Guatemala: Ende ohne Aufbruch, Aufbruch ohne Ende? 9783964567093

Neben Historikern, Politologen und Soziologen beteiligten sich an der Entstehung dieses Buches indianische Studentengrup

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German Pages 236 Year 2019

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Guatemala: Ende ohne Aufbruch, Aufbruch ohne Ende?
 9783964567093

Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Hört das Echo des Schweigens
Pluralität und sozial-kulturelle Schichtung
Globale Entwicklung in lokalen Kulturen – Über eine Unmöglichkeit am Beispiel der Mayas in Guatemala
Lokale Kultur, regionale Gesellschaft und globale Wirtschaft – Zur Inkulturation der Moderne in indigenen dörflichen Institutionen
Der Standpunkt der Mayas
Die Einheit des mestizischen Staates und autonome Mayaregionen
Das Weinen der Mütter – Gesundheit in indigenen Gemeinden Guatemalas
Semimoderne – Zur heutigen Interpretation indianischer comunidades im Hochland Guatemalas
Utziläj k'aslen – Zur Unvereinbarkeit von Staat, Militär und ziviler Gesellschaft in Guatemala
Die Aktuelle Bewertung des Friedensprozesses. Mit einem Kommentar des Herausgebers
Guatemala – eine Wirtschaft der verhinderten Anpassung
Strukturwandel versus Strukturanpassung. Die verlorene Dekade Guatemalas
Guatemala im Weltsystem
Literatur: Gesamtverzeichnis des Bandes

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Fridolin Birk (Hrsg.)

Guatemala - Ende ohne Aufbruch, Aufbruch ohne Ende

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Fridolin Birk (Hrsg.)

Guatemala Ende ohne Aufbruch, Aufbruch ohne Ende? Aktuelle Beiträge zu Gesellschaftspolitik, Wirtschaft und Kultur

Vervuert Verlag • Frankfurt am Main 1995

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Guatemala • Ende ohne Aufbruch, Aufbruch ohne Ende? : a k t u e l l e B e i t r ä g e zu G e s e l l s c h a f t s p o l i t i k , W i r t s c h a f t u n d K u l t u r / F r i d o l i n Birk ( H r s g . ) - F r a n k f u r t a m M a i n : Vervuert, 1995 ISBN 3-89354-069-5 NE: Birk. Fridolin [Hrsg.] © V e r v u e r t V e r l a g , F r a n k f u r t a m Main 1995 Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung: Gerd Peter Orlopp P r i n t e d in G e r m a n y

Inhalt Fridolin Birk Einleitung

7

Carlos Guzmdn Böckler Hört das Echo des Schweigens

19

Flavio Rojas Lima Pluralität und sozial-kulturelle Schichtung

45

Martina L. Kaller Globale Entwicklung in lokalen Kulturen - Über eine Unmöglichkeit am Beispiel der Mayas in Guatemala

57

Fridolin Birk Lokale Kultur, regionale Gesellschaft und globale Wirtschaft Zur Inkulturation der Moderne in indigenen dörflichen Institutionen

67

Mayas von Guatemala/Klaus Broger (Bearbeitung und Übertragung) Der Standpunkt der Mayas

81

Demetrio CojtlCuxil Die Einheit des mestizischen Staates und autonome Mayaregionen

101

Rosalba Piazza Das Weinen der Mütter - Gesundheit in indigenen Gemeinden

115

Fridolin Birk Semimodeme - Zur heutigen Interpretation indianischer comunidades im Hochland Guatemalas

145

Wolfgang Dietrich Utziläj k'aslen - Zur Unvereinbarkeit von Staat, Militär und ziviler Gesellschaft in Guatemala

161

Nationale Revolutionäre Einheit Guatemalas (URNG) Die aktuelle Bewertung des Friedensprozesses. Mit einem Kommentar des Herausgebers

177

6

Inhaltsverzeichnis

Lizardo Sosa Guatemala - eine Wirtschaft der verhinderten Anpassung

187

Christine Vogt Strukturwandel versus Strukturanpassung. Die verlorene Dekade Guatemalas

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Markus Brunner Guatemala im Weltsystem

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Literatur: Gesamtverzeichnis des Bandes

229

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Einleitung

Fridolin Birk

Einleitung Zu einer bündigen Charakterisierung Guatemalas aufgefordert, will der Beobachter zwei Wesenszüge des Landes zuerst nennen: "Widerspruch" und "Widerspruchslosigkeit". Widerspruch als Merkmal für die vielfaltigen Elemente der Lebenswelt der indianischen und verarmten Ladino1 der ländlichen Regionen Guatemalas. Und Widerspruchslosigkeit als ideologisches Merkmal, das im Diskurs über Aspekte eben dieser Lebenswelt auftaucht. Als Konsequenz dieser gegenläufigen Züge bestimmen Rassismus, Inkulturation 2 oder Globalisierung3 den gängigen politischen Handlungsrahmen, Gewalt und Ausbeutung sind die Handlungsfolgen. Das Anliegen dieses Bandes ist es, sowohl einem interessierten als auch einem wissenschaftlichen Publikum diese Situation aus vielfaltigen Perspektiven, quasi als Innenschau, zu vermitteln. Dabei zeigt sich, daß die beiden verwendeten Charakterisierungsmerkmale komplementär und konträr zugleich wirken. Für einen interessierten, aufgeschlossenen Leser stellt sich das Problem, daß er auf gewisse Daten nicht verzichten kann, um die komplexe Lebenswelt unter kolonialen und postkolonialen Bedingungen zu verstehen, während der wissenschaftlich Arbeitende wiederum sich von diesen Daten lösen können muß, um das Handeln der Menschen in seiner Vielschichtigkeit und in seinen Brüchen fassen zu können. So ergeben sich für dieses Buch überlagernde Fragen aus dem Bemühen um ein möglichst viele Facetten erreichendes Verständnis der Gegenwart Guatemalas und der Zukunftsperspektive seiner Bewohner.

1

Ladino ist die schon seit dem 17. Jahrhundert übliche Bezeichnung für die spanischindianische Bevölkerung, die sich sowohl rassisch als auch kulturell nicht mehr zu ihrer Indigena-Vergangenheit bekennt ("those who are culturally not Indian", nach Adams 1972: 3).

2

Siehe dazu die Beiträge von Guzman Böckler und Cojti in diesem Band.

3

Näheres dazu im Beitrag von Brunner in diesem Band.

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Fridolin Birk

Welche Handlungsspielräume bieten sich einem Staat, der sich politisch seiner eigenen Nationalität bis heute zutiefst unsicher ist, der einem sozialkulturellen Kastendenken verhaftet ist und der sich wirtschaftlich im zunehmend härteren Kampf der Länder um Weltmarktanteile völlig auf dem Abstellgleis befindet, hinsichtlich der Technologie ebenso wie der Produkte? Was kann ein Bewohner der ländlichen Peripherie unter den strukturellen Bedingungen der fortgesetzten Kolonisierung von seinem Land erwarten, wenn dieses z.B. pro Jahr und Schüler in der Primarausbildung lediglich 1,50 DM auszugeben bereit ist? Welche Perspektiven zeigen sich für die heimische Wirtschaft in Anbetracht eines Straßennetzes, das von einer unabhängigen Gutachterkommission im September 1994 als zu 90% äußerst mangelhaft bezeichnet wurde? Welche Perspektive haben die Menschen, wenn heute nur 30% der Bevölkerung Strom- und Wasseranschluß besitzt? Wie kann das Projekt einer Nation jemals gelingen, wenn in der Verfassung Guatemalas immer noch, und das bei einer indianischen Bevölkerung von mehr als 50%, die Kultur der Mestizen (Ladinos) als die zu etablierende festgeschrieben ist und dadurch immanent ein erbarmungsloser Rassismus den Indígenas gegenüber legitimiert scheint? Diese Frage stellt sich auch, wenn man erfahrt, daß inzwischen schon mehr als zwei Millionen Guatemalteken, d.h. rund ein Fünftel der Gesamtbevölkerung, in den USA lebt und arbeitet. Desgleichen müssen sich die vielen "Entwicklungsbewegten" in NROs oder anderen Institutionen fragen lassen, welche Absichten sie hegen, wenn sie, in ca. 1000 unterschiedliche Fraktionen zersplittert, unweigerlich die betroffenen Menschen mit in ihre Interessenkrämereien hineinziehen? Wie ernsthaft meinen es die "Hilfsangebote", wenn von Mitarbeitern Kommentare nach dem Motto "Haut das Zeug aus dem Lager und schmeißt es den Leuten, wenn sie 's nicht wollen, vor die Türe" zu hören sind? Wie weit geht der Wille, die spezifischen Handlungszusammenhänge und Handlungsmotive von Einzelpersonen und Gruppen wirklich zu verstehen? Wie emsthaft ist das Verständnis für heute oft nur als arme Teufel gesehene und behandelte Menschen, die in der Tradition einer ehemaligen Hochkultur stehen? Diese und andere Fragen werden von europäischen und guatemaltekischen Autoren aufgenommen und verarbeitet, je vor dem Hintergrund ihrer

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Einleitung

unterschiedlichen

Forschungs- und Handlungsfelder, Lebenswelten und

Blickwinkel. Ziel dieses Bandes mit Beiträgen von Autoren vollkommen unterschiedlicher geistiger Herkunft und Denktradition ist es, sich der Lebenswirklichkeit der Menschen Guatemalas zu nähern, ohne die prägenden Widersprüche in Widerspruchslosigkeit, in harmonisierend ideologisierte Machbarkeitsphantasien aufzulösen. Die Autoren wollen die Gegensätze aber auch nicht unvermittelt nebeneinander stehen lassen, sondern sie nach unterschiedlichen Gesichtspunkten und Fragezusammenhängen prüfen und die Ergebnisse miteinander vergleichen. Viel zu lange wurde in Guatemala selber mit solchen Unternehmungen gewartet. Anstatt die bestehenden Konflikte zu diskutieren, wurden die Andersdenkenden verlacht, diffamiert, denunziert oder auch kurzerhand umgebracht. Dieser Band will zur diskutierenden Auseinandersetzung anregen, indem er bewußt unterschiedliche Analysen und Überlegungen von Menschen und Gruppen aus Guatemala und von europäischen Beobachtern nebeneinanderstellt. Widersprüchliche Erscheinungen, dem Denken und der Wahrnehmung des von außen kommenden Beobachters zuerst fremd, finden sich in allen Lebensbereichen der hier betrachteten Menschen. Der Eindruck der widersprüchlichen Fremdheit reicht bis in die meist zwar von außen beförderte, aber sich häufig auch selbst folklorisierende Sprachlosigkeit einer Gesellschaft, die in sich tief gespalten ist - ein Land ohne Nation. Die erzwungene Zerstreuung der Gegensätze auf dem Wege einfacher und ideologisierter "Lösungen", die Aggression und Gewalt nach sich ziehen, folgt einer tiefgehenden, historisch hergestellten und nur von wenigen gewollten Situation auf dem Fuße. Guatemala als eine Gesellschaft, die in vielen Beiträgen und Kommentaren als Musterbeispiel einer extremen Schichtengesellschaft

geschildert

wurde, ermöglicht kaum Transition und Mobilität unter den Schichten. Ja, in der guatemaltekischen Gesellschaft wird letztlich Mobilität als soziologischer Begriff grundsätzlich in Frage gestellt und zu einem Phänomen des bloßen millionenfachen, ökonomisch erzwungenen Ortswechsels konvertiert, sei es in die nächste Stadt, in die Hauptstadt oder in die USA. Abwanderung und soziale Heterogenisierung prallen in Form von Gewalt und Aggression häufig genug aufeinander.

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Fridolin Birk

In der Politik findet sich inmitten einer fast schon als mythisch zu bezeichnenden Verehrung nationaler Symbole und inmitten von Hymnengesängen auf das Vaterland eine nicht endende Kette von politischen Skandalen. Der enorme Verbrauch von politischem Vertrauen4 und mit ihm von Regierungen und staatlichen Institutionen hinterläßt beim Betrachter schon beinahe einen tragikomischen Eindruck. In der Kultur steht neben einer geschichts- und gesichtsvergessenen La¿/wogesellschaft, die über die ethnische Ausgrenzung ihre indianische Herkunft verleugnet,5 die gnadenlose Folklorisierung aller indianischen Lebensbereiche. Das Grundübel aller Probleme stellt aus dieser LadinosichX der ärmliche, entwicklungsbedürftige und mit Almosen abgespeiste indio dar. Die in ihrem sozial-kulturellen Selbstverständnis erschütterte und durch die selbstverursachte wirtschaftspolitische Instabilität des Landes permanent verunsicherte Mittelschicht schafft sich Objekte der Diskriminierung und Abgrenzung, ein entscheidender Grund für die endlose Folge von indianischen Aufständen und Gewaltausbrüchen.6 Dazu hat sich seit Anfang der 60er Jahre der Aufstand von Teilen der Mittelschicht selber in Gestalt der Guerillabewegungen gesellt. Auch darin spiegelt sich letztlich die Enge einer auf das Rentierdasein fixierten, aber dennoch die Gesellschaft beherrschenden Klasse. In der Wirtschaft wird gleichzeitig mit den "professionellen" Bekennmissen zu Partizipation, Integration oder Emanzipation der ökonomische Ausverkaufbetrieben. Dies zeigt z.B. die offizielle Zinspolitik der letzten beiden Jahre. 7 Es etablierte sich ein patemalistischer Staatsapparat, der zwar unter einem permanenten Geldmangel leidet, der aber gleichzeitig durch eine fonditis8, d.h. eine lange Kette von Sonderfonds und Subventionen für alles und jeden, den Almosensprengel schwingt. Erzeugt wird jedoch beim Großteil der Bevölkerung nichts anderes als Frustration. Gleichzeitig feiern die alten Geister des Rentierdaseins in Form einer systematischen Störung

4

Bei der letzten allgemeinen Volksabstimmung zur Kongreßreform im Januar 1994 und bei den Kongreßwahlen im August 1994 wurden Wahlbeteiligungen von 15 und 21 Prozent veröffentlicht.

5

Siehe dazu Montenegro 1992 oder auch Guzmän Böckler in diesem Band.

6

Siehe dazu Martinez Peläez 1991.

7

Siehe Näheres in den Beiträgen von Vogt und Sosa in diesem Band.

8

Mauricio Rodriguez Wever, in: CRONICA Nr. 336 vom 19.08.1994, S 11.

Einleitung

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des staatlichen legislativen Reglementieningsauftrages der Wirtschaft immer neue fröhliche Urständ. Die Monopolisierung produzierender und produktiver Bereiche beherrscht die Wirtschaftsszenerie. Eine unübersehbare Zahl von Programmen, Organisationen und Experten wird eingesetzt, um dem Vaterland und "den Menschen" zu dienen. Die Zielrichtung dieser Bemühungen, die Förderung kleiner und mittelständischer Unternehmen, erscheint wie ein Feigenblatt und bisweilen wie eine Parodie auf die ansonsten alles und alle beherrschende Importbegeisterung, die die einheimische Wirtschaft stranguliert und ihr, außer der monopolistisch verwalteten Bierbraukunst und Zementindustrie, kaum unternehmerische Entfaltung gewährt. Widersprüche begegnen dem Beobachter im Bildungswesen, das aufgrund von Defizienz und Vernachlässigung den nachkommenden Generationen kein Sprungbrett und keinen Raum zur Entfaltung bietet, um auch nur in Ansätzen neue Entwürfe fiir das zukünftige gesellschaftliche Leben zu schaffen. Bildung als institutionalisierte Geschichtsklitterung, als Mechanismus der Ideologisierung zur Widerspnichslosigkeit, in der selbst das vermittelte Bild vom Vaterland nur wie eine pinatcß wirkt. Bildung wird hier, in ihrer vollkommen vemachläßigten Form, zu einer Methode der Entäußerung der Jugendlichen, die sich von ihren ursprünglichen, im familiären oder dörflichen Umfeld gewachsenen Anschauungen entfernen. Es wird ein Bestand von Halbwissen den Köpfen eingetrichtert, der, bereitwillig und kritiklos angenommen, einen kleinbürgerlichen Wünschehorizont vorzeichnet. Dieses Phantombild, niemals erreichbar, beschäftigt die Menschen zeit ihres Lebens damit, ihr vorenthaltenes Lebensideal einer Emanzipation in die konsumorientierte Mittelschicht unter dem Banner von Vaterland und Freiheit zu kompensieren. Nicht zuletzt äußert sich die Widersprüchlichkeit auch in der landschaftlichen Kammerung Guatemalas, wo eine Vielzahl von Klimazonen oftmals auf wenige Kilometer zusammengedrängt ist und das trockene und zerklüftete Hochland unmittelbar neben den feuchten und fruchtbaren Tieflandebenen liegt. Vollkommen andere Lebens- und Arbeitsgewohnheiten ziehen eine deutliche Linie zwischen den Bewohnern der Küstenregion unten und dem

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Die Piñata ist eine innen hohle Pappfigur, die mit Süßigkeiten gefüllt wird und die auf Kindergeburtstagen von den Anwesenden mit verbundenen Augen und mit schwingendem Stock in Händen zerschlagen wird, um die Süßigkeiten zu bekommen.

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Fridolin Birk

Hochland oben. In ihrer Eigenart begegnen sie den anderen häufig nur mit verständnislosem Erstaunen. Widerspruch und Vielgestaltigkeit liegen sehr eng beieinander und sind in erster Linie nach den Reaktionen der mit oder in diesen Widersprüchen Lebenden zu interpretieren. So zeichnet Carlos Guzmän Böckler eine historische und kulturanthropologische Linie der mesoamerikanischen Gesellschaft mit der er zeigt, daß die Conquista eine tiefe Zäsur für den Fortgang der Kulturen, vor allem der Maya-Kultur, und der Gesellschaft bedeutet hat. Die Wiedergewinnung von Anknüpfungspunkten an die Tradition für alle Lebensbereiche sieht er als die große Aufgabe der kommenden Zeit. Dabei gehen seine Vorstellungen sogar über den Bestand der heutigen Staatsgrenzen hinaus. Die Geschichte, so sagt er, fordere hier auf lange Sicht ihr Recht ein. Flavio Rojas Lima analysiert aus einem anthropologischen Blickwinkel die Brüche, aber auch die Kontinuitäten der ethnischen Vielfalt Guatemalas. Sein Fazit lautet, daß aufgrund der irreversiblen Einflüsse der Moderne, die ohne Zweifel die kulturellen Grundlagen der autochthonen Kulturen verändert haben, die Anknüpfimg an diese Kulturen nicht auf einem starren Traditionalismus beharren dürfe, sondern eine eigene Praxis der Pluralität der Lebensformen gefunden werden müsse. Diese Argumentation verfolgt Martina Kaller bis zu deren radikalem Schluß, der besagt, daß für die /mflgewa-Bevölkerung nur die Rückkehr zu deren kulturellen Werten in Frage komme. Der Weg über die typischen Entwicklungsstrategien, der gleichzeitig ein Weg der Globalisierung der Lebenswelt bedeutet, sei diesen Menschen versperrt. Der symbolische Bestand der verborgen gehaltenen Kosmovision der Mayas stelle die Elemente zur Verfugung, die jenseits von Politik und Entwicklung eigene Perspektiven eröffneten. Das herkömmliche Analyseinventar der Bestimmung von Handlungsspielräumen für Menschen, comunidades oder Volksgruppen ist häufig von einer dichotomischen Begrifflichkeit geprägt: Vergangenheit oder Zukunft, Moderne oder Tradition, Dorf oder Stadt etc. In einem Beitrag des Herausgebers wurde dieser Sichtweise anhand des Begriffes der Semimodeme eine Interpretationsalternative an die Seite gestellt. Auf der Grundlage von empirischen Studien im indianischen Hochland Guatemalas wird gezeigt, wie offen lokale Lebenswelten sind und wie selektiv sie reagieren und auf diesem

Einleitung

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Weg eigene und fremde kulturelle Bestände umformen, zurichten und assimilieren. In einem von Klaus Borger übersetzten und bearbeiteten Beitrag einer unabhängigen Mayagruppe wird sehr nachdrücklich und in fast summarischer Weise Klarheit über zentrale Zusammenhänge des Selbstverständnisses der Maya als Staatsvolk und ethnisch begründete Nation geschaffen. Mit welchem Recht beharren die Indígenas auf einem gesonderten Selbstverständnis und wo setzen sie die Grenzen für ein Eingreifen der unterschiedlichen in Guatemala einflußreichen Institutionen? Dies sind die zentralen Fragen des Beitrags, dessen Rahmen die Ablehnung jeglicher Einmischung in den Prozeß der neuen Bewußtseinsbildung des Mayavolkes bildet. Daß die gewonnenen Handlungsspielräume nach neuen Formen der Mitbestimmung und Gestaltung des eigenen Lebensumfeldes drängen, wird aus dem Beitrag von Demetrio Cojti Cuxil deutlich. Ihm geht es um den Entwurf einer machbaren Alternative der autonomen Selbstbestimmung der Volksgruppen. Dies bedeutet nicht die Abschaffung des W/wo-beherrschten Zentralstaates, sondern innerhalb seines Rahmens die Durchsetzung subsidiärer politischer und wirtschaftlicher Strukturen, um die historische Entmündigungsstrategie und die aktuellen Assimilationsbemühungen des mestizischen Staates aufzubrechen und allmählich zu beenden. Die Praxis der Zusammenarbeit mit der indianischen Bevölkerung spiegelt sich in dem Beitrag von Rosalba Piazza. Es geht um die Suche nach Alternativen in der Gesundheitsversorgung und -politik. Der Einbruch der Moderne in das Denken und den Erwartungshorizont der Bewohner selbst weit abgelegener Dörfer ohne Gegenhalt kritischer Bewertungsmöglichkeiten kontrastiert mit einer dörflichen Kosmovision, die ihre Wahrnehmung aus Qüellen speist, die jenseits aller Offensichtlichkeit liegen. Ein gewinnbringender Weg könnte sein, die beiden Linien zu verbinden und dadurch der modernistischen Seite klar zu machen, daß sich hinter der Fassade von Machbarkeit und Programmatik ein weiter Raum öffnet. Die dörfliche Gesellschaft hingegen könnte verstehen lernen, daß eine kritische Annahme unterschiedlichster modemer Elemente, die von außen kommen, auch sehr dienlich sein kann. Einer ähnlichen Intention folgend hat der Herausgeber in einem weiteren Beitrag eine Genossenschaft beschrieben. Nicht auf die Darstellung von Harmonieträumen einer "ursprünglichen Gesellschaft" kam es ihm an, sondern darauf, eine lokale Gesellschaft "bei der Arbeit" zu beobachten. Es

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Fridolin Birk

zeigt sich, daß die lokale Arbeit nicht mehr, aber auch nicht weniger ist als die Aufarbeitung unterschiedlichster Erfahrungsbereiche, in denen sich die Menschen bewegen, d.h. letztlich eine Inkulturation der Moderne in die lokale Gesellschaft, nicht umgekehrt. Die lokale Gesellschaft verharrt dadurch nicht in Abgeschiedenheit und Isolation, sondern spürt "den Gegenwind" widersprüchlicher Auffassungen, die mit dem eigenen Lebensumfeld zu versöhnen sind. Der Beitrag von Wolfgang Dietrich führt uns von der lokalen Ebene wieder zu den globalen Strukturen des guatemaltekischen politischen Machtapparates. Anhand der Identifikation von Persönlichkeiten des politischen Lebens weist er nach, daß sich hinter der Fassade von Parteien, den Formeln ideologischer Bekenntnisse und den Stereotypen wirtschaftlicher Liberalisierung im Grunde dieselben Gesichter, übereinstimmende Rentierswünsche und eine weitreichende Bereitschaft zur Gewaltanwendung bei der Durchsetzung der eigenen Interessen verbergen. Daraus leitet er eine Unvereinbarkeit zwischen ziviler Gesellschaft und diesen Cliquen ab, was angesichts der vielen und bis heute anhaltenden Konflikte und der Tausenden von Toten und Vertriebenen nicht von der Hand zu weisen ist. Ein Staat ohne Staatsbürger und einklagbaren Rechten ist und bleibt eine Farce. Die Vereinigte Widerstandsfront Guatemalas (URNG) legt in einem Dokument ihre Sichtweise des momentanen Standes der Friedensverhandlungen mit der guatemaltekischen Regierung dar. Die Guerillabewegung scheint sich an grundsätzlich neuen Lösungen nicht messen zu wollen oder zu können. Ihr Ziel ist eine Beteiligung an der Macht, was eine Ausrichtung an der politischen Wirklichkeit nahelegt. Ob dies und das Einklagen der Erfüllung der Verhandlungsergebnisse ausreicht, um eine neue Gesellschaft in einem veränderten Staatswesen zu schaffen, wird die nahe Zukunft zeigen. Lizardo Sosa hat, als ehemaliger Chef der Nationalbank Guatemalas, seine Sicht der wirtschaftlichen Perspektiven dargelegt, von denen er meint, daß sie die wirklichen Korrektive der sozialen Misere Guatemalas sein können. Er geht davon aus, daß Guatemala gerade kein Opfer einer brutalen Weltbank-Anpassungspolitik sei. Vielmehr seien sämtliche Ansätze zu einer wirtschaftspolitischen Anpassung von der Rentiersgruppe bisher unterlaufen worden. Dies fiihre letztendlich zu einer strukturellen Verbiegung auf Staatsebene, die nicht mit Sonderfonds oder Subventionen, sondern nur mit einem konsequenten Rückzug des Staates aus vielen Wirtschaftsbereichen, wo dieser eine weitgehend ineffiziente Rolle gespielt hat, zu beantworten sei.

Einleitung

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Dieser liberalen Befürwortung der Strukturanpassung setzt Christine Vogt ihren Begriff des Strukturmerkmals im politischen und wirtschaftlichen Bereich entgegen. Sie zeichnet den Verlauf und die wirtschaftlich-sozialen Auswirkungen der bisherigen gescheiterten Anpassungsversuche nach und belegt, daß dieses Scheitern nicht allein durch die mangelhafte Anwendung makroökonomischer Strategien zu begründen ist. Zum einen wird anhand der Handlungsanalyse der verantwortlichen Akteure deutlich, daß die Unwilligkeit bzw. Unfähigkeit dieser Akteure im wirtschaftlichen Handeln selbst bereits strukturellen Charakter angenommen hat, zum anderen bieten bestimmte monetäre Handlungsbedingungen den Rahmen für solches Handeln. Dabei sollten sich Strukturreformen zunächst am Aufbau einer vertrauenswürdigen Geldwirtschaft orientieren, um diejenigen "Schlupflöcher aus der Verantwortung" zu schließen, die die "monetäre Alchimie", anders sei die Wirtschaftspolitik nicht zu bezeichnen, bisher erlaubt hatte. Ohne dieses Vorgehen wäre jegliche wirtschaftspolitische Maßnahme, die eine Verringerung der ebenfalls strukturellen Ungleichverteilung an Ressourcen und Infrastruktur zum Ziel hat, sozial wirkungslos. Im abschließenden Beitrag entwirft Markus Brunner eine umfassende Perspektive, die Guatemala in das kapitalistische Weltsystem einordnet. Daraus ergibt sich allerdings eine fast hoffnungslose Sicht der heutigen Situation Guatemalas. Das Land als Zulieferer von Rohprodukten für den industrialisierten Norden hat keine Chance einer zukunftsweisenden Entfaltung. Interne Konfrontationen um die Verteilung des kleinen Kuchens reiben die Kräfte vollends auf. Der Autor sieht einen Hoffnungsschimmer eigentlich nur in der antisystemischen Haltung einer Bevölkerung, die sich dem Zwang des kapitalistischen Weltsystems bisher zu widersetzen wußte. Hier wird die ganze Problematik Guatemalas noch einmal aus einer sehr generellen Sicht deutlich. Die Beiträge des vorliegenden Bandes legen nahe, daß die Gesamtsituation Guatemalas nur aus dem Grundelement des Widerspruches zu verstehen ist, den wir als einen Begriff zur Charakterisierung des Ineinanderwirkens unterschiedlicher und konfliktiver Lebens- und Gesellschaftsbereiche ausgemacht haben. Es war niemals die Absicht des Herausgebers, eine Veröffentlichung vorzulegen, die ein Kompendium isolierter wissenschaftlicher Beiträge zur Volkswirtschaft Guatemalas, zur politischen Struktur oder zur Ethnizität des Landes liefern würde. Auch das Gegenteil, eine ideologische Grundüberzeugung mit Beiträgen zu belegen, war niemals ein intendiertes

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Fridolin Birk

Konzept. Es kann auch nicht Ziel dieses Bandes sein, das Augenmerk allein auf den kulturhistorischen Bestand des indigenen Bevölkerungsteils zu richten, der zweifellos im Mittelpunkt einer Reihe der hier versammelten Beiträge steht. Gleichwohl werden vom neuen Verstehen des indianischen Lebensumkreises entscheidende Schritte für die Reinterpretation (oder vielleicht für die erstmalige Formulierung) eines nationalen Selbstverständnisses zu erwarten sein. Doch sicherlich wird dies nicht Wirklichkeit, wenn nicht gleichzeitig Wege und gangbare Alternativen gefunden werden, die alle Menschen wieder zu Handelnden ihrer Geschichte werden lassen und nicht nur zu Objekten ideologische Konzepte. 10 In das Buch geht - durch die Beiträge, wie sie inhaltlich zueinander stehen und wie sie in sich angelegt sind in ihrer Perspektivik, Einseitigkeit und Disparatheit - diese Widersprüchlichkeit und diskussionswürdige Vielgestaltigkeit ein, die das Land Guatemala insgesamt kennzeichnet. Wenn in der Einleitung von möglichen Wegen oder gangbaren Alternativen gesprochen wird, die in den Beiträgen durch- oder aufscheinen, dann wird die Bewertung in erster Linie der kritischen Lektüre des Lesers überlassen. Es wäre, aus dem bisher Gesagten heraus, eine Anmaßung und Verfälschung, wenn durch die Auswahl der Artikel ein geglättetes Bild bestimmter Tendenzen und Positionen gezeichnet würde. Auch hier herrscht der Widerspruch vor, der allein in der Diskussion Schritt zu einem neuen Weg werden kann. Einer ideologischen oder kulturdeterministischen Vorauswahl der Beiträge wurde der Zuspruch verweigert. Dadurch entstand eine in ihrer Grundüberzeugung der überfalligen Reinterpretation der Lebenswirklichkeit Guatemalas übereinstimmende, aber in der konkreten Ziel(um-) Setzung sicherlich uneinheitliche Reihe von Problemperspektiven. Andererseits geht der Herausgeber davon aus, daß die Beiträge allesamt von Personen und Wissenschaftlern verfaßt wurden, die entweder auf wissenschaftlichem Terrain oder auf wirtschaftlich-politischem Feld hinlängliche Erfahrungen aufweisen und hinsichtlich des Inhaltes und der Qualität für ihre Beiträge einstehen. Zuletzt möchte ich den Personen danken, die mir bei der Fertigstellung der Beiträge geholfen haben. Sie alle eint das Interesse, das insgesamt die Herausgabe diese Bandes beförderte: durch eine fortlaufende Diskussion 10 Rosada Granados 1987: 3 ff.

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Einleitung

sich allmählich an die Phänomene, vor allem aber an deren Hintergründe heranzutasten, Widersprüche miteinander auszutragen, anstatt sie zu verdecken und zu aggressivem Konfliktstoff werden zu lassen. Dank an Christine Vogt, Carlos Guzmän Böckler und den Freunden in Cabricän für die Gespräche, Kerstin Roeske und Heidi Cammerlander für die Schreibarbeiten bei der Übersetzung. Quetzaltenango, im Januar 1995

Fridolin Birk

Hört das Echo des Schweigens

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Carlos Guzmän-Böckler

Hört das Echo des Schweigens Wie viele Guatemala gibt es? Die Antwort kann nur lauten: so viele, wie zwischen den fiktiven Realitäten und den realistischen Fiktionen Platz haben, die durch die offizielle Geschichtsschreibung freigegeben werden; eine Geschichtsschreibung, die sich mit ihrem Verschweigen gegen eine hinterfragende Analyse der Geschehnisse und gleichzeitig gegen wertende Richtigstellungen und zukunftsweisende Überlegungen wehrt. In letzter Konsequenz stellt sie einen mentalen Kolonialismus gegen die befreiende Kreativität dar. Guatemala zeigt heute, mehr denn j e als im Verlauf seiner Geschichte, daß es unfähig ist, sich selbst zu erneuern. Die tiefen Wunden, welche die europäische Invasion vor 500 Jahren der vorkolonialen Gesellschaft geschlagen hat, sind im Laufe der 300jährigen direkten Kolonisierung nicht verheilt. Die heute eher neokoloniale denn unabhängige Gesellschaft eint noch immer kein Nationalbewußtsein. Das Projekt der unmittelbaren und selbstbestimmten Bildung eines einheitlichen Staatswesens als Heimat für alle seine Bewohner wird deshalb fortwährend auf morgen verschoben. Einerseits aufgespalten in zwei ethnisch-kulturelle Gruppen, andererseits aber zusammen vor den Karren einer wirtschaftlich-sozialen Organisation gespannt, der alle Spielarten der Übervorteilung aufweist, konnten keine Strukturen entwickelt werden, die Ausgrenzung und Inhumanität hinter sich lassen und Wohlstand garantieren. Nur so hätten aber die vorurteilsbeladenen und abwegigen Gedanken abgebaut werden können, die durch eine Ideologie des Rassismus - hervorgegangen aus dem Kolonialregime entstanden sind. Um die aktuelle Problemlage Guatemalas zu verstehen, wollen wir die kolonialen Spuren nachzeichnen, die auch die lange Zeit von fünf Jahrhunderten nicht verwischen konnte.

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Carlos Guzmän-Böckler

Ausgangspunkt für die nachfolgenden Überlegungen ist, daß die Bewohner Mesoamerikas am Ende des 15. und Anfang des 16. Jahrhunderts n.Chr. Königreichen und Gefolgschaften angehörten, deren Denken, Empfinden und Handeln durch die Traditionen einer eigenen hochentwickelten Zivilisation bestimmt waren. Sie entstand aus dem Kontakt verstreut lebender Volksgruppen zwischen den Halbwüsten des heutigen Mexikos und den Grenzbereichen zwischen dem heutigen Costa Rica und Panama, umspült von den Gewässern des Golfes von Mexiko und des Karibischen Meeres im Osten und Nordosten und denen des Pazifischen Ozeans im Westen und Südwesten. Während einer langen Zeit, die bis in das Pleistozän (um das Jahr 9000 v.Chr.) zurückgeht, schufen die Frauen und Männer, die sich in jenen Weilern niedergelassen hatten, eine einzigartige Wahrnehmungsform der Welt und des Lebens. Diese gab den Ausschlag für die Entwicklung einer einzigartigen Art und Weise des Denkens, die sich in einer Vielzahl von Sprachen und ästhetischen Anschauungen Ausdruck verschaffte. So wurde im Laufe der Jahrtausende ein zivilisatorischer Prozeß angeregt, der in vielen Volksgruppen bis heute Grundlage und Mittelpunkt des Denkens markiert. Der gemeinsame Ursprung dieser Zivilisation war jedoch kein Hindernis, nachfolgend eine große Vielzahl von unterschiedlichen zivilisatorischen Ausdrucksformen hervorzubringen. Diese förderten die Entwicklung wirtschaftlich-sozialer Formationen, die von einer ganz eigenwilligen Orginalität sind. Alle mesoamerikanischen Völker aus den verschiedenen geographischen Regionen und unterschiedlichen historischen Epochen trugen dazu bei, diese zivilisatorischen Kristallisationskerne zu schaffen und zu fördern. Als gemeinsames Bewußtsein blieben sie lebendig und festigten die geschichtliche Identität und bestimmten den weiteren Gang eines durchgeformten Lebenskonzeptes. Wir wollen hier aber in keiner Weise idyllische Situationen zeichnen, sondern vielmehr darauf hinweisen, daß intellektuelle, gefuhlsbestimmte und künstlerische Fähigkeiten der mesoamerikanischen Volksgruppen in der Lage waren, sowohl den sich formenden Gesellschaften wie den darin lebenden Individuen einen Lebensumkreis zu bieten, dessen Geschlossenheit nicht mit Beschränkung gleichzusetzen ist, denn in diesem Umkreis wurde ein hohes Niveau von Abstraktion und Kreativität erreicht. Dabei wurden die Notwendigkeiten des Alltages und die praktischen Tätigkeiten des Menschen nicht außer acht gelassen. Eher wurden allgemeine Grundlagen der intellektuellen Arbeit zur Basis des alltäglichen Handelns:

Hört das Echo des Schweigens

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Die mesoamerikanischen Wissenschaften (die frühe Olmeken-Kultur, die Olmeken, die Teotihuakanekos, die Mayas, die Mixteken, die Zapoteken, die Tolteken, um nur die wichtigsten zu nennen) brachten Erkenntnismethoden auf den Weg, die mathematische Abstraktion und praktisches Handeln miteinander verbanden. Durch deren Zusammenwirken wurde es möglich, sowohl den kalendarischen Jahreskreis als auch das Heilige Jahr exakt zu bestimmen. In gleicher Weise wurden mit erstaunlicher Genauigkeit die Umlaufbahn der Venus und die Erscheinungen von Eklipsen berechnet oder der tropische Landbau über astronomische Erkenntnisse geregelt. So wurde es möglich, mit Hilfe der Wissenschaften eine ausreichende und vielfaltige Ernährungsweise zu sichern. Dem Mais kam dabei eine hohe, auch symbolische Bedeutung zu. Er stellte das Bindeglied zwischen dem Menschen und der Natur dar (siehe auch den Beitrag der Maya in diesem Band). Dem Kosmos in seiner unermeßlichen Größe kam eine besondere Stellung zu. Die wichtigsten Zusammenhänge zum Verständnis des menschlichen Wesens wurden aus ihm abgeleitet in der Kosmovision. Für sich und für den gesamten Lebensumkreis suchte man so Sicherheiten. Die Bewohner Mesoamerikas erreichten dabei eine Kosmovision, die zutiefst in der abstrakten Berechnung gründete. Sie zielte letztlich darauf ab, Überlegungen und Wünsche, Befürchtungen und Hoffnungen, Realitäten und Unsicherheiten in einen Kreis fester Gewißheiten zu bannen. In diesen Wahrheiten löste sich die Zeit auf - so verschmolzen Vergangenheit und Zukunft. Es spricht alles dafür, daß die zentralen Ideen der mesoamerikanischen Kosmovision - verwoben mit den Einflüssen der unterschiedlichen Nachbarkulturen - vor allem während der von den Archäologen und Historikern des 20. Jahrhunderts als klassisch bezeichneten Periode formuliert wurden. Es ist ebenso deutlich, daß wichtige Elemente der Kosmovision, die von einigen wenigen privilegierten Gelehrten (die gleichzeitig die politische und wirtschaftliche Macht in Händen hielten) entworfen wurde, bis hinunter zu den Bauern und Handwerkern allgemein anerkannt wurden. Weder Händler noch Krieger blieben davon unbeeinflußt. Diese Elemente erhielten einen solchen Stellenwert, daß sie sämtliche Formen des Denkens, Fühlens und Handelns der unterschiedlichen wirtschaftlich-sozialen Schichten beeinflußten und die Persönlichkeit der Menschen formten. Im Verlaufe der Jahrhunderte verloren allerdings die Herrscher an Glaubwürdigkeit. Dies nicht nur, weil sie sich nicht an die neuen Heraus-

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Carlos Guzmán-Bockler

forderungen gewagt hatten, die der Bevölkerungszuwachs hervorgebracht hatte, sondern auch wegen des Fehlens einer Anpassung der sich allmählich als rückständig erweisenden Anbautechniken und der Zunahme des Handels und der daraus sich ergebenden Notwendigkeit, die Handelswege mit Hilfe von organisierten Milizen zu schützen. Ungünstig wirkte sich auch die übersteigerte territoriale Expansionswut und die der Ausweitung des Handels folgende Militarisierung aus. Zweifelsohne führten auch die Voraussagen über kommende ungünstige Zyklen zu einem Einflußverlust, der sich auch in einem langsamen Zerfall und einer schwindenden Bedeutung der materiellen Symbole, z.B. der Pyramidentempel, Stelen, Altarsteine, Trachten, Zeremonien etc., äußerte. Diese Entwicklungen sind allerdings nicht gleichzusetzen mit einer Krise der Kosmovision. Einige der Ideen erfuhren, wie es in jeder menschlichen Gemeinschaft zwangsläufig ist, kaum Veränderungen, während andere vollkommen neu überdacht und interpretiert wurden oder auch einfach bedeutungslos geworden sind. Alle Neuformulierungen veränderten jedoch nicht die Leitlinien der Logik dieses selbständigen Zivilisationsprozesses. Auch mit Beginn der europäischen Invasion blieb manches an hergebrachten Lebensformen erhalten. Im 14. Jahrhundert kam es zur Neuordnung der politischen Machtverhältnisse in Mesoamerika. Die abnehmende wirtschaftliche Expansion der an das Tal von Anáhuac angrenzenden Volksstämme zeigte eine ganze Reihe von Folgen in den näher und femer gelegenen Regionen. Der südliche Teil von Mesoamerika, der vorwiegend von Mayas besiedelt war, spürte das in der Weise, daß sich durch die Konflikte weiter nördlich auch in der südlichen Zone die wirtschaftlichen und sozialen Konstellationen - bedingt durch die Bevölkerungsbewegungen - veränderten. Vor allem Ki-ché und K'akchikel wanderten nach Mittelamerika und bewohnen auch heute noch Teile von Guatemala. Der Höhepunkt dieser Auseinandersetzungen um den zukünftigen Weg Mesoamerikas traf mit der Eroberung Tenochtitlans/Mexiko durch die Truppen Hernán Cortés' zusammen. Dieses Ereignis führte zur Auflösung des Aztekenstaates und zur nachfolgenden Invasion des zentralamerikanischen Isthmus: Sowohl aus Richtung Panama und dem Karibischen Meer als auch aus Mexiko kommend eroberten die beiden Spanier Pedro de Alvarado und Cristóbal de Olid - der erste zu Lande, der zweite zu Wasser - das heutige Guatemala, El Salvador und Honduras.

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Das anfängliche Kolonialabenteuer - in Zentralamerika durch Eroberer aus der spanischen Extremadura, aus Andalusien und Kastilien begonnen festigte sich bereits 1524, nachdem im gleichen Jahr der erste organisierte Widerstand zusammengebrochen war. In der folgenden Zeit wurde die audiencia geschaffen, die dann durch das Generalkapitanat des Königtums von Goalhemala ersetzt wurde. Diese Struktur blieb über die nächsten drei Jahrhunderte grundsätzlich erhalten und umfaßte sowohl den gesamten heutigen mexikanischen Bundesstaat Chiapas, Teile von Tabasco, Campeche und Quintana Roo als auch die heutigen Republiken von Guatemala, Belize, El Salvador, Honduras, Nicaragua und Costa Rica. Der südöstlichste Teil der Veragua und El Danen bilden heute Teile von Panama. Das Königreich von Guatemala war in doppelter Weise an die Krone gebunden, in erster Linie direkt an den spanischen Hof und des weiteren an das Vizekönigreich Neuspanien. Dessen Hauptstadt - Mexiko - spielte während der Kolonialzeit in vielerlei Hinsicht als Zentrum hegemonialer Macht eine wichtige Rolle und behielt damit einen Einfluß, den sie bereits vor der europäischen Invasion innehatte. Allerdings war die zentralamerikanische Kolonie fiir das spanische Imperium relativ unbedeutend, da sie nur einen kleinen Teil der Las Indias bildete. Der Hauptgrund dafür waren die lediglich in unbedeutenden Mengen vorgefundenen Bodenschätze wie Gold und Silber - nicht vergleichbar mit den Vorkommen an Edelmetallen in Mexiko, Peru oder Bolivien, um nur die größten Lieferanten zu nennen. Ein weiterer Grund für die vernachlässigte Stellung des Generalkapitanats im spanischen Kolonialimperium war, daß die ersten Kolonisatoren etwas mehr als ein halbes Jahrhundert gebraucht hatten um zu erkennen, daß sie sich auf gutem Ackerland bewegten, das geeignet war, von einer hochspezialisierten bäuerlichen Bevölkerung mit tropischen Pflanzen fiir den europäischen Markt bebaut zu werden. Für die landwirtschaftliche Nutzung boten sich sowohl die Ebenen als auch die Bergländer bis in eine Höhe von mehr als 3000 Metern an. Die wichtigste der kolonialen Unterdrückungsmaßnahmen war militärische Repression, die tödliche Konsequenzen für die betroffene Bevölkerung hatte. Die Massenmorde - häufig mit einem Überfluß an Grausamkeit ausgeführt - reduzierten zwar die Bevölkerungszahl drastisch, traten jedoch, was die Anzahl der Opfer betrifft, hinter die katastrophalen Folgen der infektiösen Krankheiten wie Pocken, Masern, Typhus und Syphilis zurück. Den Menschen fehlten die entsprechenden immunisierenden Abwehrkräfte, da

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diese Krankheiten auf dem amerikanischen Kontinent bis zu diesem Zeitpunkt unbekannt waren. Die unmittelbare Folge war ein demographischer Zusammenbruch, der mit einer sozialen Zerrüttung einherging und von einer Bevölkerung erduldet werden mußte, die militärisch besiegt und von Brutalität und vollkommener Unbegreiflichkeit der Aggressionen wie gelähmt war. Am Ende dieser Entwicklungen stand ein zunächst zaghafter Widerstand gegen die Kolonisatoren. Diese sahen sich ihrerseits der Arbeitskraft einer unterworfenen Bevölkerung beraubt, die sie hofften in Dienst nehmen zu können. Aus dem Zusammentreffen dieser beiden Strategien resultierten die Widerstandsformen der sozialen Verweigerung der unterdrückten Bevölkerung, wie z.B. in der Abnahme der Geburtenrate deutlich wird, die erst in neuester Zeit wieder angestiegen ist. Die militärischen Feldzüge dienten während der ersten Phase ausschließlich der schnellen Bereicherung, und erst in einem zweiten Schritt wurde die Aneignung von Ländereien oder die Versklavung der Bevölkerung von Bedeutung, was auch ohne Umschweife von den Führern des kolonialen Abenteuers so dargestellt wurde. Die Missionierung lieferte die tiefgründigere Rechtfertigung dieses Handelns und hüllte es in einen Mantel der Heiligkeit. Die Kirche trat gleichzeitig mit der Invasion und den nachfolgenden Kriegen auf den Plan, und dies nicht nur um die erlangten Siege zu segnen, die gegen die neuen Ungläubigen errungen wurden (die vorhergehenden waren die Mohammedaner und die Juden, welche die Konversion zum Christentum verweigerten, nachdem die Kriege der reconquista beendet waren), sondern um sich in den neuen Herrschaftsgebieten einzurichten und den christlichen Gottesdienst einzig und wahrhaftig seligmachend - sowie die Taufe durchzusetzen. Sie gab vor, die Seelen der Besiegten zu retten, um sie, gereinigt von der Sünde, der Heiligen Mutter Kirche, katholisch, apostolisch und in dieser Zeit mehr spanisch als römisch, zuzuführen. Mit den Vertretern dieser Institution kam die religiöse Unversöhnlichkeit auf den amerikanischen Kontinent, die in Spanien neben der königlichen Macht die Heilige Inquisition inthronisierte. In Spanien war die Konsequenz eine kulturelle Verkrustung ohnegleichen, die jegliche intellektuelle und technische Leistung als jüdisch brandmarkte. Die Tatsache, den Glauben vor das Denken zu stellen und jede Begründung seines Handelns in Katechismus und Brevier zu suchen, blieb tief verwurzelt in der Mentalität und in den Handlungsweisen der Lateinamerikaner als Nachkommen der ersten Vermischung (mestizaje) der beiden Ethnien.

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Diese Tatsache macht aus jeder politischen Militanz einen religiösen Kreuzzug, der ständig damit beschäftigt ist, den rechten Glauben zu wahren und Häresien zu denunzieren, sie schließlich auszutilgen und wenn möglich die Häretiker gleich mit auszulöschen. Daher rührt, daß die lauten Bekenntnisse zu Demokratie und Menschenrechten kaum über das Stadium von bloßen Erklärungen hinauskommen, denn die neokolonialen Regierungen von heute respektieren immer noch nicht die Menschenwürde eines jeden. Auch die Geringschätzung der Toleranz, die als Schwäche ausgelegt wird, ist hier zu nennen. Das alles fördert eine Mystifizierung der "harten Hand" (mano dura). Mit dieser fähren die Regierungen ein Regime aus Verlogenheit, Vetternwirtschaft und Grausamkeit, und sie werden dabei von den Regierungen der "großen demokratischen Nationen" der Welt unterstützt. Diese richten sich nach den Vorgaben des Rechtsstaates in ihrem eigenen Land, unterstützen jedoch gleichzeitig jedweden Interventionismus im Ausland. Es geht nicht zu weit zu behaupten, daß ohne diese Duldung und Unterstützung mit Sicherheit vier von fänf solcher Regierungen der "harten Hand" in Lateinamerika im besonderen und in der "Dritten Welt" im allgemeinen vom eigenen Volk binnen kurzem gestürzt würden. Die Inthronisierung von Dogmatikern der Intoleranz, die in erster Linie vom christlichen Amerika übernommen wurde und sich im spanischreligiösen Umfeld erhalten konnte, fährte dazu, daß das Prinzip der Geringschätzung allmählich auf das Feld der Politik übergriff. Hier formte sich die politische Ideologie Lateinamerikas, wo die Intoleranz gemeinsam mit dem Rassismus das Fundament des Denkens, Empfindens und Handelns der sozialen, wirtschaftlichen und politischen Gruppen der Herrschenden bildeten. Die wirtschaftlichen und verwaltungstechnischen Maßnahmen folgten dem militärischen Sieg auf dem Fuße und überdauerten, zusammen mit der Missionierung, die dreihundert Jahre spanischer Herrschaft in Las Indias. Was das Königreich von Goathemala

anbetrifft, war vor allem der wirt-

schafliche Bereich fär die Kolonisatoren mit Problemen behaftet, denn im ersten Anlauf fanden sie keine anderen Formen der Gewinnerwirtschaftung als einheimische Sklaven über Panama an die Conquistadores

von Pem

weiterzuverkaufen. Mit der Abfahrt der Sklavenschiffe wurde also die erste Wirtschaftskrise Goathemalas forciert. Erst in dieser Phase schenkten die Kolonisatoren den landwirtschaftstechnischen

Fähigkeiten

der

unterworfenen

Bevölkerung

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mehr Aufmerksamkeit: Die verbleibende Bevölkerung wurde verstärkt zu Arbeitsdiensten gezwungen. Während dieser Periode hatte der Genozid der Konquistadoren in den Antillen die spanische Krone in der Weise beunruhigt, daß die Einwohner zum Eigentum des Königs erklärt wurden, um eine Entvölkerung des Festlandes zu verhindern und sie der Kolonialverwaltung, den religiösen Orden oder Einzelpersonen als Arbeitsdienstleistende zuzuführen. Dies war mit der Verpflichtung verbunden, sie entsprechend zu ernähren und religiös zu unterweisen. An dieser Stelle muß noch einmal auf die Bezeichnung Indio eingegangen werden. Durch die Europäer wurde dieser Begriff zu einer abwertenden Kategorie für all jene Volksgruppen des amerikanischen Kontinents, die im Laufe der Jahre überwältigt wurden. Gleichzeitig wirkte er als ein ideologisches Konzept, das verwendet wurde, um den Kolonisierten zu stigmatisieren, ihn seiner Rechte zu berauben, ihn zu entwürdigen und als einen von Geburt an Unterlegenen zu kennzeichnen. Dies ist der Hintergrund der Umdeutung des Kolonisierten zu einem Knecht und Untergebenen. Diese Denkweise wurde durch „objektive" Merkmale wie der unterschiedlichen körperlichen Erscheinung und der unterschiedlich gelagerten Wahrnehmung der Welt und des Lebens zu unterstützen versucht. Die permanente Bestätigung dieses ideologischen Zusammenhangs hatte nicht mehr zur Grundlage als ein Vorurteil, das sich letzten Endes an der Hautfarbe, an der Größe, an den Haaren und anderen körperlichen Eigenschaften festmachte. Mit Sicherheit spielte die Hautfarbe als unveräußerliches Merkmal der Unterlegenheit und zugesprochenen Häßlichkeit eine wichtige Rolle. Solche Merkmale bekamen vor dem Hintergrund ideologischer Ideen eines idealen Europäertums eine negative Bedeutung. Die im Grunde vollkommen wirre Gegenüberstellung bildete dann aber die Grundlage der ganzen lateinamerikanischen "Pigmentokrasie", die immer wieder aufs Neue hervorgeholt wurde und bis in unsere Tage hinein ihre Wirkung tut. Sie ist das nicht eingestandene Fundament der Unzufriedenheit des Mestizo mit sich selber und seiner fehlenden Selbstbestimmung. All diese Merkmale von Distanz (körperlich, wirtschaftlich, sozial, kulturell, ideologisch, ästhetisch etc.) schaffen eine Atmosphäre, in der an den indianischen Wurzeln und der darauf zurückgehenden Vorstellungswelt gezweifelt wird. Auf seiner illusorischen Jagd nach europäischen Idealen versucht der Ladino in Wirklichkeit die unmögliche Flucht vor sich selber und seinem Lebensumfeld, was letztenendes seine fehlende Identität erklärt.

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Schließlich in ein Phantasma seiner selbst verkehrt, sieht der Kolonisierte keinen anderen A u s w e g als den der Nachahmung einer Vorlage, die er unmöglich erreichen kann. D a s Problem ist also, bestimmte Wertvorstellungen und Handlungsweisen der Europäer und der weißen Bewohner Amerikas nördlich des Rio Bravo zu übernehmen. Es herrscht die Meinung vor, daß die Wissenschaften und die Technologien nur dort entwickelt werden könnten. Dies führte zu der lähmenden Überzeugung, daß Innovation nur dort möglich und man hier höchstens in der Lage sei, die Dinge im Notfalle zu kopieren und sie zu gebrauchen. D a s heißt mit anderen Worten, daß die Menschen auf eigene Entwicklungen verzichten oder, was dasselbe ist, daß sie die eigenen Fähigkeiten und Initiativen brachliegen lassen. Gerade deshalb sind sie unfähig, eigene Zukunftsprojekte zu entwickeln. Diese Denkweise und die daraus folgenden b z w . eben nicht folgenden Handlungen bezeichnen wir als mentalen Kolonialismus.

D a s Resultat die-

ser diskriminierenden Einflüsse läßt schließlich nur noch in Strukturen von Diskriminierung denken, und letztlich lernt man dabei zu akzeptieren, sich selber in diesen Strukturen immer an die zweite Stelle zu setzen, ohne den Versuch der Verändening zu wagen. Es wird die eigene Mediokrität hingenommen

im Tausch

mit

einer begrenzten

"überlegenen" Position innerhalb

Zufriedenheit,

die

aus

der

der Strukturen der eigenen, abhängigen

Gesellschaft geschöpft wird. Eine extreme Ausprägung zeigt sich in den vielfaltig übernommenen Formen sozialer Diskriminierung, deren einzige Grundlage ein immaterielles „Kapital" ist, das den Unterschied ausmacht zum anderen sozialen Negativpol. Im Falle von Guatemala ist die Bestätigung dieser Annahme schlagend: jemand kann arm sein, aber er darf kein Indio sein. Dies bestimmt letztlich das M a ß - und das mit aller Brutalität und mit dem ganzen Gewicht einer ideologischen Verbrämung - , wie eine soziale Struktur sich eine eigene Basis der Unterscheidung schafft, die schließlich die grundlegenden Elemente der kolonialen Gesellschaft weiterträgt, d.h.: Auch die heutige Gesellschaft erhält sich - selbst - abhängig und verletzbar. Dieser völlig unbeweglichen Ideologie, die weiterbesteht, solange die wirtschaftlich-sozialen Grundelemente der Gesellschaft fortdauern, können andere übergestülpt werden. Dies geschah im Laufe der neueren Geschichte Guatemalas, als sich die Parteiungen der sogenannten Konservativen Liberalen,

und

vermeintlich Rechte und Linke, als politische Fraktionen formten.

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Damit wurden keine neuen Arten politischer Opposition geschaffen, was beim Begriff des Liberalismus oder der linken Opposition naheliegend wäre. Es wurde lediglich die Überlegenheit gewisser Mehrheitsgnippen innerhalb der Lírá/nogesellschaft institutionalisiert, obwohl diese im Laufe des ersten Viertels des 19. Jahrhunderts zunehmend korrodierte. Das gesellschaftliche Leben hatte sich in einem Labyrinth verfangen, das keinen Ausgang mehr kannte. Schauen wir uns nun die wirtschaftlichen Fundamente an, auf denen eine so abwegige Ideologie entstehen konnte. Als die Kolonisatoren im 16. Jahrhundert die bäuerlichen Fähigkeiten der besiegten Bevölkerung entdeckt hatten, waren schon 50 Jahre seit der Gründung der ersten spanischen Städte vergangen. Dadurch kam es, nach dem frühzeitigen Verbot des Sklavenhandels (1542), zu einer ausgedehnten wirtschaftlichen Krise. Erst der Anbau von Kakao brachte den dringend erforderlichen Aufschwung, und er war gleichzeitig der Bereich, in dem die Kenntnisse und die Arbeitskraft der indios in Anspruch genommen werden konnten. Die Arbeitskräfte wurden in den Encomiendas konzentriert. Die Menschen wurden gezwungen, auf den Plantagen zu leben und unbezahlte Arbeit zu leisten. Dies brachte dem wirtschaftlichen System die entsprechende Konsolidierung. Die Arbeitsbedingungen und die Lebensbedingungen im allgemeinen waren katastrophal, weil die Arbeitskosten die Produktion nicht beeinflussen durften. Die Ernteprodukte wurden, praktisch unverarbeitet, auf dem Landweg zum nächsten Hafen und von dort auf dem Seeweg bis zu den Häfen des spanischen Mutterlandes transportiert. Erst dort wurde der hohe Preis gezahlt, der in Form von Metallwaren und Produkten der Metropole in die Zentren der Kolonien zurückfloß. Wichtig ist es, darauf hinzuweisen, daß die Preise und Mengen der verkauften und gekauften Produkte der Kolonien in der Metropole festgelegt wurden. Das bedeutete, wie sich schnell herausstellte, ein Interventionsrecht, das soweit gehen konnte, den Handel der Kolonien der Entscheidung der dort lebenden Händler zu entziehen. Dies führte letzten Endes zur zweiten großen Krise des Königreiches von Goathemala. Diese Krise überschnitt sich mit der allgemeinen wirtschaftlichen Rezession während des 17. Jahrhunderts, die nicht nur Spanien, sondern ganz Europa erfaßt hatte. Das Fehlen von finanzieller Liquidität stellte ein Dauerthema im wirtschaftlichen Leben der Kolonien dar und bedrohte mit seinen rezessiven Folgen immer wieder von neuem die koloniale Geschäftswelt.

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Doch auch in diesem Punkt wurde als Rettungsanker auf das landwirtschaftlich-technische Erbe der Indios zurückgegriffen. Im 17. Jahrhundert betraf dies die Produktion des Indigos. Dieses Buschgewächs, das in Mesoamerika heimisch ist, wurde von der Bevölkerung seit langem verwendet, um mit dessen blauem Farbstoff in den Baumwollwebereien zu färben. In dieser Epoche änderten sich die Formen der Arbeitskräftebeschaffung: Die Encomienda wurde durch das Repartimiento ersetzt. Dies bedeutete eine Zuteilung der indianischen Bevölkerung zu Arbeitsdiensten auf bestimmten Pflanzungen und eine gleichzeitige Verpflichtung zu Tributzahlungen der indianischen Gemeinden. In diesem Zusammenhang wurde von der Kolonialverwaltung die ständige Verfügbarkeit zur Mita (Arbeitsform, die vorwiegend in den Minen gebraucht wurde) und zu persönlichen Dienstleistungen gefordert (die vor allem in den Städten und Privathäusern, aber auch in der öffentlichen Verwaltung, der Kirche und der Regierung Verwendung fanden). Der Handel mit Indigo war während der Anfangszeit ein Geschäft mit guten Aussichten. Dies zog die Aufmerksamkeit mehrerer im Baskenland lebender Familien auf sich, die in der Folge einige ihrer Mitglieder in die Produktionsgebiete schickten. Dort schlössen sie Vereinbarungen mit den ansässigen Koloniebewohnem, was im Laufe eines Jahrhunderts nicht nur zur Konzentration des Indigohandels in wenigen Händen führte, sondern auch zur Beherrschung des politischen Lebens von Santiago de los Caballeros de Goathemala, der Hauptstadt des Generalkapitanats. Anfang des 19. Jahrhunderts entstanden im Umfeld der kolonialen Aristokratie Bestrebungen zur Bildung einer unabhängigen Republik aus den Vereinigten Provinzen von Zentralamerika. Von dieser spaltete sich bald darauf der Staat Guatemala als eigenständige Republik ab. Deren politisches Geschick wurde am Anfang von der konservativen Partei, d.h. vom Diktator und selbsternannten Präsidenten General Rafael Carrera bestimmt. Dieser Caudillo blieb 32 Jahre an der Macht. Sein Weg war mit Sicherheit nicht der beste Einstieg in die Unabhängigkeit für ein zukünftig demokratisches Land. Doch diese Tradition ist, bis auf wenige Zeitspannen, bestimmend für die politische Herrschaft der unterschiedlichen konservativen Regierungen bis zum heutigen Tag. Um noch einmal auf den Indigoanbau zurückzukommen: Es bleibt zu betonen, daß er während des 18. Jahrhunderts die Grundlage zum Aufschwung in der Hauptstadt des Königreiches und in den wichtigsten Städten bildete. Für die indianische Bevölkerung bedeutete dies einen Rückschlag für den

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Aufbau einer Widerstandskultur, denn die Indigo-Epoche brachte eine gewisse Festigung des inneren kolonialen Machtpotentials. Nach außen hin wurde der spanische Einfluß langsam abgeschwächt, da sich die Metropole in Auseinandersetzungen über legislative Leerformeln und in einer Vielzahl von anstehenden, aber nutzlosen Reformen verlor, die den allmählichen Zerfall des Reiches verhindern sollten. Die soziale Zusammensetzung der kolonialen Gesellschaft war das getreue Abbild der wirtschaftlichen Ordnung, entstanden aus der anfanglichen militärischen Gewaltanwendung und dem Aufrechterhalten einer permanten Gewaltandrohung des Aggressors, der sich in einen Besatzer verwandelt hatte. Über die soziale Aufspaltung hinweg, die die Invasoren von Spanien her mitbrachten und die zwischen Adeligen verschiedener Kategorien und einfachem Volk unterschied, schufen die permanten Militäraktionen immer mehr Neureiche und damit auch Ressentiments, die häufig in blutigen Fehden mündeten und interne Rivalitäten entstehen ließen - von der königlichen Macht in entsprechender Weise ausgenutzt. Die ersten Begegnungen zwischen Besatzern und indianischen Frauen waren weithin von Brutalität gekennzeichnet, die sich im Verlaufe der Besatzungszeit und der damit verbundenen Unterwerfung zwar abschwächte, jedoch niemals völlig aufhörte. Ergebnis dieser ungleichen Beziehungen war die erste Generation der mestizos oder der Mischlinge. Sie wurde in ein soziales Niemandsland geboren. Von ihren Eltern gleichermaßen zurückgewiesen und geliebt, trugen sie nicht nur in ihren Gesichtern, sondern auch in ihrem Gedächtnis und in ihrem Herzen die Male aufgezwungener Kolonialgeschichte. Im Normalfall wohnten sie in den Zentren der kolonialen Aggression, d.h. in den Städten, den Häfen und den Kleinstädten. Erst später gelangten sie in die F/ncogehöfte und wurden so zu den Achsen der Ausbeutung von Land und Mensch. Sie waren der Transmissionsriemen der Spanischstämmigen und der criollos (Söhne von Spaniern, die jedoch abstritten, Mestizos zu sein) und der indianischen Bevölkerung. Die Tatsache, daß die Auswanderung von Spaniern in die Kolonien sehr gering war, bewirkte, daß die Mischlingsbevölkerung relativ stärker anwuchs und sich damit ihre Bedeutung in der Gesellschaft rasch vergrößerte. Zur ursprünglichen Mestizenbevölkening gesellten sich die Abkömmlinge von schwarzen Sklaven, die von Äquatorialafrika bis auf die Märkte der Karibik verschleppt worden waren und als Indiotrsatz für die Arbeit auf den Pflanzungen gehandelt wurden. Da es sich in diesem Fall jedoch um eine

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teure Handelsware handelte und das Königreich Goathemala relativ arm war, war die Zahl der schwarzen Sklaven niemals groß, doch deren Aufscheinen im Typus des Mischlings war unverkennbar, vor allem in den Regionen der Pflanzungen und der Minen. Die "Pigmentokratie" brach in der Folge noch stärker durch und hat sich bis heute nicht verloren. Die Mestizen, die man nach Dokumenten aus dem 17. Jahrhundert damals Ladinos zu nennen begann, bemaßen die menschliche Wertskala nach einem fließenden Grad der Hautfarbe, der von schwarz und braun als Negativpol bis zu weiß und blond als Positivpol reichte und gleichbedeutend war mit den Gegensätzen häßlich und schön oder böse und gut. Das Bestreben war, sich vom indianischen oder schwarzen Erbe zu lösen und sich auf das weiße Idealbild zuzubewegen, was in vielen Fällen über ganz eigenartige Interpretationen der tatsächlichen oder eingebildeten Hauttönung gemacht wurde. Man beschwor sich als Abkömmling eines spanischen Vaters und verschwieg die indianische Mutter. Diese Art der Interpretation bedeutet, daß man sich vom Besiegten von gestern und vom Beherrschten und Ausgebeuteten von heute auf eine Identität zubewegen will, die Reichtum und Macht innerhalb und außerhalb der Gesellschaft verspricht. Man versucht so, der Entwürdigung, dem Hungerlohn, den Krankheiten und der eigenen Sprachlosigkeit zu entkommen. Der Ladino ist darauf aus, sein Erscheinungsbild zu verändern, indem er das imaginäre Ziel des Andersseins seinem Erbe voranstellt. Er hofft durch sein bedingungsloses Anpassen an das idealisierte soziale Modell, sich ein neues Selbstbild geben zu können und sämtliche Vorstellungen, Wünsche und Vorzüge dieses Modells übernehmen zu können. Es beinhaltet eine Denkweise, die an der eigenen Bestimmung vorbeigeht und sich hinter einer Maske der Überlegenheit verstecken und Unberiihrbarkeit und Kälte in jeder Hinsicht nach außen tragen muß. Diese Daseinsweise bildet eine Symbiose mit der spezifischen Form der kolonialen Gesellschaft. Dies bringt uns dahin, ein spezifisches Bewußtsein zusammen mit der Indigo- und Granaproduktion (ein Färbemittel tierischen Ursprungs) zu betrachten. Nachdem zu Anfang des 19. Jahrhunderts das Indigo auf dem internationalen Markt unwiederbringlich an Wert verloren hatte, brachte diese Krise einen unabsehbaren Bruch zwischen den politischen Banden des schon abgewirtschafteten spanischen Reiches und der sich neu formenden zentralamerikanischen Republik. Die Grana war der ökonomische Rettungsanker für die konservativen Landeigentümer und bot die Möglichkeit, die poli-

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tische Macht in der neuen und wesentlich kleineren Republik Guatemala zu monopolisieren und nach Gutdünken zu gestalten. Als auch dieses Färbemittel seine Bedeutung auf dem Weltmarkt eingebüßt hatte, war der Zeitpunkt der Liberalen gekommen. Angeführt wurde die neue Regierung durch eine Agrarelite mit sehr ambitionierten Ladinos an der Spitze, die sich mit einer Militäraktion im Jahre 1871 an die Macht putschten und ihre wirtschaftlichen Pfeiler auf den Anbau und Export von Kaffee bauten. Dazu war die erneute Inanspruchnahme der Indios vonnöten, die in einer Neuauflage der Encomienda, die in diesem Fall ein erzwungener Arbeitsdienst (mandamiento forzoso) war, mündete. Um die Infrastruktur des Landes den Exporterfordernissen des Kaffees anzupassen, wurde die Modernisierung des Verkehrswesens vorangetrieben (Eisenbahnen, Telegraphendienst, Seehäfen), es wurden Sekundärschulen gebaut, die der Erziehung von Bindegliedern zwischen der neuen Machtelite und den unteren Bevölkerungsschichten dienen und das Heranwachsen einer städtischen und von Ladinos beherrschten Mittelschicht fördern sollten. Deren Ausbildung konnte durchaus bis zur unabhängigen Nationaluniversität oder Militärakademie reichen, die wiederum gefördert wurde, um ein stehendes Heer zu schaffen, dessen wirkliche Bedeutung damals wie heute darin lag, eine Besatzungsmacht im eigenen Land zu sein. Das Heer war jedoch gleichzeitig auch die Brutstätte für ambitionierte Offiziere, die sich bei vielen Gelegenheiten entweder durch Kasemenaufstände oder durch Wahlbetrug an die Macht gebracht hatten. Die Liberalen schreiben sich den Erfolg auf ihre Fahnen, mit dem Großgrundbesitz der Konservativen und vor allem mit dem der Kirche aufgeräumt zu haben. Damit wurde, so die Meinung, gleichzeitig der wirtschaftlichen und politischen Macht der religiösen Orden und des säkularen Klerus ein Riegel vorgeschoben und so letztlich eine Bastion gegen die ungehinderte Weiterfuhrung der kolonialen Ordnung gebaut. Auf der anderen Seite jedoch enteigneten die Liberalen die kommunalen Ländereien der indianischen Dörfer, um diese Bevölkerung zur Arbeit auf den neuen Kaffeepflanzungen zu zwingen. Dadurch wurde das Anwachsen der Gegensätze beschleunigt, die bis heute in Guatemala beherrschend sind. Heute gehören die tieferliegenden, ebenen, rentablen und ausgedehnten Landstriche den Eliten des Agrarexportsektors, während die hochliegenden, zerklüfteten, unrentablen und kleinparzellierten Grundstücke von der indianischen Mehrheit bebaut

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werden, die häufig ihr Land sogar ohne Besitztitel, der allein die Eigentumsrechte sichern hilft, bewirtschaftet. Die erstgenannten haben ca. 80% des bebaubaren Landes zur Verfügung, während sich die restlichen 20% auf die Vielzahl der Kleingehöfte und Kleinparzellen verteilen. Der erzwungene Arbeitsdienst gestattete nicht nur, daß die Kaffeepflanzer über ein reichliches Angebot an Arbeitskräften verfugen konnten, sondern auch, daß sich die Arbeitskosten auf einem Niveau der knappen Überlebenssicherung für die Arbeiter bewegten. Damit konnten die Produktionskosten niedrig gehalten werden, um möglichst schnell auf dem kapitalistischen Weltmarkt Fuß zu fassen. Hamburg und Bremen waren bevorzugte Absatzmärkte, die nach dem Erstarken Deutschlands am Ende des 19. Jahrhunderts und nach dem Sieg im französisch-preußischen Krieg dem deutschen Bürgertum die Voraussetzungen boten, auf dem Weltmarkt um die Vorherrschaft mit anderen europäischen Kolonialreichen, aber auch mit der wachsenden Weltmacht der Vereinigten Staaten und dem japanischen Kaiserreich zu konkurrieren. Über den Austausch von landwirtschaftlichen und handwerklichen Werkzeugen sowie über den Verkauf von Präzisionsinstrumenten und Transport- und Finanzierungsdiensten plazierten die hanseatischen Städte nicht nur ihre Handelsagenten im Süden von Mexiko, in Guatemala und in El Salvador, sie waren auch bald in der Lage, die Auswanderung von deutschen Kleinbauern zu unterstützen (in ihrer Mehrheit Schwaben), die dadurch zu Kaffeeproduzenten und gleichzeitig zu Ausbeutern der indianischen Bevölkerung wurden; wohl in geringerem Maße als die Ladinos, denn einige von ihnen verheirateten sich mit indianischen Frauen oder bildeten Lebensgemeinschaften, vor allem mit K'ek-chi-Indigenas des Alta Verapaz (Guatemala), wodurch ein Mischlingstyp ganz eigener Ausprägung entstand. Die Deutschen blieben in Guatemala bis zum Eintritt der Vereinigten Staaten von Amerika in den Zweiten Weltkrieg eine wichtige wirtschaftliche Kraft. Dann aber wurden sie des Landes verwiesen und ihrer Ländereien enteignet. Heute treten die Deutschen in El Salvador praktisch nicht mehr in Erscheinung, doch leben im mexikanischen Chiapas immer noch Europäer, die in der Landwirtschaft tätig sind. Nun, der Kaffeestaat, der ab 1871 von den Liberalen in Guatemala geschaffen wurde, orientierte sich im Grunde an denselben kolonialen Strukturen und Leitgedanken, die weiter oben beschrieben wurden. Wir fassen im folgenden seine wesentlichen Charakterzüge zusammen.

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Die Produktion beschränkte sich auf sehr wenige Landwirtschaftsprodukte, die in Guatemala selber gar nicht oder nur gering verarbeitet wurden und über eine Metropole im eigenen Land auf dem Weltmarkt abgesetzt wurden. Damit wurden die Handelsbeziehungen der eigenen Entscheidungsgewalt entzogen. Dies schaffte eine Abhängigkeit des Handels vom Ausland, während die Innenseite dieser Produktionsweise auf extrem gespannten Arbeitsbeziehungen beruhte, auf deren einen Seite die Minderheit der großgrundbesitzenden Agrarexporteure, auf der anderen Seite aber die Masse der billigen, nur saisonal arbeitenden und in ihrer Mehrheit indianischen Arbeitskräfte stand, die von ihren Kleinbetrieben abwandern mußten. Die ersteren nahmen den Schutz des Pseudo-Staates der Ladinos in Anspruch, der über einen korrumpierten Regierungsapparat im weiteren Sinne und über ein brutales Militär- und Polizeiregime im engeren Sinne die erwartete Schutzfunktion gewährte. Der komimpierte Staatsapparat war dadurch in erster Linie den ausländischen Käufern zu Diensten, während die staatlichen Gewaltorgane die Aufgabe des Erhalts des Status quo zwischen den Agrarexporteuren und den wirklichen Produzenten übernahmen. Die Aufkäufer in der Metropole versicherten den Verkäufern der Handelsprodukte den Schutz der Regierung zum Erhalt der Privilegien als dominante Klasse. Diese sollte auch darüber wachen, daß die Verhältnisse im eigenen Land und die internationale Ordnung erhalten blieben, welche die Metropole als angemessen betrachtete für die vorteilhafte politische Atmosphäre zwischen der Peripherie und den Großmächten. Über beinahe fünf Jahrhunderte hinweg hat dieses Referenzschema gute Dienste geleistet. Die Metropolen haben gewechselt (Spanien, England, Deutschland, Vereinigte Staaten von Amerika und einige transnationale Unternehmen von heute), die wichtigsten Exportprodukte haben sich vom Kakao über den Indigo, die Grana, den Kaffee - dessen Marktwert andauert und mit ihm ein guter Teil des wirtschaftlich-politischen Ausbeutungssystems - bis zum Anbau von Drogen und dem Drogenhandel heutiger Tage verändert, wobei Drogen das Produkt der Nach-Kaffee-Ära darstellen, das jedoch immer noch an den Boden gebunden ist und auch an die billige Arbeitskraft sowie an ausländische Käufer, die nach wie vor unantastbar bleiben. Sie operieren weiterhin von den wirtschaftlichen Zentren aus und bedienen sich der Lateinamerikaner lediglich als Zwischenhändler. Diese Zwischenhändler verdienen wesentlich besser als die Pflanzer von gestern, ha-

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ben enorme Gewinnspannen, die aber in keiner Weise mit denen der großen Drogenkartelle vergleichbar sind, deren Namen, Verflechtungen und Kapitalgrundlagen bisher von keinem Informationsmedium der Ersten Welt bisher in emsthafter Weise untersucht worden sind. Nach den enormen Lasten, welche die indianische Bevölkerung in jeder dieser Epochen getragen hatte, wächst sie in neuerer Zeit mit neuem Selbstbewußtsein rasch an. Gegen Mord und Unterdrückung setzte sie die Widerstandskraft ihres Weltverständnisses. Die Strategie eines sozialen Widerstandes war ein wichtiges Mittel, um die vernichtenden Einflüsse des Christentums abzuwehren. Die christliche Ideologie, verwoben mit der wirtschaftlichen Ausbeutung und einer umfassenden Diskriminierung, versuchte das gemeinsame Bewußtsein und die historische Identität zu untergraben, doch wurde in relativ kurzer Zeit ein Konzept und eine Praxis des sozialen Widerstandes gefunden. Es wurden alle Hindemisse überwunden, die sich der Suche nach einer gemeinsamen Organisationsform in den Weg stellten. Dies war um so schwerer, als im Laufe der langen Geschichte der kolonialen Unterdrückung die sozialen Beziehungsgeflechte in vielfacher Weise zerklüftet wurden. Im Laufe der letzten Jahre wurde von vielen Mitgliedern der indianischen Gesellschaft die Situation so scharf interpretiert, daß kein politischer Ausweg aus den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Widersprüchen innerhalb der guatemaltekischen Gesellschaft gesehen wurde. Dies bedeutete den Anfang eines bewaffneten Kampfes, der von progressiven LadmoYisism getragen wurde. Ein sich rasch ausbreitender Widerstand gegen die bestehenden politischen und sozialen Strukturen in den sechziger Jahren war die Folge. Er ging jedoch allein von ihrer eigenen Sichtweise zur Situation Guatemalas aus Um das Zusammengehen der beiden aus unterschiedlichen sozialen Zusammenhängen rührenden Kreise des indianischen und des mestizischen Widerstands zu verstehen, ist es notwendig, auf die sozioökonomischen Gruidgedanken der Liberalen um die Wende zum 20. Jahrhundert einzugehen Diese Epoche war geprägt von der Diktatur Justo Rufino Barrios und seir.en unmittelbaren Nachfolgern, wie z.B. dem verrückten Manuel Estrada Cabrera (der "Herr Präsident" - El Señor Presidente - des mit dem Nobelpreis ausgezeichneten Romans des Guatemalteken Miguel Angel Asturias), der bis zu seinem Sturz im Jahre 1920 22 Jahre lang das Land regiert hatte.

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Das erste Drittel des 20. Jahrhunderts war für Lateinamerika gekennzeichnet durch die permanente Aggression der großen Konsortien und der Regieningen der Vereinigten Staaten von Amerika, die davon überzeugt waren, daß ihre "unwidersprochene Bestimmung" die sei, die Welt zu regieren und daß sie bei diesem Unternehmen in ihrem backyard beginnen müßten. Es war selbstverständlich, daß der Abfluß des Reichtums aus dieser Region nur ihnen zugute kommen durfte. Dieser Anspruch auf Ausschließlichkeit wurde nicht nur über die "Diplomatie des Dollar", sondern mit jeglichem Mittel, wie der Politik des big stick, durchgesetzt. Deshalb waren ihre bewaffneten Interventionen in Veracruz/Mexiko, La Guajira/Venezuela, Kuba, Santo Domingo, Haiti, Panama, Nicaragua etc. und die Erpressungen, die deren Diplomaten ständig ausübten, als direkte oder indirekte Mittel jederzeit legitimiert. In Zentralamerika begann in diesem Zusammenhang das schmerzliche Kapitel der Schiffahrtsgesellschaften, die sich in kürzester Zeit in Eisenbahn* und Bananengesellschaften wandelten und die schließlich sämtliche Entscheidungen der Regierungen von Costa Rica, Nicaragua, Honduras bis Guatemala beherrschten. Der Sektor des Agroexportes in Guatemala, der einen Teil seiner Ländereien und seiner Arbeiter abgeben mußte - wovon vor allem die Deutschen als Kaffeekäufer betroffen waren -, war auch gezwungen, sich mit der Abgabe von Ländereien sehr guter Qualität an die Uniled Fruit Company zum Anbau von Bananen abzufinden. Diese Gesellschaft beherrschte sämtliche Bahnstrecken sowie die wichtigsten Häfen und einen großen Teil der Telegraphen- und Verkehrsverbindungen, die allesamt mittels Subunternehmen wie z.B. der Compañía Agrícola de Guatemala, der International Railways of Central America und der Tropical Radio and Telegraph Co. verwaltet wurden. Sie arbeiteten zwar mit getrennten Buchhaltungen in Guatemala, in den Vereinigten Staaten jedoch bildeten sie ein Konsortium. Des weiteren bleibt zu erwähnen, daß die Konzessionierung, mit denen die Gesellschaften in Guatemala arbeiteten, zutiefst beschämend war und im Grunde die Souveränität des Landes in Frage stellte. Estrada Cabrera regierte völlig ohne anderweitige Kontrolle zugunsten der Liberalen und der nordamerikanischen Interessen in Zentralamerika. Letztlich handelte er aber über die Köpfe vieler Vertreter des Liberalismus und des Agroexportes hinweg, was schließlich die Unzufriedenheit provozierte, die später zu seinem Sturz beitrug. Sein Regierungsstil, willkürlich und hart, tat ein übriges.

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In Mexiko wurde während der gleichen Jahre das Kapitel der "unvollendeten Revolutionen" für ganz Lateinamerika eingeleitet, kennzeichnend für den Verlauf des gesamten 20. Jahrhunderts. Der weltweite Widerhall des Marxismus erreichte nur einige wenige Guatemalteken, da die Politik der liberalen Regierungen darin bestand, die Grenzen des Landes für jedwede Art anderer Auffassungen als der bestehenden dichtzumachen. Erst die Krise der dreißiger Jahre bedrohte die Elite der Agrarexporteure beinahe tödlich. Um sich als Klasse und als politische Elite zu retten und eine blutige Spaltung zu verhindern, machten sie eines ihrer Mitglieder, für seine "eiserne Hand" (mano dura) bekannt, zum Regierungschef, nämlich den Finquero und General Jorge Ubico. Als erklärter Sympathisant des Faschismus von Mussolini, des nationalsozialistischen Hitler-Deutschlands und der Francoschen Falange konnte Ubico seine Außenpolitik entsprechend einer Linie gestalten, die ihm erlaubte, sich ohne Schwierigkeiten sowohl mit den Handelsvertretern des neuen deutschen Dritten Reiches als auch mit den nordamerikanischen Magnaten der United Fruit Co. und deren Tochtergesellschaften an einen Tisch zu setzen. Diesen Vertretern völlig unterschiedlicher Weltanschauungen war nur gemeinsam, daß sie sich an solche Methoden anlehnten, die ihre Interessen nicht störten. Obwohl ab Januar 1933 Präsident Franklin D. Roosevelt seine neue Innenpolitik des new deal umzusetzen begann und nach außen auf good neighborhood setzte, änderte sich fiir Guatemala nicht viel. Ubico seinerseits zog hier den Zaun um die indianische Bevölkerung immer enger. Er schränkte durch Gesetze die Bewegungsfreiheit der indianischen Bevölkerung völlig ein und zwang damit die Menschen zu ungekannten Arbeitsverpflichtungen. Solche Maßnahmen dienten auch dazu, eventuelle Aufstände im Keim zu ersticken. Neben der Erdrosselungsstrategie der indianischen und kleinbäuerlichen Bevölkerung ging er mit grausamen polizeilichen und wirtschaftlichen Maßnahmen - und dem Einverständnis der städtischen und mestizischen Mittelschicht - sogar gegen einige Mitglieder der kaffeexportierenden Elite vor, zu der er selber gehörte. Er erreichte mit seiner Politik eine Schwächung der Widerstandskräfte des indianischen kleinbäuerlichen Sektors, konnte jedoch die Zunahme der Unzufriedenheit in den städtischen Mittelschichten nicht verhindern, die sich allmählich ihrer sozialen Aufstiegswünsche beraubt sahen. Schließlich schlug sich diese wachsende Unzufriedenheit auch im universitären, militärischen, bürokratischen, intellektuellen und wirtschaftlichen Leben nieder.

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Die ideologisch-weltanschaulichen Bekenntnisse zu Freiheit und Demokratie, die anläßlich des Eintritts der USA in den Zweiten Weltkrieg von den Alliierten verbreitet wurden, fanden auf dem ganzen amerikanischen Kontinent ihren Widerhall. Ausgehend von den "vier Freiheiten", die gemeinsam vom amerikanischen Präsidenten Roosevelt und vom britischen Premier Churchill verkündet wurden, fanden die Sektoren der Mittelklasse eine angemessene Plattform, um ihrer Ablehnung der Diktatur Ubicos und dessen liberal-progressiver Partei Ausdruck zu verleihen. Dies führte dazu, daß just in dem Zeitraum, als der Sieg der Alliierten auf dem Schlachtfeld (Juli 1944) deutlich wurde, sich eine städtisch gelenkte Bewegung formte, an der die breite Bevölkerung teilnahm und den Diktator zum Rücktritt zwang. Ein kurzzeitiges sowohl ziviles als auch bewaffnetes Aufbegehren entmachtete ihn und schickte ihn und seine Generäle außer Landes. Die Interventionen und Einflußnahmen des nordamerikanischen Botschafters waren über die ganzen Jahre hinweg in jeder Hinsicht bedeutend. Sie halfen allein der United Fruit, deren Methoden zur Gewinnerwirtschaftung beizubehalten. Die Gewinnmargen waren noch während der Krisenzeiten steigend, was ihnen auf der anderen Seite in der nordamerikanischen Geschäfts* und Finanzwelt eine besondere Achtung einbrachte. Und diese Tatsache war wenige Jahre später, als der Kalte Krieg folgte, von großer Bedeutung. Denn um die in der Folge dieser internationalen Entwicklungen bedrohten Geschäftserfolge und Interessen der Bananengesellschaft zu schützen, kam es 1954 zur nordamerikanischen Intervention in Guatemala. Jenseits dieser Umstände suchten die aufgeklärten Kreise der städtischen und mestizischen Mittelschicht einen Prozeß der Demokratisierung einzuleiten. Immer mehr Menschen schlössen sich der Demokratisierungsbewegung an. Aber der städtische Aufbruch, ausgehend von der Hauptstadt Guatemala, erreichte erst mit Verspätung die ländlichen Bereiche und damit die große indianische Bevölkerungsmehrheit. Der wirtschaftliche Einfluß der Elite der Agrarexporteure wurde durch diese Entwicklungen nicht in Gefahr gebracht, denn das einzige, was wirklich in andere Hände gelangte, war die politische Macht. Diese lag ohne Zweifel bei der heranwachsenden Generation, die nach neuen Freiheiten verlangte, dabei jedoch unfähig war, die Grundlagen des mestizischen Pseudo-Staates zu hinterfragen. So ließen die neuen Realitäten der Nachkriegsära die alten Zuordnungen zwischen Liberalen und Konservativen obsolet werden, aber noch immer wurde in solchen Kategorien gedacht, die zwischen Rechten und Linken unterscheiden.

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Die neuen politischen Strukturen in Guatemala machten sich erst allmählich eine sozialistische Rhetorik zu eigen. Es kam sogar zur Gründung einer kommunistischen Partei (Partido Guatemalleco del Trabajo - PGT). Daneben konnten sich eine ganze Reihe von Gewerkschaftsführern profilieren, die vor allem aus dem Angestellten- und Arbeiterbereich der US-amerikanischen Gesellschaften kamen, welche die einzigen mit einer größeren Anzahl von Personal waren, denn in einem Land mit einer Wirtschaftsstruktur, die völlig auf den Export von Kaffee und auf die Nahrungsmittelherstellung für den internen Konsum ausgerichtet war, blieb die Industrieentwicklung aus, und den wenigen Lohnarbeitern mangelte es an gemeinsamen Zielen und einem wie auch immer ausgebildeten Klassenbewußtsein. Die handwerkliche Produktion nach traditionellem Zuschnitt verlief in äußerst bescheidenen Dimensionen ab und hatte noch paternalistische Züge. In den ländlichen Gebieten änderte sich nichts an der Polarität zwischen Latifundio und Minifundio. Dort war auch der Ort, wo sich der indianische Tagelöhner fand: eine billige Arbeitskraftreserve, in ausreichender Menge vorhanden und fiir die Saisonarbeit einsetzbar. Diese Schicht setzte sich zu einem guten Teil aus Kleinbauern ohne Landeigentum zusammen. Die Leute mußten sich, um überleben zu können, als Tagelöhner verdingen und daneben noch in der handwerklichen Produktion arbeiten. Andere widmeten sich dem Kleinhandel auf den Dorfmärkten. Hier bildete sich bald ein Schattenreich neben der viel beschworenen nationalen Wirtschaft aus. Die Schattenwirtschaft ist jedoch der ökonomische Nährboden indianischer Widerstandsformen, weil diese Schattenwirtschaft nicht beachtet wurde. Die neue politische Führungsriege zwischen 1944 und 1954 war nicht imstande, das soziale Gewebe, das andersgestaltete und tiefreichende Wirklichkeiten verborgen hielt, zu durchschauen. Für die städtische Bevölkerung öffnete sich dennoch die Tür zu einer neuen politischen Mitbestimmung durch die beiden Wahlen, in denen in uneingeschränkter Freiheit die unterschiedlichen Kandidaten der Listen der mestizischen rechten und linken Parteien miteinander konkurrieren konnten und sich für die Posten in einer Volkswahl bewarben. Den Sieg trug eine gemäßigte linksorientierte Bewegung davon, deren Führer häufig noch zu Gedanken neigten, die von der weltweiten Linken schon abgelegt waren. Das war begründet in der Herkunft der Führungspersönlichkeiten, die sich in ihrer überwiegenden Mehrheit aus der städtischen

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und mestizischen Mittelklasse rekrutierten und Werte wie Verhaltensweisen dieser Klasse widerspiegelten. Die eigenwillige Interpretation sozialistischer Gedanken rührte daher, daß einerseits die Lohnarbeiter in Guatemala eine verschwindende Minderheit in der nationalen Wirtschaft bildeten, andererseits die soziale und ethnokulturelle Distanz städtische Ladinos und ländliche Indígenas trennte. Trotzdem muß den beiden Regierungen unter Juan José Arévalo (1945-51) und Jacobo Arbenz Guzmán (1951-54) zugute gehalten werden, daß ein respektvoller Umgang gepflegt wurde, der die Menschenwürde achtete. Durch neue Gesetze wurden die Arbeitsrecht festgeschrieben und es entstand eine wachsende lohnabhängige Mittelklasse. Ständige Reibereien der alten Machtgruppen der Agrarexporteure mit der religiösen Elite, vertreten durch den Erzbischof Rosseil Arellano auf der einen und die allmächtige United Fruit Co. auf der anderen Seite, begleiteten die Innenpolitik während dieser Epoche. Einflußnahmen von außen durch eine internationale Solidarität von seiten der alten Tyranneien rund um das Karibikbecken (Perez Jimenez in Venezuela, Fulgensio Batista in Kuba, Trujillo in Santo Domingo, Anastasio Somoza in Nicaragua etc.) begleiteten dieses Szenario. Die Konfrontation mit US-amerikanischen Firmen, die sich in der Region niedergelassen hatten, war unvermeidlich. All dies geschah inmitten eines Kalten Krieges, der auf aggressive Art und Weise die Republikaner der Vereinigten Staaten und die Stalinisten der Sowjetunion in Konfrontation hielt. Mit einem alten Sprichwort können diese Entwicklungen und das daraus resultierende politische Handeln auf einen allgemeinen Nenner gebracht werden: Der Zweck heiligt die Mittel - vor allem in Ländern der damals gerade aus der Taufe gehobenen "Dritten Welt". 1952 wurde in Guatemala die gesetzliche Grundlage der Agrarreform verkündet. Es sollte dem Großgrundbesitz ein Ende bereitet und der breiten bäuerlichen Bevölkerung Land zur Verfügung gestellt werden. Das Gesetz war geprägt von dem Willen zur Toleranz, was darin zum Ausdruck kam, daß den als notwendig erachteten Enteignungen Ausgleichszahlungen gewährt wurden. Dieses Gesetz bildete die Grundlage dafür, daß zum ersten Mal der indianischen Bevölkerung offiziell die Möglichkeit zugesprochen wurde, formell Eigentümerin ihres Gemeindelandes zu werden. Durch diese Maßnahmen formten sich neue Führungsschichten. Sie stammten jetzt vor

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allem aus dem ländlichen Bereich. Es konnte nicht ausbleiben, daß die städtischen Mittelschichten sich durch diese Entwicklungen verunsichert fiihlten. Die United Fruit Co. und ihre Tochtergesellschaften, die ihre unbebauten Ländereien von diesen Maßnahmen in Gefahr sahen, baten um die Intervention des Außenministeriums der Vereinigten Staaten. Deren einflußreiche Persönlichkeiten pflegten gute Verbindungen mit der reaktionären, religiösen und großgrundbesitzenden Schicht Guatemalas. Sie setzten die Regierung von Arbenz unter zunehmend größeren Druck. Am Ende stand der Sturz in Gestalt einer lächerlichen Invasion, die von Honduras aus unter Mithilfe des guatemaltekischen Heeres stattfand. Die Sonne des demokratischen Frühlings verdunkelte sich, ohne daß dem guatemaltekischen Volk irgendeine neue Zielrichtung gegeben worden wäre. Die Nacht der Tyranneien, der Machtspiele, der Vetternwirtschaften, der Folterungen und der Morde zog am Horizont herauf und verdunkelte immer mehr die Szenerie. Die Wege des sozialen Ausgleichs für die indianische Bevölkerung wurden verschlossen. Die politischen Entwicklungen in den Städten wurden abgebrochen. Dies geschah zu einem Augenblick, als die unvollendeten Revolutionen (revoluciones inconclusas) Lateinamerikas, mit Ausnahme der kubanischen, aufgrund des gemeinsamen Handelns der traditionellen wirtschaftlich-politischen Machteliten der jeweiligen Länder zum Scheitern gebracht wurden. Die Strategien dazu wurden im Umkreis des Kalten Krieges entworfen. Als Gegenbewegungen zu den geschilderten Entwicklungen meldete sich eine neue Generation von sozial denkenden Intellektuellen zu Wort. Von Mexiko bis Argentinien wurde eine neue Debatte in der Region entfaltet, deren Ergebnisse in einer Vielzahl von Publikationen mit ganz eigenen Ansichten Niederschlag fanden. Die Intellektualisierung der sozialen Fragen schlug sich in den Universitäten nieder, und, in einem wesentlich geringeren Maße, in den Industrie- und Handwerksbetrieben der Städte. Gegen Ende der sechziger Jahre entstand in Guatemala eine Diskussionplattform zum Thema der Verfälschung der nationalen Geschichte durch die offizielle Historiographie. Daneben wurde die Bedeutung der indianischen Bevölkerungsmehrheit für die nationale Politik in die Foren getragen. So kam es zur allmählichen Profilierung der zukünftigen Führer der politischen Widerstandsgruppen. Zentrale Punkte waren in den 60er Jahren freie Wahlen und das Recht auf freie Meinungsäußerung. Dem Gang in den Un-

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tergrund gingen verzweifelte Versuche, auf legalem Weg tätig zu werden, voraus. Daneben suchten unterschiedliche Gruppen von aufgeklärten Indígenas eine Neubegegnung mit den traditionellen Werten ihrer Geschichte. Der anfängliche ¿oíAnoaufstand wurde in dem Moment zu einem Volkskrieg, als die versprengten Gruppen sich mit der indianischen Widerstandsbewegung verbündeten. Der Zusammenschluß konnte jedoch nicht die Trennlinien auflösen, die über fünf Jahrhunderte Kolonialgeschichte gezogen worden waren. Trotz der zeitlichen Verzögerung fiel die Widerstandsbewegung noch in den groben Rahmen des Kalten Krieges, wodurch die Anwesenheit der unsäglichen nordamerikanischen "Berater" (advisers) begründet wurde, die den Kampf gegen die Widerstandsbewegung vorbereiteten. Damit wurden praktisch unbegrenzte Möglichkeiten einem Militärapparat zur Verfügung gestellt, deren Oberbefehlshaber als Gegenleistung einen Platz an der Seite der Agrarexporteure verlangten. Sie versprachen dafiir einen Schutz ohne jegliche Aufwandsentschädigung. Im Namen des Antikommunismus wurde ein Krieg der verbrannten Erde gegen die zivile Maya- und arme Landbevölkerung gefuhrt, die den Preis für eine Freiheit bezahlte, die nur in Andeutungen spürbar wurde. Tausende von Toten und Verschwundenen, eine Vielzahl von Flüchtlingen im Ausland (vor allem in Mexiko) und Vertriebene (besser gesagt Entwurzelte) im eigenem Land, die ein Leben fern von ihrem Heimatdorf und ihrem Erbland fuhren, sind das vorläufige Ergebnis dieser nur vorerst unvollendeten Revolution, die in einem notwendigem Tauschhandel mehr aufgeschoben als aufgehoben scheint. Es ist notwendig, in Zukunft auch die Spuren aufzuzeigen, die das Guatemala nach dem Kalten Krieg prägen. Das internationale Umfeld der "NachKaffee-Ära" verwandelt Guatemala zunehmend zum Sammelpunkt der sich neuformierenden "Narko-Oligarchie" des internationalen Drogenhandels. Man kann angesichts der wirtschaftlichen Interessen davon ausgehen, daß die Agrarexporteliten, die Eliten des Handels, der Industrie und des Finanzwesens nicht bereit sein werden, die Rechte des Volkes zu respektieren, die in den Friedensverhandlungen festgeschrieben wurden und die stetig von vielen Seiten eingefordert werden. Die Bürgerbewegungen - vor allem die indianischen - brauchen jedoch Garantien und Rechte, um ihr Projekt einer zukünftigen Gesellschaft zu verfolgen.

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Nach deren Meinung wurde die bestehende neokoloniale Struktur von Gesellschaft und Wirtschaft offiziell niemals grundsätzlich in Frage gestellt, weshalb sich Guatemala heute von seinen Problemen überfordert sieht. Die Möglichkeiten einer beständigen und friedlichen Lösung der Probleme, so wünschenswert sie auch wären, müssen von heutiger Sicht aus sehr skeptisch beurteilt werden. Chancen bestehen eigentlich nur, wenn von allen Seiten, die sich in den vielfältigen Konflikten gegenüberstehen, ernsthafte Anstrengungen gemacht werden, um auf diesem Weg gemeinsam bislang noch nicht genau beschreibbare Möglichkeiten eines neuen Zusammenlebens zu finden. Ansonsten droht erneut das Schreckgespenst eines Krieges. Die Chancen für das guatemaltekische Projekt werden auch zu einem entscheidenden Teil von der neuen Blockpolitik der Supermächte abhängen, die im Moment neu definiert wird. Die Verwirklichung einer neuen Perspektive wird nicht zuletzt auch dadurch beeinflußt, ob in Guatemala neue Formen politischer Mitbestimmung möglich sein werden, die der Ausarbeitung und Realisierung eines gemeinsamen gesellschaftlichen Projektes dienen. Nur dadurch wird die wirtschaftliche, politische und moralische Strangulierung zu überwinden sein, in welche die Dekadenz des bis heute andauernden kolonialen Status geführt hat. Die unmittelbar anstehende Aufgabe ist es, Leitlinien für aufrichtige Friedensverhandlungen zu entwerfen. Die äußerst zerbrechlichen Verhandlungsergebnisse können höchstens Voraussetzungen für weitere Gespräche sein. Noch stehen sich die Kontrahenten, trotz schon geleisteter Unterschriften, scharf gegenüber. Es scheint, daß der höchste Gewinn der momentanen Bemühungen allein der ist, einen neuen Krieg zu verhindern. Um zu einem Ergebnis zu kommen, das dem Wohle aller im Land dienen wird, wird es unter Umständen sogar notwendig sein, ein anderes oder andere Guatemalas zu schaffen, innerhalb der jetzt geltenden Grenzlinien oder mit Grenzziehungen, die besser an die Wirklichkeiten der profunden mesoamerikanischen Nationalitäten angepaßt sind und gleichzeitig eine angemessenere Antwort auf die kolonialen Entwicklungen darstellen. Dabei müssen vielleicht die Markierungen der jetzt geltenden Grenzlinien verändert werden. Wir können nicht die Geschichte verändern, aber wir müssen sie mit Emst und Aufrichtigkeit kennenlernen und verstehen. Wenn wir endlich die stillen Reserven unserer Kreativität in Anspruch nehmen würden, die wir solange haben brachliegen lassen, dann könnten wir damit den Eingang zu einer neu-

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en Zukunft freilegen. Träume sind auch Wirklichkeiten und Utopien sind Brücken, welche die Wünsche von heute mit den Tatsachen von morgen verbinden.

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Pluralität und sozial-kulturelle Schichtung Der Kulturbegriff als Zugang zum Verständnis des gesellschaftlichen Lebens ist eine der wichtigsten sozialwissenschaftlichen Bestimmungen, die von der Anthropologie eingebracht und entwickelt wurden. Wissenschaftler anderer Disziplinen, nicht zuletzt der Politologie, und auch Politiker selber, beziehen immer häufiger ihnen passend scheinende Kulturkonzepte mit in ihre Überlegungen ein und anerkennen damit die Bedeutung der Kultur für die soziale Dynamik in einer Gesellschaft. Bis vor kurzem noch haben gewisse Tendenzen in den Sozialwissenschaften, z.B. der orthodoxe Marxismus, dem Konzept der Kultur jeglichen analytischen Nutzen oder erklärenden Wert abgesprochen und sich in einem unflexiblen Ökonomismus verloren. Angesichts dieser Vorwürfe haben sich die Anthropologen aufgefordert gefühlt, den Kulturbegriff genauer zu fassen und dessen empirische Fundamente konkret zu beachten. Alle Volksgruppen dieser Welt, auch wenn sie noch so wenig gesellschaftlich differenziert sind, können einen eigenen kulturellen Zusammenhang entwickeln. Jede Kultur hat mit anderen dabei gewisse Ähnlichkeiten, aber es gibt auch fundamentale Unterschiede, die aus der jeweiligen Struktur einer Gesellschaft erwachsen. Des weiteren stellt die Kultur den Lebensbereich dar, der für Ideologie am wenigsten empfänglich ist, sich jedoch zugleich sehr offen zeigt fiir unterschiedlichste Manipulationen. Dies gibt allen scheinbar typisch kulturellen Äußerungsformen einen politischen Charakter. Schließlich ist noch zu erwähnen, daß die Kultur eine weitreichende materielle Grundlage hat. Denn in den Herstellungsweisen und den Produkten drückt der Mensch sich aus, zeigt, was er ist, wie er ist und vor allem weshalb er tätig ist, was wiederum auf die Kultur zurückverweist.1 Wegen ihres politischen, sozial-strukturellen und materiellen Hintergrundes und ihrer ideologischen Unbestimmbarkeit unterhält die Kultur

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Varese 1988: 65.

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vielfaltige Verbindungen mit Formen sozial-kultureller Schichtung, die jede Gesellschaft der Welt aufweist. Sozial-kulturelle Schichtung wird hier verstanden als die (geistes)geschichtliche Bestimmung von materiellen und immateriellen Elementen wirtschaftlich-sozialer Organisation. Die Kultur gewinnt folglich, vermittelt z.B. über die Bedeutung von Land in bäuerlichen Gesellschaften oder über die jeweilige Technologie oder Herstellungsweisen im allgemeinen, in entwickelten Industrieländern eine entscheidende Bedeutung.

Die soziale Entwicklung in Guatemala Die vorkoloniale Epoche der guatemaltekischen Gesellschaft, vor allem die klassische (300-900 n. Chr.) und spätklassische (900-1524 n. Chr.) Zeit, ist geprägt von einer intensiven kulturellen Dynamik und von einer nicht leicht zu bestimmenden Homogenität bzw. Einheit. Die Formen der sozialkulturellen Schichtung waren trotz der internen Feindseligkeiten, der Menschenopfer, der Sklaverei und der eigenwilligen Produktionsweisen für die unteren Schichten der Gesellschaft weder ausgesprochen streng noch übermäßig erdrückend. Trotz vielfaltige Wanderungsbewegungen in der Region sind als Hintergrund einer nur schwach ausgebildeten kulturellen Homogenität die Schwierigkeiten der Verständigung und die weitgehende einheitliche Siedlungsweise der Epoche zu sehen. Dies führte dazu, daß die Kommunikation zwischen den Siedlungsverbänden schwach blieb. Einen Austausch zwischen den sozialen Schichtungen gab es kaum. War auch der entsprechende Rahmen der sozial-kulturellen Schichtung nicht übermäßig streng, so gab es doch eine deutliche Unterscheidung zwischen der Oberschicht, den macehuales, den Bediensteten, den Sklaven etc. 2 Seit der Conquista jedoch, und vor allem während des gesamten 16. Jahrhunderts, erfuhr die auf dem heutigen Staatsgebiet Guatemalas lebende Gesellschaft die tiefgreifendsten Veränderungen ihrer bisherigen Geschichte. Es entstanden nicht nur ein neuer Menschentyp, eine neue Kulturform und unterschiedliche Weisen sozialer und politischer Organisation, sondern, was gleichermaßen entscheidend ist, es formte sich ein vollkommen neuer Zusammenhang sozial-kultureller Schichtung. Das biologisch begründete Mestizentum verharrte in eigenen Einteilungskriterien (Weiße, Mestizen, 2

Carmack 1979: 63-92.

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Schwarze, Indios). Ein vielfältiger und tiefgehender kultureller Austausch ging vor sich, das Christentum beeinflußte die Indígenas und der Mais verbreitete sich in der Alten Welt, um nur zwei Beispiele zu nennen. Durch die Einwanderung kulturhistorisch unterschiedlicher Gruppen (Spanier, konvertierte Juden, Afrikaner) kam es zur Ausformung eines wesentlich komplexeren und vielfaltigeren Schemas sozialer Schichtung als vorher. Die Europäer zwangen schließlich während der Kolonialzeit neue Formen sozialer und politischer Schichtung auf, wie an der encomienda, den indianischen Arbeitsdiensten (repartimento de indios), den ethnischen Säuberungen in Zentralamerika, dem Standesbewußtsein der Criollos, den sozialen "Kasten", der Ausgrenzung der Indios, den Handelsbeziehungen mit Spanien, den neuen Dorfverwaltungen etc. zu sehen ist. All diese Faktoren prägten die neuen Produktionsbeziehungen und führten zwangsläufig zu einem völlig veränderten Rahmen gesellschaftlicher Hierarchisierung. Die drei angedeuteten Komponenten, die biologische, die kulturelle und die soziale im engeren Sinne, beeinflußten und förderten sich gegenseitig im Zusammenhang der Entstehung einer neuen gesellschaftlichen Stnikturierung. Es gibt Autoren, wie Severo Martínez Peláez, die so weit gehen zu behaupten, daß gerade in dieser Epoche der Indio als soziale Kategorie des kolonialen Knechtes entstanden ist.3 Der Indio, im untersten Bereich der sozialen Pyramide angesiedelt, ist der ausgebeutete Arbeiter, der von seinem Land Vertriebene (durch Conquistarecht verfugt), der Träger einer stigmatisierten Kultur, das Wesen, das keinen direkten Einfluß in Politik und Gesellschaft hat und auch körperlich am schwächsten ist. Der geschichtliche Fortbestand von Elementen vorspanischer Kultur wurde zum einen gerade dadurch gesichert, daß die Kolonisatoren Arbeitskräfte brauchten, zum anderen durch die Indios selber, die eine Kultur der Subsistenz entwickelten und verzweifelt die Kultur der Ahnen zu befestigen suchten. Das Festhalten an der alten Kultur muß jedoch wegen seiner übergreifenden Bedeutung als sehr wichtig angesehen werden, weil weder das Dasein als Arbeiter in einem Zwangssystem noch das eines Substistenzbauem verhinderten, daß die vorkolumbischen Bewohner ihre kulturelle Identität bewahrt und in die Zukunft weitergetragen haben. In dieser nachkolum3

Martínez Peláez 1979.

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bianischen Phase zeigte die Kultur mit besonderem Nachdruck ihren politischen Hintergrund. Heute begreifen sich die Maya-Volksgruppen in Guatemala infolge ihrer Geschichte zunehmend als Einheit und Machtfaktor. Die Neubestimmung ursprünglicher Bindungen, von denen Erich Fromm4 spricht, die Inkulturation durch die Muttersprache, die selbstgewollte Abgrenzung usw. bilden allmählich den Kontext einer Kultur des Widerstandes. Wahr ist aber auch, daß durch das Fehlen einer Führungselite (auch durch das autoritäre Gewicht des kolonialen Regimes) die Kultur des Widerstandes keine festen Oraganisationsformen zu Wege brachte und keine Revolution, trotz einer Reihe von Aufständen und Volkserhebungen. Aber bis zu diesem Punkt zurück reicht das spezifische Phänomens der Ethnizität. Sie wird nämlich als Basis des bewußten Widerstands der Volksgruppen gewertet. Dies führt schließlich dazu, daß die sozial-kulturelle Schichtung zunehmend auf einem kulturellen Fundament ruht. Man hat bisweilen versucht, die Pluriethnizität in Gestalt des Indigenismo in eine nationale Ideologie zu verwandeln. Der strukturelle und überstrukturelle Rahmen, der hier angedeutet wurde, erfährt nur kleine und eher formale Veränderungen nach der Unabhängigkeit von 1821. Die liberale Revolution von 1871, die vorwiegend von Maßnahmen begleitet war, welche den indianischen Dorfgemeinschaften die materielle Basis (Landenteignung) entzog, verschärfte die Auseinanderentwicklung der nationalen Gesellschaft. Die Oktoberrevolution von 1944 ihrerseits schwappte über in einen demokratischen Idealismus, der in leeren Gesetzen, vielen Reden und bloßer Rhetorik versackte. In dem Moment, als eine konkrete revolutionäre Praxis unter Arbenz Guzmán gesucht wurde, erstickte die Intervention der Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika auch diesen Aufbruch schon im Ansatz. In gleicher Weise verhielt sich das Militär, das als solches einen der gravierendsten Widersprüche in der soziopolitischen Struktur des Landes darstellt. Vom Militär sagt man, daß es eine hirnlose Institution ist, aber gleichzeitig die am besten organisierte Partei des Landes. Die Ideologen der Revolution von 1944 jedoch haben sich nie über die wirkliche strukturelle Zusammensetzung der guatemaltekischen Gesellschaft Gedanken gemacht. Gegen Ende der revolutionären Ära wurden die möglichen Lösungen auf rein ökonomistische Alternativen reduziert. Die spe4

Fromm 1982.

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zifischen Lebensbedingungen der indianischen Bevölkerung und ihre Herkunft und Vergangenheit wurden stur ignoriert. All dies sind Aspekte, die bis heute die Struktur der Gesellschaft insgesamt beeinflussen. Oft bleiben die Sozialwissenschaften hinter der Realität zurück, oft waren sie, z.B. während der Zeit des Kalten Krieges, ideologisch geprägt. Man könnte vielleicht von Hintergrundbeziehungen zwischen dem Kalten Krieg und ethnischer Marginalisierung des größeren Teils der guatemaltekischen Bevölkerung sprechen, wobei gerade die neuesten Veränderungen in Osteuropa und ähnliche Vorgänge in anderen Teilen der Welt die Möglichkeit eröffnen, diese losen Verknüpfungen genauer zu betrachten. Der Fall Jugoslawien z.B. zeigt, daß in einer vormals sozialistischen Gesellschaft, von der angenommen wurde, daß die sozialen Klassen (und damit die ethnischen Probleme) verschwunden seien, jetzt ein grausamer Krieg zwischen den vorher scheinbar bedeutungslosen Ethnien heiTscht. Kirche, Widerstand und indianische Bewegungen Nach dem Zwischenspiel der Oktoberrevolution verläuft der sozio-politische Prozeß in Guatemala über eine Reihe von Militärregimen, deren einzige ideologische Leitlinie das Sichern der inneren Ordnung ist. Diese Linie prägte den Begriff der "nationalen Sicherheit" und drückte sich in einem gewaltsamen und gegen das Volk gerichteten Vorgehen aus. In der Gesellschaft bildeten sich Bewegungen, die im Laufe der Geschichte immer wieder folgenreiche Wendungen eingeleitet haben. Eine dieser Bewegungen ist die Katholische Kirche. Man kennt zur Genüge die Rolle, die sie schon während der Kolonialzeit auf ideologischem, wirtschaftlichem, künstlerischem und politischem Felde gespielt hatte - mit den Konsequenzen bis ins Jahr der liberalen Reformen 1871. Es wurde auch schon ausreichend über deren militante Oppositionshaltung in Hinblick auf die revolutionären Veränderungen während der Dekade von 1944-1954 geschrieben. Durch die Gründung einer Bewegung namens Acción Católica entwickelte die Kirche ein neues Instrument, um sich ihren politisch-sozialen Bewegungsspielraum zu erhalten. In ihren Ursprüngen durch und durch konservativ, verfolgte diese Bewegung, zumindest in der Theorie, die Absicht, halbherzige Christen in wahre Katholiken

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zu verwandeln. Vielleicht gerade deshalb richtete sie sich vorwiegend an die indianische Bevölkerung des Landes. Innerhalb weniger Jahre, vor dem Hintergrund unterschiedlicher Einflüsse der internen und externen politischen Ordnung, entpuppte sich die Acción Católica als der wichtigste Sammelpunkt für die Organisation und die Bewußtseinsbildung indianischer Volksgruppen, vor allem im nordwestlichen Teil Guatemalas. Noch andere, zweitrangige Widersprüche bestimmten die Arbeit der Katechese der Acción Católica. Zum Beispiel führte sie einen systematischen Kampf gegen den Heiligenkult (culto a los santos), der ein wesentlicher Bestandteil des Volkskatholizismus der Indígenas darstellt. Da er kolonialen Ursprungs ist, betrachtete ihn die Kirche als einen lebenden Ausdruck von Fetischismus. Gerade diese Bekehrungsbemühungen der jüngsten Vergangenheit haben die Kirche heute in eine schwierige Situation gebracht, angesichts der Expansion protestantischer Sekten und einer alamierenden Zunahme von Reliquienraub und Diebstählen von Heiligenbildern mit einem hohen künstlerischen und rituellen Wert. Die Acción Católica kann als eine ideologische oder kulturelle Bewegung angesehen werden, wenn man die etwas weitergefaßten Zusammenhänge von "kulturell" gelten läßt. Dazwischen mischen sich Elemente oder Programme "desarrollistischer" Herkunft, die jedoch gleichzeitig die Vorläufer der indianischen Bewegungen (movimientos indios) darstellen. Dies war möglich, weil die eigenen Werte der Acción Católica sich zu verändern begannen und der Spielraum zwischen Ideologie und Praxis sich ausweiten konnte. Diese eigenwillige Entwicklung wurde von der Guerillabewegung der 60er Jahre "entdeckt", die während dieses Jahrzehnts im Osten des Landes vollkommen gescheitert war. Auf diesem Weg erkannte die orthodoxe Linke die ethnische Wirklichkeit an und damit auch die grundlegenden Elemente der Struktur der Gesellschaft Guatemalas. Den Führern der Widerstandsbewegung von heute, zusammengefaßt in der Unión Revolucionaria Nacional Guatemalteca (URNG), ist es nicht leicht gefallen, im Zusammenhang mit der revolutionären Theorie die Selbstbestimmung und Zukunftsvision der Volksgruppen anzuerkennen, die bislang eher als ein fossiles Relikt in der Entwicklung der Gesellschaft angesehen wurde. Der kleinbürgerliche und mestizische Lebenshintergrund der Widerstandsfuhrer ist in gleichem Maße ein Hindernis auf dem Weg zu einer theoretischen Aufarbeitung des Phänomens der Volksgruppen in einer Gesellschaft. Die Wahrheit ist, daß in den letzten Jahrzehnten die ethnische Frage auf ideolo-

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gischer Ebene für die Linke (dogmatisch und orthodox und deshalb antidialektisch) niemals eine wichtige Rolle gespielt hat. In ihren Beziehungen mit dem Landwirtschaftssektor wurden die Indios ausschließlich als ausbeutbare Arbeitskraft angesehen. Gleichzeitig bildeten sie die Basis des nationalen Heeres, das mit Sicherheit nicht hätte bestehen können ohne die entscheidende Mithilfe der Militärbeauftragten (comisionados militares) in den indianischen Dorfgemeinschaften. In dieselbe Reihe von Zwangsmaßnahmen gehört die gewaltsame Rekrutierung (reclutamiento forzoso) von indianischen Soldaten sowie die neueste Variante in Gestalt der Zivilpatrouillen (patrullas de autodefensa civil), die in Wirklichkeit ein Werkzeug der Widerstandsbekämpfung und der Kontrolle der bäuerlichen Bevölkerung sind. All dies geschieht ohne Zweifel mit Einwilligung der jeweiligen Regierungen und der offiziell genehmigten politischen Parteien. Trotz des Gesagten scheint sich letzten Endes ein Durchbruch für die indianische Bewegung innerhalb eines nationalen und panmayistischen Panoramas anzubahnen. Zweifelsohne hat diese Bewegung ihren Preis für ihre institutionelle Anerkennung bezahlt, ein Preis, der sich auf über 45.000 Witwen, ungefähr 200.000 Waisen, viele Tausende von Toten, Verschwundene und Flüchtlinge berechnet. Letztere beginnen jetzt aus den Nachbarländern zurückzukehren.

Die ethnopopulistischen Lösungsvorschläge Bei der Analyse von bestimmten, von Vielfalt gekennzeichneten Gesellschaften Lateinamerikas, vor allem was Mexiko und Guatemala anbelangt, finden sich vier theoretische Positionen, die sich folgendermaßen zusammenfassen lassen.5 Eine Position reduziert die Sozialstruktur auf die unterschiedlichen Klassen und deren Konfrontation und umschreibt dadurch den theoretischen Rahmen, der von den orthodoxen Marxisten eingenommen wird. Die Klassen verstehen sich als die einzigen analytischen und explikativen Kategorien des gesellschaftlichen Lebens. Auch der historische Ordnungsrahmen wird durch die Klassen bestimmt, d.h. sie bewirken über den Klassenkampf die grundlegenden Veränderungen innerhalb der Gesellschaft. Aus diesem Blickwinkel wird der ethnischen Auseinandersetzung jegliche 5

Díaz Polanco 1985: 18-20.

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Bedeutung verweigert, und der Indio wird ungefragt in eine feststehende Klassenstruktur hineingezwängt. Im Rahmen der orthodoxen Klassentheorie wird behauptet, daß es vor der Conquista den Indio (als soziale Kategorie) nicht gab und daß er, so wie er einen Anfang als soziale Erscheinung hatte, auch ein Ende haben wird, gleichbedeutend mit der sozialistischen Lösung des Verschwindens der Klassen. 6 Im Gegensatz zu dieser reduktionistischen Variante stehen die ethnopopulistischen Ansätze, in denen den ethnischen Ordnungsmerkmalen oberste Priorität zugesprochen wird und in denen die sozialen Klassen weitgehend irrelevant sind. Sie werden nur als Lösungsansatz fiir die übergeordneten strukturellen Widersprüche verstanden. Von dieser theoretischen Position aus kommt dem indianischen Ausschnitt der Gesellschaft eine entscheidende Bedeutung zu. Dies verstärkt sich noch, wenn über die Betrachtung der Vergangenheit und der Gegenwart deren umwälzende Kräfte und Möglichkeiten zum Vorschein kommen. Doch am Ende erweist sich auch diese Position als gleichermaßen idealistisch und utopisch. Sie vernachlässigt andere Prozesse und soziale Zusammenhänge, deren Wirkungen durch die Geschichte hindurch nicht geleugnet werden können. Wegen ihrer romantischen und demagogischen Verzierungen hat diese Position in neuester Zeit eine gewisse Popularität erlangt. Gerade die extreme Übertreibung, die in den Utopien lag, ließ sie provokativ und gleichzeitig verdächtig werden. Eine indianische Republik oder eine ausschließlich indianische Staatsgewalt, einig und festgefügt, ist im Lichte der Geschichte und der heutigen Realität besehen eine bloße Fiktion und kein Ausweg; und dies bedeutet keine Unterschätzung der immer mehr vordringenden indianischen Bewegungen. Gegenüber den beiden genannten Positionen werden im folgenden zwei nicht-reduktionistische Ansätze vorgestellt, in denen gleichbedeutend soziale Klassen und ethnische Gruppen als strukturelle, eigenständige und sich gegenüberstehende Konzepte die nationale Gesellschaft formen. Diese beiden Strömungen unterscheiden sich voneinander dadurch, daß eine Richtung soziale Klassen von den Volksgruppen vollkommen und ohne Berührungspunkte trennt, während die andere von bestimmten Beziehungen und Überkreuzungen der beiden Konzepte ausgeht.

6

Martínez Peláez 1973.

Pluralität und sozial-kulturelle Schichtung

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Der Zwang der Umstände billigt der letzten theoretischen Position größere Überzeugungskraft zu, vorausgesetzt, daß diese sich nicht darauf beschränkt, die Volksgruppen nach Produktionsprozessen oder nach bestimmten Charakterzügen und kulturell deskriptiven Elemente wie Sprache, Kleidung, oder Glaubensinhalte etc. zu bestimmen. Die Volksgruppen können auf keinen Fall nur ausschließlich durch kulturelle Merkmale definiert werden. Jedoch sind diese, wie die Kultur im allgemeinen, Ergebnisse der sozialen Prozesse, in denen strukturelle und überstrukturelle Momente zusammenfließen.7 Die Kultur, sagt Várese, ist Teil der sozialen Struktur, indem sie die Güterproduktion beeinflußt und von dieser beeinflußt wird und indem sie singuläre Bedeutungsinhalte in das Netz der sozialen Beziehungen auf allen Ebenen einbaut. Während der Kolonialzeit wurde ein strukturelles Herrschaftssystem geschaffen, das man auf energische Weise über die Kultur zu rechtfertigen versuchte. Die Indígenas jedoch, ihrerseits ihrer eigenen strukturellen Stellung bewußt, schufen über die Kultur ihrer Ahnen eine Möglichkeit der Selbstbestimmung und des Widerstandes, auch wenn es höchste Zeit gewesen wäre, die Gebräuche und Einflüsse aus dem Westen zu übernehmen. Die Gangbarkeit eines ethnischen Pluralismus Im akademischen und juristischen Rahmen sowie auf dem Felde der politischen Rhetorik ist im Moment das Konzept des ethnischen Pluralismus sehr in Mode. Man spricht von einer pluralistischen und multiethnischen Gesellschaft in Guatemala. Es gibt durchaus überzeugende und ausdrückliche Bekundungen dieser Haltung, obwohl nicht immer völlige Klarheit darüber zu herrschen scheint, wie weit die Projektion und die dazu nötigen politischen Vorgaben reichen müssen, die eine solche Haltung verlangen. Dies kann vor allem von der Funktionärsebene in der Regierung und von den mehr pragmatisch orientierten zivilen Sektoren des Landes behauptet werden. Das offizielle Bekenntnis zum Phänomen der Ethnizität erfordert wissenschaftlich einwandfreie Klarheit über diesen Tatbestand und gleichzeitig die Etablierung bestimmter politischer Richtlinien, die eine nachvollziehbare Neuformulierung der kulturellen Inhalte der jeweiligen Segmente der nationalen Gesellschaft erlauben. Diese Politik ist nirgends im Bereich des Staa7

Várese 1988: 57-77.

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Flavio Rojas Lima

tes zu erkennen, wo vor allem Verhinderungsstrategien und oberflächliche Kompromißlösungen vorherrschen, trotz der Gültigkeit verschiedener Vorgaben in der Verfassung. Es gibt z.B. ein Kulturministerium, das jedoch nur als bürokratisches Etwas dahinlebt und vollkommen losgelöst scheint von dem Wissen über die sozio-kulturelle Realität des Landes und der politischen Vorgaben, die diese erfordern würde. Die politische Verfassung Guatemalas, die 1985 verabschiedet wurde, erkennt die kulturelle Eigenständigkeit von Personen und Gemeinschaften als ein Grundrecht an. Sie sieht den Schutz und die tiefere Kenntnis der Kultur im allgemeinen als eine Pflicht des Staates an und bestimmt diese Kultur als ein nationales Erbe. Dasselbe Rechtsinstrument, d.h. die Verfassung des Landes, sagt unmißverständlich: "Guatemala setzt sich aus unterschiedlichen Volksgruppen zusammen, unter denen sich die indianischen Maya-Gruppen befinden. Das Staatswesen erkennt an, respektiert und fördert diese Lebensformen, Gebräuche, Traditionen, sozialen Formen des Zusammenlebens, den Gebrauch der indianischen Kleidung bei Männern und Frauen, die Sprachen und unterschiedlichen Dialekte" (Artikel 66). Schließlich hat der Staat, unter anderen Vorgaben, die sich auf die Volksgruppen beziehen, sich die Pflicht auferlegt, spezielle Programme zu entwickeln, um den indianischen Dorfgemeinschaften Land zuzuschreiben und des weiteren ein Gesetz zu erlassen, das ausschließlich dazu dient, alles mit der Kultur der Volksgruppen Zusammenhängende zu regeln. Tatsache ist aber, daß fast keine der verfassungsmäßigen Vorgaben von staatlicher Seite seit 1985 erfüllt wurden. Genausowenig wurde der Entwurf der ethnischen Pluralität genauer bestimmt, trotz des Gebrauchs und Mißbrauchs, den man mit diesem Begriff im Bereich der politischen Rhetorik übt. Die Gleichgültigkeit des Staates und die dadurch verursachte Verlängerung der sozialen Mißstände, die über Jahrhunderte geherrscht haben, schuf bei den Maya-Volksgruppen ein wachsendes ethnisches Bewußtsein. Sie fanden neue Organisationsformen, die immer offener und effizienter arbeiteten und schließlich einen politischen Einfluß gewannen, der vorher so nicht existierte. Die indianischen Gruppen haben mit ihren eigenen Führungspersönlichkeiten und selbstformulierten Programmen konkrete Forderungen erhoben. Diese deuten einen gangbaren Weg an angesichts des zugestandenen ethnischen Pluralismus' und des Grandsatzes, der sich auf die allgemeine Gleichheit vor dem Gesetz beruft. Sie haben unter anderem vorgeschlagen, endlich folgende Dinge zu gewährleisten: die Landfrage, die Anhebung des

Pluralität und sozial-kulturelle Schichtung

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Mindestlohnes auf dem Land, die bilinguale Erziehung, die vorbehaltlose Respektierung der regionalen kulturellen Gebräuche, die Abschaffung des diskriminierenden und erzwungenen Militärdienstes, die Autonomie der ethnischen Einheiten, die bedingungslose Respektierung der Menschenrechte, die Ratifizierung des Artikels 169 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), d.h. die Respektierung des Vertrages über indigene Völker und Stämme in unabhängigen Staaten. Einige der soeben erwähnten Forderungen haben Mißtrauen und bisweilen sogar Angst unter der Mestizenbevölkerung ausgelöst, vor allem in den politischen und wirtschaftlichen Machtzentren. Auch die politischen Parteien, die eine mehr oder weniger ethno-populistische Flagge zeigen, haben erkennen lassen, daß ihnen diese Positionen vorwiegend als Mittel zu Wahlerfolgen oder rein persönlichen Interessen der Bereicherung und der Einflußnahme dienen. In diesen Machtzentren denkt man im allgemeinen, daß viele dieser Forderungen latente Gefahren für das Recht auf Privatbesitz mit sich bringen, daß sie die territoriale Integrität des Landes, die derzeitige administrative Organisationsstruktur und andere Werte und Praktiken, die durch die nationale Gesetzgebung geschützt sind, gefährden. Dasselbe Mißtrauen richtet sich gegen Umstände und Situationen, die im Augenblick an Bedeutung gewinnen, wie z. B. die ständige Ausweitung des informellen Sektors, der sich in Händen der Indígenas befindet und dadurch eine steigende Abwanderung derselben in die städtischen Zentren nach sich zieht. Zusammenfassend kann gesagt werden, daß die politische Anerkennung des Phänomens der Ethnizität, die Anerkennung der ethnischen Vielfalt in allen ihren theoretischen und praktischen Aspekten, eine umfassende strukturelle und überstrukturelle Veränderung erfordert. Diese scheint immer drängender für die nahe Zukunft des Landes. Sie ist die große Herausforderung für das kommende Jahrhundert und wird das Geschick Guatemalas entscheidend bestimmen. Die erwähnten Wandlungen werden eine radikale Veränderung des Rahmens der sozial-kulturellen Schichtung Guatemalas herbeiführen, um dadurch einem neuen strukturellen System Bahn zu brechen. Dies bedeutet eine Neuformulierung der Beziehungen der unterschiedlichen Volksgruppen und Segmente der nationalen Gesellschaft, in der auch eine indigene Kultur bestehen kann, die nicht stigmatisiert und nicht diskriminiert wird. Außerdem wird eine Chancengleichheit beim Zugang zu den Quellen politischer und wirtschaftlicher Macht erforderlich sein, die eine

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Flavio Rojas Lima

Hoffnung auf Fortschritt und Wohlstand für alle Sektoren der Gesellschaft in sich trägt. Ohne eine deutliche und emsthafte Anstrengung in diese Richtung wird sich kein Frieden für die Gesellschaft Guatemalas finden.

Globale Entwicklung in lokalen Kulturen

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Martina L. Kaller

Globale Entwicklung in lokalen Kulturen Über eine Unmöglichkeit am Beispiel der Mayas in Guatemala Dieser Beitrag geht auf eine zweijährige Forschungstätigkeit in Guatemala in den Jahren 1990 bis 1992 zurück und reflektiert einige Punkte derselben aus zeitlicher Distanz. Die Dringlichkeit, die Ergebnisse und Ansätze von damals wieder aufzugreifen, ergab sich aus einem langen Gespräch, das ich mit Frau Juana Väsquez vom Movimiento Nacional de Resistencia MayaGuatemala (MNRM) im Mai 1993 gefuhrt habe. Ich wollte damals von Juana hören, wie sie die Distanz zu emanzipatorischen oder revolutionären Bewegungen in Guatemala begründet, die sich zu oft der angeblichen Masse von Indios bedienten, ohne auf die konkreten Anliegen von Indio-Völkern in Guatemala einzugehen. Meine Frage zielte damit auf die Existenzberechtigung der MNRM ab. Juana erklärte diskret aber bestimmt, daß es nicht weniger als eine vollkommen andere. Vorstellung von dem ist, was Leben bedeutet, die es unmöglich macht, Mayavölker - sich ihrer Kultur bewußte Indios - in einen politisch vordergründigen Kampf um die Macht im Staat, wie ihn die Guerilla auch in Guatemala führte, zu verwickeln. Juanas Argumente waren eindeutig und klar aus der Sicht einer Maya formuliert, die nicht mehr gegen etwas - den Staat, das Militär, die Guerilla etc. - auftritt, sondern für ein Wiedererlangen des konkreten Lebensraumes der Mayas. Das meint, um der eigenen Existenz willen, nicht die Ziele einer globalen Gesellschaft erreichen zu wollen. Das Leben, im Gegensatz zu einem rein physischen Über-Leben, meint vielmehr, dort weiterzubauen, wo das konkrete Haus der lokal verbundenen Gesellschaft (der benennbaren Gemeinschaft), der Ort, der einen Namen hat und die Gesichter, welche die konkreten Geschichten dieser Gemeinschaften erzählen, erkennbar bleiben.

Martina L. Kaller

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Nicht von einem "Zurück" in ein vielleicht Goldenes Zeitalter sprach Juana, auch meine Unterstellungen, daß ihre Beschreibungen, Argumente und Bilder vielleicht gar nicht mehr existieren, wies sie höflich, aber bestimmt zurück. "Du kannst nicht sehen, wenn Du, bevor Du schaust, schon weißt, was Du sehen wirst", meinte Juana zu mir. Damit ertappte sie mich in der Falle der europäischen Denkkategorien, die derart nach Entwicklung(sdenken) riechen, daß ich mich ihrer schämte. Lieber hörte ich, wie das ist mit den Mayavorstellungen vom Leben und den Gemeinschaften. Eines der vielen Bilder, die sie verwendet hatte, möchte ich weitergeben. Dieses und ein zweites wird meinen Argumenten voranstehen. Anschließend folgt eine aus Empörung polemisch gehaltene Reflexion über die Unmöglichkeit, globale Konzepte wie Entwicklung in lokale Kulturen einzubringen, ohne die konkreten Menschen, die diese Kulturen hervorbringen, zu verletzen und letztlich in ihrer Existenz zu vernichten. Vor dem Hintergrund des Gespräches mit Juana Vásquez spürte ich in mir wieder das Selbstvertrauen wachsen, das sich auf meine Erfahrungen in Mesoamerika stützt, und verließ mich wieder auf das, was ich gesehen und gehört hatte, anstatt auf die unendlichen Imperative, welche die Sozialwissenschaften formulieren.1 Nicht um die Feststellung, was in den indianischen Gemeinschaften in Guatemala entstehen soll, geht es in diesem Beitrag, sondern um den Hinweis auf eine Unvereinbarkeit, die allzuoft verwischt wird: Nämlich die Unvereinbarkeit von jüdisch-christlichen Denktraditionen und jenen Weltanschauungen - in diesem Falle eine Mayadenktradition - , für die Vergangenheit nicht linear in Zukunft übergeht. Nach letzterem kann eindeutig zwischen "Rück-" und "Fortschritt" unterschieden werden. Nach der anderen Sichtweise muß aber das Leben wie auf einer Spirale (in Form einer Feder) dahinlaufend gedacht werden. Um mir das verständlich zu machen, erklärte mir Juana die Bedeutung des Wortes b 'atz.

Der zweihundertsechzigtägige Mondkalender der Mayas beginnt mit dem Tag b'atz. B'atz bezeichnet aber auch den spiralförmigen Schwanz von Kletteraffen und den Faden, der in die Kleidung eingewoben, gestickt auf Huipilblüsen zu Schriftzeichen wird. Anläßlich religiöser Zeremonien werden mit schwarzem Bohnenpüree gefüllte Tamales2 gereicht, die aufge1

Siehe eine ausführliche Auseinandersetzung mit den Positionen der Soziologie und Ethnologie gegenüber Indios in Guatemala in Kaller 1992: 239-261.

2

Maispasteten, die süß oder salzig mit Fleisch, Huhn, Bohnen u.ä. gefüllt werden.

Globale Entwicklung in lokalen Kulturen

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schnitten wiederum die spiralförmige Zeichnung aufweisen. Diese Festtagsspeise wird auch b 'atz genannt. B'atz ist also Zeitangabe, b 'atz stellt eine Nähe zur Natur/zum Tier her, weist in die Alltagskultur von Kleidung und Essen und bezieht sich auf einen Festtagsritus. Das alles steht fiir das Leben einer Person oder einer Familie überhaupt, das ebenfalls spiralförmig verläuft. Diese Vorstellung deckt sich nicht nur nicht mit dem abendländischen linearen Konzept vom Geborenwerden bis zum Sterben eines individuellen Lebens, sondern widerspricht der Vorstellung von einem körperlosen Leben nach dem Tod. Für die Mayas hört das Wirken auf Erden nie auf, denn auf der ewigen Spirale des Lebens wiederholen sich zwar die natürlichen Abläufe von Geburt und Tod, aber die Ahnen sind im täglichen wie auch religiösen Leben stets präsent, und ein persönliches Leben stützt sich auf das Leben und das Wissen der Vorfahren, die in Zeremonien angerufen werden, um wichtige Entscheidungen zu treffen. Ein anderes wichtiges Wort aus der K'iche- Variante der Mayasprachen ist pop. Es bezeichnet die geflochtene Strohmatte, die als Schlafunterlage dient. Pop geht auf Reisen mit, auf pop sitzend wird gegessen und geplaudert. Auf dem pop werden Kinder gezeugt und geboren, und auf dem pop stirbt ein Mensch. Der pop dient noch als Sarg und stellt die materielle Verbindung der Lebenden mit den Toten auf der Spirale des Seins dar. Der pop steht in seiner gewebten Schlichtheit auch als Symbol dafür, wie das Miteinander in der Gemeinschaft, welche über das individuelle Leben hinaus verpflichtet, auszusehen hat. Kein Strohhalm ist gleich, jeder hat eine andere Färbung, eine andere Stärke und Breite. Und doch liegt in der unentrinnbaren Einheit des Geflechts die Vorgabe für das Leben in einer konkreten Gemeinschaft, in der es gilt, einen Platz einzunehmen sowie dieses Gemeinschaftsgewebe an seinem konkreten Ort zu unterstützen. Bezugnehmend auf die Zeitlichkeit, "bezeichnet pop aber auch den ersten Monat im Kalenderjahr, die Autorität (Aj pop), das Buch der Zeit und der Geschichte (Pop Wuj), was übertragen Chronologie, Weisheit, Tradition und Gedenken bedeutet, weil pop das Symbol für Einheit ist."3

3

Guzmàn-Bockler/Herbert 1972: 26.

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... ihre Existenz ist ein Hindernis... Wie aus einer anderen Zeit, einer längst ins Vergessen verdrängten Welt, klingen diese beiden Wörter, b 'atz und pop. Bei den einen lösen solche Beschreibungen kulturflüchtige Sehnsüchte aus, andere tun sie als romantisches Gefasel ab. Denn die Welt, so meinen angeblich alle, sei eben anders, und die Mayas in Guatemala und Mexiko täten gut daran, solche unrealistischen Vorstellungen zum alten Eisen zu legen. Mit derart vernichtenden Urteilen wird den Indios das Vertrauen in ihre Lebensformen genommen, werden sie selbst bestenfalls als Relikte einer anderen Zeit wahrgenommen. Meistens aber wird der Vorstellungswelt der Indios gar keine Aufmerksamkeit geschenkt. Ihre kulturspezifischen Lebens- und Ausdrucksformen spielen in der "einen" Welt keine wesentliche Rolle, denn Indios treten nicht als jemand auf, sondern meistens als etwas - nämlich als ein Problem: "Das rührt zunächst von ihrem offensichtlichen Anderssein her: Sie sehen anders aus, kleiden sich anders, essen und trinken anders und tun ... anderes. Sie reden anders. Diese Andersheit ist nicht nur oberflächlich: Die moderne Welt scheint ihre Sache nicht zu sein. Sie haben eine andere Kultur als die herrschende ... Indios sind nicht nur nicht modern, sondern sie sind antimodern. Sie sind nicht lediglich Zurückgebliebene des allgemeinen Menschheitsfortschritts, sie sind gegen den Fortschritt. Ja, unfähig zum modernen Leben, dumm und faul sind sie - zumindest erscheinen sie so ganz besonders dann, wenn sie in offensichtlich zum Fortschritt berufenen Gebieten angetroffen werden, etwa in Wäldern, die zwecks Viehwirtschaft oder intensiven Ackerbaus gerodet, in Tälern, die in Stauseen verwandelt, in Reservate, die durch Straßen und Häfen erschlossen werden könnten. Ihre Existenz ist ein Hindernis: sie gehören einer Entwicklungsstufe an, die doch längst überwunden sein sollte; ihr Überleben behindert allgemein Fortschritt."4 So pointiert spricht der mexikanische Sozialanthropologe Esteban Krotz aus, was angeblich alle - außer natürlich den indianischen "Hinterweltlem" wissen. Die Welt ist anders! Kein b 'alz, kein pop fuhren die Indios und die Menschheit aus dem Schlamassel, das die "eine" entwickelte Welt angerichtet hat. Die mit der europäischen Aufklärung entstandene Vorstellung,

4

Krotz 1993: 19 f.

Globale Entwicklung in lokalen Kulturen

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daß es die "eine" Menschheit gäbe, die sich am Fortschritt mißt und alle Menschen prinzipiell gleich seien, ungeachtet ihrer ortsgebundenen kulturellen Erscheinungsformen, bereitete den Weg zum Denken in Entwicklungsschritten. Demnach würden sich die Menschen nur zeitlich, in ihrer jeweiligen Fortschritts- beziehungsweise Entwicklungsstufe voneinander unterscheiden.5 Nicht mehr nur benennbare Völker sind es, die diese Welt bewolinen, sondern heute wird von einer "Weltbevölkerung" gesprochen, welche auf dem einen Planeten - dem "Raumschiff Erde" - lebt, der seinerseits als Begrenzung wahrgenommen wird. Als am 4. Mai 1945 Vertreter aus 46 Ländern die Charta der Vereinten Nationen unterzeichneten, galt es nicht nur das friedenssichemde Versprechen des Völkerbundes von 1919 einzulösen, sondern die internationale Verständigung und die Einheit der Menschheit in Fortschritt und Frieden wollte man erreichen. Als Werkzeug und Garant sollte die Einbindung aller Menschen in den einen Weltmarkt dienen, der fiir Ausgleich und Gerechtigkeit unter den Staaten sorgen würde. Gut vierzig Jahre später teilt das wichtigste entwicklungspolitische Dokument der 80er Jahre der Weltöffentlichkeit mit, daß dieses Konzept in eine ökologische und soziale Katastrophe mündet. Die Erde erträgt den modernen Fortschrittsmenschen nicht, der diesen Fortschritt an seinem Grad von Profit mißt. Einige hoffen noch, daß die Erde wenigstens ein paar von uns in Wohlstand erhält, doch ein halbes Jahrtausend kapitalistisches Weltsystem, fünf Dekaden unermüdliche Entwicklungsarbeit, das reißt alle um und mit. Nachhaltigkeit im Umgang mit den Ressourcen, eine neue Art der Ökonomie verlangt der Brundtland-Report. Suslainable Development heißt die neue Formel der modernen Regenmacher. Die unpersönliche Um-Welt des Weltbürgers bedroht das Überleben der Menschheit selbst. "Wirtschaft und Ökologie verbinden uns in einem zunehmend engen Netzwerk", heißt es in dem Bericht, und weiter: "Heute sehen viele Regionen Risiken von irreversiblem Schaden für die menschliche Umwelt ins Auge, die die Basis für menschlichen Fortschritt gefährden."6 Ins Blickfeld gerät in dieser Aktualisierung des Entwicklungsgedankens zwar die abstrakte Um-Welt, jedoch

5

Siehe ausführlich zur "Archäologie" des Begriffs Entwicklung Esteva 1 9 9 2 und in Sachs ( H g . ) 1993: 8 9 - 1 2 1 .

6

Hauff ( H g . ) 1987: 31.

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wird unweigerlich und unbeirrt am Fortschritt als Zielvorstellung der gesamten Menschheit festgehalten. Dem gegenüber stehen die konkreten Mitwelten von lokalen, benennbaren Gemeinschaften und ihren jeweiligen Ausdnicksformen. Was aber bedeuten die alten bzw. neuen Schimären am Entwicklungshorizont für Indios, die in den Rückzugsgebieten des westlichen Hochlandes, den Städten und unzähligen neuen Siedlungen der vom Entwicklungskrieg intern Vertriebenen Guatemalas leben? Ein flüchtiger Blick in die Geschichte, in der die "eine" Welt auftaucht und ihr Weltsystem durchsetzt, kann im folgenden Abschnitt zeigen, warum die Mayas in Guatemala nur um den Preis ihrer Existenz entwickelt werden können.7 Ein Blick in die Geschichte Als die spanischen Truppen in Guatemala einfielen und die "eine" Welt Kenntnis von den neuen transatlantischen Gegenden nahm, gab es keine Indios. Die in diesem Teil der Erde lebenden Völker hatten Gesichter, Namen und Geschichten. Ihr Leben ruhte auf gelebten Oberlieferungen und Selbstemeuerungen. Die offizielle Geschichtsschreibung bemüht sich - gleich den Eroberern Mesoamerikas - zu betonen, daß die große Zeit der Mayas, der Hochkulturen im Rcgenwald und in den fruchtbaren Tälern des Gebietes, das heute in den Staatsgrenzen Guatemalas dargestellt wird, längst untergegangen war, als 1524 die spanischen Truppen mordend und brandschatzend über Menschen herfielen. Die wenigen Menschen, die sich in entlegene Gebiete, vornehmlich ins Hochland, retten konnten, versuchten nach der "Zeit des Todes, der Zeit der Heuschrecken, ... der Zeit des Pustelfiebers, dem blutigen Erbrechen"8 dort weiterzumachen, wo sie gewaltsam unterbrochen wurden: Sie schufen wieder ihre Maisfelder (milpa), auf denen in Mischkulturen auch Bohnen, Leguminosen, Knollenfrüchte und Heilkräuter gediehen. Mit Hilfe des Grabstocks vertrauten sie dem neuen Land ilire Saaten an. Gewiß war gar nichts mehr, denn die Ahnen waren andernorts geblieben. Doch mit dem Wissen um eine Jahrtausende gehütete Tradition von Anbauvielfalt und Ergänzungswirtschaften gediehen die Ernten.

7

Ausfuhrlich siehe Brunner/Dietrich/Kaller 1993: 37-102.

8

Chilam Balam, zitiert nach Norman 1953: 115 f., bei Handy 1984: 19.

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G l o b a l e E n t w i c k l u n g in lokalen K u l t u r e n

Der neue Anfang war stets von den unerbittlichen Herrschern bedroht, die expandierten und auf der Suche nach menschlichen Arbeitstieren in die verborgenen Winkel des Landes vordrangen. Die Geschichte der Kolonialzeit ist gezeichnet von Menschen- und Landraub, w a s in den Mayakosmovisionen dasselbe bedeutet. Wer von Mord, Grabschändung und Plünderung verschont geblieben war, sollte nachfolgend von der spirituellen Conquisla

um den Verstand gebracht

werden. A n den einen Gott, in der "einen" Welt der Liebe und der Schwerter, sollten die M a y a s ihren Glauben verschenken. Ihre heilige Fürsorge um die Ahnen, die Erde und die Gemeinschaften wurde als Ketzerei verhöhnt und geächtet. Sich selbst sollten sie, als selbstverantwortliche Kinder Gottes, seinen Vertretern auf dieser Welt anvertrauen. Im höchsten M a ß e bedrohlich, aber auch absurd, muß das gewirkt haben - eben genau so, wie es heute, im nachhinein betrachtet, aussieht. Über die Eroberung der Träume war es möglich geworden, einen Keil zwischen die Menschen zu treiben. Weil mit allerlei Vergünstigungen zu rechnen war, würde man die neue Religion annehmen und damit die fremde Herrschaft anerkennen. Diese Spaltung der Gemeinschaften, die oft genug eine Selbstspaltung bedeutete, weil das Indio-Sein

zugunsten der neuen

Identität als Ladino negiert wurde, war und ist der Nährboden, auf dem die Zwietracht zwischen Indios und Ladinos geschürt wird. "Ladino" adjektivisch gebraucht heißt im spanischen "verschmitzt" oder "schlau", w a s ziemlich genau wiedergibt, wofür die spanischen Invasoren die indianischen "Konvertiten" hielten. Der Ausdruck Ladino

war und ist in Mesoamerika

gebräuchlich und weist auf den Unterschied zum Terminus des Mestizen hin, mit dem er allzuoft gleichgesetzt wird. Der Begriff Ladino das kulturelle Projekt der mestizaje

deutet auf

hin, wofür die mestizische Natur, also

Mischlinge von Weißen und Indios zu sein, nur sekundär relevant ist. Ladinos sind demnach Indios,

die angesichts von physischer und psychischer

Bedrohung mit Selbstspaltung reagierten und heute noch reagieren. Damit wird nicht nur die wirkliche Identität bis zur Unkenntlichkeit verdrängt, sondern aus Angst vor der Vernichtung muß immer wieder aufs neue die Negation. kein Indio zu sein, aktualisiert werden. Dies ist ein Prozeß, der nie aufhört, weshalb Bonfil Batalla im genannten Zusammenhang auch vom Prozeß der Des-Indianisierung spricht, die er wie folgt charakterisiert: "Die Des-Indianisierung ist ein historischer Prozeß, in dem Menschen sich gezwungen sehen, ihre ursprüngliche eigene und unter-

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scheidbare Identität, die in ihrer eigenen Kultur ruhte, zu negieren, mit all den damit verbundenen Konsequenzen für ihre soziale Organisation und Kultur."9 Der genannte Zwang geht, wie schon erwähnt, von der europäischen Herrschaftsform aus. Sie besteht einerseits darin, alles und jeden zu teilen, um ihn zu beherrschen. Andererseits sollen alle Unter-Worfenen auch Unter-Entwickelte genannt - dazu gebracht werden, diese Selbstspaltung an sich und an ihren Gemeinschaften zu vollziehen, damit das System intemalisiert wird und alle manipulierbar werden.10 Endgültiger Verlust von Wurzeln und Kultur? Diese Dynamik des Mordens, der Vernichtung, des Bedrohens und Bevormundens zieht sich in unterschiedlich starken Wellen, in denen das Weltsystem11 in Guatemala auftritt, durch die letzten fünfhundert Jahre. Seitdem Guatemala mit dem Jahr 1949 zu den unterentwickelten Regionen dieser "einen" Welt gezählt wird,12 geht es fiir die Indios nicht mehr "nur" um ihre persönliche physische Existenz und ihren Glauben. Der im 19. Jahrhundert vom Nationalstaat halbherzig begonnene Versuch, Indios zu Staatsbürgern zu machen, gipfelt heute in der Vermessenheit, diese Menschen zu Bürgern der "einen" Welt im "Raumschiff Erde" hin zu einem Teil der einen fortschreitenden Menschheit entwickeln zu wollen. Das aber hieße, Wurzeln und Kultur endgültig zu verlieren, was eigentlich undenkbar ist, denn: "Niemand kann nur 'im Raum' leben, jeder lebt auch 'am Ort'. Denn trotz aller Versuche, es zu leugnen, bedeutet Menschsein, einen Körper zu haben, und dieser physische Körper braucht seinen Platz. Das menschliche Leben vollzieht sich daher unter bestimmten örtlichen Gegebenheiten, und folglich werden für die Menschen jene Orte im Raum, die mit individuellen und kollektiven Handlungen und Vorstellungen verknüpft sind, stets wichtiger sein als andere. 9

Bonfil Batalla 1990: 30.

10 Siehe als Beispiel in Diermoser 1994, wie sich vor allem die sogenannte Intelligencia Lateinamerikas in das Zwangssystem des Marktes drängt, das selbst die soziale und ökologische Katastrophe erzwingt. 11 In Brunner/Dietrich/Kaller 1993 finden sich die Auswirkungen, welche die Expansions- und Kontraktionsphasen des Weltsystems in Guatemala auf die indianischen Gemeinschaften hatten, in Form einer Darstellung der Wirtschaftsgeschichte Guatemalas aus der Perspektive von Guatemala Profunda exemplarisch ausgeführt. 12 Siehe Inauguralansprache von Harry S. Truman o.J.: 254 f.

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Um sich zu erinnern, zu anderen in Beziehung zu treten, Teil eines größeren Zusammenhangs zu werden, muß man sich einlassen, muß man anwesend sein ... wo schon die Vorfahren lebten und wo die wichtigsten Erinnerungen sind, wo man eingebunden wird in ein Geflecht sozialer Verpflichtungen, wo man die anderen kennt und wo man gekannt wird, dort gibt es den je besonderen Ausgangspunkt: Sprache, Gewohnheiten und Anschauungen bilden zusammen eine eigene Lebensweise." 13 Was Wolfgang Sachs hier ausspricht, gilt für die Indios in Guatemala auf ganz konkrete Art und Weise, zumal sie seit Jahrhunderten erfahren müssen, daß diese natürlichen lebensweltlichen Vorgaben, die für b 'atz, das Leben im pop, dem sozialen Geflecht offensichtlich und bindend sind, eben in der "einen Welt" nicht zählen. Sie werden nicht gesehen, um mit Juanas Worten zu schließen. Denn wer sein Sicherheitsbedürfhis über die Wahrnehmung der Wirklichkeit stellt, so daß er von vornherein nur das sieht, was er sehen will, wird jenseits der europäischen Kategorien bestenfalls einem absurden Nichts begegnen, das in der Sprache der Entwicklung als Unzulänglichkeit benennbar wird. Konkrete Menschen werden zu "Habenichtsen", weil sie ihre Grundbedürfnisse nicht befriedigen (können), ihre Existenz in Armut nicht überwinden und die Segnungen des Menschheitsfortschritts nicht haben (wollen). Das lange Gespräch mit Juana, in dem sie mir in vielen Beispielen, sie diesem ewigen "Nichts" der Entwickler entgegenhaltend, von den Möglichkeiten erzählte, für etwas zu sein, das man die Mayatradition nennen kann, erinnerte mich wieder an die unzähligen Ausdrucksformen dieser indianischen Lebenswelten. Wenn man genau hinsieht, finden sich überall bei den Mayas verborgene Zeichen der Selbstvergewisserung. Es ist eine Symbolsprache, die sich eingearbeitet, bestickt und bemalt auf den Gegenständen des täglichen Gebrauchs wiederfindet und den Dingen einen Hauch von Identität verleiht. Die Symbolsprache "prägt den täglichen Mühen ein unmittelbares, direktes und konkretes Lebenszeichen ein." 14 In gleicher Weise gibt es nicht die Geschichte der Mayas in Guatemala, weshalb es noch vieler Geschichten bedarf, die Juana und andere erzählen werden, damit auch wir Europäer nicht mehr nur das sehen, was wir sehen wollen, sondern erkennen, daß es in Guatemala konkrete indianische Gemeinschaften gibt, die sich

13

Sachs 1993: 4 4 3 f

14 Güzman-Böckler 1986: 204.

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nicht standardisieren und globalisieren lassen. Die Mayas in Guatemala existieren, haben konkrete Vorstellungen sowie lebendige Wünsche und Hoffnungen, die auf einer mit der abendländischen Tradition unvereinbaren Weltanschauung ruhen, und vermutlich ist das der Grund, weshalb sie nicht wahrgenommen werden.

Lokale Kultur, regionale Gesellschaft und globale Wirtschaft

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Fridolin Birk

Lokale Kultur, regionale Gesellschaft und globale Wirtschaft Zur Inkulturation der Moderne in indigenen dörflichen Institutionen

Im Guatemala von heute sind Widersprüche in Gesellschaft, Politik, Kultur oder Wirtschaft wesentlich - noch wichtiger als die handgebastelten und häufig ganz eigentümlich wirkenden Koalitionen von Interessen, Ängsten oder Vermutungen, die in der aktuellen Politik und Diskussion über die Zukunft des Landes eine bedeutende Rolle spielen. Ebenso wie die modernen Erfahrungen mit Geburt, Tod oder Krankheit (siehe dazu Beitrag von Piazza in diesem Band) zu einem Kreuzungspunkt unterschiedlicher Denkrichtungen geworden sind und die Widersprüchlichkeit der Phänomene als solche häufig erst geschaffen haben, so sind auch permanente gesellschaftliche Krisen, Armut oder Rassismus etc. uneinheitliche und in sich gebrochene Erscheinungen. Sie schälten sich erst im Zusammenprall von Tradition und Moderne im Laufe der vergangenen hundert Jahre heraus und entfalteten dann ihre aggressive und umwälzende Kraft (Birk 1995). Die Zusammenstöße konträrer Lebens- und Alltagskonzepte führen zu einer Umformung bestehender Ordnungsmuster in der Gesellschaft, Kultur oder Wirtschaft Guatemalas. Bis dato allgemeingültige Kulturelemente wurden und werden heute noch abgedrängt in das Ghetto, oder vielleicht auch an den ihnen angemessenen Ort lokaler Kultur. Neue soziale und politische (Zu-)Ordnungselemente lenken das Denken und vielfach auch das menschliche Lebensumfeld um in einen losen und unklaren Zusammenhang nationaler Vergesellschaftung, der als regionale Gesellschaft bezeichnet werden kann, während die rasche Ökonomisierung der Lebenswelt vieler Menschen innerhalb der staatlichen Grenzen Guatemalas durch die Globalisierung der

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Fridolin Birk

Wirtschaft und deren Charakteristika bestimmt wird. Sie werden en grosso modo als "Entwicklung" tituliert, doch deren Voraussetzungen und Folgen werden immer häufiger und vehementer in Zweifel gezogen (siehe Esteva 1993). Die Folgen des Konzepts Entwicklung können aber, trotz aller Kritik, von niemandem übersehen werden, und die daran teilnehmen, können auch nicht in Kollektivschuldmanier verurteilt werden. Deshalb darf in einer ernstzunehmenden Diskussion nicht vereinfacht werden. Die Genossenschaftsversammlung der indianischen Kleinbauerngenossenschaft hatte mit einiger Verspätung begonnen. Die Vorstandsmitglieder mit ihrem Präsidenten, Don Isidrio 1 , drückten sich hinter den nahe an die Rückwand geschobenen Tisch auf die Bank. Der Präsident, der entgegen der Tagesordnung und in Anbetracht des schwierigen und drängenden Themas sogar vergaß, das Protokoll der letzten Vollversammlung von seinem Sekretär verlesen zu lassen, verlor keinen Augenblick, um die Genossenschaftsmitglieder in den einzigen Tagesordnungspunkt einzuführen, den es zu behandeln und zu lösen galt: den Verkauf des genossenschaftseigenen Gemischtwarenladens an eine Privatperson. Diese Person sollte heute bestimmt werden. Der Verkauf wurde unausweichlich, nachdem der Laden über 20 Jahre hinweg fast ausschließlich Verluste geschrieben hatte. Viele Fälle von Korruption, Diebstahl, Mißwirtschaft und Übervorteilung hatten immer wieder die Vollversammlungen2 mit unversöhnlichen Streitereien belastet, verursacht durch die Genossenschaftsmitglieder, denen durch den Laden "eine Möglichkeit gegeben wurde" (