. Wittram, Nationalismus und Säkularisation. Beiträge zur Geschichte und Problematik des Nationalgeistes, Lüneburg 1949, S. 74, vgl. S. 10: „Handelte es sich hier um einen Versuch, das Christentums durch eine neue Religion zu verdrängen, so ist zugleich doch die ganze Welt der neuen politischen Ideale mit umgesetztem Christentum durchwirkt".

25

F. Meinecke, Die deutsche Katastrophe, Wiesbaden 1946 2 , S. 28. Auch Richard von Weizäcker, a.a.O., S. 78, konstatiert: „Es war eine europäische Fehlentwicklung, keine spezifisch deutsche".

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sei, 26 aber auch die patriotische Begeisterung der Freiheitskriege, Schleiermachers vaterländische Predigten und vor allem Ernst Moritz Arndt und seine Lieder. Thomas Nipperdey argumentiert in demselben Sinne: „Das Religiöse wird im Nationalen säkularisiert, das Säkulare sakralisiert" 27 . Als Beleg dafür kann man Fichte anführen, der erklärte, Patriotismus sei nicht nur Liebe zum Land der Geburt und auch nicht nur „bürgerliche Liebe der Verfassung und der Gesetze, sondern die verzehrende Flamme der höheren Vaterlandsliebe, die die Nation als Hülle des Ewigen umfaßt und so eine Form der Entwicklung des Göttlichen" bildet. 28 Man sollte es sich freilich mit der Klassifizierung des Nationalismus als Pseudoreligion oder gefährlichstem Religionsersatz des 20. Jahrhunderts nicht allzu leicht machen. Ob ein rein säkulares, bloß funktionales Verständnis von Volk, Nation und Vaterland überhaupt auf Dauer möglich ist, wird zwar zu diskutieren sein. Immerhin ist der Nationalismus von Iren, Polen, Basken oder Slowaken durch und durch religiös imprägniert. Zwischen neuem Nationalismus und Rekonfessionalisierung besteht also ein erkennbarer Zusammenhang. Aber Religion ist nicht der Urheber von Nationalismus. Im Blick auf die Befreiungskriege und Äußerungen von E. M . Arndt ist ferner festzuhalten, daß das nationale Bewußtsein damals gerade nicht im Schöpfungsgedanken verankert wurde, sondern in einer Erlösungserwartung. Die Erlösung steht nahe bevor - so die Erwartung im Kampf gegen Napoleon. Der Befreiungskampf wird zum Heilsweg. In der deutschen Befreiungsgeschichte ereignet sich Heilserfahrung. Man kann also schon damals von „Exoduserfahrung" und deutscher „Befreiungstheologie" sprechen: Die Nationalbewegung war antinapoleonisch. Napoleon wird zum neuen Pharao, zum Antichrist; das Geschichtsbild ist durchgängig dualistisch. Der Befreiungskampf bringt Erlösung vom Bösen. Darum benötigen die

16

W. Eiert, Morphologie des Luthertums. Bd. II, 1932, S. 158.

11

T. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800-1866. Bürgermacht und starker Staat, München 1983, S. 300.

28

J.G. Fichte, Reden an die deutsche Nation VIII, Werke hg. von LH. Fichte, 7 , 3 8 7 , vgl. S. 381. Zu den Deutschen als einem Urvolk, das unter einem gewissen besonderen Gesetze des Göttlichen steht, S. 384: „Die Vaterlandsliebe will das Aufblühen der Ewigen und Göttlichen in der Welt."

160

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Befreier „Haß auf Leben und Tod, Haß", den „einzigen, gewaltigen Retter und Helfer". 29 Arndt spricht bekanntlich sogar vom „deutschen Gott". Schleiermacher verkündet in einer Predigt 1813 „Jedes Volk ... das sich zu einer gewissen Höhe entwickelt hat, wird entehrt, wenn es Fremdes in sich aufnimmt, sei dieses auch an sich gut; denn seine eigene Art hat Gott jedem zugeteilt und darum abgesteckt Grenze und Ziel, wieweit die verschiedenen Geschlechter wohnen sollten auf dem Erdboden". 30 Das Geschichtserleben wird in solchen Sätzen zur soteriologischen Gotteserfahrung, in der Begriffe wie Opfer, Rettung, Versöhnung ihren notwendigen Platz haben. Theologisch ist an diesem Gottesbild mit seinem Rückgriff auf einen Rächergott und Volksgott deutlich Kritik zu üben. Die Vermischung von Soteriologie und Patriotismus, von nationaler Befreiung und christlicher Erlösungshoffnung, von politischem und geglaubtem Heil ist theologisch fragwürdig, sogar fatal. 4 . Nationalismus in der neueren deutschen evangelischen Theologie 4.1. W.F. Classen stellt in einem Lexikonartikel 1931 die „völkische Besinnung", der Herder als erster eine „zeugungskräftige" Idee gegeben habe, in „Gegensatz zu dem Kosmopolitismus der Aufklärung" 3 1 . Er nennt die völkische Gliederung der Menschheit Gottes 29

E.M. Arndt, Geist der Zeit. Teil 2, in: H.-B. Spies (Hg), Die Erhebung gegen Napoleon. 1 8 0 6 - 1 8 1 4 / 5 , Darmstadt 1981, S. 114.

30

F.D.E.

31

W.F. Classen, Art. Völkische Bewegung I. Allgemeines, in: RGG 2 V, 1931, 1 6 1 6 - 1 6 1 7 , zit. 1616: II. B. H. Wetnel, Völkische Bewegung und Christentum, 1 6 2 4 - 1 6 2 6 . Interessant ist auch ein Blick in die 3. Auflage der RGG. Die 1. Auflage hat noch keinen Artikel „Volk" und verweist beim Stichwort „Vaterlandsliebe" auf den Artikel „Patriotismus" (RGG IV,1913, Sp.1257-1260, G. Naumann). In der 2. Auflage findet sich neben dem Artikel „Vaterlandsliebe" von P. Althaus (Bd. V,1931, Sp.1441-1442), der Artikel „Völkische Bewegung" von H. Weinel. In der 3. Auflage ist der Artikel „Vaterlandsliebe" (Bd.VI, 1 9 6 2 , 1 2 3 0 - 1 2 3 2 ) von dem Franzosen (Elsässer) R. Mehl verfaßt. Neben einer „Pathologie der Vaterlandsliebe" gibt es auch eine „positive, ja theologische Bedeutung": „Das Vaterland gibt der Nächstenliebe Gelegenheit, sich konkret als Dienst zu betätigen" (1232). Der Artikel „Nationalismus" (Bd. IV, 1960, 1 3 1 2 - 1 3 1 5 , A. Bergsträßer) ist rein politologisch ausgerichtet. Auch beim Artikel „Volk und Volkstum" (Bd.VI, 1 4 3 5 - 1 4 4 0 ) ist die theologische Zurückhaltung und Reserviertheit mit Händen zu greifen.

Schleiermacher,

SW II. Abt., 4. Bd., Predigten, 1835, S. 43.

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Schöpferordnung und ruft dazu auf, Volkstum und Rasse rein erhalten und veredeln zu helfen. „Das Christentum ist nicht international, sondern übernational; es ehrt und heiligt auch das Volkstum als eine Schöpfung Gottes." 32 Eine derartige „völkische Theologie" gab es weder vor 1918 noch nach 1945. Sehen wir uns kurz deren Vertreter und Begründungen an: Der Hintergrund und Anlaß der emphatischen Entdeckung des Volkstums als Schöpfung Gottes ist nur als Reaktion auf den als demütigend erfahrenen Versailler Friedensvertrag zu erklären. So heißt es bei Emanuel Hirsch: „Nur ein Volk, das sehr stolz auf die ihm von Gott gegebene Art ist, das sich für unentbehrlich hält im Menschheitsganzen, wird so viel an seine Zukunft und seinen Staat setzen wollen. Gerade jetzt also, wo die ganze Welt uns verachtet, müssen wir lernen den Stolz darauf, Deutsche zu sein." 33 Es ist somit unverkennbar verletzter Nationalstolz und verwundete deutsche Identität, die zur Vorstellung von einer besonderen deutschen Sendung und zur Wertung des Volkes als einer Schöpfungsordnung führte. Repräsentanten einer „Theologie des Volkes" waren Paul Althaus und Emanuel Hirsch. Paul Althaus hat 1927 auf dem 2. deutschen Kirchentag zu Königsberg einen Vortrag „Kirche und Volkstum" gehalten. Das Volkstum wird bei ihm mystisch verklärt als „Seelentum". „Volkstum ist eine geistige Wirklichkeit durch geistige Urzeugung geheimnisvoll geboren und, unbeschadet der Wichtigkeit der genannten Bedingungen, vor allem der natürlichen Fortzeugung von Geschlecht zu Geschlecht, durch die Liebe, die es entzündet." 34 Althaus fordert, daß Kirche und Volkstumsbewegung sich finden. Volk ist bei Althaus Gottesordnung. Althaus Ordnungsbegriff ist kairologisch und antidemokratisch. Auf der Grundlage eines „organologischen Volksverständnisses" begreift er das Volk mithilfe der neulutherischen Theorie von den Schöpfungsordnungen. Das politische Denken von Althaus ist geschichtstheologisch ausgerichtet und begründet. So formuliert er 1923, der Staat „ist die Form, in der ein Volk Geschichte erlebt". 32 33 34

H. Weinel, a.a.O. 1626. E. Hirsch, Deutschlands Schicksal, 1925 3 , S. 152. P. Althaus, Evangelium und Leben, Gesammelte Vorträge 1927, S. 113-143: Kirche und Volkstum, Zitat S. 114.

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„So ist der Staat die Form, in der ein Volk geschichtliches Leben lebt. Eine Nation hat einen Beruf. Aber: „Solches Erkennen des Berufs einer Nation kann immer nur Sache der Wenigen sein". Deshalb ist eine „demokratische Verfassung, die der Mehrheit der jetzt lebenden Staatsbürger den politischen Willen zu bilden gäbe, im tieferen Sinne unsittlich". „Die Form, in der ein Volk seinen geschichtlichen Beruf erfaßt ist verantwortliches Führertum, das freilich tief in dem Vertrauen des Volkes wurzeln muß." Zum Führertum gehört der tiefe geniale Blick „verbunden mit einem strengen Gewissen". Nicht jedes Volk hat zu jeder Zeit den Beruf zum Führertum. „Es gibt Völker die den Beruf zum Führertum an der Stirn tragen, und andere, die ihn nicht haben, vielleicht nicht mehr oder noch nicht haben." 35 Die Theologie der Ordnungen 1934 verändert diesen Ansatz nicht im Prinzipiellen. Denn: „Die Ordnungen sind wahrhaft geschichtlich, d.h. sie sind für uns immer nur in bestimmter geschichtlicher Gestalt wirklich." Deshalb gilt: „Gott gehorchen heißt wahrlich auch: Die Bewegungen der Geschichte und die Neuheit jeder Stunde ernst nehmen". 36 Immerhin ist im Blick auf Paul Althaus' „theologische Lehre vom Volke" ebenfalls festzuhalten, daß er 1937 ausdrücklich vor der Gefahr der Maßlosigkeit und des falschen Augenmaßes im Blick auf die Sendung eines Volkes warnt. „Aber es ist in den meisten Fällen bedenklich, eine solche Sendung im voraus zu verkündigen."37 Auch Fichte sei dieser Gefahr nicht entgangen. Der Repräsentant einer Theologie der Nation und des Volkes ist in besonders herausragender Weise Emanuel Hirsch. 38 Emanuel Hirsch rückt den Volksgedanken insgesamt in den Mittelpunkt seiner politischen Theologie. Hirsch verbindet die Erfahrung

35

P. Althaus, Staatsgedanke und Reich Gottes, 1923, S. 9, 11, 35f. Im Auszug ist der Text dokumentiert bei: M. Jacobs, Die evangelische Staatslehre, Göttingen 1971, S. 1 3 0 - 1 3 3 .

36

P. Althaus, Theologie der Ordnungen, Gütersloh 1939, S. 7ff. Auch bei M. Jacobs, a.a.O., S. 133f. P. Althaus, Völker vor und nach Christus, Theologia militans 14, 1937, S. 11.

37 38

Für das Folgende ist der eingehende und instruktive Aufsatz von D. Lange, Der Begriff des Heiligen in den theologischen und politischen Schriften Emanuel Hirschs, in: J. Ringleben (Hg.), Christentumsgeschichte und Wahrheitsbewußtsein. Studien zur Theologie Emanuel Hirschs, 1991, S. 1 8 8 - 2 2 5 grundlegend. Ferner: G. Schneider-Flume, Die politische Theologie E. Hirschs 1 9 1 8 - 1 9 3 3 , 1971.

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des Volkes mit dem Erlebnis des Heiligen. „Das Heilige ist Ewigkeit, rührend an Zeit." 3 9 „Die Erfahrung des Heiligen bestimmt die gesamte Lebenswirklichkeit des Menschen." 40 Neben Familie und Beruf gehören „Blutbund" und „Volksnomos" zur Gemeinschaft41: sie sind „Ort konkreter Begegnung des Heiligen" 42 . Hirsch unterscheidet dabei freilich nirgendwo zwischen empirischen und transzendentalen Gegebenheiten.43 Zwar weiß Hirsch, daß weltliche Gemeinschaften wie Ehe, Beruf und Volk nicht ewig sind. Aber der Volksnomos als göttliche Schöpfungsordnung „ist die letzte irdische Gegebenheit, der gegenüber es keine Freiheit mehr gibt". 4 4 Hier brennt vielmehr eine „Waberlohe" 45 , jenseits derer nichts mehr deutlich zu erkennen ist. Hirschs Heiligsprechung des Volksnomos fußt auf Irrationalität. Kritische Reflexion im Blick auf die organische Ganzheit der Gemeinschaft ist von vornherein ausgeschaltet. 46 Hirschs Denken ist von einem gesinnungsethischen und dezionistischen Zug beherrscht. Das Volk als letzte irdische Gegebenheit

39

40 41

42 43 44

45 46

E. Hirsch, Christliche Rechenschaft, hg. v. W. Gerdes, Berlin und Schleswig Holstein, 1978, Bd. I, S. 252/ § 60 A. Vgl. ferner: E. Hirsch, Der Weg der Theologie, Stuttgart 1937, S. 7: „Der Mensch muß die Volksgemeinschaft samt ihren Ordnungen als von Gott geheiligt, getragen, geboten kennen. Er muß die Stelle, an der er gerade steht, die Arbeit, die er gerade tut, als Gottes Ruf und Fügung über sich verstehen." Hirsch spricht von der „deutschen Erfahrung des verborgenen Gottes" (S. 12). Ferner: Ders., Deutsches Volk und evangelischer Glaube, Hamburg 1934: „Deutsches Volkstum und evangelischer Glaube, sie sind nicht nur in der bisherigen Geschichte unseres Volkes zur untrennlichen Schicksalsgemeinschaft zusammengewoben gewesen. Sie dürfen auch in der gegenwärtigen Stunde sich als Schicksalsgemeinschaft zusammengehörig erkennen." Ders., Das Wesen des Christentums, Weimar 1939, S. 147-157: Deutsches Volkstum und christlicher Glaube. Ders., Zweifel und Glaube, Frankfurt/ Main 1937, S. 52-64: Weltanschauung, Glaube und Heimat. D. Lange, a.a.O., S. 195. E. Hirsch, Die gegenwärtige geistige Lage im Spiegel philosophischer und theologischer Besinnung. Akademische Vorlesungen zum Verständnis des deutschen Jahres 1933, Göttingen 1934, S. 62, vgl. S. 40 (GGL). A.a.O., S. 196. A.a.O., S. 202, im Anschluß an E. Herms. A.a.O., S. 205, mit Verweis auf GGL, S. 41: „Wer nicht den Ruf der Fahne hört, der weiß auch nicht, was Freiheit ist." Zit. bei Lange, a.a.O., S. 205. A.a.O., S. 217ff.

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ist eine „Waberlohe" - wer an die „Schoa" an Auschwitz denkt, den schaudert bei diesem Wort - hinter die man nicht mehr zurücktragen darf und kann. Hirsch hat in seiner nationalistischen Begeisterung weder zwischen empirischer Gestaltung einer Ordnung und der Gegebenheit der Schöpfung als Opus dei unterschieden, noch zureichend bedacht, „daß die Sündigkeit des Menschen durch die Gemeinschaft nicht nur nicht aufgehoben, sondern eher noch verstärkt wird". 4 7 Lange spricht m. E. im Blick auf Hirsch zu Recht von „ideologischer Verblendung" 48 . Die Annahme einer Heiligkeit des Volksnomos führt zur religiösen Überhöhung politischer Zustände. Irdische Gegebenheiten sind nämlich nicht an sich heilig, sondern werden nur dann geheiligt, wenn sich in ihnen christlicher Glaube bewährt. Volk und Nation sind nicht ewig und an sich heilig, sondern zeitlich und geschichtlich. Solche theologische Verklärung der Nation hat der deutschen evangelischen Theologie ein Trauma hinterlassen. 4.2. Nach solchen tiefsinnigen, aber auch sehr problematischen Ausführungen zum Thema „Volk und Vaterland" wirken die Überlegungen Karl Barths nachgerade befreiend. 49 Sie stehen unter der Überschrift „Freiheit in der Gemeinschaft" und der Leitsatz gibt die Richtung an: „Indem Gott der Schöpfer den Menschen zu sich ruft, wendet er ihn auch seinen Mitmenschen zu. Gottes Gebot sagt im Besonderen, daß der Mensch in der Begegnung von Mann und Frau, in der Beziehung zwischen Eltern und Kindern, auf dem Weg von den Nahen zu den Fernen den Andern mit sich selbst und mit sich selbst auch den Andern bejahen, in Ehren halten und erfreuen darf." 50 Barth bedenkt in diesem Abschnitt also die Beziehung zu den Mitmenschen. Es gehört zur geschöpflichen Natur jedes Menschen, in solchen Beziehungen zu stehen. Zu den „Nahen" rechnet Barth das eigene Volk, im Unterschied zu den Fremden. Diese Nähe meint, „in einem weiteren Sinn gesagt, .zuhause'." 51 Die Nähe bezeichnet den „natürlich-geschichtlichen Ort, an dem Gottes Gebot den Menschen 47 48 49 50 51

A.a.O., S. 223. A.a.O., S. 224. Karl Barth, KD III, 4, 1951, S. 320-366: § 54,3: Die Nahen und die Fernen. A.a.O., S. 127. A.a.O., S. 322.

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antrifft". 5 2 Kennzeichen der Zugehörigkeit zu diesem natürlich-geschichtlichen Ort sind Sprache, einschließlich des besonderen Dialekts, der Raum, die Heimat, das Vaterland, die gemeinsam erlebte Geschichte. „Das Gebot Gottes meint und betrifft aber den Menschen als Einen, der auch in dieser Hinsicht, auch geschichtlich zu seinem Volk gehört." 53 Die Zugehörigkeit begründet, so Barth, eine „Mitverantwortung nach dem Rechten und Guten". 54 Barth sieht die Nahen und die Fernen unlöslich miteinander verbunden. „Treue gegenüber dem geschichtlich Nahen und Offenheit gegenüber den geschichtlich Fernen - das zu vereinigen wird freilich immer bedeuten, daß eine Spannung auszuhalten, ein Gegensatz zu überwinden ist, innerhalb dessen die einzelnen praktischen Entscheidungen sicher noch sehr verschieden ausfallen können." 55 Barth sieht die Nahen, das eigene Volk im Lichte der Begriffe der Sprache, des Raumes und der Geschichte, sowohl positiv als auch kritisch. Kritisch zu bemerken ist, daß die Nahen und die Fernen, das eigene Volk und die Menschheit „Korrelationsbegriffe zur Bezeichnung einer und derselben Wirklichkeit" sind. 56 So bemerkt Barth beispielsweise: „Es gibt in jedem Lande der Einheimischen und einheimischer Überlieferungen und Gepflogenheiten genug, für die eine gründliche Beeinflussung und Überholung durch fremde Menschen und ihre Art höchster Gewinn wären." 57 Im „Bereich natürlicher Mitmenschlichkeit" sind Mann und Frau, Eltern und Kinder je eine selbständige Gestalt des göttlichen Gebotes, das Volk jedoch nicht. Barth begründet die Relativierung dieser Gestalt der Mitmenschlichkeit damit, daß das Gegenüber von Nahen und Fernen, umkehrbar, „fließend", sogar „aufhebbar" ist. „Zwischen den Völkern... ist grundsätzlich Alles fließend. Zwischen ihnen mag es zeitweilig ,eiserne' Vorhänge geben. Das ist aber auch Alles." 58 Das Gegenüber von Nahen und Fernen „ist nicht ursprünglich und nicht endgültig;

52 53 54 55 56 57 58

A.a.O., A.a.O., A.a.O., A.a.O., A.a.O., A.a.O., A.a.O.,

S. S. S. S. S. S. S.

323. 332. 333. 336. 337. 331. 340.

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es ist kein natürlich-notwendiges Gegenüber". 59 Gibt es aber kein besonderes Gebot für das Volk, so gibt es auch keinen besonderen Gehorsam. Volk darf daher nicht als Schöpfungsordnung bestimmt werden. Die Behauptung einer besonderen völkischen Bestimmtheit der menschlichen Natur, so Barth, sei „ein Werk phantasierender Willkür". 60 Die Folge dieser „freien Erfindung" ist desweiteren „die eines angeblich der menschlichen Natur immanenten und also den Menschen ursprünglich und letztlich bestimmenden und verpflichtenden ordo des Volkes und Volkstums, wo es doch wieder am Tage liegt, daß es sich bei dieser Sache wohl um eine ordinatio Gottes als des Königs des Weltgeschehens, aber eben darum - wieder anders als in jenen beiden ersten Bereichen - nur um eine im Fortgang seines Verfügens bewegliche und veränderliche Bestimmtheit des menschlichen Daseins handeln kann". 6 1 Die Erfindung einer die Gesondertheit eines Volkstums legitimierenden „Völkergottes" nennt Barth bewußt häretisch. Abgelehnt ist somit die Annahme und der verpflichtende Anspruch einer besonderen „Liebes- und Treuepflicht", einer eigenen Idee von „Blut und Boden", eines „Volksnomos", „einer von sentimentalen oder auch bösartigen Narren ersonnenen, auf eigenen Füßen gehenden Raum-, Heimat- und Vaterlandstheologie und der ihr entsprechenden Ethik". 62 In der Abgrenzung gedenkt K. Barth dann seinerseits klar und deutlich in höchst vornehmer Weise „eines der sonderbarsten und bedauerlichsten Ereignisse der ganzen Theologiegeschichte", das sich in den Jahren zwischen dem ersten und dem zweiten Weltkrieg in Deutschland zugetragen hat, nämlich der Erhebung des Volkes zur „Schöpfungsordnung". Anders als Weinel, der Volk zu einem theologisch-ethischen Hauptbegriff gemacht habe, erinnert Barth daran, daß erst nach dem 1. Weltkrieg die Lehre von Bluts- und Rassegemeinschaft als Schöpfungsordnung, die Berufung auf einen „Volksnomos" und die Entgegensetzung von Volkstum und humanitas theologisch hoffähig wurde. Zu Weineis Aussagen aus dem Jahr 1931 stellt Barth lapidar fest: „Eine Diskussion erübrigt sich. Der

59 60 61 62

A.a.O., A.a.O., A.a.O., A.a.O.,

S. S. S. S.

341. 344. 345. 329.

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Grund war falsch und darum alles Einzelne und alle Konsequenzen. Die schlechte Sprache, in der das Alles fast durchweg gesagt wurde, war bezeichnend für eine von Haus aus schlechte Sache." 6 3 Dem ist nichts hinzuzufügen. Barths Kritik ist überzeugend. Dabei läßt Barth selbst durchaus Raum für die Zugehörigkeit zu Volk, Nation und Vaterland als einer relativen Gestaltungsform der Mitmenschlichkeit. Die Frage ist jedoch, ob nicht über Barths kritische Analyse hinaus - nicht hinter sie zurück - heute noch mehr zu sagen wäre. Die negativen Erfahrungen mit einer Theologisierung von Volk, Nation, Vaterland wirken nämlich erkennbar nach: Wolfgang Trillhaas 6 4 behandelt unter der Überschrift „Die Kirche als Volk Gottes" nur ganz knapp das Verhältnis von „Volk Gottes und Volkstum", lediglich als Übergang zu Sinn und Grenzen der Volkskirche. Helmut Thielicke geht unter dem Pol „Gesellung" - neben dem Pol „Individuum" - auf „Heimat, Volk, Vaterland" als drei Lebensräume ein, in denen sich Zugehörigkeit manifestiert. 65 Das Schwergewicht fällt dabei für ihn auf die Heimat, die von vornherein nicht „unter den Begriff der Schöpfungsordnung zu subsumieren" sei; er schließt sich darin Barth an. Heimat kann- so Thielicke - „nur besessen werden in jener Haltung, die wir die eschatologische Relativierung" nannten. 66 Themen sind bei ihm das „Recht auf Heimat" und die Kirche, die im Ausland die Tradition und Muttersprache einer Minorität pflegt. Der Begriff Volk wird also anhand der „Idee der Heimat" ausgelegt und ferner in einem doppelten Bezug zu Schöpfung und Sünde gesetzt.

63 64 65 66

A.a.O., S. 349. W. Trillhaas, Ethik, 1970 3 , S. 517-525 (= Kap. 36). H. Thielicke, Theologische Ethik III, 1964, S. 107-127. A.a.O., S. 112, Nr. 373. Vgl. ferner H. Kreß, Art. „Heimat", in: T R E 14, 1985, S. 778-781. Der Autor betimmt Heimat durch den Gegensatz zwischen bleibendem „Zuhause" und leben in der Fremde, im „Elend". Vgl. desweiteren W. Ttlgner, Volk, Nation, Vaterland im protestantischen Denken zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus (ca. 1870-1933) und E. Wolf, Volk, Nation, Vaterland im protestantischen Denken von 1930 bis zur Gegenwart, in: H. Zilleßen, a.a.O., S. 135-171 resp. 172-217.

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5. Ausblick Die spannungsreiche Beziehung zwischen nationaler Identität und Humanität, zwischen völkischem Sendungsbewußtsein und allgemeinmenschlichem Anspruch wurde in geschichtlicher Perspektive deutlich. Dies erklärt, warum evangelische Theologen in Deutschland sich derzeit gegenüber dem Thema Nation ausgesprochen spröde und abweisend verhalten. Hinter Barths kritischen Anfragen an eine ideologische Überhöhung des Volkstums und einer Volkstumstheorie mithilfe der Theologie kann man nicht mehr zurück. Barth relativiert zutreffend theologisch den Anspruch von Volk, Nation und Vaterland auf den Christen, und zwar relativiert er diesen Anspruch heilsam. Gleichwohl ist diese Relativierung nicht mit einer Distanzierung, der völligen Negation und Mißachtung von Volk, Nation, Vaterland als Thema evangelischer Ethik zu verwechseln. Im Blick auf die Reflexion der ethischen Beurteilung von Nation, Volk und Vaterland besteht in der evangelischen Theologie ein Defizit. Man hat es sich in Deutschland wohl zu einfach gemacht, das Ende des Deutschen Reiches mit dem Ende des Nationalstaates gleichzusetzen. Nach Barth sind Volk, Nation, Vaterland zwar nicht „Schöpfungsordnung", aber sie beruhen auf einer ordinatio divina. Was besagt das jedoch? 1. Volk, Nation, Vaterland geben eine Ortsangabe vor für das Zusammenleben von Menschen, die sich nahestehen und durch gemeinsame Heimat, gemeinsame Sprache, gemeinsame Herkunft, gemeinsame Geschichte miteinander verbunden sind. Diese Vorgegebenheiten ermöglichen gemeinsame, kollektive Identität und Verantwortung. Dieser gemeinsame Raum der Lebenswirklichkeit ist durch natürliche und geschichtliche Faktoren bestimmt. Insofern gehört er zum Bereich der Schöpfung. Eine derartige Gemeinsamkeit bildet aber keine Schöpfungsordnung im Sinne eines Gebotes. Theologische Interpretation darf die nationale Identität nicht zu einer Schicksalsmacht verfestigen, indem sie diese für ewig erklärt. Nationale Zugehörigkeit setzt vielmehr Rahmenbedingungen für ethische Verantwortung, begründet aber als solche noch nicht ethische Verantwortung. 2. Das gemeinsame Bezugsfeld von Volk, Nation, Vaterland ist zugleich ein Ort der Bewährung des Glaubens. Es gehört auch zum

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weltlichen Beruf eines Christen, für Volk, Nation, Vaterland mitverantwortlich zu sein und als Bürger und Volkszugehöriger gestaltend mitzuwirken. Volk, Nation, Vaterland haben freilich für den Menschen keine Heilsbedeutung. Zu den theologischen Irrwegen gehörte es, dem deutschen Volk eine besondere religiöse Sendung beizumessen und ein erlösendes, rettendes Handeln vom eigenen Volk zu erwarten und zu verlangen. Eine solche soteriologische Beanspruchung von Volk und Nation führt unvermeidlich zu Nationalismus und Chauvinismus („right or wrong- my country"). 3. Geschichtliche Erfahrungen mit Volk, Nation, Vaterland belegen ferner, daß ganz unterschiedliche Deutungen von Nation möglich sind, emanzipatorische und reaktionäre. Die nationale Idee kann sowohl Träger politischer Reform als auch ideologisches Mittel einer nackten Machtpolitik werden. Zwischen verschiedenen Typen des Verständnisses des Nationalen ist also sorgfältig zu differenzieren. Deshalb ist eine genaue historische Analyse und eine kontextuelle Interpretation des Phänomens Volk und Nation jeweils erforderlich und unerläßliche Voraussetzung für gegenwärtige Urteilsbildung. Man sollte und kann freilich die Zugehörigkeit zu einem Vaterland und die damit verbundene Vaterlandsliebe (den Patriotismus) nicht reduzieren auf einen unpolitischen Heimatgedanken und die bloße Heimatliebe. 4. Volk, Nation, Vaterland sind nicht exklusiv, im Sinn von Ausschließlichkeit, zu betrachten, sondern immer in Beziehung zum universalen Anspruch von Ethik zu sehen. Nationale Identität ist deshalb allein als „ o f f e n e " Identität legitim, in welcher die Selbstunterscheidung nationaler Zugehörigkeit nicht zur Abschließung gegen andere Völker und Nationen, zur Xenophobie mißbraucht werden darf. Die Vielfalt der Sprachen, Völker, Nationen, Geschichten und Kulturen ist ist in ihrer spezifischen Individualität zu achten. Der nationale, aber auch kulturelle, religiöse und konfessionelle Pluralismus macht Toleranz, interkulturelle Dialogbereitschaft und Kommunikationsfähigkeit unabdingbar. Zur Annahme der eigenen nationalen Herkunft gehört komplementär die Achtung der nationalen Identität und Individualität anderer. 5. Jede nationale Souveränität und Selbstentfaltung hat ihre Schranken an der Wahrung der unveräußerlichen Menschenrechte jedes Menschen. Je mehr man sich der Besonderheit der jeweiligen nationalen Zugehörigkeit bewußt wird, desto wichtiger wird die

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Bedeutung des menschenrechtlichen und völkerrechtlichen Schutzes nationaler, religiöser und kultureller Minderheiten. Der verfassungsrechtliche Schutz der Menschenrechte und der Grundrechte aller Bürger führt deshalb folgerichtig zum Verfassungspatriotismus. Insofern ist in der Tat der Verfassungspatriotismus ein Kriterium zur Beurteilung eines emotionalen Nationalismus und bloßen Vaterlandsgefühls. 6. Der christliche Glaube ermöglicht infolge seiner universalen Ausrichtung einen nüchternen, freien, kritischen Umgang mit der eigenen Nation, dem eigenen Volk. Man kann in diesem Zusammenhang an die 2. Barmer These erinnern, die bekennt: durch Jesus Christus „widerfährt uns frohe Befreiung aus den gottlosen Bindungen dieser Welt zu freiem, dankbarem Dienst an seinen Geschöpfen". Barmen II leitet auch zur Ideologiekritik am Nationalismus an und eröffnet zugleich mit der Zusage „froher Befreiung" die Möglichkeit zu „freiem, dankbarem Dienst" an Gottes Geschöpfen auch im eigenen Volk. Barmen II ist übrigens in der Barmer Theologischen Erklärung die einzige Stelle, in der ausdrücklich die Schöpfung genannt wird. Der Mißbrauch der Idee der Nation in der Verherrlichung des „Blutbundes", der Vergötzung der Rasse, der Erfindung eines artgemäßen Christentums und die Ideologie des Nationalsozialismus darf nicht dazu führen Volk, Nation, Vaterland als Ort der Zusammengehörigkeit zu tabuisieren. 7. Der Dienst des Christen betrifft sowohl die gemeinsame Herkunft, das Erbe der Geschichte, wie die gemeinsame Zukunft. Volk, Nation, Vaterland beschreiben Verantwortungsbereiche und Aufgaben kollektiver Verantwortung. Insbesondere wirtschaftliche Probleme stellen derzeit in Deutschland große Herausforderungen dar, die überhaupt nur in nationaler Solidarität bewältigt werden können. 8. Der besondere Beitrag und die Aufgabe der evangelischen Kirche kann dabei nicht darin bestehen, nationale Forderungen und Ansprüche geistlich zu legitimieren oder theologisch zu begründen. Wohl aber kann eine Kirche, welche die freie Gnade Gottes an alles Volk auszurichten hat (so die 6. Barmer These), diesen ihren Auftrag gar nicht anders ausüben, als daß sie an der Geschichte von Volk und Nation teilnimmt, sie im Mitleben mitgestaltet, Not und Sorgen des Vaterlandes mitträgt und mit den Volksangehörigen mitleidet und nicht zuletzt in der Fürbitte für das Vaterland eintritt.

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Die Frage nach Volk und Vaterland wird damit zu einer Anfrage an die Verkündigung der Kirche und an die Theologie: Das Thema „Nation" darf nicht, wie dies heute oftmals üblich ist, ausgeklammert und tabuisiert werden. Es ist vielmehr zum ökumenischen Auftrag der Kirche und zum universalistischen Anspruch christlichen Glaubens in Beziehung zu setzen. Ökumene ereignet sich in der Begegnung des Verschiedenen. In der ökumenischen Beziehung können kulturelle, nationale und historische Unterschiede gar nicht übersehen werden. Sie sind vielmehr bewußt wahrzunehmen. Fragen wie Identität, Sinngebung und Zukunftsorientierung haben ferner als Lebensfragen auch eine religiöse Dimension. An historischen Paradigmen kann auch eine falsche Wahrnehmung theologischen und religiösen Umgangs mit dem Thema Nation verdeutlicht werden. Wird jedoch die theologische Aufgabe als solche nicht erkannt, das Spannungsfeld von nationaler Identität und universaler Humanität auszuhalten und beide Pole aufeinander zu beziehen, entsteht ein geistiges, moralisches und religiöses Vakuum. Dieses Vakuum wird dann um so leichter von einer inhumanen, intoleranten und radikalen Ideologie des Nationalismus besetzt werden können, die auch zu Gewaltmaßnahmen und Terror bereit ist. Auch die künftige Weltzivilisation wird in ihren nationalen, kulturellen und religiösen Prägungen pluralistisch und vielgestaltig sein und bleiben. Umso wichtiger ist es, einen humanverträglichen Umgang mit der nationalen Identität zu bedenken und den Vorrang der Menschenrechte vor nationalen Ansprüchen zur Geltung zu bringen. Dazu können Kirchen durch ihr praktisches Verhalten und Theologie, durch Reflexion und differenzierte Analyse aus Einsichten christlichen Glaubens und aufgrund geschichtlicher Erfahrungen beitragen.

8. Nach dem Ende des Sozialismus Am 25. August 1990 hielt der rheinische Präses Peter Beier in der Evangelischen Akademie Mülheim/Ruhr einen Vortrag zum Thema „Sozialismus am Ende?" Der Vortrag löste eine lebhafte öffentliche Debatte aus. Der Arbeitskreis Evangelischer Unternehmer (AEU) hat mich am 3. Oktober 1991 deshalb zu einem Vortrag eingeladen, der die Überschrift trug „Ist der Sozialismus am Ende?" Diese Frage bleibt nun zu beantworten. Peter Beier, Am Morgen der Freiheit, 1995, 78-94: Im Sozialismus? hat nach wie vor die Frage bewegt, ob der Sozialismus erst noch kommt. Vom „Ende" ist heute allenthalben und in vielfältiger Weise die Rede. Der Amerikaner F. Fukuyama meinte im Sommer 1989 mit dem Ende des Sozialismus sei das „Ende der Geschichte"1 gekommen. Nur: Die Geschichte - und nicht die Kritik und Wissenschaft hat diese These widerlegt. Der Golfkrieg, der Zerfall Jugoslawiens, die Auflösung der Sowjetunion widerlegt schon diese These. Joachim Fest spricht in seinem sehr bemerkenswerten Essay „Der zerstörte Traum" (1991) „Vom Ende des utopischen Zeitalters". So richtig und einleuchtend Fests Kritik an Ernst Blochs Verabsolutierung der Utopie ist, so unhaltbar ist vermutlich die These, daß es nun nur noch ein Leben ohne Utopie geben könne. Fest meint dabei außerdem, nach dem Nationalsozialismus sei mit dem Sozialismus der andere machtvolle Utopieversuch des 20. Jh.s. gescheitert2. Andere sprechen in gleicher Weise vom Ende des Totalitarismus, vom Ende der Aufklärung und anderem mehr. Nun ist es so eine Sache vom Ende zu reden. Der Volksmund sagt: Totgesagte leben länger. Wir wären gut beraten, zwischen dem Ende eines bestimmten Sozialismus und dem Ende jeden Sozialismus sorgfältig zu unter1

2

F. Fukuyama, The End of History? The National Interest, Summer 1989, 3 - 1 8 . Ders., Das Ende der Geschichte. W o stehen wir?, Gütersloh 1992.

/. Fest,

Der zerstörte Traum, 1991, 81.

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scheiden. Ein bestimmter Sozialismus, der real existierende Sozialismus in der DDR ist tot und begraben. Man sollte ihm keine Träne nachweinen und jetzt kein Beerdigungszeremoniell abhalten. Deckel auf den Sarg. Zunageln. Damit ist aber das Thema Sozialismus noch nicht beendigt. Die Aufgabe besteht jetzt nicht darin, sich mit den ökonomischen Vorstellungen des Sozialismus zu befassen. Vielmehr ist ein Rückblick in die Ideengeschichte sinnvoll. Der Impetus, Antrieb des Sozialismus war im 19. Jh. ursprünglich moralischer Natur. Moralische Vorstellungen sind oft wirksamer als oekonometrische Modelle. Die Mathematisierung des Wirtschaftgeschehens als eines komplexen, vielfältigen Einflüssen und Einwirkungen ausgesetzten Systems hat erkennbare Grenzen. Von moralischen Wertungen und Ideen heißt es im Thomasprinzip: „Wenn Menschen ihre Situation in bestimmter Weise als real definieren, so sind diese Definitionen Realität." Das gilt eben auch für die Vorstellung von Sozialismus, von sozialer Gerechtigkeit, von sozialen Forderungen. Nochmals: In welchem Sinne kann man dann von einem „Ende" des Sozialismus reden? Im allgemeinen hat man heute den Untergang der DDR als Staat und das Scheitern des SED-Regimes vor Augen. Man denkt an sozialistische Mißwirtschaft, an das ökonomische und soziale Fiasko, das eine zentralgesteuerte Planwirtschaft angerichtet hat und vieles anderes mehr. Das Wort „Sozialismus" scheint dadurch hoffnungslos und für alle Zeiten diskreditiert zu sein. Im Widerspruch zu dieser Meinung wandte sich freilich der rheinische Präses Peter Baier gegen „wohlfeile Sozialismus-Schelte", weil der Begriff „Sozialismus" „ein unaufgebbares Humanum, eine Vielzahl von unaufgebbaren Möglichkeiten" bewahre. Was gilt nun - Ende des Sozialismus für alle Zeiten oder ein unaufgebbarer Kern an Humanum im Sozialismus, der durch den real existierenden Sozialismus nur völlig entstellt und in Verruf gebracht wurde, ein Kern, der dauernd zu bewahren ist? Eine eindeutige und einfache Antwort auf diese so scheinbar klare Alternative ist gerade nicht möglich. Denn mit dem Wort Sozialismus werden nicht nur unterschiedliche, sondern sogar ausgesprochen gegensätzliche und unvereinbare Auffassungen, Theorien, politische Bewegungen und Organisationen bezeichnet. Sozialismus ist ein schillernder Begriff, ein Allerweltswort, auch ein Schlagwort im politischen Kampf und Meinungsstreit geworden. Was also meint Sozialismus?

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1. Der Begriff Sozialismus Der Begriff Sozialismus ist vom lateinischen Wort „socius", gesellig, gesellschaftlich oder genossenschaftlich abgeleitet und meint rein formal ein „gemeinschaftsbezogenes Leben". In diesem Sinne kann man sogar in übertragener Weise Lebensweisen auf der Grundlage von Gemeindeeigentum bereits im Altertum Sozialismus nennen. Sozialistisch oder sogar kommunistisch wären dann bereits die Wirtschaftsvorstellungen eines Piaton, die Gütergemeinschaft der vorchristlichen Sekte von Qumran, das lukanische Bild von der Jerusalemer Urgemeinde mit der Gütergemeinschaft, oder auch die Wirtschaftsvorstellungen von Kirchenvätern wie Chrysostomos gewesen. Bei diesem Sprachgebrauch kann man ferner von einem Sozialismus oder Kommunismus schon bei Gruppen im alten China, in Israel, im Urchristentum, bei Sekten und Mönchsorden sprechen. Man spricht dann von einem urchristlichen Kommunismus, von einem Kommunismus der Mönche. Unser heutiges neuzeitliches Verständnis des Sozialismus ist freilich erst etwa 2 0 0 Jahre alt. Nach der Begriffsgeschichte soll der Benediktinermönch Anselm Desing erstmals 1753 diejenigen Naturrechtslehrer polemisch als „socialistae" bezeichnet haben, die von einer natürlichen Geselligkeit des Menschen ausgehen 3 . Diese modernen Naturrechtstheorien unterscheiden sich nämlich von der christlichen Vorstellung einer gottgesetzten Gesellschaftsordnung, eines christlichen Ordo von der christlichen Naturrechtsdoktrin. Die Gesellschaft entsteht vielmehr kraft vernünftiger Übereinkunft. Sie ist eine menschliche Einrichtung. Im Unterschied zu liberalen Ansätzen, welche einen natürlichen Egoismus des Menschen annehmen, also mit Thomas Hobbes vom Axiom „homo homini lupus" ausgehen oder wie Kant eine „ungesellige Geselligkeit", eine Beeinflussung des Menschen durch ein radikal Böses zugrundelegen, sind diese Naturrechtslehren ferner von der Vernunft und der natürlichen Güte des Menschen überzeugt. Sie sind optimistisch im Blick auf die Verbesserung der Gesellschaft. Es liegt an den Verhältnissen, nicht an der Natur des Menschen, wenn es strukturell Böses in der Gesellschaft gibt. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts werden mit Sozialismus sodann

Vgl. G. Schwan, Art. Sozialismus, in: Staatslexikon, Bd. V, 1984 7 , 10.

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Bewegungen bezeichnet, die eine Ziel- und Ordnungsvorstellung vertreten und verfolgen, welche gegen Individualismus und Egoismus also gegen den individualistischen Liberalismus die Zusammengehörigkeit („Solidarität") und harmonische Zuordnung der Menschen untereinander entweder als Tatsache ansehen oder als politisch-gesellschaftliches Ziel anstreben. Im Sozialismusbegriff verbinden sich also Ideen sozialer Gerechtigkeit mit einem anthropologischen Optimismus und der Annahme der Rationalität sozialer Beziehungen. Die Vorstellung von einer Vergesellschaftung, Sozialisierung der Produktionsmittel war dagegen für den Sozialismus ursprünglich nicht essentiell und unverzichtbar. Gustav Gundlach gibt 1931 folgende Definition von Sozialismus: „eine nach Wertideen und Mitteln dem kapitalistischen Zeitalter innerlich zugehörige allumfassende Lebensbewegung zur Herbeiführung und dauernden Sicherung der Freiheit und des diesseitigen Glücks aller durch ihre uneingeschränkte Einfügung in die Einrichtungen der von höchster Sachvernunft geformten und jedes Herrschaftschar akters entkleideten menschlichen Gesellschaft".4 Diese 42-Worte-Definition des Beraters von Papst Pius XI. ist ebenfalls in der Enzyklika Quadragesimo anno enthalten. Im „Lexikon für Theologie und Kirche" gibt Gundlach folgende Definition: „Die oft angewandte Begriffsbestimmung des Sozialismus als eines Gesellschaftssystems, das auf die Vergesellschaftung aller wirtschaftlichen Erzeugungsmittel und auf ihrem ausschließlichen Einsatz durch die Verfügungsgewalt durch die Gesellschaft beruht, ist im Hinblick auf die praktischen Hauptforderungen des Sozialismus in der Form des Marxismus richtig, aber sie schöpft nicht die Tiefe des Sozialismus und die Fülle seiner Spielarten aus, wenn man ihn im Fluß der geschichtlichen Entwicklung betrachtet. In der geschichtlichen Betrachtung muß der Sozialismus der Gesellschaftsbewegung des kapitalistischen Zeitalters, das durch das Aufkommen und die Entfaltung des Industriekapitals gekennzeichnet ist, zugeordnet werden. Dadurch ist gegeben, daß der Sozialismus sich teils als den innerkapitalistischen Gegenspieler des bürgerlichen Individualismus gibt, der das kapitalistische Zeitalter zuerst trägt, teils aber über das Ganze des kapitalistischen Zeitalters hinausstrebt

4

G. Gundlach, Die Ordnung der menschlichen Gesellschaft, Bd. II, 1964, 122.

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und in diesem Sinne sich antkapitalistisch gibt." 5 Soweit der katholische Soziallehrer und Kritiker des Sozialismus. Nach seiner Begriffsbestimmung ist eine exakte Definition des Wortes Sozialismus nicht möglich. Man kann nur Ideen und Bewegungen beschreiben, die jeweils für sich den Begriff Sozialismus in Anspruch genommen haben oder nehmen. Der moderne Sozialismus ist also zunächst eine Reaktion auf die neuzeitliche Industrialisierung und auf die negativen Folgen des Industriekapitalismus. Mit den gesellschaftlichen und geschichtlichen Veränderungen wandelt sich auch daher der Sozialismus. Werfen wir noch einen Blick auf die päpstlichen Bewertungen des Sozialismus. Die Kritik am Sozialismus in Rerum novarum (Nr. B) lautet: Alle haben das Recht auf privates Eigentum. Der Sozialismus, der dieses Recht nicht anerkennt, ist nach Leo XIII. vom System her ungerecht. Quadragesimo anno (111-126) verweist auf Wandlungen im Sozialismus. Es gibt zwei Lehrsysteme: 1. Der Kommunismus (Er wird dezidiert abgelehnt - als atheistisch, inhuman) (QA 112 - Vgl. Divini redemptoris. 1937) 2. Die „Gemäßigtere Richtung" (QA 113) mit der Ablehnung der Eigentumsfeindlichkeit. Eine Annäherung sozialistischer Propagandaforderungen der gemäßigten Richtung an Postulate einer christlichen Sozialreform ist erkennbar. Dennoch ist eine Verwischung der Gegensätze katholische Soziallehre und Sozialismus unzulässig. Die Enzyklika erhebt folgenden Einwand: „vollkommen unbekannt und gleichgültig ist ihm (dem Sozialismus) diese erhabene Bestimmung sowohl des Menschen als der Gesellschaft (sc: Ziel, ewiges Heil); er sieht in der Gesellschaft lediglich eine Nutzveranstaltung" (QA 118). „Religiöser Sozialismus, christlicher Sozialismus sind Widersprüche in sich; es ist unmöglich, gleichzeitig guter Katholik und wirklicher Sozialist zu sein" (QA 120). Papst Johannes Paul II. übt in der Enzyklika Centesimus annus Kritik am Sozialismus wegen der Mißachtung der Rechte der Arbeit, wegen der Insuffizienz des Systems, wegen der geistigen Leere, die der Sozialismus durch den Altruismus hervorgerufen hat (Nr. 22-29; 35,4; 42,3). Er legt freilich keine juristischen Argumente vor. Vielmehr gibt er eine ausführliche Beschreibung des „Grundirrtums des 5

G. Gundlach, LThK, Bd. 9, 2. Aufl., Sp. 686.

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Sozialismus" (13,1)- Auch der Klassenkampf als Methode der Konfliktaustragung wird abgelehnt (14,1). Es hängt also entscheidend ab vom Selbstverständnis des Sozialismus, ob er sich von dieser päpstlichen Aussage 1991 noch betroffen fühlt. Der Papst erklärt (CA 13,1): Der „Grundirrtum des Sozialismus ist anthropologischer Natur." „Er betrachtet den einzelnen Menschen lediglich als ein Instrument und Molekül des gesellschaftlichen Organismus, so daß das Wohl des einzelnen dem Ablauf des wirtschaftlich-gesellschaftlichen Mechanismus völlig untergeordnet wird; gleichzeitig ist man der Meinung, daß eben dieses Wohl unabhängig von freier Entscheidung und ohne eine ganz persönliche und übertragbare Verantwortung gegenüber dem Guten verwirklicht werden könne. Der Mensch wird auf diese Weise zu einem Bündel gesellschaftlicher Beziehungen verkürzt, es verschwindet der Begriff der Person als autonomes Subjekt moralischer Entscheidungen, das gerade dadurch die gesellschaftliche Ordnung aufbaut. Aus dieser verfehlten Sicht der Person folgen die Verkehrungen des Rechts, das den Raum für die Ausübung der Freiheit bestimmt, und ebenso die Ablehnung des Privateigentums. Der Mensch, der gar nichts hat, was er sein eigen nennen kann, und jeder Möglichkeit entbehrt, sich durch eigene Initiative seinen Lebensunterhalt zu verdienen, wird völlig abhängig von den gesellschaftlichen Mechanismen und von denen, die sie kontrollieren. Es wird dem Menschen äußerst schwer, seine Würde als Person zu erkennen. Damit aber wird der Weg zur Errichtung einer echten menschlichen Gemeinschaft verbaut." 2. Die Vielfalt der Ideen und Erscheinungsformen des Sozialismus Die Ideenwelt des Sozialismus greift zunächst einmal auf die Gesellschaftsentwürfe in Gestalt der Utopien seit der Renaissance zurück (Thomas Morus, Tommaso Campanella, Francis Bacon u.a.) und schließt an deren Gesellschaftskritik an, indem der Sozialismus nämlich selbst Alternativen, Utopien künftigen Zusammenlebens konzipiert. Solche Utopien suchen nach einer überzeitlich gültigen Gesellschaftsordnung, die der Vernunft entsprechen soll. Dabei können konsequent egalitaristische Ordnungsvorstellungen, etwa bei Campanella, alle Unterschiede radikal einebnen. Vernunftgemäß ist danach nur eine Gesellschaft, in der alle Menschen gleich sind. Folgerichtig wird darum die Abschaffung des Privateigentums gefor-

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dert. Solche Utopien, die auf einem prinzipiellen Vertrauen in die rationale und wissenschaftliche Organisierbarkeit der Gesellschaft beruhen, nehmen teilweise den modernen Totalitarismus geistig vorweg; bereits sie fordern eine Erziehungsdiktatur. Totalitarismus ist nicht Diktatur, Tyrannei, sondern die totale Kontrolle der Gesellschaft. Mussolini, der ja vom Sozialismus herkam, sprach 1925 von „politischer Totalität". Ideologie und Zwang sind im Totalitarismus Mittel der Beherrschung: Die Bürger sollen völlig verfügbar gemacht werden. Im Zuge der Modernisierung und Industrialisierung der Gesellschaft seit der Französischen Revolution werden egalitäre Ideen von sozialen Bewegungen aufgegriffen, welche die restaurative Ständegesellschaft ebenso bekämpfen wie den Liberalismus. Gegen die liberalistische Wirtschaftsordnung, die sich allein am Eigeninteresse und dessen Durchsetzung orientiert, wird das Gemeinwohl, die Forderungen der Solidarität und der sozialen Gleichheit und der Harmonie unter den Gesellschaftsgliedern ins Feld geführt und geltend gemacht. 2.1. Ideengeschichte Betrachtet man nun die Etappen der Ideengeschichte des Sozialismus, so ist diese Ideengeschichte nicht von der politischen und sozialen Entwicklung insgesamt zu lösen. a) Es beginnt mit den Frühsozialisten. An der Spitze der Frühsozialisten gehört der Franzose François Noel, Babeuf genannt, der als Anführer der „Verschwörung der Gleichen" 1797 hingerichtet wurde. Ihm folgten die französischen Frühsozialisten, z.B. Graf Claude-Henri de Saint Simon (1760-1825), Charles Fourier (17721837), der englische Industrielle Robert Owen (1771-1858) und der Magdeburger Schneidergeselle Wilhelm Weitling (1808-1871). Alle diese Frühsozialisten suchen durch Entwürfe einer gemeinschaftlichen, harmonischen Gesellschaft, mit gleicher Güterverteilung, einen Gegenentwurf aufzustellen zur herrschenden, als ungerecht und inhuman erfahrenen kapitalistischen Industriegesellschaft. Soziale Utopien verbanden sich dabei vielfach mit technischen Utopien. Der Glaube an die Leistungsfähigkeit von Wissenschaft und Technik diente zum Teil als Religionsersatz. Der Glaube an die rationale Gestaltbarkeit der Gesellschaft war im 19. Jahrhundert völlig ungebrochen. Diese Frühsozialisten begriffen sich als politische und gei-

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stige Avantgarde und wurzelten in einem festen Glauben an die Harmonie und Sittlichkeit einer künftigen egalitären Menschheit. b) Marxismus. An diesem utopischen Sozialismus übten Karl Marx und Friedrich Engels Kritik, weil die wissenschaftliche Analyse der industriekapitalistischen Wirtschaft durch einen Entwurf von Utopien noch nicht geleistet sei. Der wissenschaftliche Sozialismus des Marxismus berief sich dagegen auf objektive Geschichtsgesetze und auf die Evidenz einer wissenschaftlichen Theorie. Marx und Engels entwickelten darum eine historisch-dialektische, materialistische Geschichtstheorie. Der Marxismus hatte freilich im 19. Jahrhundert keineswegs das Monopol auf den Sozialismus. c) Anarchismus. Gegen die von Marx und Engels in der Diktatur des Proletariats intendierte Machtkonzentration richtet sich der Protest des Anarchismus. Der Franzose Pierre-Joseph Proudhon (1809-1865) und die Russen Michail A. Bakunin (1814-1876) und Pjotr A. Kropotkin (1842-1921) radikalisierten den Gedanken der individuellen Freiheit dahingehend, daß daraus die Forderung nach Abschaffung aller Herrschaft folgte. Sie entwerfen Konzepte herrschaftsfreien Zusammenlebens. Mit den Sozialisten teilten die Anarchisten freilich die Überzeugung, daß erst die Zerstörung der kapitalistischen Produktionsweise und des bürgerlichen Staates die Bedingung für wahre menschliche Beziehungen schaffe.

II. Organisationsgeschichte Seit 1848 bildeten Arbeitervereine die Vorformen politischer Organisation, wie sie in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts in Form von Gewerkschaften und politischen Parteien sich formierten. Die 1869 in Eisenach gegründete „Sozialdemokratische Arbeiterpartei" vereinigte sich 1875 in Gotha mit den Lassalleanern zur Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands. Die Auseinandersetzung zwischen reformistischem, revisionistischem und revolutionärem Flügel der Sozialdemokratie setzte bereits vor dem 1. Weltkrieg ein. d) Revisionismus. Eduard Bernstein (1850-1932) stellte die Theorie von der Notwendigkeit einer revolutionären Zuspitzung des Klassen-

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gegensatzes zwischen Bürgertum und Proletariat theoretisch in Frage und plädierte für einen schrittweisen, evolutionären Ausbau der liberalen, rechtsstaatlichen Demokratie zur sozialen Demokratie. Der Sozialismus wurde damit einer der Quellflüsse des Sozialstaates. e) Die Spaltung des Sozialismus. Die russische Oktoberrevolution 1917 mit der Machtübernahme durch die Bolschewiken unter Lenins Führung hatte eine Spaltung zwischen der kommunistischen Partei und den reformistisch orientierten Sozialdemokraten zur Folge. Die Alternative zwischen zwei künftigen Formen des Sozialismus - hier Lenins Diktatur des Proletariats, dort parlamentarische, demokratische Republik - trennte die Sozialisten in zwei scharf geschiedene und verfeindete Lager. Die Auseinandersetzung mit dem kommunistischen Totalitarismus, repräsentiert durch Lenin und Stalin, bestimmte durch nahezu 80 Jahre das Weltgeschehen im OstWest-Konflikt. Ein letztes Dokument war 1987 die Ausarbeitung der Grundwertekommission der SPD und der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED „Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit". Die Unvereinbarkeit und Unversöhnlichkeit eines der rechtsstaatlichen Demokratie verbundenen Sozialismus, in seinen verschiedenen Erscheinungsformen und Varianten mit dem kommunistischen Herrschaftssystem wurde im Zuge der Konfrontation immer deutlicher erkennbar. Der Wandel in den Ideen, den Parteiprogrammen, in der konkreten Politik der gegensätzlichen Konzeptionen und Parteien ist hier nicht nachzuzeichnen. Unverkennbar verbirgt sich unter dem Etikett Sozialismus recht Unterschiedliches seit der russischen (1917) und der deutschen Revolution (1918/9). Eine entscheidende Prägung erhielt der Sozialismus auch von den Erfahrungen in der Auseinandersetzung mit dem faschistischen und national-sozialistischen Totalitarismus und mit der Entkolonialisierung. Der historische Kontext ist also bei der Beurteilung des jeweiligen Sozialismus und der eigenen Stellungnahme zu ihm zu beachten und in Anschlag zu bringen. 3. Theologie und Sozialismus Wie notwendig es ist, den historischen Kontext zu berücksichtigen, zeigt in besonderer Weise die theologische Rezeption des Sozialismus.

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a) Religiöser Sozialismus. Ein religiöser Sozialismus bildete sich zuerst in der Schweiz um die Pfarrer Hermann Kutter (1863-1932) und Leonhard Ragaz (1868-1945). Die Schweizer Religiös-Sozialen sammelten sich schon vor dem 1. Weltkrieg um die Parole: „Der lebendige Gott und sein Reich für diese Welt". Sie wollten einen weltbezogenen, gesellschaftskritischen Glauben bezeugen und verkünden. Dies führte zur Verbindung christlicher Hoffnung (Eschatologie) mit den Vorstellungen des Sozialismus. Die religiösen Sozialisten in Deutschland entstanden hingegen erst nach dem 1. Weltkrieg als weithin rein kirchenpolitische Gruppierung. In ihrer Organisation, dem „Bund der religiösen Sozialisten Deutschlands" spiegelte sich zudem der Gegensatz zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten in der Weimarer Republik wieder. Sowohl der Einfluß der deutschen religiösen Sozialisten auf die SPD wie ihre Einwirkung auf die evangelische Kirche, deren Pfarrerschaft mehrheitlich deutschnational geprägt war, so daß man von einem Pastorennationalismus (K.W. Dahm) spricht, waren allerdings marginal. Noch geringer war freilich der Einfluß des „Bundes der katholischen Sozialisten Deutschlands", zu denen Ernst Michel (1889-1964) gehörte. In welchem Sinne nahmen diese Theologen und Christen den Sozialismus und sein Anliegen auf? Prägnant und formelhaft formulierte Leonhard Ragaz seine Deutung des Sozialismus. Für ihn ist der Sozialismus - besser und genauer würde man allerdings wohl sagen die „soziale Bewegung" - ebenso wie der Pazifismus ein Zeichen, Vorzeichen, ein „Durchbruch" des Reiches Gottes. „Das Zentrum des religiösen Sozialismus ist die Aufmerksamkeit auf das Tun des lebendigen Gottes und der Glaube an sein Reich" (1929) 6 : Die Zustimmung zum Sozialismus wird religiös begründet: „Ohne eine Ausgiessung des Geistes ist unser Sozialismus unmöglich" (1917). 7 Diese Auffassung des Sozialismus orientiert sich nicht an dessen politischer und wirtschaftlicher Programmmatik und erst recht nicht an einer politischen Praxis. Es ist ein Sozialismus als geistige Haltung: „Unser Sozialismus fliesst aus einer Gesinnung. Das Ziel, das er verwirklichen will, ist die

6

Zit. nach L. Ragaz, Gedanken. Aus vierzig Jahren geistigen Kampfes, Bern 1951, 119.

7

A.a.O.,119.

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Heiligkeit des Menschen und die Bruderschaft. Das Reich Gottes geht in keine Partei" (1942). 8 Ragaz selbst hat denn auch 1936 die Schweizer Sozialdemokratische Partei im Streit über die Zustimmung zum Schweizer Militärbudget verlassen. Ragaz mußte sich immer wieder gegen den Vorwurf verwahren, er identifiziere das Reich Gottes mit dem Sozialismus. „Wir meinten nicht, daß alle Wahrheit des Reiches Gottes im Sozialismus aufgehe. Auch im biblischen Sozialismus geschieht das nicht. Im Evangelium ist auch, politisch gesprochen, ein Liberalismus und eine Demokratie enthalten. Sie strömen alle aus dem Reiche Gottes und sollten in einer neuen Verbindung zusammenfließen. Und ganz selbstverständlich geht das Reich Gottes über alle Gestaltung gesellschaftlich-irdischer Ordnungen unendlich hinaus." 9 Der Sozialismus hat für Ragaz zwar eine Nähe, eine Affinität zum Evangelium. Sozialismus ist aber freilich bei ihm ein bloßer Tendenzbegriff, fast möchte man sagen: ein Ideal, ein transzendentes Ziel. Daher betont Ragaz: „Die ewige Wahrheit des Sozialismus muss von allen Versuchen ihrer Verwirklichung scharf unterschieden werden" (1933) 10 . Dieser ideale Sozialismus gerät dadurch notwendig in Spannung zum realen, zum existierenden Sozialismus. Ragaz warnt folglich nachdrücklich: „Nur eines ist nötig: daß der Sozialismus im Kampfe mit dieser Welt nicht sich selbst an sie verrate" (1919). Und er konstatiert nach der Spaltung der Sozialistischen Internationalen 1919: „Die schwersten Tragödien entstehen immer da, wo eine große und heilige Sache, um sich durchzusetzen, sich selbst verrät". 11 Der Sozialismus muß gewaltfrei sein: „Zum innersten Wesen des Sozialismus gehört der Gegensatz gegen alle Gewalt" (1919). 12 Im Rückblick nimmt sich ein Satz von Ragaz (von 1929) geradezu prophetisch aus: „Den Sozialismus auf Materialismus, Egoismus und Atheismus bauen, heißt ein Haus in den Sumpf bauen". 13 Die Sicht des Sozialismus bei Leonhard Ragaz ist so prinzipiell und umfassend, daß die Empirie diese Idee des Sozialismus über8 9 10 11 12 13

A.a.O.,120. A.a.O.,124. A.a.O.,123. A.a.O.,125. A.a.O.,126. A.a.O.,127.

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haupt nicht widerlegen kann. Der Vergleich des Sozialismus mit dem Reich Gottes belegt, daß dieser Sozialismus Glaubenssache und Hoffnungsziel ist. b) Paul Tillichs Kairosdeutung. Ganz anders ist der Zugang zum Sozialismus bei Paul Tillich (1886-1965). Bei Ragaz besteht ein enger Zusammenhang zwischen Sozialismus und Eschatologie (Reich Gottes). Für Tillich ist der religiöse Sozialismus zwischen 1919 und 1933 ein Thema der Geschichtsphilosophie als Gegenwartsdeutung. Er geht aus vom Sozialismus als Kirchenfrage. 14 Sein Ansatz ist die Entfremdung zwischen proletarischer Masse, die sich in der sozialdemokratischen Partei organisiert, und Kirche und Glaube. Neben der Erfahrung der Entfremdung, welche das Proletariat exemplarisch verkörpert, ist sodann Thema der Auseinandersetzung mit dem Sozialismus die Frage nach Recht und Unrecht, Macht und Ohnmacht seines Aufstandes gegen die Entfremdung. Im Sozialismus sieht Tillich dagegen ein Symbol dessen, was unbedingt angeht. Karl Marx rückte für ihn in die prophetische Tradition der biblischen Botschaft. Marxismus ist für Tillich prophetischer Protest (nicht Doktrin). Tillich versteht sich als apologetischen, „antwortenden" Theologen, der Zeitdeutung und Botschaft in ein Wechselverhältnis, in „Korrelation" setzt. Für ihn war die Weimarer Republik eine Zeit, ein Kairos der Beziehung von proletarischer Situation und protestantischem Prinzip, der bedingungslosen Annahme des Menschen durch Gott, wie sie die Rechtfertigungsbotschaft zusagt. Im Klassenkampf kam deswegen für den Theologen Tillich überhaupt eine menschliche Grundsituation, eben die Situation der Entfremdung, ans Licht. Mit der Emigration in die USA 1933 löste sich Tillich vom Sozialismus. Der „Kairos", die Stunde des Sozialismus war für ihn in Amerika vorbei. An die Stelle einer religiösen Deutung des Sozialismus trat für Tillich nach 1933 eine umfassende Theologie der Kultur. Tillich sah auch schon in der Weimarer Zeit selbst den Sozialismus dialektisch. Er sprach immer von Macht und Ohnmacht, Recht und Unrecht des Sozialismus. Vor allem erkannte und benannte er zwei Schwächen des Sozialismus. Zum einen: Der Sozia-

14

P. Tillich, Christentum und soziale Gestaltung. Frühe Schriften zum Religiösen Sozialismus, in: GW II, 1962, 13ff.: Der Sozialismus als Kirchenfrage (1919).

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lismus der Weimarer Zeit war angesichts des Ursprungsmythos der Politischen Romantik sprachlos: Nation und Volk waren für den Sozialismus keine Werte. Tillich setzte sich vor allem in seiner Schrift „Die sozialistische Entscheidung", 1933, die nach der nationalsozialistischen Machtergreifung nicht mehr ausgeliefert wurde, mit dem Nationalsozialismus und dessen Ursprungsmythos auseinander; Tillich entlarvte die Bindung an Rasse und Sippe als religiöse Entscheidung und somit als heidnischen Mythos. 15 Zum anderen: Der Sozialismus der Weimarer Zeit war in der Beurteilung der Macht und im Umgang mit der Macht theoretisch hilflos und scheiterte praktisch darum an der politischen Realität. Tillichs Beschäftigung mit dem Sozialismus setzte theoretisch und intellektuell an. Die sozialistische Bewegung war ihm ein Zeitphänomen, das theologischer Auslegung bedurfte. Mit der Veränderung des Kontextes verlor Tillich folgerichtig nach 1933 das Interesse am Sozialismus. An die Stelle der Beschäftigung mit dem Sozialismus trat die umfassende Deutung der geistigen Lage und die Erörterung der Utopie, in der Dialektik von Wahrheit und Unwahrheit von Utopien, unter Erörterung von deren Bedeutung und Grenzen. Sozialismus war nunmehr allenfalls eine Erscheinungsform utopischen Denkens. c) Karl Barth. Auch Karl Barth (1886-1968) gehört in diesen Zusammenhang.16 Das mag überraschen; denn hat nicht Karl Barth sich 1919 in Tambach im Vortrag „Der Christ in der Gesellschaft" vehement gegen jedes Bindestrich-Christentum, wie religiös-sozial oder christlich-sozial verwahrt und Front gemacht? Barths Tambacher Vortrag hat den religiösen Sozialismus in Deutschland faktisch wirkungslos gemacht, neutralisiert. Und war er nicht der Vater der Barmer Theologischen Erklärung, die neben der Offenbarung Gottes in Jesus Christus keine andere Offenbarung gelten läßt und als Quelle christlicher Verkündigung allein das Evangelium anerkennt? Nun: Karl Barth hat aus seiner Option für den Sozialismus

15 16

P. Tillich, Die sozialistische Entscheidung, in: GW 11,1962, 219-365. Vgl. H. Gollwitzer, Reich Gottes und Sozialismus bei Karl Barth, ThExh NF 169,1972. F. W.Marquardt, Theologie und Sozialismus. Das Beispiel Karl Barths, München 1972.

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nie ein Hehl gemacht. Er trat 1915 in Safenwil in der Schweiz der sozialdemokratischen Partei und 1932 demonstrativ nochmals in Bonn der deutschen Sozialdemokratischen Partei bei. Er arbeitete 1945 im Nationalkomitee „Freies Deutschland" in Basel mit. Friedrich-Wilhelm Marquardt, „Theologie und Sozialismus. Das Beispiel Karl Barths" hat sogar betont: Karl Barth war Sozialist: Barths Theologie sei nur von seinem sozialistischen Lebensakt her zu begreifen. Es gab damals ein Bild, in dem in der marxistischen Trias von Marx-Engels-Lenin Barths Kopf den Platz Lenins einnehmen sollte. Ist Barths Theologie also sozialistisch? Ganz unbestreitbar ist Barths Herkunft von den Schweizer Religiös-Sozialen. Der junge Barth schrieb: „Das sozialdemokratische Wollen zeichnet sich dadurch vor allen anderen Arten der Politik aus, daß da mit dem Absoluten, mit Gott politisch ernst gemacht wird." 1 7 Marquardt hat zurecht auf diese Genese und Herkunft der Barth'schen Theologie aufmerksam gemacht. Aber Marquardt verzeichnet nun doch mit seiner Deutung Barths theologisches Denken ganz entscheidend, wenn er den sozialistischen Lebensakt zur Grundlage der Barth'schen Theologie erhebt und Barth von daher interpretiert. Die kritische Auseinandersetzung mit Marquardts Deutung der Barth'schen Theologie hat eindeutig aufgezeigt, daß die theologischen Motive Barths eben nicht aus der Entscheidung für den Sozialismus herzuleiten sind. Gewiß hat Barth in den 20er Jahren in Deutschland sich von der deutsch-nationalen Einstellung vieler Theologen (auch Kollegen) abgesetzt - auch öffentlich. Und nach 1945 lehnte er das Konzept der Gründung der CDU entschieden ab, weil man sich dabei „gleich wieder auf diese Abgrenzung nach links so systematisch wie es mit einer Parteibildung geschieht", festlegt. 18 Barth hat die deutsche Nachkriegspolitik unter Adenauer mit heftiger und andauernder Kritik begleitet. Er hat sich in Ungarn (auch ungarischen Theologen gegenüber) von 1948 an und dann später in der DDR dafür ausgesprochen, daß die evangelischen Christen über den Eisernen Vor-

17

K. Barth (Christliche Welt 1914, Sp. 777), zit. bei: J. Wendland, 1916, 34.

Sozialethik

18

K. Barth, Brief an G. Heinemann 1946, in: Offene Briefe 1 9 4 5 - 1 9 6 8 , KarlBarth-Gesamtausgabe V, Briefe 1984, 58ff., Zitat 63. Vgl. K. Kupisch, Der Götze wackelt, 1961, 99.

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hang hinweg je an ihrem Ort das Evangelium bezeugen sollen. Dabei war Barths Intention allerdings nicht primär politisch bestimmt. In seinen politischen Urteilen hat er sich durchaus immer wieder geirrt, auch kräftig geirrt, oder von seinen Informanten irreführen lassen. Barth wollte sich freilich nicht vereinnahmen lassen - weder im Westen noch im Osten. Barths Sympathie für einen, wie auch immer zu definierenden Sozialismus ist darum politisch zu respektieren. Im übrigen hat Barth nie seinen Gebrauch des Begriffs Sozialismus genauer bestimmt. Wenn es bei Barth eine problematische Seite und eine Schwachstelle gibt, so ist diese allerdings genuin theologisch zu beschreiben. Barths Intention war es, nicht in den allgemeinen Antikommunismus nach 1948 einzustimmen. Er konnte deshalb auch im Staat der DDR nicht den Antichristen sehen. Das ist ein zu respektierendes Anliegen, zumal durch den Gegensatz von „Anti" allein noch keine respektable eigene Position sich ableiten läßt. Aus der Furcht vor einem pauschalen Antikommunismus hat es Barth manchmal freilich an der notwendigen Klarheit und Schärfe der Kritik der stalinistischen Praxis fehlen lassen. Barth war sicher selbst kein Stalinist, ja ein Kritiker jedes Stalinismus. Aber die säkularen Maßstäbe der Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit waren für ihn wiederum auch keine verbindliche und zureichende Grundlage der Kritik. Er wollte vielmehr streng theologisch reden. In einem viel verbreiteten Brief an einen Pfarrer in der DDR rief er dazu auf, den gesetzlichen Totalitarismus des DDR-Staates nicht zu fürchten. Denn: „,Totalitär', aufs Ganze gehend, jeden Menschen und jeden ganz für sich in Anspruch nehmend, ist ja auch die freie, wahrhaft göttliche und wahrhaft menschliche Gnade des Evangeliums, die Sie dort wie wir hier verkünden dürfen. Insofern könnte der kommunistische Staat wohl als deren, freilich arg verzerrtes und verfinstertes Gleichnis bezeichnet und verstanden werden." 19 Wenn aber sogar der totalitäre Staat ein „freilich arg verzerrtes und verfinstertes" Gleichnis der Gnade sein kann, dann relativierten sich damit alle politischen Unterschiede; und es verbot sich dann eine prinzipielle Kritik des real existierenden Sozialismus. Die Schwäche von Barths theologischen Stellungnahmen zum Sozialismus beruht somit einerseits

19

K. Barth, Offene Briefe 1945-1968, Karl-Barth-Gesamtausgabe V, 401-439, Zitat 421 f.

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auf seinem eigenen theologischen Totalitätsanspruch, zum anderen auf dem Verzicht auf vernünftige, human gültige Kriterien, wie die Menschenrechte, als Beurteilungsmaßstab. Vor Gott werden in Barths Sicht alle politischen Systeme relativ - das mag so sein, dispensiert aber doch auf Erden nicht von kritischer Unterscheidung und Bewertung. Im übrigen war K. Barth mit seiner Anerkennung des Sozialismus nach 1945 in guter Gesellschaft. Bischof Dibelius empfahl auf einem Berliner Kirchentag 1947 einen „Christlichen Sozialismus", nach dem das Wirtschaftsleben zu ordnen sei: Das Gebot der Nächstenliebe fordere, die Menschenwürde des Arbeiters zu respektieren, und das bedeute praktisch, „daß die Kirche den Kapitalismus nicht mehr als eine Wirtschaftsform ansehen kann, die vor den Forderungen des Evangeliums zu bestehen vermag." 20 d) In den 60er und 70er Jahren hat Helmut Gollwitzer besonders naiv, unkritisch und angesichts der faktischen Wirklichkeit im real existierenden Sozialismus sich geäußert „Die kapitalistische Revolution", 1974, und in Vorträgen mit dem Titel: „Muß ein Christ Sozialist sein?", „Ich bin Kommunist", „Warum ich als Christ Sozialist bin" 21 . Viel gutgemeinter Idealismus war hier mit einer seltsamen Ferne zur tatsächlichen Politik und Wirtschaft gepaart. Erinnert sei schließlich noch an das Darmstädter Wort des Bruderrates zum politischen Weg des deutschen Volkes 1947. Im 5. Satz wird hier bekennend erklärt: „Wir sind in die Irre gegangen, als wir übersahen, daß der ökonomische Materialismus der marxistischen Lehre die Kirche an den Auftrag und die Verheißung der Gemeinde für das Leben und das Zusammenleben der Menschen im Diesseits hätte gemahnen müssen. Wir haben es unterlassen, die Sache der Armen und Entrechteten gemäß dem Evangelium von Gottes Reich zur Sache der Christenheit zu machen." Auf dem Hintergrund der Erfahrung geschichtlichen Versagens der Kirche ist nach 1945 die Hinwendung von Theologen und Kirchenmännern zum Sozialismus zunächst einmal verständlich zu machen, zu respektieren, zu begreifen. Welche Konsequenzen erge20

O. Dibelius, Kirchliches Jahrbuch 72-75, 1 9 4 5 - 1 9 4 8 , Gütersloh 1950, 2 1 9 .

21

H. Gollwitzer, Forderungen der Umkehr, München 1 9 7 6 , 1 6 2 - 1 7 8 ; vgl. ders., Ausgewählte Werke 7, Bd. 2: Umkehr und Revolution. Aufsätze zu christlichem Glauben und Marxismus, 1988.

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ben sich freilich dann heute aus den Erfahrungen 1945 bis 1989, mit dem real existierenden Sozialismus in der DDR? Damit ist vom geschichtlichen Rückblick zu den gegenwärtigen Problemen und Fragen zurückzugehen. Hier ist zunächst noch einmal die ebenfalls nunmehr historisch gewordene Programmformel „Kirche im Sozialismus" kurz zu beleuchten, in Blick zu nehmen. 4. Kirche im Sozialismus Die Formel „Kirche im Sozialismus" ist an sich schon von vornherein zweideutig und inhaltsleer gewesen, weil, wie Vertreter des Sozialismus gelegentlich hinzufügten, sie wertungsfrei, unparteiisch sei.22 Götz Planer-Friedrich hat bereits 1988 die Formel „Kirche im Sozialismus?" mit einem Fragezeichen versehen und erklärt: „Eine Kompromiß-Metapher hat ausgedient". Richard Schröders kritische Analysen - 1988 und 1989 bereits vor der Wende in der Zeitschrift „Kirche im Sozialismus" veröffentlicht - haben damals schon alles Wesentliche zur Kritik der Formel gesagt. Es genügt deshalb, davon nur einiges in Erinnerung zu rufen. Die Formel war zunächst einmal eine Folge der Trennung des Bundes evangelischer Kirchen in der DDR von der EKD. Moritz Mitzenheim, der Thüringer Bischof, hat im Februar 1968 in einem Interview gesagt: „Wir wollen nicht Kirche gegen den Sozialismus sein, sondern Kirche für die Bürger in der DDR, die in einer sozialistischen Gesellschaft mit ungekränktem Gewissen Christen sein und bleiben wollen". Die Bischöfe der evangelischen Landeskirchen nahmen etwa gleichzeitig in einem Brief an den Staatsratsvorsitzenden Stellung zum Verfassungsentwurf der DDR (Brief aus Lehnin vom 15.2.1968): „Als Staatsbürger der Deutschen Demokratischen Republik und als Christen gehen wir davon aus, daß nach dem durch deutsche Schuld begonnenen Krieg nun auf dem Boden der deutschen Nation zwei deutsche Staaten bestehen ... Als Bürger eines sozialistischen Staates sehen wir uns vor die Aufgabe gestellt, den Sozialismus als eine Gestalt gerechteren Zusammenlebens zu verwirklichen". Richard Schröder hat zutref-

22

Vgl. zum folgenden: R. Schröder, Denken im Zwielicht, Tübingen 1990, v.a. 4954: Was kann „Kirche im Sozialismus" sinnvoll heißen?; 149-159: Nochmals „Kirche im Sozialismus".

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fend die Formel als „Ersatz für das fehlende Konkordat" zwischen Staat und Kirche charakterisiert. 2 3 Eine Sozialismusdiskussion ist freilich weder beim Aufkommen der Formel noch während ihres Gebrauchs geführt worden. Es blieb also von Anfang an unklar, in welchem Sinne überhaupt vom Sozialismus gesprochen wurde. Die Eisenacher Synode im Juli 1971 formulierte: „Eine Zeugnis- und Dienstgemeinschaft von Kirchen in der D D R wird ihren Ort genau zu bedenken haben: In dieser so geprägten Gesellschaft, nicht neben ihr, nicht gegen sie". Die Schweriner Synode 1973 prägte dann die vielzitierte Formel „Wir wollen nicht Kirche neben, nicht gegen, sondern im Sozialismus sein". Zugleich wurde aber auch stets betont, daß es eine „sozialistische Kirche" eine „sozialistische Theologie" nicht geben könne. In der dazwischenliegenden Synode 1972 in Dresden hatte Heino Falcke vom „verbesserlichen Sozialismus" gesprochen. Das wurde staatlicherseits als politisch unzulässig abgelehnt. Das schließt noch einmal an die komparativische Formulierung im Brief der Bischöfe aus Lehnin an, der Sozialismus sei „als eine Gestalt gerechteren Zusammenlebens zu verwirklichen". Die Reaktion auf Falckes Referat machte dann freilich mit aller Härte deutlich, daß die Machthaber der SED den Sozialismus nicht für verbesserbar, sondern eben für unverbesserlich hielten. Die Presse beschimpfte Falcke als Revisionisten. Jede Diskussion über Mängel des „real existierenden Sozialismus" wurde strikt unterbunden. Die Formel „real existierender Sozialismus" erklärte den Sozialismus somit nicht für verbesserungsbedürftig und verbesserungsfähig. Richard Schröder hat an der Formel „Kirche im Sozialismus" mit Recht ihre Mehrdeutigkeit kritisiert. Sozialismus kann nämlich 1. ein Programm der politischen Gestaltung der Gesellschaft meinen, mit dem Ziel eines gleichberechtigten und freien Zusammenlebens der Bürger, unter besonderer Berücksichtigung der Benachteiligten und Behinderten. Gegen diesen weiten Sozialismusbegriff kann kein vernünftiger Mensch etwas haben. Es ist vielmehr eine ethische Aufgabe, die sozialen Verpflichtungen sowohl persönlich als auch in der Gesellschaft insgesamt wahrzunehmen. 2. Sozialismus kann sodann die politische Programmatik und Ideologie der SED meinen.

23

A.a.O., 149, dort ist auch die Formel von Lehnin zitiert.

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„Kirche im Sozialismus" bedeutet dann die Anerkennung des Programms der SED. Richard Schröder hat dagegen 1988 eindeutig und scharf herausgestellt, daß und warum die Kirchen das Programm der SED gerade nicht anerkennen können und sich aus theologischen Gründen nicht zum Sozialismusverständnis der SED zu bekennen vermögen 24 . Abgesehen von dem atheistischen und religionskritischen Bekenntnis des SED-Sozialismus, sind nämlich viele Aussagen und Ziele dieser Ideologie nicht akzeptabel. Einige Voraussetzungen des SED-Programms beruhen auf mit dem christlichen Glauben unvereinbaren anthropologischen und geschichtsphilosophischen Voraussetzungen, wie z.B. die Selbsterzeugung des Menschen durch Arbeit oder die innergeschichtliche Aufhebbarkeit von Entfremdung und zweideutigen Verhältnissen. Andere Aussagen verabsolutieren relative Hypothesen zu letzten Wahrheiten, wie z.B. die wirtschaftspolitischen Thesen von der Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln oder von der Leistungsfähigkeit der Planwirtschaft. Indem solche Aussagen zu absoluten Wahrheiten stilisiert werden, sind sie damit grundsätzlich empirischer Falsifikation entzogen. Einige Aussagen des SED-Programms waren offensichtlich irreal, z.B. Formulierungen wie „allseitig gebildete Persönlichkeit" niemand weiß und kann alles! - oder „Befriedigung aller Bedürfnisse". Einige Ziele des Programms sind nicht wünschenswert: Die Aufhebung des Unterschieds von Staat und Gesellschaft und die Erwartung eines Absterbens des Staates verhindern gesellschaftlichen Pluralismus und unterdrücken die Freiheit der Bürger. Wird das Recht als Machtmittel des Staates verstanden, so zerstört dies die Rechtsstaatlichkeit. Kurzum: Der Absolutheits- und Heilsanspruch des Sozialismusprogramms der SED ist mit christlichem Glauben unvereinbar. Dabei mag es durchaus punktuell bei Einzelfragen zu übereinstimmenden Beurteilungen zwischen christlicher Ethik und einem solchen Sozialprogramm kommen. Prinzipiell abzulehnen ist jedoch die „Pseudometaphysik" (Richard Schröder) 25 , die hinter dem Programm steht. Die 3. Auffassung von Sozialismus begreift „Sozialismus" nur als „Name" für die gesellschaftliche Realität der DDR. Schröder nennt diesen 3. Gebrauch von „Kirche

24 25

A.a.O., 50f. A.a.O., 52.

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im Sozialismus" eine „Anerkennungsformel" 26 und schlug 1988 vor, den existierenden Sozialismus durch die weniger irreführende Formel „Kirche in der DDR" zu berücksichtigen. 27 Diese Formel enthält für ihn eine dreifache Anerkennung: „a) Anerkennung dieser Gesellschaft als des Orts der Christen und der Kirchen in der DDR; b) Anerkennung des sozialistischen Staates als Staat; c) Anerkennung des weltpolitischen Ortes der DDR". 2 8 Eine derartige Anerkennungsformel ist nach der Wende 1989/90 in der Realität hinfällig, obsolet geworden. Der Staat DDR existiert nicht mehr; die Zugehörigkeit zum „sozialistischen Lager" ist Historie. Mit diesem Staat ist aber auch dessen Politikverständnis dahingefallen: Technizistisch wurden hier „Projekte" geplant und durchgeführt. Man mußte alle Kräfte „mobilisieren" und „konzentrieren", um diese Projekte zu verwirklichen. Eine Geschichtstheorie muß die Tagespolitik legitimieren. Mit Schröders Begriff „Legitimationsmaximalismus" kann man verdeutlichen, daß „die Geschichte" in dieser Auffassung vom Sozialismus dazu dienen mußte, politisches Handeln unmittelbar zu legitimieren, ohne sich von der Zustimmung der Bürger, von demokratischer, also mittelbarer Legitimation abhängig zu machen. 29 „Die" Gesellschaft stellte man sich dabei als zum gemeinsamen Werk vereinte Baubrigade vor, die der Fabrikdisziplin unterworfen werden muß. R. Schröder fordert zu recht: „Vernünftige Politik dagegen muß zuerst als praxis, nicht als poiesis vollzogen werden, als Verständigung über die gemeinsamen Angelegenheiten und als Wahrnehmung dieser gemeinsamen Angelegenheiten nach einem anerkannten und möglichst konstanten Modus klarer Zuständigkeiten". Das Ende des real existierenden Sozialismus in der DDR hat inzwischen die Formel „Kirche im Sozialismus" also zu einem Stück Historie werden lassen. Eine Theologie oder Kirche für den Sozialismus gab es zwar niemals. Aber was bleibt vom Sozialismus heute noch gültig? Über das Erbe des Sozialismus geht nunmehr der Streit.

26 27 28 29

A.a.O., A.a.O., A.a.O., A.a.O.,

151. 54. 151. 158f.

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5. Welche Perspektiven eröffnen sich heute? Es fällt leichter zu sagen, was nicht bleibt und was nicht vom DDRSozialismus bleiben kann: Ein Sozialismus, der Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte mißachtet und mit der Schnüffelpraxis der Stasi Bürger einschüchterte und unterdrückte, ist mit den Grundsätzen einer menschenwürdigen und freiheitlichen Gesellschaft und mit dem Rechtstaat unvereinbar. Dieses repressive Unrechtsregime ist zum Glück und Gott sei Dank beseitigt. Inwieweit totalitärer Terror, Stalinismus, in der Konsequenz des wissenschaftlichen Sozialismus Marxscher Prägung notwendigerweise liegt, ist eine offene, viel diskutierte aber eben nicht leichthin zu verneinende Frage. Der Satz, der auf dem Denkmal von Marx und Engels vor der Volkskammer aufgesprüht ist, stimmt nicht: „Wir sind unschuldig". Gescheitert ist ferner das Wirtschaftssystem des Sozialismus in der DDR. Arthur Rieh hat im 2. Band seiner „Wirtschaftsethik" 1990 die beiden Wirtschaftssysteme Marktwirtschaft und zentralverwaltete Planwirtschaft verglichen. Der Text Richs war bereits vor der Wende 1989 fertig. Rein abstrakt an Kriterien des Menschengerechten gemessen sind zwar beide Wirtschaftsysteme ethisch zu legitimieren. Problematisch ist freilich der anthropologische Ansatz einer zentralgesteuerten Planwirtschaft, der das Eigeninteresse der Produzenten und Konsumenten als Stimulans ausklammert und statt dessen gegen Abweichler zu Maßnahmen der Repression greifen muß. Der Träger der Wirtschaft kann nur der wirkliche Mensch sein, der seinen Eigeninteressen folgt, nicht ein idealer, „guter" Mensch, den man immer erst noch schaffen muß (oder zum Guten zu zwingen versuchen muß). Vor allem aber scheitert die Planwirtschaft an der Realität: Sie ist nicht sachgerecht. Eine umfassende Planung ist unmöglich. Die Zentralverwaltung ist unbeweglich, ineffektiv, nicht innovationsfähig. Die gesellschaftlichen, ökonomischen und ökologischen Schäden, die 40 Jahre DDR-Sozialismus hinterlassen haben, liegen überall zu Tage und sprechen eine klare Sprache. Widerlegt ist ferner der Heilsanspruch einer sozialistischen Theorie, die mithilfe ihrer Geschichtsphilosophie ein immanentes Ziel der Geschichte verwirklichen wollte. Eine Welterklärung ohne Gott und die ideologische Überhöhung politischer Programmatik hat offenkundig werden lassen, wieviel „Vernunft" hingegen christlicher

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Glaube gerade mit seiner Botschaft von Sünde und Erlösung enthält: Die Welt ist eben nicht vom Menschen vollkommen zu machen, zu erlösen, so notwendig es ist, vermeidbare Übel zu bekämpfen und zu beseitigen. Der Sozialismus als säkularisierte, gegenchristliche Heilslehre hat seine Absurdität erwiesen. Fragwürdig erscheint schließlich ein abstraktes Gleichheitsideal. Der Preis der Freiheit ist stets Ungleichheit, Verschiedenheit. Nur Unfreiheit kann völlige Gleichheit - dann freilich nur auf einem minimalen Niveau - herstellen. Die Aufgabe, die freilich unendlich ist, kann deshalb nur darin bestehen, einen ständigen Ausgleich zwischen Freiheit und Gleichheit zu suchen und zu finden. An dies kann freilich der rheinische Präses - hoffentlich! - gedacht haben, wenn er ohne solche differenzierende Analyse im Brief an die rheinischen Pfarrer vom 24. April 1990 vor einer „wohlfeilen Sozialismusschelte" warnte. Er begründete seine Warnung so: „Jedem war längst klar, daß der sogenannte ,real existierende Sozialismus' in den uns bekannten Ausprägungen mit Sozialismus im Wortsinne nichts mehr gemein hatte. Sicher bleibt christliches Denken im Grundsatz unterschieden von allen optimistischen Menschenbildern, die der Heiligen Schrift widersprechen. Gleichwohl bewahrt der Begriff Sozialismus' ein unaufgebbares Humanum, eine Vielzahl von unerprobten Möglichkeiten, die zu lästern Christen schlecht ansteht. Der Sozialismus wurde, daran ist nachdrücklich zu erinnern, aus nackter Not geboren. Nicht zuletzt deshalb, weil die Christenheit weithin während der industriellen Revolution im vorigen Jahrhundert dem Leiden des Proletariats nichts entgegenzusetzen hatte. Wir machen uns vor unseren Nachbarn in Europa lächerlich, wenn wir uns an einer sinnlosen und geschichtsvergessenen Kampagne beteiligen." Richtig an diesen Sätzen ist sicherlich die Empfehlung, die Geschichte von Sozialismus und Sozialismusbegriff insgesamt und umfassend aufzuarbeiten. Aber mit emotionalen Bekenntnissen zum Sozialismus allein ohne analytische Untersuchung wird dies nicht gelingen. Deshalb haben seine Ausführungen auch viel Widerspruch erhalten. Mit der bloßen Unterscheidung von Realität, die bleibe, ist es ebenfalls mitnichten getan. Denn wenn aus dem Debakel des östlichen Sozialismus etwas zu lernen ist, dann dies, daß eben zwischen politischer Pragmatik und Grundorientierung („Idee") zu unterscheiden ist und Pluralismus für die Begründung gefordert

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werden muß. Konkrete politische und ökonomische Entscheidungen werden hoffentlich diskutiert und in demokratischen Verfahren getroffen werden. Eine Legitimation durch die Berufung auf eine unanfechtbare Idee, auf eine absolute Wahrheit führt hingegen letztlich zu totalitärer Praxis, zum Totalitarismus. Das „unaufgebbare Humanuni" kann deshalb gerade nicht der Sozialismus, sondern allenfalls die Achtung der Unverfügbarkeit der Menschenwürde der Person sein. Für die Anerkennung und Achtung der Menschenwürde hat aber keine politische Theorie oder Ideologie ein Privileg. Was vom Sozialismus und seiner Geschichte bleibt ist also allenfalls ein kritisches Potential. Die Tradition des Sozialismus sollte wachsam und sensibel machen für gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Ungerechtigkeiten und einer Verabsolutierung der Freiheit wehren, die sich auf Kosten anderer breitmacht. Solidarität und Sozialpflichtigkeit sind genauso Grundwerte wie Freiheit. Diese soziale Dimension ist auch gegenüber einer zügellosen kapitalistischen Marktwirtschaft und vor allem angesichts der Ungerechtigkeit in der Weltwirtschaft mit Nachdruck zur Geltung zu bringen. Der Gedanke des Sozialstaates trägt dieser Forderung freilich genauso Rechnung wie der Sozialismus. Die soziale Ausgestaltung der Gesellschaft bleibt eine ständige, un-endliche Aufgabe: „Am Ende" sind sicher manche Konzepte und Konzeptionen, vor allem eine feste Ideologie des Sozialismus. Daß diese am Ende sind, ist insofern vielleicht sogar eine Chance, sofern dies die Möglichkeit neuer Überlegungen eröffnet und erzwingt. Nicht „am Ende" ist hingegen die Aufgabe sozialer Verantwortung, welche die Not und das Leiden von Mitmenschen wahrnimmt, und Elend und Armut nicht ins Abseits abdrängt und im Dunkeln verheimlicht. Nicht am Ende ist für Christen und Kirche ebenfalls die Aufgabe, an einer menschlicheren Gestaltung der Gesellschaft mitzuarbeiten und politische Diakonie wahrzunehmen. Die soziale Marktwirtschaft, an deren Anfängen u.a. die Freiburger Denkschrift stand, bemühte sich um eine Versöhnung der berechtigten Anliegen von Liberalismus und Sozialismus. Sie hat sich bewährt. Sie hat sich vor allem deshalb bewährt, weil sie wandlungsfähig, anpassungsfähig war. Daraus folgt nicht die Empfehlung für eine Entwicklung der Wirtschaft in Richtung auf Sozialismus hin. Die sozialen Ansprüche können auch luxurieren. Und vieles was der Sozialismus erstmals forderte, ist heute von der sozialen Markt-

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Wirtschaft eingelöst. Heute kommen auf die Wirtschaft und Wirtschaftsordnung drei andere Probleme vordringlicher zu. Das erste ist das ökologische Problem. Not und ungleicher Wohlstand sind hierarchisch, Smog und Umweltbelastungen sind demokratisch. Ob die soziale Marktwirtschaft ihren ökologischen Verpflichtungen rechtzeitig nachkommen wird, mag man mit Skepsis betrachten. Gibt es aber eine Wirtschaftsordnung, die flexibler, innovationsfähiger und damit besser und rascher imstande wäre, den ökologischen Gefahren zu begegnen? Das zweite Problem ist das der internationalen Verträglichkeit. Asylanten und Wirtschaftsflüchtlinge bringen uns das Problem ins Land, ins eigene Haus. Eine Übertragung der sozialen Marktwirtschaft auf Weltebene ist bislang nicht gelungen. Die Herausforderung an die internationale Gerechtigkeit ist eminent. Und es ist noch nicht erwiesen, ob die Demokratie in der Lage ist, diesen beiden Herausforderungen gerecht zu werden. Damit stellt sich das 3. Problem, ob Demokratie und Marktwirtschaft vereinbar sind. Auch in Diktaturen kann es Marktwirtschaft geben. Für Lenin war die Kriegswirtschaft Deutschlands im 1. Weltkrieg das Vorbild seiner Kommandowirtschaft. Es gibt keine prästabilierte Harmonie von Marktwirtschaft und Demokratie, so sehr sich beide in den letzen Jahrzehnten gestützt und gefördert haben. Die Großtechnik ist nicht von Hause aus demokratiefreundlich. Der Sozialismus östlicher Prägung hat diese Herausforderung zum Teil gar nicht erkannt und erst recht keine Antworten auf sie gefunden. Diese Herausforderungen richten sich an jede Form des Wirtschaftens, nicht nur an die Marktwirtschaft. Es sind dies alles zugleich Herausforderungen nicht in erster Linie an die Wirtschaft, sondern an Politik und Kultur, also an die staatliche Rahmensetzung und an die politische Willensbildung wie an die Lebensführung und Lebensbedürfnisse jedes Teilhabers an der Wirtschaft. Die Wirtschaft kann diesen Herausforderungen nicht entfliehen; sie muß darauf neue Antworten finden, so wie die Einimpfung des Sozialen in die Marktwirtschaft eine Reaktion auf den Sozialismus war. Sehen wir deshalb heute, wie relativ die Debatte um den Sozialismus angesichts dieser weltweiten Probleme geworden ist. Wie soll die Kirche mit diesen Problemen umgehen? Wenn die Kirche überhaupt aus dem Scheitern des real existierenden Sozialismus etwas für sich selbst lernen will und kann, dann wohl dies, daß angesichts der weltweiten Herausforderungen niemand mehr ein absolut wirksa-

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mes Rezept zur Lösung der Probleme hat und darum eine nüchterne Prüfung aller Vorschläge daraufhin erforderlich ist, inwieweit sie zugleich sachgerecht und menschengerecht sind. Die Sozialismusdebatte wird dann zur Anfrage an die evangelische Kirche selbst und vor allem an ihre Amtsträger, wieweit sie lernfähig und tolerant sind, ob sie mit einem innerkirchlichen Pluralismus, einem Pluralismus der Interessen, der Ideen und der Handlungsvorschläge gelassen umgehen können, oder ob nicht vielmehr sogar gerade durch die Berufung auf einen Totalitätsanspruch der Verkündigung des Evangeliums die Kirche selbst ihrerseits totalitär werden kann. Aufzuarbeiten blieb nach dem Ende des real existierenden Sozialismus also viel, nicht nur aus dessen Geschichte. Die Sozialismusdebatte reicht auch an die theologischen Grundlagen kirchlicher Äußerungen heran, ob diese selbst immer zureichend zwischen Gott und Welt, zwischen Evangelium und vernunftgerechter Gesellschaftsgestaltung unterschieden haben. Wenn es um die Diskussion des Sozialismus und seiner Zukunft noch weiterhin gehen soll, darf es deshalb auf keinen Fall um eine Glaubensfrage gehen, sondern es muß deutlich werden, daß eine relative, vorläufige, mit kritischem Verstand zu prüfende Aufgabe und Überlegung ansteht. Man sollte sich - so oder so - den Rückblick auf den Sozialismus dabei allerdings nicht zu leicht machen.

9. Reformatorische und revolutionäre Sicht eschatologischer Freiheit Aus Anlaß des Thomas-Müntzer-Gedenkens im Kirchenbund der DDR wurde ich für Januar 1989 als Referent für eine Mulitplikatorentagung in das Pastoralkolleg Templin eingeladen. Der Vortrag sollte die Überschrift tragen: „,Er stößt die Gewaltigen vom Thron' - Reich Gottes und Revolution"; Fragestellung und Akzentuierung waren damit vorgegeben. Die Zeitschrift „Die Zeichen der Zeit" erbat im Sommer 1989 das Manuskript; aus „Platzgründen" so die Begründung- wurde es nicht veröffentlicht. In überarbeiteter Form wurde der Text unter dem Leitgedanken „Eschatologische Freiheit. Reformatorisches und revolutionäres Freiheitsverständnis" 1992 in der Festschrift für Christian Walther veröffentlicht. Diese Fassung des Textes wird wiederabgedruckt. Eschatologisch kann bedeuten endzeitlich, aber auch endgültig und sogar vollendet, vollkommen. Christian Walther hat seiner „Einführung in neuzeitliche Gestalten eschatologischen Denkens" unter die Überschrift „Eschatologie als Theorie der Freiheit" (1991) gestellt. Er verknüpft dadurch das eschatologische Denken mit der Freiheitsthematik. In der Tat zeigt es sich, daß ein unlösbarer Zusammenhang besteht zwischen den Vorstellungen von einem gelungenen Leben und einem unüberbietbaren Heil, für welche das Symbol des Reiches Gottes steht, und den jeweiligen Freiheitsvorstellungen und -erwartungen. „Reich Gottes weist... als Symbol für ein Reich vollendeter Freiheit gleichzeitig auch auf den Zustand vollendet überwundener Entfremdung und überhaupt auf das Glück als gelungenes Leben" 1 . Im Teil der „rezeptionsgeschichtlichen Stadien und Aspekte" stellt Christian Walther in dem Abschnitt „Reich Gottes, Vergebung der Sünde und Freiheit bei Luther"2 Luthers Verständnis von 1

C. Walther, Eschatologie als Theorie der Freiheit, 1991, Vorwort S. VII.

2

A.a.O., S. 4 7 - 5 4 .

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Eschatologie und Freiheit dem Verständnis bei Thomas Müntzer gegenüber. Der folgende Beitrag soll an diesen beiden Namen und Symbolgestalten idealtypisch Auffassungen von Reich Gottes und Freiheit veranschaulichen, so daß dabei Differenzen in der Interpretation von „eschatologischer Freiheit" ans Licht treten können. Dabei wird Thomas Müntzer als Symbolträger einer „Theologie der Revolution" und als historische Metapher im Mittelpunkt der Überlegungen stehen.

I. Martin Luther 1. Reich Gottes im Verständnis Martin Luthers Martin Luther legt im Kleinen Katechismus die zweite Vaterunserbitte „Dein Reich komme" so aus, daß er fragt: „Was ist das?" und antwortet: „Gottes Reich kömmpt wohl ohn unser Gebet von ihme selbs, aber wir bitten in diesem Gebet, daß es auch zu uns komme". Auf die Frage: „Wie geschieht das?" lautet die Antwort: „Wenn der himmlische Vater uns seinen heiligen Geist gibt, daß wir seinem heiligen Wort durch seine Gnade gläuben und göttlich leben, hie zeitlich und dort ewiglich". Das Reich Gottes ist, so Luther, durch den Glauben in den Herzen gegenwärtig. In diesem Sinne deutet er auch die Sündenvergebung im Abendmahl: „denn wo Vergebung der Sunde ist, da ist auch Leben und Seligkeit". Das Reich Gottes ist identisch mit der Erlösung durch Christus, daß er uns „frei machete von der Gewalt des Teufels und zu sich brächte und regierete des ein König der Gerechtigkeit, des Lebens und Seligkeit wider Sunde, Tod und böse Gewissen, dazu er auch seinen heiligen Geist geben hat, der uns solchs heimbrächte (d.h. herzubringt) durch sein heiliges Wort und durch seine Kraft im Glauben erleuchtete und stärkte". 3 Gottes Reich kommt zeitlich allein im Wort und durch den Glauben zu uns und ewig in der Offenbarung der Herrlichkeit Gottes am Ende der Zeiten. Die Bitte um das Kommen des Reiches ist zum einen das Gebet um Gottes Wort, „daß das Evangelium rechtschaffen durch die Welt gepredigt werde, zum andern, daß auch durch den Glauben 3

M. Luther, Großer Katechismus, Auslegung der 2. Bitte, BSLK 1 9 8 6 1 0 , S. 673, Nr. 51.

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angenommen werde, in uns wirke und lebe, daß also Dein Reich unter uns gehe durch das Wort und Kraft des heiligen Geistes und des Teufels Reich niedergelegt (vernichtet) werde, daß er kein Recht noch Gewalt über uns habe, bis es endlich gar (ganz) zerstöret, die Sunde, Tod und Helle vertilget werde, daß wir ewig leben in voller Gerechtigkeit und Seligkeit"4. Gottes Reich, so Luther und die ihm folgende reformatorische Deutung, ist ein geistliches Reich, ein Reich des Glaubens, kein weltliches Reich, kein politisches Reich. Das Reich Gottes ist „regnum remissionis peccatorum" 5 , das Reich der Gnade. Dementsprechend bekennt die Augsburgische Konfession: „Dann das Evangelium lehrt nicht ein äußerlich, zeitlich, sondern innerlich, ewig Wesen und Gerechtigkeit des Herzens und stoßet nicht um weltlich Regiment, Polizei und Ehestand, sondern will, daß man solchs alles halte als wahrhaftige Gottesordnung, und in solchen Ständen christliche Liebe und rechte gute Werk, ein jeder nach seinem Beruf, beweise." (CA 16). Der „konservative" Grundzug der lutherischen Reformation ist (auch) in ihrer Eschatologie begründet. In Artikel 17 der Augsburgischen Konfession „Von der Wiederkunft Christi zum Gericht" werden verworfen „auch etlich judisch Lehren, die sich auch itzund eräugen, daß vor der Auferstehung der Toten, eitel Heilige, Fromme ein weltlich Reich haben und alle Gottlosen vertilgen werden." Dieses Damnamus sollte auch Thomas Müntzer treffen! 2. Freiheit im Verständnis Luthers Die Unterscheidung von Reich Gottes, das nur innerlich, im Glauben gegenwärtig ist, und Reich der Welt, das ein äußerliches Reich ist, bestimmt Luthers Freiheitsverständnis. Die grundlegende reformatorische Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen" (1520) ist durchzogen von der Unterscheidung zwischen „innerlicher" und „äußerlicher" Freiheit. Die theologische Grundsatzformel, welche die Überlegungen der Schrift leitet, faßt zusammen: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemanden Untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jeder4 5

A.a.O., S. 674, Nr. 54. Ders., WA 15,727,1.

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mann Untertan." Diese Dialektik von Herrsein und Knechtsein, von Herrsein in der Vollmacht des Glaubens und Knechtsein in der Dienstbarkeit der Liebe ist das durchgängige Thema der Freiheitsschrift. 6 An Luthers These ist von Max Scheler und Herbert Marcuse massive Kritik geübt worden: 7 Sie werfen Luther vor, daß er mit dem Lob der Innerlichkeit „eine große Lebenslüge" (Max Scheler) der Deutschen verursacht habe. Aus dem Rückzug des Glaubens in die Innerlichkeit des Herzens erwachse nämlich zugleich die Anerkennung des Materialismus der äußeren Lebenspraxis und die Verherrlichung der Gewalt in der Politik. Angesichts solcher Kritik ist in Erinnerung zu rufen, daß Freiheit ein außerordentlich vielschichtiger Begriff ist. „Er ist vieldeutig: Freiheit kann sowohl negative wie positive Auswirkungen haben; sie kann mißbraucht werden, um Leben zu zerstören, sie kann aber umgekehrt dem Leben förderlich sein und Lebensvorzüge ausbilden helfen." 8 Die Spannweite des Freiheitsbegriffs reicht von der äußeren Freiheit der Selbstbestimmung, den Grundfreib eitert der Menschenrechte, die Bürgern gesellschaftliches Handeln ermöglichen, über die psychologische Handlungsfreiheit, die Willensfreiheit, das innere Vermögen, sich selbst frei zu bestimmen, bis hin zur Befreiung von den den Menschen bannenden und gefangennehmenden Mächten des Todes, des Bösen, der Sünde im Glauben. Die theologische Frage nach der Möglichkeit von Freiheit ist nicht die der Philosophie: Was ist Freiheit und was konstituiert Freiheit als sittliche Autonomie?, sondern die Frage: Was ermächtigt zur Freiheit? Wie kann der Mensch überhaupt frei werden? Mit der Freiheitsfrage ist für den Theologen die Gottesfrage und die Heilsfrage unlösbar verbunden. 9 Die Frage nach der Möglichkeit von Freiheit stellt sich theologisch in der Spannung von Sünde und Gnade, von servum arbitrium des Menschen vor Gott und conscientia liberata, dem durch das Wort der Rechtfertigung befreiten Gewissen. Diese Freiheit des Glaubens ist nicht als politische Freiheit zu mißdeuten und mit ihr gleichzusetzen. Sie ist nur eine dem Glauben zugängliche 6

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Zur Interpretation von Luthers „Tractatus de libertate christiana" vgl. E. Jüngel, Zur Freiheit eines Christenmenschen. Eine Erinnerung an Luthers Schrift, 1978. Vgl. zu dieser Kritik: A.a.O., S. 59ff. C. Walther, a.a.O., S. 12. Vgl. G. Ebeling, Frei aus Glauben, SgV 250, 1968, S. 16. = Lutherstudien I, 1971, S. 308-329.

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Freiheit. Gerade die so verstandene Freiheit des Glaubens hat freilich sodann über ihr Verhältnis zur politischen Freiheit zu reflektieren. Politische Freiheit muß zwar unabhängig von der Glaubensfreiheit gewährt werden. Sie ist ein Menschenrecht. Umgekehrt kann es aber der Glaubensfreiheit nicht gleichgültig sein, wie es um die politische Freiheit steht. Die Notwendigkeit der Unterscheidung zwischen der Sache politischer Freiheit und der Freiheit des Glaubens hat die Reformation eingeschärft. Wie aber steht es um die Zusammengehörigkeit beider? Kann man sich mit der Feststellung begnügen, die im Glauben geschenkte Freiheit vor Gott mache frei zur Verantwortung für die Welt? Bleibt eine derartige Freiheit zur Verantwortung nicht formal und weitgehend inhaltsleer und unbestimmt? Das ist dann die kritische Anfrage Thomas Müntzers an das reformatorische Freiheitsverständnis, dem er seine revolutionäre Sicht von Freiheit entgegensetzt. Christliche Freiheit, so Müntzer, ist eine weltverwandelnde Freiheit und darum revolutionär. 3. Marxistische Lutherdeutung Ehe Müntzer kontrastrierend Luther verglichen wird, soll kurz ins Gedächtnis gerufen werden, daß im Lutherjähr 1983 die Lutherehrung in der DDR den Reformator Martin Luther ausdrücklich in das kulturelle Erbe aufnahm.10 Den anerkannten Platz im Kulturerbe konnte seitdem nicht mehr allein die revolutionäre Tradition des Bauernkrieges und Thomas Müntzer beanspruchen. Dabei werden dann freilich in der marxistischen Rezeption Luthers Theologie, sein Rechtfertigungs- und Gnadenverständnis, sein Kirchenbegriff, seine Berufung auf die Autorität der Schrift zum Problem. Kann man Luthers sozioökonomische und politische Reformvorstellungen positiv würdigen, ohne seine Theologie zu beachten? Dabei geht es nicht nur um Luthers Stellungnahme im Bauernkrieg. Vielmehr reicht 10

Vgl. Dazu: H. Löwe/C.J. Röpke (Hg.), Luther und die Folgen. Beiträge zur sozialgeschichtlichen Bedeutung der lutherischen Reformation, 1983, darin: S. 135-159: A. Laube, Martin Luther in der Erbe- und Traditionsauffassung der Deutschen Demokratischen Republik; S. 160-180: G. Brendler, Religiöse Potenzen und Wirkungen der Theologie Martin Luthers. S. Bräuer, Martin Luther in marxistischer Sicht von 1945 bis zum Beginn der achtziger Jahre, Evangelische Verlagsanstalt Berlin 1983. C. Röpke (Hg.), Luther 83. Eine kritische Bilanz, 1984, darin: S. 134-157: S. Bräuer, Zur Begegnung zwischen marxistischer und theologisch-kirchlicher Lutherforschung in der DDR.

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die Frage an die geistigen Fundamente: Kann man eine Gesellschaft verstehen, ohne ihre religiösen, geistlichen Grundlagen mit zu sehen? Dasselbe gilt dann freilich auch im Blick auf Thomas Müntzer. Das marxistische Lutherbild stellt also vor die grundsätzlichen Frage nach der Beziehung zwischen Gesellschaftstheorie, z.B. der Klassenkampfideologie, und einer theologischen Weltdeutung. Was ist eigentlich an einer Theologie „revolutionär" - ist es ihre gesellschaftsverändernde Wirkung oder ist es ihr Einfluß auf Überzeugungen und Gewissen des je Einzelnen? Vermutlich kann man so alternativ gar nicht fragen, sondern muß ein Wechselverhältnis von persönlicher Überzeugung und sozialen Strukturen ansetzen, hat also theologisches und politisches Verständnis des Menschen, beispielhaft etwa im Freiheitsverständnis, komplementär zu begreifen. Und tragen dann noch Etiketten wie progressiv und konservativ (oder gar: „reaktionär") überhaupt noch zur Klärung bei? Nimmt man Luther und Müntzer als Symbolfiguren und Chiffren für unterschiedliche, letztlich unvereinbare Auffassungen von Eschatologie und Freiheit, dann ist der historische Vergleich zugleich eine Verschlüsselung heutiger Kontroversen. Das Lutherjahr 1983 und das Müntzerjahr 1989 markieren dabei jeweils im historischen Rückblick bis heute ungelöste spezifische Anfragen und Aufgaben. Dies wurde noch deutlicher als beim Luthergedenken 1983 beim Müntzergedenken. Beim Luthergedenken war allenfalls weithin Bekanntes neu ins Licht zu setzen oder neu zu interpretieren. Bei Müntzer liegt vieles immer noch im Dunkeln und bleibt wohl auch im Dunkeln. Bei der Auseinandersetzung um Luther spielen zudem katholische Deutungen und kirchliche Differenzen, aber auch ökumenische Absichten eine wichtige Rolle; die Lutherdeutung ist darum polyphon und außerordentlich perspektivenreich. Das Gedenken an Müntzer war dagegen fast nur bipolar: Theologische oder politische Interpretation, die Würdigung des „Revolutionärs" und die Suche nach dem Theologen bestimmten die Diskussion.

II. T h o m a s Müntzer Zunächst ist an Thomas Müntzer zu gedenken. 1989 war ein Jahr mit vielen Erinnerungsdaten: 1789 - 2 0 0 Jahre Französische Revolution: 1939 - 50. Jahrestag des Beginns des 2. Weltkrieges, 1949 -

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4 0 Jahre Bundesrepublik Deutschland und Deutsche Demokratische Republik. Welchen Sinn hatte in diesem Kontext die Erinnerung an Thomas Müntzer? Im Dietz-Verlag Berlin 1988 veröffentlichte eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe der Akademie der Wissenschaften und des Hochschulwesens der DDR unter Leitung von Adolf Laube „Thesen über Thomas Müntzer. Zum 500. Geburtstag" als „Thomas Müntzer Ehrung der D D R " . Die eindrucksvolle und sorgfältig erarbeitete, auch mit reichem Bildmaterial ausgestattete Publikation ist an dieser Stelle nicht zu würdigen. Sie ist zweifellos eine auch historisch beachtenswerte Ausarbeitung, die eine objektive und sachliche Darstellung zumindest anstrebt. Eine Arbeitsgruppe des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR hatte ebenfalls eine „Orientierungshilfe zum Gedenken des 500. Geburtstages von Thomas Müntzer im Jahre 1 9 8 9 " in Ostberlin 1987 für die evangelischen Kirchen verfaßt. Allein schon das Nebeneinander beider Deutungen der Gestalt Thomas Müntzers ist aufschlußreich - hier der Theologe und Gottesdienstreformer, der „Kirchenmann", dort die politische Symbolgestalt, der „Revolutionär". Wie paßt dies beides zusammen? Das ist bis heute eine zentrale Frage der Interpretation Thomas Müntzers. Im folgenden sei nicht nach der historischen Gestalt Müntzers gefragt, sondern nach der Intention, dem beabsichtigten Sinn der Müntzerehrung. 11 11

Ein Teil der folgenden Ausführungen wurde am 17.1.1989 in Templin (DDR) unter dem - vorgegebenen - Titel „Reich Gottes und Revolution" vor Pastoren vorgetragen. Eine Veröffentlichung in den „Zeichen der Zeit" kam nicht zustande. Über manches von mir damals (1989) zur Revolution Gesagte gingen die folgenden Monate hinweg; daher wird es hier ausgeklammert. Zum Werk Müntzers vgl. den von S. Bräuer/H. Junghans herausgegebenen Sammelband: Der Theologe Thomas Müntzer. Untersuchungen zu seiner Entwicklung und Lehre, Berlin 1989. Ferner: W. Elliger, Thomas Müntzer. Leben und Werk, 1976 3 . Ders., Außenseiter der Reformation: Thomas Müntzer. Ein Knecht Gottes, 1975. H.J. Goertz/A. Friesen (Hg.), Thomas Müntzer, WdF CDXCI, Darmstadt 1978. H.J. Goertz, Innere und äußere Ordnung in der Theologie Thomas Müntzers, Leiden 1967. E. Wolgast, Thomas Müntzer. Ein Verstörer der Ungläubigen, 1981. K. Ebert, Thomas Müntzer. Vom Eigensinn und Widerspruch, Frankfurt/Main 1987. H.J. Goertz, Thomas Müntzer. Mystiker, Apokalyptiker, Revolutionär, München 1989. G. Brendler, Thomas Müntzer. Geist und Faust, Berlin (Ost) 1989. Die Zahl der Aufsätze zum Müntzerjahr ist seit 1988/9 sehr angeschwollen. Weitere Bücher verfaßten: M. Bessing, Thomas Müntzer, Leipzig 1989 4 ; U. Bubenheimer, Thomas Müntzer. Herkunft und Bildung, 1989; F. Pauli, Müntzer. Stationen einer

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1. Thomas Müntzer als geschichtliche Gestalt - oder was weiß man tatsächlich? Historisch liegt nämlich vieles bei Müntzer im Dunkeln. Schon das Geburtsjahr ist strittig. Er ist vermutlich um 1490 in Stolberg, Harz geboren. Feststeht hingegen das Todesdatum: Er wurde nach der Niederschlagung des Bauernaufstandes am 2 7 . Mai in Mühlhausen in Thüringen hingerichtet. Alles, was über Herkunft, Jugend und theologischen Werdegang behauptet wird, ist Mutmaßung. Von seiner Biographie kennen wir überhaupt nur Fragmente. Neben Briefen gibt es im Grunde nur drei größere Schriften von Müntzer (das „Prager Manifest", 1521 in drei Fassungen in Prag verfaßt - einer kürzeren und einer längeren deutschen Fassung und einer tschechischen Fassung; die „Protestation oder Ehrerbietung", 1524 und die Polemik gegen Luther, „Ausgedrückte Entblößung des falschen Glaubens", 1524). Müntzer begegnete wahrscheinlich Luther 1520 in Leipzig anläßlich der Disputation Luthers mit Johannes Eck. 1520 wurde er Prediger in Zwickau. Dort entwickelte er eine Theologie des Mitleidens mit Christus. In die Zwickauer Zeit fällt auch die Begegnung mit den Zwickauer Propheten um Nikolaus Storch, die Luther „Schwarmgeister" nannte. Am 16. April 1521 wurde Müntzer durch den Rat in Zwickau abgesetzt. In diese Zeit fällt auch die Verhängung der Reichsacht gegen Luther. Müntzer flieht nach Böhmen zu den Hussiten. Dort veröffentlicht er das „Prager Manifest", das ein vergeblicher Versuch ist an die hussitisch-taboritische Tradition anzuknüpfen. Danach stand er vermutlich im Dienst eines Frauenklosters in Halle. Ostern 1523 übernimmt Müntzer in Allstedt eine Predigtstelle. Als erster führt er gottesdienstliche Reformen, eine Messe in deutscher Sprache ein - vor Luther. Er heiratet die ehemalige Nonne Ottilie von Gessen. Ein „Verbündnis" schließt seine Anhänger zusammen. Am 24. März 1524 brennen Anhänger Müntzers die Mallerbacher Wallfahrtskapelle bei Allstedt ab. Die Mansfelder Grafen wollen Müntzer los werden: der sächsische Kurfürst duldet sein Wirken. Am 13. Juli 1524 legt er in der „Fürstenpredigt" vor Herzog Johann und Kurprinz Johann Friedrich von

Empörung, Berlin 1989; G. Vogler, Thomas Müntzer, Berlin 1989. Ferner: G. Seebaß, Reich Gottes und Apokalyptik bei Thomas Müntzer, Lutherjahrbuch 58, 1991, S. 75-99.

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Sachsen den Propheten Daniel mit dessen Geschichtstheologie im Allstedter Schloß aus und wirbt für seine Sicht der Gegenwart und der christlichen Aufgabe in der jetzigen Zeit. Wegen seiner „Bundespredigt" am 24. Juli muß sich Müntzer vor dem Landesherrn in Weimar verantworten. Im Juni 1524 beginnen in der Grafschaft Stühlingen am Oberrhein die Bauernunruhen. Müntzer flieht aus Thüringen und reist nach Süddeutschland. In Nürnberg werden die zwei Schriften „Ausgedrückte Entblössung des falschen Glaubens" und das Pamphlet gegen Luther „Hochverursachte Schutzrede" gedruckt. Der Nürnberger Rat läßt die Schriften Müntzers beschlagnahmen. Nur wenige Exemplare kommen in die Öffentlichkeit. „Thomas Müntzer mit dem Hammer" polemisiert gegen Luther „wider das geistlose, sanftlebende Fleisch zu Wittenberg, welches mit verkehrter Weise durch den Diebstahl der Heiligen Schrift die erbarmungswürdige Christenheit so ganz jämmerlich besudelt hat". Luther ruft die sächsischen Kurfürsten im „Brief an die Fürsten zu Sachsen von dem aufrührerischen Geist" zum Einschreiten gegen Müntzer auf. Müntzer und Luther sind seit 1524 Antipoden im Bauernkrieg. Müntzer reist Ende 1524 zu den Aufständischen in den Südschwarzwald. Anfang 1525 kehrt er nach Thüringen zurück, wird am 28. Februar an der Marienkirche in Mühlhausen angestellt. Im März erscheinen die „12 Artikel" der Bauernschaft. Am 1. Mai zieht Müntzer mit den Aufständischen ins Eichsfeld. Im Mai schreibt Luther seine blutrünstige Schrift „Wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern". Am 15. Mai werden die Bauern in der Schlacht bei Frankenhausen überlistet und blutig niedergeworfen. Am 27. Mai wird dann Thomas Müntzer nach der Folter zusammen mit Heinrich Pfeiffer im Lager der Fürsten auf dem Feld vor Mühlhausen mit dem Schwert hingerichtet. Soweit ganz knapp der äußere Ablauf der Ereignisse. Für die Folgezeit macht sich der Konflikt zwischen Reformation und Revolution und die Bewertung des Bauernkrieges an der Symbolgestalt Thomas Müntzer fest. Was war er eigentlich - Bauernführer und Revolutionär oder Mystiker und Theologe, Schwärmer, Aufrührer, Teufelsprophet oder der eigentliche Reformator, der über Luther hinaus nicht nur eine Reform des Glaubens, sondern auch eine Reform des Lebens und der Gesellschaft anstrebte?

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2. Die Strittigkeit der Müntzerdeutung Zwischen Theologen und Historikern ist seit der Aufklärung die Deutung Müntzers strittig. 12 Die Alternative wird rasch hergestellt: Müntzer war entweder Apokalyptiker und Mystiker, also Theologe oder politischer Revolutionär. Kirchengeschichtliche Deutung (wie z.B. Walter Elliger in seinem monumentalen Müntzerbuch, 1976, 3. Auflage) heben seinen Spiritualismus, die mystische Theologie hervor; Marxisten sehen im wesentlichen den Revolutionär. Dann fällt allerdings beides auseinander, Theologie und politisches Engagement. Zutreffend wird freilich neuerdings betont, daß man beides zusammensehen muß: Der Ursprung von Müntzers Sicht der Welt ist die Mystik der Geisteserfahrung, das „Werk Gottes", das im Grund der Seele erfahren wird (Hans Jürgen Goertz). Im „Prager Manifest" verbindet sich diese Mystik erstmals mit apokalyptischem Gedankengut. Endzeitstimmung tritt hinzu: Die Zeit ist reif zum Gericht; deshalb dürfen die Auserwählten nicht untätig bleiben. Die Aufforderung zum revolutionären Handeln entspringt also mystischer Frömmigkeit. Müntzer verdammt ein „Ankleben an die Welt" und fordert Selbstverleugnung. Die Mystik vertrat ebenfalls schon vorher eine antiklerikale Einstellung. Dies bot einen Anknüpfungspunkt für die „Revolution des gemeinen Mannes". Der Auserwählungsgedanke kann zur Forderung der Vernichtung der Gottlosen führen. Müntzer bekämpft ferner nachdrücklich Luthers Unterscheidung zwischen geistlichen und weltlichen Aufgaben, zwischen Glaube und politischer Tat. Er ist ein Gegner der Unterscheidung der zwei Reiche. Müntzer trat als Theologe für eine demokratisch verfaßte Theokratie ein. Der Revolution im Inneren, der Herzensrevolution der Mystik muß die Revolution im Äußeren entsprechen. „Müntzers Theologie war eine Theologie der Revolution, sie war keine Theologie für die Zeit danach" (H.J. Goertz). 13 12

Vgl. K. Ebert, Thomas Müntzer, 1987, Kap. 8: Müntzer im Urteil der Geschichte, S. 2 3 0 - 2 6 4 . G.J. Trittel, Thomas Müntzer mit dem Hammer, Epd-Dokumentation Nr. 2 9 , 1989. Der Untertitel lautet reißerisch: „Strahlend erscheint uns Thomas Müntzer ... Der lügenhafte Mordergeist". Zum marxistischen Müntzerbild, vgl.: M. Steinmetz, Das Müntzerbild von Martin Luther bei Friedrich Engels, Berlin 1971. H. Junghans, Der Wandel des Müntzerbildes in der DDR von 1 9 5 1 / 2 bis 1989, in: Luther 60, 1989, S. 102-130.

13

H. J. Goertz, a.a.O., S. 179.

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3. Marxistisches und kirchliches Müntzerbild Damit ist die Problemlage umrissen. Wie geht man freilich mit Müntzer dem Revolutionär, dem „Theologen der Revolution" in einer nachrevolutionären Situation um? Was bedeutet Müntzer für die historische Legitimation der DDR, nachdem man bereits im Lutherjähr 1983 Luther für das kulturelle und geschichtliche Erbe der DDR als Autorität und Symbolgestalt reklamiert hat? Die offiziellen Thesen der Historiker beanspruchen Müntzer für das Geschichtsbild der DDR: „Thomas Müntzer (um 1489 - 27. Mai 1525) ist die herausragende Persönlichkeit des äußersten linken Flügels der deutschen frühbürgerlichen Revolution, das heißt der Reformationsbewegung und des Bauernkrieges von 1517 bis 1525/ 26. Am Beginn einer Epoche gesellschaftlicher Umwälzungen, die durch den Übergang von Feudalismus zum Kapitalismus gekennzeichnet war, erstrebt er auf der Grundlage seines revolutionären Verständnisses christlicher Lehren eine radikale Umgestaltung der Gesellschaft im Interesse des ausgebeuteten und geknechteten Volkes. Er entwickelte eine Theologie der Revolution mit dem Ziel, jegliche Klassenherrschaft zu überwinden. Er erkannte im einfachen Volk den Träger und in der revolutionären Gewalt das Mittel dieser Umwälzung... „Thomas Müntzer steht an hervorragender Stelle in der revolutionären Traditionslinie des deutschen Volkes. Er errang mit den Kämpfen und Siegen der revolutionären Arbeiterbewegung im 19. und 20. Jahrhundert Weltgeltung". 14 „Thomas Müntzers historische Leistung bestand darin, unter den Bedingungen des beginnenden Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus eine Theologie der Revolution entwickelt zu haben, die die Sehnsüchte der Ausgebeuteten und Unterdrückten reflektierte und ihrerseits den Differenzierungs- und Radikalisierungsprozeß der reformatorischen Bewegung bis in ihre revolutionären Konsequenzen vorantrieb". 15

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15

Zit. werden die „Thesen über Thomas Müntzer" nach epd-Dokumentation Nr. 9/88, S. 29-47, Zitat S. 29. A.a.O., S. 38.

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Eine derartige Deutung Müntzers enthält zwei Aspekte, einen historischen: War er Theologe der Revolution? Und einen systematischen Ansatz: Was heißt Theologie, Theologe der Revolution? Ist freilich Thomas Müntzer überhaupt der Repräsentant der Revolution? Ernst Bloch hat in seinem Jugendwerk 1921 Müntzer als Theologen der Revolution geschildert. Darin heißt es: „Der Aufruhr ... ist die Berufsethik des chiliastischen Christen". 16 Im Blick auf Müntzers Glaubenswelt, der das „Morgenrot der Apokalypse" entgegenraucht, meint Bloch: „genau an der Apokalypse gewinnt sie ihr letztes Maß, das metapolitische, ja metareligiöse Prinzip aller Revolution, den Anbruch der Freiheit der Kinder Gottes". Im Rückblick relativiert Bloch später selbst die „revolutionäre Romantik" durch den Verweis auf das „Prinzip Hoffnung" als Maß und Bestimmung utopischen Denkens.18 Blochs Müntzerhagiographie hat damals Heinrich Böhmer einer humorvoll-bissigen Kritik unterzogen. Böhmer betonte dabei die mystisch-spiritualistische Komponente in Müntzers enthusiastisch-chiliastischen theologischen Aussagen.19 Die Frage, ob Müntzer überhaupt für eine Theologie der Revolution zu beanspruchen sei, ist von zwei Grundentscheidungen abhängig: (1) War der Bauernkrieg eine Revolution? (2) Ist Müntzers Theologie als Konzeption einer „Theologie" der Revolution zu verstehen? Der Bauernkrieg wird in der klassischen marxistischen Deutung als „Klassenkampf" und als wesentliche Phase der „frühbürgerlichen Revolution" gewertet.20 Grundlegend dafür wurde Engels Schrift über den Bauernkrieg von 1850. Die frühbürgerliche Revolution 16

E. Bloch, Thomas Müntzer. Neuauflage 1963, S. 2 0 4 .

17

A.a.O., S. 2 3 8 , vgl. dazu G.]. Trittel, a.a.O., S. 8.

18

E. Bloch, a.a.O., S. 2 4 3 .

19

H. Böhmer, Thomas Müntzer und das jüngste Deutschland. Ges. Aufsätze, Gotha 1927, S. 187-222, = H. Boehmer, Studien zur Kirchengeschichte, TB 52, 1974, S. 157-184. Vgl. ferner: K. Holl, ThLZ 1922, Sp. 401ff. (Rezension von Blochs Müntzerbuch). H.J. Goertz, Schwerpunkte der neueren Müntzerforschung, in: H.J. Goertzl A. Friesen, a.a.O., S. 486f.

20

Vgl. G. Maron, Art. Bauernkrieg, in: TRE Bd. 5, 1980, S. 3 1 9 - 3 3 8 .

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markierte den Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus. Daneben finden sich freilich andere Deutungen des Bauernkrieges als Religionskrieg und als politisches Ereignis. Als Religionskrieg sah schon Luther Müntzers schwärmerische Verkehrung des Evangeliums an; Thomas Müntzer selbst begrüßte den Kampf ebenfalls als apokalyptischen Krieg gegen die Gottlosen. Dagegen weisen (sog. „bürgerliche") Historiker auf die politischen Ziele der Bauern hin: Sie kämpften für ihre alten Freiheitsrechte. In der Tat war der Bauernkrieg zweifellos ein politisch-gesellschaftlicher Systemkonflikt, der in den einzelnen regionalen und lokalen Aktionen zutage trat. Hervorgegangen ist er wohl aus (bewaffneten) Demonstrationen. Man kann daher sowohl fragen, ob der Bauernkrieg überhaupt ein Krieg und nicht eher ein Volksaufstand war, und ob es die Bauern waren, die diesen Krieg trugen. Kontrovers sind an der zweifellos auch heute noch bedenkenswerten marxistischen Deutung zahlreiche Fragen, z.B. ob der Begriff „Klasse" vom 19. Jahrhundert auf das 16. Jahrhundert überhaupt zurückzuübertragen sei: Waren die „Bauern" eine Klasse und wie können sie dann Träger einer „bürgerlichen Revolution" sein? War dies dann eine „bürgerliche" Revolution und dann sogar eine ohne Bourgoisie? Und bildet Müntzer überhaupt das Zentrum des Aufstandes? Waren nicht religiöse Motive generell wirksamer als die Klassenzugehörigkeit? Kurzum: Die Diskussion über die Frage, ob der Begriff „frühbürgerliche Revolution" den Bauernkrieg angemessen kennzeichnet, ist noch im Gange. Daß der „Bauernkrieg" Ausdruck einer geschichtlichen Krise war, ist damit freilich nicht geleugnet und bestritten. Müntzers eigenes theologisches Programm hatte allerdings - wie schon angedeutet - ursprünglich mit den Bauern nichts zu tun. Die Symbole, mit denen er in die apokalyptische Schlacht zieht, sind denn auch keine Klassensymbole (also nicht Bundschuh, sondern Regenbogenfahne, Kreuz und Schwert). Gottfried Maron deutet Müntzer m.E. zutreffend als apokalyptischen Gerichtspropheten. Diese Sicht Müntzers als „Theologen des Gerichts" ist einmal aus dessen eigener Deutung der Zeit zu begründen: „Seine Zeit ist die Zeit des Gerichts, die Zeit der ,Ernte', der endgültigen Scheidung zwischen Gottlosen und Auserwählten". 21 Für diese Deutung spricht 21

G. Maron, Thomas Müntzer als Theologe des Gerichts, in: H.J. Goertz/A. Friesen, a.a.O., S. 339-382, Zitat S. 341.

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ferner sodann das Selbstverständnis Müntzers selbst. „Dem Verteidiger der Gottlosen steht ihr Ankläger und Verfolger gegenüber: ,Thomas Müntzer mit dem Hammer', ein .Verstörer der Ungläubigen' - dem, der die Kirche der Auserwählten vernachlässigt, der ,servus electorum dei' - dem .Schriftgelehrten' und ,Professor', der ,nuntius Christi' - , dem ,sanftlebenden Fleisch zu Wittenberg' der ,unverdrossene Landsknecht' Christi". 2 2 Thomas Müntzer ist der Mystiker mit dem Hammer. Mag Müntzers Handeln in seinen Auswirkungen revolutionär gewesen sein, seiner Herkunft nach ist das Grundkonzept mystisch und eben nicht das einer politischen revolutionären Theorie. Die Folge dieser Mystik ist eine Derealisierung der Welt. Dem mystischen Ansatz seiner Theologie entspricht eine eschatologisch-apokalyptische Weltauslegung: Das Endgericht über die Gottlosen steht bevor. In diesem Sinn ist Müntzers Aussage zu verstehen: „Das Volk wird frei werden und Gott will allein der Herr darüber sein". 2 3 Beachtet man die heutige innerkirchliche Reflexion auf Müntzer, so zeigen sich hier Akzentverschiebungen. Die „Orientierungshilfe" des Kirchenbundes hebt gerade nicht auf Müntzers Geschichtsverständnis ab, sondern rückt das Kirchenverständnis in den Mittelpunkt. 2 4 Im Kirchenverständnis tritt nach ihr der Gegensatz zwischen Luther und Müntzer besonders deutlich hervor. Bei Müntzer spielt in seiner Auffassung von Kirche die Apokalyptik die entscheidende Rolle. Das Ziel der Wege Gottes mit der Menschheit, mit der Christenheit ist die Herrschaft der Auserwählten. Er trennt messerscharf und unausgesetzt zwischen Auserwählten und Gottlosen. Diese Auslegung des Gleichnisses vom Unkraut unter dem Weizen in Matthäus 13 als Anweisung zur Scheidung zwischen Gottlosen und Auserwählten ist zwar schon traditionell. 25 Müntzer beruft sich für 22

A.a.O., S. 3 4 6 .

23

G. Franz (Hg.), Thomas Müntzer Schriften, KGA, S. 343, zit. nach H.J. Goertz, a.a.O., S. 4 3 4 . Die „Orientierungshilfe" des Kirchenbundes wurde in epd-Dokumentation Nr. 9/88, S.48-51 veröffentlicht. Im Kirchenverständnis spiegelt sich implizit die aktuelle Kontroverse um Volkskirche und Minderheitskirche und um den Auftrag der Kirche in der Gesellschaft wider. Vgl. W. Ulimann, Das Geschichtsverständnis Thomas Müntzers, in: C. Demke (Hg.), Thomas Müntzer. Anfragen an Theologie und Kirche, EVA, Berlin 1977, S. 4 5 - 6 3 .

24

25

Reformatorische und revolutionäre Sicht eschatologischer Freiheit 2 1 3

seine Sicht des Volkes Gottes besonders auf das Alte Testament und orientiert sich am Modell der Theokratie. In der „Fürstenpredigt" ist Daniel 2, die Lehre von den vier Weltreichen, der leitende Text. Für Müntzer ist die Überzeugung, daß Gott durch den Geist seine Geheimnisse offenbart das Leitmotiv und der Schlüssel der Schriftauslegung. Luther betont dagegen, daß allein Gott die Auserwählten kennt: „Die Kirche ist verborgen, die Heiligen sind versteckt" (abscondita ecclesia, latent sancti). Nach dem Maßstab der Liebe, dem „canon caritatis" sollen daher Christen ihre Mitchristen anerkennen. 26 Gott allein steht das Urteil zu, ob der Glaube des einzelnen Christen wahrhaftig ist. Die Differenz zwischen Luther und Müntzer tritt aus kirchlicher Sicht am deutlichsten zu Tage im Kirchenverständnis. Für Luther ist die Kirche in der Welt immer auch verborgen; die sichtbare Kirche ist auch Kirche der Sünder. Die offiziellen Thesen der Historiker stellen ebenfalls heraus, daß Müntzer im „Prager Manifest" das Volk als auserwähltes Werkzeug Gottes begriffen habe. „Aber am Volk zweifle ich nicht", erklärt Müntzer. Daraus folgern die Thesen dann jedoch, daß der Träger der Volksreformation das Volk, der „gemeine Mann" gewesen sei. „Nur unter den plebejisch-vorproletarischen Schichten und unter der ländlichen Armut fand Thomas Müntzer mit diesen Ideen nennenswerten Widerhall und kampfbereite Anhänger." 2 7 Die „Orientierungshilfe" des Kirchenbundes ist von der Sorge bewegt, die Kirche Luthers könne heute wie damals die kritische Anfrage Müntzers an die lutherische Theologie überhören. Sie formuliert daher Anfragen Müntzers als Korrektiv der Theologie Luthers: Müntzer übte Kritik am Quietismus, der Passivität der lutherischen Reformation; er bekämpft einen Mangel an gesellschaftlicher Praxis und weist auf das Fehlen guter Werke hin. Die Orientierung an Müntzer führt zur Kritik an Luthers Obrigkeitsgehorsam. Christen können sich keine Passivität erlauben, „wenn es darum geht in wirtschaftlichen und sozialen Konflikten nach einer gerechten Lösung zu suchen". Mit der Betonung des ethisch-politischen Engagements verbindet die „Orientierungshilfe" ferner den Hinweis auf Müntzers Wort26 27

M. Luther, De servo arbitrio, WA 18,651,34. Epd-Dokumentation Nr. 9/88, S. 39.

214 Reformatorische und revolutionäre Sicht eschatologischer Freiheit

Verständnis: Müntzer will „keinen stummen, sondern einen redenden Gott" anbeten. 28 Gott spricht auch heute. Der Heilige Geist wirkt als verändernde Kraft Gottes. Die Geistlehre Müntzers schafft dadurch den Übergang von der Mystik zur sozialen Veränderung. Der Wille zur sozialen und politischen Veränderung fordert freilich die Bereitschaft zum Leiden und Opfer. Damit ergibt sich von Müntzer her ein Zugang zur „Theologie der Revolution" und zur „Theologie der Befreiung". Müntzer fordert dazu heraus, in der Nachfolge Christi sich für die „Erniedrigten und Beleidigten in unserer Welt" einzusetzen. Dieser „Zug nach unten" fordert von der Kirche eine „Option für die Armen". Als ungelöstes Problem wird besonders die umstrittene Frage der Zulässigkeit der Gewaltanwendung herausgestellt. Liest man die „Orientierungshilfe" des Kirchenbundes der DDR sorgfältig, so versucht sie mit der Neubewertung Müntzers eine neue Ortsbestimmung der gegenwärtigen Kirche in der Gesellschaft. Thomas Müntzer wird heute deswegen nicht mehr als „Schwärmer", Rottengeist und Lügenprophet beiseitegeschoben, sondern stellt die Frage nach gesellschaftlich-politischer Parteinahme und nach der „Option" für die Armen. Solche Aufnahme eines dichotomischen Kirchenbegriffs enthält freilich Unklarheiten: Wer definiert nämlich, wer zu den Armen gehört und wer nicht und mit wem sich die Kirche als Kirche zu solidarisieren und von wem sie sich zu distanzieren hat? Nur Erwählungsgewißheit kann dies eindeutig feststellen. Hingegen wird eine kritische Reflexion der „Option für die Armen" erkennen müssen, daß die Armen nich nur Träger der Erwählung und Hoffnung, sondern auch selbst ein Teil des Problems sind. Nur wenn die Armen selbst in Aktivität ihre Lage verändern, kann sich ihre Situation ändern. Mit der Situationsveränderung freilich verschwinden auch die Armen als revolutionäres Potential. Nach christlichem Verständnis können die Armen gerade nicht Subjekt der Erlösung, der Befreiung sein; in der klassischen marxistischen Theorie des „Kommunistischen Manifests" ist hingegen das Proletariat das revolutionäre Subjekt. Zieht man ein Fazit, so hat die marxistische Geschichtsschreibung offensichtlich Schwierigkeiten mit Müntzer als Revolutionär und mit seiner Geschichtsdeutung, wäh-

28

A.a.O., S. 49.

Reformatorische und revolutionäre Sicht eschatologischer Freiheit 2 1 5

rend die evangelische Kirche durch sein Kirchenverständnis sowohl beunruhigt wie verunsichert wird. Das Kirchenverständnis erweist sich als Seismograph innerkirchlicher Verunsicherung. 4. Der Wandel des Müntzerbildes in der Geschichte Der Göttinger Historiker Günter J . Trittel untersuchte unter dem Motto „Strahlend erscheint uns Thomas Müntzer ... der lügenhafte Mördergeist" den „Thomas Müntzer mit dem Hammer" - „Metamorphosen einer historischen Legende". 29 Das Motto dieses Aufsatzes ist in einem Provokation und Ironie. Für Ernst Bloch ist Müntzer strahlendes Vorbild, für Luther war er ein „lügenhafter Mördergeist". Je weniger man nämlich über eine geschichtliche Gestalt historisch weiß, desto mehr bietet sie Anlaß zur Legendenbildung. Müntzer selbst verstand sich als Gerichtsprophet. Er nannte sich „Thomas Müntzer mit dem Hammer" und einen „Botenläufer Christi, gegürtet mit dem Schwert Gideonis". Luther ist für ihn „Bauerndreck" und „Erzfeind des Christenglaubens". Nach der Niederlage der Bauern und der Hinrichtung Müntzers setzte sogleich die Legendenbildung ein. Für Luther und Melanchthon offenbart Müntzers schreckliches Ende Gottes Gericht und Zorn. Müntzer war mit dem Teufel im Bund. Er war ein „lügenhafter Mördergeist", der „beschissene Prophet". Müntzers eigenem maßlosen Sendungsglauben in den Briefen vom 12. Mai 1525 an die Mansfelder Grafen Ernst und Albrecht entgegengesetzt ist Luthers öffentliche Verdammung: Gott hat den Rottengeist und Aufrührer gestraft; er ist der Teufelsgeist und Ketzer, der die Bauern zum Aufstand verführt hat. Mit dem Zeitalter der Französischen Revolution wandelt sich unter dem Einfluß der Aufklärung das Müntzerbild. Der Teufelsglaube verschwindet. Auch jetzt scheiden sich freilich die Geister am Nachweis des Zusammenhangs zwischen radikaler Reformation und revolutionärer Praxis. Müntzer wird im Spiegel der zeitgenössischen Erfahrung mit der Erfahrung der Französischen Revolution beschrieben. Er wird nunmehr in anderer Weise zur Symbolgestalt, zur historischen Legende. Die Diskussion seit der Französischen Revolution, welche den Ursprung revolutionären Denkens und Handelns 29

Vgl. G.J. Trittel, a.a.O.

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in der Geschichte Deutschlands suchte, mußte sich mit Reformation und Bauernkrieg auseinandersetzen. Konservative Autoren weisen dabei Müntzers Ideen als revolutionäre Bedrohung zurück. Der Göttinger Georg Sartorius formulierte diese Position erstmals 1795 in seinem „Versuch einer Geschichte des Deutschen Bauernkrieges". Leopold von Ranke schilderte Müntzer als Vorläufer der Jakobiner, Robespierres. Heinrich Böhmer vertrat ebenso diese Position gegen Ernst Bloch. Für Böhmer ist Müntzer der „Mordprophet", der Zerstörer des Staates, die Inkarnation aller die Ordnung zerstörenden Kräfte. Einige wenige andere greifen dagegen zustimmend die jakobinische Tradition der Französischen Revolution auf, erstmals der Jenaer Geschichtsprofessor Karl Hammerdörfer 1793. Hammerdörfer beschreibt Müntzer als Prediger des Evangeliums, der auch die Gleichheit und Brüderschaft der Menschen auf Erden befahl. In der Bauernkriegsdarstellung 1841-1843 des württembergischen Pfarrers Wilhelm Zimmermann, eines entschiedenen Aufklärers und radikalen Demokraten, wird diese Deutung aufgenommen. Müntzer wird zum Freiheitskämpfer stilisiert. Er ist der Streiter der Vernunft und Märtyrer der Reformationszeit, ein vorzeitiger Denker, ein Vorläufer kommender Revolution. Auf Zimmermann stützt sich dann Friedrich Engels Wertung des Bauernkrieges als „frühbürgerliche Revolution", und die Behauptung, Müntzer sei Urheber und revolutionärer Agitator des Aufstandes gewesen. Engels Müntzerbild hatte für die sozialistische Revolutionsliteratur nahezu kanonische Bedeutung. August Bebel und Karl Kautsky folgen ihm. Für Kautsky war Müntzer ein „gefährlicher Agitator", ein „Revolutionär mit staatsmännischer Einsicht". Er wird zum Führer einer revolutionären Partei. Ernst Bloch wandelt in diesen Spuren: „Strahlend erscheint uns Thomas Müntzer... wieder, Liebknecht mannigfach verwandt, als unerbittlicher Organisator deutlich genug, um selbst Lenin und seinem Geschlecht nicht fernzustehen". 30 Gegen dieses Müntzerbild haben die Kirchenhistoriker am „Mordpropheten" festgehalten - so Heinrich Böhmer - , der die Ordnung zerstörte und Humanität grausam vernichtete.

30

Zit. in: A.a.O. S. 8.

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217

Im Nebel der Interpretationen und Legenden verschwand dabei die wirkliche Gestalt Müntzers. Sie wurde zum Schemen. Auch im Blick auf das Müntzerbild seit 1789 und seiner konservativen wie progressiven Ausmalung und Inanspruchnahme muß man von einer historischen Legendenbildung sprechen. Müntzer wird entweder verteufelt oder heroisiert. Beidemal bricht ferner die Wahrnehmung Müntzers als Theologe und Revolutionär auseinander. Seine Theologie wird rein instrumental begriffen, entweder als Schwärmerei oder als Ideologie für eine progressive politische Praxis und Strategie. Der Ertrag einer historischen Forschung könnte deshalb gerade darin bestehen, diesen Ansatz generell zu problematisieren. Der russische Müntzerforscher Smirin meinte einmal zutreffend: „In der Offenbarung wird dem Menschen die Urteilsfähigkeit gegeben". 3 1 Dabei bezieht er sich auf Müntzers Aussage, daß den Auserwählten die „Waage des göttlichen Urteils" zuteil werde. Damit ist Müntzers Intention richtig getroffen. Freilich mißversteht Smirin Müntzer rationalistisch, wenn er erläutert, dies meine die „Eröffnung des Verstandes", die Gabe des logischen Urteils. Der Mystiker und Apokalyptiker Müntzer denkt freilich ganz anders. Ihm geht es um das Urteilsvermögen angesichts des letzten Gerichts, um die Scheidung der Geister, nämlich „zu wissen und nicht allein in den Wind zu glauben, was uns von Gott gegeben sei oder vom Teufel oder der eigenen Natur". 3 2 Der Theologe Müntzer wird uns durch solche Sätze, historisch betrachtet, gerade fremd. 5. Thomas Müntzer als historische Metapher Das Müntzerbild diente, so zeigt der selektive Rückblick, jeweils spezifischen Interessen. Die Berufung auf Müntzer, im positiven wie im negativen Sinn, sollte das eigene Weltbild stützen und legitimieren. Trittel spricht von „historischer Metaphorisierung". 33 In der Müntzerdeutung werden auf eigenartige Weise Gegenwartsdeutung und Handlungsprogramme verschlüsselt dargestellt. Das zeigt gerade nochmals das Müntzerjubiläum 1989 in der DDR. Der histori31

32 33

M. M. Smirin, Die Volksreformation des Thomas Müntzer und der große Bauernkrieg, 1956 2 , S. 182f., zit. in: G. Maron, a.a.O., S. 350. T. Müntzer, KGA 250,10 (Fürstenpredigt). G.J. Trittel, a.a.O., S. 10.

2 1 8 Reformatorische und revolutionäre Sicht eschatologischer Freiheit

sehe Müntzer wurde hier zur Chiffre, zum politischen Mythos, zur „historischen Metapher". Da die Gestalt Müntzers im historischen Dunkel auf- und untertaucht, läßt Mythenbildung wachsen. Weniges ist wirklich gesichert. Umso notwendiger wird deshalb im Gegenzug eine „Historisierung" Müntzers. Metaphern sind sprachliche Veranschaulichungen von etwas Geistigem. Ähnlichkeit ermöglicht Entschlüsselung von Situationen sowie die Übertragung von Müntzers Erfahrung auf die Gegenwart. Die historische Metapher ist eine Weise der Aktualisierung. Mit der Absicht, nachzuweisen, daß die DDR „in der ganzen deutschen Geschichte" verwurzelt ist und also auch das Verhältnis von Luther und Müntzer neu zu bestimmen sei, erklärte Erich Honecker bereits 1983: „Für das Geschichts- und Traditionsbewußtsein unseres Volkes im Sozialismus ist es von Bedeutung, Luther und Müntzer einander nicht als von vornherein unvereinbare Gegensätze gegenüberzustellen. Es gilt, sie dialektisch als die beiden großen Gestalten der ersten deutschen Revolution zu erfassen". 34 Durch den Kontrapunkt Luther wird dabei im nachrevolutionären Sozialismus der revolutionäre Impetus Müntzers gebrochen. In nachrevolutionären Zeiten geht es dann nicht mehr um die Revolution, sondern nur - wie es in den Schlußworten der „Thesen" heißt - um „einen wertvollen Beitrag für die Lösung der Menschheitsfrage unserer Zeit: die Erhaltung des Friedens". Einen anderen Akzent setzten die evangelischen Kirchen in ihrer „Orientierungshilfe": Müntzers politisches Handeln dient hier dazu, das Engagement der Christen und Kirchen zu legitimieren, „wenn es darum geht, in wirtschaftlichen und sozialen Konflikten nach gerechten Lösungen zu suchen". Auf Müntzer beruft sich also die evangelische Kirche, um ihr öffentliches Reden und Handeln in politischen Fragen zu rechtfertigen, so daß dieses Eintreten für Gerechtigkeit dem Auftrag des Evangeliums und dem Gehorsam des Glaubens entspricht. Die Rezeption Müntzers wird so zum Vehikel und zur Begründung der Gesellschaftskritik. Warum eignet sich jedoch gerade vor allem Müntzer zur historischen Metapherbildung?35 Seine Gestalt gerinnt ins Typische. Sicher fasziniert das Außergewöhnliche an ihm, seine schattenhafte Exi34

Epd-Dokumentation Nr. 9 / 8 8 , S. 4 7 .

35

G.J. Trittel, a.a.O., S. 11.

Reformatorische und revolutionäre Sicht eschatologischer Freiheit 219

Stenz, seine Unstetigkeit, sein soziales Deklassiertsein, sein kühnes und kompromißloses Auftreten gegenüber obrigkeitlichen Autoritäten, sein Auserwähltheitsanspruch, auch sein monomanes Pathos. Er bietet Identifikationsmöglichkeiten an, wie die Solidarität mit den Leidenden, die Flüchtigkeit des Auftretens. In historischer Verfremdung geschieht Verschlüsselung der Zeitdeutung, werden aktuelle Probleme gespiegelt. Dabei spielt die historische Kenntnis jedoch kaum eine Rolle. Von Luther bis Walter Elliger unterstellte man Müntzer, er sei persönlich feige gewesen, Engels schrieb ihm dagegen eine umfassende revolutionäre Strategie zu; beides ist historisch nicht nachzuweisen. Metaphorisierung und Mythenbildung hat zur Kehrseite ferner die Entpersönlichung des Betrachtungsobjekts. Gedanken und Ideen verdichten sich im Leitbild einer Person. Jedoch ist ein solcher politischer Mythos, eine Metapher nie eindeutig, sondern vieldeutig. Historische Metaphern sind auslegungsbedürftig und auslegungsfähig. Das zeigte gerade die Müntzerehrung 1989 in der DDR. Das Müntzerbild diente als Anknüpfungspunkt für heutige Bedürfnisse. In einem „Bild" verdichten sich politische Legitimationsansprüche - auch Angebote der Delegitimierung. Dieses Bild soll motivieren, emotional Opferbereitschaft und Solidarität wecken und stärken. Kurzum: Im Prozeß der sozialen Sinn- und Identitätsbildung verdichtete sich ein historischer Mythos zum Symbol für kollektive Maßstäbe. Müntzer kann dadurch zum Symbol kollektiver Wünsche und politisch-propagandistischer Interessen werden. Diese Metamorphisierung ist freilich zugleich Indiz einer Krise der Rationalitätskultur. In einem Bild schießt Irrationales zusammen und artikuliert sich eine Zeitstimmung. Genau dagegen behält deswegen „Historisierung", historische Kritik ihr Recht. Die Frage: Wer war eigentlich Thomas Müntzer wirklich, was wissen wir eigentlich von ihm, was wollte er selbst? - nützt, so gestellt, der Entmythologisierung. Historische Forschung kann einer blinden Inanspruchnahme von Geschichte für heutige Interessen und Programme entgegenstehen und wehren.

III. Eschatologische Freiheit „Eschatologische Freiheit" - so lautet das Grundmotiv dieses Vergleichs zwischen Luther und Müntzer in dem sich historische Erin-

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nerung und aktualisierende Deutung mischen und ineinander übergehen. Der systematische Beitrag dieses Vergleichs ist noch anzudeuten. Freiheit hat es mit Hoffnung zu tun. Insofern kann niemand ohne ein eschatologisches Quentchen von Freiheit sprechen. Ohne Ausblick auf ein heiles, gelungenes Leben bleibt Freiheit hoffnungslos. Denn auch Verzweiflung entläßt zwar in Freiheit; der Mensch kann auch verdammt sein zur Freiheit - allein zu welcher Freiheit? Wenn die vergleichende Darstellung von Eschatologie und Freiheit bei Luther und Müntzer Folgerungen für die Gegenwart aufzeigt, dann doch wohl diese: Einmal wird es unvermeidbar, zwischen absoluter (oder auch verabsolutierter) und relativer Freiheit zu unterscheiden. Der Mensch kann nie absolut, total frei sein. Die absolute Freiheit war von jeher ein Gottesprädikat. Nur Gott ist in allem und zu allem frei. Menschen können zwar auch frei sein - freilich nur relativ, und das heißt: frei hinsichtlich bestimmter Handlungen- und Entscheidungsmöglichkeiten, frei in bezug auf die ihnen eröffnete und gegebene Lebensgestaltung, frei zu ihrer Selbstbestimmung im Rahmen des ihnen Vorgegebenen der naturalen und geschichtlichen Unbeliebigkeiten. Christlicher Glaube wird solche relative Freiheiten in ihr Recht setzen, ja er wird danach trachten, den Spielraum der Freiheit soweit irgendmöglich zu erweitern. Grenzen der Freiheit sind ihrerseits stets relativ und nicht starr und unverrückbar. Aber die Freiheit als solche ist nicht grenzenlos. Sie erkennt gerade im Horizont der Eschatologie, daß Zeit befristet ist. Erfahrung von Zeit ereignet sich in der Erkenntnis, daß Zeit Frist ist. Zeiterfahrung ist Grenzerfahrung. Eschatologische Freiheit ist daher begrenzte Freiheit. Sodann zeigt der Vergleich zwischen Luther und Müntzer, wie Beanspruchung von Symbolgestalten für die Gegenwart abhängig ist vom jeweiligen Geschichtsbild. In die Geschichtsdeutung fliessen immer gegenwärtige Interessen ein. Historische Forschung wird dabei der Legitimation der Gegenwart dienstbar gemacht. Das machen das Lutherjubiläum 1983 und das Müntzerjubiläum 1989 je auf ihre Weise anschaulich. Die Gefahr entsteht dann freilich, die heute zu gewährende Freiheit von der geschichtlichen Lage abhängig zu machen. Nun ist gewiß Freiheit immer relativ, bezogen auf geschichtliche und gesellschaftliche Kontexte. Aber Freiheit als solche ist nicht abhängig von der jeweiligen Geschichtsdeutung. Das Recht auf

Reformatorische und revolutionäre Sicht eschatologischer Freiheit 2 2 1

Freiheit ist im Gegenteil ein unveräußerliches Menschenrecht. Die Grundfreiheiten des Menschen sind daher zurecht als Menschenrechte zu begreifen und zu sichern. Die Wahrnehmung menschenrechtlicher Grundfreiheiten und die Freiheit des Glaubens bilden folglich keine Alternativen. Das besagt: Eschatologische Freiheit tritt für die Achtung menschlicher Freiheit, für das Recht des Menschen auf Freiheit, auch, aber nicht nur, für Glaubensfreiheit ein. Schließlich konfrontiert der Untertitel betont reformatorisches und revolutionäres Freiheitsverständnis. Was bleibt nunmehr, nachdem einige Jahre seit dem Müntzerjubiläum und der gewaltfreien, friedlichen Revolution in der DDR verstrichen sind, noch von der revolutionären Freiheit übrig? Die „Orientierungshilfe" des Kirchenbundes spiegelte eine vorrevolutionäre oder allenfalls eine beginnende revolutionäre Situation wider und beruft sich zur Legitimation ihres Protestes auf den „Theologen der Revolution", also auf Thomas Müntzer. Hinterher stellt sich deshalb die Frage: wie revolutionär kann Kirche überhaupt sein? Gewiß gibt es eine Passivität und einen Quietismus, der die Verhältnisse duldend hinnimmt und sich dabei zur Begründung auf das reformatorische Freiheitsverständnis mit seiner Unterscheidung von weltlicher und geistlicher Freiheit beruft. Aber ist das möglich? Ist Freiheit denn statisch ein Zustand oder nicht vielmehr immer nur dynamisch als Geschehen gegenwärtig. Es gibt unbestreitbar eine falsche Berufung auf das reformatorische Freiheitsverständnis; solche Berufung dient nur dem Schutz bestehender Privilegien und Unfreiheiten und stellt dadurch das Leben still. Eine derartig verstandene reformatorische Freiheit bleibt jedoch tot. Für Luther ist der Glaube hingegen immer tätig, befreiend, fröhlich und stets bereit zum Werk. Insoweit ist reformatorisches Freiheitsverständnis durchaus mit revolutionärem Freiheitsverständnis vereinbar; umgekehrt ist freilich nicht revolutionäres Freiheitsverständnis von selbst schon reformatorischem Freiheitsverständnis nahe. Das entscheidende Kriterium ist vielmehr dabei, ob revolutionäre Erwartung von Freiheit weltlich, relativ, begrenzt bleibt, oder ob sie total zu sein beansprucht. Ein weltliches, „politisches" Verständnis von Freiheit hat sich der Kritik der Vernunft zu stellen. Eine absolute und in dieser Hinsicht eschatologisch oder „messianisch" verstandene Auffassung von Freiheit hingegen immunisiert sich gerade gegen kritische Prüfung. Zur Realität des Lebens gehört nämlich die Einsicht in die Begrenztheit und in die durch

2 2 2 Reformatorische und revolutionäre Sicht eschatologischer Freiheit

diese Begrenztheit verursachte Menschlichkeit von Freiheit. Eschatologische Freiheit hat sich in ihrer Begrenztheit und Menschlichkeit als lebendige Freiheit zu bewähren. Eschatologische Freiheit ist, reformatorisch verstanden, Befreiung zum Leben, Freiheit zu einem Leben in Wahrheit und Liebe. An der Einschätzung der Eschatologie auf das Verständnis von Freiheit scheiden sich daher die Wege einer reformatorischen und einer prinzipiell revolutionären Sicht von Freiheitserwartungen und Befreiungsaufgaben. 36

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C. Walther veranschaulicht in seinem Werk „Eschatologie als Theorie der Freiheit" dieses „eschatologische" Verständnis in der bewußt so gegliederten Reihenfolge der Abschnitte „Rechtfertigung und Freiheit" (S. 205ff.) und „Eschatologie und Ethik: Zur Morphologie verantwortlichen Lebens" (S. 221ff.).

10. Der lange Schatten der Französischen Revolution Der Pfarrkonvent des Evangelischen Dekanates Tübingen plante für 1989 einen Studientag zum Thema: „Die Bedeutung der Französischen Revolution für Land, Kirche und Theologie." Neben einem historischen Referat von Andreas Gestrick, „ Was war und wie man's wahrgenommen hat. Aus Predigten, Tagebüchern, Aufzeichnungen jener Zeit", sollte ich zum Thema sprechen: „Die Auswirkungen gesellschaftlicher Veränderungen auf die Rolle der Kirche und ihre Verkündigung vor 200 Jahren und heute". Historischer Rückblick und grundsätzliche Überlegungen waren deshalb zu verbinden. Was bedeutet die Französische Revolution für Kirche und Theologie? Das ist zunächst einmal eine Frage an Frankreich, an die Franzosen und an die katholische Kirche und an die katholische Theologie. Die Evangelische Kirche in Deutschland hat sich daher 1989 mit keinem Wort zur 200-Jahrfeier der Französischen Revolution vernehmen lassen. Es gab überdies genug andere erinnerungsschwere Daten. In der DDR wurde der 500. Geburtstag des Theologen der Revolution Thomas Müntzer begangen. In der Bundesrepublik waren es 50 Jahre seit Beginn des 2. Weltkrieges und 4 0 Jahre Grundgesetz, welche die Aufmerksamkeit auf sich zogen. Das Thema „Revolution" schien für Deutschland und insbesondere für Protestanten Vergangenheit. Nun - ganz so einfach war es nicht. Hannah Arendt meinte, „Revolutionen brechen aus und sind unwiderstehlich, wenn sich herausstellt, daß die Macht auf der Straße liegt." 1 Das Thema dieses Vortrags ist nicht: Was empfanden und erlebten die Zeitgenossen als Mitlebende? Das Buch von Simon Schama „Der zaudernde Citoyen. Rückschritt und Vergangenheit und Fortschritt in der Französischen Revolution", 1989, schildert dies faszinierend. Das Buch stellt nicht einfach die Geschichte dar; es erörtert auch nicht umfassend die strukturellen, politischen und ökonomischen 1

H. Arendt, Über die Revolution, 1965, S. 59.

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Voraussetzungen der Revolution; sondern es erzählt Geschichten aus der Perspektive der damals lebenden Zeitgenossen. Es läßt die ganzen Hoffnungen, Ängste, Schreckenserlebnisse in einem Chor von dissonanten Stimmen zur Sprache kommen. Er geht also auf die Alltagserfahrung ein. Es bietet eine breite Vollbluterzählung, die mir einen Eindruck von den großen Erwartungen und von gescheiterten Hoffnungen, von Aufbruch und Leiden vermittelt hat. Ein Eindruck von der Revolution ist allerdings nach dieser Lektüre zutiefst zwiespältig. Was war sie eigentlich? Was meint man mit der Kurzformel „Französische Revolution"? Über ihre Ursache, ihren Verlauf und ihren Sinn besteht bis heute Streit.2 Die Formulierung von Clemenceau 1897, die Revolution sei ein geschlossenes Ganzes, „La revolution est un bloc", ist eine Halbwahrheit. Ebensowenig kann man behaupten, die Entwicklung sei in sich folgerichtig, unausweichlich gewesen. Die meisten historischen Darstellungen verweilen außerdem lange bei der Vorgeschichte. Sie fragen nach ökonomischen, sozialen, geistigen Bedingungen und Ursachen der Revolution. Hätte man sie vermeiden können oder war sie unvermeidlich? Welches Ereignis symbolisiert die Revolution? Das Zusammentreten der Generalstände mit der Einreichung von Beschwerdebriefen (1. Mai 1789)? Oder die Vereinigung der beiden oberen Stände, Adel und Geistliche, mit den Vertretern des 3. Standes, der sog. Ballhausschwur (20.6.1789) - eine vielgemalte Szene. Der Sturm auf die Bastille (14.7.1789); die Menschenrechtserklärung (26.8.1789), der Zug der Marktfrauen nach Versailles, welche dann den König nach Paris führte (5./6.10.1789) oder der Einsatz der Guillotine, der Sturm auf die Tuilerien (10.8.1792), die Septembermorde zur „Reinigung der Gefängnisse" (2.-6.9.1792), die Hinrichtung Ludwigs XVI. (21.1. 1793), Robespierre und Errichtung des Wohlfahrtsausschusses, der „Große Terror" (10.6-27.7.1994), die Entchristianisierung des Landes (Kult der Vernunft), der Sturz und die Hinrichtung Robespierres (27./28.7.1794) oder der Putsch Napoleons (18./ 19. Brumaire, Oktober 1799). Was von allen diesen Ereignissen verkörpert authentisch die Revolution? Diese Frage ist bis heute strittig. Mit dem Verweis auf die „nackten Tatsachen" allein läßt sie 2

Vgl. exemplarisch: Die Französische Revolution. Zeitgenössische Texte deutscher Autoren 1989; Die Französische Revolution. Ein Lesebuch mit zeitgenössischen Berichten und Dokumenten, Reclam 1989.

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sich nicht beantworten. Die Perspektive, aus der man an diese Frage herangeht, bestimmt schon die Darstellung. Angesichts dieser Verunsicherung, in welche die Beschäftigung mit der Französischen Revolution versetzt, seien zunächst (I.) Grundpositionen der Deutung dargestellt, (II.) dann ein berichtender Überblick, Rückblick auf die publizistische Resonanz im Jubiläumsjahr gegeben und schließlich (III.) einige zentrale Themen skizziert.

I. In der Deutung der Französischen Revolution zeichnen sich von Anfang an drei markante Grundpositionen ab, die bis heute nachwirken und bestimmend sind. Dabei ist für die Revolutionsinterpretation zweifellos wichtiger als die Deutung der Historiker, der Wissenschaft, was Politiker wie Mitterand dazu äußern, oder was die Medien darüber berichten. Auch ist das, was in den Köpfen vorgeht oft gewichtiger und anders als das, was sich tatsächlich ereignet hat. „Das, was der Zeitgenosse um und nach 1789 von der Französischen Revolution glaubte, war oft himmelweit verschieden von dem, was sich wirklich ereignete, aber es war meist geschichtswirksamer als die einfache Realität. Ebenso ist das, was die Franzosen von der Französischen Revolution meinen, bis heute kulturell und politisch im Lande wirksamer als das, was die Forschung - so sie denn diesen Namen verdient - bis heute über sie herausgefunden hat." 3 Wenn beispielsweise ein Historiker wie Pierre Chaunu die Untersuchung der Massenhinrichtung und Massenmorde in der Vendée 1793/4 „Genozid" nennt, so werden damit die Revolutionäre der Jakobinerdiktatur zu Vorgängern und Vorbildern eines Stalin und Hitler. In der Deutung der Französischen Revolution spiegeln sich also stets die weltanschaulich-ideologischen Debatten der letzten zwei Jahrhunderte wieder. Nun zu den Grundpositionen: 1.) Die konservative Kritik und die liberale Bejahung der Reformbemühungen begleiten von Anfang an die Revolution. Dabei war die 3

E. Schmitt, Die Französische Revolution von 1789. Grundpositionen der Deutung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 2 2 / 8 9 , 22. Mai 1989, 3-13, Zitat S. 3.

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konservative Kritik bereits vor dem Beginn der Reformbemühungen da. Der Rauch war also in der Luft, ehe überhaupt das Feuer brannte. Die reformunwilligen Kräfte begleiteten von Anfang an die Einberufung der Generalstände, erstmals nach 150 Jahren, mit den schlimmsten Befürchtungen. Das Memorandum der Prinzen von Geblüt vom Dezember 1788 warnte den Monarchen vor jeder Konzession an den Dritten Stand und malte das Gespenst des Bürgerkrieges an die Wand, ja drohte damit. 4 Edmund Burke hat 1790 bereits vor Terrorregime und Jakobinerherrschaft in den „Reflections on the Revolution in France and on the Proceedings in Certain Societies in London Relative to That Event" mit der Ständeversammlung scharf abgerechnet. Sein Kunstgriff ist, daß er ein rosiges Bild der Epoche vor 1789 zeichnete. Das Unglück begann, als der 3. Stand sich am 17. Juni 1789 zur Nationalversammlung erklärte und damit den Respekt vor der Würde des Monarchen vermissen ließ. Der Geburtsfehler der Revolution war von vornherein der Mangel an Legitimität, welche die Monarchie von Gottes Gnaden hatte. Aus dem Verlust der monarchischen Autorität und der gewachsenen Ordnung entwickelte sich folgerichtig eine vollständige totale Staatsund Gesellschaftskrise. In Kreisen der Gegner der Revolution, vor allem bei der Emigration, wurde schon 1789 die Komplott- oder Konspirationsthese geboren, wonach eine Reihe geheimer Verschwörerkreise, Zirkel wie Freimaurer, Illuminaten und Jakobiner sich minutiös zur Revolution verabredet hätten. Die nach- und gegenrevolutionären Theoretiker deuteten dann die revolutionäre Epoche als unmittelbar von Gott herbeigeführtes Strafgericht über ein sittenund gottloses Ancienregime. De Maistre sprach von „un charactère satanique dans la Révolution". 5 Marie Antoinette fand in diesem Sittenbild einen passenden Platz (Halsbandaffäre). Die konservative Kritik sah in der Französischen Revolution nur ein Werk der Zerstörung des Atheismus (z.B. Kult der Vernunft), ein zu bekämpfendes und zu besiegendes Übel. 2.) Die liberale, oft auch „bürgerliche" oder „bürgerlich-idealistische" Interpretation genannt, bewertet das Revolutionsgeschehen ambivalent. Sie unterscheidet positive, zu bejahende und negative,

4 5

A.a.O., S. 4. A.a.O., S. 5.

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ITI

abzulehnende Entwicklungen. Wegen der vorrevolutionären Mißstände war der Beginn der Revolution unvermeidlich. König, hoher Klerus und Adel erwiesen sich als reformunfähig. Der Zusammentritt der Stände, in denen das Bürgertum, die „bourgeoisie", also „Besitz und Bildung" politisch aktiv wurde, war unumgänglich. Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, die erste geschriebene Verfassung Frankreichs 1791 waren richtig. So sahen es übrigens auch Deutsche (Fichte, Schiller, Kant, Hegel, Wilhelm von Humboldt) und, trotz der Kritik Burkes, sogar Engländer und Amerikaner (Paine, Jefferson). Das „revolutionäre Drama" überschlug sich dann freilich. Im Mittelpunkt dieser Deutung steht oft Danton, während Robespierre sein böser Gegenspieler ist.6 In Frankreich hat Jules Michelet in seiner 7-bändigen Revolutionsgeschichte dieses Geschichtsbild eines liberalen und laizistischen Bürgertums kanonisiert. 7 Die Französische Revolution wird an den drei berühmten Leitworten „Liberté, Egalité, Fraternité" gemessen. Liberté meint die politische Seite der Revolution - nämlich, daß ein tyrannisiertes Volk seine Rechte sich erobert und diese Rechte wahrnimmt. Egalité bezeichnet die soziale Seite der Revolution - die Abschaffung der ungleichen rechtlichen und damit ungleichen gesellschaftlichen Stellung der Menschen in einer ständischen Gliederung im Feudalsystem. Fraternité bezieht sich auf die geistige Seite der Revolution, die Anschauung, daß alle Franzosen in einer großen Nation zusammengehören. Entscheidend ist dann auch die Menschheitsidee, wonach alle Menschen Brüder sein sollen. Tocqueville war dabei der Meinung, „daß die Französische Revolution eine politische Revolution gewesen sei, die in der Art religiöser Revolutionen verlaufen sei". 8 Die liberale, bürgerliche Deutung neigt freilich auch dazu, den religiösen Gehalt der Französischen Revolution möglichst zu minimieren, zu reduzieren. 3.) Die sozialistische Interpretation betont den bourgeoisen Charakter der Französischen Revolution. Albert Soboul (1914-1982) und vor ihm Jaurès (1901) deuten im Anschluß an Marx die Revolution als Befreiung des Bürgertums, wohingegen die Sozialrevolution 6 7

8

A.a.O., S. 7. J. Michelet, Histoire de la Révolution française, 7 Bde., Paris 1847-1853. Ferner: E. Schulin, Die Französische Revolution, 1989 2 . Zit. nach A.a.O., S. 20.

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steckengeblieben sei. Im Klassenkampf besiegten die Bürger zwar Adel und Klerus. Aber sie siegten auch über das Proletariat. Der Klassenkampf geht deshalb nach 1789 weiter. Man vergleicht Robespierre, den einzigen „Unbestechlichen", der sich nicht in der Revolution bereicherte, mit Lenin, dem „Robespierre, der Erfolg gehabt hat". 9 Diese marxistisch-leninistische Interpretation, die ihren Akzent auf die Aktivität der städtischen Massen, u.a. der Pariser Sansculotten legt, und die Jakobinerdiktatur zum Zentrum macht, ist heute ihrerseits in der Krise. Die Revolution endete danach in einer egoistischen Klassenherrschaft, einer „Bourgeois-Orgie", wie es F. Engels nannte. 1 0 Nimmt man diese drei Deutungen zusammen, so zeigt sich allein daran, wie komplex und vieldeutig das Revolutionsgeschehen ist. Füret spricht von drei gleichzeitigen Revolutionen, die „teleskopartig" ineinander geschoben seien, einer bürgerlich-politischen, die am Ende erfolgreich war und fortschrittlich ist, eine der städtischen Unterschichten und eine der Bauern, die scheiterten, weil sie rückschrittlich waren. 1 1 Die Revolution entgleiste nach dieser Auffassung seit 1791, dann u. a. im Terror 1793/94, in antibürgerliche Tendenzen. Dazu kommen unterschiedliche Forschungsansätze. Nationale Historiographie, sozialgeschichtliche Erforschung der ökonomischen Faktoren und mentalitätsgeschichtliche Analysen gehen die Revolution aus unterschiedlichen Perspektiven an. Während bis in die 60er Jahre hinein die Bedeutung ökonomischer Strukturen betont wurde, tritt neuerdings die mentalgeschichtliche Interpretation wieder in den Vordergrund. So lautet Vovelles Grundthese: „Der mentale Wandel während der Revolution war bedeutsamer und einschneidender als der Übergang zu neuen ökonomischen Verfaßtheiten". 1 2 Die Deutung der Französischen Revolution in der Ideengeschichte war folglich immer auch ein Kampf um das „richtige" Verständnis von Revolution. Der Sozialethiker findet in diesem Streit eine aktu9 10

Mathiez, zit. nach E. Schmitt, a.a.O., S. 8. Das Engels-Zitat nach E. Schmitt, a.a.O., S. 11 (F. Engels M E W 37, 156); ähnlich sieht K. Marx (MEW 4, 339) in der blutigen Aktion des Volkes gewaltige Hammerschläge, welche die feudalen Ruinen zerstörten.

11

F. Furet/D.

12

Zit. nach E. Schmitt, a.a.O., S. 13.

Riebet, Die Französische Revolution, Frankfurt/M. 1968.

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eile Kontroverse um die Zuordnung von Veränderung, Reform von Strukturen oder Bekehrung von Herzen, Wandel der Gesinnung wieder, in katholischer Terminologie um das Verhältnis von Ständereform oder Gesinnungsreform. In der historischen Diskussion wird diese Kontroverse z. T. ausgetragen als Streit um die Ursachen und Wirkkräfte der Revolution. Als Gründe für das Ausbrechen der Revolution genannt werden ökonomische Krisen und Ideen, Mentalitäten, Wertewandel. 13 Sozialgeschichtlich war seit Ludwig XIV. Frankreich durch aufwendige Hofhaltung und Kriegsführung in einer ständigen Finanzkrise und bedurfte dringend einer Wirtschaftsreform. Sein Enkel, Ludwig XVI., erbte diese Krise, konnte sie aber nicht lösen. Diese langfristige Krise verband sich mit einer mittelfristigen Modernisierungskrise, in der das Bürgertum die Privilegien von Adel und Kirche beseitigen wollte. Dazu kamen kurzfristig Mißernten und bereits von Februar bis Mai 1789 Brotunruhen. Diese wirtschaftlichen Faktoren verknüpften sich mit einer Verfassungs- und Verwaltungskrise. Der Adel versuchte angesichts der Schwäche der staatlichen Bürokratie durch eine Re-Aristokratisierung wieder Einfluß auf Kosten des Königs zu gewinnen. Dies verstärkte freilich faktisch nur den Autoritätsschwund. Der Staat wurde manövrierunfähig. Absolutistisches Königtum und ständische Verwaltung waren am Ende. Parallel lief eine Veränderung von Ideen und Mentalitäten. Bei den geistigen Entwicklungen kann man gleichfalls langfristige, mittelfristige und kurzfristige Entwicklungen unterscheiden. Langfristig wirksam wurde der Einfluß der Aufklärungsphilosophen, eines Montesquieu, Rousseau, Diderot, Voltaire. Mittelfristig in Anschlag zu bringen ist die Organisation des Aufklärungsdenkens in Akademien und Gesellschaftszirkeln. Mit Hilfe solcher Einrichtungen und Vereinigungen fand die Aufklärung in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts eine riesige Ausbreitung. Kurzfristig bedeutsam wurden die politischen Klubs, die sich seit 1785 in ganz Frankreich bildeten. Sie wurden die Keimzellen der revolutionären Fraktionen, die sich als Girondisten, Cordeliers, Montagnards, Jakobinerclubs nach 1789 etablierten. Es entstand also ein explosives Gemisch aus ökonomischen Schwächen und reformerischen oder revolutionären Ideen und Tendenzen. Die große Hoffnung und die große Angst „la 13

Nachweise zum folgenden bei E. Schulin, a.a.O., S. 124ff., 168ff., S. 174ff., S. 180ff.

230

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grande espérance" und „la grande peur" mischen sich im Anbruch der neuen Zeit. 1 4 Dazu ist die Persönlichkeit des Königs zu berücksichtigen, der ganz offensichtlich politisch einer solchen Krise nicht gewachsen war. Mißernten, ökonomische Katastrophen stehen ebenso als auslösender Faktor zur Diskussion wie das massenpsychologische Phänomen einer großen Angst im Sommer 1789. Die Ursachen und Aspirationen am Beginn der Französischen Revolution waren also höchst vielschichtig, zum Teil unvereinbar. Was sich an Tendenzen durchsetzte, war nicht vorauszusehen.

II. Auf dem Hintergrund dieser Problembeschreibung sei nun kurz die Wertung während des Jahres 1989 skizziert. Begonnen sei mit dem Artikel der Herderkorrespondenz von Alfred Frisch. 15 Er trägt die bezeichnende Überschrift „Zwischen Mythos und Wahrheit. Frankreich und seine große Revolution im Jubiläumsjahr". Während das hundertjährige Jubiläum der Französischen Revolution im Zeichen einer Verherrlichung gestanden habe, wird 1989 „in der ambivalenten Atmosphäre des politischen Fortschrittsglaubens und der historischen Berichtigung gefeiert". Infragegestellt werde infolge des Abstandes zum Geschehen z. B. „der fast zur Staatsräson erhobene Antiklerikalismus". Gegen die These vom „Block", den die Revolution darstelle und die Mitterand aufnahm, und gegen die Inanspruchnahme der Jakobiner durch die kommunistische Partei wird festgestellt: „Diese Block-Theorie banalisiert jedoch den Terror und rechtfertigt die von den Kommunisten eifrig betriebene Rehabilitierung Robespierres . . . " 1 6 . Mit François Furet wird dagegen eine „objektive Bilanz des revolutionären Geschehens" und „die Entpolitisierung dieses geschichtlichen Abschnitts" und damit „die Wiederherstellung der Wahrheit" gefordert. Dem dient etwa die Erinnerung an die Massenmorde in der Vendée und in Lyon, oder die positivere Bewertung Ludwig XVI. Für Napoleon steht dagegen die 14

Vgl. Anm. 11.

15

A. Frisch, Zwischen Mythos und Wahrheit. Frankreich und seine Große Revolution im Jubiläumsjahr, in: Herderkorrespondenz 43, 1989, S. 2 5 5 - 2 6 0 .

16

A.a.O., S. 2 5 6 .

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Entmystifizierung noch aus. Die soziale Bilanz wird ausdrücklich widerspruchsvoll genannt. Die Berufung der Kommunisten auf das Gleichheitsprinzip fördere „als eines der unerfreulichsten Nebenprodukte der falsch verstandenen Gleichheit" nur den Neid. 1 7 Das Fazit bleibt ambivalent: „Die objektive Wertung wird trotz aller ehrlicher Anstrengung schwierig bleiben, weil sich zwischen 1789 und 1815 die Höhepunkte und Abgründe in historisch ungewöhnlich kurzen Abständen ablösten. Wiederholt stellt sich außerdem die Gewissensfrage, ob das positiv Erreichte den dafür bezahlten Preis rechtfertigte. Die verwirrende Mischung von Gut und Böse ist außerdem für die politischen Kräfte eine ständige Versuchung zur Subjektivierung, je nach dem ideologischen Bedarf der einen oder der anderen. Es spricht allerdings für die Dynamik und Tiefenwirkung der Revolution, daß sie die politische Entwicklung der letzten zwei Jahrhunderte in vielfacher Form beeinflußte, und ihre Ziele noch in mancher Beziehung wegweisend sind. Dort, wo sich die autoritären Regime bis zum heutigen Tage behaupteten, ist die Entdeckung der Menschenrechte und der Demokratie zu beobachten." 1 8 Die westliche Wohlstandsgesellschaft wird auf den Imperativ der Solidarität verwiesen, dem zu unterwerfen ihr nicht leicht fällt. Die Bilanz ist also distanziert und amivalent. Das Themenheft von Concilium „1789: Französische Revolution und Kirche" eröffnet bezeichnenderweise eine aktuelle Stellungnahme: „Der Traditionalismus ohne Lefevbre". 19 Es geht um eine Auseinandersetzung mit der antirevolutionären Tradition des römischen und französischen Katholizismus. Thematisch werden deshalb zwei Schwerpunkte gesetzt. Einmal geht es um die Stellung der katholischen Kirche zu Religionsfreiheit und politischem Liberalismus (Christopher F. Mooney, Jean Comby, Joseph Comblin, Jean Moussee). Zum anderen wird bestritten, daß heute die Französische Revolution ein Modell für die dritte Welt sein könne unter befreiungstheologischer Perspektive; denn 1789 war eine bourgeoise, nicht eine

17 18 19

20

A.a.O., S. 259. A.a.O., S. 262. C. Geffre, Der Traditionalismus ohne Lefebvre. Eine Chronik der jüngsten Entwicklung, Concilium 25, 1989, S. 1-4. P. de Charentenay, Befreiung und christliche Revolution in der Dritten Welt, Concilium 25, S. 88-93, Zitat S. 88.

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soziale Revolution. 20 Die Auseinandersetzung um die Religionsfreiheit und um die soziale Frage gehören weiterhin zum unbewältigten Erbe der Revolution. Das Vorbild der Religionsfreiheit findet sich in den USA. 21 Die Laizisierung der Gesellschaft und die Zivilkonstitution des Klerus, d. h. die Bildung einer republikanischen Nationalkirche ist einer der Anstöße, den die Kirche an der Revolution nimmt. Die Rehabilitierung des Abbé Gregoire soll Kirche und republikanische Tradition versöhnen. 22 Dieser Versuch einer Rehabilitierung dieses Kirchenmannes, der revolutionäre Modernität und Christsein in sich vereinen wollte, mißlang und ist ohne Echo geblieben. Der Überführung der Gebeine des exkommuniziert gestorbenen konstitutionellen Bischofs Gregoire ins Pantheon im Dezember 1989 blieben die französischen Bischöfe ostentativ fern, während pikanterweise der Nuntius des Papstes, gegen den doch die Einführung der Zivilkonstitution gerichtet war, an der Festlichkeit teilnahm. Gregoire war ein Anwalt der Menschenrechte. Zwei Beiträge behandeln ausdrücklich die ungeklärte Bedeutung der Menschenrechte für die Kirche und in der Kirche. 23 Peter Eicher stellt in seinem eindrucksvollen Beitrag „Revolution und Kirchenreform" die Frage nach den kirchlichen Machtprivilegien. Niemand will zu den kirchlichen Verhältnissen zurück, welche die Französische Revolution mit Gewalt zerschlagen hat. Aber wie geht die Kirche selbst mit den Menschen rechtens um: „Auf Dauer kann der Knoten der Geschichte nicht so unaufgelöst bleiben, daß die Christen als Staatsbürger die Rechte, welche die Revolution erstritten und die Kirche inzwischen getauft hat, selbständig wahrnehmen können, als Bürger des kommendes Reiches Gottes aber einer Kirchenverfassung unterworfen bleiben, welche nichts als eine vergangene Ordnung der Welt festhält." 2 4 Die

21

C.F. Mooney, Die Religionsfreiheit und die Amerikanische Revolution, Concilium 2 5 , S. 8-13; vgl. ebd., P. Colin, Die Frage nach den .christlichen' Themen der Revolution, S. 70-79.

22

Vgl. in Concilium 25: B. Plongcross, Die Geburt einer republikanischen Christenheit ( 1 7 8 9 - 1 8 0 1 : Abbé Gregoire), in: S. 19-28; G. Cholvy, Die Französische Revolution und die Kirche. Brüche und Kontinuitäten, in: S. 3 4 - 3 9 .

23

Vgl. in Concilium 25: P. Eicher, Revolution und Kirche. Die kirchliche Macht nach der Französischen Revolution, S. 59-69; B. Quelquejeu, Aussöhnung mit den Menschenrechten, Mißachtung der .Christenrechte'. Die römische Inkonsequenz, S. 78-87. P. Eicher, a.a.O., S. 67.

24

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Erinnerung an die Französische Revolution enthält also für Eicher eine Hoffnung auf die Reform der Kirche, vor allem im Blick auf die Achtung der Freiheit der Gläubigen und einen Abschied vom päpstlichen Absolutismus. Während das Heft des Conciliums weithin Bemühen um ein Verständnis der Revolution und Kirchenkritik enthält, artikuliert umgekehrt die Internationale katholische Zeitschrift „Communio" Kritik an der Revolution und ist apologetisch zugunsten des Verhaltens der katholischen Kirche, vor allem des Papstes.25 Die Schwerpunkte werden deshalb anders gestellt. Im Mittelpunkt der Beiträge steht der Konflikt zwischen Kirche und revolutionärem Staat. Die Zivilverfassung des französischen Klerus, nicht schon die Verstaatlichung der Kirchengüter löste den Streit aus. Das lange Schweigen des Papstes zur Zivilverfassung wird kritisch diskutiert. Hat selbst der Papst versagt, weil er nicht entschieden genug widersprach und widerstand? Die These ist, daß der konfliktauslösende Punkt zwischen katholischer Kirche und revolutionärem Staat nicht die Menschenrechte waren, sondern die Einführung der Zivilkonstitution, die Entchristlichung, der revolutionäre Terror gegen Priester und Gläubige. Darum gedenkt ein Beitrag ausdrücklich der christlichen Märtyrer, die als Gegenrevolutionäre ihr Leben verloren und hingerichtet wurden.26 Das kirchliche Lehramt hat nicht eigentlich die Menschenrechte im 19. Jahrhundert verneint, sondern verwarf mit den liberalen Grundfreiheiten ein Programm der Entchristlichung und Entkirchlichung. Die katholische Kirche hat mit der Konzilerklärung „Dignitatis humana" also nicht eine Kehrtwendung vollzogen, sondern bleibt ihrer Tradition treu. Hans Maier konzediert nur, daß aufgrund der Erfahrungen mit der Französischen Revolution vom Lehramt die Demokratie nur auf die Sozialordnung bezogen wurde, während ein theologisches Verständnis der Demokratie als politische Form noch eine Zukunftsaufgabe ist. Diese Zukunftsaufgabe ist freilich seiner Meinung nach von der katholischen Soziallehre her leichter anzugehen als vom Protestantismus her, der mit Karl Barth und den Theologien der Revolution eher zum christlich-revolutionären Schwärmertum hin offen ist. 27 25

26 27

Internationale Katholische Zeitschrift „Communio" 18, 1989, Heft 5 (S. 423490). Communio (Anm. 25); G. Cholvy, Die Märtyrer der Revolution, S. 447-451. H. Maier, Die Französische Revolution und die Katholiken, Communio 18, S. 423-435, Zitat S. 435.

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Dieses Themenheft legitimiert indirekt also nach wie vor teilweise die antirevolutionäre Tradition der römisch-katholischen Kirche. Nicht die Revolution hat berechtige Fragen an die Kirche aufgestellt oder zu stellen, sondern die Kirche ist zunächst einmal im Recht mit ihrer Ablehnung der Revolution. Auf diesem Hintergrund wird das Verhalten der katholischen Kirche Frankreichs anläßlich der Revolutionsfeiern 1989 begreiflich. Sie nahm, nach einem Zögern, doch teil. Die Begründung dafür lautet, zwar war die Revolution für Frankreich und für die Kirche ein „unermeßliches Unglück und, tiefer gesehen, ein geistiges Übel, ein Sieg der dämonischen Kräfte", eine Art Durchbruch des „Geheimnisses der Gesetzlosigkeit", „mysterium iniquitatis" im Herzen der Geschichte des christlichen Frankreichs" (Kardinal Albert Decourtray). Trotz dieser Einwände und Gegenstimmen wird von den Bischöfen aber die Beteiligung empfohlen. Die Nichtteilnahme wäre aus drei Gründen ein „Skandal", nämlich wegen der positiven Bedeutung der Erklärung der Menschenrechte, sodann weil diese Erklärung vom Einfluß des Christentums geprägt ist und schließlich weil die Jahrhundertfeier eine Gelegenheit zur nationalen Versöhnung bietet. In dieser verzwickten Lage entschieden sich die Bischöfe zur Beteiligung mit einer Erklärung und durch eine Predigt des Vorsitzenden der Bischofskonferenz anläßlich der „Messe für Frankreich" am 20. Juli 1989. Die Erklärung gibt 1. einen Hinweis auf die Zweideutigkeit der Revolution, 2. fordert zur Besinnung in Richtung Zukunft auf, ruft 3. auf zur Wiederentdeckung der christlichen Einwirkung und lädt 4. zum geistlichen Kampf. Es geht also vor allem um ein Aufzeigen der christlichen Inspiration der Menschenrechte, ein Ruf zum Kampf für eine „Zivilisation der Liebe" (Papst Paul VI). Soweit ausgewählte katholische Stimmen. In der DDR haben im Unterschied zum Schweigen in der Bundesrepublik Harald Schultze und Walter Ulimann eine Orientierungshilfe vorgelegt. 28 Diese Standortbestimmung will nicht die von konservativem Geist geprägte Ablehnung der Revolution in Deutschland und die strikte Verurteilung der Gewaltanwendung in der Ethik Luthers fortführen. Die Standortbestimmung orientiert sich gegen 28

H. Schultze/W. Ulimann, Die Französische Revolution 1789-1989. Evangelische Überlegungen zur Standortbestimmung, Ökumenische Rundschau 3 8 , 1 9 8 9 , S. 471-479.

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die Diktatur der Jakobiner und den Terror an der Basis der Revolution, an der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte. Hervorgehoben wird die Anerkennung der Religionsfreiheit (These 10). Das Ideenpotential der Menschen- und Bürgerrechte soll daher in einen politischen und gesellschaftlichen Reformprozeß in der DDR eingebracht werden. Es geht also nicht um die Identifizierung von Revolution mit dem Geschichtshandeln Gottes, sondern um die Besinnung auf politische Verantwortung und „die Fragen nach dem Mandat der Regierung und nach der gesellschaftlichen Gerechtigkeit", die neu zu stellen seien (These 13). Das Fazit lautet: „Die Auseinandersetzung mit der Französischen Revolution ist aber nicht nur wegen dieser besonderen Frage nach der Rolle politischer Gewalt notwendig. Sie bedeutet vor allem - die kritische Reflexion über die Rolle der Kirchen in einer säkularisierten Gesellschaft und über das Mandat von Christen, sich für die Verwirklichung von Menschen- und Bürgerrechten verantwortlich einzusetzen." 29 Zum Abschluß sei noch ein Aufsatz von Friedrich Wilhelm Graf erwähnt, der die Stellung des deutschen Protestantismus zu den „Ideen von 1789" behandelt. Auch hier geht es nicht primär um historische Darstellung, sondern um die aktuelle Bedeutung. Die Auseinandersetzung mit den „Ideen von 1789" ist in Deutschland ein Streit um die moderne pluralistische Individualitätskultur und um die Idee einer auf der Idee der Volkssouveränität basierenden Demokratie geworden. Im Zuge der Restauration führte dies ferner zu konfessionspolitischen Auseinandersetzungen. Denn die Theoretiker der Restauration führten die politischen Prinzipien der Revolution zurück auf die Ideen, welche die Reformation im 16. Jahrhundert für Religion und Kirche vertraten. Die umfassende Kritik an der Aufklärung verband sich daher mit einer prinzipiellen Absage an Reformation und Protestantismus. Die Folge waren „politische Konversionen". „Zwischen 1800 und 1830 treten mehr als zweitausend Adlige und antirevolutionär eingestellte bürgerliche Intellektuelle mit dem Argument aus der evangelischen Kirche zum Katholizismus über, daß in dem von der Revolution erzeugten Chaos der Gegenwart allein die mit klaren hierarchischen Strukturen ausge-

29

A.a.O., These 14, S. 474.

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stattete katholische Kirche noch Ordnung und Autorität verbürgen könne." 3 0 Wie reagierte nun damals der Protestantismus auf diese Verbindung der Revolution mit der Reformation? Die Folge war eine „Fundamentalpolitisierung" des deutschen Protestantismus. 31 Er fiel auseinander in einen antirevolutionär-konservativen, dogmatisch-konfessionalistischen Flügel und in einen sog. liberalen, vorrangig an Moral und Pädagogik orientierten Flügel. Der liberale Protestantismus forderte einen gewaltfreien Fortschritt. K.G. Bretschneider formulierte diesen Grundsatz 1835 so: „Man muß vernünftig reformieren, damit nicht gewaltsam revoltiert werde". 3 2 Bretschneider erklärte: „Was Frankreich fehlt, sind aufgeklärte Theologen". Der Hegelianer Ph. K. Marheinke meinte die Reformation sei einer „der größten Staatsstreiche Gottes". 3 3 Freilich sollte von oben her reformiert werden. Die liberale Absicht ging darum einher mit illiberalen Denkstrukturen. 34 Der protestantische Konservatismus hingegen meinte, wer nach den revolutionären Massenmorden noch Aufklärung und Vernunftabsolutismus verteidige, sei politisch naiv und bereite nur erneut dem revolutionären Chaos den Weg. Empfohlen wird der „christliche Staat". Friedrich Julius Stahl erklärte die Revolution zum Inbegriff der Sünde, weil sie im Versuch des neuzeitlichen Menschen gründe, sich selbst an Gottes Stelle zu setzen. Die protestantischen Konservativen setzten gegen Aufklärung und Revolution auf eine starke Kirche und vor allem einen starken Staat, forderten also autoritätsgläubig einen Institutionenobjektivismus. Im Zweifelsfall optierte man für den starken Staat, für die Bindung und gegen die individuelle Freiheit und deren Folgen wie Pluralismus, Toleranz. Der Weg von der Ablehnung der französischen Revolution zur deutschen Revolution 1933 ist damit schon im 19. Jahrhundert vorgezeichnet. Das ist ein problematischer Weg. Fatal wäre es darum, wenn sich heute die Kirchen in der Polemik

30

F.W. Graf, Der deutsche Protestantismus und die Revolution der Katholiken, Pastoraltheologie 78, 1989, S. 2 9 2 - 3 0 8 , Zitat S. 2 9 3 .

31

A.a.O., S. 2 9 4 .

32

K.G. Bretschneider, Die Theologie und die Revolution. Oder: die theologischen Richtungen unserer Zeit in ihrem Einflüsse auf den politischen und sittlichen Zustand der Völker, 1835, S. 165.

33

F. W. Graf, a.a.O., S. 298.

34

A.a.O., S. 3 0 0 .

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gegen Aufklärung und Revolution zusammenfänden, wie sie im letzten Jahrhundert katholische Restaurationstheoretiker und konservative Protestanten formuliert haben, und damit ein Aufhalten des Prozesses der pluralistischen Zersetzung aller Verbindlichkeiten und der Auflösung moralischer Werte durch den Säkularismus zu erreichen hofften. 35 Anzeichen dafür gibt es nämlich; so wenn der soziale Katholizismus des 19. Jahrhunderts als Garant der Menschenrechte bezeichnet, wird 3 6 , der die Idee der Menschenrechte und ihre Rezeption vertritt oder gar als neuer Integralismus die Anwaltschaft der Menschenrechte von Rom und vom Papst erwartet. Wir sind also heute mit der Französischen Revolution und ihren Folgen noch keineswegs fertig, am „Ende". Im Gegenteil. Eine vorläufige Bilanz ergibt: a) An der Bewertung der Französischen Revolution wie an der Auswahl der „denkwürdigen" Themen zeigt sich noch gegenwärtig die Einstellung zur Moderne, ihren Ideen und vor allem ihrer politischen Verfassung. Im Katholizismus der Gegenwart scheiden sich an 1789 nach wie vor unterschiedliche inner katholische Strömungen. b) Offen und unklar ist ebenso, ob auch Protestantismus und Katholizismus 1789 nach wie vor unterschiedlich werten. Die unmittelbare Herleitung der Revolution aus der Reformation erfolgt heute wohl kaum noch. Aber wie verhält sich reformatorische Freiheitsauffassung und Weltfrömmigkeit zur Neuzeit? Sind hier evangelische und katholische Kirche vereint in einer politischtheologischen Konsensökumene? Oder bestehen immer noch Grundverschiedenheiten ? c) Am Beispiel der Französischen Revolution ist die Stellung von Theologie und Kirche zum weltanschaulich neutralen, säkularen Staat und zum gesellschaftlichen Pluralismus exemplarisch zu erörtern.

35

A.a.O., S. 306.

36

Vgl. J. Punt, Die Idee der Menschenrechte. Ihre geschichtliche Entwicklung und ihre Rezeption durch die moderne katholische Sozialverkündigung, Paderborn 1987, S. 175ff.; E.W. Böckenförde/R. Spaemann (Hg.), Menschenrechte und Menschenwürde, Stuttgart 1 9 8 7 (darin einige integralistische katholische Beiträge).

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III. Damit sei nach einer vorläufigen Bilanz der Deutungen von 1789 zu den Themen der Französischen Revolution übergegangen. 1.) An erster Stelle ist hier selbstverständlich die Anerkennung der Menschenrechte und der Grundworte Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit zu nennen. Darüber scheint unter den Kirchen inzwischen sogar ein sehr weitgehender Konsens zu bestehen. Sie haben ihren Frieden mit der Menschenrechtsdeklaration gemacht. Eine Rückkehr zum Legitimitätsprinzip der Monarchie, zum Programm eines christlichen Obrigkeitsstaates steht nicht zur Debatte. Demokratie und Volkssouveränität sind akzeptiert. Wieweit freilich die Menschenrechte als unveräußerliche Grundfreiheiten der Person von kirchlicher Seite uneingeschränkt anerkannt werden, ist eine noch nicht abschließend geklärte Frage. Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 26. August 1789 enthält folgende Präambel: „In der Überzeugung, daß die Unkenntnis, das Vergessen oder die Verachtung der Menschenrechte die alleinigen Ursachen der öffentlichen Mißstände und der Verderbtheit der Regierungen sind, haben die in der Nationalversammlung vereinigten Vertreter des französischen Volkes beschlossen, in einer feierlichen Erklärung die natürlichen, unveräußerlichen und geheiligten Menschenrechte darzulegen, damit diese Erklärung allen Mitgliedern des gesellschaftlichen Verbandes beständig vor Augen ist und sie ohne Unterlaß an ihre Rechte und Pflichten erinnert werden; damit die Handlungen der gesetzgebenden wie auch der ausübenden Macht in jedem Augenblick mit dem Zweck jeglicher politischen Einrichtung verglichen werden können und dadurch mehr geachtet werden; damit die Beschwerden der Bürger von nun an auf einfache und unbestreitbare Grundsätze gegründet, sich immer auf die Erhaltung der Verfassung und das Wohl aller richten mögen. Infolgedessen erkennt und verkündet die Nationalversammlung in Gegenwart und unter dem Schutz des Allerhöchsten die folgenden Menschen- und Bürgerrechte." Die Menschenrechtserklärung ist also zunächst einmal regimeund regierungskritisch. Sie enthält ein Verfassungsprogramm. Nun wird man nicht behaupten wollen, die Praxis der Französischen Revolution habe der Intention des Menschen- und Bürgerrechts durchgängig entsprochen. Die Todesstrafe war nicht abgeschafft.

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Die Guillotine wurde zum Symbol der Revolution. Rechtsstaatlichkeit bestand nicht. Die Sonderjustiz der Revolutionstribunale schaltete sämtliche profilierten politischen Gegner aus. „Aristokraten" und „Revolutionsfeinde" wurden nach Scheinprozessen hingerichtet. Ehemalige Adlige, eidverweigernde Priester, Monarchisten, Spekulanten, politische Konkurrenten, „Verdächtige" und „Verräter" fielen dem Terror zum Opfer. Mit Artikel 7 der Erklärung von 1789 ist dies nicht vereinbar. Zu lernen ist daraus, welche Bedeutung rechtsstaatlichen Verfahren und Ordnung für die Durchsetzung und Einhaltung der Menschenrechte zukommt. Mit bloßer verbaler Anerkennung der Menschenrechte ist es nicht getan. Im Gegenteil, die bloße verbale Zustimmung kann einen Anschein von Rechtsstaatlichkeit erwecken und vom Unrecht ablenken. Ein ungelöstes Problem ist in der Französischen Revolution die Frage, ob die Menschen- und Bürgerrechte für alle Menschen gelten. Wie geht man mit Minderheiten um? Wie steht es mit der Diskriminierung von Juden, Sklaven, Frauen? Am 28.9.1791 wurden die Juden durch Dekret als Vollbürger anerkannt. 37 Am 4. Februar 1794 wurde die Sklaverei in den Kolonien abgeschafft, fast zeitgleich mit der Ausschaltung der Gegner Robespierres, der Hinrichtung Heberts und seiner Anhänger und Dantons und seiner Anhänger. Ein besonderes Thema sind die Rechte der Frau. 3 8 Die Erklärung von Menschen- und Bürgerrechten spricht nicht von den Rechten der Frau. Es war nie ernsthaft daran gedacht, die Frauen an den allgemeinen Wahlen teilnehmen zu lassen. Zwar spielten Frauen bei den revolutionären Aktivitäten der Pariser Bevölkerung eine bedeutsame Rolle, erstmals am 5./6. Oktober 1789, dann auf der Tribüne der Nationalversammlung und in den Jakobinerclubs. Frauen wie Mme. Roland, Theroigne de Mericourt oder Olympe de Gouges bestimmten auf unterschiedliche Art den Gang der Revolution. Olympe de Gouges (1748-1793) trat für die Gleichberechtigung der Frau ein. Ihre Konzeption einer „Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin" blieb Entwurf. 39 Sie selbst wurde am 3. Novem37 38 39

Die Französische Revolution. Ein Lesebuch... Anm. 2, Nr. 20, S. 125ff. A.a.O., Nr. 30, S. 157ff. A.a.O., Nr 37, S. 182-186.

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ber 1793 hingerichtet. Die Menschenrechtserklärung wurde also nicht nur unvollkommen verwirklicht, sondern ist in sich selbst unvollkommen. 2.) Ein besonderes düsteres Kapitel ist der Umgang der Französischen Revolution mit der Religionsfreiheit. Der Bruch mit der Staatskirche, welche unter der Monarchie die Gesellschaft kontrollierte, schlug um in Religionsfeindschaft und Religionsverfolgung. Die Zeitschrift „Gewissen und Freiheit" dokumentiert diese Religionspolitik anschaulich.40 Die Verfolgung der katholischen Priester, die den Eid auf die Zivilkonstitution verweigerten oder am Zölibat festhielten und deshalb als „Fanatiker" galten, war grausam. Die Revolution schuf christliche Märtyrer.41 Die Entchristianisierung wurde nachdrücklich betrieben. Die Revolution bildete eine eigene Religion. Die Revolutionäre wurden selbst Fanatiker des Antifanatismus. Dabei spielt sicherlich die Erfahrung der französischen Geschichte mit: Die Aufhebung des Edikts von Nantes 1685 und die Protestantenverfolgung. Der Katholizismus war Staatsreligion. Viele Abgeordnete stammten aus dem Klerus, sie waren Priester, Bischöfe oder Theologen. Genannt seien nur Schlüsselfiguren wie der Abbé Sieyès oder Talleyrand. Die Revolutionsreligion orientierte sich am katholischen Vorbild. Die revolutionären Feste imitierten den katholischen Kult (14. Juli 1790 Föderationsfest; 10. November 1793 „Fest der Freiheit und Vernunft" in Notre Dame; 8. Juni 1794 „Fest des Höchsten Wesens" unter Leitung Robespierres). Es gab einen revolutionären Märtyrerkult (Marat, Lepeletier Chalier, der Trommler Bara und der junge Soldat Viala). Der Maler David schuf eine revolutionäre Ikonographie: den Ballhausschwur, die Ermordung Marats. Er inszenierte das Föderationsfest. Man ahnt schon künftige Parteitagsinszenierungen voraus. Der christliche Kalender wird durch den Revolutionskalender abgelöst (5.0ktober.l793), eine neue Zeitrechnung wird eingeführt (22. September 1792); die christliche Woche wird von der Dekade verdrängt. Der Dekadenkult ersetzt den Sonntag als Ruhetag. Der neue Kult wird durch missionarische Sendboten und mit staatlichen Zwangsmaßnahmen durchgesetzt. Von Gewissens- und Kultfreiheit kann keine Rede sein. Im

40 41

Gewissen und Freiheit, 17. Jg., Nr. 33, 1989. A.a.O., S. 60.

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Gegenteil: Der Haß gegen die christliche Religion ist treibende Kraft. Unter dem Direktorium blieb es bei dieser Religionspolitik der Unterdrückung des christlichen Glaubens und vor allem der katholischen Kirche. Ist die Anerkennung der Religionsfreiheit des einzelnen Gewissens und der gesellschaftlichen Gruppen der Testfall für die Geltung der Menschenrechte, so ist das Ergebnis also negativ. Aber es zeigt sich auch in den Révolutions jähren, daß das Bedürfnis nach religiöser Vergewisserung unausrottbar ist und daß das Verbot des Glaubens Surrogate erforderlich macht, welche die Vernunft künstlich zu schaffen ersucht. Die Unfähigkeit einer Kirche, der religiösen Dimension des Humanum gerecht zu werden, ist ein Einfallstor für die religiöse Antireligiosität. Die Erfahrung der Französischen Revolution zeigt, welche schmerzlichen Folgen es hat, wenn man versucht, die Transzendenz dem Denken auszutreiben und die Religion blutig aus dem Herzen der Menschen zu reißen. Wenn es eines aufgrund dieser Erfahrung zu bedenken gilt, so dies - um es mit Hegel zu sagen - , daß das Gewissen ein Heiligtum bildet, das anzugreifen Frevel ist. 3.) Vom Konflikt zwischen katholischer Kirche und revolutionärem Staat war bereits die Rede. Verständlich ist vielleicht die staatliche Reform der Kirche aufgrund der Verschmelzung von Altar und Thron im katholischen Frankreich Ludwig XIV. Zu billigen und zu rechtfertigen ist die Art und Weise der Kirchenreform keineswegs. Die Protestanten unterstützten, zumindest anfangs, die Revolution entschieden, weil sie davon die Aufhebung der römisch-katholischen Religion als Staatsreligion erhofften. Mit der Einführung der Zivilverfassung des Klerus (12. Juli 1790) wurde freilich faktisch das Staatskirchentum beibehalten. Nur verpflichtet jetzt der revolutionäre Staat die Priester auf sein Gesetz. Daß der Papst aus diplomatischen Überlegungen lange mit seinem Protest zögerte, ist für die katholische Geschichtsschreibung bis heute ein unbewältigtes Thema und eine offene Wunde. Für die katholische Kirche läßt sich die Schwierigkeit, mit dem Trauma der Zivilverfassung sachgemäß umzugehen, an der Ablehnung der Person des Abbé Gregoire bis heute verdeutlichen. Jedenfalls ist bis heute die Spannung zwischen republikanischer Politik und kirchlichem Autoritätsanspruch eine nach wie vor für Kirche und Theologie gestellte Aufgabe. Nur eine Kirche, die von sich aus zur Selbstbegrenzung fähig ist und ihre Zuständigkeiten selbst beachtet, kann diese Spannung sachgerecht wahr-

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nehmen. Selbstbegrenzung heißt freilich nicht Rückzug aufs Private, Verinnerlichung des Glaubens ohne jede Ausstrahlung nach außen. Die nachrevolutionäre Moderne stellt jedenfalls vor die Nötigung, den politischen und rechtlichen Auftrag des Staates von der Aufgabe der Kirche, zeichenhaft das Geheimnis Gottes zu bezeugen, richtig zu unterscheiden. Eine recht verstandene Unterscheidung der zwei Reiche wird daher nach beiden Seiten hin kritisch sein müssen, sowohl kritisch gegenüber Eingriffen der Kirche in politische Zuständigkeiten als auch kritisch gegenüber einem Staat, der sich als politischer Heilsbringer versteht und aufführt. 4.) Damit ist ein weiteres Stichwort, „Terror der Tugend", genannt. Dies ist eine Formulierung von Robespierre, dem „Unbestechlichen". Man wird wohl der Brisanz der Begründung des Terrors auf die Tugend und der Legitimation des Terrors durch die Tugend nicht gerecht, wenn man darin nur einen ideologischen Kunstgriff sieht, also ein Mittel des Volksbetrugs.42 Anders als eine Begründung des Staats auf die Interessen der Bürger wurde vielmehr von vielen Staatsdenkern die Tugend als Grundlage der gesellschaftlichen Synthese, der Integration begriffen. Robespierre folgt der These, wonach Demokratie und Republik unlöslich an die Idee der Tugend geknüpft sind. Nur wenn die Tugend, also eine Sittlichkeit, die das öffentliche Interesse über den privaten Nutzen stellt, herrscht, können Demokratie und Republik Bestand haben. Der Verfall der Tugend ist die Ursache politischen Niedergangs. Robespierre sagt in einer Grundsatzrede „Über die Prinzipien der politischen Moral" am 5. Februar 1794: „Was ist also das grundlegende Prinzip der demokratischen Regierung oder der Volksregierung, das heißt, was ist die wichtigste Kraft, die sie unterstützen oder antreiben soll? Es ist die Tugend! Und ich meine damit die öffentliche Tugend, die in Griechenland und Rom so viele Wunder vollbracht hat und die noch weit Erstaunlicheres im republikanischen Frankreich vollbringen soll. Ich meine jene Tugend, die nichts anderes ist als die Liebe zum Vaterland und zu seinen Gesetzen."43 Tugend ist Selbstbeherrschung,

42

43

Vgl. H. Münkler, „Eine neue Epoche der Weltgeschichte". Revolution als Fortschritt oder Rückkehr?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 2 2 / 8 9 , 1 9 8 9 , S. 22f. M. de Robbespierre, Ausgewählte Texte, Hamburg 1971, S. 587f., zit. nach H. Münkler, a.a.O., S. 22.

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fordert die Überordnung des öffentlichen Interesses über alle Privatinteressen. „Denn was sind diese Tugenden anders als die Seelenstärke, die einen Menschen zu solchen Opfern befähigen." Eine solche Auffassung von Tugend muß folgerichtig einen Pluralismus von Interessen und Ideen ablehnen. Sie wird deswegen notwendig totalitär. Abweichler sind Verräter, die man ausmerzen muß. Denn wer nicht aus Tugend, sondern aus Eigennutz Politik betreibt, huldigt dem Laster und verdirbt die Sitten. Eine derartige Gründung von Staat und Politik auf die Tugend und auf die Aufgabe des Staates, die Rückkehr zur Sittlichkeit zu erzwingen, hat fatale Wirkungen. Theologische Überlegung muß bedenken, ob nicht eine realistische Sicht des Menschen, die ihn sowohl als fähig zum Guten als auch geneigt zum Bösen begreift, die Aufgabe des Staates heilsam auf seine Schutzfunktion begrenzt und damit den politischen Totalitarismus aufgrund dieser Anthropologie prinzipiell verneinen muß. Die Französische Revolution hinterläßt die Frage nach der moralischen Überheblichkeit als Wurzel des Totalitarismus; diese Selbstüberhebung des Menschen kann die Geburt des Terrors aus der Tugend erklärbar machen. 5.) Ein weiterer Zwiespalt ist der Französischen Revolution eingestiftet mit der Spannung zwischen Nationalismus und Menschheitsidee. Die Proklamation der Menschenrechte war als Vorbild für die Menschheit insgesamt gedacht. Die Generalstände konstituierten sich zugleich am 17. Juni 1789 als Assemblee nationale. An die Stelle der Ständevertretung tritt die Repräsentation der Nation. Die Worte Nationalgarde, Nationalarmee, Nationalerziehung, „fete nationale", der Ausruf „Vive la nation" zeigen, daß die Revolution Schöpfer des modernen Nationalismus ist. Im Kampf gegen Napoleon hat z.B. Fichte die Nation als „ewige Ordnung der Dinge", die über die Individuen hinaus fortdauert, gerühmt. So ist der Nationalismus auch eine Morgengabe der Revolution, auch und gerade für uns Deutsche. Die Nation, das Volk macht die Revolution. „Durch ihre Heilsidee gab die Revolution in Frankreich einem nationalistisch gefärbten Patriotismus kräftigen Auftrieb, wenn auch die Wurzeln des Nationalgefühls bis ins 13. Jahrhundert zurückgreifen."44 Renan meinte, „L'existence d'une nation est... un plebiscite de tous les

44

A. Frisch, Herderkorrespondenz 43, 1989, S. 259.

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jours". 45 Die Jakobiner waren in Frankreich nicht zufällig die glühenden Vertreter des Einheitsstaates. Und so nennt man die Gegner der Dezentralisierung des französischen Staats- und Verwaltungssystems bis heute Jakobiner. Wie verträgt sich aber die emphatische Bindung an die eigene Nation mit der Orientierung an Humanität und Ökumene? Das ist auch in der Gegenwart eine in Kirche und Politik unbeantwortete Frage, die sich nach wie vor stellt. 6.) War nun die Revolution insgesamt ein Fortschritt oder ein Rückschritt? Robespierre sprach von der Rückkehr zur Sittlichkeit. Er dachte nicht an Evolutionen, an einen wirklichen Fortschritt. Hegel benutzt das Wort Revolution auch. Aber wollte Hegel die Revolution nur „hinweg feiern" (so J. Habermas), wenn er in der Vergangenheitsform begeistert von ihr sprach:46 „Solange die Sonne am Firmament steht und die Planeten um sie herumkreisen, war das nicht gesehen worden, daß der Mensch sich auf den Kopf, das ist auf den Gedanken stellt und die Wirklichkeit nach diesem erbaut... Es war dies somit ein herrlicher Sonnenaufgang. Alle denkenden Wesen haben diese Epoche mitgefeiert. Eine erhabene Rührung hat in jener Zeit geherrscht, ein Enthusiasmus des Geistes hat die Welt durchschaut, als sei es zur wirklichen Versöhnung des Göttlichen mit der Welt nun erst gekommen." Hegel greift bei der Deutung der Revolution zur kosmischen Metaphorik der Astronomie. Sonne und Planeten symbolisieren den ewig gleichen Lauf der Dinge. Dieser Lauf wird durchbrochen, wenn der Mensch die Welt nach Vernunftgesichtspunkten neu ordnen will. Dieser Wille des Menschen ist Ausdruck der Freiheit und Durchbruch durch Determination. Hegel deutet in der Metapher vom Sonnenaufgang dies an. Jedem Sonnenaufgang folgt allerdings mit Naturnotwendigkeit ein Sonnenuntergang. Dazwischen liegt die Bahn, der die Sonne folgt, und von dieser Bahn gibt es kein Abweichen. Einmal in Gang gesetzt, ist eine Revolution nicht mehr aufzuhalten. Aufstieg, Zenit, Niedergang Hegels Metaphorik spricht von quasi-naturgesetzlicher Notwendigkeit. Das ist auch nach 1989 eine beklemmende Perspektive. Gibt es einen tatsächlichen Fortschritt in der Geschichte oder doch nicht nur 45

46

Zit. nach U. Dielhse/H. Rath, Art. Nation/Nationalismus, in: HWPh Bd. 6, 1984. Vgl. E. Schulin, a.a.O., S. 9.

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im Auf und Ab der revolutionären Umbrüche und historischen Kontinuitäten einige kleine Fortschritte. „Komplex, vielschichtig, ohne einen durchgehenden Täter - auch wenn man diesen Täter als Volksschicht sah - und ohne klaren Sieger" 4 7 , so charakterisiert Schulin die sensationelle historische Ereignisfolge der Französischen Revolution. 48 Und was hat nach diesem Überblick christliche Verkündigung dazu zu sagen? Soll sie Gott als den ewigen Unveränderlichen oder als den ganz Ändernden, Gott als den die ursprüngliche Ordnung Wiederherstellenden oder als den immer das Neue Schaffenden verkündigen? Die Frage, ob die Französische Revolution in einem umfassenden Verständnis ein Fortschritt war, muß und wird offenbleiben. Die Geschichte ging und geht weiter. Zweifellos hat sie Folgen gehabt. Der lange Schatten der Französischen Revolution fällt nach wie vor auch auf den deutschen Protestantismus. 1988 veröffentlichte in Frankreich der Soziologe Jean Bauberot ein Buch mit dem Titel „Le protestantisme doit-il mourir?", Muß der Protestantismus sterben?, in dem er das Verhältnis von Reformation und Revolution aufgreift. Wo ist heute der Platz des Protestantismus zwischen säkularer Gesellschaft und katholischem Integralismus? Nach J . Bauberot's Überzeugung können allein Toleranz, innerkirchlicher Pluralismus, Konflikt- und Kompromißfähigkeit, also die innerkirchliche Aufnahme und Aktualisierung der Menschenrechte den Protestantismus lebensfähig halten. Der Protestantismus wird nur dann politisch lebendig und wirksam bleiben, wenn er in sich selbst die Spannung zwischen Wahrheit und Freiheit auszuhalten vermag. Diese Spannung auszuhalten, ist gewiß schwierig; aber damit leistet der Protestantismus auch einen Beitrag zur allgemeinen Kultur. Die Verkündigung der Kirche kann Kultur bilden, aber auch Kultur zerstören. Eine bewußt revolutionäre, grundsätzlich gesellschafts- und zeitkritische Predigt ist dieser Aufgabe so wenig angemessen wie eine antirevolutionäre polemische Kampfpredigt. Keine Verkündigung ist politisch folgenlos. Daraus folgt keineswegs, daß die Predigt absichtlich politischen Zwecken dienen soll; sie muß theologisch urteilsfähig sein. Zu den Auswirkungen der Französischen Revolution auf die Kirche gehören

47 48

G.F.W. Hegel, Philosophie der Weltgeschichte, Werke Bd. 12, 1970, S. 529. E. Schulin, a.a.O., 12.

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Fragestellungen wie politische Predigt, Teilnahme am öffentlichen Leben, die Verantwortung für eine politische Kultur, das Eintreten für die Achtung der Menschenrechte und die Menschenwürde. Im langen Schatten der Französischen Revolution kann die Kirche den Herausforderungen und Anfragen aus der Gesellschaft, aus einer säkularen Welt nicht ausweichen. Kirche und Theologie werden vom revolutionären Wandel verändert und sind genötigt, angesichts der ständigen Veränderung ihres Kontextes ebenso beständig theologisch neu nachzudenken, um die Zeichen der Zeit im Licht des Evangeliums deuten zu können.

11. Wie christlich wird Europa sein? Eine evangelische Perspektive Im Oktober 1991 wurde ich gebeten, auf einem von katholischen Trägern unter dem Titel „Europa imaginieren" veranstalteten Kongreß in Hannover die evangelische Sicht einzubringen. Im März 1992 habe ich den Vortrag in Klagenfurt auf einer ökumenischen Tagung erneut gehalten. Er thematisiert Stellung und Aufgabe des Protestantismus in Europa. Im revolutionären Jahr 1989 sprach der amerikanische Politologe Francis Fukuyama vom „Ende der Geschichte". Er meinte damit den Erfolg der Demokratie, den Sieg der Marktwirtschaft, des Kapitalismus, das Ende der Ost-West-Konfrontation des Kalten Krieges. Inzwischen hat sich der Welthorizont und der Horizont Europas verdüstert. Die Geschichte ging weiter. Die Zukunft Rußlands, seiner politischen Entwicklung, Verfassung und der Wirtschaft ist ungewiß. Vor der Haustür hier liegt Jugoslawien mit dem Gemetzel in Bosnien-Herzegowina. Italien taumelt in einer politischen Krise. Deutschland hat riesige wirtschaftliche und soziale Probleme durch die deutsche Vereinigung. Der Maastrichter Vertrag ist strittig, die europäische Wirtschaftsgemeinschaft wankt. Auf Europa lastet weltweit ein Migrationsdruck von Aylbewerbern, Einwanderen u.a. Die Eurozentrik wird von den Ländern der Dritten Welt in Frage gestellt. Die Aussichten sind ungewiß und zweifelhaft. Das war im 17. bis 19. Jahrhundert anders. Europa bildete im 18. und 19. Jahrhundert das Weltzentrum. Bis ins 20. Jahrhundert kennzeichnete Europa ein Expansionsstreben: Kolonialismus, Weltmission, Export des Kapitalismus, Ausbreitung der Menschenrechte gingen von Europa aus. In Europa entstand in der Französischen Revolution (1789) der Nationalismus. Europäischen Ursprungs ist der Dualismus von Kirche und Staat - anders im Islam, wo Politik und Religion eins sind. In Europa entstanden Industrialismus, Pluralismus, kulturelle Vielfalt, konfessioneller Pluralismus. In Europa

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zerbrach der Traum von der einen Welt. Eine Rückkehr zu einem Corpus Christianum ist nicht möglich. Eine evangelische Perspektive wird vor allem zur Nüchternheit verpflichtet sein. Daß „Nüchternheit, evangelische Nüchternheit" angesagt ist, war auch die Grundaussage der Europäischen Evangelischen Versammlung in Budapest im März 1992. Werfen wir einen Seitenblick auf die katholische Perspektive.

I. Die katholische Perspektive Die katholische Kirche pflegt den Einheitsgedanken unter dem Leitbegriff „Neu-Evangelisierung" Europas. Aber was soll das Modell sein? Vielleicht Karl der Große, der „Rex Pater Europae" in Aachen? Oder Kaiser Karl V., die habsburgische Universalmonarchie in Wien? Papst Paul VI. rief 1964 Benedikt von Nursia zum „Erzpatron von ganz Europa" aus. Papst Johannes Paul II. fügte die Slavenapostel Cyrill und Methodius als Co-Patrone hinzu. Die verschiedenen Namen sind Hinweise auf ein Problem. Die katholische Kirche hat sich seit der Nachkriegszeit sehr intensiv mit Europa befaßt. 1 Papst Johannes Paul II. betont unermüdlich, wie wichtig für die römisch-katholische Kirche die Neuevangelisierung und die Überwindung der Spaltung Europas sei. Joseph Kardinal Ratzinger stellte 1979 fest: „Das eigentlich mit Europa Gemeinte muß wohl zwischen nebulösem Idealismus und bloß pragmatischer Interessengemeinschaft liegen." 2 Ratzinger unterscheidet eine vierfache Herkunft Europas, nämlich das griechische, antike Erbe, das christliche Erbe, das lateinische Erbe, das Erbe der Neuzeit. Im Konflikt in Jugoslawien werden allerdings alte Antagonismen zwischen Rom und Byzanz im Streit zwischen Serben und Kroaten wieder lebendig. Hellas, dem griechischen Erbe verdankt

1

Vgl. z.B. J. Homeyer, Die Kirche und Europa aus katholischer Sicht, Una sancta 4 4 , 1 9 8 9 , S. 2 6 6 - 2 7 4 ; F.K. Wetter, Kirche in Europa, Schriften der Katholischen Akademie in Bayern, Band 132, 1989. Bereits 1977 wurde mehrsprachig (englisch, deutsch, französisch, niederländisch und dänisch) eine „Declaratio concerntiarum episcopalium Europae" von der Deutschen Bischofskonferenz veröffentlicht.

2

]. Kardinal Ratzinger, Europa - verpflichtendes Erbe der Christen, 1979, S.3.

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Europa die Demokratie und die Orientierung am Recht, an der Eunomie. Dieses Erbe, so die katholische Sicht, kann freilich nur bewahrt werden, auf der Grundlage gemeinsamer sittlicher Grundwerte. Zur Ehrfurcht vor den sittlichen Werten gehört nach katholischer Überzeugung auch die Ehrfurcht vor Gott. Deshalb kann das Dogma des Atheismus niemals die Voraussetzung öffentlichen Rechts und der Staatsbildung bilden. Trotz der prinzipiellen Anerkennung der Gewissensfreiheit und der Menschenrechte kann also Europa nicht ohne die Wiederentdeckung der Seele Europas die Zukunft bestehen. Die Erklärung des Rates der EKD zu den Wahlen zum Europäischen Parlament vom 21. Oktober 1978 sagt anscheinend dasselbe, wenn sie feststellt: „Europa ist in seiner Entstehung und Geschichte nicht ohne die Anstöße und Lebensformen zu denken, die vom Evangelium geprägt sind. Es gibt darum gute Gründe dafür, vom christlichen Abendland, von christlicher Kultur und Sitte zu sprechen. Ein großer Teil der Menschen Europas gehört auch heute einer christlichen Kirche an. Von Europa ging die Botschaft der Versöhnung in Jesus Christus in alle Welt. Das tatsächliche Verhalten der Kirchen und der Christen hat aber in der Vergangenheit und bis in die Gegenwart hinein oft nicht der anvertrauten Botschaft entsprochen. Zur Geschichte Europas gehört daher auch die Schuld, welche die Kirchen auf sich geladen haben." Die evangelische Stimme klingt weniger triumphalistisch, denn zum Erbe Europas gehören auch Verfehlung und Schuld. Im Blick auf die Einigung Europas in der westeuropäischen Integration hat der Rat am 20. Mai 1989 diesen Gedanken nochmals bekräftigt: „Europa darf nicht nur unter fraglos wichtigen wirtschaftlichen Aspekten gesehen werden, sondern braucht die Erinnerung an seine Herkunft, zu der innerhalb der Geschichte des Christentums besonders auch die Reformation und ihre kulturellen und politischen Folgen gehören. Weil dieser geistige Gehalt verdeckt ist und viel zu wenig diskutiert wird, gibt es in der Bevölkerung entgegen der faktischen Entwicklung eine gewisse Europamüdigkeit." Der revolutionäre Umbruch Europas seit 1989 stellt inzwischen erneut und unausweichlich auch die evangelische Kirche vor das Erbe europäischer Geschichte. Dieser geschichtliche Wandel fordert die Evangelische Kirche besonders heraus. Sie war nämlich 1969 bis 1991 organisatorisch getrennt. Bis 1969 war die Evangelische Kir-

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che die letzte gesamtdeutsche Institution. Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) hat - trotz mancher politischer Vorstöße dazu nicht erwogen, ihren Namen in evangelische Kirche in der Bundesrepublik Deutschland zu ändern. Allerdings gab es infolge der Spaltung Deutschlands und Europas bis 1989 zwei Europakonzepte im deutschen Protestantismus. Die eine Vorstellung setzte Europa mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, mit Brüssel gleich, mit der Westintegration. Gegen diese westeuropäische Einigung bestanden freilich in Deutschland auf evangelischer Seite erhebliche und sehr grundsätzliche Vorbehalte. Die europäische Wirtschaftsgemeinschaft galt als rein ökonomisch ausgerichtet, technokratisch, also als „kalt". Wenn es einen geistigen Hintergrund der Kultur in dieser Wirtschaftsgemeinschaft überhaupt gebe - so die evangelische Vermutung und Befürchtung - sei dies ein katholischer Hintergrund. Die technokratische Prägung und die katholische Dominanz führten auf evangelischer Seite zu einer ausgesprochenen Zurückhaltung gegenüber der westeuropäischen Integration. Dagegen wurde immer betont, daß Europa nicht an der Elbe endet, und daß Schweden, Finnland, die Schweiz ebenso zu Europa gehören. Die Frage, wer zu Europa unverzichtbar gehört, ist durch das Jahr 1989 nun eindeutig beantwortet worden. Europa ist seitdem politisch, kulturell und gesellschaftlich eine Einheit, auch wenn nach wie vor große wirtschaftliche und soziale Gegensätze und Unterschiede bestehen. 3

II. Konfessionsstatistik Auszugehen ist bei einer Analyse zunächst einmal von der Konfessionsstatistik, die freilich ungesichert ist. Von den etwa 3 2 0 Millionen Menschen in den 12 EG-Staaten sind 6 2 , 3 % römisch-katholisch 3

Literatur: F.K. Schumann, Europa in evangelischer Sicht, Stuttgart 1953. Christen in Europa. Der Beitrag der christlichen Kirchen zur europäischen Integration, Kleine Europa Bibliothek, Band 10, Andernach 1971. H. Rösener (Hg), Die kritische Bilanz der gemeinsamen Agrarpolitik und die Verantwortung der Kirchen bei der Fortentwicklung der Europäischen Gemeinschaft, Bielefeld 1976. A. Hollenbach, Europa und das Staatsrecht, in: Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht 35, 1990, S. 250-283. Heft 9 der Pastoraltheologie, 80. Jg., 1991, S. 403ff ist dem Thema Europa gewidmet. Besonders wichtig sind: K. Kaiser, Die Neuordnung Europas - Anfragen an die Kirche, S. 4 0 5 - 4 1 7 ; zudem sehr kritisch: U. Duchrow, Grenzenlos glücklich in Europa?, S. 459-473.

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und 21,8% evangelisch bzw. anglikanisch. Etwa 86% oder 276 Millionen gehören somit den beiden großen Konfessionsfamilien an. Die übrigen 14% sind Orthodoxe, Muslime, Konfessionslose. 3,2%, gut 10 Millionen, zählen zur orthodoxen Tradition, 1,75% oder ca. 5,5 Millionen sind Muslime, 0,4% oder 1,2 Millionen sind Juden. Da es keine verläßliche gesamteuropäische Statistik gibt, beruhen diese Zahlen auf Schätzungen. - In Gesamteuropa hingegen (einschließlich des europäischen Teils der UdSSR) leben 781 Millionen Menschen; davon sind nur 10,6% evangelisch bzw. anglikanisch; 32,6% römisch-katholisch und 12,6% orthodox. Allein schon die Zahlen zeigen, daß evangelische Christen sich in besonderer Weise in einer Minderheit befinden. Zu mehr als 90% gehören der römisch-katholischen Kirche die Bürger Italiens, Spaniens, Portugals, Irlands, Belgiens und Luxemburgs an. In Frankreich sind es noch nominell über 80% Katholiken, bei 1,4% Protestanten. Unter den EG-Ländern hat nur Dänemark mit 98% Lutheranern und Griechenland mit 98% Orthodoxen eine vergleichbare konfessionelle Homogenität. Die skandinavischen Länder sind traditionell lutherisch; in England sind fast 90% Anglikaner und Protestanten bei einer beachtlichen Minderheit von 10% Katholiken. Neben den Niederlanden weicht nur Deutschland von diesem Bild konfessioneller Geschlossenheit deutlich ab. Hier gibt es eine annähernde Parität der Konfessionen. In Deutschland wirkt bis heute der Augsburger Religionsfrieden von 1555 und die vom Westfälischen Frieden 1648 geschaffene politische Ordnung nach. Dazu kommt jedoch hinzu, daß längst nicht alle nominelle Kirchenmitglieder auch praktizierende Christen sind. Mehr als andere Kontinente ist Europa von einer Stimmung des Säkularismus und der religiösen Gleichgültigkeit beherrscht. Nimmt man diese Daten als Ausgangspunkt, so ist es einsichtig, daß diese Diasporasituation evangelische Christen daran hindert von einem „christlichen Europa" zu träumen. Eine Minderheit kann doch gar nicht versuchen, ihre Überzeugung für die Mehrheit verbindlich zu machen und sie ihr aufzuzwingen. Allerdings kann eine Minderheit gleichwohl produktiv und heilsam eine Gesellschaft beeinflussen (Man bedenke den Einfluß der Protestanten auf Frankreichs Kultur). Auf der anderen Seite ist es freilich jedoch nicht so, daß man angesichts des Säkularismus von einer multireligiösen europäischen Gesellschaft sprechen könnte und müßte. Nennenswert ist die Zahl

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der Muslime nur in Frankreich, Großbritannien und Deutschland, aus jeweils unterschiedlichen historischen Gründen. In den westeuropäischen Staaten sind die Muslime mit 1,75% vertreten. Auch wenn sie in Berlin und München, London und Manchester, Paris und Marseille einen ins Auge fallenden religiös-kulturellen Faktor darstellen, so prägen sie dennoch nicht das Gesamtbild Europas. Die These, daß Europa sich in Zukunft vom Christentum und seinem kulturellen Erbe lösen werde, hat daher wenig Wahrscheinlichkeit für sich, auch wenn die prägende Kultur des christlichen Erbes sich noch weiter abschwächen kann und wird. Man sollte freilich Anspruch und Wirkungsmöglichkeit realistisch aufeinander beziehen und die Situation nicht pessimistisch, aber realistisch einschätzen. Was nun des weiteren den spezifisch evangelischen Beitrag angeht, so entstanden die evangelischen Kirchentümer im 16. Jahrhundert als nationale Konfessionskirchen, als Volkskirchen und Landeskirchen. Nationale Identität machte sich an Landeskirchen fest. Ein universalkirchliches Lehramt, wie es die römisch-katholische Kirche im Papst und den Bischöfen kennt, das dann amtlich mit einer Stimme sprechen kann, anerkennt die evangelische Lehre nicht. Folglich sind Pluralismus, Vielfalt und Verschiedenheit für den Protestantismus kennzeichnend. Immerhin gibt es inzwischen mehrere kirchliche Zusammenschlüsse, die eine Kooperation und gemeinsame oder aufeinander abgestimmte Aktionen der Kirchen gleichwohl ermöglichen: 1959 wurde die Konferenz Europäischer Kirchen (KEK) gegründet, der 118 evangelische, anglikanische, orthodoxe und altkatholische Kirchen angehören. Die „Europäische ökumenische Kommission für Kirche und Gesellschaft" (EECCS) trägt ein 1964 gegründetes ökumenisches Zentrum für Kirche und Gesellschaft in Brüssel. 1973 unterzeichneten 80 reformatorische Kirchen in Europa die „Leuenberger Konkordie". Auf der Basis dieser Lehrverständigung ist seitdem eine gemeinsame Artikulation der evangelischen Kirchen in Vollversammlungen, Regionalgruppen und Lehrgesprächen möglich. Die Europäische Evangelische Versammlung in Budapest 1992 war auf dieser Grundlage möglich. Es gibt also wichtige ökumenische und gesamtprotestantische Vernetzungen über die nationalen Grenzen hinweg. Die im folgenden anzustellenden Grundsatzüberlegungen sind also keine bloßen

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Gedankenspiele, Träume, Visionen, Wünsche, sondern Orientierungsangaben und Richtpunkte für einen möglichen künftigen Weg. III. Evangelische Gesichtspunkte Nachdem ich die Ausgangslage und die Vorgegebenheiten skizziert habe, seien die grundsätzlichen Überlegungen angesprochen. Dabei geht es um Orientierungshilfen, Wegweisung. Mit Hans Waidenfels4 kann man von einer „postchristlichen Moderne" sprechen. Das besagt, wenn man gefragt wird, ob die christlichen Kirchen in Europa die Einheit Europas befördern und wie sie dies tun können, dann können sie selbst realistischerweise nicht davon ausgehen, daß die Einigung Europas allein von den Kirchen abhängt. Die Einigung Europas wird zunächst einmal auf die Achtung der Menschenrechte und der Gewissens- und Religionsfreiheit begründet werden müssen.5 (1) Die Gewissensfreiheit und ihre Achtung ist für evangelisches Glaubensverständnis grundlegend. Der Glaube an die Wahrheit des freimachenden Evangeliums kann nur in Freiheit bekannt werden. Die „Freiheit eines Christenmenschen" (Martin Luther) besteht in der Freiheit, der Souveränität des Glaubens und in der Freiheit zum Dienst am Nächsten: Wer als evangelischer Christ diese Freiheit für sich selbst einfordert, muß sie allerdings genauso für den Andersglaubenden und Andersdenkenden fordern. Das bedeutet die Verpflichtung der Gesellschaft auf Gewissensfreiheit und Toleranz. Die Evangelische Kirche hat 1976 eine Stellungnahme zu einer ökumenischen Konsultation über Fragen der KSZE-Schlußakte, der Menschenrechte und der Religionsfreiheit abgegeben.6 Damals neigten politische Kreise dazu, die Schlußakte von Helsinki zu unterschätzen. Da sie nicht völkerrechtlich verbindlich und durchsetzbar war, wurde auch ihr hoher politisch-moralischer Rang verkannt. Ande4

H. Waldenfels, Kontextuelle Fundamentaltheologie, 1988 2 , S. 449f.

5

Vgl. zum Folgenden den sehr wichtigen und anregenden Beitrag von T. Rendtorff, Wie christlich wird Europa sein?, in: Nachrichten der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, Nr. 17, 46. Jg., 1991, S. 3 3 2 - 3 3 5 .

6

„Stellungnahme des Rates der EKD zur CCIA-Konsultation über Fragen der KSZE-Schlußakte, der Menschenrechte und der Religionsfreiheit vom 10. Juli 1 9 7 6 " , in: Die Denkschriften der EKD, Band 1/2, GTB 4 1 4 , 1978, S.107-116.

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rerseits tendierten gelegentlich kirchliche Kreise auch dazu, die politische und rechtliche Durchsetzbarkeit dieser Erklärung zu überschätzen. Faktisch hat die Helsinki-Erklärung mit den Weg zur Änderung in Europa gewiesen. Ihre Bedeutung lag und liegt in dem ausgewogenen Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft einerseits und dem Individuum andererseits. Die Orientierung an den Menschenrechten und an der Gewissensfreiheit ist für ein humanes, menschenwürdiges Europa entscheidend. Gerade der Protestantismus hat in ein künftiges Europa Erfahrungen mit der Vielfalt und Verschiedenheit von unterschiedlichen Überzeugungen einzubringen. Der Umgang mit unterschiedlichen Glaubensanschauungen kann auch einen wichtigen Beitrag zur politischen Kultur Europas leisten. Gegen eine Art von antimoderner und antiaufklärerischer Gesinnung, die es auch in den Kirchen gibt, und die zur gemeinsamen Bekämpfung des Säkularismus aufruft, empfiehlt sich folglich die nüchterne Einschätzung, daß man hinter die Anerkennung der Rechte der Person und ihrer Freiheit nicht zurückgehen kann. Diese unveräußerliche Würde der Person hat auch das 2. Vatikanische Konzil in seinem Dekret über die Religionsfreiheit „Dignitatis humanae" nachdrücklich hervorgehoben. Die Kirchen sind in manchem dem Erbe der Aufklärung mehr verpflichtet, als sie gelegentlich zugestehen, so etwa im Blick auf die Menschenrechte und die Toleranzforderung. (2) Kann man diesen ersten Aspekt das „liberale" Erbe Europas nennen, so kommt mit dem zweiten Gedanken die soziale Perspektive in den Blick. Gelegentlich begegnet in Europadiskussionen das Argument, Europa dürfe nicht nur in ökonomischen Kategorien gedacht und geplant werden. Dabei sollte man freilich nicht übersehen, daß die ökonomische Kooperation, der gemeinsame Markt zunächst einmal der gangbarste Weg zur Einheit Europas war. Man sollte also die wirtschaftliche Gemeinschaft nicht verächtlich machen. Denn die Teilnahme am Markt fordert von den Marktteilnehmern nur ein Minimum an weltanschaulicher, moralischer, religiöser, gesinnungsmäßiger Übereinstimmung, solange die ökonomischen Interessen konvergieren. Auch war Europa der Kontinent, auf dem die moderne Industriegesellschaft und die Wirtschaftsform des Kapitalismus zuerst entstand. Ohne ökonomische Leistungsfähigkeit kann es außerdem auch keine soziale Verteilung geben. Man muß etwas erwirtschaften, um verteilen zu können. In der Bundes-

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republik Deutschland glückte eine Verbindung liberaler und sozialer Tradition im Konzept der Sozialen Marktwirtschaft. Die rationale Wirtschaftsorganisation und ein leistungsorientiertes, ökonomisches System der Marktwirtschaft fanden hier zu einer Synthese mit der mitteleuropäischen Gemeinwohlverpflichtung, wie sie sowohl die katholische Soziallehre als auch die lutherische Ethik lehrten. Die Zukunftsaufgabe Europas wird sein, wie ökonomische Leistungskraft und soziale Verantwortung im gesamten Europa in Einklang kommen können. 7 Das ist vordringlich gar nicht eine Frage kirchlichen Einflusses, etwa auf die Wirtschaft, wohl aber eine Aufgabe, individuelle Freiheit, Leistung, Eigenverantwortung mit Gemeinwohlerfordernissen zum Ausgleich zu bringen. Zentrales Thema wird daher die Sozialverträglichkeit der europäischen Einigung, wenn § 1 1 7 der Römischen Verträge von der „Verbesserung der Lebensund Arbeitsbedingungen der Arbeitskräfte" spricht. Die nüchterne Aufgabe, die Sozialverträglichkeit mit Wirtschaftlichkeit zu vereinbaren, stellt sich immer deutlicher im Wirtschaftsraum Europa. Wer diese Ebene nicht wahrnimmt, verzichtet darauf, soziale Gestaltung überhaupt zu versuchen. Es ist daher gerade kein Opus alienum, kein fremdes Werk, wenn die Kirchen die soziale Dimension Europas betonen und neben der Bedeutung der Freiheitsrechte der Person auf die Sozialrechte hinweisen. (3) Das Eintreten für die Menschenrechte und für soziale Maßnahmen, vor allem auch zugunsten Benachteiligter, führt zur Frage nach der politischen Form, nach der Verfassung Europas. Die politische Form, welche einem Eintreten für Menschenrechte und sozialen Ausgleich entsprechen muß, kann nur die einer rechtsstaatlichen Demokratie sein. Europa ist die Heimstatt der Idee persönlicher 7

Vgl. dazu: J. Stein, Die zweite soziale Dimension - Chancen und Verpflichtungen der Diakonie im europäischen Einigungsprozeß, in: Zeitschrift für evangelische Ethik (ZEE), 34 (1990), S. 2 4 8 - 2 6 9 ; F. Segbers, „Den Wohlstand aller zu fördern Zur Wirtschaftsethik des EG-Binnenmarkt-Projekts 92, in: a.a.O., S. 2 6 5 - 2 7 4 ; T. Strohm, .Arbeit, Leben und Gesundheit'. Europäische Perspektiven, Forderungen, Empfehlungen der EKD-Sozialkammer zum Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz, in: a.a.O., S. 2 7 5 - 2 8 5 . Neuerdings erschien eine Denkschrift der Kammer für soziale Ordnung der EKD „Verantwortung für ein soziales Europa. Herausforderungen einer verantwortlichen sozialen Ordnung im Horizont des europäischen Einigungsprozesses", 1991, in der die Kriterien und Ziele der Sozialpolitik für ein solidarisches Europa formuliert wurden.

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Freiheit und der Ordnung der Demokratie. Eine Wurzel des demokratischen Gedankens liegt in Griechenland. Die andere Wurzel liegt im Christentum, das die einzigartige Würde der individuellen Person als Gottes Ebenbild zu achten anhält und auf die Unterscheidung von Politik und Religion, von Staat und Kirche dringt. Diese Unterscheidung von Staat und Kirche wurde in heftigen Kämpfen zwischen Kaiser und Papst im hohen Mittelalter durchgesetzt. Sie ist eine unabdingbare Voraussetzung dafür, daß die Weltlichkeit der Politik und die Eigenständigkeit des Staates Anerkennung finden konnte. Anders als der Islam fordert das Christentum nicht den Glaubensstaat, sondern ermöglicht den säkularen Staat. Die Wahrung der Grundrechte, rechtsstaatliche Garantien und Gewaltenteilung sind nicht abhängig von kirchlicher Autorität und Deutung. Das eröffnet Wege zu einer vernünftigen, an Sacherfordernissen ausgerichteten politischen Ordnung Europas. Wer die Gewissensfreiheit der Person akzeptiert, muß Religion und Politik, Staat und Kirche voneinander unterscheiden. Politische Entscheidungen können dann nicht mit dem Anspruch letztgültiger Verbindlichkeit versehen werden. Die Relativierung politischer Entscheidungen hat zum Korrelat die Bindung der Demokratie an das Recht. Für das Gelingen der Zukunft Europas wird viel davon abhängen, ob es gelingt, rechtsstaatliche Verfahren und durchschaubare demokratische Entscheidungsprozesse zu finden, ohne daß dies eine durchgängige Verrechtlichung, eine totale Bürokratisierung zufolge hat. Europa sich in seiner künftigen Form vorstellen, heißt auch, den demokratischen Gedanken in Europa zur Geltung bringen und die Partizipation, das Mitwirken und damit das Interesse der Europäer als Bürger gewinnen. Ohne europäisches Bürgerethos wird die Vereinigung Europas zur technischen Maschinerie. (4) Diese Forderung nach einer gemeinsamen politischen Gestaltung Europas steht freilich in Spannung zu der Forderung nach Beachtung nationaler Individualität und Identität. Es ist bereits deutlich geworden, daß man europäische Tradition nicht mit jeder Art von Tradition verschmelzen kann, beispielsweise vermutlich nicht mit der islamischen Tradition. Seit den Konfessionskriegen des 17. Jahrhunderts hat sich in Europa eine Trennung von Konfession, Religion und Politik durchgesetzt. Hinter diese geschichtliche Erfahrung der Differenzierung von Staat, Gesellschaft und Kirche kann man nicht zurück zugunsten einer kirchlichen Einheit von Staat und Kirche. Die Einheit

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Europas wird gerade nicht durch Verzicht auf die regionale und nationale Vielfalt von Traditionen, Kulturen und Religionen zu erreichen sein. Dagegen spricht allein schon die Vielfalt der Sprachen. Wenn man die Vielfalt anerkennt, dann kann man nicht am Problem der nationalen Identität vorbeigehen. Das Gespenst des Nationalismus des 19. Jahrhunderts, ist eine Warnung, eine Gefahr, die heute im ehemaligen Jugoslawien und im bisherigen Bereich der Sowjetunion wieder aus dem Grab aufersteht. Jede Absolutsetzung der eigenen Nationalität muß zu einem Widerstand gegen die Vereinigung Europas führen. Hier droht in der Tat eine Gefahr. Die Rede vom „gemeinsamen Haus Europa" ist insofern euphemistisch. Die Geschichte Europas war immer eine Geschichte von Spaltungen. Mit einer Homogenisierung der verschiedenen Kulturen und Gesellschaftstypen gelingt aber keine Integration, keine Verständigung, sondern vollzieht sich lediglich eine Kolonialisierung. Die Relativierung der Nationen Europas in einem vereinten Europa kann umgekehrt freilich auch zu einem Eurozentrismus führen. Der Eurozentrismus kann sich dann abschotten gegen andere Kontinente, vor allem gegen die Entwicklungsländer der Dritten Welt. Das erleben wir in Deutschland aktuell in der Debatte um das Asylrecht und über die Überflutung durch Ausländer. Europa ist versucht, sich vom Rest der Welt abzukoppeln und eben auf diese Weise durch seine eigene wirtschaftliche und politische Macht das Elend und die Armut anderswo zu vergrößern. Sowenig sich eine Nation gegen andere abkapseln darf, so wenig darf sich Europa von den Weltproblemen isolieren und seine vereinte Macht gegen andere Erdteile ausspielen. Die Auseinandersetzung mit dem Nationalismus in Europa, bei gleichzeitiger Anerkennung und Achtung nationaler und regionaler Besonderheiten, ist der Testfall und die Bewährungsprobe für die Fähigkeit, dem Pluralismus und der Vielfalt Rechnung zu tragen. Eine positive Einschätzung des katholischen Subsidiaritätsprinzips führt zu einem Förderalismus, einem „Gemeinwohlpluralismus". IV. Aufgaben Auf dem Hintergrund dieser Herausforderungen wie der Anerkennung des bestehenden Pluralismus kann der Grundbegriff einer ökumenischen Perspektive Europas nur Dialog und Kritik heißen. Alle Institutionen, auch die Kirchen haben die Tendenz, zunächst einmal

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den eigenen Bestand zu sichern und zu behaupten. Die Begegnung mit anderen religiösen und kulturellen Traditionen Europas bringt hier Verunsicherung mit sich. Wenn man Europa nicht als einheitliche metaphysische Größe versteht, die von der Kirche inspiriert und geprägt werden soll, sondern schlicht als den vorgegebenen geschichtlichen Ort begreift und als Aufgabe wahrnimmt, dann veranlaßt dies die Kirchen zunächst einmal zur Selbstkritik. Sie dürfen nicht danach streben, ein Meinungsmonopol zu erreichen und dadurch die Gewissens- und Religionsfreiheit und die Rechte der Minderheit gefährden. Gerade der Protestantismus enthält ein kirchenkritisches Potential, das auch zum Dienst und zu einem neuen Aufbruch freimacht, befreit. Die Erneuerung der Kirche ecclesia Semper reformanda - als Dienst- und Nachfolgegemeinschaft weist nach unten. Das Gotteslob erklingt de profundis. Die Minderheitensituation ist kein Einwand, sondern Chance für das Engagement. Martin Luther formuliert dies so: „Hallelujah ist kein Wort der Reichen, Ruhmvollen, Mächtigen, Weisen, Gerechten, Lebendigen, sondern ein Wort der Armen, Demütigen, Schwachen, Törichten, Sündvollen, Sterbenden." Dies weist die Kirche an die Stelle der Benachteiligten, an die Seite derer, die von der unsichtbaren Hand des Marktes - in einer Art praedestinatio gemina - aus dem Erfolg und der Prosperität eliminiert werden. Kritik aus der Haltung der Wahrhaftigkeit nötigt freilich nicht nur zur Selbstkritik und zur Selbstbesinnung der Kirche, sondern eröffnet dadurch Möglichkeiten des Dialogs. Themen des Dialogs wurden schon mit den Stichworten Achtung der Menschenrechte, Sozialverträglichkeit und rechtsstaatliche Demokratie genannt. Zwischen Menschen verschiedener Herkunft und verschiedenen Glaubens mag und muß es gelingen, die gemeinsamen Grundlagen humaner Verantwortung zu entdecken und sich auf dieser Grundlage dialogisch zu verständigen. Das ist nicht die Utopie eines harmonischen, konfliktfreien, befriedeten multi-kulturellen Europas und auch nicht die Rückkehr zum Ideal eines früheren christlichen Europas, des Corpus Christianum, sondern Umkehr zur Botschaft und Verheißung des Evangeliums. Das menschenfreundliche Evangelium befreit Menschen zur Liebe, zur Ehrfurcht vor dem Leben, zur Wahrhaftigkeit und Toleranz. Damit wird kein geschlossener Entwurf eines christlichen oder christlicheren Europas vorgelegt, sondern es wird Mut gemacht zur

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künftigen, gemeinsamen Geschichte Europas, die offen und unabgeschlossen ist. Europa hat eine gemeinsame Geschichte hinter sich und eine noch offene Geschichte vor sich. Diese Geschichte ist noch nicht zu Ende. Seine ungewisse Geschichte schafft jedoch Unsicherheit und kann in Mutlosigkeit, in Sorge und Angst versetzen. Dem kann nur Vertrauen und Zuversicht wehren und gegensteuern. Der bayerische Landesbischof Johannes Hanselmann rief deshalb in übertragener Redeweise vor der Landessynode im April 1991 in Rosenheim dazu auf, Europa ins Gebet zu nehmen: „,Europa ins Gebet nehmen' heißt: - danken für alles Gute, das in und durch Europa geschehen durfte; - um Vergebung bitten für alles, was in und durch Europa, gerade durch das christliche Europa anderen getan wurde; - Fürbitte tun für alle, die sich um ein friedliches und gerechtes Europa bemühen und um Verlebendigung des christlichen Glaubens in allen Ländern Europas; - vor Gott bringen alles, was Menschen als Folge des Einigungsprozesses befürchten."

V. Die Z u k u n f t Europas Viele katholische Äußerungen gehen weithin davon aus, daß die „Seele Europas" im wesentlichen noch christlich sei. Die Identitätskrise Europas rührt deswegen nach katholischer Auffassung davon her, daß Europa seinen gemeinsamen christlichen Ursprung verdrängt hat und eine Besinnung auf die christliche Herkunft deshalb unerläßlich ist. Dabei ist man sich durchaus im Klaren, daß eine einfache Rückkehr zum Modell „christliches Abendland" oder mittelalterliche „res publica christiana" unmöglich ist. „Abendland" umfaßt ursprünglich im wesentlichen nur das westliche Europa. Auch ist ein zurück hinter die Neuzeit, hinter die Anerkennung der Autonomie der Vernunft, hinter eine relative Trennung von Staat und Kirche, hinter die Achtung der Menschenrechte und der Gewissensfreiheit undenkbar. Aber die katholische Sicht argumentiert in den Bahnen klassischer natürlicher Theologie, daß die Grundwerte europäischer Kultur auf dem natürlichen Sittengesetz beruhen. Die Kirche und der Episkopat verstehen sich als Anwälte einer allgemeinen Sittlichkeit.

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Dieses Konzept ist im Protestantismus seit der Nachkriegszeit umstritten. Hans Asmussen meinte 1953, im Gegensatz und Widerspruch zu Karl Barth, Gott habe „nun einmal" die europäischen Länder erwählt, „daß in ihnen das Evangelium eine Heimat haben soll". 8 Andere Autoren- wie Willem A. Visser't Hooft betonen dagegen die Ambivalenz eines „christlichen Europas". „Es ist wahr, daß die Kirche Europa geformt hat, aber ebenso wahr ist es, daß sie dabei selber umgeformt wurde. Die ungeheure Anstrengung, mit der die Kirche ein christliches Europa organisiert hat, ist ihr teuer zu stehen gekommen. Sie hat eine Zivilisation gegründet, in der göttliche und menschliche Dinge so vermischt waren, daß eine große geistige Verwirrung daraus entstand." 9 Ist dem aber so, daß zur Christianisierung auch die Schattenseiten wie Kreuzzüge, Konfessionskriege, Inquisition, Hexenverbrennung, Sklavenhandel, Judenverfolgung, Eroberung der Kolonien gehören - dann ist die christliche Herkunft und Wurzel Europas auch eine Geschichte der Schuld. Das „christliche Erbe" ist als solches mitnichten eindeutig und unbelastet. Nimmt man aber das Erbe in allen seinen Facetten wahr und ernst, so ist eine pluralistische Sichtweise unvermeidbar. Die Alternative entweder homogenes „christliches Europa" oder disparates „pluralistisches Europa" erweist sich dann als schief. Das pluralistische Europa ist nicht Zielvorstellung und Ideal, sondern vorfindliche Realität. Die Frage ist lediglich, wie die Kirchen ihren Dienst und ihr Zeugnis so einbringen, daß diese dem Evangelium gemäß sind. Der „Konziliare Prozeß für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung" hat auf der Europäischen ökumenischen Versammlung in Basel „Frieden in Gerechtigkeit" 1989 einen eigenen Abschnitt formuliert, in dem Leitgedanken für ein Europa von morgen zusammengefaßt sind. Unter den Überschriften „Nachdenken über die Vergangenheit", „Herausforderungen, vor denen wir stehen", „Die Teilung Europas heilen", „Abrüstung und Vertrauensbildung", „Dialog und Partizipation", „Ethnische und regionale Konflikte", „Überwundene Feindschaft", „Das europäische Haus",

8

9

H. Asmussen, Der theologische Standort für eine evangelische Stellungnahme in Europa, in: F.K. Schumann (Hg), Europa in evangelischer Sicht, 1953, S. 102123. R. Frieling, Ein Pläydoyer für eine Europäische Evangelische Synode, in: epdDokumentation, 2 1 / 9 0 (14. Mai 1990), S.7.

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„Eine Weltorientierung" werden zehn anstehende Aufgaben benannt. Der Ausgangspunkt wird zutreffend in der gemeinsamen Geschichte gesehen: „Jedes Nachdenken über die Zukunft Europas muß mit einer Reflexion über die europäische Vergangenheit beginnen." Diese Geschichte ist freilich zweideutig und ambivalent: Die europäische Geschichte hat zwar große kulturelle und wissenschaftliche Errungenschaften hervorgebracht; sie hat wichtige menschliche Werte sowie geistliche Einsichten und Erfahrungen geschaffen. Ebenso ist sie allerdings auch eine Geschichte der Gewalttätigkeit gewesen, sowohl auf dem eigenen Kontinent wie bei der Unterwerfung und Kolonisation anderer Kontinente - erwähnt sei nur 1492 die Entdekkung Amerikas. Die europäische Geschichte war eine Geschichte der Kriege, „Als Folge dieser Geschichte und des letzten Weltkrieges ist Europa zu einem gespaltenen Haus geworden." Soll Europa heute nicht nur Name für einen Teil des Kontinents Eurasien sein, sondern zum gemeinsamen Haus werden, muß die Teilung Europas überwunden werden, ein europäischer Dialog in Gang kommen, kurzum ein Versöhnungsprozeß zwischen allen Beteiligten stattfinden. „In einem gemeinsamen Haus gibt es gemeinsame Verantwortungen. Es darf nicht zugelassen werden, daß sich die Lage einiger Teile verschlechtert, während andere in Luxus glänzen. In einem gemeinsamen Haus wird das Leben vom Geist der Zusammenarbeit und nicht der Konfrontation bestimmt. Dabei ist es wichtig, daß zur Vorstellung von einem gemeinsamen europäischen Haus auch die Kritik an allen trennenden Wänden, Gräben und Schranken gehört, die eine Kommunikation unmöglich machen." (Dokument der Europäischen Versammlung in Basel 1989, Nr. 66). Die Basler Erklärung hat einige Regeln für diese „Hausordnung" genannt: Das Prinzip der Gleichheit; die Anerkennung von Werten wie Freiheit, Gerechtigkeit, Toleranz, Solidarität und Partizipation; Offenheit gegenüber Menschen anderer Religion, Kultur und Weltanschauung; Konfliktlösung durch Dialog und nicht durch Gewalt. Aber mit einer „Hausordnung" ist es keineswegs getan! Das Haus muß tatsächlich gebaut werden. Die Bauarbeiten müssen vorangetrieben werden. Einen Vorschlag zu einer Europäischen Synode 10 hat Reinhard Frieling gemacht. Dabei wurde das Wort „Synode" rasch auf-

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A.a.O.

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gegeben aufgrund kirchenrechtlicher Bedenken. Welche rechtliche Verbindlichkeit könnten denn die Beschlüsse dieser Versammlung haben? Im Frühjahr 1992 fand eine erste Versammlung der evangelischen Kirchen in Europa statt. 11 Diese Budapester Versammlung sollte die Stimme des Protestantismus im europäischen Dialog zu Gehör bringen. Die entscheidenden drei Themen waren dabei (1.) die Haltung der Kirche zum neuzeitlichen Freiheitsgedanken, (2.) das Verhältnis des evangelischen Glaubens zur Kultur und zur Kulturbildung in Europa und (3.) die politische und rechtliche Stellung der Kirchen im Staat aus theologischer Sicht. Wird es den Kirchen nach dieser Versammlung gelingen, gemeinsam den Kontext Europa zu entdecken? Denn zuerst gilt es, Europa als gemeinsame Heimat, als Ort des Zusammenlebens überhaupt zu entdecken, ehe gemeinsame konkrete Antworten gefunden, ein gemeinsames Zeugnis und ein gemeinsamer Dienst geleistet werden können. Dieser Dienst und dieses Zeugnis setzt jedoch nicht Einheitlichkeit und Uniformität in der Gestaltung der Ordnungen der Kirchen, im Lebensstil oder den Verzicht auf die eigene regionale und nationale Tradition voraus. Europa war und ist von seiner Geschichte her immer vielfältig gewesen und sollte auch in Zukunft pluralistisch bleiben. Eine Verständigung über eine gemeinsame Zukunft der evangelischen Kirchen und Christen fordert freilich ein Einverständnis über die Gemeinsamkeit im evangelischen Verständnis des Glaubens, also über das Evangelium, die Christusbotschaft und über die Verkündigung der Rechtfertigung allein aus Gnade. Der evangelische Bezugspunkt ist das Vertrauen auf Gottes Rechtfertigung. Christlicher Glaube hält am „allein Christus", „allein der Glaube", „allein die Gnade" fest. „Europa vom Evangelium her sehen" besagt deshalb nach Eberhard Jüngel: 1 2 1. Evangelischer Aufbruch statt Rückkehr in die Vergangenheit. Wir haben als Christen den Blick nach vorne zu richten. 11

epd-Dokumentation Nr 38/91 (16. September 1991): Protestantische Kirchen planen eigene Europaversammlung 1992; Vgl. ferner: Materialdienst des Konfessionskundlichen Institut, 42. Jg., 1991, S. 85f.: „Evangelische Freiheit in Europa". Zur Europäischen Evangelischen Versammlung 1992 in Budapest. Die Texte der Europäischen Versammlung enthält das Arbeitsheft: „Europa und der Protestantismus", Hg. von B. Brenner, Göttingen 1993.

12

E. Jüngel, Das Evangelium und die evangelischen Kirchen, in: B. a.a.O., S. 35-58.

Brenner,

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2. Zeugnis Gottes statt kirchlicher Selbstdarstellung. Wir sind als evangelische Christen dem Evangelium verpflichtet, nicht zu konfessioneller Selbstdarstellung aufgerufen. Die Zukunft Europas ist Gottes Werk. Das weist uns als evangelische Christen den Ort unter dem Kreuz, im Leiden bei den Leidenden zu. 3. Evangelische Bejahung von Säkularisierung und Pluralismus. Evangelische Nüchternheit drängt auf sachliche Wahrnehmung der Folgen von Konfessionsspaltung, Aufklärung. Europa ist in vielfacher Hinsicht faktisch pluralistisch; das haben wir anzunehmen. 4. Evangelium und Aufklärung sind keine Feinde. Aufklärung im Licht des Evangeliums heißt darum: Absage an alle Lügen, auch an die Lebenslüge, alles selbst erreichen zu können und in der Hand zu haben. 5. Evangelische Gewissensbildung statt moralischer Schuldfixierung. Unrecht ist zwar nicht zu leugnen, sondern beim Namen zu nennen. Aber moralisierende Anklage und Geschichtsbetrachtung, die nach der Schuld der Anderen fahndet, verschließt sich Gottes rechtfertigendem Wort. Denn die Rechtfertigungsbotschaft als freimachendes, befreiendes Evangelium gewährt auch Freiheit zu künftiger europäischer Gemeinsamkeit. Der Glaube will uns ermutigen, aufwärts und nach vorne zu sehen und, bei aller Kritik, zuversichtlich auf Gottes Geist für die Zukunft zu vertrauen.

12. Wahrheit und Freiheit im Spannungsfeld des Pluralismus Das Konfessionskundliche Institut des Evangelischen Bundes hat mich um einen Kommentar zur Moralenzyklika Papst Johannes Paul unmittelII. „Veritatis splendor" gebeten. Der Kommentar wurde bar nach der Veröffentlichung der Enzyklika verfaßt. Er konnte die folgende katholische Diskussion deshalb nicht berücksichtigen. Kritische Stimmen katholischer Moraltheologen sind zusammengestellt in: Moraltheologie im Abseits? Antwort auf die Enzyklika , Veritatis splendor', hg. von Dietmar Mieth, Quaestiones disputatae 153,1994. Die Leitfrage der Analyse ist, ob es heute noch zwischen offizieller katholischer Morallehre und evangelischer Ethik nach wie vor fundamentale Unterschiede gibt.

I Die Enzyklika Papst Johannes Paul II. „Veritatis splendor", die einige grundlegende Fragen der kirchlichen Morallehre behandelt, konzentriert sich auf das Spannungsfeld zwischen Wahrheit und Freiheit. Die eine katholische Wahrheit setzt der Freiheit und den Freiheiten des Einzelnen Grenzen. Dieses monolithische Wahrheitsverständnis enthält implizit eine Absage an den neuzeitlichen Pluralismus. Es mag vielfältige Entfaltungen der einen zeitlosen Wahrheit geben. Aber die Wahrheit als solche ist unwandelbar. Dabei ist zu beachten, daß im 20. Jahrhundert bislang kein Papst eine spezielle Moralenzyklika vorgelegt hat und erstmals seit „Humani generis" Pius XII. von 1950 theologische Lehrmeinungen wieder Gegenstand eines päpstlichen Lehrschreibens wurden. Die Morallehre der römisch-katholischen Kirche wendet sich gegen bestimmte anthropologische und ethische Auffassungen, welche „ihre Wurzel in dem mehr oder weniger verborgenen Einfluß von Denkströmungen" haben, „die schließlich die menschliche Frei-

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heit der Verwurzelung in dem ihr wesentlichen und für sie bestimmenden Bezug zur Wahrheit beraubt" (Nr. 4). Ebenso wird auch der verbreitete Zweifel am „engen untrennbaren Zusammenhang zwischen Glaube und Moral" kritisch betrachtet, „so als würde sich die Zugehörigkeit zur Kirche und deren innere Einheit allein durch den Glauben entscheiden, während man in Sachen Moral einen Pluralismus von Anschauungen und Verhaltensweisen dulden könnte, je nach Urteil des individuellen Gewissens bzw. der Verschiedenheit der sozialen und kulturellen Rahmenbedingungen" (Nr. 4). Die Leitfrage der Enzyklika ist somit, wie christlicher Glaube sich zu moralischem, sozialem und kulturellem Pluralismus verhält. Auch evangelische Kirche und Theologie haben diesen Fragen sich zu stellen und sie zu beantworten. Ehe freilich eine reformatorische Sicht des Pluralismus reflektiert werden kann, sollte man die Enzyklika und ihre anthropologischen und ekklesiologischen Prämissen sorgfältig analysieren, um zu klären, was denn an der Enzyklika theologisch, „katholisch" ist und was lediglich philosophische Theorie ist. Pluralismus, das sei aber vorweg festgehalten, ist nicht Ideal oder Programm, sondern Realität, Faktum und Ort heutigen moralischen Verhaltens und Denkens. Wer über den Pluralismus nachdenkt, ist damit nicht notwendig ein Propagandist des Pluralismus. Er will aber in jedem Fall Wirklichkeit wahrnehmen und sich mit ihr bewußt auseinandersetzen. „Veritatis splendor", „Der Glanz der Wahrheit erstrahlt in den Werken des Schöpfers und in besonderer Weise in dem nach dem Abbild und Gleichnis Gottes geschaffenen Menschen." Mit diesem Satz beginnt die Enzyklika, die sich bemerkenswerterweise, wie der „Katechismus der katholischen Kirche" in erster Linie an die Bischöfe wendet. Die Bischöfe sind die Hüter der veritas catholica. Priester, Theologen, Christen, alle Menschen guten Willens werden erst über die Bischöfe, die Vermittler der Wahrheit sind, angesprochen. Die Bischöfe sind die Erleuchteten, die Lichtträger. „Glanz", „splendor" ist freilich ein irritierendes, ausdeutbares Wort. Glanz meint die Spiegelung eines Strahls an der glatten Oberfläche eines Körpers. Wie ist freilich solcher „Glanz" zu verstehen? Meint dies Pracht, Zier, Schmuck, so wie man in einer Redewendung (nach F. Schillers „Jungfrau von Orleans") ausruft, „Welcher Glanz in unserer Hütte"? oder wie man das Wort „glanzvoll" oft benutzt? Wäre „Glanz" so zu verstehen, dann müßte man im Lehrschreiben das Offenbar-

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werden der Doxa, der Herrlichkeit Gottes darlegen und müßte die Wahrheit Gottes von Johannes 1,14 her auslegen. Offenkundig ist dies freilich nicht so gemeint. Glanz meint vielmehr Deutlichkeit, Klarheit, Ciaritas. In diesem Sinne war Glanz bereits ein terminus technicus der mittelalterlichen Lichtlehre. Glanz bezeichnet dann neuplatonisch die Wiederspiegelung der Wahrheit in den Phänomenen. „Glanz" meint Abglanz, das In-Erscheinung-Treten, das Sichtbarwerden der Wahrheit in der irdischen Wirklichkeit. Hinter der Berufung auf den Glanz der Wahrheit steht also implizit eine Anthropologie und Erkenntnistheorie. Die Enzyklika geht davon aus: „Aber keine Finsternis des Irrtums und der Sünde vermag das Licht des Schöpfergottes im Menschen völlig auszulöschen. In der Tiefe seines Herzens besteht immer weiter die Sehnsucht nach der absoluten Wahrheit und das Verlangen, in den Vollbesitz ihrer Erkenntnis zu gelangen" (Nr. 1). Der Mensch ist seinem Wesen nach auf Wahrheit hin angelegt und in seinem Menschsein wahrheitsfähig. Der Glanz der Wahrheit, der im Innersten des menschlichen Geistes erstrahlt, manifestiert sich in der conditio humana: „Jeder Mensch muß sich den grundlegenden Fragen stellen: Wass soll ich tun? Wie ist das Gute vom Bösen zu unterscheiden?" (Nr. 2). Die Kirche setzt diese natürliche Wahrheitseinsicht und Wahrheitsfähigkeit des Menschen voraus; sie weiß sogar, „daß eben auf dem Weg des sittlichen Lebens allein der Weg zum Heil offensteht" (Nr. 3). „Die Kirche weiß, daß der moralische Anspruch jeden Menschen im Innersten erreicht, daß er alle miteinbezieht, auch jene, die Christus und sein Evangelium nicht kennen und nicht einmal etwas von Gott wissen" (Nr. 3). Den theologischen Ansatz der Moralenzyklika bildet also die traditionelle katholische Anthropologie mit der Zuordnung von Natur und Gnade, mit dem Rückgriff auf ein unbezweifelbares sittliches Wissen des Menschen, mit der These von der „anima naturaliter Christiana". Die Gewißheit, mit der die Morallehre der Kirche vertreten wird, ruht also auf einer anthropologischen Grundannahme: Die Einsicht in das Gute und die Fähigkeit, zwischen gut und böse eindeutig unterscheiden zu können, ist eine natürliche Anlage des Menschen. Reformatorische Sicht des Menschen teilt diese Prämisse nicht. Zwar behauptet sie nicht eine Unfähigkeit des Menschen zum Guten. Im Blick auf die sittliche Verantwortung und bei der Weltorientierung hat der Mensch auch nach reformatorischer Überzeugung einen freien Willen (so CA 18). Aber dieser freie

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Wille ist dem Menschen nicht einfach verfügbar. Sünde, Verblendung, in heutigen Begriffen: Ideologie, Vorurteile, Interessenbindung verdunkeln faktisch die Einsicht in das Gute. Über dem Glanz der Wahrheit liegt nach reformatorischer Sicht des Menschen immer auch Dunkelheit und Nebel. Es ist also nicht nur mangelndes menschliches Wollen, wenn es an Einsicht in die sittliche Wahrheit fehlt, sondern dieser Mangel an Wahrnehmungsfähigkeit ist ebenso durch die menschliche Verfaßtheit als solche bedingt, in welcher der Mensch immer zugleich (simul) Geschöpf und Sünder ist. Die Wege zwischen Morallehre des römisch-katholischen Lehramtes und evangelischer Ethik scheiden sich also nicht erst bei den Konkretionen; bereits im anthropologischen Ansatz zeigen sich unterschiedliche Ausgangspunkte.

II Veritatis splendor besteht aus drei Kapiteln: Jedes dieser drei Kapitel steht unter einem biblischen Leitmotiv. In Kapitel I lautet das Bibelwort „Meister, was muß ich tun ...?" (Mt 19,16), Kapitel II „Gleicht euch nicht der Denkweise dieser Welt an" (Rom. 12,2), Kapitel III „Damit das Kreuz nicht um seine Kraft gebracht wird" (1. Kor. 1,17). Die kritische Auseinandersetzung und Kommentierung hat sich auf die Beurteilung einiger Tendenzen heutiger Moraltheologie konzentriert und zugespitzt. Die Herderkorrespondenz hat sogar nur diesen Teil der Enzyklika veröffentlicht, nämlich die Ziffern 35-64 als deren wichtigsten Teil. Dennoch sollte man den Rahmen bei der Interpretation dieses Kernteils der Enzyklika nicht übersehen. In ihrer formalen Eigenart sind die drei Teile unterschiedlich. Der mittlere Teil ist argumentierend angelegt. Das I. Kapitel ist als Homilie eher erbaulich gehalten. In Paraphrase des Gesprächs Jesu mit dem reichen Jüngling ist sie eine Mahnrede, Paränese. Das III. Kapitel ist inhaltlich disparat und skizziert unter der Überschrift „Das sittlich Gute für das Leben der Kirche und der Welt" pastorale Aufgaben. Insgesamt ist der Schlußteil ein Sammelsurium an Themen. Nur das II. Kapitel befaßt sich also mit der Morallehre. Es empfiehlt sich gleichwohl, die beiden anderen Kapitel wenigstens kurz vorzustellen. Das I. Kapitel „Christus und die Antwort auf die moralische Frage" legt meditierend und protreptisch, mahnend und ermunternd

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Matthäus 19,16-26 aus. In diesem, wie in anderen Kapiteln werden zahlreiche Stellen aus der Bibel, den Kirchenvätern und aus Lehräußerungen von Konzilen und Päpsten herangezogen. Maßstab des Guten ist der Dekalog. Die Gebote des Dekalogs sind den Menschen ins Herz geschrieben, wie unter Berufung auf Rom. 2,15 betont wird (Nr. 12). Die Bergpredigt stellt die „Magna Charta des Evangeliums" dar (Nr. 15). Auffallend ist, daß die biblische Moral inhaltlich mit der natürlichen Moral in eins gesetzt wird. Die Antithesen der Bergpredigt werden nicht eigens erwähnt. Von Gewaltverzicht und Feindesliebe ist nicht die Rede. Im Gegenteil wird hervorgehoben, daß „keine Trennung oder Diskrepanz zwischen den Seligpreisungen und den Geboten" bestehe: „beide beziehen sich auf das Gute, das ewige Leben" (Nr. 16). Die von Jesus geforderte Vollkommenheit ist „jene Reife in der Selbsthingabe, zu der die Freiheit des Menschen berufen ist" (Nr. 17) - eine Formulierung, die aufmerken läßt: Nicht der Mensch wird in Freiheit berufen, sondern ein Abstraktum, die Freiheit des Menschen ist berufen. Nachfolge Christi berührt ferner den Menschen in seinem Innersten. Im Anschluß an den Kirchenvater Augustinus wird das Verhältnis zwischen dem (alten) Gesetz und der Gnade (neues Gesetz) bestimmt: „Deswegen ist das Gesetz gegeben worden, damit man die Gnade erbitte; die Gnade wurde gegeben, damit man das Gesetz befolge" (De spiritu et littera 19,34 Zit. Nr. 29). Das Neue Gesetz ist die durch den Glauben an Christus gewährte „Gnade des Heiligen Geistes" (De spiritu et littera, 21,36; 2 6 , 4 6 - Zit. Nr. 24). Das Verhältnis von Moral und Glaube wird also nicht im reformatorischen Sinne einer Dialektik von Gesetz und Evangelium, sondern im Sinne eines Ergänzungsverhältnisses von natürlichem Gesetz und Gnade gesehen. Die Moralkatechese und die authentische Interpretation des Gesetzes des Herrn ist dem lebendigen Lehramt der Kirche anvertraut, weil Leben und Glaube eine Einheit bilden. „Kein Riß darf die Harmonie zwischen Glaube und Leben gefährden; die Einheit der Kirche wird nicht nur von den Christen verletzt, die die Glaubenswahrheiten ablehnen oder verzerren, sondern auch von jenen, die die sittlichen Verpflichtungen verkennen, zu denen sie das Evangelium aufruft" (Nr. 26). Dieser Satz erinnert an die ökumenische Formel „ethische Häresie". Aus reformatorischer Perspektive wäre es zweifellos gleichfalls falsch zu behaupten, das Evangelium rufe nicht zu sittlichen Verpflichtungen auf. Auch reformatorischer Glaube betont, daß Glaube und Liebe

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zusammengehören und daß der Glaube Früchte bringen und gute Werke tun muß. Aber reformatorische Theologie schärft gleichzeitig Fundamentalunterscheidungen ein; sie dringt auf die Unterscheidung (nicht Trennung!) von Person und Werk, von Glaube und Werken, von Gesetz und Evangelium, von dem, was der Mensch Gott schuldet, nämlich sich selbst als Person, und dem, was er dem Nächsten schuldet, nämlich das für den Nächsten Gute. Solche Fundamentalunterscheidungen bilden die Grundlage eines evangelischen Ansatzes der Ethik. Die in Kapitel I gegebene theologische Antwort auf die allgemeinmenschliche moralische Frage schließt hingegen gerade solche Unterscheidungen aus. Die christliche Kirche verkündet einerseits das allgemein einsichtige moralisch Gute, und sie schenkt andererseits durch die Vermittlung der Gnade dem Christen sodann die Kraft zum Tun des Guten. In dem zur Thematik der Morallehre hinführenden meditativen Kapiteln steht damit letztlich im Hintergrund die Frage nach dem Verhältnis von Rechtfertigung und Ethik. Das II. Kapitel legt danach den Inhalt der Morallehre dar. Das III. Kapitel zieht die Folgerungen aus der im II. Kapitel entwickelten Position. Auffallend ist, wie defensiv die Abwehr des Relativismus in der Moral geführt wird: Die Kirche beschränke sich nicht nur auf „Entlarvung und Ablehnung" bestimmter ethischer Theorien, sondern ziele darauf ab, „allen Gläubigen mit großer Liebe bei der Formung eines sittlichen Gewissens beizustehen, das zu urteilen und zu wahrheitsgemäßen Entscheidungen zu führen vermag" (Nr. 85). Die Verurteilung der schlechten Handlung werde „nicht selten als Zeichen einer unerträglichen Unnachgiebigkeit kritisiert" (Nr. 95). Die Lehre der Kirche habe nichts „Unterdrückendes" an sich (Nr. 96). Die „radikale Trennung von Freiheit und Wahrheit" sei „Folge, Äußerung einer anderen, noch schwerwiegenderen und schädlicheren Dichotomie, die den Glauben von der Moral trennt" (Nr. 88). Diese Dichotomie wiederum sei Folge des Säkularisierungsprozesses. Unvoreingenommenen Interpreten fiel die „Sprachlosigkeit" auf, welche den Text kennzeichne, und „nicht etwa ein Bündel drohender Bannflüche in sexualibus" (Hansjakob Stehle, unter den Überschriften „Ratloses aus Rom". „Der Papst sieht schwarz". Die Zeit Nr. 41, 1993, S. 1). Gegen die Trennung von Glaube und Moral wird zunächst auf das Zeugnis der Märtyrer verwiesen, die die unverletztliche Heiligkeit des Gesetzes Gottes als

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„leuchtendes Zeichen" - Glanz der Wahrheit! - einmal verkörpern. „Die Unannehmbarkeit der ,konsequentialistischen' und ,proportionalistischen' ethischen Theorien, die die Existenz negativer, bestimmter Verhaltensweisen betreffender sittlicher, ausnahmslos geltender Normen leugnen, findet beredte Bestätigung im Faktum des christlichen Martyriums, das das Leben der Kirche stets begleitet hat und noch immer begleitet" (Nr. 90). Der Lebenseinsatz eines Menschen für seine Überzeugung ist nun zweifellos hoch zu schätzen. Aber die Bereitschaft zum Martyrium als solche enthält doch nicht die Begründung der Wahrheit einer Anschauung. Für Ideologien sind Menschen ebenfalls aus voller Überzeugung gestorben - „rote" Helden, „braune" Helden u.a.; und zum Lebensopfer sind auch Fanatiker und Sektierer fähig und entschlossen. Die sittliche Wahrheit und die ausnahmslose Geltung sittlicher Normen, „die das in sich Schlechte verbieten" und die niemandem „Privilegien oder Ausnahmen" einräumt (Nr. 96), wird denn auch materiell nicht so begründet. Vielmehr sieht sich die Kirche berufen, Hüterin der Menschenwürde und der authentischen Freiheit der Person zu sein, gegen jede Form des Totalitärismus und gegen die Verbindung zwischen Demokratie und ethischem Relativismus (Nr. 101). Das Kapitel insgesamt ist eine Zusammenstellung von Gesichtspunkten: Es betont die Zuständigkeit der Kirche für die Erneuerung des Politischen und Gesellschaftlichen. Sodann bekräftigt es die Möglichkeit der Erneuerung, wenn der Mensch die sittlichen Normen beachtet und dem Gesetz Gottes gehorcht (Nr. 102ff.). Unter Berufung auf das Rechtfertigungsdekret des Konzils von Trient wird danach die Fähigkeit des Menschen betont, die Gebote zu erfüllen, welche im objektiven Sittengesetz enthalten sind. „Mit Hilfe der göttlichen Gnade und durch die Mitwirkung der menschlichen Freiheit steht dem Menschen immer der geistliche Raum der Hoffnung offen" (Nr. 102). Der Mensch kann kraft seiner Freiheit das Gute verwirklichen. Das Evangelium, das die ganze Wahrheit über den Menschen und über den sittlichen Weg enthüllt, bewahrt „sowohl vor der Verzweiflung darüber,... das göttliche Gesetz nicht erkennen und befolgen (zu) können, als auch vor der falschen Meinung, sich ohne Verdienst retten zu können" (Nr. 112). Die Aufgabe der Kirche ist es, in ihrer Verkündigung dem Verfall oder einer Trübung des sittlichen Empfindens entgegenzuwirken. „Die Evangelisierung -

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und damit die .Neuevangelisierung' schließt auch die Verkündigung und das Anbieten einer Moral ein" (Nr. 107) - eine Lieblingsthese des Papstes. Die Kirche setzt damit das dreifache Amt Christi fort, das munus propheticum, sacerdotale et regium. Am munus propheticum haben auch die Moraltheologen Anteil. Wie schon in der Instruktion über die kirchliche Berufung des Theologen der Kongregation für die Glaubenslehre „Donum veritatis" vom 24. Mai 1990, wird die Forderung des Gehorsams der Theologen gegenüber dem Lehramt eingeschärft. „Den Moraltheologen fällt die Aufgabe zu, die Lehre der Kirche darzulegen und bei der Ausübung ihres Amtes das Beispiel einer loyalen, inneren und äußeren Zustimmung zur Lehre des Lehramtes sowohl auf dem Gebiet des Dogmas wie auf dem der Moral zu geben" (Nr. 110). Die Moraltheologen haben also die Wahrheit der Kirche auszulegen und zu begründen, nicht aber selbst die Wahrheit erst zu suchen und zu erforschen. Die Enzyklika bekräftigt ferner durchgängig die Gültigkeit der Enzyklika „Humanae vitae" von 1968 zum Verbot künstlicher Mittel der Geburtenverhütung und der Instruktion über die Achtung vor dem beginnenden Leben und der Würde der Fortpflanzung „Donum vitae" der Kongregation für die Glaubenslehre 1987. Auch die Zusammenarbeit der Moraltheologie mit den sogenannten Humanwissenschaften kann an solchen Lehraussagen nichts ändern. Wer zur Morallehre der Kirche einen Dissens zu erkennen gibt, „steht im Widerspruch zur kirchlichen Gemeinschaft und zum richtigen Verständnis der hierarchischen Verfassung des Volkes Gottes. Im Widerstand gegen die Lehre der Hirten ist weder eine legitime Ausdrucksform der christlichen Freiheit noch der Vielfalt der Gaben des Geistes zu erkennen" (Nr. 113). Die Bischöfe als Hirten haben dagegen nicht nur das munus propheticum, sondern auch das munus sacerdotale und munus regium Christi auszuüben. Sie haben die Pflicht, „darüber zu wachen, daß das Wort Gottes zuverlässig gelehrt wird" (Nr. 116) - und zwar cum Petro et sub Petro. Dabei haben sie besonders das Augenmerk auf Lehre und Theorie in den katholischen Institutionen zu richten. Die Grundthese der wahren katholischen Lehre, die den „Kern" der Enzyklika darstellt und an die mit der Autorität des Nachfolgers Petri erinnert wird, besteht in der „erneuten Bekräftigung der Universalität und Unveränderlichkeit der sittlichen Gebote und insbesondere derjenigen, die immer und ohne Ausnahme in sich schlechte Akte verbieten". Zwischen katholischer kirchlicher

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Morallehre und evangelischer Ethik ist nicht nur die Evidenz dieser Grundthese strittig, sondern vor allem auch die Zuordnung der Kompetenz des kirchlichen Lehramtes zur Freiheit wissenschaftlicher Wahrheitssuche und Erkenntnis. Darüber hinaus bleibt, wie gesagt, das Verhältnis von Gnaden- und Rechtfertigungslehre zur Ethik unter dem Gesichtspunkt der Zusammengehörigkeit und Unterscheidung von Gottes heilschaffendem Handeln und menschlichem Handeln wie die Zusammengehörigkeit von hierarchischer Kirchenleitung und Rezeption kirchlicher Verkündigung durch Laien und Gemeinden zu diskutieren.

III Das Herzstück der Enzyklika bildet das II. Kapitel. Dieses Kapitel ist bislang vornehmlich öffentlich diskutiert worden. In der Tat ist es ein Novum, daß das kirchliche Lehramt so grundsätzlich und ausführlich zur Moraltheorie und Sittenlehre sich äußert. Als Leitgedanken stellt die Enzyklika in Anlehnung an Tit. 2,1 heraus: „Verkündigen, was der gesunden Lehre entspricht". Mit Sorge wird eine Entwicklung der Moraltheologie, offensichtlich besonders der deutschen katholischen Moraltheologen, bewertet, welche solcher gesunden Lehre nicht entspricht. Die Krise der Moraltheologie wird als „Krise um die Wahrheit" betrachtet, weil das moderne Verständnis der Freiheit die überlieferte Wahrheit prinzipiell anzweifelt und zugleich diese Freiheit durch Verweis auf psychologische und gesellschaftliche Konditionierungen des Menschen wiederum infrage gestellt werde. Mit Kardinal J. H. Newman, einem Verfechter der Rechte des Gewissens, wird von der Enzyklika gegen diese Tendenzen behauptet: „Das Gewissen hat Rechte, weil es Pflichten hat" (Nr. 34). Dieser Feststellung werden auch die kritisierten katholischen Moraltheologen (und evangelischen und philosophischen Ethiker) schwerlich widersprechen können. Freiheit ohne Bereitschaft zur Verantwortung wäre bloße Willkürfreiheit. Sie wäre Beliebigkeit und nicht kommunikativ. Martin Luther hat in „De libertate Christiana", 1520, bekanntlich den Doppelsatz formuliert, daß ein Christenmensch ein freier Herr aller Dinge ist und niemandem Untertan ist, im Glauben, und daß er zugleich ein dienstbarer Knecht aller Dinge ist, und jedermann Untertan ist in der Liebe. Nicht der

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unabdingbare Zusammenhang von Freiheit und Wahrheit ist somit strittig, sondern wie die Rechte und Pflichten des Gewissens denn zu erkennen sind. Katholische Moraltheologen haben auf die Kernaussagen der Enzyklika mit spürbarer Erleichterung reagiert. Es ist nach ihrer Ansicht nicht so schlimm gekommen, wie zu befürchten war. Denn einmal unterblieben Personalkondemnationen - kein katholischer Moraltheologe wurde namentlich verurteilt und verdammt. Das ist nicht geringzuschätzen, bei heute üblichen kirchlichen Verfahren. Zum anderen sind die abgelehnten irrigen Lehren so einseitig, überspitzt und zum Teil übertreibend dargestellt, daß die Betroffenen guten Gewissens sagen können, das hätten sie nie gelehrt. Es ist dies eine Konsequenzmacherei, die Aussagen und Zielsetzungen so übertreibt, daß man als kritisch Denkender nur konstatieren kann, das sei doch nicht vertretbar. Bischof Reinhard Lettmann (Münster) meint: „Die Darstellung dieser Tendenzen geschieht bisweilen etwas holzschnittartig und läßt fragen, wo denn solche Tendenzen vertreten werden." Die Herderkorrespondenz (Heft 11,1993, S. 549) kommentiert: „Ein Kampf gegen Windmühlenflügel". Es existieren solche Lehraussagen nämlich oft eher in den Köpfen der Kritiker, vor allem bestimmter Philosophen, als in den Aussagen der Kritisierten selbst. Und schließlich ist die Argumentation der Enzyklika selbst in sich nicht konsistent und schlüssig: Es werden verschiedene moraltheoretische Ansätze kritisch befragt, die jedoch miteinander gerade keine geschlossene Theorie bilden. Die Argumentation der Enzyklika ist also ihrerseits, vielleicht ungewollt, pluralistisch. Außerdem ist eine Gemeinsamkeit in der Argumentation der Enzyklika und der Kritisierten auffällig: Beide Argumentationen berufen sich auf die Rationalität moralischer Argumentation. Auch der Papst beansprucht für seine moraltheoretischen Überlegungen die vernünftige Evidenz universaler Wahrheit. Trotz der vorangestellten paulinischen Mahnung: „Gleicht euch nicht der Denkweise dieser Welt an" (Rom 12,2) wird kaum theologisch, fast nur philosophisch argumentiert. Das II. Kapitel besteht aus vier Abschnitten: 1. Freiheit und Gesetz. 2. Gewissen und Wahrheit. 3. Grundentscheidung und konkrete Verhaltensweisen. 4. Die sittliche Handlung. Diese einzelnen Abschnitte sind je für sich gesondert zu betrachten. Im 1. Abschnitt „Gesetz und Freiheit" geht es um die Aufnahme des modernen Autonomieanspruchs seitens der katholischen Formulierung einer

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„autonomen Moral" (die notabene ursprünglich gegen den Lehranspruch der Enzyklika „Humanae vitae" konzipiert wurde). Man mag dabei an Namen wie Alfons Auer und manche seiner Schüler denken. Als berechtigt erkennt die Enzyklika zunächst an, daß man „den rationalen - und damit universal verständlichen und mitteilbaren - Charakter der dem Bereich des natürlichen Moralgesetzes zugehörigen sittlichen Normen" betonte, um den Dialog mit der modernen Kultur zu fördern (Nr. 36). Wenn freilich einigen die „Theorie einer vollständigen Souveränität der Vernunft im Bereich der sittlichen Normen" unterstellt wird, so ist dies erkennbar nicht möglich. Keine Moral ist „rein aus Vernunft" zu konstruieren. Der Rekurs auf Erfahrung ist immer unverzichtbar. Was als mit der katholischen Lehre unvereinbare Thesen angeprangert wird, wäre in der Tat, wenn diese Thesen so undialektisch und schlicht wären, unhaltbar: Dabei geht es in der Sache um die „Wahrheit" des Naturgesetzes, um das Naturrecht als Grundlage des Sittengesetzes. Die Enzyklika lehnt jede menschliche Produktivität, schöpferische Leistung im Blick auf das Naturrecht ab. „Doch die Autonomie der Vernunft kann nicht die Erschaffung der Werte und sittlichen Normen durch die Vernunft bedeuten" (Nr. 40). Wilhelm Korff spricht beispielsweise im „Handbuch der christlichen Ethik" (Neuauflage 1993, Bd. 3, z.B. S. 563f.) von Normen als „Artefakten". Die Enzyklika erinnert hingegen an den Kirchenvater Augustinus, für den das Naturgesetz menschlicher Ausdruck des ewigen Gesetzes Gottes ist (Nr. 43). Damit wird eine Naturrechtsmetaphysik augustinischer Prägung wiederum verbindlich gemacht. Die ewige Naturordnung gilt als zeitlos gültig. Empirische und humanwissenschaftlich orientierte Begründungstheorien des Naturrechts sind damit abgewiesen. Die Universalität und Unveränderlichkeit des Naturgesetzes wird unter den Verweis auf den Anfang festgeschrieben (Nr. 51: „Am Anfang war das nicht so." Mt 19,8 - wobei allerdings nicht erwähnt wird, daß Mose um der Herzenshärtigkeit des Menschen willen, also wegen der Sünde, die Ehescheidung zugestand). Die Unveränderlichkeit des Naturgesetzes und das Bestehen „objektiver Normen der Sittlichkeit", die für alle Menschen der Gegenwart und der Zukunft gelten, könne nicht zweifelhaft sein (Nr. 53). Außer von einer erfahrungsbezogenen Sicht des Naturrechts grenzt sich das Lehrschreiben ferner gegen den Einwand des Physizismus und Naturalismus ab und bekräftigt die offizielle Position des Lehramts, das

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Empfängnisverhütung, direkte Sterilisierung, Autoerotik, voreheliche Beziehungen, homosexuelle Beziehungen sowie künstliche Befruchtung prinzipiell als sittlich unzulässig verurteilt hat (Nr. 47). Dabei kann man der Kritik durchaus zustimmen, wenn sie sich gegen eine Lehre wendet, „welche die sittliche Handlung von den leiblichen Dimensionen ihrer Ausführung trennt" (Nr. 49). In der Tat - sittlich handelt der Mensch als leib-seelisches Wesen, also im Leib. Aber das ist doch nicht der eigentliche Streitpunkt. Strittig ist, inwieweit und auf welche Weise die biologische Natur das ethische Handeln des Menschen determiniert. Die innerhalb der katholischen Moraltheologie kontroverse Frage ist gar nicht die der vorgegebenen Wirklichkeit, der Faktizität des Naturrechts, sondern ein Streit um dessen Interpretation. Ist das Naturrecht metaphysisch oder phänomenologisch, humanwissenschaftlich zu verstehen? Einer philosophischen Naturrechtsmetaphysik kann evangelische Ethik nicht zustimmen, weil sie die Kontingenz, die Unverfügbarkeit des Handelns Gottes und die Begrenzung des Erkenntnisvermögen des Menschen als Sünder voraussetzt. Im 2. Abschnitt „Gewissen und Wahrheit" wiederholt sich dieselbe Argumentationsstruktur. Einerseits wird mit dem 2. Vatikanischen Konzil das Gewissen als „Heiligtum im Menschen, wo er allein ist mit Gott, dessen Stimme in diesem seinem Innersten zu hören ist" (Nr. 55, Gaudium et spes 16), anerkannt und die Bedeutung des Urteils des Gewissens als praktisches Urteil gewürdigt. Andererseits wird mit Nachdruck betont, daß sich eine „Auffassung vom sittlichen Gewissen als schöpferische' Instanz ... von der überlieferten Position der Kirche und ihres Lehramtes entfernt" (Nr. 54). Die Terminologie ist freilich nicht klar. Das Gewissen wird nämlich sowohl als „Instanz" (Nr. 54) wie als „Norm" der Sittlichkeit bezeichnet (Nr. 59, v.a. Nr. 60: das „eigene Gewissen, das die letzte maßgebliche Norm der persönlichen Sittlichkeit" ist). Das Gewissen selbst kann jedoch nicht Norm sein, sondern nur urteilende Instanz, Ort der Rezeption der Sittlichkeit. Die begriffliche Unklarheit ist ein Indiz mangelnder gedanklicher Schärfe. Eine „kreative" Hermeneutik sei nicht zu rechtfertigen, weil das Gewissen an die objektiven Normen des Sittengesetzes gebunden ist (vgl. Nr. 59,60) und somit das Gewissen nicht die sittliche Wahrheit selbst entdecken kann, sondern weil es nur das objektive Gesetz auf den Einzelfall anzuwenden hat. Diese Überlegungen werden speziell auf die traditionelle

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Lehre vom irrenden Gewissen bezogen (Nr. 62-64). Beim rechten Gewissensurteil hat sich der Mensch an der objektiven Wahrheit auszurichten. Ein Mensch, der sich nicht müht, das Wahre und Gute zu suchen, irrt schuldhaft und setzt seine Würde aufs Spiel (Nr. 63). Bei der Gewissensbildung haben sich deswegen die Christen an die Kirche und ihr Lehramt zu halten. Die hier abgelehnte Position wird beispielsweise von Franz Böckle repräsentiert, der in der Auseinandersetzung um „Humanae vitae" den personalen Charakter des Gewissens herausarbeitete. Auch in der Frage der Zuordnung von Gewissen und Wahrheit, im Sinne einer objektiven Norm und um die unbedingte Verpflichtung eines Gewissensurteils geht es wiederum um das „Band zwischen Freiheit und Wahrheit" (Nr. 61). Der 3. Abschnitt „Grundentscheidung und konkrete Verhaltensweisen" variiert dieses Thema nochmals. In diesem Abschnitt geht es um die Beziehung zwischen Person und Handlung. Reformatorisch gesprochen ginge es auch um die Unterscheidung der Beziehungen vor Gott (coram deo) und gegenüber den Mitmenschen (coram hominibus). Die Betonung der „Grundoption", optio fundamentalis, findet sich bei dem Moraltheologen aus dem Redemptoristenorden Bernhard Häring. Er unterscheidet zwischen der sittlichen Grundentscheidung, durch welche die fundamentale Freiheit des Christen vollzogen wird, und der freien Wahl konkreter einzelner Verhaltensweisen. Der Einwand der Enzyklika lautet, bei einigen Autoren nehme diese Unterscheidung die Form einer „Dissoziierung", Trennung an (Nr. 65). Damit aber werde zwischen Grundentscheidung im Blick auf die „transzendentale" Dimension (Nr. 65) und der horizontalen Dimension der Unterscheidung zwischen sittlich „Gutem" und „Schlechtem" getrennt. Gegen diese These wird daher mit Nachdruck eingeschärft, daß die Grundoption dann widerrufen werde, „wenn der Mensch in sittlich schwerwiegender Materie seine Freiheit durch bewußte, in entgegengesetzte Richtung weisende Wahlakte engagiert. Die Grundoption von den konkreten Verhaltensweisen zu trennen heißt, sich mit der wesenhaften Integrität oder der leib-seelischen personalen Einheit des sittlich Handelnden in Widerspruch zu setzen" (Nr. 67). Dieser Kritik wird auch eine reformatorisch geprägte Ethik im Grundsatz zustimmen können, sofern sie lediglich darauf abhebt, daß eine grundsätzliche Trennung von Glaube und Sittlichkeit, Grundentscheidung und konkretem Handeln tatsächlich nicht möglich ist: Man kann als Glaubender

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nicht bewußt und absichtlich sündigen wollen. Die Differenz zwischen der lehramtlichen Morallehre und reformatorischer Ethik wird freilich greifbar, wenn unter Berufung auf das Rechtfertigungsdekret von Trient (Cum hoc tempore cap. 15) zwischen Todsünden und läßlichen Sünden unterschieden wird. Die Unterscheidung bemißt sich nach der „Materie schwerwiegender Akte" (Nr. 70 - gravitas materiae). Nach evangelischem Verständnis geht es aber beim Sündenverständnis nicht primär um die Schwere, das Gewicht der Verfehlung, das quantitativ zu ermitteln ist, sondern es geht um die Grundausrichtung des Lebens des Sünders, der mit seinem Verhalten die Beziehung zu Gott und zum Nächsten prinzipiell verfehlt. Die päpstliche Morallehre lehrt hingegen, daß die „heiligmachende Gnade" durch konkrete schwerwiegende Einzelhandlungen verloren werde. Die Frage wird im nächsten Abschnitt nochmals ausführlich unter dem Begriff der „in sich schlechten" Handlung erörtert. Nicht in der Frage, ob Glaube und Handeln zusammengehören, besteht zwischen katholischer Morallehre und evangelischer Ethik ein Dissens; bei der Frage freilich, wie zwischen beiden bei aller Zuordnung richtig zu unterscheiden ist, trennen sich die Wege erkennbar. Im 4. Abschnitt „Die sittliche Handlung" spitzt sich die Kontroverse zu. Unterschieden wird zwischen Teleologie und Teleologismus. Die traditionelle katholische Morallehre ist vonhause aus teleologisch. Dabei ist die Frage, ob man die Beurteilung sittlicher Handlungen anhand ihrer Ergebnisse Kasuistik, Güterabwägung oder Wertvorzugsregeln nennt, bloß ein terminologisches Problem. Mit der teleologischen Argumentation geht die katholische Tradition nämlich davon aus, daß der Mensch frei ist, das Gute zu wählen. „Die Sittlichkeit der Handlungen bestimmt sich aufgrund der Beziehung der Freiheit des Menschen zum wahrhaft Guten" (Nr. 72). Der „wesenhaft" teleologische Charakter sittlichen Lebens, „eine vernunftgeleitete und freie, bewußte und überlegte Hinordnung, kraft welcher der Mensch für seine Handlungen »verantwortlich' und dem Urteil Gottes unterworfen ist" (Nr. 73), findet deshalb ausdrücklich Zustimmung. Davon unterschieden wird aber ein „Teleologismus", der nicht-sittliche und sittliche Güter zur Abwägung stellt und das „Objekt" sittlichen Handelns unzulänglich versteht und deshalb zu falschen Lösungen kommt (Nr. 75). Diese falsche „Methode der Entdeckung der moralischen Norm" nennt die Enzyklika auch „Konsequentialismus" und „Proportionalismus". Man kann und

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mag hier an Peter Singers Präferenzutilitarismus denken, der auch philosophisch umstritten ist. Die Enzyklika hat aber wohl eher den Moraltheologen Bruno Schüller als teleologischen Ethiker vor Augen. B. Schüller hat die Kritik Robert Spaemanns, „Über die Unmöglichkeit einer universalteleologischen Ethik" ausführlich seinerseits kritisiert. 1 Die Unterstellung Spaemanns, ein universalteleologisches Kalkül sei intendiert, ist nach ihm absurd. Offensichtlich hat sich aber diese philosophische Kritik an einem Kritiker teleologischer Argumentation in Rom noch nicht herumgesprochen; denn sonst wüßte man, daß eine Methode der Entdeckung der moralischen Norm im Einzelfall, unter Anstrengung der Vernunft, und dem Inhalt des sittlich Guten keine Identität besteht. Ein Satz wie: „Der sittliche Charakter der menschlichen Handlung ist von dem durch den freien Willen vernunftgemäß gewählten Gegenstand abhängig" (Nr. 78), ist folglich interpretationsbedürftig. Denn wie und von wem und auf welche Weise wird geklärt, was überhaupt ein vernunftgemäß gewählter Gegenstand ist? „Veritatis splendor" verweist auf die Vernunft, die bezeugt, daß es Objekte menschlicher Handlungen gibt, die zur Würde der Person und dem Willen Gottes in radikalem Widerspruch stehen, und „malum intrinsece" genannt werden (Nr. 80). Auch das ist an sich nicht zu bestreiten. Völkermord, Mord, Folter, Verstümmelung, Versklavung sind nun einmal schlecht. Wenn freilich unter die katholische Lehre von den „in sich schlechten" Handlungen insbesondere die Methodenfrage der Geburtenkontrolle von „Humanae vitae" subsumiert wird (Nr. 80), dann ist der Kulminationspunkt der Enzyklika erreicht. Die Insistenz der Auseinandersetzung um die Begründungen katholischer Moraltheorie ballt sich letztlich auf einen einzigen bekannten Streitpunkt zusammen. Über diese Streitfrage wird von beiden Seiten mit Vernunftgründen gestritten. Und das zumindest ist ein Positivum der Enzyklika, daß sie sich darauf einläßt. Denn Argumente kann man prüfen und widerlegen.

1

B. Schüller, Das Muster einer schlagenden Widerlegung des Utilitarismus, in: Pluralismus in der Ethik. Zum Stil wissenschaftlicher Kontroversen, Münster, 1988, S. 45-82.

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IV Eine Bilanz der Analyse der Enzyklika ist im Ergebnis zwiespältig. Es gibt durchaus auch positive Aspekte. Drei solcher Aspekte seien ausdrücklich genannt. 1. Entgegen mancher vorheriger Befürchtungen definiert die Enzyklika keine „infallibilitas in moribus". Sie erklärt deshalb auch nicht „Humanae vitae" für unfehlbar. Damit bleibt auch für katholische Moraltheologen ein Freiraum des Forschens und Denkens offen. Es bleibt bei Mahnungen zum „sentire cum ecclesia", „cum et sub Petro". Die vorauseilenden Proteste und ein vernehmliches Grummein angesichts inoffizieller Entwürfe waren anscheinend nicht vergeblich. Der innerkatholische Entrüstungspegel wurde nicht maßlos überschritten. 2. Die Intention der Enzyklika, das christliche Ethos der Nachfolge in Kapitel I mit der allgemeinmenschlichen Suche nach dem Guten, mit dem Naturrecht in Kapitel II zu verbinden, ist positiv zu würdigen. Offenkundig ist sich das Lehramt auch dessen bewußt, daß gegenwärtig ein tiefer Hiatus zwischen dem christlichen Ruf zur Nachfolge Jesu und der vernünftigen Begründung einer universalen Ethik besteht. Ob der Hiatus auf die Weise überbrückt werden kann, wie dies das Lehrschreiben vorschlägt, ist freilich fraglich. Denn einmal wird zwar die ansonsten auf das besondere Ethos der Vollkommenen, die evangelischen Räte bezogene Perikope vom reichen Jüngling für das Leben jedes Christen beansprucht. Das Naturrecht ist also nicht der Inbegriff „normaler" christlicher Ethik. Aber Spitzensätze des Rufs in die Nachfolge, wie Besitzverzicht, Gewaltverzicht, Feindesliebe sind gerade nicht aufgenommen und betont. Zum anderen ist die Kritik einiger Tendenzen heutiger Moraltheologie methodisch so philosophisch und rational angelegt, daß man sie eigentlich nur mit Zurückhaltung theologisch nennen kann. Die biblischen Zitate im Kapitel II. sind nicht tragend. Jede vernünftige „Begründung" muß sich aber der Kritik stellen und muß sich anzweifeln lassen. Man kann sie nicht mit dem Anspruch des Glaubens verkündigen. Dabei könnten sich beide Seiten sogar als lernfähig erweisen - das Lehramt, indem es die Stringenz seiner Argumente prüft - ohne dabei die theologische Intention aufgeben zu müssen - , manche Moraltheologen, indem sie nicht intendierte mögliche Konsequenzen einer Argumentation reflektieren.

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3. Die Enzyklika bleibt in vielem abstrakt. Aber sie ist, unvermeidlich wegen des Moralthemas, doch weniger abstrakt und zeitlos als der Katechismus der Katholischen Kirche, 1993, der mit dem Satz beginnt: „Gott ist in sich unendlich vollkommen und glücklich. In einem aus reiner Güte gefaßten Ratsschluß hat er den Menschen aus freiem Willen erschaffen, damit dieser an seinem glückseligen Leben teilhabe. Deswegen ist er dem Menschen jederzeit und überall nahe. Er ruft ihn und hilft ihm, ihn zu erkennen und ihn mit all seinen Kräften zu lieben" (Artikel 1). Eine solche zeitlose Wahrheit kann die Moralenzyklika nicht mehr verkündigen. Immer wieder schimmern die aktuellen Sorgen und Probleme durch, denen dann allerdings mit dem Verweis auf den „Glanz" der zeitlosen Wahrheit begegnet wird. Was aber wäre, wenn man die auch in den Sorgen und Problemen verborgene Wahrheit ernstnehmen würde? Von der Fragestellung der Enzyklika her müßte dies nicht grundsätzlich ausgeschlossen sein. Die Antwort des Lehramtes jedoch erweist sich dabei als hinderlich. V Der Leitgedanke der Enzyklika ist die Zuordnung von Freiheit und Wahrheit. Mit Recht wird eine Willkürfreiheit abgelehnt. Aber es könnte doch auch eine andere Freiheit, eine kommunikative Freiheit geben. Zu Recht wird ebenso der christliche Grund der Freiheit in Erinnerung gerufen (Joh. 8, 32). Aber ist diese verheißene Wahrheit eine zeitlose, metaphysische Wahrheit? Aus der Sicht evangelischer Ethik sind dazu Grundfragen zu stellen, die immer wieder schon anklangen: 1. Die lehramtlichen Äußerungen stellen erneut vor die kontroverstheologische Frage nach dem Zusammenhang von Soteriologie und Ethik, von Rechtfertigung allein aus Gnaden und guten Werken, von Glaube und Handeln. Wie steht es dabei mit der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium? Ist das Evangelium nova lex und die Gnade Hilfe zur Erfüllung des Gesetzesgehorsams? Und ist bei dieser Sicht die Versuchung der Werkgerechtigkeit, in diesem Fall der Heilsvermittlung mithilfe der richtigen Morallehre, vermieden? Die Enzyklika beruft sich auffällig häufig auf das Rechtfertigungsdekret des Konzils von Trient und legt dies im Sinne einer habituellen Gnade aus. Das ist auch im ökumenischen Dialog künftig zu beachten.

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2. Evangelische Ethik wird schon vom Ansatz her situationsbezogener argumentieren. Evangelische Ethik ist nicht notwendig reine Situationsethik. Sie ist „kriteriale Situationsethik" (A. Rieh), wird also Kriterien und Normen in ihre Überlegungen einbeziehen. Aber sie ist immer vom Ansatz her situativ bezogen. Die Wahrnehmung der Lebenswirklichkeit ist für evangelische Ethik methodisch und inhaltlich darum unerläßlich. Die Forderung nach Situationsgerechtigkeit ist konstitutiv. Lebenserfahrung spielt deshalb für sie eine andere Rolle als in der katholischen Morallehre. Evangelische Ethik kann deshalb nicht abstrakt entworfen und metaphysisch legitimiert werden. Sie wird auch weniger dekretieren, zensieren, Wahrheiten fixieren, als beraten, mitdenken, mitfragen, Ratlosigkeiten teilen. Die Scheidung von gut und schlecht, von wahr und irrig ist jedoch im Lebensvollzug schwieriger als am Schreibtisch in der Studierstube (und manchmal auch auf dem Katheder). 3. Damit ist auch die Stellung zum Pluralismus in der evangelischen Kirche und Ethik - sieht man von fundamentalistischen Strömungen ab - prinzipiell anders orientiert als in der Sicht des römisch-katholischen Lehramtes. Die Lebenswirklichkeit ist heute pluralistisch. In einer säkularen, religiös und weltanschaulich vielfältigen Gesellschaft, die von Aufklärung und Industrialisierung geprägt ist, ist Pluralismus unvermeidlich.2 Die Folge der gesellschaftlichen Vielfalt ist ein sozialer, politischer, kultureller, weltanschaulicher, religiöser und moralischer Pluralismus. Dieser Pluralismus ist nicht durch die Berufung auf die eine absolute Wahrheit zu überwinden. Konkurrenzverhältnisse sind vielmehr unausweichlich. Konflikte und Spannungen sind nicht administrativ beizulegen. Regeln für den Umgang mit Konflikten aufgrund des Pluralismus sind aber zu suchen. Eine freiheitlich-rechtsstaatliche Demokratie ist ein solcher Versuch der Konfliktregelung, um Toleranz und Frieden zu ermöglichen. In dieser neuzeitlichen Gesellschaft, nicht außerhalb von ihr oder gar über ihr, existiert auch die Kirche. Sie hat also ihren eigenen Ort im Pluralismus zu finden. Die Alternative zum Pluralismus sind verschiedene Formen des Totalitärismus. Die Kirche selbst kann mit der Festlegung eines bestimmten Wahrheitsverständnisses

2

B. Schüller, Zum Pluralismus in der Ethik, in: Pluralismus in der Ethik, S. 2744.

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einen totalitären Anspruch vertreten. Prinzipieller Anti-Pluralismus muß totalitär seinen Anspruch auf Wahrheit vertreten und tendiert zum Nomismus; das ist die Gefahr einer hierarchischen, zentralistischen und autoritären Kirchenstruktur, wie sie der römische Katholizismus verkörpert. Protestantistische Weltorientierung ist dagegen von vornherein offener auch für einen moralischen Pluralismus, wobei sie immer wieder in die Gefahr gerät, in Beliebigkeit, Regellosigkeit zu verfallen und anomisch, chaotisch zu werden. Der „Wahrheit Glanz" auf den die Enzyklika sich beruft, strahlt also mitnichten so hell, daß er alle Zweifel und Einwände einfach überstrahlt. Auf Glanz kann man beispielsweise auch altes Mobiliar polieren, das bereits morsch ist. Helligkeit und Pracht einer blanken Oberfläche können täuschen. Man spricht dann von einem „trügerischen" Glanz, von einem täuschenden gleißen, ja sogar von einem „glänzenden" Elend (Goethe, Leiden des jungen Werther). Was sich hinter einem Glanz verbirgt, ist jeweils sorgfältig zu prüfen. Reformatorische Theologie wird den Anspruch der päpstlichen Morallehre auch daran prüfen, wieweit sie der höchsten Kunst in der Christenheit genügt, nämlich Gesetz und Evangelium wohl voneinander zu unterscheiden. Martin Luther predigte 1532: „Unter dem Papsttum hat der Papst und alle seine Gelehrten, Kardinäle, Bischöfe und Hohe Schulen noch nie gewußt, was Evangelium oder Gesetz sei." Den Glauben an die Gesetze „Du sollst nicht stehlen, nicht töten" etc. teilen nämlich auch die Türken. Von diesem lauteren Türkenglauben gilt freilich: „Aber es ist nichts geredet, wie man Christ werden soll, wiewohl es recht ist und ist keiner zu verdammen. Aber man muß sie unterscheiden". 3 Eine evangelische Reaktion auf die Enzyklika im „Ja, aber ..." sollte sich durch die Kunst dieser Unterscheidung von Gesetz und Evangelium bewähren - und folglich kann im Aufweis von Widersprüchen eine evangelische Lektüre der Enzyklika nur dialektisch wertend Stellung nehmen, das besagt: In Zustimmung zu manchem Anliegen, in grundsätzlicher Kritik an der sachlichen Argumentation.

3

M. Luther, WA 36, 10, 19-27.

13. Natur als ethischer Maßstab Traditionell werden die Inanspruchnahme der Natur als Norm und das Naturrecht in der katholischen Moraltheologie und in der evangelischen Ethik unterschiedlich bewertet. Die Antithese lautete: Ansatz der Ethik bei der natürlichen Einsicht (katholisch), also Grundlegung im Naturrecht, oder bei der Offenbarung (evangelisch), philosophische Argumentation oder Berufung auf die Autorität der Bibel lautete in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Frontstellung. Seit dem 2. Vatikanischen Konzil waren die Fronten aufgelockert. Eine neu aufgebrochene innerkatholische Kontroverse ist auch in der evangelischen Theologie zu beachten und zu bedenken. I In der katholischen Moraltheologie wird eine Rückkehr zur Natur als fundamentalem sittlichem Beurteilungskriterium und Maßstab empfohlen. Programmatisch empfiehlt bereits der Titel von Martin Rhonheimer „Natur als Grundlage der Moral" (1987). Seine „Auseinandersetzung mit autonomer und teleologischer Ethik" beruft sich auf das Naturverständnis eines Thomas von Aquin und intendiert eine Restitution einer klassisch-thomistischen, objektiven Naturrechtslehre. Mit der Orientierung an der menschlichen Natur als Grundlage der Moral verbindet sich bei Rhonheimer zugleich eine massive und scharfe Kritik nachkonziliarer deutscher Moraltheologie, wie sie von Alfons Auer, Bruno Schüller, Franz Böckle und vielen ihrer Schüler vertreten wird. Diese heftige Kritik hebt bereits im „Vorwort" an. Seit „Humanae vitae" und der dadurch ausgelösten Diskussion um die Empfängnisverhütung wird in der Moraltheologie die Beziehung zwischen menschlicher Natur und praktischer Vernunft erörtert: Rhonheimer hält den Moraltheologen, welche das Naturverständnis von „humanae vitae" kritisieren, einen ganzen Lasterkatalog vor: „Danach trachtend, ihre Ablehnung bestimmter, durch das kirchliche Lehramt in ungebrochener Kontinuität verkündeter, sittlicher Ansprüche moraltheologisch abzustüt-

286

N a t u r als ethischer Maßstab

zen, gelangten dann aber die Vertreter der genannten Positionen schließlich dazu, Aussagen wie die folgenden zu vertreten: Das (moralische) Naturgesetz bestehe lediglich in einer natürlichen Neigung der praktischen Vernunft, in schöpferischer Weise je wieder neue sittliche Normen zu formulieren; nichts anderes habe bereits Thomas von Aquin unter »Naturgesetz' verstanden; der Mensch sei für alle voraussehbaren Folgen seiner Handlungen verantwortlich (also auch für die üblen Folgen, die sich aus der Unterlassung einer im allgemeinen als Untat eingestuften Handlung ergeben, sofern man diese Folgen voraussehen konnte), eine solche Handlung sei in Wirklichkeit gar keine Untat, sondern eine Ausnahme; überhaupt gebe es keine innerlich abwegige Handlung, es sei denn die Abwendung von Gott; die Hinrichtung eines Unschuldigen, um das Leben anderer Menschen zu retten, sei nur deshalb nicht statthaft, weil dadurch die Funktionsfähigkeit der Institution Strafrecht gefährdet würde; die Judenvernichtung im Dritten Reich sei moralisch deshalb nicht zu rechtfertigen, weil dabei die Proportion zwischen Mittel und Zweck exzessiv verzerrt sei; Sterilisation sei wie der Krieg ein Übel, aber in der gegenwärtigen Welt oft unvermeidlich; der Mensch sei wesentlich ein geistiges Subjekt, das sich, um etwas zu tun, seines Körpers bedient, die menschliche Fortpflanzungskraft gehöre zur »untermenschlichen' Natur des Menschen, deren Gesetze ausgesprochen inhumane Züge tragen, die man deshalb durch Manipulation kultivieren und humanisieren müsse; alles, worauf sich unsere Handlungen beziehen, seien nur vor-sittliche Güter; menschliche Handlungen seien von guten oder schlechten Absichten durchformte »äußere Ereignisse'; im sittlichen Handeln gehe es darum, nach Möglichkeit vor-sittliche Güter zu mehren, bzw. möglichst wenig vor-sittliche Übel in der Welt' zu verursachen; man dürfe, wenn angemessene Gründe vorliegen, auch direkt solche Übel verursachen, so wie man einen schmerzlichen ärztlichen Eingriff vornimmt, solange man dabei niemandem zu schaden beabsichtige; »einen Menschen töten' sei sittlich immer dann erlaubt, wenn das gewirkte (nur vor-sittliche) Übel ,Tod' nicht als Ziel angestrebt wird und im Gesamt der Handlung durch entsprechende Gründe gerechtfertigt ist; an einer Welt, die von der Sünde geprägt ist, müsse (und dürfe) man oft Dinge tun, die man sonst verabscheuen würde; und ähnliches mehr." 1 1

M. Rhonheitner, Natur als Grundlage der Moral, 1 9 8 7 ; vgl. die Besprechung von W. Schöpsdau, Zurück hinter die Aufklärung?, Md KI 4 0 , 1989, S. 106f.

Natur als ethischer Maßstab

287

Rhonheimer will die anhand von Äußerungen namhafter Moraltheologen so gekennzeichnete Fehlentwicklung mit Nachdruck korrigieren; dabei wird bei ihm freilich der sachliche Kontext und Argumentationszusammenhang der von ihm inkriminierten Äußerungen ausgeblendet. Den Vertretern einer „autonomen Moral" und einer „teleologischen Ethik" setzt er das Naturverständnis des Thomas von Aquin als richtige Alternative entgegen. Der Streit um Rhonheimers Ansatz kann daher (einmal) historisch als Kontroverse um die richtige Thomasexegese geführt werden. Diese philosophieund theologiegeschichtliche Debatte sei hier nicht aufgenommen und geführt - so notwendig sie an ihrem Ort ist. Vielmehr geht es (sodann) um seinen prinzipiellen Einwand, die nachkonziliare Moraltheologie vertrete eine dualistische Anthropologie, welche Natur und geistig-seelische Person trenne, verfalle damit „legalistischen" und „physizistischen" Denkschemata, beurteile praktische Vernunft falsch und verfehle das objektive Gut sittlichen Handelns, nämlich die Natur als Wertfundament. Der Kongreß deutschsprachiger Moraltheologen und Sozialethiker hat im Herbst 1989 unter dem Thema „Natur im ethischen Argument" sich indirekt mit Rhonheimers These auseinandergesetzt. 2 Allerdings erfolgt die Kritik an Rhonheimer nur indirekt und implizit, indem die Vielfalt und Komplexität des Naturbegriffs aufgewiesen wird.

II Wie leistungsfähig ist der Naturbegriff? Ist er als ethisches Kriterium überhaupt brauchbar? Von Anfang an eignet dem Naturbegriff eine Unschärfe und Unbestimmtheit. Es gibt eben nicht den einen einheitlichen Naturbegriff. Der Begriff Natur, Physis, ist abgeleitet von phyö, wachsen, natura von nasci. Physis, natura bezeichnet in der jonischen Philosophie zum einen die Beschaffenheit, das Wesen (so Heraklit), zum anderen das Werden, Wachstum, den Wuchs. Bei Parmenides ist Natur Synonym für Genesis und bezeichnet das reine Werden, Wachsen. Das Natürliche ist das Ursprüngliche. Auf dieser 2

B. Fraiing (Hg), Natur im ethischen Argument. Studien zur theologischen Ethik, 1 9 9 0 (mit Beiträgen von Georg Wieland, Manfred Wolff, Klaus Demmer, Franz Furger, Philipp Schmitz, Dietmar Mieth).

288

Natur als ethischer Maßstab

antiken Prägung des Naturbegriffs beruht die mittelalterliche Wiedergabe von natura mit Wesen (essentia), oder mit Substanz (substantia). In der Scholastik meint „natürlich": wesentlich. Das Widernatürliche ist das Zerstörerische. „Natürlich" kann aber auch im Sinne von „selbstverständlich" gebraucht werden. Im Corpus Hippocraticum meint Physis oft den Normalzustand. Das „Natürliche" ist das „Normale". In der Neuzeit verändert sich nun das Verständnis von Natur grundsätzlich: „Natur" meint nicht das Wesen, sondern das vom Menschen nicht oder noch nicht Gestaltete. Natur wird zum Gegenstand der Naturwissenschaft. Das Natürliche ist vorgegeben. Es wird zum Gegenstand von Untersuchung und Experiment. Natur ist ein unabdingbar Vorgegebenes, eine faßbare Wirklichkeit. Menschliches Erkennen kann prinzipiell Naturstrukturen, Naturgesetze erkennen. 3 Friedrich Nietzsche charakterisierte die moderne Naturwissenschaft zutreffend als Ausdruck eines Willens zur Macht über die Natur. Der scholastische und der moderne Begriff von Natur sind also nicht identisch. Zwischen Natur als „Wesen" und Natur als Gegenstand der Naturwissenschaft ist zu unterscheiden. Am deutlichsten wird die Weite des Naturbegriffs, wenn man die Gegenbegriffe hinzunimmt: Natur und Kultur; Natur und Technik, das Natürliche und das künstlich Hergestellte kennzeichnen als Begriffspaare eine Entgegensetzung. Eine andere Entgegensetzung lautet: Natur und Geist, Natur und Vernunft, Natur und Person. Wiederum auf andere Zusammenhänge verweisen Formeln wie Natur und Gnade, Natur und Übernatur, Natur und Sünde. Natur ist also ein Korrelations- und Differenzbegriff. Erst durch die Benennung des Gegensatzes gewinnt der Begriff Natur Konturen: Natur wird zugleich metaphorisch gebraucht. Natur ist seit alters her Metapher sowohl für Ordnung wie für Chaos. Es sind somit in der heutigen ethischen Diskussion zwei verschiedene Fragestellungen, die zur Rückbesinnung auf Natur und Natürliches veranlassen. Einmal sucht man im Werte- und Normenwandel nach einem unangreifbaren Fundament. Natur meint hier das Unverfügbare. In diesem Sinne dient in der Sexualethik das Argument der Natur und 3

Vgl. zur Begriffsgeschichte: F.P. Hager/F. Kaulbach, 1984, S. 421-470, bes. S. 477.

Art. Natur, in: HWPh 6,

Natur als ethischer Maßstab

289

des Natürlichen als Hinweis auf das richtige Verhalten. Die Beeinflussung der Fruchtbarkeit in der Sexualität ist gegen die Natur, naturwidrig, unnatürlich - so „Humanae vitae". Die Zeugung in der Retorte ist gegen die Natur (so „Donum vitae"). Natur bezeichnet ein Gut, dessen Verletzung Frevel ist. Zum anderen führt die Wahrnehmung zerstörter Natur in der Umwelt, die Aufgabe des Naturund des Tierschutzes zu einer neuen Sensibilität gegenüber dem Gegebenen. Vor allem in der Bioethik und Gentechnik stellt sich die Frage, ob es nicht Grenzen gibt, welche Natur setzt und die der Mensch bei seinen manipulierenden Eingriffen zu beachten hat. Dietmar Mieth verweist mit Recht darauf, daß der Natur-Indikator offensichtlich durch bestimmte Kontrasterfahrungen hervorgerufen wird. 4 Die Kontrasterfahrungen sind freilich im Blick auf die zerstörte natürliche Umwelt anders als im Blick auf Sexualnormen. Mieth nennt den Natur begriff einen „Grenzbegriff" und zugleich einen Projektbegriff. 5 Als Grenzbegriff soll er davor warnen und bewahren, die Grenze des Verabscheuungswürdigen zu überschreiten, etwa in der Gentechnik mit der Manipulation menschlichen Erbgutes durch die Erzeugung von Chimären und Hybriden. Wolfgang van der Daele nennt dies eine „Moralisierung der menschlichen Natur": „Die Moralisierung der menschlichen Natur verlangt, daß die Achtung vor dieser Natur über die Selbstbestimmung des menschlichen Handelns gesetzt wird". 6 Im Projektbegriff soll Natur das Wesen des Menschen bezeichnen. Das „Projekt" Person ist dann als dem Sinn der Natur entsprechend aufzuweisen. Wenn man nun Natur als ethisches Argument und als „Grundlage der Moral" verwendet, dann hängt alles von der jeweiligen inhaltlichen Bestimmung von Natur und Natürlichem ab. Erst die Äquivalente zu Natur präzisieren, was als sittlich legitim betrachtet, bzw. was als naturwidrig, widernatürlich qualifiziert und damit als

4

D. Mieth, Natur im ethischen Argument. Zusammenfassung und Ausblick, in: B. Fraling, a.a.O., S. 1 2 9 - 1 4 1 , bes. S. 136.

5

A.a.O., S. 137.

6

W. van der Daele, Die Moralisierung der menschlichen Natur und Naturbezüge in gesellschaftlichen Institutionen, in: Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft 2, 1987, S. 351-366, bes. S. 354, zit. bei Mieth, a.a.O., S. 137.

290

Natur als ethischer Maßstab

sittlich verwerflich verstanden wird. Die Vielfalt der Möglichkeiten, Natur zu verstehen, ist also zu berücksichtigen.

III Welche Auffassung von „Natur" legt nun Rhonheimer zugrunde, wenn nach seinem Postulat Natur Grundlage universaler und objektiver sittlicher Normen sein soll? Vorweg sei festgehalten, daß dies eine philosophische, keine direkt theologische Frage ist. Es geht dabei um einen rationalen Zugang, der eine neue Perspektive für eine naturrechtliche Fundierung sittlicher Normen eröffnen soll. Die praktische Vernunft soll sich an der Natur als Maß des Guten orientieren. Dieser Naturbegriff soll auch die Unterscheidung von „künstlicher" und „natürlicher" Empfängnisverhütung in „Humanae vitae" als evident und ethisch notwendig erweisen. Dem Menschen sind durch die Natur Güter vorgegeben, die zugleich „praktische Prinzipien" sind. Eine Mißachtung solcher Güter und Prinzipien zerstört die Identität der Person. Das mit seiner Natur dem Menschen Vorgegebene ist folglich der Güterabwägung entzogen. Schon hier stellt sich die Frage, ob Rhonheimer mit dieser seiner Deutung des Gutes (bonum) nicht einer Verwechslung anheimfällt. Bei Thomas ist Gott als primum principium das Bonum; aber sind die „applicationes", die konkreten Anwendungen des von Gott gewollten Guten, die secundaria principia, wie sie die inclinationes naturales des Menschen enthalten, ebenso eindeutig und absolut verbindlich wie die lex aeterna? Stephan Ernst nennt in seinen Marginalien zu M . Rhonheimers Buch dessen These daher eine „Spiegelfechterei": Ernst faßt seine Besprechung von Rhonheimers Buch so zusammen: „Wichtig ist die Betonung der Objektivität sittlichen Handelns. Damit kommt Vf. dem Anliegen einer Verantwortungsethik entgegen, Sittlichkeit nicht auf bloße Gesinnung zu reduzieren. Die Kritik an teleologischer und autonomer Ethik aber scheint verfehlt und nichts als Spiegelfechterei. Denn Rh. ordnet ihr Anliegen dem eigenen nicht richtig zu. Ethik leugnet nicht den objektiven Handlungssinn, sondern fragt, wie er zu erheben ist. Hierzu sagt die Arbeit von Rh. jedoch nichts: Vf. zieht sich statt dessen auf Intuition und Evidenz zurück. Damit trennt er Sein und Sollen, indem er die Sittlichkeit des Handelns ohne Bezug auf nicht-sittliche Güter und

Natur als ethischer Maßstab

291

ihre Folgezusammenhänge bestimmt. Indem damit die Unterscheidung von richtigem und gutem Handeln ihren Sinn verliert und materiale Normen durch Evidenz begründet werden, vermischt er Sein und Sollen". 7 Im Blick auf Rhonheimers Argumentation ist außerdem zu unterscheiden zwischen seinem grundsätzlichen Ansatz und den Einzelargumenten, mit denen er Kritik an anderen Argumentationen übt. Bei der Kritik an der „Autonomen Moral", an der teleologischen Argumentation, an Utilitarismus, an der Güterabwägung spielen noch andere Argumente als allein der Rückgriff auf die Norm der Natur eine Rolle. Es geht also in dieser Kontroverse nicht bloß um das Verständnis von Natur, sondern um das Problem der praktischen Vernunft, um das Verhältnis von Vernunft und Autorität, und um eine Metaphysik der Handlung. Dennoch ist es zulässig, die Grundthese auf den Naturbegriff zu konzentrieren: Sie lautet: Die nachkonziliare katholische Moraltheologie verfehlt ihre Aufgabe, weil sie das Ziel des Handelns, das sittlich Gute verfehlt. Sie erfaßt das Handlungsobjekt, die objektive Dimension menschlicher Handlungen nicht, weil sie in entscheidenden Punkten „unkorrekt und verfälscht (.naturalistisch')" argumentiert. 8 Dieser „methodische Naturalismus" oder auch „Physizismus" führe zum Mißverständnis von „Humanae vitae". 9 Die „Moralisierung der Natur Ordnung" ist, so Rhonheimer, ein falscher Ausgangspunkt. 10 Dieser falsche Ansatz habe zur Folge die Ablehnung eines „peccatum contra naturam". 1 1 „Natur" werde von den Moraltheologen, welche „Humanae vitae" mit ihrer Fixierung auf die Wahl der „natürlichen" Methode der Empfängnisverhütung kritisieren und ablehnen, „physizistisch" mißverstanden. Daraus folgt weiterhin eine dualistische Anthropologie, die Natur und Geist,

7

S. Ernst, Hat die autonome und teleologische Ethik die Objektivität sittlichen Handelns vergessen? Marginalien zu M. Rhonheimers Buch „Natur als Grundlage der Moral", Theologie und Glaube (ThGl) 76, 1988, S. 80-89, Zitat S. 89; vgl. auch die Besprechung von J. Römelt, Zeitschrift für katholische Theologie (ZKTh) 111, 1989, S. 2 1 1 - 2 1 6 .

8

Rhonheimer, a.a.O., S. 18.

9

A.a.O., S. 1 1 3 - 1 3 9 .

10

A.a.O., S. 108 ff.

11

A.a.O., S. 109, 111.

292

Natur als ethischer Maßstab

Natur und Person trenne. Dieser „spiritualistische Personalismus", wie ihn viele Rhonheimer zufolge vertritt, beruhe auf naturalistischen und dualistischen Vorurteilen und führe zu einer „Denaturierung der Sexualität". 12 Dagegen beruft sich Rhonheimer auf die „lex naturalis" als „Gesetz der praktischen Vernunft". Das „objektive Naturgesetz", das für die praktische Vernunft evident sei, partizipiert am ewigen Gesetz. „,Natur' wird ... auch als eine den Dingen eingestiftete ,causa ordinationis* verstanden". 13 Dieses Naturgesetz ist überdies zugleich das Gesetz der Tugend. An die Stelle der Autonomie, der Selbstgesetzgebung, der Selbstbindung der praktischen Vernunft, von welcher der Konsens der nachkonziliaren Moraltheologen ausgeht, tritt bei Rhonheimer der Rückgriff auf die tradierte thomistische Sicht der „lex naturalis" als „Partizipation des ewigen Gesetzes". Dieses Naturgesetz ist dem „Licht der natürlichen Vernunft" selbstevident. 14 Die „Lichtmetapher" wird dem „Prinzip der Rationalität", und d. h. der Forderung nach argumentativer Begründung, entgegengesetzt. Das „lumen naturale", welches der Intellekt wahrnimmt, ist - wie in platonischer Tradition - der „Gott in uns". 15 „Vernünftigkeit", „reasonableness" in der Argumentation erfaßt noch nicht diese normative Funktion der Vernunft. Diese „normative Funktion der Vernunft" erfaßt freilich erst den „Unterschied von Gut und Böse" in einem „partizipativen kognitiven Nachvollzug der ,ordinatio' des Ewigen Gesetzes". 16 Ohne Beachtung des Handlungsobjektes, der Objektivität des Handlungszieles wird die moraltheologische Reflexion zu einer „Technik der Normenbegründung, die man Güterabwägung nennt. Die Vernunft als Maßstab geht dabei verloren". 17 Man muß dagegen die „Finalitätsstruktur des menschlichen Seins" im Sinne eines „Gesamtorganismus" begreifen und geltend machen: „alles andere hieße, nur noch den Kadaver der sittlichen Handlung untersuchen, der ebensowenig eine sittliche Handlung ist, wie der Leichnam eines Menschen ein zusammenhängender Organismus ist". 18 12 13 14 15 16 17 18

A.a.O., A.a.O., A.a.O., A.a.O., A.a.O., A.a.O., A.a.O.,

S. 134, 120. S. 140. S.185, vgl. S.199. S.210, vgl. zur Lichtmetapher S.205 ff. S.245. S.268. S.343.

Natur als ethischer Maßstab

293

Soweit Rhonheimers Argumentation. Diese Berufung auf „Natur" als Wertfundament ist freilich in mancherlei Hinsicht problematisch. Von den Schwierigkeiten der Argumentation mit der Natur ist in Rhonheimers programmatischer Inanspruchnahme als „Grundlage der Moral" nichts zu erkennen. Zunächst einmal fällt auf, daß eine Auseinandersetzung mit Wilhelm Korff unterbleibt. Korff betont nämlich auf der einen Seite, daß ethisches Handeln Konstrukt ist, Handlungsentwurf, daß aber andererseits moralisches Handeln die „naturale Unbeliebigkeit der normativen Vernunft" zu beachten hat. Korffs Ansatz paßt bei Rhonheimer deshalb nicht ins Bild, weil dieser einerseits Natur als Rahmenbedingung und Voraussetzung von Moral anerkennt, andererseits aber Natur gerade nicht als Norm akzeptiert. Gegen Rhonheimers Orientierung an der Natur sind weitere grundsätzliche Anfragen zu richten: Ist Natur denn objektiv gültig und ein zeitlos brauchbarer Maßstab? Wie überzeugend ist eine Berufung auf eine erkennbare Naturteleologie, einen Naturzweck? Man kann diese kritischen Anfragen an die grundlegende These folgendermaßen differenzieren: 1. Eine metaphysische Auffassung von Natur, welche den objektiv-werthaften Charakter des menschlichen Handelns fordert, kollidiert mit der Einsicht empirischen Naturverständnisses. 19 Bei Aristoteles läßt sich die Unzulänglichkeit im Naturverständnis immer dann aufzeigen, wenn moralische Wertungen auf falschen naturwissenschaftlichen Thesen beruhen. Beispielhaft ist die aristotelische Zeugungsthese, welche aufgrund ihrer Bewertung des männlichen Sperma als natürlichem Träger des Lebens die Masturbation als „homicidium tenatum" ablehnte. Aristoteles begründete außerdem biologisch die Minderwertigkeit der Frau. Rhonheimer überspielt solche Probleme im Blick auf die Thomasinterpretation mithilfe der Unterscheidung von „spekulativer" und „praktischer" Vernunft. Dadurch wird gleichsam vergessen gemacht, daß der metaphysische Regelkreis des Partizipationsdenkens und ,Ontologie' das Problem der philosophischen ,Anthropologie' im eigentlichen Sinne oder gar der objektiv-empirischen Naturwissenschaft noch gar nicht kannte. „Der metaphysische Rekurs auf die ,lex aeterna' erspart es, die

19

A.a.O., S.312.

294

N a t u r als ethischer Maßstab

Einheit gemäß der induktiven Erkenntnisse der heutigen Humanwissenschaft und der subjektiv vermittelten Anthropologie zu suchen". 2 0 2. Die fehlende Unterscheidung zwischen Metaphysik der Natur und naturwissenschaftlichem Begriff von Natur wirkt sich aus auf das Verhältnis von Natur und Rationalität, von Naturerkenntnis und praktischer Vernunft. Das macht die Kontroverse zwischen Stephan Ernst und Rhonheimer deutlich. Rhonheimer sieht sich von der Kritik der Rezension Emsts mißverstanden. 21 Im Blick auf 9 Themenkreise macht er dieses Mißverstehen geltend. Dabei sind für ihn die Mißverständnisse durchgängig verursacht durch die Verwechslung von zwei verschiedenen Argumentationsebenen. Die Ebene der praktischen Prinzipien sei von der Ebene des Normenbegründungsdiskurses zu unterscheiden. 22 Die praktische Vernunft der Handlungssubjekte orientiert sich an Prinzipien, wohingegen die professionellen Ethiker Handlungsurteile rational begründen wollen. „Handlungssubjekte sind keine Ethiker und stellen in der Regel, um zu handeln, keinen .argumentativ geführten Diskurs' an." 2 3 Das Naturgesetz, so Rhonheimer, als Maßstab des sittlich Guten enthält selbstevidente Prinzipien. Um diese zu erkennen, bedarf es keiner „schöpferischen" Vernunft, sondern nur der Einsicht praktischer Vernunft. Diese Prinzipien konstituieren das Handeln moralischer Subjekte und enthalten fundamentale menschliche Güter wie Selbsterhaltung, physische Integrität, Gemeinschaft von Mann und Frau, Kommunikation, Freundschaft, Wahrheitserkenntnis u.a. Diese Güter sind nun zweifellos für das Menschsein grundlegend. Deren grundlegende Bedeutung will Rhonheimer freilich dadurch sichern, daß er sie für unverfügbar erklärt. „Relativ" heißt für Rhonheimer, daß der Mensch darüber nach Belieben verfügen könnte, daß sie manipulierbar wären.

20

So ]. Römelt, a.a.O., S.215.

21

S. Ernst, a.a.O., S. 80-89; dazu die Replik: M. Rhonheimer, ,Natur als Grundlage der Moral': Nichts als Spiegelfechterei? Anmerkungen zu Stephan Emsts .Marginalien', in: ThGl 79, 1989, S.69-83; S. Ernst, Erwiderung auf die Replik von M. Rhonheimer zu meiner Rezension seines Buches „Natur als Grundlage der Moral", ThGl 79, 1989, S.84-87.

22

M. Rhonheimer,

23

A.a.O., S. 70.

ThGl, S. 78.

Natur als ethischer Maßstab

295

„Relativ" ist freilich in einem anderen Sprachgebrauch auch auf Kontexte und Situationen bezogen. Rhonheimer betont die absolute Geltung dieser Prinzipien, weil er sie damit menschlichem Verfügen und unterschiedlichen Auslegungen mithilfe der Vernunft entziehen will. 2 4 Der Preis für diese Unantastbarkeit der Prinzipien ist eine zeitlose Moraltheologie, die notwendig einer Kasuistik der richtigen Anwendung von Prinzipien bedarf. Die Metaphysizierung der Natur zieht die Instrumentalisierung der Vernunft nach sich: An die Stelle einer kritisch prüfenden, abwägenden Vernunft tritt bei Rhonheimer eine anwendende praktische Vernunft. Die Differenz zwischen Rhonheimer und seinen Kritikern steckt also nicht nur im Naturverständnis, sondern auch im Vernunftbegriff.

IV Es war wohl nicht zum wenigsten die von Rhonheimer provozierte Debatte, die im Herbst 1989 im Kloster Himmelspforten in Würzburg die deutschsprachigen Moraltheologen und Sozialethiker zu ihrem Fachkongreß unter dem Thema „Natur im ethischen Argument" zusammenführte. Der Ertrag dieses Kongresses besteht zunächst einmal darin, daß die Vielfalt der Berufung auf Natur in ethischen Argumentationszusammenhängen deutlich wird. Den einheitlichen Naturbegriff gibt es nicht. Georg Wieland „Secundum naturam Vivere. Über den Wandel des Verhältnisses von Natur und Sittlichkeit" betont in seinem Eingangssatz die entscheidende Perspektive: „Die Entdeckung der Natur ist weder eine Sache des gesunden Menschenverstandes noch der empirischen Wissenschaften, sondern das Werk der Philosophie". 25 Das Wort „Natur" gewinnt seinen Aussagesinn durch den jeweiligen Kontext. Dies veranschaulicht Wieland an drei Philosophen, Aristoteles, Thomas von Aquin, Thomas Hobbes. Für Aristoteles ist die Polis der Kontext seines Redens von Natur: Der Natur des Menschen entspricht es, daß er in der Polis lebt. Bei Aristoteles ist der Mensch „von Natur" ein 24

A.a.O., S. 73.

25

G. Wieland, Secundum naturam vivere, in: B. Fraling, a.a.O., S. 13- 311. Im Eingangssatz S.13 zitiert G. Wieland: L. Strauss, Naturrecht und Geschichte, Frankfurt 1977, S. 83.

296

Natur als ethischer Maßstab

politisches Wesen. Thomas von Aquin rezipiert diesen Gedanken des Aristoteles, versetzt ihn aber in einen anderen Kontext: Der Bezugspunkt für das Naturgemäße ist bei Thomas nicht mehr die Polis, sondern sind die natürlichen Neigungen und die Vernunft. Ob diese inclinationes naturales metaphysisch oder empirisch, erfahrungsbezogen zu verstehen seien, allein darum geht es in dem Streit um autonome Moral, ethischen Naturalismus oder Metaphysik der Naturordnung. Unstrittig ist, daß Thomas das Verhältnis von Vernunft und Natur nicht antinomisch, sondern harmonisch denkt. Anders sieht dieses Verhältnis Thomas Hobbes. Für Hobbes ist der Mensch von Natur ein selbstsüchtiger Egoist. Erst die Vernunft veranlaßt ihn, Regelungen zu treffen, die sein Überleben sichern sollen. Der Vertrag, durch welchen die Natur gezähmt wird, ist ein Werk der Vernunft. Vernunft instrumentalisiert Natur, um sie beherrschen zu können. Das Verhältnis von Natur und Sittlichkeit ist also in der Antike, im Mittelalter und in der neuzeitlichen Aufklärung verschieden gewesen. Die Entdeckung von und die Wiederbesinnung auf Natur als Maßstab hängt zusammen mit der Erschütterung von Tradition. Im Blick auf die um die Thomasinterpretation polemisch geführte Diskussion sind jedoch mehr Gemeinsamkeiten vorhanden, als die Kontrahenten zu erkennen geben. Strittig sind lediglich zwei Fragen, nämlich einmal die Rückbindung der Orientierung der praktischen Vernunft an die natürlichen Neigungen und an das ewige Gesetz. 26 Bei Rhonheimer besteht die Tendenz, die thomanische Differenz von ewigem und natürlichem Gesetz einzuebnen. Das führt dann zur Metaphysizierung der Natur. Zum andern ist strittig, wie die Vernunft auf natürliche Weise („naturaliter") das Gute erfaßt. 27 Bei Rhonheimer wird die menschliche Vernunft stärker als bei Thomas in Distanz zur Naturordnung gesetzt, um damit die Selbstbestimmung, die Autonomie der Vernunft durch das „ewige" Naturgesetz zu begrenzen. Dagegen meint Wieland zur Spannung von Vernunft und Natur: „Secundum rationem agere bedeutet für ihn (sc. Thomas) letztlich immer auch secundum

26

G. Wieland, a.a.O., S. 21.

27

A.a.O., S. 24. Thomas STh I-II 94, 24: „Alles, wozu der Mensch eine natürliche Neigung hat, erfaßt die Vernunft auf natürliche Weise als gut und folglich als in. der Tat umzusetzen, und das Gegenteil erfaßt sie als böse und als zu vermeiden."

Natur als ethischer Maßstab

297

naturam vivere". 2 8 Antinomisch wird die Spannung zwischen Vernunft und Natur erst in der Neuzeit, exemplarisch bei Thomas Hobhes. Bei Hobbes verfolgt der Mensch, als aufgeklärter Egoist, grundsätzlich uneingeschränkt seine Interessen. Die so gebrauchte Natur erweist sich als destruktiv. Es ist darum Sache der Vernunft, den Naturzustand zu überwinden. Natur kann gerade nicht mehr Grundlage der Moral sein. Anders als bei Thomas und Aristoteles ist die Vernunft bei Hobbes auch nicht in einer theoretischen Metaphysik verankert. Die Vernunft wird dadurch hypothetisch und instrumental. Eine solche hypothetische Vernunft kann freilich nicht durch eine absolut verstandene Natur korrigiert werden, weil die Natur ihrerseits von dieser hypothetischen Vernunft wahrgenommen wird. Neben G. Wieland ist es vor allem Klaus Demmer, der in seinem überaus zurückhaltenden Beitrag „Natur und Person. Brennpunkte gegenwärtiger moraltheologischer Auseinandersetzung" Rhonheimers These zu korrigieren sucht. 29 Dies geschieht vor allem in der Auseinandersetzung mit dem Lehrstück von der innerlich schlechten Handlung. Für Rhonheimer ist dies ein Kernstück seiner Überlegungen. 3 0 Demmer sieht hingegen in der Qualifizierung einer Handlung als „in sich schlecht" einen ethischen Naturalismus am Werk, der wenig Gespür für Intention und Motivation des Handelns erkennen läßt. Eine Handlung bildet immer ein Gefüge von Intention, Wahl der Mittel und Handlungsergebnis. Demmer fragt, ob ein differenziertes Natur-Person-Verhältnis schon Dualismus ist. Diese Anfrage richtet sich auch an die Personenmetaphysik von Karol Wojtyla und deren Phänomenologie. Kritische Anfragen hatte bereits früher schon Franz Böckle an die Konzeption der philosophischen Grundlegung des Personbegriffs mithilfe einer „realistischen Phänomenologie" bei K. Wojtyla in „Person und T a t " (Freiburg, 1981) gerichtet. 31 Die Auswirkungen dieser Zuordnung von Natur und Person werden in der Sexualethik faßbar. Böckle kritisiert vor

29

G. Wieland, a.a.O., S. 26.

29

K. Demmer,

30

M. Rhonheimer,

31

F. Böckle, Was bedeutet .Natur' in der Moraltheologie?, in: F. Böckle (Hg), Der umstrittene Naturbegriff, 1987, S. 45-68, bes. S. 58-66. Vgl. ferner: C. CirotzkiChrist, Der Mensch und sein Handeln in der Philosophie Karol Wojtylas, Philosophie in der Blauen Eule, Bd. 1, Essen 1986.

Natur und Person, in: B. Fraling, a.a.O., S. 55-86. Natur als Grundlage der Moral, 1987, S. 3 6 7 - 3 7 4 , 378f., 4 1 4 .

298

Natur als ethischer Maßstab

allem, daß die Methode realistischer Phänomenologie in ihrem erkenntnistheoretischen Status noch nicht hinreichend geklärt sei. 32 Dadurch bleibt der Vorrang des Personalen vor der Natur offen und es kann an die Stelle der personalen Entscheidung, eine Priorität der Natur treten. Die Betonung der Entsprechung zur natürlichen Ordnung als Handlungsnorm menschlicher Moral führt somit zu jenem ethischen Naturalismus, den Rhonheimer gerade den Vertretern der autonomen Moral zum Vorwurf macht. Daran ändert auch die Hervorhebung der „personalen Struktur" des Naturgesetzes nichts Entscheidendes. Denn „Natur" wird hier prinzipiell zur Grundlage und Norm menschlichen Handelns erhoben.

V Wie stellt sich evangelische Theologie und Ethik zu den in dieser Kontroverse aufgeworfenen Fragen? Für ein evangelische Sicht kann die Berufung auf die Natur nicht die zentrale Stellung einnehmen, die sie in der neueren Diskussion katholischer Moraltheologie hat. Ein Satz wie der: „Das Naturgesetz ... ist Ausdruck personaler Autonomie" 3 3 , wäre bei einem evangelischen Theologen undenkbar. Die evangelischen Aussagen zur „Natur" sind traditionell karg. Von Natur wird im Zusammenhang von Schöpfung und Sünde gesprochen. Erst die ökologische Krise führt zu einer Aufwertung von Natur, freilich im Sinne des Eigenwertes der nichtmenschlichen Kreatur. 3 4 Natur steht für das dem Menschen vorgegebene Andere, Fremde. Natur ist der Lebensraum des Menschen und seiner Kultur. Natur ist ein dem Menschen von Gott gesetzter Rahmen, aber als solche deswegen jedoch noch nicht der Maßstab und die Grundlage der Ethik. Die Natur wird als Grundgegebenheit vom Glauben

32

33 34

F. Böckle, a.a.O., S. 63; vgl. zum Problem ferner: P. Hünermann (Hg), Lehramt und Sexualmoral, Düsseldorf 1990. M. Rhonheimer, a.a.O., S. 406. Vgl. das Themenheft der Evangelischen Theologie 5 0 , 1 9 9 0 , S. 433-477: „Rechte künftiger Generationen - Rechte der Natur". Die Ausarbeitung der EKD „Einverständnis mit der Schöpfung. Ein Beitrag zur ethischen Urteilsbildung im Blick auf die Gentechnik", 1991, enthält auf S. 55-66 („Plädoyer für ein neues Verhältnis zur Natur") grundsätzliche Überlegungen zum Naturverständnis.

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erkannt und anerkannt, ohne daß sie freilich damit zur Norm der Moral wurde. Dies hat theologische Gründe. Ein Grund dieser Relativierung des Naturbegriffs ist, daß evangelischer Glaube Schöpfung und Natur nicht so zeitlos und ungeschichtlich verstehen kann, wie dies eine essentialistische Naturrechtsmetaphysik voraussetzt. Die Natur selbst ist geschichtlich und damit relativ - und nicht, wie eine ontologische Auffassung von Naturrecht annimmt, überzeitlich und unveränderlich. 35 Der Gegensatz von neuzeitlicher „schöpferischer" Vernunft und verbindlicher Naturordnung kann in dieser Zuspitzung gar nicht auftreten, wenn Natur selbst zur Geschichte gehört und in der Geschichte die Konstanz von Natürlichem wahrzunehmen ist. Eine geschlossene, absolute Metaphysik der Natur ist evangelischem Welt- und Selbstverständnis fremd. Dies hat eine Pluralität von Wahrnehmungen der Natur zur Folge. Es ist also grundsätzlich eine andere Art von Weltbetrachtung und philosophischer Wahrnehmung von Natur, welche evangelische Ethik von katholischer Beanspruchung der Natur als Grundlage der Moral unterscheidet und scheidet. Ein Essentialismus der unwandelbaren Naturordnung ist evangelischem Denken fremd. Dazu kommt ein zweiter Gesichtspunkt. Natur hat es nach evangelischem Verständnis sowohl mit Schöpfung wie auch mit der Sünde und dem Bösen zu tun. Zur Geschichte des Umgangs des Menschen mit der Natur gehört der Dank für Gottes gute Gabe ebenso wie die Einsicht, daß die Natur gefallene Natur ist. Evangelische Sicht erörtert deshalb Natur im Kontext von Sünde und Gnade, also Natur und Gnade aufeinander bezogen. Auffallend ist, wie beiläufig Rhonheimer auf das Problem der .gefallenen Natur' zu sprechen kommt. 36 Die „gefallene Natur" bildet für ihn eine große Störung. In der Erinnerung an das „Gefallensein" der Natur wittert er freilich das Einfallstor einer dualistischen Anthropologie. So bedarf für ihn zwar die Person des Sünders der Erlösung, aber wohl 35

36

Vgl. zur relationalen Ontologie die Auseinandersetzung G. Ebelings mit O. H. Pesch: G. Ebeling, Disputatio de homine. Teil III. Die theologische Definition des Menschen, 1989, Lutherstudien Bd. II, 1989, S. 66, Anm. 227, S. 367-376 u. ö. M. Rhonheimer, a.a.O., S. 259-263, vgl. S. 262 zu K. Rahners Rede von „menschlicher Natur" als „Restbegriff".

300

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kaum die Natur. Evangelische Sicht wird in Auslegung des Symbols der Erbsünde hingegen betonen, daß die ganze Schöpfung der Erlösung bedarf und harrt. Ist Natur selbst Teil des Prozesses der Geschichte und hat sie Anteil an der Eigenart der gefallenen Welt, an der Sünde, dann taugt sie gerade nicht als das feste und gesicherte Fundament der Moral. Evangelische Ethik wird sich daher kaum so an der Vorstellung einer normativen Natur als Grundlage sittlichen Urteils orientieren können. Eine solche Orientierung ist für einen evangelischen Theologen ein Trugbild, eine Täuschung. Es gibt keine durchweg irrtumsfreie Norm für menschliches Handeln - auch die Natur vermag dies nicht zu leisten und zu gewährleisten. Nimmt man diese Prämisse ernst, dann ist die Folge ein legitimer Pluralismus von Verfahren ethischer Argumentation und Urteilsverfahren sittlicher Erkenntnis. Nur im Dialog und Diskurs läßt sich dann Übereinstimmung erzielen. Die Betrachtung der Natur und die Einsicht in das Naturgesetz sichert nicht die Evidenz des ethischen Urteils. Was der Natur gemäß ist und was der Natur widerspricht, ist im konkreten Einzelfall zu ermitteln. Evangelische Ethik kann dann zwar sehr wohl Natur als Vorgabe und Rahmen sittlichen Urteils beachten. Aber sie kann die Natur - in der Freiheit eines Christenmenschen und im Vertrauen darauf, daß Gottes Geist Einsicht und Erkenntnis schafft - nicht zum Fundament ethischer Reflexion erheben, an dem sich alles messen lassen muß und anhand dessen alle Kontroversen sich klären lassen.

14. Die Auseinandersetzung um die Militärseelsorge in der Evangelischen Kirche Der Beitrag in der Festschrift für den katholischen Militärgeneralvikar Ernst Niermann stellt die innerevangelische Kontroverse um die Militärseelsorge in den Jahren 1990 bis 1994 dar. Ein innerkirchlicher Kompromiß hat zwar die Diskussionen um eine Änderung des Militärseelsorgevertrags beendet. Die die Diskussion bestimmenden grundsätzlichen ethischen und theologischen Streitfragen bestehen jedoch nach wie vor.

1. Die Kontroverse Seit der Vereinigung Deutschlands 1989 ist die Militärseelsorge in der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD) erneut heftig umstritten. Bereits während der fünfziger Jahre gab es heftige Kontroversen um die evangelische Militärseelsorge.1 Bereits damals wurde grundsätzlich die Frage gestellt, ob die evangelische Kirche überhaupt erneut an der Militärseelsorge sich beteiligen sollte. Diese Frage wurde wiederum laut, als 1990 der Bund evangelischer Kirchen in der DDR sich auflöste und die Landeskirchen der ehemaligen DDR der EKD beitraten. Umstritten war dann, ob und wieweit die staatskirchenrechtlichen Regelungen, die das Grundgesetz vorgab, auch von den Landeskirchen in der ehemaligen DDR, im „Beitrittsgebiet" übernommen werden sollten. Religionsunterricht an staatli1

Vgl. z. B. W. Huber, Kirche und Öffentlichkeit, Stuttgart 1973. H.D. Bastian, Art. Militärseelsorge, in: TRE 22, 1992, (mit Literatur). Evangelisches Staatslexikon 1983 3 , Sp. 2136-2146, Art. Militärseelsorge. 1950 erklärte der Rat der EKD: „Einer Remilitarisierung Deutschlands können wir das Wort nicht reden, weder was den Westen noch was den Osten anbelangt. Die Pflicht der Kirche kann immer nur sein ... friedliche Wege zur Lösung der politischen Probleme zu suchen."

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chen Schulen und staatliche Hilfe bei der Kirchensteuereinziehung waren verdächtig. Für Religionslehrer an staatlichen Schulen gab und gibt es zudem weithin keine vorgebildeten Lehrer. Das Staatskirchenrechtssystem der Bundesrepublik wurde in den Ländern der ehemaligen DDR zwar faktisch übernommen, manche meinen auch, übergestülpt. Der Anzug dieses Staatskirchenrechts war und ist aber freilich für die kirchliche Praxis zum Teil zu groß. Die einzige wesentliche Streitfrage, die als Einigungsproblem schließlich ungelöst auf dem Tisch der EKD verblieb, war der Militärseelsorgevertrag. An ihm konnte sich somit in den östlichen Landeskirchen das gesamte Unbehagen über die angebliche Staatsnähe der EKD artikulieren. Die östlichen Landeskirchen beschlossen zunächst, dem Militärseelsorgevertrag nicht beizutreten. Die Synoden des Kirchenbundes hatten nämlich fast litaneiartig die Absage an Geist, Logik und Praxis militärischer Abschreckung Jahre hindurch verkündigt. 1965 hatten die Kirchenleitungen in der DDR in einer „Handreichung für Seelsorge an Wehrpflichtige" die Entscheidung junger Christen in der DDR, den Wehrdienst zu verweigern, als das „deutlichere Zeugnis des gegenwärtigen Friedensgebots unseres Herrn" bezeichnet, verglichen mit der Ableistung der Wehrpflicht und der Entscheidung, Bausoldat zu werden. In der Volksarmee war auch kein Platz für Militärseelsorge. Christen waren nicht vorgesehen. Eine Bibel im Spind war unerwünscht. Die staatliche Beteiligung an der Militärseelsorge, deren Einfügung in die Lebenswelt der Soldaten, der Status der Pfarrer als Bundesbeamte, die rechtliche Konstruktion des Evangelischen Kirchenamtes für die Bundeswehr und der lebenskundliche Unterricht waren Anstoß und Anlaß für prinzipielle Änderungswünsche. 2 In die Diskussion gebracht wurde auf der Ebene der EKD eine kleine Reform, genannt Modell A, und eine grundsätzliche Revision des Militärseelsorgevertrags, genannt Modell B. Modell A wollte den bestehenden Militärseelsorgevertrag 2

Vgl. zur Diskussion: A oder B? Das heftige Tauziehen um die Militärseelsorge geht weiter, epd-Dokumentation Nr.39/94, 19. Sept. 1994; Militärseelsorge. Kontroverse in der Evangelischen Kirche, hg. vom Arbeitskreis Sicherung des Friedens, Bonn 1991; Braucht Deutschland eine neue Sicherungspolitik? Welche Konsequenzen hat der Friedensauftrag der Kirche für eine Neuregelung der Militärseelsorge? epd-Dokumentation Nr.22/93, 24. Mai 1993; Militärische Intervention erlaubt? epd-Dokumentation Nr. 33/93; G. Binder, Pazifistischer Druck. Die Kirche läßt ihre Militärseelsorger allein, EK 27, 1994, S. 659-660.

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nicht antasten: Das Kirchenamt für die Bundeswehr sollte stärker dem Kirchenamt der EKD zugeordnet werden; nur die Dienststelle für staatliche Verwaltungsaufgaben bliebe in Bonn. Die Militärpfarrer sollten wie bisher Staatsbeamte auf Zeit sein. Kirchenintern würde freilich die Militärseelsorge stärker unter kirchliche Aufsicht gestellt und besser kirchlich eingebunden. Das Modell B hingegen betrachtet die Militärseelsorge als rein kirchliche Angelegenheit. Die Vorstellung, die in den ehemaligen Landeskirchen der DDR bestand, Seelsorge an Soldaten werde sich nebenamtlich durch Gemeindepfarrer durchführen lassen, hat sich allerdings als praktisch undurchführbar erwiesen. Pfarrer, die in Kasernen gehen oder an Auslandseinsätzen teilnehmen sollen, können diese Tätigkeit nicht bloß nebenamtlich wahrnehmen. Nach Modell B, für das sich neben allen ostdeutschen Landeskirchen u. a. die Synoden in Bremen, Lippe, der Pfalz, im Rheinland, in Hessen-Nassau und Westfalen entschieden haben, wird die Militärseelsorge ausschließlich zur innerkirchlichen Angelegenheit. Eine solche Änderung des Status der Militärseelsorge und der Militärpfarrer hätte neue Verhandlungen mit dem Staat erforderlich gemacht. Wieweit die finanziellen Lasten der Militärseelsorge von der Kirche zu tragen sind, bliebe unklar. Die Frage des Zugangs von Militärpfarrern zu militärischen Einrichtungen wäre außerdem neu zu verhandeln. Zudem würde die bisherige Gemeinsamkeit und Parität mit der katholischen Militärseelsorge aufgekündigt. Mit der militärischen Zuordnung könnte ein Militärpfarrer im Ernstfall auch den Schutz des Völkerrechts verlieren. Die Begründung des Rates der EKD für diese Entscheidung war wenig fundiert, nämlich, daß „die Seelsorge unter den Soldaten ein kirchlicher Auftrag ist und deshalb der kirchliche Status der Militärpfarrer als Pfarrer im unmittelbaren Dienst der EKD den Vorzug verdient". Hier konnte der Anschein entstehen, als ob die Militärpfarrer in ihrer Verkündigung, theologischen Arbeit und im lebenskundlichen Unterricht bislang nicht auch schon den Landeskirchen verantwortlich waren, sondern staatshörig gewesen seien. Die Synode der EKD in Halle beschloß auf ihrer Tagung vom 6. bis 11. November 1994, den einzelnen Kirchen zu überlassen, ob sie Modell A oder Modell B folgen wollen. Dieser Vorgang wurde auf katholischer Seite mit dem Wunsch kommentiert, daß der in der EKD sehr viel Zeit und Energie beanspruchende Streit um die Militärseelsorge dadurch entschäft werde: „Die Militärseelsorge bzw. die Frage ihrer

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genaueren Ausgestaltung eignet sich nicht als Schauplatz für Stellvertreterkriege. Friedensethische Auseinandersetzungen oder auch noch nicht bewältigte Folgeprobleme der Wiedereingliederung der östlichen EKD-Gliedkirchen sollten dort verhandelt werden, wo sie hingehören." 3 Die Empfehlung ist richtig; dennoch bleiben die Kontroversen und gegensätzlichen Standpunkte bestehen. In der Tat war die Diskussion um den rechtlichen Status der Militärseelsorge teilweise eine Scheindiskussion. Tatsächlich geht es oftmals um eine friedensethische Ablehnung militärischer Verteidigung überhaupt wie um eine durch die Erfahrung mit dem SED-Regime verursachte tiefsitzende emotionale Aversion gegen den Staat. Die Militärseelsorge dient dann als Sack, um den Esel - Staat und Militär - zu schlagen. 2 . Die geltende Rechtslage Die Institutionalisierung der Militärseelsorge in Deutschland ist eine Folge der Aufstellung stehender Heere. Dies geschah erstmals in Brandenburg-Preußen als der Große Kurfürst, gestützt auf das landesherrliche Kirchenregiment, in einem „Artikelbrief" für jedes Regiment bis zu drei Feldprediger verordnete und für jede größere Garnision einen Garnisonsprediger vorsah. Die Berufung der Prediger geschah durch die Regimentskommandeure bzw. den Garnisonskommandanten. Prüfung und Ordination waren hingegen Sache der Kirchenbehörde. Die Militärseelsorge war staatliche Aufgabe. Die Entwicklung der Preußischen Kirchenordnung vom 17. bis 19. Jahrhundert ist an dieser Stelle nicht nachzuzeichnen. Diese Ordnung war auch das Vorbild der 1902 und 1929 herausgegebenen Neufassungen, die die Bezeichnung „Evangelische militärkirchliche Dienstordnung" trugen. Die Militärseelsorge ist in rechtlicher Hinsicht durch Artikel 140 Weimarer Reichsverfassung Teil der Anstaltsseelsorge. Auf dieser Grundlage wurde 1957 die Militärseelsorge mit der römisch-katholischen Kirche und den der EKD angehörigen Landeskirchen vertraglich geregelt, und zwar zum Teil unterschiedlich. 4 3

Herderkorrespondenz 4 8 , 1994, S. 600: „Entschärft. Wende im Streit um die Militärseelsorge."

4

Vgl. Zur Genese: H. Ehlert, Interessenausgleich zwischen Staat und Kirchen - zu

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Grundlage der katholischen Militärseelsorge ist Artikel 27 des Reichskonkordats vom 20. Juli 1933. 5 Danach ist der damaligen Deutschen Reichswehr eine exemte Militärseelsorge unter einem Armeebischof zugestanden. Der Militärbischof ist Ordinarius militaris. Die Ernennung des Armeebischofs steht dem Heiligen Stuhl zu, der sich vorher mit der Reichsregierung (Bundesregierung) in Verbindung zu setzen hat. Die Ernennung der Militärpfarrer erfolgt durch den Militärbischof. Gesamtkirchlich ist die Militärseelsorge durch die Constitutio Apostolica „Spirituali Militum Curae" (21.7. 1986, vgl. can 569 CIC) geregelt. Durch ein Dekret der Konsistorialkongregation (vom 4.2.1956) wurde in der Bundesrepublik Deutschland die Militärseelsorge mit der Ernennung des ersten Militärbischofs wiedererrichtet. Papst Paul VI. erließ im Benehmen mit der Bundesregierung „Statuten für die Seelsorge in der Deutschen Bundeswehr" (31.7.1985). Staatlicherseits ist dabei der Ausgangspunkt die Gewährleistung des Grundrechts der Freiheit des Glaubens, Gewissens, religiösen Bekenntnisses (Art. 4 GG, 36 Soldatengesetz). Den Inhalt der Ausübung des Glaubens und der Glaubensfreiheit bestimmt allein die Kirche. Die Ausübung der Seelsorge ist Teil der kirchlichen Aufgabe. Der Staat übernimmt zur Gewährleistung der Wahrnehmung dieses Grundrechts personelle und finanzielle Kosten. Der Militärbischof steht, anders als die Militärpfarrer, in keinem Dienstverhältnis zum Staat. Der Militärbischof übt seine kirchliche Jurisdiktion durch eine Kurie am Sitz der Bundesregierung aus (CIC cc 469-474). Nach den Päpstlichen Statuten ist die Militärseelsorge ein „wichtiger Teil der Gesamtseelsorge" (Art. 24). Die katholische Militärseelsorge beruht auf einem fein austarierten Zusammenspiel von kirchlicher Jurisdiktion und staatlicher Zuständigkeit. Verkündigung, Seelsorge, Diakonie der Kirche sollen dadurch auf Lebensumstände bezogen werden, die von militärischem Dienst und Auftrag geprägt sind, und die Men-

5

den Anfängen der Militärseelsorge in der Bundesrepublik Deutschland. Militärgeschichtliche Mitteilung 1/4 hg. vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt (MGM 1/11), S. 1-34. Vgl. zum Folgenden: P.H. Blaschke/H. Oberhenn, Militärseelsorge. Grundlagen, Aufgaben, Probleme, Regensburg 1985; ferner: Dokumentation zur Evangelischen Militärseelsorge, hg. vom Evangelischen Kirchenamt für die Bundeswehr, Bonn 1991.

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sehen „vor Ort" erreichen. Das Leitbild ist „Kirche unter den Soldaten", so daß die formale Situationsangabe mit der allgemeinen Seelsorge identisch und inhaltlich verbunden sein sollte. Verglichen mit der katholischen Militärseelsorge war es wesentlich schwieriger, die evangelische Militärseelsorge in der Bundesrepublik Deutschland 1957 zu regeln: Die zum Teil kleinräumigen und partikular orientierten Landeskirchen sind die theologisch eigentlich zuständigen Kirchen. Die Grundordnung der EKD 1948 spiegelt die Spannung zwischen gesamtkirchlichem und partikularem, z. T. auch innerevangelisch-konfessionelles Denken wider. Die EKD wird als Bund lutherischer, reformierter und unierter Kirchen beschrieben. Damit ist implizit weitgehend die Autonomie der Gliedkirchen anerkannt. Der Militärseelsorgevertrag (MV) zwischen EKD und Bundesrepublik Deutschland (vom 22.2.1957) und das Kirchengesetz vom 8.3.1957 regeln die Militärseelsorge mit Hilfe des Typs des kirchlich gebundenen Staatsamtes für die Militärgeistlichen. Der vom Rat der EKD, nach Anfrage bei der Bundesregierung, ernannte Militärbischof hat ein rein kirchliches Amt inne (Art. 11 MV); er ist nebenamtlich tätig. Der Militärgeneraldekan untersteht in kirchlichen Angelegenheiten dem Militärbischof, in staatlichen Angelegenheiten dem Bundesministerium für Verteidigung (Art. 15 II MV). Auch das dem Militärgeneraldekan unterstellte „Evangelische Kirchenamt für die Bundeswehr" hat diesen Doppelcharakter, indem es kirchliche und staatliche Verwaltungsaufgaben zusammen wahrnimmt. Aufgrund der Autarkie der Landeskirchen kann die evangelische Militärseelsorge keine exemten Gemeinden oder Sprengel bilden; sie ist aber auch nicht in die landeskirchliche Organisationsstruktur integriert. Damit wollte man evangelischerseits der Entstehung einer sich verselbständigenden Militärkirche einen Riegel vorschieben. Die Folge ist jedoch für die evangelische Militärseelsorge ein eigentümlicher Schwebezustand, der nur einigermaßen stabil erscheint, solange kirchliche und staatliche Partner aus Überzeugung kooperieren und zusammenspielen. Dieses Zusammenspiel wurde seit 1989 offiziell seitens der Evangelischen Kirche in Frage gestellt. Die Kritik ging von der Kirche aus. Die Militärseelsorge wurde zum Objekt eines innerkirchlichen Kulturkampfes. Der staatliche Partner - wie die katholische Militärseelsorge - nahmen an dieser Auseinandersetzung nur als Zuschauer Anteil.

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3. Gründe und Hintergründe In der Kontroverse um die Militärseelsorge und den Militärseelsorgevertrag innerhalb der EKD steht das Verhältnis von Staat und Kirche insgesamt auf dem Prüfstand. Die Diskussion um die Frage, ob Militärpfarrer Kirchenbeamte oder Staatsbeamte eigener Art sein sollten, bewegte sich im Vordergründigen. Die Parole „Trennung von Staat und Kirche" führt freilich in diesem Fall von vornherein nicht weiter. Die Trennungsparole als solche ist mehrdeutig. Trennung von Staat und Kirche kann im Sinne einer Unvereinbarkeit, ja gar im Sinne der Feindschaft verstanden werden. Die Alternative lautet dann entweder Staat oder Kirche. Der Staat wird damit zur kirchenfeindlichen Macht, die Kirche wiederum verurteilt und verdammt den Staat und seine Amtsträger. Trennung von Kirche und Staat kann aber auch ein beziehungsloses bloßes Nebeneinander meinen - eine Position, die in einer pluralistischen Gesellschaft jedoch nicht durchzuhalten ist. Denn es gibt allenthalben Berührungspunkte zwischen Staat und Kirche; auch Christen sind Staatsbürger. Wenn Kirche und Staat zu Rivalen im Kampf um Macht und Einfluß werden, so ist dies ein Streit, der auf dem Rücken und zu Lasten der Kirchenmitglieder und Bürger ausgetragen wird. Trennung von Staat und Kirche kann schließlich aber auch besagen: Beachtung der Unterschiede des Auftrags von Staat und Kirche und unter Achtung dieser Verschiedenheit Kooperation. So sagt es auch die 5. These der Barmer Theologischen Erklärung. Von Barmen 5 her ist der Auftrag des Staates, „unter Androhung und Ausübung von Gewalt für Recht und Frieden zu sorgen", notwendig und legitim. Die Formen der Zusammenarbeit von Staat und Kirche sind dann jedoch Fragen der Zweckmäßigkeit. Daß freilich trotz der 5. Barmer These die Militärseelsorge, ihre Aufgabe und Berechtigung strittig bleibt, hat seine Ursache in nicht immer offen geführten Kontroversen innerhalb der evangelischen Kirche. Dafür kann man vier, oft nicht offengelegte Gründe benennen: 1. 2. 3. 4.

Friedensethische Differenzen Das Kirchenverständnis Die Strittigkeit weltpolitischer Verantwortung in Deutschland Die Stellung der Kirche zur Kultur.

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3.1. Zur friedensethischen Debatte Die friedensethische Debatte reicht zurück bis in die Auseinandersetzungen mit ihren unbewältigten Gegensätzen der 50er Jahre um Wiederbewaffnung, atomare Bewaffnung und Wehrdienstverweigerung. Damals prägte der Ost-West-Gegensatz und die Strategie der atomaren Abschreckung die Diskussion. Als Beispiel sei nur erinnert an die Erklärungen der Synode der EKD von 1958. Gemeinsamer Ausgangspunkt war der Programmsatz der Weltkirchenkonferenz von Amsterdam 1948, der lapidar feststellt: „Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein". Diesen Programmsatz kann man freilich unterschiedlich auslegen. Er kann so verstanden werden, daß für Christen jede militärische Verteidigung theologisch und ethisch ausgeschlossen sei. Die einzig mögliche Haltung wäre dann die eines radikalen und eindeutigen Pazifismus. Die entgegengesetzte Position argumentiert damit, daß die prinzipielle Ächtung des Krieges nicht die Bereitschaft zur Verteidigung gegen Friedensbrecher einschließt. Es ist dies die modifizierte Tradition der Theorie des gerechten Krieges im Sinne der legitimen Verteidigung. Eine dritte Position will nicht prinzipiell jede militärische Verteidigung ablehnen, verwirft aber entschieden den Gebrauch von Atomwaffen. In der Debatte um die Wiederaufrüstung 1950-1955 in der Bundesrepublik Deutschland und um eine atomare Bewaffnung 1959-1961 prallten die gegensätzlichen Standpunkte in der deutschen evangelischen Kirche auf das schärfste aufeinander. 6 Die Gegensätze waren unüberwindbar. Die Synode der EKD erklärte in Berlin am 30. 4. 1958: „Die unter uns bestehenden Gegensätze in der Beurteilung der atomaren Waffen sind tief. Sie reichen von der Überzeugung, daß schon die Herstellung und Bereithaltung von Massenvernichtungsmitteln aller Art Sünde vor Gott ist, bis zu der Überzeugung, daß Situationen denkbar sind, in denen die Pflicht zur Verteidigung als Widerstand mit gleichwertigen Waffen vor Gott verantwortet werden kann. Wir bleiben unter dem Evangelium zusammen und mühen

6

Vgl. die Dokumentationen: W. W. Rausch/C. Walther (Hg), Evangelische Kirche in Deutschland und die Wiederaufrüstungsdiskussion in der Bundesrepublik 1950-1955, Gütersloh 1978; C. Walther (Hg), Atomwaffen und Ethik. Der deutsche Protestantismus und die atomare Aufrüstung 1954-1961, München 1991.

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uns um die Überwindung dieser Gegensätze. Wir bitten Gott, er wolle uns durch sein Wort zu gemeinsamer Erkenntnis und Entscheidung führen." 7 Diese „Ohnmachtsformel" stellt lediglich die Aporie fest. Auch die „Heidelberger Thesen" von 1959 sind Ausdruck solcher Verlegenheit. Ausgangspunkte sind die unbestrittene Einsicht „Der Weltfriede wird zur Lebensbedingung des technischen Zeitalters" (These I) sowie die Erkenntnis der Notwendigkeit der Abschaffung des Krieges: „Der Krieg muß in einer andauernden und fortschreitenden Anstrengung abgeschafft werden" (These III). Bis der Weltfriede erreicht ist und nachdem die klassische Rechtfertigung des Krieges mit der bellum-iustum-Theorie aufgrund der Folgen atomarer Kriegführung versagt, führt der Weg zu einer nichtmilitärischen Friedenssicherung durch eine Zone der Gefährdung des Rechts und der Freiheit (These V). In dieser unsicheren Lage, die durch das Dilemma der Atomwaffen als Mittel der Friedenssicherung und als Mittel vollständiger Zerstörung geschaffen wurde, ist nur ein komplementäres Handeln bei Gewissensentscheidungen möglich. Die beiden in einer Person unvereinbaren Gewissensentscheidungen besagen: „Die Kirche muß den Waffenverzicht als eine christliche Handlungsweise anerkennen" (These VII), sowie: „Die Kirche muß die Beteiligung an dem Versuch, durch das Dasein von Atomwaffen einen Frieden in Freiheit zu sichern, als eine heute noch mögliche christliche Handlungsweise anerkennen" (These VIII). Das Fazit lautet dann: „Nicht jeder muß dasselbe tun, aber jeder muß wissen, was er tut" (These XII). Über die „Komplementaritätsthese" ist die friedensethische Diskussion im deutschen Protestantismus immer noch nicht hinausgelangt. Die durch die Nachrüstungsdebatte und den Beschluß der Nato im Dezember 1979, nukleare Mittelstreckenwaffen in Europa aufzustellen, ausgelöste Friedensbewegung zeigt dies erneut. Die Denkschrift der EKD „Frieden wahren, fördern und erneuern", 1981, äußert sich in dieser Situation. 8 Schon die Analyse der politischen Lage war kontrovers. Das „heute noch möglich" der VIII. Heidelberger These, so die Denkschrift, ist nicht zeitlich, chronologisch, sondern qualitativ zu verstehen. Die Denkschrift betont deshalb im

7 8

C. Walther, Atomwaffen und Ethik, S.139. Frieden wahren, fördern und erneuern, Gütersloh 1981, S. 58.

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Blick auf die VIII. These: „Allein diese Handlungsweise ist nur in einem Rahmen ethisch vertretbar, in welchem alle politischen Anstrengungen darauf gerichtet sind, Kriegsursachen zu verringern, Möglichkeiten gewaltfreier Konfliktbewältigung auszubauen und wirksame Schritte zur Senkung des Rüstungsniveaus zu unternehmen." Militärische Verteidigung sei nur im Rahmen einer Friedenspolitik sittlich vertretbar. Dem Moderamen des Reformierten Bundes war schon diese Position christlich fragwürdig. In der Erklärung „Das Bekenntnis zu Jesus Christus und die Friedensverantwortung der Kirche" werden problematische „Ausgewogenheit", Zweideutigkeit und Unentschlossenheit in der Denkschrift der EKD angeprangert und statt dessen dazu aufgerufen, „der alles Leben zerstörenden Gotteslästerung atomarer Bewaffnung mit dem Bekenntnis des Glaubens entgegenzutreten". Damit sind die Grundpositionen beschrieben, die bis 1989 in der damaligen Bundesrepublik Deutschland das innerkirchliche evangelische Gespräch bestimmten. In zweifacher Hinsicht sind diese Positionen wichtig und entscheidend für die Auseinandersetzung um die Militärseelsorge. a) Seit der Weißenseer Synode der EKD vom April 1950 tritt die evangelische Kirche für diejenigen ein, die den Kriegsdienst aus Gewissensgründen verweigern. Wie verhält sich jedoch die Kriegsdienstverweigerung aus christlicher Glaubensüberzeugung zum Wehrdienst? Es gab in der evangelischen Kirche stets Stimmen, welche die Kriegsdienstverweigerung für die einzig mögliche Haltung eines Christen im Atomzeitalter erklärten. Andere Stimmen plädierten hingegen für einen christlichen Komparativ: Die Verweigerung des Wehrdienstes sei das „deutlichere Zeichen" des christlichen Glaubens. Der Kirchentag in Hannover 1967 prägte dagegen die umstrittene Formel „Friedensdienst mit und ohne Waffen". Die Frage, ob ein Christ überhaupt Soldat sein könne, kam aber in der evangelischen Kirche nicht zur Ruhe. In „Anmerkungen zur Situation des Christen im Atomzeitalter", „Wehrdienst oder Kriegsdienstverweigerung?", machte die Kammer für öffentliche Verantwortung der EKD im Juli 1989 deutlich, daß die Rede von einem Mehr oder Weniger des Christlichen im Blick auf das Thema des Militärdienstes irreführend ist. „Welche Entscheidung der Christ auch fällt, ob für den Weg des Soldaten oder für den Weg des Kriegsdienstverweigerers, es darf nicht sein, daß der eine für sich eine höhere Qualität

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von Christsein in Anspruch nimmt oder gar dem anderen das Christsein abspricht, weil er eine andere Position vertritt." 9 Bei ethischen Urteilen sind nämlich Zweck-Mittel-Überlegungen unerläßlich. Dabei spielt jeweils auch die Analyse der konkreten historischen Situation eine gewichtige Rolle. Die Kirche hat weder ein besonderes Wissen, noch eine spezifische Macht, Konfliktsituationen aufzulösen. Unterschiedliche politische Entscheidungen, die Christen nach sorgfältiger und gewissenhafter Prüfung treffen, sind deshalb ethisch möglich. Daher ist die Festlegung auf eine konkrete praktische Friedenspolitik nicht möglich und das Dilemma gegensätzlicher friedensethischer Optionen nicht zu vermeiden. b) Mit dem Ende des Ost-West-Konflikts 1989/1990 hat sich die Situation und die Situationsanalyse grundlegend verändert. An die Stelle der atomaren Konfrontation sind neue lokale Konflikte unterhalb der atomaren Schwelle und verschärfend der Nord-Süd-Konflikt getreten. Der Rat der EKD hat 1994 auf die neue Situation mit einem Beitrag reagiert: „Schritte auf dem Weg des Friedens. Orientierungspunkte für Friedensethik und Friedenspolitik". Die gegensätzliche Beurteilung der Abschreckung mit nuklearen Waffen ist damit zwar keineswegs ausgeräumt. Aber die neue Lage erzwingt neue Überlegungen. Außerdem nötigte die gegensätzliche friedensethische Positionsbestimmung in der EKD und im Bund der Evangelischen Kirche in der DDR zu gemeinsamen Formulierungen. Der neue friedensethische Konsens wird in drei Punkten zusammengefaßt: (1) Nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation ist die Förderung, Erhaltung und Durchsetzung des Friedens eine von der Völkergemeinschaft wahrzunehmende Aufgabe. Eine internationale Ordnung des Friedens hat sich an der Herrschaft des Rechts zu orientieren. Damit fällt den Vereinten Nationen eine neue Rolle zu. (2) Bei der Erfüllung dieser Aufgabe haben Mittel und Wege der Gewaltfreiheit den Vorrang. Auf den Einsatz militärischer Gewalt und die unmittelbare Ausübung von Zwang ist möglichst zu verzichten. Nicht-militärischer Konfliktlösung, z. B. mit Hilfe wirtschaftli9

Wehrdienst oder Kriegsdienstverweigerung? Anmerkungen zur Situation des Christen im Atomzeitalter, vorgelegt von der Kammer der EKD für öffentliche Verantwortung, EKD Texte 29, Hannover 1989, S. 11; vgl. auch: F.W. Seidler, Wehrpflicht und Kriegsdienstverweigerung. Kontrovers, Hof/Saale 1989.

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eher Sanktionen, ist der Vorzug zu geben. Eine Stärkung der internationalen Friedensordnung ist freilich erforderlich. (3) Der Einsatz militärischer Gewalt zur Wahrung des Friedens und zur Durchsetzung des Rechts ist nur als äußerste Maßnahme (ultima ratio) denkbar. Dabei ist darauf zu achten, daß der Ausnahmefall und Grenzfall wirklich Grenzfall bleibt. Das Problem der humanitären Intervention und der Friedenssicherung und Friedensdurchsetzung mit militärischen Mitteln ist damit angesprochen. Deutschland wird nach seinem Beitrag bei den Aktivitäten der Vereinten Nationen entsprechend der „Agenda für den Frieden" gefragt. Zwar besteht in den internationalen Beziehungen ein Gewaltverbot (Charta der Vereinten Nationen Art. 2,4). Aber die staatliche Souveränität schützt nicht den Rechtsbrecher und Unrechtstäter. Ist dem aber so, dann stellt sich die Frage nach der Beteiligung Deutschlands an der Erhaltung und Durchsetzung des Friedens auch mit militärischen Mitteln in der Völkergemeinschaft, also, das schwierige Problem einer „humanitären Intervention". Aktuelles Beispiel dafür ist der Konflikt im ehemaligen Jugoslawien. Die Auswirkung auf die Militärseelsorge ist bei der Beteiligung an UN-Einsätzen noch nicht bedacht. Ist hier eine gemeindebezogene Betreuung und Begleitung von Soldaten bei UN-Einsätzen überhaupt möglich? Die Friedensethik der evangelischen Kirche ist in dieser Hinsicht neu zu überdenken. 3.2 Zum kirchlichen Selbstverständnis Hinter dem Dissens um das theologische Verständnis der Militärseelsorge stehen nicht nur unterschiedliche friedensethische Optionen, sondern auch ein Unterschied im Verständnis der Kirche und ihres Auftrags. Die Anwälte der Wehrdienstverweigerung aus Gewissens- und Glaubensgründen wollen die evangelische Kirche zu einer Friedenskirche machen. Die Proklamation des Status confessionis in der Friedensfrage schließt deshalb folglich andere friedensethische Entscheidungen prinzipiell aus. Der Friede wird zur Bekenntnisfrage erklärt; vernünftige Überlegungen zur Zweck-Mittel-Relation werden damit grundsätzlich abgelehnt. Außerdem wird ein bestimmtes Merkmal politisch-ethischen Verhaltens, nämlich die Wehrdienstverweigerung zum Kennzeichen des richtigen, des „echten" Christseins. Ein Christ ist daran erkennbar, daß er einseitig

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Gewaltverzicht übt. Diese Orientierung am Verhalten als Merkmal der Gruppenzugehörigkeit ist nach E. Troeltsch das Kennzeichen einer Sekte. Denn die Kirche wird hier über das Verhalten ihrer Mitglieder definiert. Das Modell der historischen Friedenskirchen, für die das Gebot des Gewaltverzichts unbedingte Gültigkeit auch im Blick auf das politische Handeln beansprucht, wirkt sich hier aus. Die Brüder (Church of the Brethren), Mennoniten und Quäker verzichten darum konsequenterweise auf jegliche Beteiligung an staatlichen Tätigkeiten; in der Nachfolge Jesu verkündigen und praktizieren sie den Rückzug aus der Welt. Wenn die Evangelische Kirche sich auf den absoluten Gewaltverzicht festlegt, dann muß sie sich der Konsequenzen bewußt sein; sie wird zur „Randgruppenkirche" und hat anderen Kirchen - wie der römisch-katholischendie Aufgabe der politischen Mitgestaltung der Gesellschaft zu überlassen. Mit der Bekenntnistradition der evangelischen Kirche ist dieses ekklesiologische Selbstverständnis freilich nicht im Einklang (vgl. Artikel 16 des Augsburgischen Bekenntnisses). Eine derartige Friedenskirche kann ferner nur Freiwilligkeitskirche und Bekenntniskirche sein wollen. Die Tradition der Großkirche wird jedoch nur ganz unscharf mit „Volkskirche" beschrieben. Im Begriff Volkskirche ist sowohl der Begriff „Volk" mehrdeutig als auch der Gegenbegriff undeutlich. „Volk" kann Nation (völkische Kirche), die kirchliche Basis („Kirche von unten"), das Kirchenvolk (im Gegensatz zu Hierarchie, zum Klerus), Kirche im Volk, im Sinne von Kirche in der Öffentlichkeit meinen. Je nach unterschiedlichem Verständnis bilden dann Staatskirche, Obrigkeitskirche, Behördenkirche, Amtskirche, Ökumene gegen Nationalkirche, den jeweiligen, erst den Begriff Volkskirche profilierenden Gegenbegriff. Angemessener als das Wort Volkskirche ist darum die Formel „Kirche im Pluralismus" oder „pluralistische Kirche" oder „gesamtgesellschaftliche, öffentliche Verantwortung" der Kirche. Eine der pluralistischen Gesellschaft und der weltanschaulichen Neutralität des Staates entsprechende Kirche muß nämlich in sich selbst dem Pluralismus Raum geben. Eine dem gesellschaftlichen Pluralismus entsprechende Kirche hat jedoch auch innerkirchlich einen Pluralismus von politischen Entscheidungen, eine Vielfalt von Frömmigkeitsformen und den Pluralismus gesellschaftlicher Kräfte zu achten. Sie wird dann in sich selbst pluralistisch, auch in ihren eigenen Positionen und sogar in ihren Organi-

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sationsformen. „Kirche im Pluralismus" kann folglich nicht eine einzige politische Option und eine ethische Haltung für jedermann verbindlich erklären. Sie hat vielmehr die Kraft der Argumente für die verschiedenen Positionen gelten zu lassen und kann bei einem Dissens in der Argumentation nicht durch amtliche Autorität Debatten beenden. Auch synodale Mehrheitsentscheidungen beenden nämlich keineswegs einen Dissens in Grundüberzeugungen. „Kirche im Pluralismus" muß Raum lassen für gegensätzliche friedensethische Überzeugungen und hat auch gegenüber Gesellschaft und Öffentlichkeit den innerkirchlichen Dissens zu berücksichtigen. Die Kontroverse um die Militärseelsorge hat zum Hintergrund somit auch eine ekklesiologische Differenz im Blick auf das Verhältnis von Kirche und Gesellschaft. Dieser Dissens betrifft sodann darüber hinaus die Einschätzung und Bewertung der weltpolitischen Aufgabe und Stellung Deutschlands. Es sind also neben unterschiedlichen ekklesiologischen Konzeptionen auch unterschiedliche politisch-ethische Auffassungen von der politischen Situation und der Rolle des deutschen Staates in der Weltpolitik mit im Spiel. 3.3 Weltweite Verantwortung Mit der Vereinigung Deutschlands 1990 hat sich auch die weltpolitische Stellung und Aufgabe Deutschlands entscheidend verändert. Bis dahin konnte sich die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschlands darauf berufen, keinen selbständigen außenpolitischen Interessen zu folgen, sondern sich nur zu orientieren an den Entscheidungen des westlichen Bündnisses, vor allem an der führenden Macht, den USA. Die Bundesrepublik war zwar wirtschaftlich erfolgreich, verzichtete jedoch darauf, eigene außenpolitische Interessen zu definieren. Nachdem Deutschland von 1870 bis 1945 eine ausgeprägte Machtpolitik betrieben hatte, hat sich die „Machtbesessenheit" in „Machtvergessenheit" (Hans-Peter Schwarz) verwandelt. Besonders in kirchlichen Kreisen neigt man dazu, der deutschen Politik völlige Machtabstinenz anzuempfehlen und außenpolitischen Aktivitäten prinzipiell zu widerraten. Man will deshalb nicht wahrhaben, daß Deutschland wieder in das Weltgeschehen hineingestellt ist und pflegt den Wunschtraum, es gebe für Deutschland ein politisch und wirtschaftlich isoliertes Dasein, ungestört von Spannungen und Auseinandersetzungen in der übrigen Welt. Dieser Wunschtraum ist eine

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Illusion. Rein quantitativ ist Deutschland seit 1990 wieder in die Rolle einer kontinentalen Großmacht mit internationalem Gewicht hineingewachsen. 10 Deutschland kann sich nicht länger im Windschatten des Ost-West-Konflikts halten. Die Vereinten Nationen fordern vielmehr die politische Kooperation Deutschlands ein. Allein aufgrund seiner geographischen Lage berühren politische und militärische Konflikte in Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa auch Deutschland. Supranationale Organisationen wie die EU, die Nato, die KSZE oder die UNO durchlaufen auf der einen Seite Transformationsprozesse mit ungewissem Ausgang, andererseits fragen sie mit Nachdruck die Bundesrepublik nach ihrem politischen Beitrag. Die politische Lage ist inzwischen unübersichtlich. Die Perspektiven und der Rahmen der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik haben sich seit dem Ende des Kalten Krieges fundamental verändert und verschoben. Deutschland kann nicht länger so tun, als habe es in dieser neuen Lage keine eigenen nationalen Interessen zu bedenken und einzubringen. Eine realistische Bestandsaufnahme der neuen weltpolitischen Lage und des veränderten Ortes in Deutschland nötigt zu einer Neubesinnung auf die Aufgabe des Militärs (und damit der Militärseelsorge). Nüchtern ist festzustellen: Macht ist ein Faktor im Leben der Völker. Mehr Macht bedeutet deswegen gesteigerte Verantwortung. Auf die Forderung und Frage nach „humanitärer Intervention" bei schweren Menschenrechtsverletzungen und bei Exzessen menschenverachtender Politik wird eine Antwort unausweichlich. Deutschland wird sich nicht auf die Dauer von kollektiven Maßnahmen zur Sicherung und gegebenenfalls Wiederherstellung des Friedens fernhalten können. Krieg und Bürgerkrieg sind wieder alltägliche Realität auf allen Kontinenten, auch in Europa. Unverantwortlich wäre es, Kriege und Katastrophen herbeizureden. Aber die Krisenherde im ehemaligen Sowjetreich, auf dem Balkan, am Persischen Golf liegen sozusagen vor der Haustür Deutschlands. Somalia, Ruanda, Kambodscha stellen Anfragen an die Verantwortung der gesamten Völkergemeinschaft. Völkermord, Umweltkatastrophen, massenhafte Vertreibung und Fluchtbewegungen sind nicht

10

Vgl. z.B. G. Schöllgen, Mitten in das Weltgeschehen hineingestellt. Plädoyer für eine realistische Außen- und Sicherheitspolitik, in: G. Langguth (Hg), Macht bedeutet Verantwortung. Adenauers Weichenstellungen für die heutige Politik, Köln 1994, S. 141-153.

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zu übersehen. Dabei geht es gewiß um Mißbrauch von Macht, dem äußerstenfalls nur mit militärischer Macht Einhalt geboten werden kann. Auch die evangelische Christenheit wird in diesem Fall in der Zwangslage sein, sich zur Realität verhalten zu müssen. Die Militärseelsorge wäre in solchen Fällen eine Art Vorposten, der Wahrnehmungsfähigkeit schärfen und krisenhafte Entwicklungen frühzeitig anzeigen könnte. Die prinzipielle Ächtung aller Macht, wie sie aus manchen kirchlichen Äußerungen herauszuhorchen ist, impliziert den Verzicht auf Verantwortung. Hinter dem Streit um die künftige Gestalt der Militärseelsorge steht auch eine nicht ausgetragene Kontroverse um die außen- und sicherheitspolitische Aufgabe Deutschlands und um die Rolle des Militärs. 3.4 Prophetisches Mandat oder kulturelle Verantwortung? Der Gebrauch von Macht kann kein Selbstzweck sein. Er hat sich an ethisch verantwortbaren Zielen messen zu lassen. Das Stichwort „kulturelle Verantwortung" kann darauf verweisen. Einen Maßstab für die internationale Politik setzen die Menschenrechte, deren Achtung und Durchsetzung zu den Aufgaben der Vereinten Nationen gehört. Die internationale Friedensordnung ist auf das Recht begründet. Das Recht soll Garant der Humanität sein. Recht ist freilich immer zugleich auch Ausdruck und Ergebnis einer Rechtskultur. Zur Wahrung und Durchsetzung des Rechts, das Humanität sichern soll, bedarf es der Macht. Verantwortung für eine humane Kultur ist ohne den legitimen, begrenzten und kontrollierten Gebrauch von Macht nicht wahrzunehmen. In der Diskussion um den Militärseelsorgevertrag holt die deutsche evangelische Kirche das immer wieder verdrängte und unterdrückte Problem der Kulturverantwortung ein. Das Verhältnis von Kultur und Kirche, von Glaube und Kultur stellt sich an dieser Stelle unausweichlich. Kultureller Verantwortung geht es um die Beteiligung am öffentlichen Dialog mit vernünftigen, „guten" Gründen und um die Bereitschaft, sich auf Verständigung mit anderen einzulassen. Die Gegenposition zur kulturellen Verantwortung bildet die Beanspruchung eines besonderen politischen Mandats der Kirche als prophetisches Mandat. Politische Prophetie der Kirche muß nicht nach Gründen und Gegengründen fragen. Sie speist sich aus anderen Quellen, etwa aus einem unbedingten prophetischen Selbstbewußt-

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sein. Die Stärke politischer Prophetie ist darum, daß sie Fundamentalkritik zu üben vermag. Politische Prophetie beruft sich ferner auf letzte Gewißheiten. Diese ihre Stärke ist freilich zugleich ihre Schwäche. Denn prophetischer Protest ist nicht genötigt, den Protest auch in politisches Handeln „realpolitisch" zu übersetzen. Dadurch kann politische Prophetie zum Einfallstor für Selbsttäuschungen, Illusionen, Ideologien werden. Politische Prophetie macht schließlich jedoch keineswegs eine unübersichtliche Weltlage eindeutig. Die Militärseelsorge ist insofern der Testfall, wie sich evangelische Kirche zu Kultur, Politik und Macht überhaupt verhält. Soll Kirche als Dialogpartner an der ethisch-politischen Willensbildung teilnehmen und Kultur mitgestalten oder kann sie für sich die Stellung eines außenstehenden Schlichters in politischen und gesellschaftlichen Konflikten einnehmen und als Lehrmeisterin, magistra societatis sich begreifen? Der Auseinandersetzung um die gesellschaftliche Aufgabe und Stellung der evangelischen Kirche nötigt in der Debatte um die Militärseelsorge die deutsche Evangelische Kirche zu grundsätzlicher Stellungnahme. Eine zugrundeliegende theologische Frage ist die nach der richtigen Fundamentalunterscheidung von Gesetz und Evangelium und nach einer politischen Anwendung des Evangeliums (usus politicus evangelii): Kann man mit dem Evangelium unmittelbar in die Politik eingreifen oder bedarf es nicht zunächst einer sorgfältigen Klärung der verflochtenen Zusammenhänge von Staat, Politik, gesellschaftlichem Bewußtsein, kirchlichem Auftrag und seelsorgerlicher Verantwortung und Kenntnis, um der besonderen Lage der Militärseelsorge gerecht zu werden? Ein Fazit des innerevangelischen Streits um den Militärseelsorgevertrag jedenfalls ist, daß allein mit theologischen Argumenten und mit moralischen Postulaten die schwierige Aufgabe der „Seelsorge unter den Soldaten" nicht zu bewältigen ist. Das Geflecht verfassungsrechtlicher, politischer, gesellschaftlicher, theologischer und religiöser Themen ist vielmehr aufmerksam und mit Besonnenheit, Sachkunde und Klugheit zu betrachten. Rückblickend kann man deshalb fragen, ob die Auseinandersetzung in der EKD 1990 bis 1994 wirklich immer besonnen, sachkundig, kompetent und klug geführt wurden.

15. Stadtkultur im Wertewandel Mehrfach habe ich in Vorträgen das Thema Stadt und Kirche erörtert. In den Städten verdichten sich Chancen, Risiken, Probleme und Herausforderungen gegenwärtiger Zivilisation und Kultur. Der Vortrag aus dem Jahre 1988 thematisiert nicht praktisch-kirchliche Aufgaben in der Stadt, sondern erörtert die Wechselwirkung von städtischer Kultur und kirchlichem Selbstverständnis. Er ist Beispiel für die Debatten um Wertewandel, Pluralismus und Säkularisierung. (I) Die Stadt als Realität 1. Das Faktum der Verstädterung Der Beitrag der Kammer der Evangelischen Kirche in Deutschland für soziale Ordnung aus dem Jahr 1984 „Menschengerechte Stadt. Aufforderung zur humanen und ökologischen Stadterneuerung" geht aus vom unaufhaltsamen Verstädterungsprozeß. Rund 1 5 % der heutigen Bevölkerung leben in Städten, davon leben 2/3, d.h. also insgesamt 52,5 % in großen oder mittleren Ballungsräumen. 23 große oder mittlere .Agglomerationen' werden offiziell ausgewiesen; neue kommen hinzu. L. Wright bezeichnet die Stadt „als eine relativ große, dicht besiedelte und dauerhafte Niederlassung gesellschaftlich heterogener Individuen". Der Wandel der Formen der Erwerbstätigkeit verändert auch das Phänomen Stadt. Die Zahl der Arbeitskräfte im landwirtschaftlichen Bereich sinkt, ebenso nunmehr auch die Zahl der im sekundären Sektor Beschäftigten, der Industriearbeiter. Im tertiären Sektor hingegen, dem Bereich der Dienstleistung, wächst die Zahl der Erwerbstätigen. Verstädterung und Wandel der Arbeit haben zweifellos Einfluß auch auf den Wertewandel. Die Entstehung der Ballungsgebiete kann man allgemein als Ausdruck der Rationalisierung der menschlichen Lebensverhältnisse beschreiben. Rationalisierung meint die Anwendung bewußt eingesetzter rationaler Analyse auf die Formen des Wirtschaftens, der Produkti-

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onstechnik, der Verwaltungsorganisation, kurzum: Es geht um rationale Planung. Dabei beabsichtigt man eine genaue Berechnung und Optimierung der eingesetzten Mittel. Das Handeln wird zweckhaft, zweckrational eingesetzt. Die modernen Formen des Wirtschaftens, die Entfaltung moderner Technik und Verwaltung ist entscheidend geprägt von solcher Rationalität. Wie verhält sich zu solcher rein rational orientierter Funktionalität die sittliche Einstellung, die Werthaltung, die Tugend? 2. Die Stadt als Lebensraum Die antiken Tugenden haben ihren Ursprung in der Stadtkultur. Die Polis als Lebensraum des Bürgers fordert entsprechende Tugenden, Werthaltungen, Aretai, virtutes. Gerechtigkeit, Tapferkeit, Besonnenheit und die Klugheit des Maßes regeln das Zusammenleben des Menschen. Die moderne technische Rationalität und die Verstädterung verändern hingegen auch die Einstellungen der Stadtbewohner. Es besteht also ein Zusammenhang zwischen den realen städtischen Lebensformen und den Lebenshaltungen der Stadtbewohner.

(II) Entwicklungsphasen des Städtebaus „Es ist der Geist, der Städte baut" (K. Duntze) - folgen wir diesem Motto, so sind vereinfacht drei Entwicklungsphasen in der historischen Gestaltung der Stadt zu sehen.1 1. Die vorindustrielle Stadt Die „vorindustrielle Stadt", die man heute noch an vielen Stellen in der Welt findet und die durch viele Jahrhunderte die städtische Lebensform in Europa darstellte, steht uns vor Augen als mittelalterliche Stadt, umgeben von Stadtmauern, ausgestattet mit Stadtrechten, mit Privilegien. Handel, Handwerk und Gewerbe bestimmten die Wirtschaft; das Stadtrecht bildete einen eigenen Rechtskreis, der sich vom allgemeinen Landrecht abhebt. Kennzeichnend ist die 1

Vgl. zum folgenden die Studie der EKD: „Menschengerechte Stadt. Aufforderung zur humanen und ökologischen Stadterneuerung", 1984.

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geringe Ausdehnung des Stadtgebietes und die Konzentration der Bevölkerung auf kleine Flächen. Kirche, Rathaus und Markt bilden die Zentren des städtischen Lebens, nicht nur optisch. Die Stadtviertel waren zum Teil nach Zünften gegliedert (Schneider-, Schuster-, Metzgergasse). Gewerbe und Stadt bestimmten die Lokalisierung des Hauses. Wohnung, Gewerbe und Lagerhaltung befanden sich häufig im gleichen Gebäude. Patrizierhäuser geben davon bis heute Zeugnis. Wegen ihrer wirtschaftlichen Bedeutung und Prosperität bildeten die Städte einen eigenen Machtfaktor. Sie waren darum verständlicherweise starken finanziellen Pressionen durch König und Hochadel ausgesetzt, gegen die sie sich in Städtebünden zu behaupten suchten. Bereits 1254 schlössen sich Städte im Rheinischen Städtebund zur Sicherung des Landfriedens und zum Schutz städtischer Freiheiten zusammen. Der Schwäbische Städtebund 1376 und die Deutsche Hanse (1358) sind ebenfalls zu erwähnen. Die Deutsche Hanse war ein Bund handelstreibender Städte mit vorwiegend wirtschaftspolitischen Zielen. Die Rolle der dritten Kurie, der Städteversammlung der Städte im deutschen Reich - neben dem Kurfürsten und dem Fürstenrat - bei der Durchsetzung der Reformation in Deutschland ist bekannt. 2. Die industrielle Stadt Das Zeitalter des fürstlichen Absolutismus brachte im 17. Jahrhundert den Niedergang der städtischen Selbstverwaltung. Bereits Kaiser Karl V. hatte zwischen 1548 und 1552 die Zunftverfassung in 2 7 süddeutschen Reichsstädten beseitigt. Der Untergang des Deutschen Reiches 1806 besiegelte dann das Ende der reichsfreien Städte. Neben dem bürokratischen Zentralismus zerstörte die Industrialisierung die vorindustrielle Stadt. Die Städte wachsen über die begrenzenden Stadtmauern hinaus. Landerschließung an der Peripherie, der Landbedarf der neuen Industrien, vor allem der mechanisierten Fabriken, von Eisenhütten, Walzwerken, Bergwerken verändern das Stadtbild. Aber auch Lagerhäuser und Großhandelsbetriebe beanspruchen neue Flächen (vgl. z.B. die Diskussion um die Hamburger Speicherstadt, East-End in London u.a.). Wohnung und Arbeitsstätte werden getrennt. Wohnviertel und Gewerbegebiete sind oft räumlich klar voneinander geschieden. Im Stadtkern werden die funktionalen Elemente konzentriert. Bahn, Post und Verwaltungsgebäude bestimmen

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Stadtkultur i m W e r t e w a n d e l

nunmehr das Stadtbild, manchmal neben den alten Kirchen und Rathäusern. Der Stadtkern wird umschlossen vom zentralen Geschäftsbezirk. Die städtische Selbstverwaltung verliert die eigene Gerichtsbarkeit und das autonome Satzungsrecht. Auch die Verwaltung des städtischen Vermögens wird im 19. Jahrhundert eingeschränkt, das Aufsichtsrecht des Staates wird verstärkt. Die Städte werden dadurch in ihrer eigenen Handlungsfreiheit eingeschränkt. 3. Die durchrationalisierte Stadt Die 3. Entwicklungsstufe, die heute weitgehend vorherrscht, kann mit dem Begriff „durchrationalisierte", zweckrational geplante Stadt bezeichnet werden. Die Mehrzahl der Erwerbstätigen ist nicht mehr in der industriellen Produktion tätig; die Industrie ist teil- oder vollautomatisiert. Beschäftigung bieten daher Handel, Verkehr und Verwaltungen. Der Bodenmarkt verändert die Siedlungsstruktur. Die steigende Nachfrage nach Grundstücken läßt neue Zentren entstehen. Die Ansiedlung erfolgt unter dem Aspekt der optimalen Nutzung des knappen Bodenangebots. Als Symbol stehen die Hochhäuser, insbesondere die Hochhaussiedlungen auf der grünen Wiese (Märkisches Viertel in Berlin, Köln-Chorweiler, Bonn-Tannenbusch etc.). Die Ausdehnung erfolgt in vertikaler und horizontaler Richtung. Die steigende und starke räumliche Trennung von Wohn- und Arbeitszentren kennzeichnet die neue Situation. Die Wohndichte von den citynahen Gebieten bis hin zu den cityfernen Randzonen gleicht sich aus. Die City wird zum Dienstleistungszentrum. Sie dünnt in der Wohnbevölkerung aus. Die Verödung der Stadtzentren schafft u.a. neue Probleme für die kirchlichen Aufgaben in der City. 2 Neben dem Hauptzentrum bilden sich Unterzentren mit einem Angebot an Einkaufsmöglichkeiten und Dienstleistungen. Das entscheidende Kriterium bei der Planung ist die wirtschaftliche Erschließung des Massenkonsums. Der Ökonomisierung werden andere Aspekte der Stadtkultur untergeordnet.

2

G. Hütter/]. 1987.

Kedeti, Kirche für die City. Wenn die Kirche auf den Markt geht,

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(III) Gesellschaftliche Folgen der Vergroßstädterung 1. Die sozialen Veränderungen Die Einbindung der Städte in ein weiträumiges Netz von Massenverkehrsmitteln ist heute zwar teilweise gelungen. Soziale Konsequenzen sind jedoch: soziale Distanz und ökonomische Konkurrenz. Aber weitgefächerte Siedlungsstrukturen begünstigen den Trend zur Vollmotorisierung und den Individualverkehr, mit all den negativenökologischen Folgewirkungen. Der Einfluß von Medien wie Telefon, Radio, Fernsehen vermindert die Notwendigkeit des unmittelbaren, persönlichen Kontaktes. Soziale Bindungen der Nachbarschaft werden brüchig oder lösen sich ganz auf. Die Einsamkeit wächst. Wie sich die Einführung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien, die zuerst in den Städten erfolgt sind, auf die Verhaltensweisen der Menschen auswirken, ist noch nicht voll absehbar. Die Automatisierung der Wirtschaftsvollzüge führt zu einer Vergrößerung der Gebietseinheiten, der Agglomerationen. Die Distanz zur Verwaltungseinheit und Gebietsherrschaft wächst. Die Identifikation mit der politischen Einheit schwindet. 2. Die Verstädterung als globaler Prozeß. Die hier skizzierte Entwicklung stellt eine globale Herausforderung dar. Denn in den meisten Industrieländern begann der Prozeß der Vergroßstädterung um 1860. In den meisten Ländern der Dritten Welt begann diese Entwicklung jedoch erst um 1950. Seit Beginn des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart nahm die Großstadtbevölkerung etwa 12 mal stärker zu als die Weltbevölkerung. Der Prozeß der Verstädterung ist noch nicht abgeschlossen. Eine UN-Studie erwartet, daß etwa im Jahr 2000 - vielleicht in einigen Entwicklungsländern etwas später - 80 % der Menschheit in Städten oder stadtähnlichen Gebilden leben werden. 3 Ob die apokalyptische Sorge der Selbstzerstörung der Stadt sich erfüllt oder ob sie sich abwenden läßt - die Stadt als Gemeinwesen steht jedenfalls vor großen Gefährdungen und Herausforderungen, und zwar gerade infolge der erreichten technischen Entwicklung. 3

Zitiert nach EKD-Studie Nr. 7.

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Stadtkultur im Wertewandel

(IV) Probleme der Großstadt Welches sind die Probleme, die sich inskünftig zuspitzen werden? Folgende Bereiche seien aufgezählt: 1. Desintegration und Privatisierung Die skizzierten Veränderungen bergen in sich die Gefahr steigender psychischer und sozialer Desintegration. Die Kommunikationszumutungen wie die Kommunikationsfähigkeit im alltäglichen Zusammenleben nehmen ab. Denn das lebendige Wechselspiel von Gemeinde, Gemeinwesen und Ortschaft der vorindustriellen Epoche löste sich auf. Damit verschwand eine Möglichkeit der sozialen Kontrolle, aber auch eine Chance, sozialen Halt zu finden. Von dieser Entwicklung bleibt aber auch die Privatsphäre selbst nicht ausgenommen. Die Veränderungen der Familienstruktur kommen erst allmählich ins Bewußtsein. In Ballungsgebieten wird die überwiegende Mehrzahl der Ehepaare sich mit einem Kind begnügen oder kinderlos bleiben. Für das Jahr 2 0 0 0 rechnet man, daß jeder 3. Haushalt nur von einer Person bewohnt werden wird. In WestBerlin und anderen europäischen Großstädten wachsen heute rund ein Drittel der Kinder in unvollständigen Familien auf. 2. Konzentration von Problemgruppen Die Großstädte, insbesondere der Kernbereich, werden zu Sammelbecken neuer Problemgruppen. Großstädte zogen schon immer Obdachlose, Bettler an. Seit Beginn der 80er Jahre ist ein Ansteigen der Obdachlosigkeit zu beobachten, häufig als Folge von Mietrückständen, verursacht durch Arbeitslosigkeit und Verarmung. Amerikanische Großstädte sind heute in der City die Heimstatt von Obdachlosen geworden. Die Zahl der Problemfälle steigt auch in Deutschland. Überproportional vertreten sind darunter Familien mit mehr als 3 Kindern und Alleinerziehende mit Kindern. Jedoch: Wer auf die Armutsgrenze absinkt, hat es in den Städten schwer. Die großstädtischen Lebensbedingungen sind für Kinder, ältere Bürger, nicht berufstätige Frauen eine Zumutung. Das sind zusammen drei Viertel der Bewohner. „Unsere Städte sind gebaut für den gesunden, erwerbstätigen und autofahrenden männlichen

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325

Einwohner mittleren Alters" (so ein Städteplaner). 4 Alle anderen, Kinder, Alte, Ausländer, vor allem Körperbehinderte werden durch den Städtebau zu Randgruppen. 3. Auswirkungen auf die natürliche Umwelt Schließlich: Die sich ausdehnenden Ballungsgebiete zerstören das natürlich-ökologische Gleichgewicht. Die ökologischen Schäden (z. B. Zersiedelung, Landschaftsverbrauch), welche die Städte verursachen, sind unübersehbar. Die Städte beanspruchen zu viel wertvolle Energie, die sparsamer verwendet werden könnte. Sie beanspruchen kostbares Quell- und Grundwasser für zahlreiche Zwecke. Die Art und Weise der Abwassersysteme zerstört auf die Dauer den Gesamtwasserhaushalt. Die Bodenversiegelung tut ein übriges. Die Städte mit ihrem Verbrauch fossiler Brennstoffe sind ein Hauptverursacher der drohenden Klimakatastrophe. 4. Alternative Zielvorstellungen? Bislang haben wir nur Schäden und Bedrohungen dargelegt. Gibt es Perspektiven und Zielvorstellungen, die den Bedrohungen durch die moderne Großstadt entgegengesetzt werden können? Die Studie der Kammer für soziale Ordnung der EKD „Menschengerechte Stadt", 1984 hat zwei Zielvorstellungen benannt, nämlich die „menschengerechte" - d.h. die Stadt soll humanen Bedürfnissen gerecht werden - und die „umweltgerechte" Stadt - die Stadt, die ökologischen Erfordernissen entspricht. Die Gegenvorstellung dazu ist die „verkehrsgerechte" Stadt der Nachkriegszeit. Menschengerecht meint beispielsweise, daß die Stadt in überschaubare Einheiten gegliedert, damit als Heimat erfahrbar und .aneignungsfähig' wird. Wichtig wird dabei auch die Bewahrung historisch gewachsener Stadt- und Stadtteilstrukturen. Das meint beispielsweise „Stadtkultur". Eine Stadt soll von den Bürgern als Heimat angenommen werden können.

4

Zitiert nach EKD-Studie Nr. 12.

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(V) Theologische Modelle der Deutung der Stadt Es ist hier nicht beabsichtigt und möglich, die Geschichte des Symbols der Stadt durch die Kirchengeschichte zu verfolgen, die hochgebaute Stadt Jerusalem, der Turmbau zu Babel, Babylon und Rom als Sinnbild und Verkörperung des Bösen. Vielmehr geht es um unterschiedliche heutige Modelle der theologischen Bewertung der Stadt. 5 Solche Modelle geben eine Gesamtsicht und theologische Wertung der Stadt. 1. Die Stadt als Zukunftsmodell Grundlegend ist Harvey Cox, „Stadt ohne Gott?", 1966. Die nachfolgenden Werke orientieren sich durchgängig an dem Entwurf von Cox, gerade auch in der Auseinandersetzung mit ihm. 6 Harvey Cox' Sicht der Stadt ist in den 60er Jahren getragen vom pragmatischen Optimismus und der Aufbruchstimmung der Kennedy-Jahre und läßt noch keinerlei Skepsis gegenüber der Industriegesellschaft erkennen. Die Grundhaltung gegenüber des „Technopolis" ist durchweg zustimmend. New-Delhi, Rom, Prag und Boston sind Beispiele der modernen Stadt. Cox' Intention ist es, in Anlehnung an Friedrich Gogarten, Dietrich Bonhoeffer und Paul Tillich eine positive Einstellung des Christentums zur Säkularisierung, Rationalisierung und Technisierung zu vermitteln. Die moderne Stadt ist für ihn Symbol der neuzeitlichen, säkularen Welt. Säkularisierung, interpretiert als „Befreiung des Menschen von religiösen und metaphysischen Vorurteilen" 7 ist nach Cox die neueste und unwiderrufliche Stufe der menschlichen Bewußtseinsentwicklung. Dementsprechend wird die Stadt beschrieben als Ort der Freiheit. Mobilität und Anonymität befreien aus der sozialen Kontrolle der dörflichen Welt. Die Kehrseite der Mobilität und Anonymität wird von Cox überhaupt noch

5

6

7

Vgl. M. Bartelt, Die Stadt als Thema der Ethik, in: Die Mitarbeit, 31, 1982, S. 201-216. H. Cox, Stadt ohne Gott, Stuttgart 1966. Das englische Original trug den Titel: „The Secular City. Secularization and Urbanization in Theological Perspective", 1965. Vgl. M. Bartelt, a.a.O., S. 203-206; K. Duntze, Der Geist der Städte baut, S. 102-118; F. Borggrefe, Kirche für die Großstadt, Heidelberg 1973, S. 13-27. H. Cox, a.a.O., S. 27.

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nicht thematisiert, nämlich der Verlust an Heimat und Geborgenheit. Rationalisierung und Technisierung der Lebensvollzüge werden deswegen uneingeschränkt bejaht. Aufgabe der Kirche ist es deswegen vor allem, „die Falschheit sozialer Mythologien zu enthüllen, durch die die Ungerechtigkeit einer Gesellschaft verewigt wird." 8 Der Kirche fällt sogar die Funktion zu, an der Durchsetzung der Rationalisierung in Technopolis mitzuwirken, Anonymität und Mobilität, Pragmatismus und Profanität zu stützen - sofern soziale Mißstände beseitigt werden. Harvey Cox sieht sogar in der Idee der säkularen Stadt ein Leitbild, das dem entspricht, was die Schreiber des Neuen Testaments mit dem Gottesreich meinten. Dabei war damals schon deutlich die optimistische Bejahung der Stadt in Zweifel geraten. Alexander Mitscherlich, „Die Unwirtlichkeit unserer Städte"; „Anstiftung zum Unfrieden", 1965, gab dafür das Stichwort. Die Welle der Hausbesetzungen, die darauf aufmerksam machte, daß die Stadt in eine Krise geraten ist, war zwar noch nicht erfolgt. Auch die Formel von der „unregierbaren Stadt" wie der Schlachtruf „Rettet unsere Städte" gehören erst der Zeit Ende der 70er/Anfang der 80er Jahre an. Immerhin war bereits deutlich, daß die von Le Corbusier 1941 ausformulierte „Charta von Athen", die auf dem CIAM-Kongreß 1933 in Athen „Die funktionelle Stadt" fußte, nicht zu realisieren ist. Die Gliederung der vier „Funktionen" der Stadt - Wohnen, Arbeiten, körperliche und geistige Erholung und Bildung, Verkehr - waren in der Praxis nicht harmonisch zu vereinigen. Anders als bei H. Cox werden die Kriterien einer künftigen Stadtentwicklung strittig. In dieser Lage veröffentlichte Friedhelm Borggrefe seine Prager Dissertation „Kirche für die Großstadt". 2. Stadtkritik in theologischer Perspektive F. Borggrefe eröffnet seine Reflexion mit einer Auseinandersetzung, welche Harvey Coxs These von der Konvergenz von Gottesreich und Urbanität prinzipiell kritisiert und in Frage stellt. Die stadtkritische Tradition der Bibel spricht gegen die Identifikation von Stadt und Reich Gottes. 9 Vom ersten Buch der Bibel an bis zum letzten herrscht 8 9

A.a.O.,172. F. Borggrefe, a.a.O., S. 28-49.

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die Kritik an der Stadt vor. Kain, der Mörder, ist der erste Städtebauer (1. Mose 4,17). Städtebau ist Auflehnung gegen Gott (1. Mose 11). Die Städte Sodom und Gomorrha (1. Mose 18/19) sind geradezu Symbol des Rechtsbruchs, der Sünde, der Perversion. 10 Die Propheten des 8. Jahrhunderts (Arnos, Jesaja, Micha, Hosea) üben radikale Kritik an der Stadt, in der sie leben. 11 „Das Büchlein Micha kann man als ein Pamphlet gegen die Stadt verstehen. Der Prophet erzählt vom Exodus Jahwes aus den Städten. 12 Ebenso prangert Hosea die Stadtkultur an. Auch im Neuen Testament ist Johannes der Täufer die urtümliche Symbolgestalt einer Stadtkritik, auf die sich im 4. Jahrhundert das mönchische Eremitentum eines Pachomius und Antonius in Ägypten berief, das den Christen zum Exodus (Auszug) aus der Stadt in die Wüste aufrief. 13 Nicht nur die Synoptiker, auch Apokalyptiker wie Johannes verdammen die Stadt. Babylon, Deckname für Rom, wird als große Hure verurteilt (Apk. 17, 1-8). Ausnahmen in der Bibel sind nur in der älteren Weisheitsliteratur, Sprüche 10-29, zu finden, wo erstmals in Israel so etwa wie eine Sozialethik für die Stadtbevölkerung sich findet 14 , und vor allem beim Apostel Paulus, der seine Mission auf die Stadt ausrichtet (Korinth, Ephesus, Rom). Die biblische Tradition ruft aber in ihrem Hauptstrom zur Ablehnung und zum Mißtrauen gegen die Stadt auf. Borggrefe geht es im Unterschied zu solcher theologischer Stadtkritik um die Einbeziehung „urbaner Prozesse", der „Urbanen Situation" in das Handeln der Kirche, um die „Kirche in der Stadt und für die Stadt". Die urbane Theologie, die er anstrebt, hat freilich die moderne Gesellschaft als ganze zum Thema. Es geht um „Proexistenz" der Kirche für die Stadt, um Fragen der „sozialen Gerechtigkeit", das „Wohlstandsproblem", das „Sicherheitsdenken", die „Baulust", die „Wirtschaftspolitik" und die „Wissenschaftsgläubigkeit". 15 Dabei zeigt sich am Ende, daß aus biblischen Lösungsmodellen oder eschatologischen Vorstellungen der biblischen Tra-

10 11 12 13 14 15

A.a.O., A.a.O., A.a.O., A.a.O., A.a.O., A.a.O.,

S. S. S. S. S. S.

29. 32-35. 34. 43. 41. 130f.

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dition für die reale Großstadt gerade keine praktikable Zukunftsperspektive eröffnet wird. Während Cox eine Konvergenz von säkularer Stadt und Reich Gottes behauptet, betont Borggrefe die Differenz beider Größen. Borggrefe vertritt in Antithese zu Cox den Standpunkt, wonach Bibel und kirchliche Tradition ein kritisches Korrektiv zum zukunftsgläubigen Fortschrittsdenken anbieten. 16 Diese Wertung bietet freilich noch keine Gegenwartsanalyse, noch keine Zukunftsperspektive. 3. Kritik des Funktionalismus Das Buch von Klaus Duntze „Der Geist, der Städte baut", 1972, ist, damit verglichen, aus den praktischen Erfahrungen der MarthaGemeinde in Berlin-Kreuzberg entstanden. Funktionalistische Stadtplanung und der Verlust von Heimat bilden den realen Hintergrund. Deswegen setzt sich Duntze mit den Theorien von Funktionalismus in Architektur und Stadtplanung der 30er Jahre auseinander. Er kritisiert den Funktionalismus als abstraktes System, das die geschichtliche Herkunft der Stadt vergessen hat. Weite Teile-des Buches lesen sich in der Kritik des Funktionalismus als eine negative Theorie der Stadt, als Kritik einer Sanierung von Quartieren und Vierteln ohne Beachtung von deren Tradition und Geschichte. Dabei beschreibt Duntze das Quartier keineswegs als Idylle. Er verschweigt nicht die negativen und dunklen Seiten. Auch will er aus dem Quartier nicht einen „sozialen Naturschutzpark für eine noch stabile Subkultur" machen. 17 Aufgabe ist es vielmehr, Kriterien für die Erneuerung aus dem Quartier selbst zu gewinnen, Kriterien, die sich nicht auf Richtzahlen und Vorgaben administrativer und ökonomischer Planungstrategie beschränken, sondern „Heimat" bewahren helfen. 18 Die Kirche kommt hier - so Duntze - als „konstruktiver Störenfried" für die Verwaltung ins Spiel, welche als Anwalt der Betroffenen Gehör und Einfluß verlangt. 19 Die bloße Planungsrationalität ist dadurch in Frage gestellt. Diese Kritik am Funktionalismus - programmatisch schon im Titel enthalten „Der Geist, der 16 17 18 19

M. K. M. K.

Bartelt, Duntze, Bartelt, Duntze,

a.a.O., a.a.O., a.a.O., a.a.O.,

S. S. S. S.

209. 155. 213. 194.

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Städte baut" - greift jedoch aus einem doppelten Grund noch zu kurz. Erstens sieht Duntze die Kirche nur im Gegenüber zur „Verwaltung". Dadurch reduziert sich der Beitrag zu sehr auf Einspruch und Kritik und läßt konstruktive Alternativvorschläge vermissen. Dies hängt zum anderen damit zusammen, daß Duntze entweder aus dem Blickwinkel des Quartiers oder aus dem der „Gesellschaft" argumentiert, aber die Stadt als Ganzes erst noch in Blick nehmen müßte. Was zu einer solchen Betrachtung erforderlich ist, ist aber nicht einfach eine übergreifende Gesellschaftstheorie, eine globale „Urbane Theologie", sondern sowohl eine Situationsanalyse der konkreten Stadt wie auch Kriterien zur Beurteilung des Stadtprozesses und der Stadtentwicklung. Hier stellt sich die Aufgabe der Sozialethik, einer „Stadtethik". 20

(VI) Ethische Kriterien 1. Ethische Kriterien und theologische Deutung Von ethischen Kriterien der humanen und ökologischen Stadterneuerung war bereits einmal kurz die Rede. Theologische Modelle der Deutung der Stadt unterscheiden sich von ethischen Kriterien dadurch, daß Theologie eine Gesamtsicht vermittelt, Ethik sich an Einzelkriterien orientiert. Theologie begründet eine Grundeinstellung, sie fordert zu Zustimmung oder Ablehnung heraus. Die Stadt ist für sie Symbol der Hoffnung, Träger des Gottvertrauens - wie Jerusalem die hochgebaute Stadt - oder Symbol des Gerichts, des titanischen Hochmuts, wie Babel, oder auch der Gottfeindlichkeit, der Gottlosigkeit, wie der Moloch Ninive oder Rom, die Hure Babylon. Es geht dabei um Heil und Unheil, um Gottvertrauen und Angst, um Hoffnung und Furcht, um Glaube und Unglaube. Allerdings: Wenn der christliche Glaube insgesamt die Welt als Schöpfung Gottes begreift und wenn der Christ zum Mitarbeiter Gottes bei der Weltgestaltung und Welterhaltung berufen ist, dann kann ihm gerade als Christen das Geschick der Stadt als Lebensraum 20

Vgl. für die Kriterienfindung im folgenden die EKD-Studie „Menschengerechte Stadt", Nr. 21-38.

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nicht gleichgültig sein. Deshalb heißt es beim Propheten Jeremia (29,7): „Suchet der Stadt Bestes". Von dieser prinzipiellen theologischen Begründung einer Grundeinstellung zur Stadt als Lebensraum zu unterscheiden sind hingegen ethische Kriterien der Gestaltung der Stadt. Solche Kriterien sollen allgemein einsichtig sein, beruhen auf anthropologischen Einsichten und sind keiner direkten biblischen Ableitung bedürftig. Begründet werden können Kriterien mit menschlichen Bedürfnissen (z. B. nach Nahrung, Gesundheit, Ruhe), mit geschichtlichen, kulturellen Erfahrungen (z. B. desintegrierenden Strukturen in der Lebenswelt) und/oder mit menschlichen Zielvorstellungen, vor allem den Leitvorstellungen eines guten, geglückten Lebens. Grundbedürfnisse können sich freilich ebenso wandeln, wie geschichtliche Erfahrungen verändernd sich auswirken. Ein Beispiel dafür sind veränderte Bildungsansprüche. Auch die Zielvorstellung von einem guten, geglückten Leben ist in der konkreten Ausgestaltung veränderbar. Dies faßt man dann unter den Begriff „Wertewandel". Ethische Kriterien konkretisieren angesichts solchen Wertewandels die Anforderungen an eine menschen- und umweltgerechte Stadt. Genannt seien exemplarisch die Kriterien der Studie „Menschengerechte Stadt". 2. Die einzelnen Kriterien einer menschengerechten Stadt (a) Mitmenschliche Kommunikation ist elementare Voraussetzung eines wahrhaft menschlichen, humanen Lebens. 21 Die Isolierung in Wohnungen oder die „Einbahnkommunikation" der Medien läßt Mitmenschlichkeit und Kommunikationsfähigkeit verkümmern. Daraus erwächst der Anspruch einer nachbarschaftlichen, quartierbezogenen, stadtbezogenen Kommunikation als Anspruch an die Stadtgestaltung. Der Entlastungseffekt und der Freiheitszuwachs, welche die Anonymität der Großstadt gewährt, bedarf der Ergänzung, der Kompensation durch Formen der Kontaktnahme und Kommunikation. (b) Mit diesem Kriterium hängt eng das andere Kriterium Geborgenheit zusammen. Heimat bedarf der Erfahrbarkeit von Nähe. Geborgenheit stellt sich nur in überschaubaren Bereichen ein. Gera21

EKD-Studie Nr. 39ff.

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de mobile Gesellschaften bedürfen einer Beheimatung im überschaubaren Raum. Städtebauliche Strukturen, welche ein Gefühl der Bedrohung vermitteln, sind mit diesem Kriterium unvereinbar. (c) Teilhabe, Partizipation ist ein weiteres Kriterium. Der Mensch soll die soziale und kulturelle Umwelt mitgestalten können. Teilhabe bedeutet Mitdenken, Mitwirken und Mitverantwortung. Gleichberechtigte Zusammenarbeit, gemeinsame Entscheidungsfindung, Bürgerbeteiligung ist daher ein wesentliches ethisches Kriterium. (d) Die Forderung, die Stadt solle menschengerecht sein, betrifft alle Gruppen. Gerade die Schwächeren drohen in der modernen Stadt unters Rad zu kommen. „Eine Stadt, an deren Leben ihre Schwachen nicht im Rahmen ihrer Möglichkeiten mit teilnehmen können, kann nicht human genannt werden". 22 Der Testfall für die Achtung der Bedürfnisse der Schwachen ist das Kriterium „Kind" bzw. des „Kindgerechten". (e) Das Kriterium der „Einbindung in die Natur" oder der ökologischen Verträglichkeit gewinnt angesichts drohender Umweltkatastrophen an Gewicht. Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen, der Artenvielfalt, drastische Reduzierung der Belastungen von Natur und Landschaft folgen daraus. (f) Neben ökologischen Gesichtspunkten sind sinnliche Erfahrbarkeit, ästhetische Aspekte wichtig. Die funktionsgerechte Stadt, welche nur gerade Linien und den rechten Winkel kennt und sich in übermenschliche Proportionen verliert, ist nicht menschengerecht. Zur humanen Umwelt gehört das Angebot „ganzheitlicher" Erfahrung mit der Wohn- und Arbeitswelt. (g) Die Überschaubarkeit der Lebensbereiche, die Einteilung der Stadt in Stadtviertel und Quartiere schafft Bezugspunkte. Die Auflösung der Stadt in Monostrukturen, reine Schlafstädte, reine Industriezonen, reine Geschäfts- und Verwaltungszonen ist durch die Förderung der Alternative der Schaffung überschaubarer, multifunktionaler Lebens- und Erlebensbereiche und einer abgestuften Versorgung in zumutbarer Entfernung zu begegnen. (h) Die genannten Kriterien kann man zusammenfassen im Begriff „Integration". Es geht um eine Integration der Lebensfunktionen Wohnen, Arbeit und Freizeit, wie um die soziale Integration der 22

EKD-Studie Nr. 43.

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Gruppen und Generationen. Das Wort „Integration" ist freilich auch mißverständlich; es meint nicht eine konflikt- und spannungslose Harmonie, sondern die Alternative zur Desintegration der Lebensfunktionen und Bevölkerungsgruppen. „Integration" bedeutet nicht eine konfliktfreie Gemeinschaft, sondern die Möglichkeit des Zusammenlebens in einem Stadtraum. 3. Die Kriterien und das Leitbild der humanen Stadt Die genannten Kriterien lassen sich verdichten zum Leitbild der menschengerechten und umweltgerechten Stadt. Die Erwartung, die Stadterneuerung stelle sich als Ergebnis eines sich automatisch regulierenden Prozesses von selbst ein, ist allerdings ebenso trügerisch, wie die Meinung, sie sei mit technokratischen und bürokratischen Methoden durchsetzbar. Im Unterschied zur Zeit nach 1945, in der nach der Katastrophe des zweiten Weltkrieges zunächst einfach quantitativ Wohnraum und Infrastruktur wiederaufgebaut werden mußten, geht es heute um kulturelle Aneignung und kreative Anpassung. (VII) Verantwortung für die Stadt Die Frage nach dem Träger der Verantwortung für die Stadt stellt sich für Kirche und Theologie auch als die Frage: was ist dabei der Beitrag der Christen? Die Antwort darauf ist die eines Protestanten. Die Aufgabe der Verantwortung für die Stadt ist in erster Linie Sache der Christen im weltlichen Beruf, der Laien, nicht primär der Pfarrer, der Theologen. Es geht daher um eine Stärkung der Kompetenz des Laien, um die Achtung der Zuständigkeit des Christen im alltäglichen Beruf, um die Anerkennung der Eigenverantwortlichkeit und um die Unabhängigkeit von direkten kirchlichen Weisungen. Der Verlust an einem Mitwirken von Christen an der Stadtkultur hängt auch damit zusammen, daß binnenkirchliche Probleme zu sehr Kraft und Zeit der engagierten Laien beanspruchen. Thomas Nipperdey23 hat eindrucksvoll gezeigt, wie die Auseinandersetzung um die Kirchenverfassung in den evangelischen Kirchen, vor allem in der preußischen Kirche im 19. Jahrhundert, die innerkirchlichen 23

T. Nipperdey,

Religion im Umbruch, Deutschland 1 8 7 0 - 1 9 1 8 , 1988.

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Kräfte band. Die Folge war, daß brennende Fragen, wie die „soziale Frage" oder die Erörterung der politischen Zukunft Deutschlands, damals nicht die ihnen gebührende Aufmerksamkeit finden konnten. Auch nach 1918 und 1945 galt das kirchliche Interesse zuerst der Sicherung des kirchlichen Bestandes, der verfassungsmäßigen Reorganisation. Der notwendige Beitrag der Kirche zur Stadtkultur ist allerdings nicht schlagwortartig auf einen Nenner zu bringen. Im Blick auf die Wirkung der Kirche in der Stadt gibt es unterschiedliche theologische Handlungskonzepte. (a) Ein volksmissionarisch-erweckliches Konzept zielt auf eine Missionierung der Stadt. Im 19. Jahrhundert haben Johann Hinrich Wichern und Adolf Stoecker diese Konzeption der Stadtmission, das Programm der „Inneren Mission" entwickelt. (b) Ein diakonisch-karitativer Ansatz betont die Hilfe für Hilfsbedürftige, Benachteiligte, Randgruppen. Nicht die Mission, sondern die Diakonie, das soziale Handeln ist hier leitendes Motiv. (c) Ein politischer Ansatz will praktisches Handeln in Bürgerinitiativen initiieren und aktivieren. Ziel ist die Mitplanung, die politische Einwirkung. (d) Schließlich wurde ein an der Parochie orientierter Ansatz entwickelt, der die „Überschaubare Gemeinde" vor Ort, in der Nachbarschaft, die Stärkung von Nähe und Heimat vertritt. Keines der vier genannten Konzepte kann für sich Alleingeltung beanspruchen. Es bleibt bei einem Pluralismus an Handlungsvorstellungen, der in einem Ausdruck von Verlegenheit wie der Komplexität der Stadtwirklichkeit ist. Entscheidend wird freilich sein, ob es überhaupt gelingt, diese vier Ansätze noch in einem Nebeneinander gelten zu lassen, oder ob nicht ein Gegeneinander in der innerkirchlichen Diskussion sogar zur Zerstörung von Stadtkultur beiträgt. Im innerkirchlichen Umgang miteinander wird deutlich, wie man es selbst mit derjenigen politischen Kultur hält, die man von der Gesellschaft einklagt. Überhaupt ist es ein wesentlicher Beitrag zur Stadtkultur, wie man miteinander in der Stadt umgeht und über sie redet. Die kulturelle Aneignung einer menschen- und umweltgerechten Stadt ist in einem Aufforderung zu menschlichem, und d.h. ethischem Verhalten wie Leitbild einer strukturell notwendigen Stadterneuerung.

16. Gemeinschaft der Christen in der Spannung von Relativismus und Fundamentalismus Die evangelische Christenheit ist gegenwärtig, wie die Weltchristenheit insgesamt, im Umbruch. Der gesellschaftliche Wandel in Wirtschaft, Kultur, Arbeitswelt, Familie und Ehe, verwissenschaftlichter Lebensführung verändert auch die Sozialform der Kirche und die christliche Lebensform. Stichworte sind Pluralismus, Individualisierung, Modernisierung. Die Deutung dieses Vorgangs mithilfe der Kategorie der Säkularisierung erklärt wegen der Vielschichtigkeit des Begriffs Säkularisierung den Vorgang nur recht unzulänglich. Zudem sind andere gesellschaftliche Institutionen und Verbände genauso von der Veränderung erfaßt wie die Kirchen. Auflösungserscheinungen und Transformationsprozesse sind unübersehbar. Wohin soll und wird dabei der Weg der evangelischen Christenheit führen? Es zeichnet sich ab, daß er eine Gratwanderung wird, die zwischen den beiden Versuchungen und Bedrohungen Relativismus und Fundamentalismus hindurch finden muß. Mit „Relativismus" sei die theologisch unreflektierte Anpassung an den jeweiligen Zeitgeist, an die Zeitströmungen bezeichnet, welche prinzipiell Beliebigkeit in Glaubensüberzeugung und Lebensführung akzeptiert und alles folglich toleriert. Gesellschaftliche Akzeptanz ist allein der bestimmende Maßstab. Kirche und Christen sollen in jedem Fall „modern" sein, und wenn die moderne Kultur säkularisiert ist, dann müssen sich Kirche und Christentum diesem Bewußtsein anpassen und sich selbst auch säkularisieren. 1 Als Reaktion auf die Relativierung und Moder1

W. Pannenberg, Angst um die Kirche. Zwischen Wahrheit und Pluralismus, Evangelische Kommentare 1993, S. 709-713 thematisiert das Spannungsverhältnis unter dem Gegensatz von Pluralismus und Fundamentalismus. Er versteht Pluralismus als prinzipiellen Pluralismus und als jede beliebige Möglichkeit der kulturellen Selbstverwirklichung (710). Da Pluralismus freilich auch anders verstanden werden kann und verstanden wird, ziehe ich die Bezeichnung „prinzipieller Relativismus" vor, auch wenn ich, wie Pannenberg, nach einem dritten Weg zwischen Säkularismus und Fundamentalismus suche.

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nisierung des Christlichen formt sich die Gegenbewegung des Fundamentalismus. Fundamentalistische Bewegungen und Positionen in vielen Kirchen und Religionen wollen das jeweilige religiöse Erbe unversehrt bewahren, auch um den Preis einer Selbstabschließung und des Rückzugs auf eine abgeschottete Eigenwelt. Der Pluriformität der neuzeitlichen Welt will der fundamentalistische Rückzug eine geschlossene uniforme Lebenswelt entgegensetzen. Prinzipieller Relativismus und intoleranter, dialogverweigernder Fundamentalismus sind für alle und in allen Kirchen Abwege und Gefährdungen. Wie kann ihnen begegnet werden? Notwendig ist gegen Relativismus eine Besinnung auf das fundamental, das unaufgebbare Christliche. Im Blick auf den Fundamentalismus sind hingegen Dialogbereitschaft, Offenheit zum Gespräch, das Bemühen um Verständigung und das Bemühen um Gemeinschaft erforderlich. Gemeinschaft mit Christen anderer Konfession ist auch eine Forderung gegenwärtiger Ökumene. Diese Forderung lautet formelhaft communio und koinonia.

1. Communio und Koinoia als ökumenischer Leitgedanke Communio und Koinonia sind zwei Leitbegriffe in der neueren ökumenischen Diskussion. Beide Begriffe sind freilich nicht unumstritten und auslegbar. Communio ist ein lateinisches Wort, Koinonia das entsprechende griechische Wort. Communio ist ein Begriff, der vornehmlich von der der lateinischen Sprache verpflichteten römisch-katholischen Kirche verwendet wird. Es ist also ein im westlichen Abendland beheimatetes Wort. Am 28. Mai 1992 hat die Kongregation für die Glaubenslehre in Rom ein „Schreiben an die Bischöfe der katholischen Kirche über einige Aspekte der Kirche als Communio" veröffentlicht. Dieses Schreiben bekräftigt den Standpunkt Roms. Es anerkennt zwar, daß der Begriff communio - Gemeinschaft (Koinonia) eine Schlüsselrolle in der gegenwärtigen katholischen Ekklesiologie spielt. Communio, Gemeinschaft betrifft sowohl vertikal die Gemeinschaft mit Gott als auch horizontal die Gemeinschaft der Menschen. Aber über die geistliche Bedeutung von Communio darf nicht deren rechtlicher Gehalt übersehen werden: Katholisch verstanden bedeutet communio somit die Gemeinschaft der Bischöfe unter dem Papst. Die römisch-katholische Kirche ist

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communio hierarchica, rechtliche Gemeinschaft; Repräsentant der universalen Kirche ist das Bischofskollegium mit Petrus und unter Petrus. Die von Rom getrennten Kirchen stehen zu der katholischen Kirche im Verhältnis einer größeren Nähe oder Ferne. Am nächsten stehen Rom die orthodoxen Ostkirchen, weil sie in der apostolischen Sukzession stehen und deswegen eine gültige Eucharistie haben, freilich das Papstamt nicht anerkennen. Die reformatorischen Kirchen sind hingegen nach diesem Schreiben nur noch „kirchliche Gemeinschaften"; es fehlt ihnen nämlich das gültige Amt, da sie in keiner Sukzession im römisch-katholischen Sinne stehen und deshalb die Eucharistie nicht gültig feiern können. Diese Erklärung der Glaubenskongregation hat auf evangelischer Seite Befremden, Betroffenheit und Verwunderung, also Irritation ausgelöst. Das Schreiben kann freilich für sich durchaus Lehraussagen des 2. Vatikanischen Konzils, vor allem der Kirchenkonstitution „Lumen Gentium" anführen. Allerdings ist diese Bekräftigung der Abgrenzung doch als ein Rückschritt in der gegenwärtigen Verständigung zu bewerten. In Canberra wurden 1991 von der Vollversammlung die bisherigen ökumenischen Zielvorstellungen in einer Erklärung gebündelt. „Die Einheit der Kirche als Koinonia: Gabe und Aufgabe". 2 Koinonia gilt als angemessenes Einheitsziel. Man will damit Überlegungen von Neu Delhi 1961 und Nairobi 1975 aufnehmen und zusammenfassen und damit die Alternative „Union" oder „Föderation" überwinden. Die Vision einer Koinonia läßt freilich vieles offen und löst kein kirchentrennendes Problem. Es wird nämlich in diesem Text erklärt: „Die Einheit der Kirche, zu der wir berufen sind, ist eine Koinonia, die gegeben ist und zum Ausdruck kommt im gemeinsamen Bekenntnis des apostolischen Glaubens, in einem gemeinsamen sakralen Leben, in das wir durch die eine Taufe eintreten und das in der einen eucharistischen Gemeinschaft miteinander gefeiert wird, in einem gemeinsamen Leben, in dem Glieder und Ämter gegenseitig anerkannt und versöhnt sind, und in einer gemeinsamen Sendung, in der allen Menschen das Evangelium von Gottes Gnade bezeugt und der ganzen Schöpfung gedient wird. Das Ziel der Suche nach voller Gemeinschaft ist erreicht, wenn alle Kirchen in den anderen die eine, heilige, katholische und apostolische Kirche in ihrer Fülle erkennen

2

R. Frieling, Der Weg des ökumenischen Gedankens, Göttingen, 1992, S. 263ff.

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können. Diese volle Gemeinschaft wird auf der lokalen wie auf der universalen Ebene in konziliaren Formen des Lebens und Handelns zum Ausdruck kommen. In einer solchen Gemeinschaft sind die Kirchen in allen Bereichen ihres Lebens auf allen Ebenen miteinander verbunden im Bekennen des einen Glaubens und im Zusammenwirken im Gottesdienst und Zeugnis, Beratung und Handeln." 3 Soweit der Stand der offiziellen Aussagen und Stellungnahmen. Sehen wir freilich die Worte communio und Koinonia genauer an, so bleiben Unschärfen. Communio heißt Gemeinschaft. Inwieweit communio rechtlich oder geistlich zu verstehen ist, bleibt nach wie vor strittig. Das Wort Koinonia ist dagegen weiter und unbestimmter. Es kann auch Gemeinschaft bedeuten, aber auch eine Beziehung beschreiben, Teilhabe, Beteiligung, Austausch, Kooperation. Hinter dem „neuen Heiligen Wort der ökumenischen Bewegung" 4 Koinonia verbergen sich also unverändert mögliche unterschiedliche Auffassungen von Gemeinschaft, Einheit, zwischenkirchlicher Beziehung. Der Schlüsselbegriff kann sowohl als Bestandsaufnahme wie auch als Zielvorgabe der ökumenischen Bewegung verstanden werden. Koinonia wird in Canberra als „dynamischer Begriff" ins Feld geführt. Er soll „Beziehungen" kennzeichnen. Der Begriff wird umfassend gebraucht. Er beschreibt zunächst einmal die innergöttliche, trinitarische Koinonia: Gott ist einer in drei Personen. In Gott selbst ist also Verschiedenheit, und deshalb Koinonia. Diese göttliche Gemeinschaft in sich selbst wird damit zum Urbild der Koinonia von Christen und Kirche. Blickt man allerdings auf die Erklärung von Canberra, so kann man 7 Formen von Koinonia zwischen den Kirchen unterscheiden: 1. Die gegenseitige Anerkennung der Taufe. 2. Das gemeinsame Bekenntnis des Glaubens im Nicäno-Konstantinopolitanum. 3. Formen eucharistischer Gastfreundschaft, also der Zulassung zum Abendmahl. 4. Gegenseitige Anerkennung der Ämter. 5. Gemeinsame Bezeugung des Evangeliums. 6. Gemeinsames Handeln im Eintreten für Friede, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung. 7. Gemeinschaft der Kirche vor Ort. 3

4

Im Zeichen des Heiligen Geistes. Bericht aus Canberra 1991, hg. von Walter Müller-Römheld, Frankfurt 1991, S. 174. Vgl. E. Geldbach, Koinonia. Einige Beobachtungen zu einem ökumenischen Schlüsselbegriff, MdK I 44, 1993, S. 73-77, Zitat S. 73.

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Wenn man die sieben Formen sorgfältig betrachtet, so bleibt offen und ungesagt, was bereits erreicht ist und was noch bloße visionäre Zukunft ist. Vor allem die Rede von der Erkenntnis der einen heiligen, katholischen und apostolischen Kirche in ihrer „Fülle" ist nicht eindeutig. Was meint denn „Fülle", „volle Gemeinschaft"? Ist damit die Fülle gemeint, wie sie die innertrinitarische Gemeinschaft als Gemeinschaft der Liebe und der vollkommenen Einheit in Verschiedenheit verkörpert? Ist damit die Fülle der Gnade in der eucharistischen Mitte gemeint? Oder ist damit auch die vollkommene rechtliche Gemeinschaft der Kirchen gemeint, also die umfassende Koinonia in den kirchlichen Strukturen? Evangelische und katholische, aber auch orthodoxe Auffassungen von Koinonia sind hier durchaus verschieden. Nach evangelischem Verständnis genügt die Koinonia im Glauben und in der Bezeugung des Evangeliums. Kirche ist communio fidei, Glaubensgemeinschaft. Zur „Fülle" der Gemeinschaft bedarf es daher nicht notwendig gleicher Strukturen der Kirchenverfassung. Koinonia setzt Verschiedenheit voraus. Eine Vielfalt von Kirchenstrukturen ist nach evangelischem Verständnis möglich. Koinonia von Kirchen ist denkbar als „Netz von Ortskirchen". Die römisch-katholische Seite hat gegen diese Auffassung mit ihrer Erklärung über einige Aspekte der Kirche als communio bewußt und nachdrücklich die rechtliche Einheit angemahnt. Sie betont die Bedeutung der Gemeinschaft der Bischöfe und des päpstlichen Primats für die Einheit der Kirche. Die katholische CommunioEkklesiologie hat verständlicherweise die Canberra-Erklärung zwar begrüßt, weil sie sich auf der richtigen Spur bewegt, nämlich der der Sakramentalität der Kirche. Denn Voraussetzung eucharistischer communio ist nach katholischer Lehre die bischöfliche Verfassung. Ziel der katholischen Communio-Ekklesiologie ist es also, kirchenpolitisch die Primatsfrage wachzuhalten. Mit der sichtbaren Einheit im Petrusamt ist also die „Fülle" der Koinonia erreicht. Der Hinweis auf die Communio dient hier dazu, die Primatsfrage als unabdingbare Frage der ökumenischen Bewegung festzuhalten und in Erinnerung zu bringen. Die Folge solcher Sicht von Communio ist aber ein quantitatives Verständnis von Koinonia. Man denkt in Stufen, Abstufungen stellt die Frage, „welche" Kirche oder kirchliche Gemeinschaft steht Rom, das die „Fülle" repräsentiert, mehr oder weniger nahe, beziehungs-

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weise fern. Evangelisches Kirchenverständnis kann dieses Verständnis von Communio nicht teilen. Lukas Vischer nannte die Vorstellung von einer Einheit der Kirchen, denen nichts mehr fehlt, weil sie die „Fülle" haben, „etwas Erschreckendes". 5 Es wäre dies die vollkommene Kirche, die ecclesia triumphans. Man kann es sogar noch krasser formulieren, wenn man Dialogtexte aus den anglikanischrömisch-katholischen und anderen Dialogen ergänzend heranzieht, in denen die Communio-Ekklesiologie und die Koinonia-Konzeption dazu dienen, dem römischen Primatsanspruch Nachdruck zu verleihen und damit als unterwerfungshermeneutisches Prinzip dienen. 6 Erschwerend hinzu kommt außerdem ein innerkatholisches Problem, nämlich das Verhältnis der Ortskirchen oder Teilkirchen zur Universalkirche, zur Zentrale. Es wurde beiläufig schon angedeutet, daß nach katholischem Verständnis die Gemeinschaft vornehmlich als communio mit dem Petrusamt verstanden wird. Daraus ergeben sich jedoch innerhalb der katholischen Kirche Spannungen zwischen römischem Zentralismus und dem Einheimischwer den. Umstritten ist beispielsweise, wieweit nationale Bischofskonferenzen oder regionale Kirchenvereinigungen jeweils auf ihren spezifischen kulturellen, politischen und geschichtlichen Kontext eingehen können und selbständig handeln dürfen. Man kann auch so fragen, ob das Prinzip der Subsidiarität aus der katholischen Soziallehre auch innerhalb der Kirche selbst zu beachten ist. Subsidiarität besagt: Übergeordnete Instanzen sollen nur tätig werden, wenn die kleineren Einheiten der Aufgabe nicht gewachsen sind. Die Gesellschaft baut sich nach diesem Prinzip von unten her auf. Von der Familie über die Gemeinde, Kommune zum Staat und zur internationalen Gemeinschaft. Müßte dies nicht dann auch für kirchliche Tätigkeiten und Kirchenstrukturen gelten? Die römisch-katholische Kirche vertritt derzeit betont einen Zentralismus. Die einzelnen Entscheidungen werden immer stärker in den Vatikan verlagert. Der evangelischen Auffassung von Kirche und Koinonia entspricht dagegen ein Aufbau von der Gemeinde her zu übergreifenden Organen. Die Wirkung dieses „evangelischen" Prinzips ist allerdings Pluralis-

5 6

Zitiert bei E. Geldbach, A.a.O.

a.a.O., S. 77.

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mus und Vielfalt. Pluralismus meint freilich weder vollständigen relativistischen Individualismus, den Grundsatz „jeder für sich", noch freien vereinheitlichenden Totalitarismus, den Grundsatz „Alles muß einheitlich, völlig gleich sein", sondern meint Gemeinschaft der Verschiedenen. Pluralismus ermöglicht und erlaubt das Eingehen auf verschiedene Kontexte, ein Einheimischwerden des Glaubens, Indigenisation. Zwischen verschiedenen „Kontexten", Christen, Erscheinungsformen des christlichen Glaubens sind freilich Beziehungen, Austausch, Gemeinsamkeiten erforderlich. Koinonia, Gemeinsamkeit heißt dann Verschiedenheit, die nicht Konflikte auslöst, sondern Versöhnung der Unterschiede und Gegensätze bewirkt. Das ist der Gedanke einer ökumenischen Gemeinschaft in „ versöhnter Verschiedenheit".

2. Die Christenheit als Gemeinschaft nach reformatorischem Verständnis Evangelischer Glaube bekennt sich mit dem apostolischen Glaubensbekenntnis zu der einen, heiligen, allgemeinen und apostolischen Kirche, zur una, sancta, catholica et apostolica ecclesia. Dieser Bekenntnissatz ist eine Glaubensaussage. Der Glaube begreift die Kirche, die Christenheit als communio sanctorum, Gemeinschaft der Gläubigen und Gemeinschaft des Glaubens. Das Wort communio kann auch mit congregatio, „Haufe", „Gemeinde", „Sammlung", „Versammlung" wiedergegeben werden. Für Luthers Verständnis von Kirche ist der Gemeinschaftsgedanke grundlegend. 7 Im Gemeinschaftsgedanken überschneiden sich erfahrene und geglaubte Gemeinschaft. Aber das Kirchesein wird gerade nicht durch die Institution, durch ein kirchliches Amt, durch die Einhaltung eines ius divinum gewährleistet. Vielmehr ist nach evangelischer Überzeugung zwischen geglaubter und erfahrener Kirche, zwischen „unsicht7

Vgl. z.B. P. Althaus, Communio sanctorum, 1929. Ders., Die Theologie Martin Luthers, 7. Aufl., Gütersloh 1994, 254-270. ]. Rogge, Luthers Kirchenverständnis in seinen Spätschriften, ThLZ 120, 1995, S. 1051-1058 hat das Gemeinsame der Aussagen zur Kirche in der Früh- und Spätzeit Luthers aufgezeigt. Das erlaubt es, das reformatorische Verständnis von Kirche im Unterschied zum katholischen und zum orthodoxen als einheitlich vorzustellen.

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barer" und „sichtbarer" Kirche (U. Zwingli, Expositio christianae fidei, 1539) 8 , zwischen „äußerer" und „verborgener" Kirche (Martin Luther, De servo arbitrio, 1525) 9 zu unterscheiden. Luther sprach sogar gelegentlich von „zwo Kirchen", der äußerlichen, leiblichen und der geistlichen Christenheit (1520). Er formuliert polemisch: „Denn was man glaubt, das ist nicht leiblich noch sichtlich; die äußerliche römische Kirche sehen wir alle, darum mag sie nicht sein die rechte Kirche, die geglaubt wird, welche ist eine Gemeinde oder Sammlung der Heiligen im Glauben, aber niemand sieht, wer heilig oder gläubig sei." 10 Die Unterscheidung von geglaubter und äußerer Kirche ist für evangelisches Verständnis von Kirche grundlegend. Eine evangelische Beschreibung von Kirche kann folglich nur einfach, schlicht und bescheiden ausfallen. Martin Luther hat in den Schmalkaldischen Artikeln (Teil III, Artikel 12) von der Kirche sehr knapp erklärt: „es weiß, gottlob ein Kind von sieben Jahren, was die Kirche ist; nämlich die heiligen Gläubigen und die Schäflein, die ihres Hirten Stimme hören". Das Augsburger Bekenntnis lehrt dasselbe in Artikel 7: „Es wird auch gelehrt, daß allezeit eine heilige, christliche Kirche sein und bleiben muß, die die Versammlung aller Gläubigen ist, bei denen das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakramente laut dem Evangelium gereicht werden (congregatio sanctorum, in qua evangelium pure docetur et recte administrantur sacramenta)." Das Bekenntnis fügt sodann hinzu, es sei zur wahren Einigkeit der Kirche nicht notwendig, daß überall die gleichen, von Menschen eingesetzten Zeremonien und Traditionen gehalten werden. Vielfalt in der äußeren Gestaltung von Kirche ist also theologisch durchaus legitim. Diese Differenz von geglaubter und empirischer Kirche macht den Gebrauch des Kirchenbegriffs schwierig. Luther sprach in seiner Spätzeit deshalb von Kirche als einem „blinden, undeutlichen Wort." 1 1 Unterscheidung heißt freilich nicht Trennung; deshalb ist 8

9 10

11

U. Zwingli, Expositio Christianae fidei, S. 1531, zit. bei W. Härle, TRE 18, 1989, S. 27f. M. Luther, De servo arbitrio, 1525, WA 18,652. M. Luther, Von dem Papsttum zu Rom wider den hochberühmten Romanisten zu Leipzig, 1520, WA 6,380,37ff. M. Luther, Von Konziliis und Kirchen, 1539, WA 50,625,3.

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das Verständnis von Kirche besonders problembeladen und konflikthaltig. Drei Aspekte an Problemen und Spannungspotentialen sind im Verständnis von Kirche zu unterscheiden: Semantische, ökumenische und konfessionelle, institutionelle. 12 (a) Umgangssprachlich kann Kirche ganz Unterschiedliches bezeichnen: Einmal eine christlich-religiöse Institution (Landeskirche, Kirchentum), sodann einen Ort, den Versammlungsraum, das Kirchengebäude, des weiteren den an diesem Ort veranstalteten Gottesdienst (Kirchgang, „Kirche halten") und schließlich die Amtsträger, die Organe, die für die verfaßte Kirche tätig werden und handeln. Zu klären ist deswegen in jedem einzelnen Fall, wie sich die umgangssprachliche Verwendung des Wortes Kirche zu den Glaubensaussagen über die Kirche verhält. (b) Im Glaubensbekenntnis wird die eine ökumenische Kirche bezeugt. Das Glaubensbekenntnis unterscheidet darum prinzipiell zwischen Kirche und Nichtkirche. Faktisch vorhanden ist aber eine Vielzahl von Konfessionskirchen. Sollte die wahre Kirche angesichts der konfessionellen Gegensätze und Vielfalt nur als reine, unsichtbare Geistgemeinschaft existieren? Die Gegensätze und Unterschiede im Kirchenverständnis beruhen jedoch auf einem artikulierbaren und erkennbaren Konsens und Dissens in theologischen Grundentscheidungen: Verschiedenheiten im Schriftverständnis (Verhältnis von Schrift und Tradition), im Verständnis von Heil und Rechtfertigung in der Gnadenlehre, im Sakramentsverständnis, in der Amtslehre, in der Auffassung von Buße, Eucharistie und Messe, in der Mariologie und anderen Lehraussagen prägen und bestimmen auch das Kirchen Verständnis. Deshalb ist ein ökumenischer Minimalkonsens in der Ekklesiologie nicht ausreichend. Es ist nämlich weder sinnvoll, additiv lediglich unterschiedliche theologische und konfessionelle Deutungen der Kirche zusammenzufügen (als eine Art Maximalekklesiologie), noch auch sich auf einen Grundbestand an Gemeinsamem im Kirchenverständnis zu verlassen (eine Art Minimalekklesiologie). Weder bloßes Zusammenzählen noch eine Reduktion auf Fundamentales reichen aus. Das Ergebnis auch einer bewußt intendierten ökumenischen Sicht von Kirche ist somit, daß es keine konfessionsneutrale Ekklesiologie gibt. 12

Vgl. zum folgenden W. Härle, Art. Kirche VII. Dogmatisch, in: TRE 18, 1989, S. 277-317.

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(c) Das institutionelle Problem der Kirche ist also, keine lediglich organisatorische Frage. Ist die Kirche Glaubensgemeinschaft und als Gemeinschaft des Glaubens Werk des Heiligen Geistes (vgl. den 3. Glaubensartikel und Luthers Auslegung), dann stellt sich die Frage, ob man den Glauben überhaupt institutionell erfassen und organisieren kann. „Der Geist weht, wo er will." Die Kirche verdankt sich dem lebendigen Wort des Evangeliums. Sie ist „creatura evangelii" (M. Luther) 13 . Wenn die Kirche als Glaubensgemeinschaft jedoch ein Geschehen, „Geistereignis" ist, wäre dann nicht die institutionelle Verfassung einer Kirche bereits als solche eine Verfallserscheinung? Die kirchliche Organisation als theologische Grundfrage wäre dann Zeichen des Geistersatzes, Kirchentum würde zum Geistsubstitut. An dieser Stelle verzahnen sich unverkennbar die semantischen, die konfessionellen und die institutionellen Probleme und Aspekte des Kirchenverständnisses. Die Fragen verschärfen sich noch in dreifacher Hinsicht: Zunächst ist zu fragen, ob die in der Neuzeit, verstärkt im 19. und 20. Jahrhundert zu beobachtende Selbstthematisierung von Kirche nicht als solche bereits Indiz einer Krise des Kirchenverständnisses ist. Erst die Neuzeit arbeitet den Kirchentraktat in der Dogmatik explizit und umfassend aus. In der katholischen Kirche hat sich das I. Vaticanum im Dogma ausgdrücklich und betont mit der Kirche befaßt. Sodann wirft die historisch-kritische Exegese die Frage nach dem Ursprung der Kirche im Neuen Testament auf. Infolge der historisch-kritischen Exegese wurde zweifelhaft, ob Jesus überhaupt eine Kirche stiften wollte. Die Botschaft vom kommenden Reich Gottes wird folgerichtig mit dem Traditions- und Legitimationsanspruch der Kirche konfrontiert. Die neutestamentliche Basis heutiger Ekklesiologie ist insofern exegetisch relativiert und in Frage gestellt. Dazu kommt schließlich der gesellschaftliche und politische Wandel in der Neuzeit. Die Frage nach der Selbstdeutung von Kirche wird nämlich nicht zuletzt dringlich aufgrund der Auflösung des corpus Christianum, der Forderung nach religiöser Neutralität des Staates, der Trennung von Staat und Kirche, der Anerkennung des Individualgrundrechts der Religionsfreiheit. Seit der Französischen Revolution sehen sich die Kirchen aus politischen Gründen zur Selbst13

M. Luther, WA 2,430,6f.; vgl. WA 6,560,36f.; WA 7,721,12f.; 12,191,16ff.; 42,334,12.

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Organisation genötigt. Die Säkularisierung des Glaubens, die Individualisierung der Glaubensüberzeugung, die Achtung der Toleranz haben tiefgreifende und weitreichende Auswirkungen auf das Erscheinungsbild und die Selbstauslegung von Kirche. Ein bloßer Rückgang und Rückgriff auf das neutestamentliche oder reformatorische Erscheinungsbild und die traditionelle Lehre von der Kirche bleiben in dieser Lage unzulänglich. Das institutionelle Kirchentum wird zu einem kontingenten Phänomen und zum Produkt geschichtlicher Entwicklungen und Herkunft. Diese Überlegungen machen es auch in theoretischer Hinsicht unausweichlich, zwischen der Kirche als geglaubter Gemeinschaft im Glauben, der Glaubensgemeinschaft und der verfaßten „sichtbaren" Kirche zu unterscheiden. Deswegen ist ebenfalls zu unterscheiden zwischen der Grundfrage, wie Kirche überhaupt entsteht, dem Konstitutionsproblem von Kirche und den Struktur- und Existenzproblemen erfahrbarer Kirche, oder anders gesagt zwischen der Kirche im Urteil des Glaubens und den beschreibbaren, zu analysierenden Phänomenen des Kircheseins.14 Die Bezeichnung „evangelische Kirche" ist auch aus diesem Grund in den folgenden Ausführungen zunächst einmal im Sinne einer kirchenkundlichen, historischen, konfessionellen Benennung zu verstehen. „Evangelische" Kirche ist phänomenologisch betrachtet zuerst einmal eine empirisch faßbare Größe und Erscheinung. Diese Kirche ist weder mit der unsichtbaren, geglaubten noch mit der wahren Kirche zu identifizieren; die wahre, die geglaubte Kirche ist allerdings auch nicht ihrem Wesen nach völlig unsichtbar. Es wäre sogar ekklesiologischer Nihilismus, würde man die geglaubte Kirche ins Unfaßbare hinein auflösen. Die Kirche als Gemeinschaft des Glaubens hat vielmehr sichtbare Merkmale, notae externae ecclesiae. In den Kennzeichen der Kirche - Evangelium, Taufe, Abendmahl, Gebet, Leiden der Christen, Bezeugung des Evangeliums - wird das Kirchesein leibhaft anschaulich und kenntlich. 15 Die Bestimmung der Kennzeichen des Kircheseins und damit des Auftrags und der Aufgaben, Grundfunktionen der Kirche ist ein theologisches, dogmatisches Thema von großem Gewicht. 14

15

Vgl. hierzu: G. Ebeling, Dogmatik des christlichen Glaubens III, Tübingen 1979, S. 331ff. Vgl. zu den notae ecclesiae: WA 6,301,3; 50,624ff.; 51,479ff.

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3 . Neutestamentliche Gesichtspunkte zur Ekklesiologie Angesichts der Schwierigkeiten einer ausschließlich dogmatischer Definition, Umschreibung und Begründung der Ekklesiologie und der jeweiligen Kontextabhängigkeit kirchlicher Gestaltung legt es sich nahe, als Beurteilungsmaßstab nach dem Kirchenverständnis des Neuen Testaments zu fragen. Diese Orientierung entspricht auch dem evangelischen Prinzip des „sola scriptura". Die neutestamentliche Gemeinde wäre dann Urbild und Maßstab heutigen Kircheseins. Die Orientierung am Schriftprinzip führt freilich auch zu keiner durchgängigen Klärung im Kirchenverständnis und zur Lösung der Schwierigkeiten. Eine einheitliche, ausgearbeitete, explizite Ekklesiologie findet sich nämlich im Neuem Testament noch nicht. Die Kenntnisse der Anfänge der christlichen Gemeinde sind überdies fragmentarisch. Vieles ist und bleibt folglich hypothetisch. Eine Begriffsgeschichte, die am Leitbegriff ekklesia das Kirchenverständnis klären wollte, bringt wenig. Jeder Versuch einer Entwicklungsgeschichte der Urgemeinde, von Jesus bis zum Frühkatholizismus bleibt notwendig Rekonstruktion. Nur im Rahmen einer Geschichte des Urchristentums insgesamt läßt sich außerdem das Kirchenverständnis erörtern. Die Urkirche war eine „Kirche im Werden". Zur Vorgeschichte des neutestamentlichen Kirchenverständnisses gehören zudem alttestamentliche Anschauungen wie Erwählung Israels, Volk Gottes, Bund, aber auch die Selbstdeutung der Synagoge. Jesus selbst hat zweifellos Jünger berufen. Die Selbstbezeichnung Christianer findet sich erstmals in Antiochien (Act. 11,26). Das Neue Testament redet desweiteren in Bildern und Metaphern von der Gemeinde, der „Kirche" Jesu: Gottesvolk, Haus Gottes, Tempel Gottes, Familie Gottes, neues Jerusalem. Bei Paulus und den Deuteropaulinen findet sich die Rede vom „Leib Christi". Bei dieser Redeweise vom „Leib Christi" ist nach wie vor kontrovers, inwieweit sie vom Bild des Organismus des Leibes geprägt ist (1. Kor. 12), oder ob sie spezifisch christologische Beziehungen zum Haupt, Christus ausdrücken soll. Das Bild vom Leib Christi kann auch bloß paränetisch als Appell verstanden und gebraucht werden. Offen ist ferner, in welcher Weise Paulus den Begriff „Leib" religionsgeschichtlich vorgefunden und wie er ihn selbst verändert hat. Man darf daher solche metaphorischen und bildhaften Beschreibungen von Kirche nicht überbewerten, fixieren und auf spätere dogmatische Schemata hin

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auslegen. Den Ursprung der Kirche bildete wohl zunächst die Hausgemeinde. Spätere Fragen der Kirchenverfassung stellen sich noch gar nicht. Die christliche Familie, das antike Oikos mit ihren Angehörigen und Freunden war der Sammelpunkt der Christen. Gerade evangelisches Kirchenverständnis könnte sich dadurch veranlaßt sehen, nach der Bedeutung von christlich gelebter Ehe und Familie in der Gegenwart erneut und vordringlich zu fragen, statt sich mit übergreifenden Kirchenordnungsfragen zeitaufwendig allzusehr zu beschäftigen. Allenfalls Modelle christlichen Zusammenlebens in der Gemeinde lassen sich mithin im Neuen Testament finden. Zwischen den einzelnen Schriften des Neuen Testamentes finden sich zudem erhebliche Unterschiede, sogar Gegensätze: Matthäus nennt die „Kleinen", die Nachfolger Jesu das „Neue Israel". Lukas denkt schon an eine weltweite Kirche, an die Universalkirche. Paulus formuliert eine Leib-Christi-Vorstellung und konzipiert eine Charismenlehre (Rom 12,1. Kor 12). Die johanneischen Schriften stellen hingegen eine ämterlose Gemeinschaft vor; sie sprechen von Jesu Freunden (Joh. 15, 13f) und veranschaulichen sie gleichnishaft anhand des Bildes vom Weinstock und den Reben. Das Kirchenverständnis im Neuen Testament ist bereits pluralistisch. Die Bezeichnungen sind vielfältig und bildhaft. Betont ist die personale Gemeinschaft; es geht um glaubende Menschen, nicht um institutionelle Strukturen und um Kirchenordnungen, die Jahrhunderte, gar Jahrtausende lang Bestand haben sollten. Vieles ist erkennbar situativ und historisch bedingt. Eine institutionelle Verfestigung erfolgt erst ganz allmählich. Zwischen römisch-katholischen und evangelischen Exegeten und Theologen strittig sind nach wie vor das Amtsverständnis und die Entwicklung der Kirchenverfassung. 16 Paulus betont die Charismen aller Christen, Johannes spricht nicht von Ämtern. Im „Frühkatholizismus", bei Lukas und in den Pastoralbriefen, finden sich hingegen Ansätze einer Amtslehre. Die Entstehung des Bischofsamtes, eines monarchischen Episkopats ist nach wie vor nicht abschließend geklärt. Mit einem bloßen exegetischen Nachweis und einer positivistischen Berufung auf die Schrift allein sind die Probleme der

16

Vgl. hierzu: E. Dassmann, Ämter und Dienste in den frühchristlichen Gemeinden, Bonn 1994.

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Ämter und Kirchenordnung folglich nicht zu lösen. So sind die theologischen Grundentscheidungen im Kirchenverständnis nicht mehr allein durch ein „sola scriptura" zu klären und zu begründen. Das neutestamentliche Zeugnis bleibt zwar ein kritisches Korrektiv. Anhand des Reflexionsbegriffs des Leibes Christi ist beispielsweise eine korrigierende Funktion am Kirchengedanken zu veranschaulichen. In der Theologiegeschichte wurde nämlich immer wieder die Kirche ontologisch oder mystisch mit dem Leib Christi identifiziert und ineinsgesetzt. Paränetisch verwendet kann die Metapher „Leib Christi" dagegen in diesem Fall dreierlei symbolisch verdeutlichen: 17 Die Kirche ist Einheit des Lebens mit ihrem Lebensgrund in Christus; sodann veranschaulicht die Metapher die innere Vielgestaltigkeit des Leibes wie die Verschiedenheit der Glieder. Und schließlich soll ein Christ, der Glied Christi ist, zugleich des anderen, des Mitchristen Glied sein (Rom 12,5). Den Hintergrund des Symbols und den Anlaß der Verwendung des Motivs des Bildes geben die konkrete Erfahrung in der korinthischen Gemeinde ab, nämlich Spannungen und Spaltungen. Rückblickend ist also zu konstatieren, daß bereits in den neutestamentlichen Schriften die Auffassung von Kirche vielfältig und sehr unterschieden ist. Dies erklärt unschwer, warum verschiedene Anschauungen von Kirche, durchaus jeweils mit einiger Berechtigung, sich auf das Neue Testament berufen zu können vermeinen und verschiedene Bibelstellen unterschiedliche konfessionelle Traditionen stützen. Matthias Claudius bemerkte, „daß der Rock des Heilandes ungenähet gewesen ist; das Kleid der Kirche aber buntscheckicht" ist. 18 Diese Differenzierungen und Differenzen im Ansatz der Ekklesiologie, die bereits im Neuen Testament angelegt sind, sind auch durch neue ekklesiologische Leitbegriffe wie Communio oder Koinonia und Sakrament nicht aufgehoben und beseitigt. Sie brechen vielmehr, wie die theologische Diskussion zeigt, in diesen Leitbegriffen erneut auf.

17 18

G. Ebeling, Dogmatik des christlichen Glaubens III, S. 342. M. Claudius, Sämtliche Werke, 14. Aufl., Gotha 1907, S. 172. Vgl. den Artikel im Deutschen Pfarrerblatt, Zur volkskirchlichen Situation: „Der Rock des Heilands ist ungenäht, das Kleid der Kirche aber buntscheckig", Deutsches Pfarrerblatt 91, 1991, S. 10-13.

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4 . Die Vielgestaltigkeit von Kirche Vom historischen Anfang der Christenheit an ist also von einem Pluralismus der Erscheinungsformen und Gestalten von Kirche auszugehen. Im Anschluß an Hans Dombois hat Wolfgang Huber vier notwendige Gestalten von Kirche typologisch unterschieden: die Parochie, die Einzelgemeinde; die Initiativgruppen, die Orden; die regionale Partikularkirche, die „Landeskirche"; und schließlich die Universalkirche. 19 In der klasssischen Unterscheidung der altprotestantischen Dogmatik zwischen ecclesia particularis und ecclesia universalis sind schon derartige Differenzierungen angelegt. Die Verabsolutierung einer einzigen Gestalt führt deswegen zur „strukturellen Häresie". Die römisch-katholische Ekklesiologie steht dabei in der Gefahr, die Weltkirche zu verabsolutieren, die evangelische Ekklesiologie hingegen neigt dazu, die Einzelgemeinde, die Parochie zu verabsolutieren und kongregationalistisch zu denken. Statt von Gestalten der Kirche wäre freilich vielleicht besser von vier Perspektiven oder Grundbeziehungen zu sprechen. Kirche entsteht jeweils vor Ort. Sie ist in ihrer Struktur und Verfassung freilich nicht uniform, sondern vielgestaltig und bildet eigengestaltige Dienstgruppen aus. Sie hat mit ihrer Umgebung, der Region, Gemeinschaft zu suchen und zu halten. Überörtliche Kommunikation ist für die Christenheit überlebensnotwendig. Die ökumenische Gemeinschaft schließlich ist nicht zeitlich und räumlich begrenzt. Werden unterschiedliche Gestalten oder Perspektiven von Kirche bedacht und wahrgenommen, dann ist die im Zusammenhang mit dem gesellschaftlichen Pluralismus üblicherweise, aber weithin unergiebig geführte Debatte um die Volkskirche und ihre Zukunft sekundär und relativiert sich. 20 Der Begriff „Volkskirche" ist vermutlich

19

W. Huber, Kirche, 1980, S. 45. H. Dombois, Das Recht der Gnade, Ökumenisches Kirchenrecht II, Bielefeld 1974, S. 35-52: Ekklesia und ekklesiai.

20

Vgl. zur Typisierung von Volkskirche: W. Härle, TRE 18, 306,19ff. Ders., Dogmatik, 1995, 5 9 5 - 5 9 9 . W. Hüffmeier (Hg.), Modell Volkskirche. Kritik und Perspektiven, Bielefeld 1995, hat Texte und Stellungnahmen zur neueren Debatte um die Volkskirche zusammengestellt. Reinhard Neubauer, Auslaufmodell Volkskirche - was kommt danach? Stuttgart 1994, vergleicht die Entstehung der Christengemeinde in der Urkirche mit der Kirche heute und fordert Veränderungen, welche die Volkskirche nicht (mehr) leisten kann.

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von Schleiermacher geprägt worden. Auch der Gegenbegriff „Freikirche" entstand in der englischen Fassung „Free Church" erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Beide Begriffe zielen auf eine Neubestimmung der Stellung und der Aufgaben der Kirche in der Öffentlichkeit. Sie sind also neuzeitlich bedingte Programmformeln. Diese Programmformeln sind freilich schillernd und mehrdeutig. Im Blick auf „Volkskirche" lassen sich mindestens fünf Bedeutungen unterscheiden, die jeweils nur durch ihre Gegenbegriffe näherbestimmt werden: (a) Volkskirche als Kirche des „Kirchenvolkes", der Laien - im Gegenbegriff zur Behördenkirche, „Amtskirche", (b) Kirche des Volkstums, völkische Kirche, Nationalkirche, mit dem Gegenbegriff der übernationalen, ökumenischen Kirche, (c) Volksmissionarische Kirche, die sich besonders an die Entfremdeten, unkirchlich Gewordenen wendet, im Gegensatz zur „Kerngemeinde"; dies war die Zielsetzung der Inneren Mission, vor allem J. H. Wicherns. (d) Kirche des ganzen Volkes, „offene" Kirche. Man wird nach diesem Verständnis in die Kirche sozusagen hineingeboren. Volkskirche ist folglich Nachwuchskirche. Das Kennzeichen dieser Auffassung von Volkskirche ist die Kindertaufe, Gegenbegriff ist die Freiwilligkeitskirche, Kirche persönlicher Entscheidung, (e) Kirche als gesellschaftlich-politisch anerkannte, „öffentliche" Kirche. Gegenbegriff ist Kirche als Schar der von der Welt Geschiedenen, der „Stillen im Lande". Unter diesem Aspekt geht es um die gesellschaftliche Stellung der Kirche und um staatskirchenrechtliche Regelungen. Nicht jeder dieser Volkskirchen-Begriffe ist allerdings theologisch legitim: Eine völkische, sich selbst verabsolutierende Nationalkirche ist beispielsweise erkennbar mit dem ökumenischen Auftrag der Kirche nicht vereinbar. Auch der Begriff „Freikirche" ist keineswegs eindeutig, (a) Freikirche kann einmal die staatsfreie Kirche meinen. So entstand die Bezeichnung „Free Church" in England bei den Methodisten in Abgrenzung gegen die anglikanische Staatskirche, (b) Freikirche kann aber auch besagen: Freiwilligkeitskirche, Kirche der eigenen Entscheidung. Als Gegenbegriff gilt dann die Volkskirche als Kirche der Kindertaufe ohne eigene persönliche Entscheidung, (c) Freikirche kann schließlich bekenntnisfreie Kirche bedeuten. Eine solche „freie" Kirche erhebt dann den Anspruch, sich allein an der Bibel zu orientieren. Gegenbegriff ist dann Bekenntniskirche, Konfessionskirche. Diese letzte Auffassung von Freikirche ist jedoch theologisch zu

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problematisieren, weil und sofern sie sich hermeneutisch unreflektiert unmittelbar auf die Bibel beruft und die geschichtlichen Verstehensbedingungen nicht in Blick nimmt. Im Begriff der Freikirche sind folgende Aspekte wichtig: die Kirchenzugehörigkeit aufgrund persönlicher Entscheidung und die Verpflichtung zu aktiver Beteiligung; Distanz zum Staat und Zurückhaltung gegenüber gesellschaftlicher und öffentlicher Einmischung. Aspekte der Volkskirche sind hingegen: Zugehörigkeit zur Kirche als Normalfall, bekundet durch die Praxis der Kindertaufe; Öffentlichkeitsanspruch und Beteiligung an staatlichen und gesellschaftlichen Angelegenheiten; innerkirchlicher Pluralismus. Die Wahl zwischen Volkskirche und Freikirche ist dann, näher besehen, keine Glaubensfrage. Volkskirche und Freikirche sind auch nicht ausschließlich theologisch zu begreifende Leitbegriffe. Geschichtliche Erfahrungen, gesellschaftliche und soziale Gründe, kurzum: kontextuelle Einflüsse und Rahmenbedingungen sind vielmehr mit zu beachten und zu bedenken. Beide Kirchentypen haben zwar unverkennbar je ihr soziologisch beschreibbares Profil und setzen unterschiedliche Akzente; eine echte theologische Alternative stellen sie nicht dar. Anhand der beiden Kirchentypen Volkskirche und Freikirche wird deutlich, daß und warum die Gestalt von Kirche gerade nicht zeitlos und ungeschichtlich zu begreifen und darzustellen ist. An den Erscheinungsformen von Staatskirche und Landeskirche, an der sehr verschiedenartigen Regelung der Beziehungen zwischen Kirche und Staat, an der geistes- und kulturgeschichtlichen Vielfalt der Volkskirchenidee ist dies ebenfalls zu belegen. Die Geschichtlichkeit und Kontextbezogenheit der sichtbaren, empirischen Kirche ist allenthalben mit Händen zu greifen. Diese Einsicht ist eingehender und deutlicher zu entfalten an Explikationen des Verständnisses kirchlichen Rechts, anhand der Geschichte des Kirchenrechts, das in seiner Konkretion nach evangelischem Verständnis, menschliches Recht, ius humanum, auf das Evangelium antwortendes Recht ist. Fragen der Zweckmäßigkeit und Praktikabilität sind darum ebenfalls wichtig und oft ausschlaggebend für die Rechtsbildung. Das Kirchenamt als öffentliches Amt wird ferner nach evangelischer Sicht funktional vom Amtsauftrag her begründet, und es kennt keinen Wesensunterschied von Klerus und Laien. Im Blick auf das Amtsverständnis ist zudem zu berücksichtigen, daß Struktur- und Legitimationsfragen immer auch Machtfragen sind. Für evangelische Theologie gibt es in

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der Kirche im Grunde sogar nur ein einziges Amt, das Amt Jesu Christi. An der Bezeugung dieses Amtes sind alle Gläubigen beteiligt. Nach evangelischer Auffassung ist folglich die Grundlage aller kirchlichen Gestaltung das Allgemeine Priestertum aller Glaubenden. 21 Eine Hierarchie iure divino kennt evangelische Ekklesiologie nicht, wohl aber eine Übertragung von Befugnissen, Zuständigkeiten und Kompetenzen zur Wahrnehmung eines Auftrags an einzelne geeignete Personen, an „Amtsträger". Die besondere Verpflichtung ergibt sich aus dem Auftrag. Die Kirchenmitgliedschaft, die Zugehörigkeit zu einer besonderen Kirche, ist ebenfalls für den ersten Blick eine Frage menschlicher Regelungen. Die Kirchenmitgliedschaft ist jedoch von der Kirchengliedschaft zu unterscheiden, die mit der Taufe erworben wird und aus der die geistliche Zugehörigkeit zu der einen Kirche folgt. Aus einem konkreten Kirchentum kann man nämlich austreten und damit auf die Kirchenmitgliedschaft auch wieder verzichten. Das staatliche Recht garantiert deswegen einer freiheitlichen Gesellschaft die Möglichkeit des Kirchenaustritts und sichert damit den Einzelnen davor, daß er nicht gegen seinen Willen zwangsweise in einer Glaubensgemeinschaft festgehalten wird. Ob man aus dem „Leib Christi" austreten kann, ist allerdings eine andere Frage. Kirchliche Aufsichtsämter, Kirchenleitung und Kirchenregiment haben nach evangelischer Auffassung eine dienende, eine dienstleistende Funktion und sind nach Kriterien der Zweckmäßigkeit und Funktionalität zu bemessen. Die Bewertung der äußeren Gestalt der evangelischen Kirche als Folge geschichtlichen Erbes, historischer Einsichten und Einflüsse und soziologisch aufweisbarer Bedingungen setzt außerdem sogar immer wieder Impulse und Bestrebungen zu Kirchenreform und zu neuer Gestaltung frei. Solche geschichtliche und kontextuelle Betrachtung der empirischen Kirche spricht gegen einen „morphologischen Fundamentalismus" und begründet Änderungen kirchlicher Strukturen, Lebensformen und Verhaltensweisen. In welcher Richtung Veränderungen erfolgen sollen ist und bleibt freilich gerade im binnenkirchlichen Pluralismus strittig. Traditionalistische Positionen, die an einer Rechristianisierung der Gesellschaft ausgerichtet sind, oder avantgardistische,

21

Vgl. dazu H.-M. Barth, Einander Priester sein. Allgemeines Priestertum in ökumenischer Perspektive, Göttingen 1990.

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welche eine „Konversion zur Welt" fordern, oder progressive, welche die Reform der Kirche als Hebel der Gesellschaftsveränderung nutzen wollen und die Kirche zur „Vorhut des Lebens" (Helmut Gollwitzer) machen wollen und schließlich liberale Positionen, die innerkirchlichen Pluralismus und Kulturverantwortung fordern, konkurrieren mit- und gegeneinander.

5. Kirche im Pluralismus Mit der Konkurrenz unterschiedlicher Anschauung von Aufgaben und Zukunft der Kirche ist das Thema und Stichwort Pluralismus angesprochen. 22 Die verschiedenen Ansätze zur Kirchenreform veranschaulichen nämlich ein pluralistisches Bezugssystem, in dem sich evangelische Kirche heute vorfindet. Diese Ortsbestimmung im Pluralismus ist ein Spannungsfeld. Ein Spannungsfeld ist ein Bereich mit unterschiedlichen, gegensätzlichen Kräften, die aufeinander einwirken, sich gegenseitig beeinflussen und auf diese Weise einen Zustand hervorrufen, der mit Spannung aufgeladen zu sein scheint. Auf die evangelische Kirche wirken zunächst einmal pluralistische Kräfte von außen herein. Die Weltpolitik ist polyzentrisch. Kulturelle Vielfalt und interkultureller Austausch wurden zum Zeichen der modernen Welt. Die Idee eines Weltstaates, einer Weltkultur, einer einheitlichen Welt hat sich freilich als Illusion erwiesen. Die konkrete historische und regionale Eigenart einer Gesellschaft und Kultur läßt sich nur zwangsweise unterdrücken. Multikulturalität ist auch eine Folge der Globalisierung. Die Globalisierung der Wirtschaft, des Geldmarktes, der Arbeitsplätze führen zu kulturellem Austausch. Wanderungsbewegungen haben kulturelle, ethnische und religiöse Vielfalt zur Folge. Man muß

22

M. Welker, Kirche im Pluralismus, Gütersloh 1995 befaßt sich ebenfalls mit dem Phänomen des Pluralismus. Welker vergleicht den schöpferischen Pluralismus, den der Geist Gottes bewirkt, und den Leib Christi mit multikultureller Vielfalt und pluralistischer Vielgestaltigkeit heute. Im Unterschied zu Welker appliziere ich nicht zentrale Glaubensaussagen - Geist Gottes, Verheißung biblischer Gerechtigkeit, Leib Christi, Versöhnung - und biblische Sätze auf das gegenwärtige Phänomen des Pluralismus, sondern will dieses zunächst deskriptiv erfassen. Der ekklesiologische Ausgangspunkt ist daher ein anderer.

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freilich zwischen Multikulturalismus als deskriptiver Kategorie und als politischem Programm klar unterscheiden. Folgt aus der Globalisierung der Wirtschaft auch eine Globalisierung, eine Vereinheitlichung der Kultur, oder ist nicht kulturelle und religiöse Vielfalt der Normalfall? Multikulturalismus ist nicht der Normalfall. Erforderlich sind angesichts kultureller Vielfalt jedoch ein interkultureller Dialog und die Bereitschaft, mit unterschiedlichen kulturellen und religiösen Lebensweisen zusammenzuleben, sie zu tolerieren. Auch in den Kirchen als Organisationen ist gesellschaftlicher, sozialer und kultureller Pluralismus Folge und Auswirkung einer freiheitlichen Gesellschaftsordnung. Denn wenn die Grundfreiheiten der Person und das Recht auf Selbstgestaltung des Individuums respektiert werden, wird die Welt unvermeidlich bunt. Pluralismus der Weltanschauungen und Lebensweisen ist der unvermeidliche Preis der Freiheit. Die Alternative zum Pluralismus, zur Artikulation unterschiedlicher Überzeugungen, Interessen und sozialer Beziehungen sind sozialwissenschaftlich gesehen Kollektivismus und Individualismus. Ein uniformierender Universalismus, der den Einzelnen dem Kollektiv anpassen will, ist nur mithilfe totalitärer Maßnahmen möglich. Eine rein individualistische Sicht löst hingegen die Gesellschaft in isolierte Atome auf. Pluralismus heißt daher zugleich: Kommunitarismus, die Anerkennung verschiedener Gemeinschaften, verschiedener kommunitärer Lebensformen. Pluralismus ist, so gesehen, eine faktisch vorgegebene Lebensweise, ein Zustand; er ist keine bloße Idee, erst recht freilich kein Ideal, nicht einmal Norm, sondern zunächst einmal deskriptiv zu verstehen, Feststellung. Eine freiheitliche, offene Gesellschaft wird notwendig in sich pluralistisch. Eberhard Jüngel hat zutreffend „Kirche im Pluralismus" als Gegenbegriff zur „Kirche im Sozialismus" geprägt,23 weil Pluralismus dem Definitionsmonopol einer Partei oder der Staatsmacht widerspricht und entsagt und darum auch die Kirche deswegen eine gewisse Affinität zum politischen Pluralismus hat und haben muß. Die Herstellung der inneren Homogenität einer Gesellschaft ist kein Auftrag der Kirche. Die Wirkungen, welche die kulturelle, gesellschaftliche und politische Pluralität ausübt, sind im Gegenteil 23

E. Jüngel, Kirche im Sozialismus - Kirche im Pluralismus. Theologische Rückblicke und Ausblicke, hg. vom Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft, Essen 1992, S. 16-57.

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innerkirchlich zu verarbeiten und zu bedenken. Zu den Einflüssen und Auswirkungen von außen kommt nun noch eine innere Pluralisierung der Kirche hinzu. Die äußere Pluralität kann man als bloße Folgen der Kontextualität von Kirchen deuten, historisieren und in Anpassungsprozessen aufarbeiten. Viel tiefer reicht die Pluralisierung von innen heraus. Theologischer Pluralismus, konfessionelle Vielfalt und binnenkirchliche Unterschiede im Glaubensverständnis haben keineswegs lediglich äußere Ursachen. Auch sie sind freilich innerkirchlich und theologisch zu reflektieren und anzuerkennen, sofern man als evangelischer Christ um die Freiheit und Freiwilligkeit des Glaubens weiß und unterschiedliche Glaubensvorstellungen darum achtet. Hier liegt theologisch der Kern und das Zentralproblem der Pluralismusthematik. Die Christenheit findet sich vor in einem Spannungsfeld zwischen individueller Glaubensüberzeugung und der Autorität der Glaubensüberlieferung, zwischen persönlicher individueller Aneignung in Gewissen und Bekenntnis einerseits, kirchlicher Lehre andererseits, oder programmatisch formuliert, in der Spannung zwischen Freiheit und Wahrheit. Zwar kann Wahrheit stets nur in Freiheit erkannt und angenommen werden. Aber garantiert Freiheit bereits die Suche und die Entdeckung von Wahrheit, oder kann Freiheit, verstanden als Willkürfreiheit, Wahrheit nicht geradezu gefährden und zerstören? So erweist sich die Wahrheitsfrage als Testfall des Pluralismus.

6. Ausblick auf künftige Herausforderungen Einige abschließende Bemerkungen sollen den Ausblick auf das Spannungsfeld des Pluralismus noch vervollständigen. (a) Vielfalt nötigt zu Auswahl, zu eigener Entscheidung. Der Pluralismus bringt damit für den Einzelnen zwar einerseits Befreiung, aber auch ebenso Belastungen mit sich. Befreiend erfahren werden kann die Emanzipation von Traditionen, die als Last der vergangenen Geschlechter auf den gegenwärtig Lebenden liegt. Pluralismus eröffnet also Chancen der Freiheit und der Selbstbestimmung. Zugleich ist diese Freiheit freilich mit Risiken verbunden und belastet. Leben im Pluralismus kann verunsichern. Es entstehen Orientierungsschwierigkeiten. Der Rückgriff auf Tradition, auf überlieferte Lebens- und Weltdeutung wird zweifelhaft. Eine traditional

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geprägte Gesellschaft erleichtert mit ihren überkommenen Überzeugungen und Regeln Verhalten und Weltorientierung. Auf das Angebot und die Wirklichkeit des faktisch bestehenden Pluralismus sind zwei extreme Reaktionen und Verhaltensweisen möglich, die fundamentalistische Selbstabschließung und die konsequente relativistische Selbstauflösung. Fundamentalismus meint eine Weltanschauung, die kompromißlos religiöse oder quasireligiöse Prinzipien („ fundam e n t a l " ) mitsamt deren Anwendung auf das gesellschaftliche und politische Leben vertritt, zugleich eine kritische Prüfung der Prinzipien und ihrer gesellschaftlichen und politischen Implikationen a priori ablehnt und verbietet. Dieser eingeschränkte Begriff von Fundamentalismus bezieht sich auf eine bestimmte umschreibbare, religiöse oder ideologische Einstellung, die sich Kritik prinzipiell entzieht und politisch-gesellschaftliche Parteilichkeit impliziert. Mit der Bezeichnung „fundamentalistisch" sollte man deswegen nicht bereits jede Berufung auf fundamentale Überzeugungen, etwa das Bekenntnis zu einem Glauben oder das Einstehen für einen Standpunkt bezeichnen, sondern nur eine bestimmte Art und Weise des Eintretens für „fundamentals", Grundüberzeugungen. Gegenbegriff zu Fundamentalismus ist ein prinzipieller Relativismus, für den alle „letzten" Überzeugungen gleich gültig und gleichgültig sind. Glaube, Lebensorientierung und Kultur werden durchgängig relativiert, beliebig. Man könnte solche Beliebigkeit auch religiösen oder moralischen Nihilismus nennen. Eine bewußte Auseinandersetzung mit Fundamentalismus und absolutem Relativismus läßt erst Bedeutung und Grenzen des Pluralismus erkennen. Auch Pluralismus kann nicht absolut und unbegrenzt sein, wenngleich die Grenzen unter Umständen sehr weitgesteckt sind. (b) Verschärft werden die Probleme des Glaubens- und Lehrpluralismus, wenn man Johannes Fischer in seiner Analyse folgt und fragt, ob in einer „Volkskirche" Lehreinheit überhaupt noch die Grundlage von Gemeinschaft in der Kirche sein kann. 2 4 Unter den Kirchenmitgliedern besteht im Blick auf Lehrstücke wie Schöpfungsglaube, Zukunftsvorstellung, die Einschätzung der Heilsbedeutung Jesu, des Sühnetodes oder der Auferstehung Jesu kein Konsens mehr. 24

]. Fischer, Pluralismus, Wahrheit und die Krise der Dogmatik, ZThK 71, 1994, S. 4 8 7 - 5 3 9 .

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Die offizielle Dogmatik ist faktisch getrennt von der in einer Kirche anzutreffenden Glaubensvielfalt. 25 Die Wahrheitsfrage kann ferner nicht mehr aufgrund einer allgemeingültigen theologischen Theorie gelöst und entschieden werden. Es gibt keine allgemein anerkennungsfähige Vernunft der Religion. Die Logik des Glaubens stiftet - gegen Wolfhart Pannenbergs Annahme - nicht mehr eindeutige Gemeinsamkeit. 26 Die Verpflichtung auf eine „Normaldogmatik" ist angesichts des theologischen und glaubenspraktischen Pluralismus ebenfalls nicht mehr möglich. Die Verbindlichkeit von Lehraussagen schwindet. Glaubenskommunikation, Intersubjektivität wird nicht mehr vornehmlich durch Lehre repräsentiert, vielmehr verbindet Spiritualität, Gemeinsamkeit in Lied, Gebet, Liturgie, Feier dennoch, trotz eines Dissenses in Glaubensvorstellungen. Kommunikation im Geist ist deshalb etwas anderes als bloße reflexive Übereinstimmung in der Wirklichkeitssicht und Lehre. Zwischen reflexiver, formulierter und kommunikativer Vergegenwärtigung des Glaubens ist zu unterscheiden. Gemeinschaft in einem Pluralismus der Anschauungen und Deutungen relativiert den Stellenwert von Dogmatik, der kognitiven Ausarbeitung des Glaubens. Die Folgen für den Stellenwert kirchlicher Lehre und die Dogmatik, die in eine Krise geraten sind, sind weitreichend. Die Gefahr eines Dualismus von Glaube, Spiritualität, persönlicher Erfahrung, Gefühl auf der einen Seite, Vernunft und Einsicht auf der anderen Seite besteht zweifellos. Dieser Dualismus ist gleichwohl Faktum. Eine radikale Konsequenz wäre, die Unfähigkeit, den Glauben überhaupt noch sprachlich artikulieren zu können, ausdrücklich zum Programm zu erheben, mit der Folge einer Auflösung des Glaubens in Säkularität und damit der Unmöglichkeit Christsein artikulieren und identifizieren zu können. Diese Konsequenz droht zwar, ist aber nicht unausweichlich. Deutlich ist jedoch, daß der Pluralismus die Ekklesiologie

25

26

Eine Differenzierung zwischen Dogmatismus als Kennzeichen einer vorurteilsverhafteten, pedantischen, schulgebundenen Philosophie (oder Theologie) und Dogmatik, im Sinne einer systematisch überlegten Rechenschaft über den christlichen Glauben, wäre erforderlich und nützlich. Denn in der Umgangssprache nennt man oft den Vertreter einer starren Lehrmeinung einen „Dogmatiker". Vgl. dazu kritisch: E. Jüngel, Nihil divinitatis, ubi non fides. Ist christliche Dogmatik in rein theoretischer Perspektive möglich? Bemerkungen zu einem theologischen Entwurf von Rang, ZThK 86, 1989, S. 204-235.

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tiefgreifend umgestaltet. Vordringlicher als Strukturfragen, Verfassungsprobleme, Rechtsordnung wird nämlich die Kommunikation im Geist, die Verständigung im Geist. Schleiermacher interpretierte den Heiligen Geist als Gemeingeist der christlichen Kirche. Die Pneumatologie wird heute wieder zum Schlüsselthema und erhält Vorrang. Die Einheit der Kirche ist zudem nicht durch eine Einheit in Ämtern, Ordnungen, rechtlichen Regelungen, durch eine Organisationsstruktur zu sichern. Der Pluralismus ist nicht mehr rückgängig zu machen. Diese Erkenntnis relativiert daher auch die Bedeutung differenziert ausformulierter Konvergenzerklärungen und Lehrübereinstimmungen für die ökumenische Verständigung. Der theologische Pluralismus fordert durchaus zu Revisionen im Verständnis von Lehre, konfessioneller Tradition und theologischen und kirchlichen Exklusivitätsansprüchen heraus. Die durch den gesellschaftlichen Pluralismus ausgelöste und im theologischen Pluralismus sich manifestierende „Krise der Dogmatik" enthält nicht bloß eine Infragestellung der herkömmlichen Vorstellungen von kirchlicher Einheit, sondern eröffnet zugleich Chancen ökumenischer Verständigung. (c) Mit Klagen über Unkirchlichkeit der evangelischen Christen, die bereits eine Tradition haben - Karl Gottlieb Bretschneider, Über die Unkirchlichkeit dieser Zeit im protestantischen Deutschlande. Den Gebildeten der protestantischen Kirche gewidmet, Gotha 1820, 2. Aufl. 1822, erörterte schon ausführlich dieses Thema -,ist es nicht getan. Gewiß sind Kirchenaustritte als Entfremdung von der Kirche ernst zu nehmen und sorgfältig zu analysieren. Die Entkirchlichung ist eine Anfrage an kirchliches Handeln. Den Gründen im Einzelnen nachzugehen ist Aufgabe von Kirchensoziologie und empirischer Analyse. Äußere, gesellschaftliche Ursachen sind zu untersuchen. Aber die inneren Gründe der Abkehr von der Kirche sind doch wohl gewichtiger. Dabei spielen sicher immer wieder auch Führungsfehler und Mißgriffe von Kirchenleitungen, Synoden und Einzelpersönlichkeiten eine Rolle. Aber oft ist solches Fehlverhalten nur Ausdruck von mangelnder Urteilsfähigkeit und fehlender Wirklichkeitserfahrung. Die These von der Säkularität der modernen Lebenswelt ist überdies nur begrenzt zutreffend und klärend. Säkularisierung ist und bleibt ein zutiefst ambivalentes Wort. Es gibt nämlich sowohl eine, gerade vom evangelischen Glaubensverständnis her gesehen, legitime Respektierung der Weltlichkeit von Politik, Wirtschaft,

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Wissenschaft, der Eigenständigkeit der irdischen Wirklichkeit als auch ebenso und manchmal gleichzeitig eine fragwürdige säkulare Überfremdung von Glaube und Religion, welche die Zwangsäkularisierung als Waffe der Religionskritik nutzt. Eine pluralistische Gesellschaft und ein freiheitlicher Staat sind in dieser unübersichtlichen Situation der Säkularität auf die Anerkennung der Menschenrechte und der Würde jedes Menschen gegründet, nicht auf Religion und Glaubensüberzeugungen. Gerade im Umgang mit einer säkularen Gesellschaft und einer religiös neutralen Politik, also im Pluralismus ist deshalb theologisches Urteilsvermögen unerläßlich. Dieses Urteilsvermögen hat sich zudem in der Fähigkeit zur Kommunikation, in der Bereitschaft zum interkulturellen, interreligiösen und interkonfessionellen Dialog, im Argumentationsvermögen zu bewähren. Achtung des Andersglaubenden, Offenheit und Toleranz sind gefordert. Denn eine Rekonfessionalisierung und Redogmatisierung kirchlichen Selbstverständnisses muß in der pluralistischen Gesellschaft nicht nur in ein Ghetto des Sektierertums führen, sondern wird immer wieder aufgrund ihrer inneren Widersprüche in Krisen geraten. Pluralismus ist die Folge eines geschichtlichen Prozesses, dem sich die evangelische Christenheit nicht entziehen kann und dem sie in ihren eigenen Verhaltens- und Verfahrensweisen Rechnung tragen muß. Das Ergebnis von Prozessen, zumal von Lebensprozessen, ist jedoch offen. Aber gerade solche Offenheit bringt nicht nur Ungewißheit und Risiken im Blick auf die Zukunft, sondern ebenso auch neue Chancen und Verheißungen mit sich. Allein mit Statistiken, mit der Hochrechnung gegenwärtiger Trends und mit Prognosen ist die Zukunft allerdings so wenig zu gestalten wie mit apokalyptischen Horrorszenarien. Es bedarf dazu vielmehr einer gemeinsamen Zukunftsvorstellung, einer Leitidee, welche evangelische Christen zusammenführt und beieinander hält. Ohne eine gemeinsame Vision des Auftrags der evangelischen Christenheit wird diese im Spannungsfeld zwischen Relativismus und Fundamentalismus zerrieben werden und sich verlieren. Wenn Kirche jedoch nach evangelischer Glaubensüberzeugung Geschöpf, Kreatur des Evangeliums ist, dann wird es letztlich darauf ankommen, der Wirksamkeit, Kraft und Macht des Evangeliums zu vertrauen und in ihr nüchtern, vorurteilsfrei, sachlich in der Hoffnung des Glaubens gemeinsam einen Weg der Christenheit in einer pluralistischen Gesellschaft zu suchen und zu gehen.

Sachregister Abendland 249, 259 Abschreckung 302, 311 Allgemeines Priestertum 332 Amt, kirchliches 11, 347, 351 Analogia fidei 76 Anarchie 89, 180 Anthropologie 191, 295f. Arme, Option für die Armen 214 Armut 324 Atheismus 109, 111 Aufklärung 235, 344 Autonomie, autonome Moral 274, 287 Barmer Theologische Erklärung 17, 26ff., 66, 94, 100f., 141, 170, 185, 307 Baseler Erklärung 261 Bauernkrieg 203, 210 Befreiungstheologie 159, 214 Bekenntnis 35 Bergpredigt 109, 269 Beruf, weltlicher 124, 169, 333 Bürgerinitiative 334 Bürgertum 227 Buße 146 Charisma 347 Chiliasmus 210 Christenheit 2 Christentum, Wesen des 3 Christologie, christologische Begründung 73 Communio 336ff. Confessio Augustana 24f., 201 Confessio Scotica 41, 43 Darmstädter Wort 131f., 188 Demokratie 28f., 67, 78, 121, 123f., 196, 233, 249, 255, 282

Demokratie-Denkschrift (1985) 28ff., 123f. Denkschriften-Denkschrift (1970) 49ff. Diakonie 36, 39, 57, 334 Dialog 50 Doketismus 23 Donum vitae, Instruktion 272, 289 Doppelmoral 87 Dreiständelehre 88 Egoismus 296 Eid 109, 121 Eigentum 177 Ekklesiologie 8 Entchristlichung 233 Entfremdung 184 Entkirchlichung 4, 358 Epikie 88 Erbsünde 130 Erhaltungsordnung 71 Erkenntnistheorie 267 Erlösungsvorstellung 159 Ermessensentscheidung 52 Eschatologie 44, 63f., 80, 182, 199 Ethnogenese 151 Ethos des Bürgers 92 Eucharistie 38 Europa 247ff. Evangelium 37 Fortschritt 9, 244 Französiche Revolution 139, 215, 233ff. Frau 239 Freiheit 28, 54, 100, 111, 119f., 211ff., 220 Freikirche 350 Friedens-Denkschrift (1981) 309 Friedensethik 308

362

Sachregister

Friedenskirchen 313 Führer, Führertum 146, 162 Fundamentalentscheidung 89, 113, 270, 317 Fundamentalismus 102, 335, 356 Fürbitte siehe Gebet für die Obrigkeit Fürsorge Gottes 146 Gebet für die Obrigkeit 35, 45, 52, 100, 259f. Geborgenheit 231 Gemeinde 2 Gemeinschaft 338 Gerechtigkeit 54, 88, 174 (kollektive) Gericht 211 Geschichte, Geschichtsdeutung 147, 151, 162, 173ff., 184, 191f., 208, 21 lf., 220, 224, 247 Gesellschaftdiakonie 39 Gesetz und Evangelium 113, 120, 269, 281 Gewalt, Gewaltstaat 65, 84, 128, 183 Gewaltenteilung 30, 93, 124 Gewaltfreiheit 82, 109, 311 Gewissen 52, 94, 119f., 124, 144, 241, 273, 277 Gewissens- und Glaubensfreiheit 16, 102, 105, 112, 202, 253, 305 Glaube 22, 118f., 200 Glaube und Politik 13, 17, 33, 49, 59, 118, 208f. Glaubensgemeinschaft 22, 339 Gleichheit 113, 194, 231 Globalisierung 196, 314, 323, 353 Gnade 269, 271 Gottebenbildlichkeit 113 Gottlosigkeit 109 Grundfreiheiten 202 Grundoption 277 Güter 290 Haftung 134 Handeln 135 Handlung, in sich schlechte Handlung, sittliche 278 Häresie, ethische 269 Hausgemeinde 346 Heidelberger Thesen 309

297

Heilig, Heiligung 163 Heimat 167, 329 Hierarchie 352 Hoffnung 220 Humanae vitae, Enzyklika 285, 289f., 291 Identität 150, 157, 167 Ideologie 93, 139, 181 Individuum, Individualismus 127, 176 Industrialisierung 177 Institution 92, 143 Integration 332 Interaktion 145 Invocatio dei 101, 121 Islam 108 Judentum

272, 275,

12,

108, 239

Kairos 184 Katholizismus 5, 241 Kirche für andere 142 Kirche im Sozialismus 18, 178ff., 189ff., 354 Kirche und Staat siehe Staat und Kirche Kirche und Volk 170 Kirche und Welt 49 Kirche, Kirchenbegriff 11, 23, 42, 140, 203, 212, 342f. Kirchenaustritt 3, 115, 358 Kirchenkampf 26, 61, 66, 81, 110 Kirchenleitung 141 Kirchenmitgliedschaft 115, 352 Kirchenpolitik 55f. Kirchenregiment 6 Kirchenverfassung 141, 339 Kirchen Verwaltung 141 Kirchlichkeit 10, 115 Klassenkampf 83, 178, 184, 204, 210, 228 Koinonia 336ff. Kollektiv 127 kollektives Gedächtnis 152 Kollektivschuld 128 Kommunikation 331 Kommunitarismus 354 Kompetenz 143

Sachregister Kompromiß 119 Konferenz Europäischer Kirchen (KEK) 252 Konfessionsstatistik 250ff. Königsherrschaft Christi 47, 67, 75, 85, 89 Konsens 110, 111 (Grundkonsens), 119, 242 Konservativismus 224, 236 Kontext, Kontextualität 22 Konzil 140 Konziliarer Prozeß 260 Korruption 137 Krieg 64, 139, 308 Kriegsdienstverweigerung 310 Kultur 245, 262, 316 Kulturnation 139, 154 Kulturreligion 117 Kulturverantwortung 316 Landesherrliches Kirchenregiment 26, 61, 304 Landeskirche 252, 306, 349 Legende, historische 215f. Legitimation 50, 91 Lehramt, kirchliches 273, 277 Lehramt, politisches 13 Leib Christi 346 Liberalismus 226 Liebesgebot 114 Loyalität 36 Macht 14f., 59, 78, 89, 104, 315 Mandat 24, 72, 100 Marktwirtschaft 136, 195, 255 Märtyrer 15, 54, 233, 240, 270 Marxismus 180, 204 Menschenrechte 54, 81,120,169,187, 193, 221, 232, 235, 238, 316 Menschenwürde 30, 120, 150, 178 Metapher, historische 217, 224 Militärseelsorge 301ff. Minderheitenschutz 170 Modernisierung 8, 229, 253 Moraltheologie 271, 273, 287 Mystik 11, 208, 212 Nation, Nationalismus 63, 69, 137f., 149ff., 185, 243, 257

363

Nationalkirchen 140 Nationalprotestantismus 149 Natur 287ff., 332 Natur und Gnade 267 Naturalismus 291 Naturrecht 59, 70, 77, 87, 112, 175, 275, 285ff. Neutralität, weltanschauliche 102 Notae ecclesiae 46, 345f. Obrigkeit 60, 213, 238 Offenbarung 102, 115 Öffentlichkeit, Öffentlichkeitsauftrag der Kirche 41, 68, 75, 218, 350 Ökologie 196, 323 Ökumene 40, 171, 343 Ordnungstheologie 68 Papst 40, 337 Paränese 80 Parochie 334, 349 Parteilichkeit 85 Partizipation 93, 332 Patriotismus 150, 158 Pazifismus 308 Person 145, 178, 297 Person und Handlung 277 Person und Werk 113 Planwirtschaft 174, 193 Pluralismus 10, 110, 119, 197, 243, 263, 266, 282, 313, 334, 353 Polis 295 Politik und Glaube siehe Glaube und Politik Politische Predigt 37, 41, 246 Politische Theologie 48, 67, 80, 91, 94, 116 Politischer Gottesdienst 41 Präambel 103 Predigt 36 Privatisierung 324 Prophetie, prophetisches Mandat 44f., 316 Protestantismus 241, 245 Quietismus

213, 221

Rasse 170 Rechtfertigung

262

364

Sachregister

Rechtsstaat 65, 75, 94, 123, 187, 191, 239, 255 Reformation 237 Reich Gottes 83, 87, 199ff., 327f., 344f. Reichskonkordat 305 Relativismus 270, 335, 356 Religion 107, 115 Religionsfreiheit 231, 235, 240 Religionskritik 6 Religionsunterricht 39, 55, 302 Religiöser Sozialismus 65, 182 Religiosität 117 Restauration 237 Revisionismus 180 Revolution 66, 81, 83, 208 Revolution, frühbürgerliche 216 Sachzwang 129 Sakralisierung 7 Sakramente 25, 38 Säkularisierung 10, 121f., 132, 158, 251, 270, 326 Schmalkaldische Artikel 342 Schöpfung 64, 298 Schöpfungsordnung 161, 166 Schriftgemäßheit, Schriftprinzip 53, 346ff. Schuld 127ff., 263 Schuldbekenntnis 131, 145 Sekte 11 Situationsethik 282 Sklaverei 239 Solidarität 131, 176, 195 Sozialismus 82, 175ff., 227 Soziallehre, katholische 87, 177 Sozialpflichtigkeit 195 Sozialstaat 57, 254 Sozialstrukturen 143 Sozialverträglichkeit 255 Spiritualität 357 Sprache 165 Staat 59ff. Staat in der Bibel 31, 34, 61 Staat und Kirche 13, 27, 53, 61, 63, 121, 237, 307, 344 Staat, christlicher 61f., 236 Staatsamt, kirchliches 306 Staatskirche 26

Staatskirchenrecht 56f., 61, 302f. Staatsnation 154 Stadt 320ff. Stadtethik 330 Stuttgarter Schulderklärung 132 Subsidiarität 39, 57, 340 Sünde 128f., 278, 298 Synode, europäische 261 ff. Taufe 38 Technik 326 Teleologie 278, 285 Terror, Terrorismus 226, 228, 235, 242 Theokratie 93, 108 Theologie und Politik 96, siehe Glaube und Politik Theologie, urbane 238 Theologiestudium 7 Toleranz 9, 16, 112, 253, 345, 359 Totalitarismus, totalitärer Staat 17, 54, 67, 70, 73f., 78, 89, 173, 179, 181, 187, 243, 282 Traditionalismus 231 Trinität 93 Triumphalismus 23 Tugend 242 Tugenden, politische 79 Unfehlbarkeit 280 Unkirchlichkeit 358 Unternehmen, Unternehmensethik 135f. Unterweisung, kirchliche 39 Utopie 82f., 173, 178, 258 Vateramt 142 Verantwortung 127ff. Verborgenheit Gottes 91 Verfassung 92, 101 Verfassungspatriotismus 156, 170 Vergebung 134 Verkehr 323 Verkirchlichung 6 Verkündigung, Verkündigungsauftrag 50, 104 Vernunft 92, 157, 279, 292ff., 297, 357 Verstädterung 319

Sachregister

365

Vertrauen 142 Volk Gottes 167 Volk, Volkstum 70, 153, 159, 161, 170, 185 Volkskirche 252, 313, 349ff. Volksmission 334, 350 Volkssouveränität 83 Volkssprache 155 Vorsehung 146

Welt und Glaube 32, 85 Weltanschauungsstaat 17 Weltfrömmigkeit 125, 237 Wertewandel 123, 288, 319f. Wesen des Christentums 3 Widerstand 16, 43, 55, 81, 129, 144 Willensfreiheit 267 Wirtschaftssystem 193

Wächteramt der Kirche 68 Wahrheit, Wahrheitsordung, Wahrheit und Freiheit 55, 108, 265ff., 281, 357

Zeugung 293 Zivilreligion 114f., 116 Zweireichelehre 25, 47ff., 85, 112, 208f., 299

Personenregister Adenauer, K. 186 Albrecht, Graf v. Mansfeld 215 Alt, F. 109 Althaus, P. 69f., 161f. Arendt, H. 223 Aristoteles 111, 293, 295ff. Arndt, E.M. 159f. Arnold, E. 14 Asmussen, H. 260 Assmann, J. 152 Auer, A. 275, 285 Augustin(us) 100, 109, 113, 130, 269, 275 Bacon, F. 178 Bakunin, M. A. 180 Barth, K. 28, 34, 41ff., 63ff., 73ff., 8Off., 86 (Anm. 93), 92, 102, 110 (Anm. 110), 115, 164ff., 185ff., 233, 260 Baubérot, J. 245 Bayle, P. 111 Bebel, A. 216 Behrendt, E. L. 109 Beier, Peter 174 Bellah, R.N. 116 Bernstein, E. 180 Bloch, E. 78, 81f., 173, 210, 215f. Böckle, F. 113, 277, 285 Boehmer, H. 210, 216 Bonhoeffer, D. 72, 88 (Anm. 96), 115, 121, 142, 326 Borggrefe, F. 327ff. Braun, D. 77 Bretschneider, K.G. 6, 236, 358 Brunner, E. 69, 71 Buber, M. 83 Burke, E. 226f. Cajetan, T. 140 Calvin, J. 73

Campanella, T. 178 Chaunu, P. 225 Chrysostomos, Johannes 175 Classen, W.F. 160 Claudius, M. 348 Clemenceau, G. 224, 230 Comblin, J. 231 Comby, J. 231 Cox, H. 326f., 329 Cullmann, O. 74 (Anm. 54) Daele, W. van der 289 Dahm, K.W. 182 Dannemann, U. 76 (Anm. 63) Danton 227, 239 Decourtray, A. 234 Dehn, G. 74 (Anm. 54) Demmer, K. 297 Desing, A. 17 Dibelius, O. 60, 188 Diderot, D. 229 Diokletian 109 Dombois, H. 349 Domes, J. 156 Duntze, K. 320, 329f. Dürkheim, E. 108, 127 Ebeling, G. 51, 89 (Anm. 100), 91 (Anm. 105) Eicher, P. 232 Eiert, W. 69 (Anm. 36),158 Elliger, W. 208, 219 Engels, F. 180, 186, 193, 210, 216, 219, 228 Ernst, Graf v. Mansfeld 215 Ernst, S. 290, 294 Euseb v. Caesarea 76 Falcke, H. 190 Fest, J. 173 Fichte, J.G. 158f., 162, 227, 243

Personenregister Fischer, J. 356 Flor, G. 121 Fourier, Ch. 179 Friedrich Wilhelm, Großer Kurfürst 304 Frieling, R. 261 Frisch, A. 230 Fukuyama, F. 173, 247 Furet, Fr. 228, 230 Geiger, M. 78 (Anm. 66) Georg, Herzog v. Sachsen 15f. Gessen, O. v. 206 Gestrich, A. 223 Goertz, H. J. 208 Goethe, J.W. v. 283 Gogarten, F. 69 (Anm. 36), 326 Gollwitzer, H. 82f., 188 Gouges, Olympe de 239 Graf, Fr. W. 235 Gregoire, Abbé 232, 241 Gundlach, G. 176 Habermas, J. 244 Häring, B. 277 Halbwachs, M. 152 Hammerdörfer, K. 216 Hanselmann, J. 259 Harnack, T. 141f. Hébert 239 Hegel, G.W.F. 64, 120, 157, 227, 241, 244 Herder, J.G. 155, 158, 160 Herms, E. 135, 147 (Anm. 30) Hirsch, E. 27, 63f., 65 (Anm. 20), 66, 161ff. Hitler, A. 14, 146, 225 Hobbes, T. 77f., 116, 175, 295ff. Höffner, J. 124 Holl, K. 62 (Anm. 6) Honecker, E. 218 Huber, W. 349 Humboldt, W. v. 227 Ignatius v. Antiochien Isensee, J. 21 Jaspers, K. 133 Jaurès, J. 227

3

367

Jefferson, T. 227 Johann (Herzog v. Sachsen) 206 Johann Friedrich (Kurprinz v. Sachsen) 206 Johannes Paul II. 177, 248, 265, 297 Jüngel, E. 80, 262, 354 Käsemann, E. 61f. Kahl, W. 56 Kant, I. 83 (Anm. 86), 227 Karl d. Gr. 248 Karl V. 248, 321 Kautsky, K. 216 Kegler, H. 117 Kittel, G. 35 Kohn, H. 155 Konstantin d. Gr. 15 Korff, W. 113, 275, 293 Koslowski, P. 116 Kreß, H. 167 (Anm. 66) Krockow, Chr. Graf v. 95, 121 Kropotkin, P. A. 180 Kutter, H. 182 Lange, D. 144 (Anm. 26), 145 (Anm. 27), 164 Le Corbusier 327 Lenin 64, 181, 186, 196, 216, 228 Leo XIII. 177 Lepsius, R. 154 Lessing, G.E. 107, 153 Lettmann, R. 274 Liebknecht, K. 216 Legstrup, K.E. 134 Ludwig XIV. 229, 241 Ludwig XVI. 224, 229f. Lukacs, G. 158 Luther, M. 2, 15f., 22, 46, 60, 67, 72f., 87f., 104, 113f., 140, 199ff., 253, 258, 273, 283, 341f., 344 Maier, H. 21, 233 Macchiavelli, N. 116 Mann, T. 154 Marcuse, H. 202 Marheineke, P. K. 236 Marie Antoinette 226 Maron, G. 211

368

Personenregister

Marquardt, Fr.-W. 186 Marx, K. 108, 180, 186, 193, 227 Meinecke, Fr. 139, 154, 158 Melanchthon, Ph. 215 Mericourt, T. de. 239 Metz, J . B . 116 Michel, E. 182 Michelet, J. 227 Mieth, D. 265, 289 Mitscherlich, A. 327 Mitterand, F. 225 Mitzenheim, M. 189 Montesquieu, C. de 93, 229 Mooney, C. F. 231 Morus, T. 178 Moussee, J. 231 Müller, A. 117 Müller, E. 40 Müller, H. 29 Müntzer, T. 200f., 203ff. Mussolini, B. 179 Napoleon I. 159, 224, 230, 243 Neubauer, R. 349 (Anm. 20) Newman, J.H. 273 Niebuhr, R. 147 Nietzsche, F. 288 Nipperdey, T. 159, 333 Noel, Francois (Babeuf) 179 Novalis (F. v. Hardenberg) 2 Owen, R.

179

Pannenberg, W. 116, 335 (Anm. 1), 357 Paul VI. 234, 248, 305 Paulus 69, 113f. Paine, Th. 227 Pfeiffer, H. 207 Pius IX. 5 Pius XI. 176 Pius XII. 265 Planer-Friedrich, G. 189 Proudhon, P.-J. 180 Quervain, A. de

89 (Anm. 101)

Ragaz, L. 65, 182ff. Ranke, L. v. 96, 216

Ranke-Heinemann, U. 101 Ratzinger, J. 248 Renan, E. 139, 243 Rendtorff, T. 60 (Anm. 2) Rhonheimer, M. 285ff. Rieh, A. 193, 282 Robespierre, M. 216, 224, 227f., 239f., 242, 244 Rogge, J. 341 (Anm. 7) Rolande, Mme. 239 Rousseau, J.-J. 229 Saint-Simon, C.-H. de 179 Sartorius, G. 216 Schama, S. 223 Scheler, M. 202 Schieder, Th. 155f. Schiller, F. 227, 266 Schiaich, K. 105 (Anm. 4), 122 Schleiermacher, F. D. E. 107, 130, 159f., 350 Schmitt, C. 77 (Anm. 65), 116 Schneemelcher, W. 96 (Anm. 114) Schooneberg, P. 130 Schopenhauer, A. 122 Schröder, R. 149, 190ff. Schüller, B. 279, 285 Schulin, E. 245 Schultze, H. 234 Schwarz, H.-P. 314 Schweitzer, W. 73 (Anm. 51) Sieyès (Abbé) 139, 240 Singer, P. 279 Smirin, M.M. 217 Soboul, A. 227 Sohm, R. 62 Spaemann, R. 116, 279 Stahl, Fr. J. 236 Stalin 181, 225 Stehle, H. 270 Sternberger, D. 156 Stoecker, A. 334 Storch, N. 206 Stobel, A. 74 (Anm. 54) Strohm, T. 79 (Anm. 69) Stutz, U. 105 Talleyrand, C.M. de 240 Thielicke, H. 72, 167

Personenregister Thomas v. Aquin 285, 295ff. Tillich, P. 22, 184f., 326 Tocqueville, A. de 227 Trampe, L. 155 Trillhaas, W. 60, 167 Trittel, G. J. 215, 217 Troeltsch, E. 11, 87 (Anm. 96), 313

369

Vischer, L. 340 Visser't Hooft, W.A. 260 Vogel, H.-J. 103 Voltaire, F. M. 229 Vovelle 228

Weber, M. 84 Weinel, H. 166 Weitling, W. 179 Weizsäcker, R. v. 149 Welker, M. 353 (Anm. 22) Wendland, H.-D. 79 (Anm. 69) Weyer, A. 146 (Anm. 29) Wichern, J. H. 334, 350 Wieland, G. 295, 297 Willms, B. 77 (Anm. 65) Wittram, R. 158 Wolf, E. 79, 89 (Anm. 101) Wojtyla, K. (siehe Johannes Paul II.) Wright, L. 319 Wünsch, G. 87 (Anm. 96)

Waldenfels, H. 253 Walther, C. 199, 222 (Anm. 36)

Zimmermann, W. Zwingli, U. 342

Ullmann, W.

101f., 234

216

Bibelstellenregister Genesis (1. Mose) 4,17 18-19

328 328

Deuteronomium (5. Mose) 4,12;6,7;6,8;6,9; 11,18;11,20;11,21; 12,32;16,3.12;26; 27,2-8;27,13ff.; 31,9-13;31,19-21

152

Proverbia 10-29

328

(Sprüche

Salomos)

16,33 18,36 19,10f. Acta 11,26

Jeremia 29,7

124, 331

Matthäus 5-7 5,12 5,14 7,12 13,57 19,8 19,16 19,16-26 23,37

108f. 108 32 114, 150 108 275 268 269 108

Markus 12,13-17 12,17 16,15

33 33 32

Johannes 3,16 8,32 10,3 12,32 14,6 15,13f.

32 281 24 32 108 347

Römer 2,14 2,15 12 12,2 12,5 13 13,1 13,1-7 14,23

32 14, 97, 109 96f. (Apostelgeschichte) 346 114 269 347 268, 274 348 35, 37, 61, 64 , 69, 74, 79 74 34 129

1. Korinther 1,17 6,1-11 12

268 34 346f.

2. Korinther 5,10 5,19

144 32

Philipper 3,20 4,8

109 114

1. Timotheus 2,lf. 2,2

100 35

2. Timotheus 4,2

124

Titus 2,1

273

Bibelstellenregister

371

Jakobus 4,4

32

1. Petrus 2,7 2,13-17

27 34

1. Johannes 2,15 4,1 5,19

32 46 32

Hebräer 13,13f.

108

Apokalypse (Offenbarung des Johannes) 13 35, 37, 74 35 13,10 17,1-8 328

Nachweis der Erstveröffentlichung Einführung: Evangelische Christenheit und Modernisierung (unveröffentlicht) 1. Kirche und Staat, Politik und Glaube: Zuerst veröffentlicht unter der Überschrift: „Wer sich einmischt, muß autorisiert sein", Rheinischer Merkur Nr. 24 (Merkur Extra, 25. Deutscher Evangelischer Kirchentag), 11. Juni 1993, S. V. 2. Der Auftrag der Kirche und die Aufgabe des Staates. Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche 25, 1991, S. 49-80. 3. Evangelische Theologie vor dem Staatsproblem. Vorträge. Rheinisch-Westfälische Akademie der Wissenschaften, G. 254, Opladen, 1981. 4. Öffentliche Erinnerung an Gott: Die Politische Meinung 40, 1995, S. 35-40. 5. Christlicher Glaube, Religion und moderne Gesellschaft, zuerst veröffentlicht unter der Überschrift: „Der Beitrag der Religion zur Konsensstiftung in unserer Gesellschaft (Zivilreligion)", in: Christlicher Glaube, Religion und moderne Gesellschaft, Vorträge und Beiträge der Politischen Akademie der KonradAdenauer-Stiftung, Heft 8, 1988, S. 27-47. 6. Individuelle Schuld und kollektive Verantwortung. Können Kollektive sündigen? ZThK 90, 1993, S. 213-230. 7. Nationale Identität und theologische Verantwortung: ZThK 92, 1995, S. 83-

101.

8. Ist der Sozialismus am Ende, in: Sozialismus - Was ist das eigentlich? Hg. vom Arbeitskreis Evangelischer Unternehmer, Karlsruhe, 1992, S. 5-23. 9. Reformatorische und revolutionäre Sicht eschatologischer Freiheit. Erstveröffentlichung unter der Überschrift: „Eschatologische Freiheit. Reformatorisches und revolutionäres FreiheitsVerständnis" in: Freiheit und Kontingenz. Zur interdisziplinären Anthropologie menschlicher Freiheiten und Bindungen, hg. von R. Dieterich/C. Pfeiffer (Festschrift für Christian Walther), Heidelberg, 1992, S. 150-169. 10. Der lange Schatten der Französischen Revolution: Bislang unveröffentlicht. 11. Wie christlich wird Europa sein? Eine evangelische Perspektive. Ursprünglicher Titel: „Die ökumenische Dimension des vereinigten Europa", in: Europa imaginieren, hg. von Peter Koslowski, 1992, S. 187-202. 12. Wahrheit und Freiheit im Spannungsfeld des Pluralismus. Zur Moralenzyklika „Veritatis splendor", in: Materialdienst des Konfessionskundlichen Instituts (MdKI), 45, 1994, S. 6-11.

Nachweis der Erstveröffentlichung

373

13. Natur als ethischer Maßstab: Materialdienst des Konfessionskundlichen Instituts (MdKI), 42, 1991, S. 63-67. 14. Die Auseinandersetzung um die Militärseelsorge in der Evangelischen Kirche: Kirchlicher Auftrag und politische Friedensgestaltung, Festschrift für Ernst Niermann, Stuttgart, 1995, S. 209-220. 15. Stadtkultur im Wertewandel: Moderne Zeiten - soziale Gerechtigkeit? 20 Jahre Sozialwissenschaftliches Institut der EKD, hg. von Ulf Claußen, Bochum 1989, S. 160-169. 16. Communio in der Europäischen Theologie: Koreanisch-theologische Beiträge 10, Kirche und Koinonia, hg. von der Korea Association of Christian Studies, SLK, Seoul 1993, S. 53-81 (koreanisch), S. 82-113 (deutsch).

Paul Tillich • Main Works / Hauptwerke Volume 3/Band 3: Writings in Social Philosophy and Ethics / Sozialphilosophische und ethische Schriften Herausgeber: Erdmann Sturm 1998. 23 x 15,5 cm. VI, 712 Seiten. Leinen. D M 298,-/öS 2175,-/sFr 265,-/approx. US$ 186.00 • I S B N 3-11-011537-9 Textkritische Edition der wichtigsten sozialphilosophischen und ethischen Schriften Paul Tillichs. Kollationierung der Erstveröffentlichung durch Paul Tillich. Eine Einleitung fuhrt in das Sachgebiet des Bandes ein. Ediert werden u.a. „Der Sozialismus als Kirchenfrage", „Masse und Geist", „Das Problem der Macht", „Die sozialistische Entscheidung", „Love, Power and Justice", „Morality and Beyond". Der Herausgeber ist Professor fur Evangelische Theologie und ihre Didaktik (Systematische Theologie und Religionspädagogik) an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster. Mit Band 3 ist die Edition der sechsbändigen Hauptwerke abgeschlossen.

Bisher erschienen: Band 1: Philosophical Writings / Philosophische Schriften Herausgeber: Gunther Wenz 1989. XIV, 424 Seiten. D M 149,-/öS 1088,-/sFr 133,-/approx. US$ 93.00 • ISBN 3-11-011533-6 Band 2: Writings in the Philosophy of Culture / Kulturphilosophische Schriften Herausgeber: Michael Palmer 1990. XIV, 380 Seiten. D M 1 4 6 - / ö S 1066,-/sFr 130,-/approx. US$ 91.00 • I S B N 3-11-011535-2 Band 4: Writings in the Philosophy of Religion / Religionsphilosophische Schriften Herausgeber: John Clayton 1987. IV, 422 Seiten. D M 131,-/öS 956,-/sFr 117,-/approx. US$ 82.00 • I S B N 3-11-011342-2 Band 5: Writings on Religion / Religiöse Schriften Herausgeber: Robert P. Scharlemann 1988. XVI, 325 Seiten. D M 109,-/öS 796,-/sFr 97,-/approx. U S $ 6 8 . 0 0 • I S B N 3-11-011541-7 Band 6: Theological Writings / Theologische Schriften Herausgeber: Gert Hummel 1992. XIV, 446 Seiten. D M 187,-/öS 1365,-/sFr 166,-/approx. US$ 117.00 • ISBN 3-11-011539-5 Preisänderungen vorbehalten

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