Aufbruch zur Moderne 9783412301330, 3412006971, 9783412006976

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Aufbruch zur Moderne
 9783412301330, 3412006971, 9783412006976

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Europa in der Frühen Neuzeit Festschrift für Günter Mühlpfordt Band 3 Aufbruch zur Moderne

Europa in der Frühen Neuzeit Festschrift für Günter Mühlpfordt zum 75. Geburtstag herausgegeben von

Erich Donnert Band 3

Europa in der Frühen Neuzeit Festschrift für Günter Mühlpfordt Band 3

Aufbruch zur Moderne

Herausgegeben von

Erich Donnert

® 1997

Böhlau Verlag Weimar · Köln · Wien

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Europa in der Frühen Neuzeit : Festschrift für Günter Mühlpfordt / hrsg. von Erich Donnert. - Weimar ; Köln ; Wien : Böhlau NE: Donnert, Erich [Hrsg.]: Mühlpfordt, Günter: Festschrift Bd: 3. Aufbruch zur Moderne. - 1997 ISBN 3-412-00697-1

Dieses Buch wurde auf chlorfrei gebleichtem, säurefreiem Papier hergestellt. © 1997 by Böhlau Verlag G m b H & Cie Köln, Weimar Alle Rechte vorbehalten

Satz: Graphische Werkstätten Lehne GmbH, Grevenbroich Druck und Verarbeitung: Strauss Offsetdruck GmbH, Mörlenbach Printed in Germany ISBN 3-412-00697-1

Inhaltsverzeichnis

GÜNTER ROSENFELD, BERLIN

August Hermann Franckes erster Sendbote in Rußland - Justus Samuel Scharschmid

1

ALOYS HENNING, BERLIN

Zu einem anatomischen Manuskript nach Nikolai Bidloo von 1719. Die Frühzeit medizinischer Lehrbücher und Bildung in Rußland

27

M I C H A I L I . FUNDAMINSKI, STUTTGART

Resident Johann Friedrich Böttiger und die russische Propaganda in der 1. Hälfte des 18. Jahrhunderts

47

SIEGFRIED H I L L E R T , LEIPZIG

Von Lomonosov zu Radis cev. Mitteldeutsche Aufklärung, Leipzig und Rußland

61

WIELAND HINTZSCHE/THOMAS NICKOL, HALLE

Eine Topographie der Stadt Tobol'sk

von Gerhard Friedrich Müller

79

PETER H O F F M A N N , NASSENHEIDE BEI B E R L I N

Anton Friedrich Büsching als Schuldirektor in St. Petersburg

95

M I C H A E L PANTENIUS, H A L L E

Das preußisch-russische Verhältnis im Spiegel der Schriften Anton Friedrich Büschings

107

A L E X A N D E R S . M Y L ' N I K O V , S T . PETERSBURG

Kaiser Peter III. von Rußland

121

GÜNTER ARNOLD, WEIMAR

Katharinas II. Große Kommission und Instruktion in der Sicht Herders . .

145

SERGEJ J A . K A R P , M O S K A U

Der Briefwechsel Friedrich Melchior Grimms mit Katharina II

159

C L A U S SCHARF, M A I N Z

Katharina II. von Rußland - die Große? Frauengeschichte als Weltgeschichte

177

VI

Inhaltsverzeichnis

BURKHARD MALICH, H A L L E

Von Gröst bei Merseburg nach Moskau. Christian Friedrich Matthaei

....

199

FOLKWART WENDLAND, BERLIN

Johann Zacharias Logan - ein deutscher Buchhändler und Verleger in St. Petersburg

219

ERHARD HEXELSCHNEIDER, LEIPZIG

Elisa von der Recke und ihre russischen Beziehungen

231

LARISSA V . KIRILLINA, MOSKAU

Russische Ubersetzungen deutschen Musikschrifttums aus dem 18. Jahrhundert

251

DORIS POSSELT, JENA

Deutsch-russische Wissenschaftsbeziehungen im 18. Jahrhundert. Beispiele aus der Geschichte der Naturwissenschaften

275

ELENA I . DRUZININA, MOSKAU

Peter Simon Pallas

289

EDUARD I . KOL'CINSKIJ/GALINA I . SMAGINA, ST. PETERSBURG

Zur Rolle deutscher Wissenschaftler bei der Entwicklung der Biologie in Rußland

293

WOLFGANG G Ö T Z , REINHEIM

Alexander Nicolaus von Scherer und die Gründung der „Pharmaceutischen Gesellschaft zu St. Petersburg". Zum wissenschaftlichen Austausch zwischen Deutschland und Rußland in der Pharmazie

313

ROSTISLAV J u . DANILEVSKIJ, ST. PETERSBURG

Nationale Varianten des Menschenbilds in der russischen und österreichischen Aufklärung

321

SERGEJ N . ISKJUL·, ST. PETERSBURG

Die Mission des Fürsten Nikolaj G. Repnin-Volkonskij in Kassel 1809-1810. Rußland und das Königreich Westfalen

327

ACHIM TOEPEL, H A L L E

Sismondi - Tolstoj: Gemeinsamkeiten im geistigen Entwicklungsgang

....

357

Inhaltsverzeichnis

VII

JOACHIM M A I , GREIFSWALD

Heinrich Schliemann als Großkaufmann in Rußland

369

ARVO TERING, TARTU

Höhere Bildung der akademischen Lehrkräfte in den baltischen Provinzen Schwedens

383

HEINRIHS STRODS, RIGA

Die Kurlandpolitik am Vorabend des Großen Nordischen Krieges

411

JANIS KRESLÜVS, STOCKHOLM

Friedrich Bernhard Blaufuß und seine „Erzählungen aus der Geschichte und Gegenwart der Livländer" vom Jahre 1753

423

ROGER BARTLETT, L O N D O N

„Das Recht der Prediger in Liefland in ihrer Kronbesoldung": Johann Georg Eisen und die Einkünfte der Pastoren in Livland im IB. Jahrhundert

429

GERTRUD BENSE, H A L L E

Kelos Nobaznos Giesmes. Zum litauischen evangelischen Kirchenlied im 18. Jahrhundert

447

VINCENTAS DROTVINAS, VILNIUS

„Hallißkos Giesmes": Zur Frühgeschichte der Halleschen Kirchenlieder in litauischer Sprache

461

FRIEDHELM H I N Z E , BERLIN

Zeugnisse und Selbstzeugnisse zum Fremdsprachenerwerb des Baltischen bei Johann Georg Hamann

469

Z E N O N HUBERT NOWAK, T O R U N

Zur Polnisch-Litauischen Union. Stand und Aufgaben der Forschung

....

479

Rechtslehre und Rechtswissenschaft am Thorner Gymnasium Academicum im 17. Jahrhundert

489

STANISLAW SALMONOWICZ, T O R U N

AGATHA KOBUCH, DRESDEN

Sachsen-Polen und Rußland im Großen Nordischen Krieg. Aspekte der Zusammenarbeit zwischen König August II. von Polen und Zar Peter I. von Rußland

499

VIII

Inhaltsverzeichnis

K A R O L B A L / B O G U S I A W PAZ, WROCIAW

Christian Wolffs Erbe in Polen

531

W E R N E R R I E C K , POTSDAM

Polonica im Schrifttum Johann Christoph Gottscheds. Ein Beitrag zu deutsch-polnischen Beziehungen in der Frühzeit der deutschen Aufklärung . . .

537

IRENA STASIEWICZ-JASIUKOWA, WARSCHAU

Der aufgeklärte Katholizismus im Polen der Frühaufklärung

555

WALDEMAR V O I S E ( + ) , WARSCHAU

Ignacy Krasickis „gefundene Geschichte" vom Jahre 1785

565

W O L F G A N G KESSLER, H E R N E

Waclaw Aleksander Maciejowski und Savigny

571

D A N I E L VESELY, BRATISLAVA

Die lutherische Reformation in der Slowakei bis 1548

579

M A R I A VIDA, BUDAPEST

Lepra und Leprosorien in Ungarn

597

D E N E S KARASSZON, BUDAPEST

Geschichtsformende Bedeutung der Medizin

603

ZOLTAN CSEPREGI, Ü R Ö M

Beziehungen ungarischer Pietisten zur halleschen Druckerei Orban

613

Ä R P A D SZÄLLÄSI, ESZTERGOM

Frühe Aufklärung in Ost-Ungarn

619

EVA KOWALSKÄ, BRATISLAVA

Schulreform als Mittel der Kirchenpolitik in der Habsburgermonarchie unter Maria Theresia und Joseph II

625

MICHAEL WEGNER, JENA

Vuk Karadzic und die Universität Jena

631

D A N BERINDEI, BUKAREST

Die Fanarioten und die rumänischen Fürstenhäuser

635

Inhaltsverzeichnis

IX

KLAUS BOCHMANN,

LEIPZIG

Leipzig und die Anfänge der rumänischen Journalistik PETER K U N Z E ,

643

BAUTZEN

Der Akademische Verein für lausitzische Geschichte und Sprache in Breslau

663

A N T O N SCHINDLING, TÜBINGEN

Aspekte des ,Josephinismus" - Aufklärung und frühjosephinische Reformen in Osterreich. Ein Essay zu dem klassischen Werk Eduard Winters

683

I N G R I D M I T T E N Z W E I , B E R N A U BEI B E R L I N

Das stille Ringen um Emanzipation. Die jüdische Oberschicht Wiens vom Erlaß des Toleranzpatents 1782 bis zum Wiener Kongreß B R U N O BERNARD,

BRÜSSEL

Belgien im Zeitalter der Aufklärung DANIEL MINARY,

707

BESANCON

Altes und Neues im religionskritischen rationalistischen Denken der deutschen Spätaufklärung HOLGER BÖNING,

691

723

BREMEN

Populäre politische Aufklärung während der Helvetischen Republik J O H A N N E S R O G A L L A VON B I E B E R S T E I N ,

BIELEFELD

Die „Ideen von 1933" gegen die von „1789" HARRY Α . M . SNELDERS,

731

755

UTRECHT

Uber den Einfluß des Kantianismus und der romantischen Naturphilosophie auf Physik und Chemie in Deutschland zu Beginn des 19. Jahrhunderts

767

BERNHARD WIEBEL, ZÜRICH

Münchhausens Zopf und die Dialektik der Aufklärung

779

G Ü N T E R ROSENFELD, BERLIN

August Hermann Franckes erster Sendbote in Rußland Justus Samuel Scharschmid Der Hallesche Auftrag Der vorliegende Aufsatz soll dem Leben des deutschen pietistischen Predigers J.S. Scharschmid nachgehen, der sich mehr als 20 Jahre lang am Anfang des 18. Jh. in Rußland aufhielt und für die deutsche Rußlandkunde jener Zeit eine nicht unwesentliche Rolle spielte. Im Auftrage August Hermann Franckes nach Rußland gesandt, trug er dazu bei, jene Verbindungen zwischen Deutschland und Rußland zu knüpfen, die in ihrem vollen Umfange und in ihrer Bedeutung erstmalig im Jahre 1953 von Eduard Winter dargestellt wurden. Im Zusammenhang mit seinen Forschungen ist auch diese Arbeit über Scharschmid entstanden. 1 Im letzten Jahrzehnt des 17. Jh. war Halle das Zentrum der Anfangsperiode der deutschen Aufklärung geworden. Neben der glänzenden Gestalt eines Thomasius nahm August Hermann Francke einen nicht minder bedeutenden Platz ein. Nach seinem Amtsantritt als Pfarrer in Glaucha und Ordinarius für orientalische Sprachen an der Universität in Halle hatte er hier für seinen pietistischen Betätigungsdrang günstige Verhältnisse gefunden: in der guten handelswirtschaftlichen Lage Halles einerseits und in der merkantilistischen Politik der Hohenzollern andererseits. Die Errichtung des Waisenhauses und der kaufmännischen Einrichtungen wie Buchladen und Apotheke waren in wirtschaftlicher Hinsicht Vorhaben, die sich nicht viel von denen des halleschen Bürgertums unterschieden. Was jedoch das Unternehmen Franckes besonders auszeichnete und ihm ermöglichte, über die Grenzen nicht nur des Magdeburgischen Herzogtums, sondern auch Deutschlands hinaus zu wirken, war die Verbreitung des Pietismus. Kein Geringerer als Leibniz hat wiederholt Francke auf das Wirkungsfeld hingewiesen, das sich ihm in Rußland auftat. In der Tat bot damals das Franckesche Unternehmen die beste Gewähr dafür, Interessen wie sie Leibniz gegenüber Rußland trug, hinter denen wiederum Interessen für China standen, praktisch zu verfolgen. Als geschichtlicher Organisator mit weitreichenden Verbindungen und einer sich weiterhin vermehrenden Zahl von Anhängern schuf Francke einen Kreis, der Halle zum Ausgangspunkt der deutschen Rußlandkunde machte. Als erster hatte die Situation in Rußland Heinrich Wilhelm Ludolf erkundet, der 1692 in diplomatischer Mission im Dienste Dänemarks dorthin reiste. Das Wirken Ludolfs, der uns als Persönlichkeit in der Frühphase der deutschen Aufklärung entgegentritt und die erste russische Grammatik der Volkssprache schuf, ist bereits Anfang der fünfziger Jahre dargestellt worden. 2 Ludolf war es, der nach Herstellung mannigfaltiger Beziehungen zu höchsten russischen Würdenträgern und auch Peter I. selbst, maßgeblich die Arbeit des Francke-Kreises in Rußland einleitete und Francke dazu bewog, einen pietistischen Prediger nach Moskau zu schicken. Der 1664 geborene Justus Samuel Scharschmid, der während seines Theologiestudiums Francke kennengelernt und die für den Pietisten so bezeichnende Bekehrung durchge-

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Vgl. Eduard Winter, Halle als Ausgangspunkt der deutschen Rußlandkunde im 18. Jahrhundert, Berlin 1953. Vgl. Joachim Tetzner, Heinrich Wilhelm Ludolf und Rußland, Berlin 1955.

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Günter Rosenfeld

macht hatte, schien der richtige Mann zu sein, um im Sinne Franckes in Rußland zu wirken. Freilich besaß Scharschmid nicht jenen weitblickenden Geist wie Francke oder Ludolf. Der Quedlinburger Pfarrerssohn hat bei aller Unternehmungslust und dem Hang zu Abenteuern seine Herkunft nicht verleugnen können. Nur zu oft haben ihm enggeistige Meditationen den Blick für größere Zusammenhänge versperrt. Und mehr ungewollt als gewollt bezog er den so wichtigen Außenposten des pietistischen Halle in Moskau. Francke hatte Ende des Jahres 1695 Scharschmid in einem Brief dazu aufgefordert, die Reise nach Moskau anzutreten, wo „ein Subjektum in der Schule und Kirche der lutherischen Gemeinde" verlangt wurde und wo er sich bei Blumentrost, dem Leibarzt des Zaren, anmelden sollte. 3 Scharschmid hielt sich zu jenem Zeitpunkt als Hauslehrer auf einem Gute bei Riga auf und machte sich bald nach Empfang dieses Briefes auf den Weg nach Moskau. Es lag nichts Außergewöhnliches darin, wenn ein deutscher Prediger am Ende des 17. Jh. nach Rußland ging. Insbesondere in der zweiten Hälfte des 17. Jh. hatte sich der Zuzug von Ausländern verstärkt. Vor allem waren es Facharbeiter, die der russische Staat für die Entwicklung seiner Wirtschaft brauchte. Bergwerke, Eisenswerke, Tuchfabriken, Papiermühlen und Glashütten standen oft unter der Leitung ausländischer Techniker oder befanden sich sogar im Besitz von Ausländern selbst. Von einem zeitgenössischen Reisenden wurde die Zahl der in Rußland lebenden Ausländer in den siebziger Jahren des 17. Jahrhunderts auf 18000 geschätzt. 4 Besonders groß war die Zahl in Moskau, das damals an Einwohnerzahl die anderen russischen Städte um ein Hundertfaches überragte. Unter allen Ausländern waren dort die Lutheraner am stärksten vertreten, die schon 1575 ihre eigene Kirche erbaut hatten. Neben Moskau hatten sich in allen wichtigen Industrie- und Handelszentren evangelische Gemeinden gebildet. Ludolf berichtet von solchen in Archangel'sk, Novgorod und Belgorod. 5 In Archangel'sk, dem Umschlaghafen Rußlands für den Handel mit Westeuropa, war gleich wie in Moskau eine große Zahl von Ausländern, und am Dvina-Ufer war auch eine deutsche Vorstadt entstanden. Auch in Tula, Kazah, Vologda und Ugodka befanden sich lutherische Gemeinden. Ugodka lag nur etwa 60 Werst von Moskau entfernt; es befanden sich dort die Eisenwerke des deutschen Kaufmanns Werner Müller. Sein Sohn Peter wurde ein Schüler Scharschmids und spielte später nach seinem Studium in Halle als Theologe eine nicht unwesentliche Rolle unter den Lutheranern in Rußland und in den Beziehungen Halles zur russischen Aufklärung. Von deutschen Bergleuten in der Umgebung von Kazah berichtet uns auch Scharschmid. „Vor vier Tagen kamen wir an in Kazan, wohin die Bergwerksleute aus Sachsen, welche herum arbeiten, von uns erwartet wurden, daß ihnen nach Verlangen das Abendmahl gereicht würde." 6 Bis nach Sibirien hinein befanden sich überall deutsche Gruppen. 7 Scharschmid schreibt, daß von Kazari aus einer seiner pietistischen Reisegefährten weiter nach Sibirien gegangen wäre. Selbst im tiefsten Südosten, in Astrachaii, hielten sich in der zweiten Hälfte des 17. Jh. Lutheraner auf, welche sich dann um die Jahrhundertwende zu einer Gemeinde zusammenschlossen. D a die lutherischen Gemeinden sich über ganz Rußland hin verteilten, konnte am

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Archiv der Franckeschen Stiftungen (im folgenden zitiert als: AFrSt), D . 83, S. 578: Francke an Scharschmid, 15. 12. 1695. Vgl. A. Brückner, Peter der Große, Berlin 1879; S. 200. AFrSt. D. 83, S. 542, Ludolf an Francke, 14. 10. 1695. Ebd. C 296, S. 42: Scharschmid an Francke, Auf der Wolga. 24. 6. 1701. Vgl. Philipp Johann von Strahlenberg, D a s N o r d - und östliche Theil von Europa und Asia, Stockholm 1730.

Franckes erster Sendbote in R u ß l a n d

3

Anfang des 18. Jh. Francke von Halle aus über das ganze russische Territorium ein N e t z von Verbindungen unterhalten; denn überall wo Lutheraner sich aufhielten, waren diese auch auf einen Prediger bedacht. Dies aber war der Ansatzpunkt f ü r Francke und seine Mitarbeiter. Nach Ü b e r w i n d u n g mancher Schwierigkeiten, die eine solche Reise damals mit sich brachte, traf Scharschmid Mitte September 1696 in Moskau ein. Es fiel ihm indes nicht leicht, dort gleich festen F u ß zu fassen. Sein pietistischer Eifer wurde von vielen orthodoxen Lutheranern angefeindet. Zunächst blieb ihm nichts weiter übrig, als bei Blumentrost eine Hauslehrerstelle anzunehmen. Die Widerstände, die Scharschmid in Moskau vorfand, veranlaßten ihn deshalb, Anfang 1698 als Prediger nach Narva zu gehen. Aber auch hier wurden ihm sehr bald von den Gegnern des Pietismus Schwierigkeiten gemacht, weshalb er auch nicht lange dort blieb. Anfang des Jahres 1700 finden wir ihn auf der Reise nach Deutschland, wo er sich ordinieren lassen wollte. Inzwischen hatten sich die Verhältnisse in Moskau durch den Tod des Pastors Schräder, Scharschmids orthodoxem Gegner, für den Sendling Franckes besser gestaltet. Scharschmid wurde das A m t eines Diakons angetragen. Das war vor allem ein Sieg f ü r Francke, der, erfreut darüber, daß sein Agent in Rußland Boden gewann, im Juni 1699 an Scharschmid schrieb: „ . . . Ich wünsche sonst von Herzen, daß er in Moskau bleibe und sei Apostolus Russorum." 8 Die Engstirnigkeit, mit der Scharschmid in diesen ersten Jahren seines Aufenthalts in Rußland versuchte, seine pietistische Lehre durchzusetzen, ist der G r u n d dafür, daß in seinen Aufzeichnungen aus dieser Zeit relativ wenig auf das große politische Geschehen Bezug genommen wird. Schon 1701 brach jedoch Scharschmid nach Astrachan auf. Und erst als er aus der Enge der protestantischen Vorstadtgemeinde heraustrat und bei seinen Reisen ganz in den Bann neuer und gewaltiger Eindrücke geriet, da werden auch wieder seine Nachrichten für uns reichhaltiger und stellen uns lebendig einen Teil russischer Geschichte vor Augen.

Am Tor zum Osten Die Förderung der wirtschaftlichen Entwicklung durch Peter I. zeigte sich vor allem in der Ausbreitung des russischen Marktes. Die Kriege Peters I. gegen Schweden und die Türkei waren vornehmlich eine Folge dieser Entwicklung und hatten das Ziel, den Zugang zum Meer und damit zum Weltmarkt zu erkämpfen. Die Einrichtung eines besonderen H a n delskollegiums und die G r ü n d u n g von Handelskompanien zeugen davon, wieviel Aufmerksamkeit Peter I. dem russischen Handel schenkte. 9 Der Handel Rußlands mit dem Ausland galt aber nicht nur Westeuropa, sondern auch dem Osten. Der Warenaustausch mit Persien, Indien, vor allem aber mit China und auch mit Japan wurde unter Peter I. eine Frage von außerordentlicher Wichtigkeit. Die Ausrüstung von Forschungsexpeditionen nach Sibirien, dem nördlichen Eismeer und Kamtschatka einerseits und nach Zentralasien andererseits hat neben der großen wissenschaftlichen Bedeutung vor allem den praktischen Zweck verfolgt, Handelswege nach China und Ostindien zu erkunden. Schon im 15. Jh. war die Frage einer Handelsverbindung nach Indien und China aufgetaucht und hatte zur Reise des Kaufmanns Athanasius Nikitin geführt. Sein Unternehmen fand erst 225 Jahre später eine Wiederholung, als 1694 im Auftrage des Prikaz für Finanz8 9

AFrSt. D . 83. S. 826: Francke an Scharschmid, 14. 6. 1699. Vgl. S. A. Pokrovskij, Vnesnjaja torgovlja i vnesnjaja politika Rossii, Moskau 1947, S. 73 ff.

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Günter Rosenfeld

angelegenheiten der Kaufmann Semen Malenkij mit seinem Begleiter Andrej Semenov auf der gleichen Route nach Indien reiste. Malenkij starb auf dem Rückweg, und das Ergebnis der Reise war relativ gering. Sie war jedoch bereits wegweisend für die Expeditionen, welche dann im zweiten und dritten Jahrzehnt des 18. J h . nach Mittelasien und Persien unternommen wurden. Sie alle hatten als gemeinsamen Ausgangspunkt Astrachari. 10 Auch der Feldzug gegen Persien 1 7 2 2 / 2 3 ging von Astrachah aus. Die Truppen marschierten auf der Route der vorher durchgeführten Expeditionen Malenkijs, Volynskijs und Benevenis. Alle diese Unternehmungen zeigen Astrachan als wichtigen strategischen Platz für die Erschließung Vorder- und Mittelasiens. In Astrachan trafen sich der europäische und der asiatische Kaufmann. H a n d e l " , Schiffsverkehr, Fischfang und Salzgewinnung bewirkten die Konzentration einer frühproletarisch-bäuerlichen Bevölkerung. Die starken sozialen Gegensätze und die Umgebung durch Fremdvölker, die jede Gelegenheit wahrnahmen, um die vom zarischen Staat auferlegte Steuerlast abschütteln zu können, machten Astrachan auch zu einem Brennpunkt von Aufständen. Die beiden Reisen Scharschmids nach Astrachari in den Jahren 1701 bis 1702 und 1707 bis 1711 hatten daher in zweifacher Hinsicht Bedeutung. Einmal kam Scharschmid hier in Berührung mit den ersten Unternehmungen, welche auf die Erkundung Vorder- und Mittelasiens hinzielten und im Gebiet des Kaspischen Meeres bereits den Krieg gegen Persien vorbereiteten. Durch seine Briefe an Francke nach Halle trug Scharschmid, ohne sich freilich dieser seiner Rolle recht bewußt zu sein, als einer der ersten dazu bei, daß man in Deutschland von den Völkern der unteren Wolga und des Kaukasus nähere Kunde erhielt und sich mit ihren Sprachen und Gebräuchen zu beschäftigen begann. Zweitens aber wurde Scharschmid Zeuge der im ersten Jahrzehnt des 18. Jh. dort ausgebrochenen Aufstände und bietet uns mit seinen Berichten darüber eine wertvolle Quelle. Schon der Plan zu der ersten Reise nach Astrachan brachte Scharschmid mit einem Mann zusammen, der bei der damaligen kartographischen Erforschung des Kaspischen Meeres hervortrat. Es war der Kapitän Jeremias Meier, der mit einer Abteilung Soldaten in Astrachari stationiert war und von Peter I. den Auftrag zur Erkundung des Kaspischen Meeres erhielt. 12 In den auf Anweisung Peters I. herausgegebenen „Vedomosti" vom 18. März 1704 heißt es: „Nachrichten aus Astrachari. Im vergangenen Jahre 1703 wurde der Kapitän der Astrachaner See-Flotte Jeremias Meier auf das Kaspische Meer gesandt, welches den Moskauer Staat vom Persischen und anderen Ländern trennt, um für einen besseren Seeverkehr für das ganz Meer eine Karte herzustellen, und dieser Kapitän stellte eine Karte des Kaspischen Meeres her und es ist befohlen, eine große Anzahl solcher Karten zu drucken." 1 3 Nachdem Scharschmid wieder nach Moskau zurückgekehrt war, schrieb er am 15. April 1701 an Francke: „Bei meiner Rückkunft hatte noch nicht eine Nacht recht ausgeschlafen, siehe da wurde mir schon ein neu Flecken vorgelegt und angetragen, mit einem Kapitän, Herrn Meier, so einige Wochen hier auf mich gewartet, nach Astrachan denen gnadenhungrigen Seelen zum Dienst zu gehen." 1 4 Das war ein Angebot, welches überlegt sein wollte.

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Vgl. D. M. Lebedev, Geografija ν Rossii Petrovskogo vremeni, Moskau 1950. Unter Peter I. betrug die jährliche Einnahme des Staates durch den Astrachaner Handel 200 000 Rubel. Vgl. Friedrich Christian Weber, Das Veränderte Rußland. Teil 1, Leipzig 1721, S. 157. L. S. Berg, Ocerki po istorii russkich geograficeskich otkrytij, 2. Auflage, Moskau 1949, S. 278ff, spricht ausführlicher über das Kartenwerk Meiers. Vgl. auch Lebedev (wie Anm. 10), S. 210, und P. Pekarskij, Nauka i literatura ν Rossii pri Petre Velikom, 2Bde, St. Petersburg 1862. Berg (wie Anm. 12) S. 280. AFrSt, C 296, S. 39: Scharschmid an Francke 15. 4.1701; der Brief erscheint in einer Abschrift auch unter A 81, L.

Franckes erster Sendbote in Rußland

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Am Anfang des 18. Jh. nach Astrachan zu gehen,war nicht ohne Gefahr und Strapazen. Zudem sollte doch Scharschmid eben seine langersehnte Pfarrstelle antreten. Man ist daher etwas überrascht zu sehen, daß Scharschmid diesem Angebot sofort eine Zusage gab: „Gestern waren sie alle froh, daß ich meinen Willen, der ohne dem bei der ersten Ansprache gewaltig dazu getrieben wurde, bei noch anhaltender Unpäßlichkeit meines Leibes, da man zu medizinieren hätte, willig darin gab." 1 5 Man darf annehmen, daß Scharschmid dabei im Sinne Franckes handelte, wenn auch eine direkte Stellungnahme des letzten dazu nicht vorliegt. Auf jeden Fall mußte Francke nicht uninteressiert daran sein, einen G e währsmann in dem wichtigen Handelsknotenpunkt Astrachan zu wissen. Uber die Handelsinteressen Franckes, für den sich hier neue Möglichkeiten boten, wird noch an anderer Stelle gesprochen. Vor allem aber konnte Francke von hier auch Nachrichten wissenschaftlicher Art erwarten. Jedenfalls geht aus einem Brief Franckes an Scharschmid vom Jahre 1710 hervor, daß Francke an einem Aufenthalt Scharschmids unter den Völkern des Kaspischen Gebietes sehr interessiert war. 16 Ein Brief, den Francke später an die gefangenen Schweden richtete, drückt dieses Interesse noch deutlicher aus: „Wenn sie auch einige Nachricht von Sibirien und den umliegenden Ländern, soviel ihnen beiwohnet, beifügen wollten, würden sie dadurch mir und anderen christlichen Freunden einen besonderen Gefallen erzeigen." 1 7 Kapitän Meier wies Scharschmid auf das reiche Tätigkeitsfeld hin, das ihn dort erwarten würde: auch über Astrachan hinaus, an der persischen Grenze, läge eine Stadt, in der sich Deutsche aufhielten und ebenfalls einen Prediger wünschten. Man darf annehmen, daß Meier hier Terik, das heutige Terek, meinte. Festung kann Terik aber damals noch nicht gewesen sein, denn Scharschmid schreibt später, daß die Grenzfestung Terik von Generalmajor Riegemann 1708 angelegt wurde. 1 8 Ferner sagte Meier, daß auch am Persischen Hofe zu Isfahan einige seines Glaubens wären, „zu welchen er ferner hoffe zu kommen", denn er, Meier, wäre ihr „Major". Falls Scharschmid nach Azov durch die Steppe reisen wolle, versprach Meier, ihn mit 200 Soldaten dorthin zu geleiten. Auch dort interessierte man sich für Scharschmid, denn der General Polmann aus Azov ließ bei Pastor Roloff anfragen, ob Scharschmid bereits aus Deutschland wiedergekommen sei. „So Gott will, gehe ich auch dahin!" schreibt Scharschmid und fährt fort: „Sonderlich sehne ich mich nach Kazan, wo man durchmuß. Denn wir gehen auf dem Strom, auf der Wolga, ganz bis nach Astrachan." 1 9 In Kazan wollte Scharschmid vor allem den russischen Metropoliten kennenlernen, „so gut Latein versteht und welcher mir, als ich das erste Mal ins Land kam, an der Grenze noch in Pleskau sehr gerühmt wurde, daß ich demnächst wünschte, mit solchem Mann wohl bekannt zu werden". 2 0 So brach denn Scharschmid, ohne lange zu zögern, mit dem Kapitän Meier zu seiner Reise auf. In Scharschmids Begleitung reiste der von ihm zum Pietismus erweckte Balthasar Franck aus Narva, der sich über den Kaukasus nach Persien begeben sollte. Franck hat später, von Francke dazu aufgefordert, einen ausführlichen Bericht über diese Reise gege-

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Ebd. AFrSt, unregistriert: Francke an Scharschmid, 8. 3. 1710. C. V. Wreech, Wahrhafte und umständliche Historie von den schwedischen Gefangenen in Rußland und Sibirien, Sorau 1725. AFrSt, C 296, S. 78: Scharschmid an Francke, Terik, 28. 9. 1709. Ebd. S. 39: Scharschmid an Francke, Moskau, 15. 4. 1701. Ebd. Vgl. Winter (wie Anm. 1) , S. 292.

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Günter Rosenfeld

ben. 21 Am 23. Juni 1701 waren die Reisenden in Kazari, wo Scharschmid deutschen Bergleuten das Abendmahl reichte. Dies schreibt er Francke, als er vier Tage später die Wolga hinunterfährt. Nach der Ankunft in Astrachan gab Scharschmid Francke einen ausführlichen Bericht von seinen Eindrücken. 22 ,Je mehr ich gegenwärtige N o t erwäge, je mehr wird mein Herz hierher gezogen. Vor drei Jahren ist nur ein Deutscher nämlich Obrist Meier hier gewesen, so schon tot, seitdem haben sie sich so vermehret, daß die Gemeinde nicht viel unter 200 ist, 23 und stehet zu hoffen, darüber ich mich freue, daß sie noch viel mehr zunehmen werden, indem eine Bahn zu großer Handlung nach Persien, Indien und China hierdurch, wie man schon ziemlich klar sieht, gemacht wird. Die Indianer, Armenianer und Tataren haben hier alle ihren Tempel, und nun ist uns auch die Freiheit gegeben worden, eine eigene Sloboda Vorstadt, zu bauen und unseren Gottesdienst zu bestreiten." Scharschmid erfaßte also sofort die handelspolitische Bedeutung Astrachans. Schon vorher hatte ihm Meier die verschiedenen Möglichkeiten des Handels für ihn und Francke selbst geschildert: „Gedachter Meier hat große Freude über die Anstalt vor Euer Weisen und tut viel Vorschläge, aus Persien und Astrachan Euch leiblichen Nutzen zuzuwenden. Seide, Baumwolle, auch sonst allerlei schöne Wolle, Tee, Kaffee, Biberhaar, Kamelhaar, Rhabarbera und Krebsaugen, so häufig als da nicht geacht werden, will er mir versprechen und alles so machen, daß alles ohne Zoll in seinem Namen aus hiesigem Lande soll gebracht werden; dafür kann man mit Ihren Sachen als Bücher, Arznei, allerlei Strumpf, Hüt und Stutzen. Er erbaut sich auch, so Sie einen solchen Kaufmann haben, allerlei ostindische Sachen viel wohlfeiler als wir aus Holland oder England haben können, diesen Weg zu Euch zu liefern. Denn nachdem Gott einen Weg über die See gemacht, so kommen die Perser und Indianer mit ihren Waren, als sonst nie gewesen . . . nach Astrachan und hat über all die Waren Herr Meier Inspektiva. Item: Fragt er, ob persische Stoffe ihm anständig seien. Er sagt, so man sie zwanzig Jahre getragen, könne man doch aus dem Golde, so mans schmelzet, sein ausgelegtes Geld und wohl noch das darüber wieder drauskriegen." 2 4 , Leider wissen wir nichts von der Antwort Franckes, wie ja leider überhaupt der Briefwechsel zwischen Francke und Scharschmid bis auf einige Ausnahmen nur einseitig erhalten ist. Aber Scharschmid hätte sicherlich Francke nichts davon mitgeteilt, wenn dieser sich nicht dafür interessiert hätte. Von Astrachah selbst schrieb Scharschmid: „Was diesen Platz anbelangt, kommt mir vor, es sei auch dahin zu sehen, so einige gute Subjekte hierher destiniert werden, daß sie da wohnen und Kaufmannschaft etwa verstünden und gute notitie von Edelgesteinen hätten." 2 5 Von dem Edelsteinhandel wird auch in dem 1782 erschienenen Aufsatz „Uber die zu Astrachan wohnenden Indianer" berichtet: „Es wohnen in Astrachan seit Anfang dieses Jahrhunderts beständig gegen anderthalb bis zweihundert indianische Kaufleute oder Banjanen, die hauptsächlich aus der zunächst an Persien grenzenden Provinz Multan gebürtig sind und einen starken Handel vorzüglich auch in Edelgesteinen betreiben." 2 6 Ferner teilte Scharschmid Francke mit, er möge Neubauer sagen, „so ein guter Ökonom die Fortificava verstünde und hierher käme, wie nützlich sollte er uns bei Aufbau der Sloboda sein, da er 22 23

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AFrSt, C 296, S. 43: Scharschmid an Francke, Astrachaii, 2. 8. 1701. Dies entspricht auch dem Bericht des Pietisten G e o r g Friedrich Weise, der 1730 von Halle nach Rußland ging, 1734 in Astrachan war und an H a n d des Kirchenbuches die Entstehung der Gemeinde auf das Jahr 1701 zurückführte, vgl. Ernst Benz, A . H . Francke und die deutschen evangelischen Gemeinden in Rußland, in: Auslandsdeutschtum und evangelische Kirche, Jahrbuch 1936, München 1936 S. 175. AFrSt, C 296, S. 41: Scharschmid an Francke, Pavela, 7. 6. 1701. Ebd. S. 43, Scharschmid an Francke, Astrachan, 2. 8. 1701. N e u e Nordische Beyträge, Bd. 3 (1782), S. 85.

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sonst mit Reis, Seide, Zeug, Wolle, Edelgestein wird viel Profit von hier hinausmachen können." 2 7 Auch über die landwirtschaftlichen Verhältnisse in Astrachan berichtete Scharschmid. Vor allem fiel ihm der reiche Weinbau auf. „Das ganze Land hier und etliche Meilen herum ist ohne Feldbau, ohne daß die Tataren zuweilen etwas Land bebauen, da doch hier ein verwünscht schwerer Boden. Vor der Stadt sind schon Weinberge, doch das übrige ist Wüste und verstehet doch niemand, mit dem Wein umzugehen. Sie lassen die Reben wachsen, so lange sie wollen . . . die Trauben sind so groß und schön, als ich nie in Deutschland gesehen. Auch weiss man keinen Wein zu keltern, nicht Sirup daraus zu machen, noch einen grossen Profit zu machen davon." 2 8 Scharschmid dachte dabei offenbar an die sorgsam gepflegten Weinkulturen seiner deutschen Heimat. Bei dem warmen Klima ließ der üppige Pflanzenwuchs in Astrachan eine solche Sorge weniger dringlich erscheinen. Trotzdem war Astrachan der Weinlieferant für Moskau, was Olearius 2 9 wie auch Perry melden. Dieser erwähnt auch, daß der Zar die Anlegung von Weingärten an der Nord- und Westküste des Kaspischen Meeres plante. 3 0 Später wurde zu diesem Zweck der Franzose Pousset nach Astrachah hinuntergeschickt. 3 4 In all diesen Nachrichten Scharschmids bemerkt man seinen Geschäfts- und Unternehmergeist, was ja überhaupt für den halleschen Pietismus kennzeichnend war. Dabei schwebte Scharschmid stets das hallesche Vorbild vor Augen: „So hier ein Waisenhaus anzulegen, könnte man die Kinder, so die Tataren und Kalmücken samt ihren eigenen Weibern oft feil haben, aufkaufen und sie in Sprachen, Handarbeit und sonstigen Wissenschaften treulich unterrichten lassen." 3 2 Die Betohnung lag offenbar auf der Handarbeit, denn es seien Knaben hier nötig, welche Seide nähen und stricken können". 3 3 Die Lage Astrachans als eines Handelsknotenpunkts kommt noch einmal deutlich zum Ausdruck, als Scharschmid das Projekt zu einer Verbesserung des Verkehrs entwirft. Er schlägt vor, „eine Post von Moskau nach Persien anzulegen, so gerade von Moskau nach Saratov, wohin die Briefe von Asov und Kazan, auch aus Sibirien gehen könnten, und Camusink (da man arbeitet, die Wolga durch einen kleinen Strom Caminski, Komisink 3 4 und durch einen Graben, daran fünf Jahre und noch mit fast 20 000 Mann gearbeitet wird, in den Don zu führen), und hier durch Astrachan nach Grusien und Persien ginge". 3 5 Hier ist vor allem die Mitteilung über den Kanalbau interessant. Einen Bericht darüber hat uns gleichfalls Perry gegeben, der ja 1698 von Peter I. eigens zu diesem Zweck in den Dienst genommen wurde. 36 Er spricht von 15 000 Menschen, die dabei beschäftigt waren und zu

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AFrSt, C 296. S. 43a: Scharschmid an Francke Astrachan, 2. 8. 1701. Ebd. S. 43: Scharschmid an Francke, Astrachan, 2. 8. 1701. Angeführt bei D. Cvetaev, Protestantstvo i protestanty ν Rossii do epochi preobrazovanija, in: Ctenija ν imperatorskom oscestve istorii i drevnostej rossijskich pri Moskovskom Universitete, Buch 4, Moskau 1889, S. 119. John Perry, The State of Russia under the Present Czar, London 1716, S. 94: „The Czar has Thoughts of planting Vineyards and improfing the making of Wine of this side of the Caspian Sea, in Terki and Astracan, where the Grapes, both red and white, are very large and good, and are brought from thence every year to Mosco." Weber: Das Veränderte Rußland (wie Anm. 11), S. 157. AFrSt, C 296, S. 48c.: Scharschmid an Francke, Astrachan, 2. 8. 1701. Ebd. Scharschmid schreibt hier dreimal denselben Namen verschieden. Es handelt sich um den Fluß und Ort Kamysinka. Perry (wie Anm. 30), S. 69, schreibt Camyshinka. Es ist die heutige Stadt Kamys in, gegenüber von Nikolajevs an der Wolga. AFrSt C 296, S. 43b: Scharschmidt an Francke, Astrachari, 2. 8. 1701. Perry (wie Anm. 30), S. 4 ff.

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denen dann später noch einmal so viel hinzukamen. Das stimmt etwa mit den Angaben Scharschmids überein. Interessant ist vor allen dessen Bemerkung, daß „daran fünf Jahr und noch" gearbeitet wird. Der Bau mußte schließlich scheitern einerseits an der Unzulänglichkeit der technischen Mittel, zweitens auch an dem Widerstand von Staatsbeamten, unter denen der Fürst Boris Alekseevic Golicyn besonders hervortrat. Freilich hat der beginnende Nordische Krieg gleichfalls dem Kanalbau entgegengewirkt. Lebedev folgert aus der Mitteilung Perrys von einer zeitweiligen Einstellung der Arbeiten Ende 1701, daß der Beginn des Krieges die Durchführung der Bauten verhinderte. 38 Das entspricht vollkommen der Angabe Scharschmids, nach welcher noch Anfang August 1701 am Bau des Kanals gearbeitet wurde. Der Ort Kamysinka ist offenbar auch erst im Zuge der Kanalarbeiten entstanden. Denn Scharschmid schreibt, er wäre „vor drei Jahren", also 1698 von dem Obersten Busch, welcher „jetzt dort Wojwode ist", angelegt worden. Oberst Busch würde sich zur Zeit mit seinen Offizieren in Astrachafl aufhalten, wohin er wegen der Seeräuberei der Tataren abkommandiert wäre. Mit der militärischen Sicherung des Kaspischen Küstengebiets war auch Kapitän Meier beauftragt. „Herr Kapitän und Kommandant Meier" - schreibt Scharschmid - „so mich mit hergenommen, hat nicht weit von hier an der Mündung eine Festung anzulegen, wozu künftig im Frühjahr der Anfang wird gemacht werden." 3 8 Und in Scharschmid selbst entsteht der Gedanke, ebenfalls weiter nach Süden zu gehen. Er will warten, bis Meier die Festung angelegt habe, „wer weiß, ob man dann nicht auf solche Weise weitergehet." 39 Doch erst bei seiner zweiten Reise nach Astrachafi führte er dies aus. Es war sicherlich ein Glück für Scharschmid, daß er sich schon ein Jahr später, im August 1702, wieder auf den Rückweg nach Moskau machte. Denn in dem ein Jahr darauf ausbrechenden Aufstand hätte auch sein Leben leicht ein Ende finden können. Die pietistischen Ermahnungen Scharschmids hatten bei der Astrachaner Gemeinde wenig Anklang gefunden. Der Widerstand derselben russischen Geistlichen, welche dann auch an der Erhebung gegen den „Zaren-Antichristen" beteiligt waren, galt auch Scharschmid. Dazu erkalteten die Beziehungen Scharschmids zu Kapitän Meier bezeichnenderweise wegen geschäftlicher Gegensätze. Das alles waren Gründe, weshalb Scharschmid Astrachari verließ. Der Aufstand, der in den Jahren 1705 und 1706 4 0 die ganze untere Wolga bis Cernyj Jar und das Küstengebiet von der Terekmündung bis zu der des Ural erfaßte, war nur einer in der Reihe der Aufstände, die für das ganze 17. und 18. Jh. für die untere Wolga und das Dongebiet kennzeichnend sind. Die vermehrte Steuerlast unter Peter I. hatte die Unzufriedenheit noch gesteigert. Schon am 8. Juni 1699 hatte der österreichische Gesandte Guarient nach Wien berichtet, „ . . . ob nicht aber die tief eingewurzelte Unzufriedenheit und wider Ihre Zarische Majestät gefaßte unbenehmliche H a ß ehest wiederum in weit schrecklicherer Kriegsflamme und innerliche Feindtätlichkeiten ausbrechen dürfte." 4 1 Daher nahm denn auch der Astrachaner Aufstand, welcher zunächst nur ein Widerstandsakt der Astrachaner Kaufleute und Popen war, alsbald den Charakter einer Volksbewegung an. Als Scharschmid dann zum zweiten Male nach Astrachan herunterkam, stand ganz Südostrußland vom Don bis zur Kama im Aufstand.

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Lebedev (wie Anm. 10), S. 287: „takim obrazom nacalo Severnoj vojny prekratilo osuscestvlenie etogo meroprijatija." AFrSt, C 296, S. 43: Scharschmid an Francke, Astrachaii, 2. 8.1701. Ebd. S. 43c. Irrtümlich geben hier Perry (wie Anm. 30), S. 96, das Jahr 1703 und Strahlenberg (wie Anm. 7), S. 246, 1704 an. F. Dukmeyer, Korbs Diarium itineris in Moskoviam und Quellen, die es ergänzen, Berlin 1909, Bd. 2, S. 53.

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Die ungünstigen Verhältnisse, welche Scharschmid bei seiner Rückkehr nach Moskau im Jahre 1703 dort antraf, haben ihn auch mit dazu veranlaßt, fünf Jahre später bei erneuter Gelegenheit wieder hinunter nach Astrachan zu gehen. Mit dem aus Halle eingetroffenen Informator Johann Werner Paus, dem späteren Rektor des Glückschen Gymnasiums, konnte er sich wenig gut verstehen und nahm deshalb gern die Gelegenheit wahr, zur Vertretung des Pastors Michaelis nach Archangel'sk zu gehen. Auch der Gemeinde in Moskau fühlte sich Scharschmid entfremdet: „Ausser meinem getreuen Mitknecht Roloff ist wohl keiner auch unter den Brüdern hier selbst, der über mein Tun recht geurteilet und Mitleiden g e h a b t . . . und habe ich etliche Jahr hier bei der Gemeine wohl aus aller Herzen müssen ausgeschlossen sein." 42 Ferner starb auch 1705 der alte Blumentrost, welcher Scharschmid ständig unterstützt hatte. In dieser Zeit berichtet Scharschmid auch von der Anwesenheit des Kapitäns Meier in Moskau. Im März 1704 schreibt er: „Aus Astrachan ist itzo H e r r Meier hier, von welchem man sagte, er sei russisch geworden. Wegen bösen Gewissens lässt er sich bei uns nicht sehen." 43 Diese Mitteilung entspricht der oben angeführten Nachricht aus den „Vedomosti" vom 18. März 1704. 44 Meier hatte ein kartographisches Unternehmen zur Zufriedenheit Peters I. gelöst, und seine Karte wurde dann wiederholt gedruckt. 4 5 Meier kam später bei dem Aufstand in A s t r a c l · ^ 1705 ums Leben. 46 Scharschmid heiratete 1707 die Nichte des Generalmajors Riegemann. 4 7 Mit Riegemann zusammen reiste er erneut nach Astrachan. Er schrieb am 1. Februar 1707 an Francke: „Im September hielt ich ehrlich um Regina Buschin, Witbe von Major Busch, Christoph Riegemanns, Generalmajor, hinterlassene Tochter, bei dessen f r o m m e n Bruder H e r r n Carl David Riegemann, Generalmajor, an." 4 8 „Vor O s t e r n " - so schreibt Scharschmid - „gingen viele nach Astrachan, die einen Prediger mitgehabt hätten." 4 9 Als Riegemann ihm nahelegte, mit ihm nach Astrachan zu gehen, sagte Scharschmid zu, obgleich die Moskauer Gemeinde damit nicht einverstanden war, denn sie verlor wiederum ihren Prediger. Vor allem war es auch diesmal der Auftrag Franckes, der Scharschmid leitete. Auch jetzt ging die Reise die Wolga abwärts. Sie dauerte insgesamt 18 Wochen. Es war die Zeit des Ausbruchs des großen Kosakenaufstands unter Bulavin, welcher nun auch Südwestrußland in das Aufstandsgebiet mit einbezog. Denn seit 1705 schon standen im Gebiet der mittleren Wolga und der Kama die Baschkiren im Aufstand. Uber die Erhebung schreibt Scharschmid selbst: „Ein gemeiner Russe klaget mir zur grossen Fastenzeit, dass die grossen Herren bei ihm zu solcher Zeit Fische und Fischer auffressen, da sie denen

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AFrSt, C 296, S. 63: Scharschmid an Francke, Moskau, 24. 9. 1705. C 296, S. 56, Scharschmid an Francke, Moskau, 8. 3. 1704. J.G. Rabener, Leben Peters des Ersten und Großen, Leipzig 1725, S. 99, führt folgende Notiz aus dem Jahre 1704 an: „Im Februario dieses Jahres meldete sich bei dem russischen Hofe ein gewisser See-Kapitän an, welcher dem Zaren die Karte und Beschreibung der Kaspischen See und derer umliegenden Orter überreichte, zu derer genauen Untersuchung er fünf ganze Jahr angewendet. Der Zar nahm dieses Geschenk mit großem Vergnügen an, und beschenkte den Überbringer mit seinem Brust-Bilde und 500 Species-Dukaten, ob er gleich damals vermutlich noch nicht auf die Unternehmungen in diesen Gegenden, welche wir nach der Zeit erlebt haben, gedacht haben mag." Lebedev (wie Anm. 10), S. 212, gibt die Karte Meyers im Abdruck wieder. Perry (wie Anm. 30), S. 96, ferner meldet es de Bruyn „Voyage en Moscovie", zitiert bei Berg (wie Anm. 12), S. 280. Scharschmid hatte anfangs die Absicht, Rebecca Blumentrost zu heiraten, und hielt auch im Sommer 1705 um ihre Hand an, wurde jedoch abgewiesen: Curriculum mei connubii, AFrSt. D. 88, S. 872. AFrSt, C 296, S. 71 Scharschmidt an Francke, 1. 2. 1707, Moskau. Ebd. S. 73: Scharschmidt an Francke, Moskau, 16. 6. 1707.

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Menschen Angst genug zufügten. Sie hätten gar keine Barmherzigkeit gegen ihre Untertanen." 5 0 Scharschmid m u ß damals nicht ganz unbemittelt gewesen sein, denn er sagt, daß er von Riegemann ein Landgut gekauft habe. Dadurch wurde er selbst von der Wut der Aufständischen betroffen. U n d zwar schreibt er Francke von diesem Landgut, „so ich vorm Jahr von Carl David Riegemann, Generalmajor, zu einem Asyle der armen und dürftigen Kinder gekauft und schon unterschiedliche Gefangene darzugesetzet. Wo selbst vor Weihnachten in der Nacht Räuber und Diebe einen Einfall getan und allen Vorrat des Brots samt den Büchern weggenommen". 5 2 Wir erfahren aber auch gleich etwas von diesen „Räubern und Dieben". Scharschmid hatte nämlich das G u t seinem „Knecht Andreas" zur Verwaltung überlassen. „Und habe nun zu tun, dem Andreas M u t zu machen, der noch neulich schrieb, die Bauern herum drücken, sie zu verbrennen." 5 3 Als Scharschmid in Astrachart angelangt war, stand ganz Süd- und O s t r u ß l a n d von Azov bis zum Ural in den Flammen des Aufstands. Es war die letzte Phase der Bulavin-Erhebung, von der Scharschmid als Augenzeuge berichtet. D e m Aufstand von Bauern, Posadleuten und Strelitzen wurde durch die gleichzeitige Erhebung nichtrussischer Völker gegen die zarische Staatsgewalt eine besonders durchschlagende Wucht verliehen. N a c h dem die Völker des Terek mit dem Aufstand begonnen hatten, schlossen sich ihm auch die Völker des Wolgagebiets an. Ufa wurde von den Baschkiren angegriffen, die eine Wiederherstellung der Khanate Kazan und Astrachan erstrebten. Unter den „Korrespondenzen und Briefen aus Rußland" 5 3 findet sich von Scharschmid ein Bericht, welcher sehr eindrucksvoll die Situation wiedergibt, in der sich der russische Staat damals befand. „ A n n o 1707 sah es gefährlich aus mit ganz Russland", so beginnt Scharschmid. „ D e n n da man hörte, es wollte der schwedische König, so damals in Sachsen, aufbrechen und seinen Marsch nehmen nach Moskau, fiel allen das Herz, denn das Land stand allenthalben ihm offen." Scharschmid fährt fort, indem er auf die Aufstände eingeht. U n d zwar schreibt er zunächst über den Aufstand der kaukasischen Bergvölker am Terek. 54 „Wie sichs aber mit dem Marsch noch verzog, entstand noch grössere Bewegung auf der anderen Seite der russischen Länder, da es schien, es würden zum wenigsten die Königreiche Kazan und Astrachan denen Tataren wieder zuteil werden. In dem folgenden Jahre 1708 die Rebellion, vielmehr als im vorigen Jahre durch die Strelitzen in Astrachan war geschehen, nun ihre Flügel über beide Königreiche ausbreitete. D e n n in den äussersten Grenzen der russischen Länder nach Osten bei Terik stand auf ein Tatar, so sich Sultan nennete und vorgab, er sei was Grosses, an welchen sich auch grosses Volk hing. Dieser überfiel vor der grossen Fasten in Terik die Russen, da sie fast alle in der N a c h t besoffen waren, und hieb ein H a u f e n Volks darnieder. Bald aber darauf tat aus dem Schloss der russische Kommandant mit einigen bei sich habenden deutschen Offizieren einen Ausfall, zerstreute die Tataren und kriegte den Sultan gefangen, der dann nach Astrachan geführt wurde." N a c h der Schilderung der grausamen Hinrichtung dieses Sultans wendet sich Scharschmid einem Ereignis des Bulavin-Aufstands zu: „Außer dem Vernehmen dieses gedachten Sultans entstand eine andere U n r u h e den Weg nach Kazan hinauf, indem plötzlich die Kosaken, Strelitzen und andere Rebellen die Stadt Saricen 55 umgaben, mit Feuer anzünde50 51 52 53

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Ebd., D. 67, S. 226: Tagebuchaufzeichnungen aus dem Jahre 1695. Ebd., C 296 S. 71: Scharschmidt an Francke, Moskau, 1. 2. 1707, Ebd. Ebd. C 491, S. 6: „Einige Umstände wegen Enos, wenn, wie er in meine Hände kam". Dieser Bericht trägt kein Datum. Vgl. Brückner, Peter der Große (wie Anm. 4), S. 295. Caricyn.

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ten und dem Kommandanten den Kopf abhieben, nachdem sie ihn vorher scharf gepeitscht hatten. Da aber bald aus Astrachan ein deutscher Oberster mit Volk zum Succurs hingeschickt wurde, ward auch dem Unwesen gewehret." Schließlich erwähnt Scharschmid noch den Angriff der Baschkiren auf Ufa. „Die dritte Empörung entstand fast zu gleicher Zeit über Kazan bei Ufa, der ersten Stadt in Sibirien, welche die baschkirischen Tataren angriffen und dachten, Kazan und das Reich wieder einzunehmen. Aber auch diese Feinde mußten bald mit blutigen Köpfen weichen." In diesem Bericht Scharschmids sind zwei für Rußland damals bedeutende Ereignisse nebeneinander gestellt: der schwedische Angriff und die Aufstände. Mit den letzten rechnete auch Karl X I I . , der ja mit Mazepa in Verbindung stand und auf eine Lostrennung der Ukraine hoffte. Die Aufstände bedeuteten daher in diesem Augenblick, als es galt, den schwedischen Angreifer abzuwehren, für Rußland eine äußerste Gefahr. Der Bulavin-Aufstand und ebenso die Baschkirenerhebung in dieser Zeit haben daher unter diesem G e sichtspunkt einen besonderen Charakter. Wenn sie sich auch gegen die Bedrückung durch die Staatsgewalt richteten, so waren sie doch gleichzeitig ein Hemmnis in der Abwehr des auswärtigen Feindes und gefährdeten somit das Reformwerk Peters I. Die ganze Gefährlichkeit jener Lage kommt noch einmal in den Worten Scharschmids zum Ausdruck: „Da wir nun zu der Zeit wegen so vieler Rebellion, so von Terik aus bis nach Sibirien hinbrannte, in Astrachan als im Feuer sassen und nicht anders als für Schlachtschafe gehalten wurden und meine eigene Person mehr Leiden traf als im ganzen Leben zusammengerechnet nicht gehabt hatte . . . liess ich nach der Predigt singen ,Ach wie elend ist unsere Zeit' und richtete mein Gemüt selbst auf in guter Hoffnung, obgleich alles um uns her krachte, blitzte und stürmte und meine Seele nahe bei der Hölle w a r . . . " Bei dieser zweiten Reise nach Astrachan ging Scharschmid auch weiter bis an die persische Grenze. „Neulich wurde von Generalmajor Riegemann nach Terik 5 6 wo er itziger Woiwode und Kommandant ist, berufen, wohin heut oder morgen mit meiner Frau, so mit mir gleich Furcht vors Wasser hat, samt der Hälfte meines Gesindes unter der guten Hand des Herrn zu Wasser über See gehen werde und sehen, wie sie einen da an der äußersten Grenze, wo eine Menge allerlei Heiden ist, werden ansehen." 5 7 Scharschmid muß es offenbar ganz gut in Terik gefallen haben. „Mich hat Gott samt den Meinigen 1709 über See nach Terik, welches jenseits des Kaspischen Meeres liegt, gebracht und mein Amt in einem Jahre daselbst mehr gesegnet, als sonst nirgends geschehen, daher auch hoffe, dort mein Leben zu beschließen. Ausser dass mein Amt wiewohl unter viel Trübsahl mit Freude damals unter denen Deutschen daselbst betrieb, so fand ich doch auch Eingang bei Russen, Armeniern, Persianern, Griechen und Tataren." 5 8 So sah denn Scharschmid hier für seine christliche Bekehrungstätigkeit ein reiches Wirkungsfeld. Er empfand freilich auch sofort die Notwendigkeit der Beherrschung aller hier vorkommenden Fremdsprachen. Schon früher schrieb er aus Astrachan: „Wie angenehme Speise sollte es in der Gegend hier sein, so ein Student könnte mit ihnen türkisch, persisch, bulgarisch oder arabisch reden und ihnen einige Bücher darinnen vorzeigen; sie würden ihrer mohammedanischen Fabelwesen vergessen." 5 9

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So schreibt Scharschmid den N a m e n . In den russischen historischen Karten lauter er „Terki" (heute Terek).

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AFrSt, C 296, S. 77: Scharschmid an Francke, Astrachan, 22. 7. 1709. Callenberg führt an aus „Herrn Scharschmids Manuskript", AFrSt, F 3 0 k. S. 21a.

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AFrSt, C 296, S. 45: Scharschmid an Francke, Moskau, 3. 3. 1703.

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Dieser Hinweis ist gleichfalls bedeutsam, wenn man bedenkt, daß Francke Orientalist war. Außerdem machten die praktischen Bedürfnisse der Erlernung orientalischer Sprachen Halle zum Ausgangspunkt der deutschen Orientalistik. Im ersten Brief aus Terik meldet Scharschmid: „Türkisch und Arabisch ist hier herum das Nötigste. Mit Türkisch und tatarischen Sprachen kann man hier von beiden Seiten des Meeres durch Persien und dort über Astrachan durch Buchara bis nach China fortkommen." 6 0 Daher hatte denn auch der Prediger Christoph Eberhard 61 an Francke geschrieben, daß es umsonst wäre, „wenn auch die besten Leute hierher gesandt werden, wofern sie nicht die Sprachen können". 6 2 Wenn Scharschmid hier die nichtchristlichen Völkerschaften zum Christentum zu bekehren versuchte, so mußte das natürlich auch, obgleich Scharschmid Protestant war, für den russischen Staat von Bedeutung sein. Bei der Einbeziehung nichtrussischer Völkerschaften in die russischen Staatsgrenzen war das Christentum ein wichtiges Machtmittel. 63 Scharschmid ging in dieser Hinsicht noch weiter, indem er hier sogar Schulen anzulegen versuchte, ein Umstand, der ja für die pietistische Aufklärungsarbeit in Rußland überhaupt bedeutsam ist. So hatte Scharschmid schon in Astrachan eine Schule gegründet. Auch in Terik, schreibt Scharschmid, hatte er eine Schule eingerichtet. „Ausser sieben kleinen Mädchens sind die Knaben folgende Nationen: sieben Deutsche, ein Armenier, ein Grieche, ein Russe, ein tatarischer Baschkire, mein Enos, den ich in Astrachan gekauft, ein Kalmück, ein Finne." 6 4 Scharschmid knüpfte aber auch Verbindung zu den herrschenden Familien der Kalmükken an. Und zwar machte er die nähere Bekanntschaft der Schwester des KalmückenKhans Ajuka, welche, wie er berichtet,mit einem „ M u r s a " vermählt war. „Wenn andere von göttlichen Dingen redeten, das verschwände bei ihr allsofort, alle die Worte, die ich ihr neulich gesagt, kämen ihr Tag und Nacht wieder vor und würden ewig bei ihr bleiben und wären ihr köstlicher als alle Schätze der Welt." 65 Dann spricht Scharschmid aber von dem praktischen Nutzen dieser Bekanntschaft: „ . . . gab Anschläge, wie man könnte mit ihrem Bruder bekannt werden und durch dessen Hilfe allenthalben weiter nach Orient hin bis nach China sicher gebracht werden." Eine solche Beziehung zu Ajuka war also nicht unbedeutend. Die Kalmücken nahmen in der Ebene zwischen Kaspischem und Schwarzem Meer eine Schlüsselstellung ein. Sie erkannten die Oberhoheit des russischen Staates an. Und für Peter I. war die Tatsache, Ajuka zum Verbündeten zu haben, von Wichtigkeit, denn dies Bündnis gab eine Sicherheit gegen die Krim-Tataren im Westen, die KaraKalpaken im Osten und die Gewähr für ein Vorgehen im Kaukasus. 6 6 Inwieweit war nun aber Scharschmid an einer freundschaftlichen Beziehung zum Kalmücken-Khan und da60 61 62 63

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Ebd. S. 78: Scharschmid an Francke, Terik, 28. 9. 1709. Vgl. über ihn Winter (wie Anm. 1), S. 64. AFrSt, D . 57, S. 282. 1723 hatte der Gouverneur von Astrachan anläßlich eines Kampfes zwischen den Kalmückenfürsten Ajuka und Dosang geschrieben: „ . . . ja dumal, cto £ta ssora budet vredit" nasemu interesu, odnako nadejus' cto p o i t o m u slucaju mnogie sdelajutcja christjanami; u menja ob i t o m uze govereno, i nadejus' obedit' kogo-nibud' iz Capderzapovych detej, otdela ich m o z n o popravit' so vremenem bez vsjakogo truda." - S. M. Solovev, Istorija Rossii s drevnejsich vremen, Buch 9, Moskau 1963, S. 358. AFrSt, C 296: S. 79, Scharschmid an Francke, Terik, 8. 10. 1709. Callenberg, Neueste Kirchenhistorie, AFrSt, Bd. F 30 k, S. 24 a. Vgl. Solovev (wie Anm. 63), S. 354. Vockerodt schreibt: „ D i e Liaisons, welche die alten Zaren mit denen Calmucken gehabt, die vormals an den westlichen Ufern der Wolga wohneten, hat Petrus I. sorgfältig conserviret, ihren Chan Ajuka sehr caressiret, und durch Präsente an sich gezogen, doch aber dessen Assistenz in seiner ganzen Regierung nur zweimal gebrauchet, nämlich zu Anfange des schwedischen Krieges und bei der Expedition von Derbent." - Rußland unter Peter dem Großen, nach den handschriftlichen Berichten Johann Gotthilf Vockerodts und Otto Pleyers, hg. v. Ernst Adolf Herrmann, Leipzig 1872, S. 46.

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mit auch an der Erringung einer Schlüsselposition im Kaukasus interessiert? - Schon 1703 hatte Ludolf an Salchow in Konstantinopel geschrieben, daß Scharschmid einem Deutschen, der die arabische Sprache verstehe und einen englischen Lord begleite, bei der Reise nach Persien helfen solle. 67 Als Scharschmid aus Terik wieder nach Astrachan zurückgekehrt war, schrieb er dort: „Man sagt hier, es sei unterwegs ein königlich preußischer Envoye, so nach Persien gehet. Erwarte mit Verlangen dessen A n k u n f t , um zu sehen und zu hören, wie es obenhinauf stehe." 68 Andererseits hatte Scharschmid auch nach Persien hin Beziehungen aufgenommen. Und zwar meldet er, daß er an „ H e r r n Macar, den Residenten der edlen Ostindischen Companie, so in Isfahan nebst einem englischen Residenten wohnhaft", 6 9 geschrieben habe. Dies alles läßt jedenfalls erkennen, daß Scharschmid hier in Terik und in auch Astrachari mehr tat als nur Predigerdienste. Als Mittelsmann Ludolfs und Franckes handelnd, hat Scharschmid beim Ausbau Astrachans zu einem Knotenpunkt des englischen und preußischen Nachrichtendienstes gewirkt. 7 0 So gewinnen denn auch die Beziehungen Scharschmids zu den Fürsten der Völker Dagestans eine größere Bedeutung: „Allein von Andrederevna 7 1 , wohin nebst anderen der junge Armenier, mein Discipul und Domesticus so gut türkisch und tatarisch spricht, neulich geschickt wurde, haben die vornehmsten dasigen Tataren mich grüssen lassen mit Erbieten, so ich von ihnen weiter zu reisen gedächte, mich sonder Schaden fortzubringen und zu begleiten. Der Schamchal (Schagkahl) selbst (so als König ist über alle Mursa oder Fürsten. Es sind aber zwei Schamchal, der eine nämlich dieser in Andrederevna, der andere in Tarkec 72 hat an miech geschrieben und verspricht allenthaltenhin, entweder nach Krim oder Türkei, nach Konstantinopel oder Persien sicher Geleit." 7 3 Da die damals noch unabhängigen Splitterstaaten Dagestans die Durchgangswege im nördlichen Kaukasus beherrschten, war also solch ein „Geleit" nicht unwichtig. Trotzdem verließ Scharschmid schon nach weniger als einem Jahr Terik, wo es ihm, wie er selbst sagte, so gut gefallen hatte. N a c h vorübergehendem Aufenthalt in Astrachah brach er im Sommer 1711 nach Kazan auf. Er schrieb darüber später: „Da kam vorm Jahr, Mitte Juni, ein hoher Befehl, dass ich weg musste, nach Kazan, bis hierher nicht wissend, was die Ursache sei." 74 Es war also nicht der eigene Entschluß, der Scharschmid dazu veranlaßte, Astrachafi wieder zu verlassen. In Kazan traf Scharschmid niemanden, der ihn auf G r u n d des „hohen Befehls" erwartet hätte. O h n e Zweifel wurde Scharschmid durch seine pietistische Tätigkeit in Astrachan den Russen unangenehm. Sie veranlaßten ihn zu dieser Abreise. Die Reisen nach Astrachan und Terik hatte Scharschmid in den entscheidenden Jahren der Regierung Peters I. unternommen. Der Weg von der Niederlage bei Narva bis zum Sieg von Poltava war von Rußland unter äußersten Anstrengungen und O p f e r n zurückgelegt worden, wofür die Aufstände in dieser Zeit ein Beweis sind. Obgleich Scharschmid aus diesen Jahren nur relativ wenig Aufzeichnungen hinterlassen hat, läßt sich doch bereits aus diesem Wenigen die G r ö ß e der geschichtlichen Entwicklung ersehen, welche an der Wolga und am Terek auf Scharschmid mit aller Wucht einwirkte. Dabei wurde Scharschmid zwangsläufig in 67 68 69 70 71

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AFrSt, D. 83, S. 136, rechts Ζ 6: Ludolf an Salchow, 5. 4. 1703. Ebd. C 296, S. 82: Scharschmid an Francke, Astrachah, 17. 1.1711. Ebd. Vgl. Winter (wie Anm. 1), S. 296. Die damalige Hauptstadt des westlichen Dagestan; sie trug auch den Namen Enderi. Es ist das heutige Chassov Jurt zwischen den Flüssen Terek und Sulak. Es ist die an der Küste gelegene Stadt Tarki. AFrSt, C 296, S. 78: Scharschmid an Francke, Terik, 28.9. 1709. Ebd., S. 83: Scharschmid an Francke, Moskau, 8. 10.1712.

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eine Situation hineingestellt, die ihn in seinem Handeln bereits weit aus dem Rahmen einer bloßen Predigertätigkeit hinausführte. Sei es, daß er Schulen organisierte, Francke über neue Handelsmöglichkeiten berichtete oder gar in höherem Auftrage diplomatische Verbindungen aufnahm. Bei all diesem aber mußte er selbst, bewußt oder unbewußt, in eine Beziehung zur russischen Frühaufklärung treten, die unter Peter I. zum Durchbruch kam. Er mußte dies um so mehr, als er ja letzthin immer im Sinne seines halleschen Auftraggebers handelte. Die Rolle, welche Scharschmid hierbei spielte, wird im folgenden zu untersuchen sein.

Scharschmid als Vermittler der Aufklärung zwischen Halle und Rußland Peter I. war nicht nur ein hervorragender russischer Staatsmann und Feldherr, sondern auch der bedeutendste russische Aufklärer seiner Zeit. Dies war es, was ihn unter allen russischen Herrschergestalten hervorhob und ihn zum „Großen" machte. Er brachte Rußland aus der Rückständigkeit heraus, welches damit in seiner gesellschaftlichen Entwicklung einen entscheidenden Schritt vorankam. Bei diesem Werk stand Peter I. jedoch mit wenigen Mitarbeitern allein gegen eine gewaltige Front von Widersachern aus den verschiedensten Lagern. Wenn Peter I. gegen diese Gegner ankämpfte, welche sich besonders in den Reihen des Klerus zeigten, so hieß das keineswegs, daß er etwa an der Lehre von der Rechtgläubigkeit selbst rütteln wollte. Er lehnte sich nur gegen inhaltslose Formen, gegen geistige Trägheit und Beschränktheit auf. Vor allem aber mußte die Kirche in die Ordnung seines Staates mit eingereiht werden. Hier aber waren es selbst hohe abergläubische Würdenträger, die sich ihm entgegenstellten. So berichtete Scharschmid bei seiner Reise nach Moskau im Jahre 1696 aus Pskov, daß „der dasige Metropolit Schaden am Bein hätte, aber aus grosser vermeinter Heiligkeit lieber den Schaden behalten und daran sterben wolle als solchen einem gemeinen Menschen zeigen und sich von ihm kurieren lassen". 7 5 Auch einen anderen Fall von Aberglauben erzählt Scharschmid. Auf der erwähnten Reise vermerkt er in seinem Tagebuch den in Pskov alljährlich im Monat Mai stattfindenden Prozessionszug mit dem Marienbild. „Als das Bild noch in Plesko stand, ging der Chirurg Ridder zum Woiwoden, ihn als am bestimmten Tage zu halbieren, allein seine Gemahlin wollte es nicht zugeben, dass solch Werk, weil die Mutter Gottes noch gegenwärtig, verrichtet würde, da man könnte mit der Bartschererei wohl so lange warten, bis die Mutter Gottes wieder abgegangen." 7 6 Auch eine weitere Erwähnung Scharschmids ist bezeichnend: „Ein junger Mensch ist ehemals, als er die lateinische Sprache gelernt, gepeitscht (geknutet) worden, weil er solcher Gestalt könne Ketzerei einführen." 7 7 Dagegen können wir feststellen, daß auf Seiten des Volkes auch durchaus Tendenzen zur Auflehnung gegen einen dogmatischen Kult vorhanden waren. Der Fall, daß Russen den Bilderdienst verweigerten, war häufig. Scharschmid berichtet 1702 bei seiner Durchreise durch Kazafi von einem Russen, den man wegen der Verweigerung des Bilderdienstes ins Gefängnis geworfen hatte. Peter I. hat sich in dieser Hinsicht nicht nur tolerant gezeigt, sondern als Aufklärer direkt solchen formalen und inhaltslosen Übungen entgegengewirkt. Strahlenberg schreibt, daß der Zar darauf bedacht gewesen sei, „abergläubische Zeremonien und andere unnütze Gebräuche" zu beseitigen, wobei ihm Theophan Proko75 76 77

Ebd. D. 67, S. 225. Ebd. Ebd., S. 227a. '

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povic geholfen hätte. 78 In einem Briefe des Obersten Isendorf an Kapitän Wreech lesen wir: „Es ist aber eine große Bewegung unter den Russen. Es sind hier einige, die öffentlich der Abgötterei ihrer Bilder und auch der sündlichen Traditionen widersprechen und darüber in Eisen und Banden geworfen. Ihre Zarische Majestät haben sie aber für sich selbst nach Petersburg kommen lassen und sie selbst gehöret, darauf sie freigelassen und befohlen, und andere, die auch schon ihrer Meinung, ungekränkt zu lassen." 7 9 Ohne Zweifel kann man sagen, daß Peter der Große es war, auf den sich wie auf einen Pfeiler die ganze Aufklärungsarbeit in Rußland stützte. Pastor Roloff, der Amtsbruder Scharschmids, schrieb, daß die Geistlichen allen Verweigerern des Bilderdienstes einen kurzen Prozeß machen würden, „allein Ihre Zarische Majestät lassen ihnen den Willen nicht". 8 0 Diese Haltung Peters I. wird uns auch aus einem Brief des pietistischen Predigers Vierorths bezeugt. 81 Er rühmt darin die tolerante Haltung Peters I. und des Erzbischofs Prokopovic, welcher „seinen mentem, den er gegen die Evangelischen hegte, entdeckte; nun ist aber der Kaiser noch viel weiter in der Meinung, welcher mich vor meiner Abreise aus Petersburg ein gewisser grosser Admiral, ein Intimus des Herrn, versicherte". Es waren im Grunde wenige Männer, welche neben Peter I. und Prokopovic in der Front der Aufklärung standen. 82 Deshalb konnte Peter die Arbeit der halleschen Pietisten in Rußland, soweit sie ihm in seinem Vorhaben half, nur willkommen sein. 83 In dem Gespräch zwischen Peter I. und dem Obersten Campenhausen, welches der pietistische Prediger Christoph Friedrich Mickwitz in seinem Tagebuch anführt, kommt das Interesse Peters an Halle deutlich zum Ausdruck. Auf die Erklärung Campenhausens, der König von Preußen sage, es würde erst dann besser in Rußland werden, wenn man Schulen, Akademien und wahren Gottesdienst einführen werde, antwortete Peter, daß er dies schon lange erkannt habe. Wo solle er indes die Leute hernehmen? - Campenhausen wies auf Halle, worauf sich Peter sofort lebhaft für das Franckesche Unternehmen interessiert zeigte. 84 Das Wirken Scharschmids in Rußland mußte daher nicht nur für Halle von Bedeutung werden, sondern auch für Rußland selbst. Als Scharschmid nach Rußland ging, war Francke erst das fünfte Jahr in Halle, und auch Peter I. stand am Anfang seiner Tätigkeit. Peter I. und die halleschen Pietisten waren freilich in ihrem Wesen sehr verschieden geartet. Die historische Situation in Rußland selbst führte sie jedoch zusammen zu gemeinsamen Interessen und gemeinsamer Arbeit. D a ß es aber dazu kam, daran hatte Scharschmid, der erste hallesche Bote, einen nicht unwesentlichen Anteil. Franckes Werk wird erst richtig verständlich, wenn man die wirtschaftlichen Grundlagen seiner Unternehmen betrachtet. Es ist nicht verwunderlich, wenn Francke die Arbeit seiner Anhänger in Rußland auch in seine unmittelbaren geschäftlichen Handlungen einbezog. Ganz besonders Rußland, das ja am Ende des 17. Jh. in das Blickfeld Mittel- und 78 79 80

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Strahlenberg (wie Anm. 7), S. 277. AFrSt, C 491, S 23: Isendorf an Wreedl, aus Moskau. D e r Brief ist undatiert. Ebd. D . 111, S. 215: Roloff an Francke, Vologda,20. 2. 1714. D e r Brief ist abgeschrieben auch von Callenberg (wie Anm. 65) F 30 k, S. 311 a. AFrSt, C 491, S. 57: Vierorth an Francke, Moskau,19. 7. 1722. Mickwitz schreibt in seinem Tagebuch: „Von der Hoffnung besserer Zeiten in Rußland: Das Oberhaupt erkennt mit wenigen, so halb und halb, daß eine rechtschaffene Kirchen-Reformation nötig sei, aber hatte keine Gehilfen, der abergläubischen Geistlichkeit und dem verblendeten gemeinen Mann darf davon nichts gesaget noch gepredigt werden. Denn die meisten sind hart russisch, und schon mißvergnügt gewesen über die bisherige Veränderung Ihro Majestät in äußerlicher besserer Regierungsform." (Illinois Studies in language and literature, Bd. 25, S. 191.) Vgl. Winter (wie Anm. 1), S. 54. Illinois Studies (wie Anm. 82).

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Westeuropas trat, mußte zu solchen Plänen verlocken. Auch hierbei können wir feststellen, daß die Arbeit Scharschmids über den Rahmen einer rein seelsorgerischen Tätigkeit hinausging, indem er gleichzeitig als Agent Franckes bei der Durchführung seiner Handelsgeschäfte auftrat. Die Hauptgegenstände für den Handel Franckes in Rußland waren freilich auch hier Medikamente und Bücher. 85 Als Scharschmid im Jahre 1703 den Pastor Michaelis in Archangelsk vertrat, schrieb er an Francke: „Wegen der Arznei von 1 000 Talern, so Herr Michaelis mitgebracht, bin bekümmert, wie man sie verkaufen solle. Denn Herr Gregori scheint das Monopolium zu haben, die Arznei zu verkaufen. Uberlässt man einem oder dem anderen etwas stückweise davon vor Geld, wird er sonder Zweifel, da er so fest noch nicht stehet, als man meint und wie er mir selbst fast mit Tränen mündlich und schriftlich klaget, scheel sehen. Soll man sie ihm aber insgesamt zu kaufen anbieten, so muß man ja billig einige hundert Taler dafür fordern, aber wieviel?"86 Dieser Nachricht können wir zwei Tatsachen entnehmen. Einmal zeigt sie uns deutlich Scharschmid als Handelsvertreter Franckes in Rußland. Ferner erfahren wir, daß auch der Handel mit eingeführten Medikamenten vom russischen Staat einem einzelnen als Monopol übergeben war. Wer war nun dieser Gregori? - Scharschmid erwähnt ihn als Schwiegersohn des Pastor Jungius. 87 Er war ein Sohn des Hans Gottfried Gregorii 88 welcher 1658 als Pastor nach Moskau kam und später auch im Auftrage des russischen Staates im Auslande Techniker warb. Das erklärt, warum sein Sohn Eingang bei Hofe gefunden hatte und dadurch auch in den Besitz eines solchen Handelsprivilegs kam. Er hat regelmäßig Medikamente über Archangel'sk bezogen, wie aus Scharschmids Mitteilung hervorgeht: „Indem ich heute oder morgen mit Herrn Tiedemann und Göstig, so auch in Herrn Gregori Dienst und seine Materialien von hier abholet, zurückgehe." 89 So war denn Scharschmid mit dem Absatz seiner Ware in einer sehr bedrängten Lage. Er hat sich jedoch wohl herauszuhelfen gewußt. Denn er schreibt, daß er General Riegemann, welcher offenbar für Militärzwecke größere Posten einkaufte, einen Teil der Medikamente überlassen habe. Weiterhin erfahren wir noch einiges von dem Schicksal dieser Medikamente. „Nachdem hat Herr Riegemann mit eben dem Herrn Gregori sein Wunder gehabt, da dieser die schöne Apotheke so Herr Michaelis unter Herrn Roloffs Sachen an Gregori geschicket und es Ihrer Zarischen Majestät vorgezeiget, welche, weil die Gläser und alles ist künstlich, ein Gefallen daran gehabt und es bei sich behalten, doch so, daß die Arzneien aus den Gläsern wieder zurückgegeben sind, weil man Ihrer Zarischen Majestät vorgeschwatzt, es wäre nur Betrügerei mit der Arznei, und wird nun an dessen Statt mit hiesigen Medikamenten angefüllt. Herr General Riegemann muss es nun so geschehen lassen. Er wartet aber bei Gelegenheit sich zu verantworten und darzutun, dass sie in der privilegierten Apotheke in Halle nicht mit Betrügereien umgehen." 90 Die Nachricht von dem angeblichen Betrug mit den Medikamenten läßt sich offenbar nur so erklären, daß wir es hier mit

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Der Handel mit Medikamenten brachte in den Jahren 1720 bis 1730 den Franckeschen Anstalten 15 065 Taler ein. Damit wurden die Ausgaben des Waisenhauses, die sich 1727 auf 15 000 Taler beliefen, völlig gedeckt. Hergestellt wurden vor allem die Essentia dulcis, ein Mittel gegen Fleckfieber. (Bartz, Die Wirtschaftsethik Α. H. Franckes, Hamburg-Wilhelmsburg 1934, S. 76.) AFrSt, C 296, S. 48 Scharschmid an Francke, Archangel'sk, Juli 1703. Ebd., S. 54: Scharschmid an Francke, Moskau, 19. 1. 1704. Dieser war der Sohn des Merseburger Arztes Viktor Gregorii. Die Mutter Hans Gottfrieds heiratete nach dem Tode des Vaters Laurentius Blumentrost. Cvetaev (wie Anm. 29), S. 95. AFrSt, C 296: S. 49, Scharschmid an Francke, Archangel'sk, 20. 9. 1703. Ebd., S. 51: Scharschmid an Francke, Moskau, 23. 9. 1703.

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dem Konkurrenzkampf zwischen einheimischen und ausländischen Kaufleuten zu tun haben. Wenn der Medikamentenhandel für Halle vor allem einen finanziellen Gewinn bedeutete, so war der Buchhandel, abgesehen davon, daß er materiellen Profit eintrug, vor allem ein Mittel der geistigen Beeinflussung. Schon Anfang des 18. J h . beliefen sich die Einkünfte aus dem Buchhandel des Waisenhauses jährlich auf 2 000 bis 2 500 Taler. Die Absatzmöglichkeiten in Rußland wurden selbstverständlich nicht ungenutzt gelassen. Auch hierbei hat Scharschmid als Weiterverkäufer der Bücher Dienste geleistet. Im März 1698 schrieb Francke an Scharschmid, daß er ihm ein Paket „mit unseren gedruckten Sachen" übersenden wolle in der Hoffnung, daß sich dafür Liebhaber fänden und „sie mit leichter Mühe distribuiert werden könnten". Und weiter hieß es: „Es wird Geliebeter Bruder damit einen zweifachen Dienst tun: 1. Unseren Armen, welche die Sachen verlegt haben und an deren Erhaltung alles angewandt wird, was davon kömmt, 2. dem Worte Gottes selbst, daß solches auch desto besser unter die Leute komme. Darum es uns auch fürnehmlich zu tun ist, denn wir sonst die Sachen hier leichtlich auch distribuieren könnten. Sollte dann noch mehr von diesen Materialien oder von allem, so noch künftig herauskommen wird, verlanget werden, wollen wir schon grössere Pakete mit dem Studiosus der verlanget wird oder bei anderer Gelegenheit ihnen zuschicken. Gehen Unkosten drauf, so dürfen sie nur auf den Preis der Bücher mitgeschlagen werden." 9 1 Man sieht hieraus, wie Francke bestrebt war, seine Bücher vor allem in Rußand zu verkaufen. Wenn er auch erwähnt, daß er die Bücher leicht in Halle selbst absetzen könnte, so reizten ihn doch vor allem die Einflußmöglichkeiten, welche der Buchversand nach Rußland mit sich brachte. Und dabei blieb ja das Geschäft selbst nicht aus. Der Vertrieb der halleschen Bücher nach Rußland ist ja denn auch in den weiteren Jahrzehnten des 18. Jh. in verstärktem Maße fortgesetzt worden. Es waren nicht nur religiöse Bücher, die von Francke vertrieben wurden. Gerade die Tatsache, daß allmählich die weltliche Literatur in den Vordergrund trat, war für die Entfaltung der russischen Aufklärung wichtig. Scharschmid berichtet, daß General Adam Weyde jährlich für 50 Rubel Bücher bestellte, und zwar „von Artillerie . . . und was sonst an Kuriosem in deutscher oder französischer Sprache hervorkommt". 9 2 Gewiß war nun Weyde schon lange einer der vertrauten Mitarbeiter Peters I. und arbeitete selbst mit an dessen Reform- und Aufklärungswerk. Daher war es vor allem auch wichtig, solche Literatur weiteren, vor allem russischen Kreisen zugänglich zu machen, die noch völlig unter dem Einfluß und der Aufsicht der rechtgläubigen Kirche standen, deren markantester Vertreter Stephan Javorskij war. Hier war es aber notwendig, Bücher in russischer Sprache zu beschaffen. Dies hatte auch Scharschmid sofort erfaßt. Er schrieb Anfang des Jahres 1699 an Francke: „Wenn Ihre Druckerei mit slavonischen Typis versehen, wäre wohl zu wünschen, dass man bald etwas zu sehen bekäme, was in solcher Sprache dort gedruckt." 9 3 Scharschmid erwähnt dabei die russische Bibel selbst als Beispiel des Druckes. „Die slavonische Bibel ist hier und habe sie noch nicht gesehen verkaufen, wie wohl sie bisweilen vor 20 oder 22 Taler soll zu bekommen sein, da doch der Druck und das Papier nicht sonderlich ist." Weshalb sollte es nicht angehen, daß ein Neues Testament gedruckt würde, auf dessen einer Seite beisammen stünden der griechisch-slavonische und deutsche Text und auf der anderen Seite der lateinische und deutsche? Dabei sieht aber auch Scharschmid die Notwendigkeit, vom kirchenslavischen Drucktext loszukommen. Denn

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Ebd., D. 83, S. 697: Francke an Scharschmidt, 25. 3. 1698. Ebd., C 296, S. 88: Scharschmidt an Francke, Nizna, 20. 4. 1713. Ebd., C 296, S. 25: Scharschmidt an Francke, Moskau, 4. 2. 1699.

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er machte den Vorschlag, daß den „slavonischen auch die russischen Worte beigesetzt werden . . . weil viel slavonische Wörter im Russischen behalten werden, viele aber ganz anders im Russischen klingen." Es entsteht dabei natürlich die Frage, inwieweit hier in Rußland selbst hallesche Bücher begehrt wurden. Aufschlußreich ist hierfür wiederum das schon erwähnte Gespräch zwischen Peter I. und Campenhausen. 94 Campenhausen berichtete Peter von den Drucken in Halle, von Franckes „Anfang der christlichen Lehre". Peter erwiderte, daß dies alles noch viel zu schwierig sei, selbst die religiösen Bücher hätten noch wenig Verbreitung gefunden. „Aber meine Leute fragen nicht gross danach. Von 5 000 Exemplariis sind noch nicht 1 400 verkauft. Hei, Wel, det Halle so good gesinnet ist gegen mein Land! In ses, seven Jahr werden sie noch nicht nach der Bibel fragen . . . " Bedenkt man hierbei, daß die Bildungsmöglichkeiten ohnehin nur den Kreisen des Adels und allenfalls den Spitzen des Bürgertums zukamen, so sieht man, vor welchen Schwierigkeiten Peter I. in seiner Aufklärungsarbeit stand. Scharschmid hat mitgeholfen, das erste hallesche Druckerzeugnis in russischer Sprache, nämlich die Übersetzung von Franckes „Anfang der christlichen Lehre" in Rußland zu verbreiten. Daß in der Franckeschen Druckerei bereits im Jahre 1704 russische Drucktypen vorhanden waren, hat Winter nachweisen können. 95 Scharschmid stand vor allem unter dem Einfluß Ludolfs. Immer wieder ist er von Ludolf zur Beschäftigung mit der russischen Sprache angehalten worden. Scharschmid wirkte vornehmlich als Vermittler. Francke zeigte sich sehr erfreut, als ihm Scharschmid über Narva ein russisches Wörterbuch schickte.96 Peter Müller, der in Halle Studenten im Russischen unterrichtete, war, wie schon erwähnt, ein Schüler Scharschmids und durch diesen nach Halle gekommen. Über die Stellung, die Scharschmid in der Vermittlung von russischen Studenten nach Halle einnahm, wird noch weiter unten gesprochen werden. Es ist bei alledem seltsam, daß Scharschmid selbst die russische Sprache offenbar wenig geläufig war, zumindest daß er sie erst später beherrschen lernte. Sei es, daß er dafür zu wenig Eifer aufbrachte oder daß ihm Neigung und Sprachbegabung fehlten. Es war schon allein ein Nachteil, daß Scharschmid erst in Rußland selbst mit dem Erlernen der russischen Sprache beginnen mußte. Ludolf hat darüber sein Bedauern ausgedrückt. 97 Auch noch 1701 in Astrachaü bemerkte Scharschmid, daß er noch nicht russisch sprechen konnte.98 Nach den ersten Monaten seines Aufenthalts in Rußland schrieb Scharschmid, daß er sich nicht „das Geringste um die Erlernung der russischen Sprache kümmer, sondern lasse es damit anstehen, bis ich sehe, ob und wie mich Gott wollte weitertrollen". 99 Das klang wenig verheißungsvoll, vor allen Dingen für Ludolf, der doch so viel Interesse an Scharschmids Sendung zeigte. Hatte doch „Herr Ludolf", so schreibt Scharschmid, „seine Freude über mein Hiersein in unterschiedlichen Briefen bezeuget". 100 Es zeigt aber auch 94

Tagebuch von Chr. Fr. Mickwitz, in: Illinois (wie Anm. 82), S. 189. Vgl. Winter (wie Anm. 1), S. 219. 96 AFrSt, C 296, S. 21: Scharschmid an Francke, Moskau, 5. 8. 1698: „Aus Narva wird dem lieben Bruder bald ein russisches oder slavonisches Lexikon, so mir ein Freund auf ein Jahr oder länger überlassen, zugesandt." 97 Ebd., D. 71, S. 18, Ludolf an Francke, Konstantinopel, 19. 4. 1699: „Ich hätte von Herzen mögen wünschen, daß Herr Scharschmid etwas von der russischen Sprache mit in das Land gebracht hätte, so würde er alsdann leichthin so viel gelernt haben, mit den Russen umzugehen . . . " 98 AFrSt, C 296. S. 43: Scharschmid an Francke, Astrachaü, 2. 8. 1701. 99 Ebd., D. 83, S. 639. 100 Ebd., S. 642. 95

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gleichzeitig jene Beschränktheit Scharschmids, der - weit entfernt vom Geiste eines Ludolf - unfähig war, die Größe neuer Aufgaben zu erkennen. Ludolf hatte auch an Scharschmid die von ihm verfaßte Grammatik geschickt „ad levandum tibi laborem in studio illius Linguae". 101 Ludolf empfahl Scharschmid auch gleich die passende Lektüre, und zwar das „operum quae Simeon Polotzki in Prosa s c r i p s i t . . . sicut stylem ejus ad Dialectum vulgarem magis est accomodatus". 102 Dieser Hinweis zeigt Ludolf als guten Kenner der russischen Literatur seiner Zeit. War es doch Simeon Polockij, welcher damals mit seiner Versund Komödiendichtung die Grundlage für eine Weiterentwicklung der russischen Literatur legte. Die Bedeutung Ludolfs für die Anfänge der deutschen Slawistik wird besonders aus dem Briefe ersichtlich, welchen er am 11. April 1697 an Scharschmid richtete: 103 „Die Erlernung der russischen Sprache wird dem selben viel Mühe machen. Zum Anfang hoffe ich, meine Grammatica könne ein wenig die Hand bieten . . . möchte wünschen, daß die, so die Mängel daran wissen, selbige dem Publico zum Besten mit einer neuen und vollständigen Edition verbessern wollten. Zum wenigsten sollte man aber auf meine gute Intention als auf mein Unvermögen selbige zu erreichen sehen . . . des Herrn Präpositus Glück Vorhaben mit Ubersetzung der Bibel in den russischen Dialectum ist sehr löblich. Die Prudenz, so menschliche Seiten hierin zu gebrauchen, wird darin bestehen, daß die Version durch gute Hand dem Zar so recomodiert werde, damit sie auf Seine Majestät Ordre in Moskau gedruckt werde." Wir lesen daraus, wie Ludolf in der Propagierung des Erlernens der russischen Sprache Pionierarbeit leistete. Andererseits sah Ludolf in der Ubersetzertätigkeit Glücks die Bedeutung desselben für eine pietistische Aufklärungsarbeit in Rußland, und daß es vor allem auch darauf ankam, Bücher in Rußland zu drucken. Aus diesem allen geht aber auch hervor, daß man in Halle neben dem Wunsch, selbst russisch zu drucken, auch in gleichem Maße an der Anschaffung russischer Literatur interessiert sein mußte. Hier gibt uns ein Brief an Francke Aufschluß, der am 18. Dezember 1717 aus Moskau abging und mit dem Monogramm P. M. unterzeichnet ist.' 04 Das ist offenbar kein anderer als Peter Müller. Er schreibt, daß er Kisten mit Büchern über Archangel'sk per Schiff nach Deutschland versandt habe, ferner hoffe er, daß der Herr P. „wird die Bücher, so ich zur russischen Bibliothek samt der Biblia Sclavonica destinierte, bereits empfangen haben. Seitdem habe abermals unterschiedliche Raten russischer Bücher eingekauft, unter anderen auch Historia Moscovitica Specialissima in der Sclaveno-russischen Sprache, darinnen sehr merkwürdige Sachen es wird auf russisch genannt in drei Jahren habe es kaum finden können." Die Arbeit des Francke-Kreises in Rußland mußte naturgemäß auch eine Rückwirkung auf Halle selbst ausüben. Und gerade diese ist dann so fruchtbringend für Halle selbst gewesen. 105 Hier wurde besonders der Umstand bedeutend, daß es gelang, junge Russen zum Studium in Halle zu veranlassen. Auch in dieser Hinsicht hatte Scharschmid eine Aufgabe zu erfüllen. Schon bald nach seiner Ankunft in Moskau schrieb Francke am 13. Mai 1697 an ihn, daß es ihm eine große Freude gewesen wäre, wenn Scharschmid ihm „einen Discipulum in unser Pädagogium gebracht hätte." 106 Und weiter schreibt er von

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Ebd. S. 644. Ebd. Ebd., S. 645 (von Scharschmid hier wiedergegeben). Ebd., C.491, S. 9:P. M. an Francke, Moskau, 18. 12. 1717. Vgl. Winter (wie Anm. 1). S. 98. AFrSt, D. 83; S. 633: Francke an Scharschmid, Halle, 12. 5. 1697.

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seinem Wunsch, „ob er uns nicht gar noch etliche fürnehme Russen herausbringet. Wir wollen sie bei uns halten gleich wie wir wünschen, daß die unseren bei ihnen gehalten werden, und wollen gern unseren äußersten Fleiß anwenden, daß sie ihrem Vaterlande zu nützlichen Werkzeugen bereitet würden. Wieviel Gutes könnte nicht aus solchem C o m mercio nationum entstehen?" Das ist gleichzeitig ein schönes Dokument von der Anbahnung deutsch-russischer Kulturbeziehungen am Ausgang des 17. Jh., welche im gemeinsamen Ringen um die Aufklärung entstanden. Zwei Jahre später schreibt Francke in demselben Sinne an Scharschmid: „Ach daß man doch hier ein gutes Seminarium für die russische Nation könnte einrichten. Wenn es einer von der Zarischen Majestät Favoriten aufs Tapet brächte und deswegen ad Electorem geschrieben würde, so könnte es leicht gehen. Ich wollte die Hand treulich bieten. Was könnte das nicht vor ein Nutzen geben?" 1 0 7 Die Erwähnung des Kurfürsten zeigt die Rolle Franckes in den deutsch-russischen Beziehungen am Ende des 17. und Anfang des 18. Jh. noch in einem weiteren Licht. Die brandenburg-preußischen Herrscher haben die Aufnahme der Beziehungen Halles nach Rußland wohl zu schätzen gewußt. Und der sparsame Friedrich Wilhelm I. sicherte nicht ohne Grund Francke seine finanzielle Unterstützung zu, als dieser um die Genehmigung russischer Drucke in Halle bat. Wenn Francke hier den Weg über einen „Favoriten" des Zaren nehmen will, so muß man erwähnen, daß Ludolf schon 1697 wegen dieses Punktes mit Fedor Alekseevic Golovin während seines Aufenthalts in Holland in Beziehungen getreten war. Ludolf hat Scharschmid dann in einem Brief aus Halle Mitteilung gemacht: „Multo favore exeptus fui a secondo Russio Legato F. A. Golovin cum perspicerem illum culturam ingeniorum gentis suae exeptare suasi ut unum vel alterum ingenuum iuvenem hue transmitterent. Meliori enim methodo quam quae vulgariter in usu est; ipse tarnen video maximis difficultatibus rem conjunctam esse." 1 0 8 Nicht nur mit Golovin verhandelte Ludolf damals, auch ein anderer Mitarbeiter Peters I. wird von ihm erwähnt: „Collocatus sum Amsterdami cum Adam Weyde, qui paucis ante meum Vienae advenit." Aus diesen Mitteilungen Franckes und Ludolfs, welche etwa um dieselbe Zeit liegen und die gleiche Frage berühren, nämlich junge Russen für das Studium in Halle zu interessieren, wird wiederum eins deutlich: die enge Zusammenarbeit zwischen Francke, Ludolf und Scharschmid und die Mission, welche dem letzten dabei zugedacht war. Scharschmid hat auch stets versucht, seiner Aufgabe gerecht zu werden. Da er wußte, daß es notwendig war, zum Zaren selbst vorzudringen, versuchte er, dies durch Mittelsmänner zu erreichen. So teilte er einmal mit, daß er sich an den Leibarzt des Zaren gewandt habe: „Herren D . Dohnell der itzo allzeit um Ihre Zarische Majestät ist, schreibe ich, ob nicht ein Vorschlag zu tun, daß einige Knaben von hiesiger Nation nach Halle geschickt wurden, um die Chirurgie daselbst zu lernen. Da man ohndem unterschiedliche bisher nur bloß zu dem Zweck in Holland gehalten, daß sie sollten die deutsche Sprache lernen, da sie dort die Sprache und mehr nötige Dinge zu gleicher Zeit könnten lernen, dem hiesigen Lande mit Nutzen zu dienen." 1 0 9 Francke teilte Scharschmid auch vorsorglich die Kosten für einen Aufenthalt in Halle mit. 110 Nicht nur Studenten, sondern auch „Kinder vornehmer Russen" wollte er aufnehmen. Die Kosten würden für ein Kind jährlich 150 Taler betragen. Die Kinder sollten im Pädagogium so wie die Kinder von deutschen Edelleuten gehalten werden. „Dies ist ein 107 108 109 110

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

S. 635: Francke an Scharschmid, Halle, 26. 6. 1699. S. 646: Ludolf an Scharschmid, Halle, 4. 9.1697. C 296, S. 65, Scharschmid an Francke, Brief ist undatiert. D. 83, S. 634.

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Mittel, dadurch man der ganzen Nation einen nachdrücklichen Dienst leisten könnte." Was die Sprache anbelange, so würde gegenwärtig H e r r Ludolf einige im Russischen unterrichten, so daß die Verständigung auf keine Schwierigkeiten stoßen würde. „Es sollte mir eine große Freude sein, der Nation also zu dienen und wollte ich durch Gottes Gnade denen Kindern ein rechter Vater sein."' 1 1 In der Hauptsache wurde die pietistische Aufklärungsarbeit freilich in Rußland selbst ausgeübt im täglichen Umgang mit Russen und durch deren fortlaufende Beeinflussung. Berichtet doch 1725 Pastor Rodde aus Narva nach Halle, daß in ihrer Stadtschule neun bis zehn russische Scholaren seien, die deutsch lernen. U n d obgleich man mit ihnen nicht unmittelbar über Religion sprechen würde, so geschehe dieses doch indirekt, indem sie die Bibel und den Kathechismus mitlesen. 112 In ähnlicher Hinsicht wirkte Scharschmid, wenn er bei russischen Familien Hauslehrerstellen annahm. Von der Art dieser Arbeit hat uns Scharschmid gleichfalls einen interessanten Bericht hinterlassen. Es handelt sich um eine Hauslehrerstelle, die er 1699 nach seiner Rückkehr aus Narva antrat: „Die beiden russischen Herren Wieselovski und Schafiroff vertrauten mir zu der Zeit ihre Söhne. D o c h stellte jener, dessen Sohn ich schon vorher, ehe ich nach Narva gegangen, hatte informieret, diese Punkte vor: 1. Ich möchte nicht eben vom Christentum so viel mit ihm reden, denn wir wären doch schon Christen, 2. sollte sie nur in Latein perfekt machen, 3. sagen, wieviel Zeit dazu erfordert würde, 4. wieviel ich dafür haben wollte." 1 1 3 Hier ist die Grenze, welche die russische Kirche den Pietisten setzte, deutlich ausgedrückt. D e n n Scharschmid teilt ferner mit, daß Veselovskij und Safirov vorher wegen Scharschmids mit dem Patriarchen gesprochen hätten. Mit seiner Hauslehrertätigkeit hat sich Scharschmid bis zu den höchsten Kreisen des russischen Adels Verbindung geschaffen. Ebenfalls 1699 wurde er Hauslehrer beim Fürsten Romodanovskij. „Vor etlichen Tagen hat Knaes (Fürst) Romadanovskij, einer der Vornehmsten im Lande, mich sehr gebeten, seinen Sohn, so schon verheiratet mit der vorigen Zarinnen Schwester, weiter in Deutsch davon er einen Anfang hat, zu unterrichten. Ich habe ja gesagt." 114 Francke drückte darüber in seinem nächsten Brief seine lebhafte Freude aus." 115 Endlich war doch sein Bote zu den ausschlaggebenden Männern in der russischen Regierung vorgedrungen! Dabei nutzte Scharschmid auch die Bekanntschaft mit dem oben genannten Gregorii. So schreibt er, daß er von einem Russen, den er bei Gregorii kennengelernt, zum Essen geladen wurde. Darauf wäre er hingeführt worden, „wo die beiden ältesten Prinzessinnen wohnen, welche hatten die Tafel bereiten lassen und sich in ein N e b e n z i m m e r begeben, um unsere Unterredung zu hören, weil sie sich von anders nicht sehen lassen und weil sie gar nicht von der Welt sein sollen. Nach wenigen Tagen darauf habe ich geliebten Bruders ,Anfang der Christlichen Lehre' russisch durch gedachten Gregori überreichen lassen, der es mit Arzneien hinschickt." 1 1 6 So ging Scharschmid mit diplomatischem Geschick und unter Ausnutzung aller Möglichkeiten vor; und eine solche Zusammenkunft, wie die eben geschilderte, ist sicherlich nicht nur einmal vorgekommen. Bei der Verstärkung des pietistischen Einflusses war natürlich Francke wie auch Schar111 112

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Ebd. D. Cyzevskyj, Zu den Beziehungen des Α. H. Francke-Kreises zu den Ostslaven, in: Kyrios, Bd. 4, S. 282. AFrSt, D. 83, S. 811. Ebd., C 296, S. 27: Scharschmidt an Francke, Moskau, 11. 9. 1699. Ebd., D. 83, S. 831: Francke an Scharschmidt, 13.1. 1700: „Ich habe große Freude, so er mir etwas von göttlichen Wirkungen aus Moskau berichtet. Kn.Romadanovskij hat recht raesonieret; ob man nicht dort könnte Informatores halten?"

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schmid bemüht, laufend neue Studenten von Halle nach Rußland hinüberzuziehen. Wiederholt hat Scharschmid den Wunsch nach der Sendung von Studenten unter Schilderung ihrer Aussichten verlauten lassen. Es handelt sich nicht immer nur um Hauslehrer oder Prediger, sondern auch um Vertreter der Naturwissenschaften und der Technik, welche ja auch besonders im russischen Staat gesucht wurden, und in dieser letzten Hinsicht trat ja auch bald die Beziehung zwischen der deutschen und russischen Aufklärung aus dem engen Rahmen des pietistischen Ausgangspunkts heraus und fand die breitere Basis, die dann für die Entstehung und Entwicklung der Russischen Akademie der Wissenschaften bedeutsam wurde. Als Scharschmid in Astrachan war, schrieb er Francke, daß man Studenten brauchen würde, welche Geometrie, Geographie, Festungsbau und Chirurgie verständen. 1 1 7 Aber auch nach Moskau oder Archangel'sk wurden Studenten von Scharschmid erbeten. 1 1 8 Im April 1699 teilte Pastor Tile aus Neuhausen in Livland Scharschmid mit, daß 20 Studenten über Finnland eintreffen werden, „und werden mit offenen Wassern 2 Schuten (Schiffe) von der gleichen kostbaren Ladung folgen, und sollte es also an Subjectus Diaconibus nicht ermangeln." 1 1 9 Das Wesen des Halleschen Pietismus lag vor allen Dingen darin, daß er in der Aufklärung eine pädagogische Richtung einschlug. Das Franckesche Waisenhaus selbst ist ja dafür das Beispiel. Dieses pädagogische Moment ist es, welches auch in Rußland vornehmlich zur Geltung kam und von Peter I. und seinen Mitarbeitern aufgegriffen wurde. Es kann kein Zufall sein, wenn Scharschmid 1701 berichtet, daß der Zar in Moskau eine Armenanstalt einrichte und es niemand gestattet sein solle, auf den Gassen zu betteln.' 2 0 Für diese Anstalt würden ferner vier Chirurgen vorgesehen sein. Das Hallesche Waisenhaus war für Peter I. Anregung und Muster für seine Aufklärungsarbeit. Im Archiv der Franckeschen Stiftungen findet sich ein „Projekt von Einrichtungen eines Waisenhauses, so einem russischen General auf dessen Verlangen konzipiert worden." 1 2 1 Am 5. September 1716 vermerkte Francke in seinem Tagebuch, daß die Anstalten revidiert worden seien und ein Exemplar ihres Planes an Christoph Eberhard gegeben wurde, welcher es durch Pastor Rodde übersetzen lassen sollte. 1 2 2 Schon vorher hatte Eberhard dem Zaren das Projekt zu einer Universität überreichen lassen. 123 Die von Prokopovic in Petersburg gegründete Musteranstalt für Jugenderziehung wurde ohne Zweifel nach halleschem Vorbild erbaut. 1 2 4 Vierorth schreibt, daß der „Erzbischof Prokopovic der Halleschen Anstalten rühmlich gedenke." 1 2 5 Bei der Übertragung der Halleschen Schulordnung war Scharschmid derjenige, welcher zuallererst damit von Francke beauftragt wurde. Schon 1697 schrieb ihm Francke, daß er ihm den „Methodum und die ganze Verfassung des Paedagogii" schicken wolle. 1 2 6 Auch mit einem Plan von der Armenschule und des Waisenhauses wollte Francke 116

Ebd. C 296, S. 65: Scharschmid an Francke, Brief ist undatiert.

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Ebd., S. 43a: Scharschmidt an Francke, Astrachan, 2. 8. 1701.

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Ebd., D . 23, S. 136: Ludolf an Francke, London, 5. 4. 1703: „Nescio an audiveris quod D . Scharschmid duos vel tres alios Hallenses in Moscoviam adduceret quorum duos Moscoviae alter Archangeli concionatur."

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Ebd., D. 83, S. 775: Tile an Scharschmid, Neuhausen i. Livland, 1 . 4 . 1699.

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Ebd., C 296, S. 43d: Scharschmid an Francke, Astrachaii, 2. 8 . 1 7 0 1 . Ebd., C 491, S. 5.

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Tagebuch Α. H . Franckes vom 5. 9. 1716, A. 169.

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Tagebuch Α. H . Franckes vom 11. 5. 1716; A. 169; Francke notiert darin den Tagesablauf des Zaren und schreibt unter anderem: „Es hat ihm H e r r Eberhard ein Projekt gemacht von einer Universität und ihm dasselbe übergeben lassen, welches er angenommen."

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Vgl. auch Pekarskij (wie Anm. 12), Bd. 2, S. 501.

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AFrSt, D . I l l , S. 552: Vierorth an Francke, Petersburg, 26. 12. 1721. Ebd., D . 83. S. 633: Francke an Scharschmid, Halle, 13. 5. 1697.

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Scharschmid bedenken. Es läßt sich zwar nicht sagen, ob Scharschmid dann wirklich solch einen Plan an den Mann brachte; jedenfalls müssen wir Scharschmid mindestens als ersten Vermittler bei den Schulprojekten zwischen Halle und Rußland betrachten. Scharschmid hat jedoch daneben stets versucht, selbst Schulen anzulegen. „So lasse ich doch nicht nach, an jedem O r t , wo ich mich nur eine Zeit lang aufzuhalten gedenke, eine Schule einzurichten", schreibt er einmal. 127 Aus Astrachan hatte er den Vorschlag gemacht, dort eine Akademie oder Schule zu gründen, worin „unterschiedliche Sprachen als Chinesisch, Persisch, Armenisch, Tatarisch getrieben würden." 1 2 8 Ebenso befaßte er sich in Narva mit einer Schulgründung. Hier sollten, dem Zweck entsprechend, Schwedisch, Deutsch und Russisch getrieben werden. 1 2 9 Man m u ß dabei auch erwähnen, daß Scharschmid selbst versucht hat, elternlosen Kindern eine Erziehung zu geben. Er schrieb, daß ihm in Simbirsk auf seiner Rückreise aus Astrachan im Jahre 1702 ein deutscher Knabe gestohlen wurde, den er an Kindesstatt angenommen hatte. 130 In seinem Bericht vom Bulavin- und Baschkirenaufstand erwähnt er, daß er einen tatarischen Knaben gekauft hätte, den er Enos nannte. 1 3 1 Dieser studierte später in Halle. Hinsichtlich des Schulunterrichts wirkte vor allem Scharschmids livländischer Bekannter Ernst Glück, der ja auch durch seine Übersetzertätigkeit hervortrat. 1 3 2 Ü b e r sein in Moskau gegründetes Gymnasium schreibt auch Scharschmid. 1 3 3 „Seine Leute, so er bisher schon zu informieren hiergehabt sind 1. sein Sohn, so in Passau studiert, welcher Hebräisch und Griechisch docieren soll, 2. ein Scholasticus aus Riga namens Wurm, so noch nicht auf Universität gewesen, daher nur Latein lehren soll, 3. ein Schulmeister aus einem Kirchspiel in Livland, der lesen lehrt, 4. ein französischer Sprachmeister, so bisher seinem Hause zur Schule gedienet, 5. war dann H e r r Reichmuth, so zwar noch bei der Frau Generalin Weydin, aber bereit ist, das Seine dabei zu tun ad classicos autores et historia zu lesen." 134 Scharschmid wußte, daß Francke sich für Glücks Schule interessierte, und forderte ihn auf, einige Studenten als Lehrer dorthin zu senden. War Glück der Organisator des Moskauer Gymnasiums, so sein Förderer und eigentlicher Begründer Peter I. selbst. Wir finden darüber eine N o t i z bei Callenberg: „Seine Majestät der Zar wendet große Vorsorge an, dem Gymnasio in Moskau aufzuhelfen. Er ließ den armen Schülern nicht allein die benötigten Bücher, sondern auch ihren Unterhalt mildiglich reichen." 1 3 5 Peter I. hat bei seiner Sorge um das Bildungswesen vor allem Theophan Prokopovic als enger Mitarbeiter zur Seite gestanden. So wie dieser dem Staate Peters I. ein theoretisches

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Ebd., C 296 S. 79: Scharschmid an Francke, Terik, 8. 10. 1709. Ebd., S. 43b: Scharschmid an Francke, Astrachan, 2. 8. 1701. Ebd., D. 67: S. 221a. Ebd., C 296: S. 45, Scharschmid an Francke, Moskau, 3. 3. 1703. Ebd., C 491: S. 6, „Einige Umstände wegen Enos, wenn, wo und wie er in meine Hände kam." Scharschmid berichtet darüber in seinen „Miscellanea de Russia": Ebd., D. 67, S. 225: „Herr Glück Praepositus in Marienburg in Livland ist sehr beschäftigt in Übersetzung der slavischen Bibel in rein Russisch . . . " Es könnte Paus sein, von dem Callenberg schreibt F 30, k, Jg. 1709, S. 88a: „Ein gelehrter Mann zu Moskau von Geburt ein Deutscher, fing an, das Neue Testament in die gemeine russische Sprache zu übersetzen, weil wenige die slavonische, derer sich die Russen in ihren Büchern bedienen, verstehen, derselbe hatte auch verfertigt Theologiam catechetivam in compendio." Ebd., C 296, S. 53: Scharschmid an Francke, Moskau, 8. 3. 1704. Über Glücks Schule vgl. Zerkalov i Belokurov, Onemeckich skolach ν Moskve ν pervoj cetverti XVIII. v., in: Ctenija ν Imperatorskom obscestve istorii i drevnostej rossijskich pri Moskovskom Universitete, Moskau 1907, und Pekarskij, Τ. 1, S. 130. Es kamen dann später noch ein Tanz- und ein Reitlehrer dazu. Callenberg, F 30 k S. 88a, zit. aus der „Halleschen Korrespondenz".

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Fundament gab, so sollte auch die durch sein „Duchovnij Reglement" reorganisierte Kirche in die Volksbildung eingeschaltet werden. Ein aus Petersburg vom 15. Januar 1721 vermutlich von Vierorth an Francke gerichteter Brief 136 gibt ein beredtes Zeugnis von dieser Tätigkeit Theophans: „Da bisher Seine Zarische Majestät grossen Fleiss angewandt, in der Polizei, Zivil- und Militärsachen alles in gute Ordnung und Stand zu bringen, so wird Sie nun auch fest entschlossen, ein Duschewni Bicas oder geistliches Kollegium in Form eines Konsistoriums anzurichten." Weiterhin heißt es, daß in Petersburg viele Geistliche seien, die in Kiev studiert hätten. Sie würden von „den alten Russen für Ketzer angesehen werden, dieweil sie ihren vielen Aberglauben abschaffen wollen, die aber Seine Majestät hochhält und über die wichtigsten geistlichen Ämter gesetzt hat, 137 darunter der vornehmste ist Archiepiscopus Theophanes Prokopovic, ein recht lieber artiger Mann im Umgange, bei dem ich schon dreimal meine Aufwartung gemacht und der nebst den anderen fast alle lateinischen Opera der Lehrer unserer Kirche besitzt". Fernerhin würde man mit neuen Reglements das Klosterwesen sehr einschränken. Wir ersehen aus diesem Bericht einmal die aufgeklärte Haltung Theophans selbst. Wie bedeutend er für die russische Aufklärung am Anfang des 18. Jh. war, vermerkt Vierorth noch an einer anderen Stelle. In Begleitung des Generals von Hallart hatte er am 1. Januar 1723 einen Besuch beim Bischof von Belgorod gemacht. „Wir redeten auch von dem Archiepiscopus von Pleskau. Dessen grosse Capazität und Beschaffenheit lobte er und sagte, der sei alles. Wenn sie den nicht hätten, so hätten sie gar keinen. Wenn noch dergleichen Männer da wären, so würde es besser um Russland stehen." 138 Dem zuerst angeführten Brief Vierorths entnehmen wir aber noch die weitere Tatsache, daß Prokopovic von einem Vertreter Halles besucht wurde. Die enge Verbindung zwischen Prokopovic und Halle kommt sehr gut in einer Tagebuchnotiz Franckes selbst zum Ausdruck. Er schreibt am 18. März 1721, daß der General von Hallart bei seinem Besuch im Waisenhaus für Theophan Prokopovic eine hebräische Bibel mitgenommen hätte. Bei dieser Gelegenheit hätte er, Francke, durch Vierorth, den Prediger Hallarts, dem Erzbischof Arndts „Wahres Christentum" mit einer Widmung übersandt. 139 Wir haben damit die schon bestehenden Verbindungen zwischen Halle und Prokopovic beleuchtet. Kein anderer als Scharschmid war es, welcher auch hier die ersten Fäden der Zusammenarbeit geknüpft hat. Schon 1705, also relativ früh, läßt sich eine direkte Beziehung zwischen Halle und der russischen Regierung gemäß einer Notiz Scharschmids feststellen. Er schreibt in einem Brief: „Überbringer dieses M. Huyssen, des Prinzen Informator und Krieges Rat wird von unserem übrigen Zustand vernünftig wissen zu erzählen." 140

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D 111, S. 437, „Extract eines Briefes aus Petersburg" vom 15. 1. 1721; der Verfasser ist nicht angegeben. Johann Gotthilf Vockerodt schreibt: „Nichtsdesto-weniger waren diese Ukrainischen Geistlichen dennoch die einzigen, deren sich Petrus I. zu Einführung mehrerer Gelehrsamkeit unter der Clerisei bedienen konnte." - Rußland unter Peter dem Großen (wie Anm. 66), S. 15. D 57, S. 640: Vierorth an Francke, Chafkov, 4. 5. 1723; eine Abschrift des Briefes befindet sich unter C 491, S. 12. Tagebuch Α. H. Franckes, 18. 3. 1721; A 174, S. 27. AFrSt, C 296, S. 61: Scharschmid an Francke, Moskau, 13. 3. 1705: Die Beziehung Huyssens zu Halle beginnt also schon früher, als Doerries auf Grund der Untersuchungen von Wotschke und Solomies es annimmt: „Die erst nachweisbare Beziehung Huyssens zu Α. H. Francke datiert aus dem Jahre 1707, als Francke sich um seine Verwendung für die Befreiung des Lehrers Rüttich,seines Sendlings aus Kerkerhaft in Moskau bemühte. H. Doerries, Rußlands Eindringen in Europa in der Epoche Peters des Großen, Berlin-Königsberg 1939, S. 175.

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Von besonderer Bedeutung für das Wirken Scharschmids in Rußland war es jedoch, als er mit Prokopovic selbst die persönliche Bekanntschaft machte. Dies geschah, als Scharschmid im Jahre 1713 als Prediger des Generals Weyde nach Kiev kam. Er schrieb damals an Francke: „Mit unterschiedlichen Mönchen bin ich hier in Bekanntschaft geraten, und ist Theophanes Prokopovic Collegii Kioviensis Praefectus, mit dem auch H e r r Eberhard bekannt, mein sonderlicher Freund. Aber dessen ehemaliger Praeceptus Tobias genannt, so itzo ein Mönch in Monasterio Sophiae in Alt-Kiev, ist mir zwar gut und hört mich auch gern, ist mir aber seiner Meinung nach allzu gut und sehr gern sagt, dass, da nur geringe Diskrepanz unter uns, ich mich völlig zu ihrer Kirche bekennen möchte, und ich hoffe, sie sollen C u m Deo zu mir fallen." 141 Die Bekanntschaft Scharschmids mit Prokopovic war also keineswegs nur flüchtiger Natur, da er ihn doch sogar seinen „sonderlichen Freund" nennt. Dabei ersehen wir aus den Worten Scharschmids auch die umfassende Bildung Theophans und des „Praeceptus Tobias", welche damit über die Grenzen der rechtgläubigen Kirchenlehre hinaus Scharschmid so naherückten, daß dieser alle Unterschiede der Konfession übersah und sich den Kiever Mönchen geistig verbunden fühlte. Doch nicht nur von Scharschmid besitzen wir von dieser Verbindung ein Zeugnis, sondern auch von Prokopovic selbst, von dem uns ein an Scharschmid gerichteter Brief erhalten ist.' 42 Beide standen miteinander im Briefwechsel, wie es aus dem Schreiben von Prokopovic hervorgeht: „De commercio literarum quod postulas, nos inter ineundo, quom o d o optarem perpetuo habere tecum praesente colloquium, ita libens consentio." Die „geringe Diskrepanz", welche Scharschmid in den Ansichten zwischen Prokopovic und sich selbst feststellt, führte dann dazu, daß Prokopovic ihm seine theologischen Erörterungen zur Kritik übersandte: „De antiqua tarnen controversia Latinos inter et Graecos de Processione, inquam, Spiritus Sancti nun equidem facile convenire vobiscum possum. Scripsi nuper hanc controversiam, quanta fieri potuit diligentia, nec ullum ex Scriptura vidi argumentum, quod non facile solvi queat, et judicium adhibui, Deus testis, non pruriens, non praesumtae opinione obnoxium, sed plane docile et obsequi veritati paratum. Scriptum illud ad te mittam, si prius mihi significaveris, gratum tibi fore." Freilich wird man dabei bedenken müssen, daß Scharschmid gegenüber Prokopovic in letzter Hinsicht doch als ein recht ungleicher Partner erscheint, dessen pietistische Begrenztheit, gepaart mit einem starrköpfigen Charakter, sicherlich auch von Prokopovic gesehen worden ist. Deshalb darf man wohl auch die Worte „sonderlicher Freund" nicht überschätzen. Wenn Prokopovic dennoch zu Scharschmid in ein näheres Verhältnis trat, so tat er das wie auch Peter I. deshalb, weil er sich bei den halleschen Pietisten Unterstützung in der Aufklärungsarbeit erhoffte. Als Prokopovic 1716 nach Petersburg kam, waren also die Beziehungen zwischen ihm und Halle bereits hergestellt und die Voraussetzungen für eine weitere und engere Zusammenarbeit geschaffen. Scharschmid, der ein Jahr danach wieder nach Deutschland zurückkehrte, wo er bis zu seinem Tode 1724 als Pfarrer in Halle lebte, hatte damit an der Lösung einer entscheidenden Aufgabe mitgewirkt: dem Durchbruch der Aufklärung in R u ß land. 143

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AFrSt, C 296; S. 50: Scharschmid an Francke, Kiev, 1. 8. 1713. Ebd., S. 146; Prokopovic an Scharschmid, Kiev, 6. 7. 1715. Bei dem vorliegenden Beitrag handelt es sich um eine vom Verfasser überarbeitete Studie, die erstmals in der „Zeitschrift für Geschichtswissenschaft" (Jg· 2, 1954, Heft 6, S. 866-892) erschien. Der Aufsatz ist dem Jubilar freundschaftlich zugeeignet, den er bereits in den ersten Jahren der Neueröffnung der Berliner Humboldt-Universität kennengelernt hat.

ALOYS HENNING, BERLIN

Zu einem anatomischen Manuskript nach Nikolai Bidloo von 1719. Die Frühzeit medizinischer Lehrbücher und Bildung in Rußland

Bei Recherchen zu reisenden Okulisten im 18. Jh. im Stadtarchiv von Tallinn wurde 1993 ein Manuskript von 17191 vorgelegt, das bis dahin in der Medizingeschichte unbekannt war. Der Autor schuldet nicht nur wegen dieses Fundes dem Tallinner Stadtarchivar, Herrn Urmas Oolup, großen Dank für ausgezeichnete fachliche und sehr freundliche Hilfe, ebenso Herrn Heino Gustavson in Tallinn für unterstützende medizinhistorische Recherchen in estnischen Beständen. Das Manuskript ist ein Fragment, ob infolge Beschädigung oder Nichtvollendung, ist unklar. Es besteht aus Blättern, die in Buchform ohne Deckel gebunden und nachträglich rechts oben mit gestempelten Zahlen von 1 bis 87 numeriert sind. Nach dem Deckblatt mit der Numerierung 1 folgt der Titel auf Blatt 2; beide Blätter sind mit einem Stempel versehen „EX ARCHIVO CIVITATIS REVALIENSIS", so auch die Blätter 38, 60 und 80. Mit Blatt 3 beginnend folgen 168 Textseiten. Der Titel wird hier zeilengerecht und typographisch möglichst genau wiedergegeben: UNIVERSA DOCTRINA DE Anothomia & Chyrurgia in Suos tractatus compendiose Disposita Per Excellentissimum Nobilissimumque Dum Doctorem & Medicum Sagacessimum S. CZarije Majestatis Nicolaum Bidloo A. Domini 1719. Mense Septembri Die 28™ Inchoata Ad M. Dei Gloriam Die Zeilenanordnung und die von Hand fett gezeichnete Unzialschrift der ersten Zeile läßt das Titelblatt wie einen Entwurf für einen zu druckenden Buchtitel erscheinen, zumal das beim Schreiben vergessene Α von DOCTRINA nachträglich stark verkleinert angefügt wurde, um den ursprünglichen Seitenspiegel nicht zu beeinträchtigen. In der Floskel „Per excellentissimum Nobilissimumque Dum Doctorem & Medicum Sagacessimum S. Czariae Majestatis" ist „Dum" anscheinend die Abbreviatur von Dominum. „Sagacessimum", als Elativ sagacissimus von sagax, scharfsinnig, ist zeitgenössischen Buchtiteln vergleichbar, wenngleich Nikolai Bidloo als Autor dieses schmückenden Beiworts nicht in Frage kommt. Auf dem Deckblatt ist „Anothomia et Chyrurgia Nicolai Bidloo" von derselben Hand flüssig geschrieben, die in betonter Schönschrift die Textseiten und den Titel zu Papier brachte. Die Schreibweise „Anothomia" auf Deck- und Titelblatt erscheint noch

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Tallinns Linnaarhiv, Bg 18, fond 230.

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zweimal im Manuskripttext.2 Sie ist bei Berücksichtigung weiterer vergleichbarer Schreibbefunde am besten erklärbar anhand russischer Aussprache- und Hörgewohnheiten. Diese ließen offensichtlich den Schreiber das kurz gesprochene zweite a im Wort Anatomia, das in westeuropäischen Sprachen wie im Deutschen zwangsläufig offen klingt, solcherart wiedergeben. Im Unterschied dazu kann russisch ein kurzes a auch geschlossen gesprochen werden. Scheinbar folgt diesem Schema auch „Theropeuticam" (Bl. 12) und „ophorismos" (Bl. 9) für aphorismos und „Mocrocosmo" als Erläuterung am Seitenrand für „in Universo Mundo", welcher Begriff im Text „in Microsmo" gegenübergestellt ist (Bl. 13v). Doch klingt im Russischen ein ο vor der Akzentsilbe ohnehin wie ein offenes a. Daneben findet sich auch „Macrocosmus" (Bl. 16.) Analog zu „Anothomia" ist die Schreibweise „Chyrurgia" im Titel und zweimal im Text (Bl. 13) deutbar: Das y meint offensichtlich das kurz und offen gesprochene i, wie die Beispiele „Hypocrates . . . Hypocratium" (Bl. 8) anzudeuten scheinen, so auch viermal ,,/Empyrici" für Empirici, Empiriker (Bl. 3.7v.l0v) Hier ist zugleich das kurz und offen gesprochene e dokumentiert, während wenigstens fünfmal „Miologia" (Bl. 52.59.60) das geschlossene y von Myologia, Muskellehre wiedergibt. Zur Gewißheit wird die Vorstellung eines von russischer Orthographie inspirierten Schreibers bei „Sci'entiarum" (Bl. 4). Im kyrillischen Alphabet wurde zu jener Zeit ϊ für das lange geschlossene i vor Vokalen verwandt. Sollte ähnlich das orthographisch falsche th in „Anothomia" das ο in Anatomia lang und geschlossen sprechen lassen? Zu niederländisch anatomie gehört anatoom, der Anatom. Womöglich wollte der Schreiber bzw. Autor des Manuskripts derart die korrekte Aussprache wichtiger medizinischer Termini fördern. Russisch hörorientiert sind offenkundig auch Wiedergaben wie „Kalenus" (Bl. 8) und „Gallenus" (Bl. 10) für die antike medizinische Autorität Galen (129-199), Hofarzt unter Marc Aurel und Commodus. Im übrigen reizt das vorliegende Manuskriptfragment bei oberflächlicher Betrachtung nicht zu speziell medizinisch orientierten historischen Untersuchungen, weil es neben einleitenden Kapiteln nur die Anatomie des Skeletts (Osteologie) und der Muskeln (Myologie) enthält. Es fehlen die Organ-, Gefäß- und Nervenlehre (Splanchnologie, Angiologie, Neurologie), ebenso irgendein Index. Der geplante oder ursprünglich vorhandene Umfang des Manuskript einschließlich der „Chyrurgia" ist schwer zu schätzen. Sein kompletter anatomischer Teil sollte etwa 300 bis 350 Seiten umfassen. Die „Universa doctrina . . . per Nicolaum Bidloo 1719" bedarf der Zuordnung zu Bidloos medizinisch-literarischem Werk und der Einordnung in die russische Medizingeschichte. Das erste Lehrbuch, das N. Bidloo zum Autor hat, datiert von 1710 als lateinisches Manuskript zum Chirurgie-Unterricht: „N. Bidloo S. Tz. M. Arhiatri Instructio de Chirurgia in Theatro Anatomico studiosis, Proposita Anno Domini 1710, Januarii die 3, I. F. E. [= In Felicem Eventum3]" Gedruckt erschien es zum ersten Mal 1979 in russischer Übersetzung in Moskau.4 1710 befand sich in Moskau das anatomische Theater, auf welches sich dieser Titel bezieht. Ihn

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Nicolaus Bidloo, Universa Doctrina De Anothomia Sc Chyrurgia . . . 1719, Tallinna Linnarhiv (wie Anm. 1) Bl. 13. N . A. Oborin, N. L. Bidloo i ego „Nastavlenie dlja izucajuscich chirurgiju ν anatomiceskom teatre" [N. L. Bidloo und seine „Instruktion für Studenten der Chirurgie im anatomischen Theater"], in: M.V. Danilenko, N . Bidloo . . . Nastavlenie . . . 1979 (siehe Anm. 4) S. 402. Μ. V. Danilenko (Redaktion), N. Bidloo s.c.v. archiatera Nastavlenie dlja izucajuscich chirurgiju ν anatomiceskom teatre sostavleno 1710 goda, janvarja 3 dnja, na scast'e, Übersetzung aus dem Lateinischen von Α. A. Sodomor/ Μ. I. Dubovoj, Moskva 1979.

Zu einem anatomischen Manuskript von 1719

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unterscheidet vom Tallinner Titelblatt, daß er neben der Angabe der ärztlichen Funktionen des Autors keine euphemistischen Superlative enthält. Die Floskel „S. Tz. M. [Sacrae Tzareae Maiestatis] 5 Arhiatri" weist wie „S. Czarias Majestatis" im Titel von 1719 (Bl. 2) Bidloos Rang als Arzt im Dienst des russischen Zaren Peters I. aus: Der Begriff Archiater meinte 1710 den ranghöchsten Arzt des russischen Reiches; er war verbunden mit der Position des Ersten Leibarztes des Zaren, welche N . Bidloo nur vorübergehend einnahm. Seit 1716 hieß Archiater der Vorsteher der Apothekenkanzlei (Aptekarskaja kanceljarija), die 1707 aus dem Aptekarskij prikaz (Apotheken-Amt) hervorging und 1712 nach St. Petersburg verlegt wurde. Aus ihr entstand 1725 die Medizinische Kanzlei (Medicinskaja kanceljarija) als oberste russische Medizinalbehörde. 1716 bekam so der Schotte Robert Areskine (gest. 1718) von Peter dem Ersten den Titel „Archiater des Russischen Reichs und Praeses der ganzen medicinischen Facultaet" verliehen. 6 Nikolai (Nicholas) Bidloo wurde etwa 1670 in Amsterdam geboren als Sohn des Apothekers und Botanikers Lambert Bidloo (1638-1724). Lambert war ein Bruder Govard (Godefrid) Bidloos (1649-1739). Als Schüler des Amsterdamer Anatomen Frederik Ruysch ( 1 6 3 8 - 1 7 3 1 ) edierte Govard 1685 eine „Anatomia humani corporis" mit Abbildungen nach von ihm selbst angefertigten Präparaten, 7 als anatomischer Atlas das bekannteste europäische Werk jener Zeit. Nikolai Bidloo, der am 23. März 1735 in Moskau starb, hatte seine medizinische Ausbildung 1697 in Leiden mit einer Dissertation „De menstruorum suppressionis" 8 beendet unter dem Rektorat seines Onkels Govard, der dieses Amt seit 1696 bekleidete, noch vor der Leidener Hochschullehrer-Ära Herman Boerhaaves (1668-1738). Am 13. Februar 1702 nahm ihn der russische Gesandte im Haag, Andrej Artamonovic Matveev (1666-1728), auf sechs Jahre als Leibmedicus des Zaren unter Vertrag gegen 2 500 Gulden Jahresgehalt, nach dem Korn dieser Münze und heutigen Goldpreisen etwa 30 000 D M , damals entsprechend 500 Rubel („Peterrubel", 9 als Goldwährung im Wert Dukaten vergleichbar). Am 30. Juli desselben Jahres traf Bidloo in Archangelsk ein. 1706 befahl ein U k a z Peters I. vom 25. Mai die Errichtung eines Hofspitals - „Gofspital'" in Moskau an der Jauza „zur Behandlung kranker Personen" 1 0 (S. 375), nach W . Richter ein „Kriegshospital". 11 Hofspital meint Kaiserliches Spital wie der Passus „In Nosocomio Augustano" eines Manuskripts „Speculum Anatomiae" von Nikolai Bidloo aus dem Jahre 1721 zeigt (S. 457; siehe Anm. 51). Die medizinische Betreuung der Patienten sollte Nikolai Bidloo obliegen als Leiter der Einrichtung und zwei Wundärzten, einer von ihnen Hendrich Röpken, der später zum leitenden Wundarzt an diesem Haus avancierte (S. 375). Seit 1705 hatte N . Bidloo dem Zaren bei diesem Projekt beratend zur Seite gestanden (S. 396-398). Am 21. November 1707 wurden die ersten Patienten in das neue Hospital gebracht. Im O k t o b e r zuvor waren nach Ν . A. Oborin Bidloo zwei ausländische Wundärzte, L. Puchort und G. Berg mit Jahresgehältern von 100 bzw. 150 Rubel 1 2 (um 3 500 bzw. 5 000 D M ) per Befehl zugeteilt worden „zur Behandlung kranker Personen jeden Ranges"

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Oborin in: N. Bidloo 1710 (wie Anm. 3) S. 401; Oborin 1979 weiter mit dreistelligen Seitenzahlen in Klammern im Text angegeben. Wilhelm Michael von Richter, Geschichte der Medicin in Russland, B d 3 , Moskau 1817, S. 115-117. Godefrid [= Govard] Bidloo, Anatomia Humani Corporis, Centum Sc quinque Tabulis, Per artificioss. G. de Lairesse ad vivum delineatis, Demonstrata, Veterum Recentiorumque Inventis explicata plurimisque, hactenus non detectis, Illustrata, Amstelodami 1685. Richter 1817 (wie Anm. 6) S. 92. ebd. S. 93. Zitate aus dem Russischen vom Autor übersetzt. Richter 1817 (wie Anm. 6) S. 16. Silberrubel, Wert ähnlich einem Reichstaler; etwa zwei entsprachen einem Peterrubel.

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(S. 399). Vermögende Kranke ließen sich am Beginn des 18. Jh. in der Regel von Heilkundigen ihrer Wahl zu Hause kurieren. Erste Nachrichten über chirurgische Behandlungen datieren vom Dezember 1707, als „in das Hospital zu Doktor Nikolaj Bidloo 9 kranke und verstümmelte Moskauer kamen" (S. 399). Gleichzeitig sollten am Hospital 50 ausländische und russische Schüler der Apotheken-Wissenschaft - ,,aptekarsk[aja] nauk[a]" (S. 399) Unterricht erhalten. Als erster Professor für Chirurgie und Anatomie dieser ersten russischen Hospitalschule zur Ausbildung von Wundärzten verfaßte Bidloo bis 1710 das Manuskript für den Chirurgie-Unterricht, das niemals gedruckt wurde. Es umfaßt 1 306 Blätter, von denen 1 257 überwiegend beidseitig beschrieben sind (S. 401). Ν. A. Oborin, bekannt durch aktuelle Forschungen zur Medizingeschichte Rußlands in der frühen Neuzeit, hat der Ubersetzung von Bidloos „Instructio de Chirurgia" 212 Seiten Untersuchungsergebnisse zum Stellenwert der Handschrift angefügt (S. 375-587), die die gesamte europäische Chirurgiegeschichte jener Zeit umreißen und ihre Vorgeschichte im Moskauer Staat. Die Arbeit fußt vorrangig auf russischen Archivalien. Unter ihnen sind Namenverzeichnisse von 124 Absolventen der Moskauer Hospitalschule aus den Jahren 1712 bis zum Todesjahr N. Bidloos 1735 (S. 532-534). Nur wenige der russisch geschriebenen Namen sind als mögliche ausländische deutbar. Die meisten der jungen Wundärzte traten ihren Dienst in der russischen Flotte und bei den Landtruppen an. Bidloos Handschrift ist die einzige bekanntgewordene literarische Quelle zur chirurgischen Ausbildung an der Moskauer Mediko-chirurgischen Hospitalschule.13 Als Unterrichtshilfe ist sie ein Kompendium des seinerzeitigen chirurgischen Wissens einschließlich pharmazeutischer Kenntnisse; ihr Autor hatte ein medizinisches Universitätsstudium absolviert. Sie widerspiegelt die Bemühungen unter Peter I. um die Verbreiterung der damals noch schmalen Basis medizinischer Bildung im Zarenreich, die der Zar wesentlich bewirkte und an welcher er selber aktiv teilnahm.14 Nach Oborin (S. 399) war das Manuskript Medizinhistorikern bekannt seit seiner Auflistung durch V.Ja. Dzunkovskij 1809, der jedoch den Anfangsbuchstaben von Bidloos Vornamen N. für Nikolai irrtümlich durch G. (= Govard) ersetzte15 Ν. A. Oborin fand N. Bidloos Manuskript 1963 im Bibliotheksfundus der Militärärztlichen Akademie „S. M. Kirov" in Leningrad.16 Wie und wann es von Moskau dorthin gelangte, ist bisher unbekannt. Neben Nikolai Bidloos „Instructio" für die Chirurgie wurde im Anatomie-Unterricht Govard Bidloos Atlas „Anatomia humani corporis" benutzt. Unklar ist, ob dieser Atlas diejenige anatomische Publikation war, welche 1698 Peter I. in England erwerben ließ, als er während der Großen Gesandtschaft auch die britische Insel besuchte: Am 16. April jenes Jahres kaufte Petr Vasil'evic Posnikov, der den Zaren auf seiner Reise nach Holland, Frankreich und England begleitete, in London für sieben Pfund, etwa 1 200 DM, ein anatomisches Buch - ,„anatomennuju' knigu" (S. 377). Der Einkauf dieses anatomischen 13

Μ. V. Danilenko, Posleslovie redaktora [Nachwort des Redakteurs], in: N . Bidloo 1710 (wie Anm. 4 ) S. 371.

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Richter 1817 (wie Anm. 6) S. 3 - 3 4 .

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V. J A . Dzunkovskij, Catalogus librorum Academiae caesareae medico-chirurgicae, Petropoli 1809, S. 68. Dzunkovskij hat die zweite Hälfte „Neue . . . Beobachtungen" Christian Ludwig Mursinnas ( 1 7 4 4 - 1 8 2 3 ) , General-Chirurg und Erster Chirurg am Berliner Collegium Medico-chirugicum seit 1787, russisch übersetzt (411 S . ) : Novyja mediko-chirurgiceskija nabljudenija Christiana Ljudvicha Murzinnna . . . po poveleniju . . . imp. Pavla Pervago . . . perevedennyja i napecatannyja, C . l - 2 [Neue medicinisch- chirurgische Beobachtungen von Christian Ludwig Mursinna (Berlin 1 7 9 6 ) ] . . . auf Befehl d e s . . . Kaisers Paul I. übersetzt und gedruckt, T . 1 - 2 ] , Sanktpeterburg 1798.

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Danilenko (wie Anm. 13).

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Buches' - nach dem Preis zu urteilen, wahrscheinlich ein Atlas - läßt überlegen, ob Posnikov in England eine von G. Bidloo nicht autorisierte Version seines Atlases erwarb. Govard Bidloos Werk war zur Zeit der Großen Gesandtschaft fast vollständig vergriffen, als der englische Anatom und Chirurg William Cowper (1666-1709) einige hundert Abbildungen von der Amsterdamer Verlagsbuchhandlung kaufte und 1698 mit verbessertem Text als eigene Arbeit edierte, 17 erweitert um neun Tafeln, die auch Cowpers Forschungsergebnisse wiedergaben. Sein N a m e ist wegen anatomischer Entdeckungen in der medizinischen Nomenklatur,verewigt'. G. Bidloo trug mit Cowper wegen der Atlas-Urheberschaft eine medizinisch-literarische Kontroverse aus. 18 Cowpers Atlas ist anscheinend nicht an der Moskauer Hospitalschule verwandt worden, noch bisher in russischen Bibliotheken nachgewiesen. Er wurde 1737 von Christian Bernhard Albinus (1700-1752) in Leiden in zweiter Auflage ediert 19 und von William Dundass ebenda 1739 in lateinischer Version. 20 Alle Fakten belegen den Stellenwert des Bidloo-Atlases in seiner Zeit, der 1690 in einer holländischen Fassung erschien, 21 von welcher das „Naamregister van . . . Nederduitsche Boeken" 178822 eine weitere Ausgabe 1734 23 verzeichnete. Die Verwendung von Govard Bidloos „Anatomia humani corporis" in der Hospitalschule macht M.V. Danilenkos Feststellung fragwürdig, Nikolai Bidloos „Instructio" sei das erste Denkmal höherer medizinischer Bildung in Rußland, „pervyj pamjatnik vyssego medicinskogo obrazovanija ν Rossii", 24 zumal G. Bidloos „Anatomia" auf persönliche Anordnung Peters I. in das Russische übersetzt wurde, 2 5 mutmaßlich vor 1708! Dafür spricht die slawische - slavjanskij - Schreibweise des Manuskripts. Darunter ist die Verwendung des Kirchenslawischen - cerkovnoslavjanskij - als Literatur- und Wissenschaftssprache - knizoslavjanskij - bis zum Beginn des 18. Jh. zu verstehen, nicht allein in Rußland. 2 6 Ν . I. Tolstoj schreibt ,,drevneslavjansk[ij] literaturn[yj] jazyk pozdnego perioda (vtoraja polovina XVI-XVII v.) [altslawische Literatursprache der späten Periode (zweite Hälfte des 16. bis 17. Jh.)],,. 27 Die ungefähre Datierung der Atlas-Ubersetzung vor 1708 korrespondiert mit als sicher anzunehmenden Bedürfnissen des anatomischen Unterrichts an der Moskauer Hospitalschule.

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William Cowper, The anatomy of human bodies, with figures drawn after the life . . . by some of the best masters in Europe and curiously engraved in one hundred and fourteen copper plates, illustrated with last applications, containing many new anatomical discoveries, and chirurgical observations: to which is added an introduction explanining the animaloeconomy, with a copious index, Oxford 1698. 1 ' E. August Hirsch (Hg.), Biographisches Lexikon der hervorragenden Ärzte aller Zeiten und Völker, Bd 1, Berlin 2 1929, S. 527. 19 William Cowper (wie Anm. 17) hg. Christian Bernhard Albinus, Leyden 20 ders., Anatomia corporum humanorum centum et quatuordecim tabulis . . . omnia nunc primum Latinate donata, curante Guilielmo Dundass, Lugduni Batavorum 1739. 21 Govard [= Godefrid] Bidloo, Ontleding des Menschelyken Lichaams . . . Uitgebeld, naar het leven, in Honderd en vyf Aftekeningen, Door de Heer Gerard Lairesse . · . Amsterdam 1690. 22 Johannes van Abkonde, Naamregister van . . . Nederduitsche Boeken, Welke sedert het jaar 1600 tot het jaar 1761 syn uitgekomen . . . Nu overzien, verbeterd en tot het jaar 1787 vermeederd door Reiner Arrenberg . . . Tweede Druk, Rotterdam 1788, S. 61. Govard Bidloo, Anatomie of Ontleding van ,s menschen lighaam, Utrecht 1734. 24 Danilenko, Posleslovie redaktora (wie Anm. 13) S. 371. 25 S. M. Grombach, Russkaja medicinskaja literatura XVIII veka [Die rassische medizinische Literatur des 18. Jahrhunderts], Moskau 1953, S. 52. 26 In Bulgarien löste die moderne Wissenschaftssprache die slawische erst am Ende des 19. Jahrhunderts ab mit dem Wiedererstehen des bulgarischen Staates. 27 Nikita Il'ic Tolstoj, Istorija i struktura slavjanskich literaturnych jazykov [Geschichte und Struktur slawischer Literatursprachen], Moskau 1988, S. 52.

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Die erste russische Übersetzung eines anatomischen Lehrbuches gab 1657 der kirchliche Neuerer Patriarch Nikon (1605-1681) in Auftrag. 1658 bezahlte er dem Mönch Epifanij Slavineckij (Slavynec'kyj, gest. 1659) „aus dem Kiever Land . . . von Klein-Rußland" 10 Rubel für ein „Arztliches Anatomie-Buch", das dieser vom „Lateinischen aus einem Buch von Andreas Vesalius" in das Russische übersetzt hatte. 28 Slavineckij ist bekannt als Schöpfer eines lateinisch-slawischen Wörterbuchs um 1650 und eines weiteren ebensolchen zusammen mit Arsenij Koreckij-Satanovskij. 29 (Den ruthenischen Anteil an der Moskauer Kulturgeschichte hat aktuell H.-J. Torke untersucht. 30 ) Angestellt in Moskau am Hof des Großen Gesandtschaft-Amts (Dvor bol'sego posol'stvogo prikaza) zur Ubersetzung lateinischer und griechischer Bücher, schuf er für den Patriarchen von Juni 1657 bis Februar 1658 die russische Version einer Ausgabe der „Librorum Andreae Vesaiii Bruxellensis de humani corporis fabrica, epitome" von 1642, 31 die sich in Nikons Besitz befand und 1675 zur Synodalbibliothek im Moskauer Auferstehungskloster gehörte. Die Kurzfassung epitome, - ήεπιτομή, der Buchauszug - der Großen Anatomie Vesals32 erschien noch vor dieser zum ersten Mal 1542 33 und wurde 1551 ins Deutsche übersetzt. 34 Oborins Angabe, Slavineckij s Übertragung wäre weltweit die erste Übersetzung der Anatomie Vesals aus dem Lateinischen, 35 ist demnach unrichtig. Dazu hat er irrtümlich die Compendium-Fassung, die 126 Seiten in der Ausgabe von 1642 zählt, mit der vollständigen Ausgabe der Vesalius-Anatomie gleichgesetzt, die 1543 über 600 Seiten unfaßte. So ist seine Feststellung gegenstandslos, Slavineckij hätte bei der Übersetzung den Text zu den 40 anatomischen Kupferstichtafeln auf den wesentlichen Inhalt aus eigener Entscheidung komprimiert. 36 Die kurze Zeit, in der Slavineckij diese Übersetzung schuf, ist bei der Kurzfassung epitome eher zu begreifen. Hierzu sind vergleichbar Zeitaufwendungen des ab 1754 leitenden Chirurgen am Petersburger Admiralitätshospital, Martin Sein (1712-1762), für russische medizinische Übersetzungen 1751 37

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N. A. Oborin, Vydajusceesja sobytie ν istorii otecestvennoj mediciny (K 300-letiju perevoda na russkij jazyk „De humani corporis fabrica" Andreja Vezalija) [Ein herausragendes Ereignis in der Geschichte der vaterländischen Medizin (Zur 300- Jahrfeier der Übersetzung von „De humani corporis fabrica" des Andreas Vesalius in die russische Sprache)], Archiv anatomii, gistologii i embriologii 3 6 / 5 (1959) S. 100104.100. Ulla Birgegärd (Hg.), Johan Gabriel Sparwenfeld, Lexicon Slavonicum, Bd 1, Uppsala 1987, S. VII-VIII (Acta Bibliothecae R. Universitatis Upsaliensis); V. V. Nimcuk (Hg.), Leksikon latins'kij E. Slavinec'kogo, Leksikon sloveno-latins'kij E. Slavinec'kogo ta A. Korec'kogo-Satanovs'kogo [Das lateinische Lexikon E. Slavineckijs, das slawisch-lateinische Lexikon E. Slavineckijs und A. Koreckij-Satanovskijs], Kiiv 1973. Hans-Joachim Torke, Moskau und sein Westen, Zur „Ruthenisierung" der russischen Kultur, in: Osteuropäische Geschichte in vergleichender Sicht, Berliner Jahrbuch für osteuropäische Geschichte 19961/1, Akademie Verlag, Berlin 1996, S. 101-120. Andreas Vesalius, Librorum Andreae Vesaiii Bruxellensis de hvmani corporis fabrica epitome: cum annotationibus Nicolai Fontani . . . Amstelodami 1642. Andreas Vesalius, De humani corporis fabrica libri Septem, Basileae 1543. Andreas Vesalius, De hvmani corporis fabrica, epitome: cum annotationibus Nicolai Fontani, Amstelodami 1542. Andreas Vesalius, Anatomia deudsch, Ein kurtzer Auszug der beschreibung, aller glider menschlichen Leybs . . . sonderlich wundärtzten Deutscher nation zu nutz ins deutsch gebracht durch Hieronymus Lauterbach, Nürnberg 1551. Oborin 1959 (wie Anm. 28) S. 100. Ebd. S. 101 f. [Herman Kaau Boerhaave] Cancellariae Medicae Acta cum oculista Iosepho Hillmero... / Medicinskoj Kanceljarii Postupki s okulistom Iosifom Gil'merom . . . Sanktpeterburg 1751 (siehe auch Anm. 72).

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und 1761: 38 ein Vierteljahr für 137 Seiten eines Buches39 und wenigstens vier Jahre bei fast tausend Druckseiten. 40 Oborins Forschungen verdanken wir die Angabe, daß sich eine vollständige Ausgabe der Vesalius-Anatomie von 1555 41 in der Bibliothek des Moskauer Apotheken-Amts (Aptekarskij prikaz), der obersten Medizinalbehörde im Moskauer Staat des 17. Jh., befand.42 Sie umfaßte 870 Seiten. „Andreae Vesaiii De Humani corporis fabrica Libri Septem" markieren den Beginn der Neuzeit in der abendländischen Medizin. Analog kündigt Slavineckijs Beauftragung mit der Vesalius-Übersetzung durch Nikon paradigmatisch die medizinische Neuzeit für Rußland an. Für H.-J. Torke gilt als Durchbruch der Neuzeit in Rußland neben dem Ersatz des alten Heeres als Adelsaufgebot durch ein stehendes Heer vor allem die Abschaffung der traditionellen Rangplatzordnung - mestnicestvo - unter Fedor (III.) Alekseevic (1676-1682) durch Reformen, die westlichen absolutistischen Staatsordnungsvorstellungen in Rußland Raum gaben. Sie fußten auf dem Naturrechtsbegriff der Scholastik, der zum ersten Mal dem russischen Zaren durch seinen Erzieher Simeon Polockij (1629-1680) vermittelt wurde . 43 1692 schickte Peter I. den Sohn Petr seines Gesandten Vasilij Timofeevic Posnikov (gest. 1710) in England, Holland, Florenz und Brandenburg, zum Medizinstudium nach Padua, wo Petr Vasil'evic Posnikov (1676-1716) als erster Russe am 2. Mai 1695 zum Doktor der Medizin und Philosophie promoviert wurde aufgrund seiner Dissertation „Significant febres putridinis adventus causarum".44 Wegen seiner Sprachkenntnisse diente der jüngere Posnikov nach seiner Graduierung bei gesandtschaftlichen Aufgaben als Dolmetscher, so in Wien und Venedig. 1699 war er im Auftrag Peters I. in Halle an der Saale, um Verbindung mit August Hermann Francke aufzunehmen.45 Erst 1701 wurde er als Arzt am Moskauer Apotheken-Amt angestellt mit dem gleichen Jahresgehalt von 500 Rubel wie Nikolai Bidloo. Gleichzeitig bediente sich fallweise die Moskauer Gesandtschaftskanzlei weiter seiner Dolmetscherdienste für Ubersetzungen aus dem Lateinischen, Französischen und Italienischen. 1697 ist der Mediziner Posnikov von Venedig über Wien nach Amster-

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Iogan Zacharij Platner, Osnovatel'nyja Nastavlenija Chirurgiceskija Mediceskija i Rukoproizvodnyja ν pol'zu ucascimsja . . . Perevedeny c Latinskago jazyka na Rossijskoj Sanktpetersburgskoj Admiraltejskoj Gospitalja Stap Lekarem Martinom Seinym [Institutiones chirurgicae rationalis tum medicae tum manualis in usum discentium . . . Übersetzt vom Stabswundarzt des Sanktpetersburger Admiralitätshospitals Martin Sein], Sanktpeterburg 1761. Aloys Henning, Medizinische Wissenstransfers im Europa des 18. Jahrhunderts, Clio Medica 31 (1995) S. 171-186.171 (= Gesundheit und Krankheit im 18. Jahrhundert / Sante et maladie au XVIII C siecle, hg. Helmut Holzhey, Urs Böschung). Lavrentij Gejster [= Lorenz Heister], Sokrascennaja Anatomia . . . Perevedena c Latinskago jazyka na Rossijskoj: Sanktpeterburgskoj Admiraltejskoj gospitalja Glavnym Lekarem Martinom Seinym [Compendium anatomicum . . . Ubersetzt aus der Lateinischen Sprache in die Russische vom Leitenden Wundarzt des Sanktpetersburger Admiralitäshospitals Martin Sein], Sanktpeterburg 1757, Bd 1, S. [VIII]. Andreas Vesalius, De humani corporis fabrica libri Septem, Basileae 1555. N . A. Oborin, Α. N . Oborin, Bezymjannyj naucnyj podvig (K istorii perevoda na russkij jazyk „Anatomia humani corporis" Godefrida Bidloo ν nacale X V I I I v.) [Zur Geschichte der Übersetzung in die russische Sprache von „Anatomia humani corporis" Godefridi Bidloo am Beginn des 18. Jh.], Archiv anatomii, gistologii i embriologii, 6 0 / 2 (1971) S. 91-97; S. 91 f. Hans-Joachim Torke, Der Durchbruch der Neuzeit unter Fedor und Sof'ja (1676-1689), in: Handbuch der Geschichte Russlands, B d 2 , 1613-1856: Vom Randstaat zur Hegemonialmacht, 1. Halbband, hg. Klaus Zernack, Stuttgart 1986, S. 152-166. 162. Richter (wie Anm. 6) Bd 2, 1815, Moskwa 1815, S. 402-411. Erich Donnert, Russland im Zeitalter der Aufklärung, Wien / Köln / Graz 1984, S. 57.

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dam beordert worden, um sich der Großen Gesandtschaft anzuschließen. Als fachkundiger Begleiter des Zaren hat er auf dessen Weisung in London am 16. April 1698 mutmaßlich Govard Bidloos „Anatomia humani corporis" gekauft. Nach Peters I. Abreise blieb Posnikov noch in England zu weiteren Studien vor allem an der Universität Oxford. Die Ubersetzung von Govard Bidloos Atlas in das Russische haben intensiv Oborin und Oborin junior untersucht (siehe Anm. 42). Nach Ν . A. Oborin sei es bisher nicht gelungen, den Ubersetzer dieses epochemachenden Werkes zu identifizieren (S. 462). Das Ergebnis seiner Arbeit ist ein sprachlich herausragendes literarisches Dokument. Sein Titelblatt wird hier zeilengerecht zititert:46 GODEFRIDA B t D L O O Vraceskago chudozestva ucitelja ί celitelja ΑΝΑΓΟΜΙΙ celoveceskago TfiLA Cast' Pervaja. Die Zeile „Cast' Pervaja", „Erster Teil" bedingt den Genitiv von ΑΝΑΓΟΜΙΙ. Der Text des Atlases ist kursiv (skoropis') kalligraphiert, kirchenslawisch bzw. „altslawische Literatursprache der späten Periode" (vgl. Anm. 27). Unter den anatomischen Termini zum Auge, die im Zusammenhang mit weiteren frühen russischen medizinischen Übersetzungen sprachlich genauer untersucht sind (siehe Anm. 59), finden sich die traditionellen drei humores oculi russisch: „mokrotica vodjanaja" - humor aqueus, die innere Augenflüssigkeit; „mokrotica krvstalnaja" - humor crystallina für lens crystallina oder Linse und „mokrotica steklanaja" 47 - humor vitreus für Glaskörper. Anzumerken ist, daß Govard Bidloos Atlas zum ersten Mal in der Anatomiegeschichte neben humor crystallinus auch den differenzierteren Terminus lens crystallina anführte - entsprechend seinerzeit neuen Erkenntnissen über die Anatomie des Auges - in russischer Ubersetzung: „socevica krvstalnaja". 48 Besonders fällt auf die Verwendung des Deminuitivs „mokrotica" von „mokrota" - humor, Feuchtigkeit, der in keinem russischen Lexikon vorkommt! Er sollte die Kleinheit dieser anatomischen Strukturen ausdrücken. Diesen Begriff hat augenscheinlich ein medizinisch versierter russisch denkender Ubersetzer ad hoc geschaffen. Nach allem, was über Petr V. Posnikov bekannt ist, kommt er am ehesten als Verantwortlicher für die semantisch exakte Sprachgestalt der im Russischen neuartigen Terminologie in Frage. Seine Sprachkenntnisse, die ihn befähigten, als Ubersetzer in diplomatischen Missionen tätig zu sein, prädestinierten ihn im Verein mit seinem medizinischen Wissen, dessen Peter I. sich u. a. bei der Großen Gesandtschaft bediente, unter allen seinerzeit in Rußland tätigen Medizinern zu dieser Aufgabe. Daß zu ihrer Durchführung die Vesalius-Ubersetzung Slavineckijs beigetragen hätte, haben O b o r i n / O b o r i n 1971 verneint. 49 Am 10. Juni 1714 wurden auf Befehl des Zaren einem Händler 16 Altyn (= 48 Kopeken) angewiesen, davon 11 zur Bezahlung einer Lindenholztruhe, in welcher zwei Anatomiebücher, darunter ein gedrucktes lateinisches, das andere als russische Handschrift, mit einem

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Godefrid [= Govard] Bidloo, Godefrida Bydloo Vraceskago chudozestva ucitelja i celitelja Anatomi[ja] celoveceskago Tela [Godefrid Bidloos, des Lehrers der Ärztlichen Kunst und Heilers, Anatomie des menschlichen Körpers] [mit handschriftlicher russischer Nomenklatur], Biblioteka Rossijskoj Akademii Nauk [Bibliothek der Rußländischen Akademie der Wissenschaften] Sankt-Peterburg, Π. I Β 73, JI. 28, Bl. 7v. 47 Godefrida Bydloo . . . Anatomija (wie Anm. 46) Bl. 34v. ebd. O b o r i n / O b o r i n 1971 (wie Anm. 42) S. 93.

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weiteren Manuskript zum Glauben der Raskol'niki nach St. Petersburg gebracht werden sollten, verpackt in ein Pfund Watte, für die der Kaufmann 5 Altyn berechnete (S. 464). Weil im Exemplar des Bidloo-Atlases mit handschriftlicher russischer Nomenklatur der holländische Originaltitel von 1690 (siehe Anm. 21) dem russisch geschriebenen Titelblatt vorangestellt ist, gab es vor 1714 bzw. 1708 in Moskau wenigstens ein lateinisches und ein holländisches Exemplar. Nach N . A. Oborin (S. 462) wurden in einer holländischen Ausgabe von 1690 die originalen Textseiten ersetzt durch die von Hand geschriebenen russischen. Die Abbildungstafeln waren ohnehin in den Auflagen von 1685 und 1690 die gleichen. Womöglich hängt die Verlagerung beider anatomischer Atlanten in die neue russische Hauptstadt mit der Eröffnung ihres Admiralitätshospitals 1715 zusammen, mit welchem zugleich das Petersburger Hospital der Landtruppen eingerichtet wurde. In einer Rezension von „ N . Bidloo . . . Nastavlenie" stellte V. Kuprijanov fest, 50 daß ein grundlegendes Lehrbuch Nikolai Bidloos zur Anatomie bisher nicht gefunden wurde. Ν . A. Oborin führte an weiteren Manuskripten von seiner Hand im Bestand der Bibliothek der Rußländischen Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg an (S. 458): „Speculum anatomiae . . . M., 1721" mit Abbildung des Titelblattes 51 (S. 457) und „Praelectoris thesaurus medico-practicus. M., 1731", dazu „The[a]trum anatomicum. M., 1721" in der Handschriften-Abteilung der Μ. E. Saltykov-Scedrin-Bibliothek (jetzt: Russische Nationalbibliothek), die bis dahin alle unerforscht geblieben sind. Anscheinend deckten diese Manuskripte, welche nach Oborin (S. 458) zum Druck vorbereitet gewesen seien, im Verein mit der „Instructio" Nikolai Bidloos die Lehrbedürfnisse an der Moskauer Mediko-chirurgischen Schule thematisch ab. Warum keines von ihnen gedruckt wurde, ist unklar. Der Vergleich von bei Oborin 1979 reproduzierten Titelblättern und einzelnen Seiten ergibt, daß der Titel zu „Speculum Anatomiae . . . ab . . . Nicoiao Bidloo . . . Moscuae. Anno 1721" (S. 457) anscheinend von der gleichen Hand kalligraphiert wurde, wie das Tallinner Manuskript von 1719. Dagegen zeigt die Anfangsseite des Index zum Manuskript „Praelectoris thesaurus medico-practicus" (S. 459) mit lateinischen und holländischen Termini eine andere Handschrift, die nachweisbar Nikolai Bidloos ist. Weitergehende Untersuchungen würden neben anderem eingehende Schriftanalysen erfordern anhand der nicht erforschten Manuskripte. Die Vorlesungen an der Hospitalschule wurden lateinisch gehalten, zumindest von Bidloo, wie das Tallinner Manuskript deutlich macht (Bl. 12): „Medicinam Naalem [= Naturalem] in 5 partes distingui dico . . . Physiologiam, Pathologiam, Semioticam, Hiogeam [sie] & Theropeuticam". Der Gebrauch des Lateinischen entsprach nicht nur der europäischen medizinischen Tradition. Im ersten Viertel des 18. Jh. fehlten, mit Ausnahme der anatomischen Nomenklatur im Atlas Govard Bidloos, dem Russischen die Begriffe der medizinischen Fachsprache. Zum Lehrbetrieb gehörten Vorlesungsmitschriften, sicherlich zum Teil nach Diktat, und mutmaßlich auch das Abschreiben von Fachtexten, das nach alter Erfahrung intensiv den Lehrstoff vermittelt. So wurden gleichzeitig die Lateinkenntnisse der russischen Wundarzt-Studenten trainiert, die sie in vorbereitenden Bildungseinrichtungen erworben hatten. Oborin zitiert (S. 468) aus einem Brief Vasilij Nikitic Tatiscevs (1686-1750) vom 24. Mai 1738 aus Samara an die Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg, in welchem über den Nachlaß des verstorbenen Wundarztes Dmitrij Mag-

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V. Kuprijanov, Unikal'noe proizvedenie [Ein unikales Werk], Medicinskaja gazeta, Moskau, 41 (1979) Nr. 101 (3923) vom 19. Dezember, S. 3. Speculum Anatomiae Fabricam totius Corporis Humani Accuratissime Praesentans. In Nosocomio Augustano in Theatro Anatomico, ad Spectandum. ab Excell. Dfio, Dno Doctore ejusque S. I. Majest. Archiatro Nicoiao Bidloo Praepositum Moscuae. Anno 1721. Mense Julij.

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nitskij berichtet wird: Unter zahlreichen lateinischen Büchern befanden sich mehr als dreißig handgeschriebene, einige nach gedruckten umgearbeitet, andere stellten Lektionen Bidloos dar, oder waren nach ihnen zumindest als Aufsatz abgefaßt. Tatiscev beabsichtigte, drei, die er für tauglich hielt, an die Akademie zu schicken. Magnitskij hatte nach Absolvierung der Moskauer Slavo-gräko-lateiniscben Akademie 1727 seine Ausbildung an Bidloos Hospitalschule begonnen. Er wird am Ende der Absolventenliste aufgeführt mit dem Vermerk: „Entlassungsdatum unbekannt", zusammen mit zwei weiteren Absolventen, die 1732 bzw. 1734 in die Hospitalschule eintraten (S. 534). Die für 32 seiner studierenden Vorgänger und Kommilitonen angegebenen Verweilzeiten an der Schule schwanken zwischen vier und acht Jahren; bei drei von ihnen sind zehn Jahre genannt. Magnitskij war womöglich über seine Studienzeit hinaus noch an der Moskauer Hospitalschule angestellt, wodurch seine medizinische Bibliothek eine besondere Erklärung erführe, vor allem ihre handschriftlichen Anteile. Nach allem läßt sich die „Universa Doctrina . . . per Nicolaum Bidloo 1719" einordnen: Das Manuskript-Fragment fußt anscheinend auf Vorlesungsmitschriften, die womöglich nachträglich bearbeitet oder in Schönschrift neu abgefaßt wurden. Dies korrespondiert mit den Mitteilungen des zitierten Tatiscev-Briefes von 1738. Fraglich ist, ob der bislang namentlich nicht dokumentierte Autor und Schüler N. Bidloos ernsthaft beabsichtigte, aus seinem Manuskript ein Druckwerk zu machen. Angesichts der realen Geschichte medizinischer Lehrbücher in Rußland und der zwei aufgelisteten Anatomie-Schriften Bidloos von 1721 ist dies zu bezweifeln. Deren autoptischer Vergleich mit dem Tallinner Fragment steht noch aus. Die Kalligraphie seines Titelblatts und seine gesamte Gestaltung war sinnvoll auch zur Eigennutzung eines angehenden Wundarztes und Hörers von Vorlesungen bei einem Hochschullehrer, von dem zeitlebens kein Lehrbuch in Druck ging, erst recht angesichts des Wertes und der noch geringen Zahl damaliger Fachbücher. So bietet das Fragment von 1719 einen guten Einblick in Nikolai Bidloos anatomische Lektionen an der Moskauer Hospitalschule. Auf sie ist hier nicht differenziert medizinisch einzugehen. Aus der genannten Absolventenliste der Moskauer Hospitalschule (S. 531-534) geht hervor: 1718 entließ Bidloos Institution zwölf angehende Wundärzte, um ihren Dienst als Subchirwrgi anzutreten, 1719 keinen. 1720 ist für 22 Absolventen der Studienabschluß dokumentiert, von denen sechs namentlich aufgeführt sind (S. 532). Wurde einer von ihnen an das nach 1720 gegründete Revaler Admiralitätshospital 52 abkommandiert und brachte das Manuskript dorthin? Bei einem der Absolventen ist als Eintrittsdatum in die Hospitalschule der 23. Juli 1713 angegeben. Zwei von ihnen waren Brüder: Maksim und Ivan Petrovic Satarov. Der Chirurg Maksim Satarov wurde bei Gründung der Petersburger Akademie der Wissenschaften 1724 auf Anordnung Peters I. Übersetzer an der Physikalischen Klasse der Akademie. 53 . 1729 war Μ. P. Satarov an der Übersetzung von Ehrenreich Weißmanns (gest. 1717) deutsch-lateinischem Lexikon in das Russische 54 als Akademie-

Jakov Cistovic, Istorija pervych medicinskich skol ν Rossii [Geschichte der ersten medizinischen Schulen in Rußland], Sanktpeterburg 1883, S. 542. 53

Petr Pekarskij, Nauka i literatura ν Rossii pri Petrem Velikom [Wissenschaft und Literatur bei Peter dem

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[Ehrenreich Weißmann] Teutsch-Lateinisch- und Rußisches Lexikon Samt Denen AnfangsGründen der

Großen], Bd 1, Sanktpeterburg 1862 (Reprint Leipzig 1972) S. 271. Rußischen Sprache /Nemecko-latinskij i russkij Leksikon kupno c pervym nacalami Ruskago jazyka, St. Petersburg 1731. Nachdruck: Weismanns Petersburger Lexikon von 1731, München 1 9 8 2 - 1 9 8 3 ( = Specimina Philologiae Slavicae, H g . O l e x a Horbatsch, Gerd Freidhof, Bde 4 6 - 4 8 ) .

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Projekt 5 5 beteiligt (S. 466 f.). Im gleichen Jahr wurde ihm eine anatomische Übersetzung aus dem Lateinischen aufgetragen: „Hiermit wird Euch ein anatomischer Katalog übersandt, damit Ihr diesen in die russische Sprache übersetzt, mit welchem zu Eurer Unterstützung bei dieser Übersetzung das Buch Bidloos zugeschickt wird, welches schon in die russische Sprache übersetzt ist, um Euch, falls Ihr daraus irgendwelche Fachbegriffe besser ersehen könnt, danach zu richten." 56 Die zugestellte Übersetzungshilfe war Govard Bidloos Atlas. Der Auftrag galt einem „Catalogus von den anatomischen Praeparaten der Kunstkammer", den Josias Weitbrecht (1702-1747) aus dem Württembergischen Schorndorf 1728 geschaffen hatte als Einführung in die von Peter I. 1717 in Holland angekaufte anatomische Sammlung Frederik Ruyschs, 57 nach Oborin (S. 466) ein 40seitiges ,Compendium anatomicum'. Als Mitglied der Petersburger Akademie der Wissenschaften seit ihrer Eröffnung 1725 hielt Weitbrecht ab 1730 Vorlesungen in Anatomie und Physiologie. Vor Weitbrecht hatte schon Daniel Bernoulli (1700-1782) aus Basel, ebenfalls seit 1725 Akademiemitglied, in Petersburg physiologische Vorlesungen gehalten. D. Bernoulli hat mit der mathematisch-physiologischen Größenbestimmung des blinden Flecks, der Eintrittsstelle des Sehnervens in die Netzhaut des Auges, die Anatomie bereichert. 58 Das Ergebnis von Satarovs Bemühungen um Weitbrechts „Catalogus" ist unbekannt; er starb 1732. Sein Anteil am Weißmannschen dreisprachigen Lexikon wäre womöglich verifizierbar an dort enthaltenen medizinischen Begriffen. Bei eigenen Forschungen zur russischen medizinischen Terminologie sind die insgesamt nur sechs ophthalmologischen Begriffe dieses Lexikons genauer untersucht worden. 59 Ihre geringe Zahl ergibt keinen hinreichenden Eindruck von der Leistung des Übersetzers. Auffällt ein semantischer Fehler: Das russische Wort „bel'mo", das Weiße, für deutsch „Star" 6 0 im Sinne der Linsentrübung (= Grauer Star) wurde fälschlich auch für die Vogelart „Staar", lateinisch sturnus61 verwandt, obwohl das Russische für den Vogel das Wort „skvorec" kennt. Mit Überset-

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Norbert Brien, Die Weißmannschen Wörterbücher - Ein kurzer Vergleich der Erst- und Zweitauflage, in: Weißmann 1731 (wie Anm. 54) Bd 48, 1983, S. 23. Oborin, Oborin 1971 (wie Anm. 42) S. 93 f. Richter 1817 (wie Anm. 6) S. 206. Daniel Bernoulli, Experimentum circa nervum opticum in: Commentarii Academiae Scientiarum Imperialis Petropolitanae, Bd 1, Petropoli 1726, S. 314-317. Aloys Henning, Ο vozniknovenii russkoj medicinskoj leksiki: Sozdanie oftal'mologiceskoj terminologii Martinom Seinym [Zur Entstehung der russischen medizinischen Lexik: die Kreation der opthalmologischen Terminologie durch Martin Sein, Wiener Slawistisches Jahrbuch 1996], Slawistische Untersuchungen medizinischer Terminologie sind abhängig von medizinischen Kenntnissen - analog zu Fachkenntnissen von Übersetzern zur Zeit Peters I. (vgl. P. V. Posnikov und Boris Volkov) - und fehlen deshalb, oder sind auf nichtmedizinische Aspekte beschränkt: Gerd Freidhof, Quantifizierungen im medizinischen Fachwortschatz, Studien zu Fachwortschatzsystemen der süd- und westslawischen Sprachen 1, München 1980 (= Specimina Philologiae Slavicae, Hg. Olexa Horbatsch, Gerd Freidhof, Bd. 28). Dies gilt abgewandelt auch für russische Untersuchungen. Im „Wörterbuch der russischen Sprache des 18. Jahrhunderts" (Slovar' russkogo jazyka X V I I I veka, Hg. AdW der UdSSR, Bd 2, Leningrad 1985) fehlt der Ausdruck „belmo [= bel'mo]" ganz trotz seines Vorliegens bei Weismann und seines gleichsinnigen Gebrauchs noch 1798 im ersten russischen Buch der Augenheilkunde: [Herman Boerhaave], Slavnago Germana Boergava Publicnyja Lekcii ο Glaznych Boleznjach . . . Perevel Vasilij Titovic [Des berühmten Herman Boerhaave öffentliche Vorlesungen über Augenkrankheiten . . . Übersetzt hat Vasilij Titovic], Moskau 1798; die Quelle Kaau Boerhaave (wie Anm. 37 bzw. 72) blieb ebenso unberücksichtigt. Weismann 1731 (wie Anm. 54) S. 599. ebd. S. 596.

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zungsfragen der deutschen Sprache an diesem Lexikon-Projekt der Petersburger Akademie war neben den russischen Bearbeitern der Preuße M. Schwanewitz beauftragt.62 Dies Beispiel zeigt, daß die übersetzerische Präzision nicht die der russischen Nomenklatur im Atlas Govard Bidloos erreichte, für die neben exzellenten Sprachkenntnissen ebensolche medizinischen erforderlich waren, die das Weißmann-Lexikon nicht benötigte. Wenn Maksim P. Satarov dafür einzustehen hat, korrespondiert diese Wertung auch mit dem Umstand, daß von 1729 bis zu seinem Tod anscheinend der anatomische „Catalogus" nicht vollendet werden konnte, womöglich, weil die Arbeit an dem dreisprachigen Lexikon Vorrang hatte. Hier schließt die Überlegung an, ob Maksim Satarov als Verfasser der Tallinner Nikolai Bidloo-Mitschrift in Frage kommt, wozu es bisher keinen gesicherten Befund gibt. Die Abordnung des Chirurgen als Ubersetzer an die Physikalische Klasse der Akademie legt den Gedanken nahe. Nach dessen Tod bemühte sich sein Bruder Ivan vergeblich um die Fortsetzung der Übersetzungsarbeit an Weitbrechts Katalog und um die Position des auf Medicinalia spezialisierten Übersetzers der Akademie. Der Chirurg Ivan P. Satarov (gest. 1749) hat neben anderem eine lateinische Ausgabe ,Euklidische Elemente' („Evklidovye elementy") in das Russische übersetzt, die 1739 in Petersburg erschien. 63 1739 kommandierte die Medizinische Kanzlei in St. Petersburg Martin Sein (1712-1762) von Kronstadt auf fünf Jahre in die Hauptstadt, um als Zeichenmeister am Petersburger Amiralitätshospital an der Edition des ersten anatomischen Atlases in Rußland mitzuarbeiten. Sein, als Sohn des Militärangehörigen Ilja Sein in Rußland geboren, hatte 1738 seine Ausbildung am Petersburger Seminar des Bischofs Feofan Prokopovic (Teofan Prokopovyc 1681-1736) beendet. Prokopovic, kirchlicher Berater Peters I. bei der Modernisierung des russischen Staates und Präsident des Heiligen Synods ab 1722, gilt als Promotor fortschrittlicher russischer Bildungseinrichtungen. 64 Er verdankte sein eigenes umfassendes Wissen geistlichen Bildungseinrichtungen vor allem in Kiev - wie Epifanij Slavineckij, aber auch Lembergs, Krakaus und Roms. An Feofans Seminar, der 1721 gegründeten ,Karpovskaja Schule', gab es Unterricht in: „Gottes Gesetz, Kirchenslawisch, Russisch, Latein und Griechisch, Grammatik, Rhetorik, Logik, Römische Antike, Arithmetik, Geometrie, Geographie, Geschichte und Zeichnen". 65 Sein und zwei weitere Absolventen wurden zu Zeichenlehrern an Hospitalschulen ernannt. Während seine Kollegen den Hospitälern der Landtruppen in St. Petersburg und Moskau zugeteilt wurden, d. h. im zweiten Fall Bidloos Gründung, erhielt Martin § ein diese Stellung am 1717 gegründeten Kronstädter Marinehospital. 1735 war im russischen General-Reglement für Krankenhäuser festgelegt worden: 66 „Im Sankpetersburger General-Hospital der Landtruppen, sowie in einem oder beiden der großen Admiralitätshospitäler [= Marine-Hospitäler in Kronstadt und Petersburg] sind zur Heranbildung guter Chirurgen im Reich folgende medizinische Dienstränge anzustellen: 1 Doktor, 1 Leitender Wundarzt. 5 Chirurgen, 10 Subchirurgen, 20 Wundarztschüler, 1 Apotheker-Geselle, 1 Lehrling, 1 Arbeiter. Für den Unterricht der Subchirurgen und Schüler: 1 Operateur, 1 Zeichenmeister. Für einen besseren Unterricht in Anatomie: 1 Student zum Unterrichten der lateinischen Sprache." 62 63

Brien 1983 (wie Anm. 55). L. L. Kutina, Formirovanie jazyka russkoj nauki (terminologija matematiki, astronomii, geografii ν pervoj treti X V I I I veka) [Die Formierung der Sprache der russischen Wissenschaft (Terminologie der Mathematik, Astronomie, Geographie im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts)], M o s k a u / L e n i n g r a d 1964, S . 2 1 8 .

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Donnert 1984 (wie A n m . 45), S. 4 9 - 5 0 . 9 6 . 1 2 0 . 1 3 2 . Russkij Biograficeskij Slovar' [Russisches Biographisches Lexikon], Bd 25, hg. Kaiserlich Russische Historische Gesellschaft, B d 2 5 , Sanktpeterburg 1911, S. 4 0 7 .

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Polnoe Sobranie Zakonov Rossijskoj Imperii [Vollständige Gesetzessammlung des Russischen Reiches], B d 9, 1830, N r . 6 8 5 2 vom 2 4 . 1 2 . 1 7 3 5 .

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Im Jahr der Abkommandierung Seins an die Medizinische Kanzlei 1739 gelangten die zwei im Bestand der Bibliothek der Rußländischen AdW erwähnten Manuskripte N . Bidloos von Moskau nach St. Petersburg (S. 458): Das „Speculum Anatomiae" (siehe Anm. 51) und der „Praelectoris thesaurus medico-practicus" von 1731. Mutmaßlich benötigte man wenigstens das anatomische Manuskript für die Arbeit am neuen anatomischen Atlas. Mit der Abfassung der lateinischen Nomenklatur wurde ein Schweizer Chirurg, Johann Balthasar Hanhart (russisch: Gangart) aus Winterthur, betraut, der seit 1733 als Operateur am Petersburger Marine-Hospital angestellt war. Er entstammte einer im Kanton Zürich bekannten Familie, aus der im 17. und 18. Jh. vier Arzte und zwei Chirurgen hervorgingen. 67 Als Hanhart 1739 nur 35jährig starb, führte Christoph Jakob von Mellen (17051765) aus Lübeck, Operateur am Petersburger Hospital der Landtruppen, die terminologische Arbeit zu Ende. 68 Von den 26 in Kupfer gestochenen anatomischen Tafeln hatte 21 Martin Sein gezeichnet. 69 Sein erhielt anscheinend gleichzeitig eine wundärztliche Ausbildung: Er wurde 1741 nach Ablegung eines Examens Subchirurg. 1744 erschien in Petersburg, unter dem Archiater (von 1734-1742) Johann Bernhard Fischer aus Riga (1687-1772) als verantwortlichem Herausgeber, der neue Atlas in 1000 Exemplaren als erstes gedrucktes Anatomiebuch Rußlands: 70 „Syllabus seu index omnium partium corporis humani, figuris illustratus in usum chirurgiae studiosorum, qui in nososcomiis petropolitanis aluntur . . ." 71 Neben dem Titel kennzeichnen die Auflagenhöhe und - verglichen mit 105 Tafeln in Govard Bidloos Atlas - die kleinere Anzahl von 26 Abbildungsseiten, die einen geringeren Preis ermöglichten, den „Syllabus" als Handbuch für angehende Wundärzte, die in Petersburg ausgebildet wurden. 1751 war Martin Sein erneut verantwortlich an einer Premiere der russischen Medizingeschichte beteiligt, an der Edition des ersten Druckwerks mit russischer medizinischer Fachsprache. Sein Name trat dabei ebenso wenig in Erscheinung wie 1744 bei der „Syllabus"-Edition. Nach der Ausweisung eines medizinischen Scharlatans sah sich der Erste Leibarzt der Zarin Elisabeth, Herman Kaau Boerhaave (1712-1753) genötigt, eine Dokumentation über den Ausgewiesenen auch russisch zu veröffentlichen. Die entscheidenden Übersetzungen lieferte Sein. Am 7. Dezember 1751 wurde der reisende Okulist, nach damaligem Verständnis,Augenarzt', Joseph Hillmer in St. Petersburg wegen Scharlatanerie auf Lebenszeit des Landes verwiesen. Ein Konvoi aus einem Unteroffizier mit vier Soldaten brachte am 8. Dezember den Okulisten mit Frau und Diener(n) im eigenen Wagen mit Pferden an die polnische Grenze. 72 Joseph Hillmer, geboren um 1720 in Wien als Sohn eines Starstechers und Marktschreiers, der ihm eine mutmaßlich unvollständige chirurgische Ausbildung zukommen ließ, bereiste als fahrender Okulist ab 1746 zahlreiche europäische Länder, wahrscheinlich

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Stadtarchiv Winterthur, Bürgerbuch Winterthur II, Hag-R. Rudolf Mumenthaler, „Keiner lebt in Armuth", Schweizer Ärzte im Zarenreich, Zürich 1991, S. 103 (= Beiträge zur Geschichte der Russlandschweizer, hg. Carsten Goehrke, Bd 4). Β. N . Palkin, Martyn Sein - russkij ucenyj lekar' [Martyn Sein - ein russischer gelehrter Wundarzt], Chirurgija 24 / 6 (1948) S. 3-10.4. Richter 1817 (wie Anm. 6) S. 258 f. Syllabus seu Index Omnium Partium Corporis Humani figuris illustratus, in usum chirurgiae studiosorum, qui in Nososcomiis Petropolitanis aluntur Publica Auctoritate conscriptus et vulgatus [ed. Johann Bernhard Fischer], Petropoli Typis Academiae Scientiarum [1744]. [Herman Kaau Boerhaave] Cancellariae Medicae Acta cum oculista Iosepho Hillmero, impressa sumtubus [sie] Directoris Petropoli, typis Academiae Scientiarum MDCCLI / Medicinskoj Kanceljarii Postupki s okulistom Iosifom Gil'merom, napecatano kostom Direktora ν Sanktpeterburge pri Akademii nauk 1751 goda, S. 173 f.

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mit finanzieller Unterstützung Maria Theresias. 7 3 A m 22. Januar 1748 ernannte ihn Friedrich II. von Preußen zum ordentlichen Professor für Augenheilkunde am Berliner Collegium Medico-chirurgicum, 120 Jahre vor Gründung des Berliner ophthalmologischen Lehrstuhls! Johann Carl Wilhelm Moehsen ( 1 7 2 2 - 1 7 9 5 ) , seit 1747 jüngstes Mitglied der medizinischen Aufsichtsbehörde in Preußen, des Berliner Obercollegium Medicwn, versuchte unter einem Pseudonym die Ernennung des unqualifizierten Okulisten zu verhindern. 7 4 Der Dekan eben dieses Obercollegiums, Johann T h e o d o r Eller ( 1 6 9 8 - 1 7 6 0 ) , hielt anscheinend Hillmer für qualifiziert. Eller habe gebilligt, so der preußische Hofarzt Μ. P. Wöllner in einem Brief an Friedrich II., 7 5 daß Johann Adolph Wöllner junior nach seiner Ausbildung am Berliner Collegium Medico-chirurgicum als Königlich preußischer Pensionair-Chirurg Joseph Hillmer ab 1748 als Assistent nach Holland, England, Frankreich und Spanien begleitete, um seine anatomischen und chirurgischen Studien zu vervollkommnen. Eller war zugleich Direktor des Collegium Medico-chirurgicum, ärztlicher Direktor der Charite und Erster Leibarzt Friedrichs II. Ebenso wie Moehsen demaskierte den Scharlatan ano n y m Julien Offray de La Mettrie ( 1 7 0 9 - 1 7 5 1 ) , 7 6 der im Februar 1748 in Berlin von Friedrich II. Asyl erhielt und mit Hillmer im gleichen Hotel wohnte! Den Zugang zu La Mettries Pamphlet verdankt der Autor Frau Dr. phil. Ursula Pia Jauch-Staffelbach in Zürich. Ihr sei an dieser Stelle ebenso sehr gedankt wie Herrn Dr. sc. oec. Jürgen Wilke in Berlin, der zu dieser Thematik nicht nur den Wöllner-Brief gefunden hat und diese Forschungen seit Jahren unterstützt. Hillmer hielt nie Vorlesungen, besaß aber von 1750 bis 1769 ein dreigeschossiges Haus mit 30 Z i m m e r n im Berliner Zentrum „an der Jägerbrücke". 7 7 I m Sommer 1751 reiste er über Königsberg, Riga, Pernau, Reval und Narva nach St. Petersburg. In Livland und Estland praktizierte er unter Mißachtung regionaler Verordnungen - wie anderswo auch und bei reisenden Scharlatanen üblich, d. h. hier russischer Medizinalreglements, in Narva 73

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Aloys Henning, J. C. W. Moehsens Sendschreiben an einen Chirurgum im Strasburg (1748), in: Transactions of the Ninth International Congress on the Enlightment I, Münster 23-29 July 1995, Studies on Voltaire and the Eighteenth Century, General ed. Anthony Strugnell, vol. 346(-348), Voltaire Foundation, Oxford 1996, S. 423-427.426. Balthasar Heinrich Klingen [= Johann Carl Wilhelm Moehsen], Sendschreiben an einen alten erfahrnen Chirurgum in Strasburg, worin von dem berühmten Augen-Artzt, Herrn Hillmer, aus Wien, der sich ietzt zu Berlin aufhält, eine unpartheyische Nachricht gegeben wird, Leipzig 1748. Μ. P. Wöllner, Brief an König Friedrich II. vom 3. September 1749, Geheimes Staatsarchiv, Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Berlin, Rep. 11 Nr. 91 „Privata": „Sire, Le conseiller Hillmer a engage mon fils Jean Adolph Wöllner comme assistent et compagnon dans ses voyages et operations. Le premier Medecin de Votre Maj. Eller n'a pas seulement approuve cette resolution ä l'egarde mon fils mais il en a ete aussi le principal motif, ayant considere cette occasion comme le meilleur moyen de se perfectioner dans l'etude de l'anatomie et de la Chirurgie, auquel mon fils s'etoit deja applique pendant deux ans entiers au Grand College d'Anatomie qui est ici a Berlin. II semble aussi qu'il n'a pas manque aux occasions pour repondre a ces vües. Apres avoir accompagne le dit Hilmer par la Hollande, Angleterre et la France jusqu'a Paris, il s'est enfin determiner de subsister en ce dernier tien plus long temps, tant pour recommencer ses etudes que parceque les voyages en Espagne et plus loin lui sembloient trop penibles et meme dangereuses... Je crois done que mon fils sera pareillant, a l'abris de toutes poursoit avares par le simple nom d'un Pensionaire Prussien. Dans cette esperance je supplie a Votre Majeste de vouloir bien ordonner a Votre Ambassadeur, a Paris, de le declarer Chirurgien Pensionaire au service de Votre Majeste et a tacher de le mettre en Surete contre les insultes de 'envie et de l'avarice.. [Julien Offray de La Mettrie], Premiere Lettre De M. Jovial Medecin de Bourges, A Emanuel Koniq, Medecin de Bale, s. 1. s. d. [Potsdam? 1748] S. 1. Aloys Henning, Joseph Hillmer - Okulist, Professor, Scharlatan im friderizianischen Berlin, Berlin 1989, S. 20.22.40 f.43 (= Ophthalmothek, Hg. Dr. Mann Pharma, Bd 9).

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dazu noch alter schwedischer.78 Demnach mußten sich reisende Therapeuten zur Erteilung einer Praxiserlaubnis vor der Medizinischen Kanzlei einer Prüfung unterziehen. Hillmer unterlief diese Bestimmungen leicht in den baltischen Städten, weil die örtlichen Stadtphysici sie nicht durchsetzen konnten, noch dazu gegen einen Professor des renommierten Berliner Collegium Medico-chirurgicum. Auch in der russischen Hauptstadt praktizierte Hillmer ab 3. September 1751 wochenlang illegal, bis Herman Kaau Boerhaave als Direktor der Medizinischen Kanzlei den Okulisten unter bewachten Hausarrest stellte. Die Stellung des obersten Arztes in Rußland hatte Kaau Boerhaave als Neffe Herman Boerhaaves (1668-1738) nicht zuletzt wegen seines berühmten Vorfahren erhalten, den Peter der Große vergeblich nach Rußland holen wollte. Der Anstellungsvertrag verpflichtete Kaau Boerhaave, den wissenschaftlichen Nachlaß seines Onkels nach Rußland mitzubringen. Im Archiv der Petersburger Militärärztlichen Akademie „S. M. Kirov" liegt deshalb noch heute eine Vorlesungsskripte zur Augenheilkunde aus der Feder Herman Boerhaaves von 1720, 79 unausgewertet. Zumindest in der russischen Hauptstadt wurde Joseph Hillmer vom Carevic, Petr Feodorovic aus dem Hause Holstein-Gottorp, protegiert. Der 1762 als Peter III. ermordete Gemahl der nachmaligen Katharina II. war ein glühender Parteigänger des preußischen Königs. Die großfürstliche Protektion erschwerte dem Direktor der Medizinischen Kanzlei zusätzlich die Aufgabe, Hillmer dem russischen Medizinalreglement zu unterwerfen. Er ließ von Petersburger Medizinern im Auftrag der medizinischen Kanzlei alle erreichbaren Patienten Hillmers begutachten und erhielt entsprechende Berichte von den baltischen Stadtphysici. So sind 125 Fälle dokumentiert, darunter 85 Starstich-Operationen, die zu 8 2 % fatal ausgingen.80 Im 18. Jh. und davor gibt es keine dieser ophthalmologischen Fallsammlung vergleichbare weitere Quelle. Anhand der Materialien wurde Hillmers Scharlatanerie in einem Obergutachten dokumentiert, das von 33 Petersburger Medizinern und Chirurgen unterschrieben ist, die durchweg ausländische Namen trugen, darunter 20 Deutsche. Bei einem Gutachten wird Martin Sein mit dem Rang „Wundarzt" als Untersucher erwähnt neben dem Petersburger Stadtphysikus Johann Jakob Lerche, dem Hofchirurgen David Christian Saltzer, dem Operateur von Mellen, Georg Samuel Pohlmann als Ober-Wundarzt und Karl Thiemann als Wundarzt der Medizinischen Kanzlei. 81 Sein Name erscheint jedoch nicht unter dem Gesamtgutachten. Nach Hillmers Ausweisung brachte der Großfürst Peter am Hof das Gerücht in Umlauf, die Petersburger Mediziner hätten den okulistischen Professor aus Berlin fachlich unbegründet ausweisen lassen aus Berufsneid. Der Direktor der Medizinischen Kanzlei sah sich daher genötigt, alle Dokumente zu Hillmer gedruckt zu veröffentlichen. Hier sei nur angemerkt, daß zahlreiche Indizien eine geheimdiplomatische Mission des Okulisten im Dienste Friedrichs II. anzudeuten scheinen. 82 Die diplomatischen Beziehungen Preußens mit Rußland waren seit dem 2. Dezember 1750 mit der Abreise des russischen Gesandten

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Kaau Boerhaave 1751 (wie Anm. 72) S. 74. E. Cohen / W . Α. T. Cohen-de Meester, Katalog der wiedergefundenen Manuskripte und Briefwechsel von Herman Boerhaave, in: Verhandlingen, Nederlandsche Akademie van Wetenschappen, Afd. Natuurkunde, sectie 2, deel X L , Nr. 2, Amsterdam 1941, S. 1-45. Aloys Henning, Komplikationen nach Starstich-Operationen 1751, Klinische Monatsblätter für Augenheilkunde 1 9 9 / 6 (1991) S. 461-466. Kaau Boerhaave 1751 (wie Anm. 72) S. 93. Aloys Henning, Schwedische Diplomatenpost über Okulisten in Rußland, Sydsvenska medicinhistoriska sällskapet ärsskrift 29 (1992) Lund, S. 123-146.

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von Groß aus Berlin suspendiert.83 Etwa drei Monate nach der Ausweisung des Scharlatans lag die Dokumentation auf Kosten Herman Kaau Boerhaaves gedruckt vor als Buch von 176 Seiten, davon 85 ausschließlich russische Textseiten, 78 lateinische mit paralleler russischer Ubersetzung und 8 französische, ebenfalls zusätzlich russisch übersetzt.84 Kaau Boerhaaves Dokumentation enthält rund 90 augenärztliche Fachausdrücke, die mit wenigen Ausnahmen noch nicht zum Bestand der russischen Sprache gehörten. Ihre russische Version schuf Martin Sein in einem Vierteljahr, überwiegend durch Transliterationen der lateinischen Vorlagen. Anscheinend hat er ohnehin die gesamte Dokumentation in das Russische übertragen, worauf Transkriptionen lateinischer Kasus-Endungen oder ihnen entsprechende Ubersetzungen in russische hinweisen, zur Wiedergabe syntaktischer Zusammenhänge bei parallel lateinisch und russisch angeführten Texten.85 Die nur russisch vorliegenden Abschnitte des Buches sind übersetzte deutsche Vorlagen mit Ausnahme zweier französischer Briefe. Wir erinnern uns hier der nationalen Herkunft der 33 gutachtenden Mediziner. Bei der Übersetzung stellte Sein semantisch Weichen für das moderne Russisch. So wird, um nur ein Beipiel zu zitieren, wahrscheinlich seinetwegen das Wort „cecevica" für die botanische Linse im heutigen Russisch nicht als anatomischer Bestandteil des Auges verstanden - im Unterschied zu Linse im Deutschen, lentille im Französischen - , obwohl in Govard Bidloos Atlas das Wort in dieser Bedeutung vorkam: „socevica" (vgl. Anm. 48). 86 Aufgrund neuer anatomischer Erkenntnisse galt ab 1720 der sogenannte Linsenkern innerhalb der Linsenkapsel als eigentliche Linse,87 so daß dem Wundarzt Sein der Begriff „cecevica" anatomisch zu groß erschien; er benutzte an seiner Stelle das russische Wort für Korn oder Kern, „zerno", mit dem erklärenden Adjektiv senfkornartig: „zerno gorusnoobraznoe", senfltornartiges Korn.88 Ein Senfkorn ist deutlich kleiner als die Hülsenfrucht Linse. Seins differenzierte Ubersetzung für Linse zeigt die exakten medizinischen Kenntnisse dieses Chirurgen, der 1754 Leitender Wundarzt des Admiralitätshospitals wurde. Wie er den russischen Begriff für die Augenlinse bis 1761 weiterentwickelte, ist hier nicht zu erörtern. Die sprachliche Subtilität seiner Arbeit ist schon früher untersucht worden,89 ohne daß Martin Sein als Ubersetzer der Dokumentation zu Joseph Hillmer bekannt war. Seine Identifizierung war möglich anhand eben des Terminus „zerno gorusnoobraznoe", dessen literarischer Gebrauch nur bei ihm nachgewiesen ist. 1757 erschien in Petersburg seine Übersetzung der fünften Auflage von Lorenz Heisters Aloys Henning, Die Affäre Hillmer: Ein Okulist aus Berlin in Petersburg 1751, Frankfurt am Main / Bern /New York/Paris 1987, S. 181. 368 (= Europäische Hochschulschriften, Reihe VII Medizin, Abt. B. Geschichte der Medizin, Bd 5). 8 4 Henning 1987 (wie Anm. 83) enthält auf S. 199-332 das gesamte Buch Herman Kaau Boerhaaves mit originaler Paginierung, vom Autor deutsch übersetzt. ^ Henning, Ο vozniknovenii russkoj medicinskoj leksiki (wie Anm. 59). Godefrida Bydloo . . . Anatomija (wie Anm. 47 /48) Bl. 34v. Polnisch ist die Augenlinse der Deminuitiv „soczewka" von „soczewica" für die botanischen Linse. 8 7 Auf den anatomischen Differenzierungen der Linse ab 1720 beruht die moderne Technologie der Grauen Star-Operation: Extraktion der getrübten Linsenanteile aus der Linsenkapsel, in welche anschließend eine Kuntstofflinse eingesetzt wird. Die Extraktion des getrübten Linsenkerns wurde methodisch schon 1750 angewandt vom Leibaugenarzt Ludwigs XV., Jacques Daviel (1669-1762); eine Kunstlinse in die Linsenkapsel einzusetzen, ist zum erten Mal 1795 in Dresden versucht worden. Vgl. Aloys Henning, Zum Paradigmenwechsel bei der operativen Starbehandlung um 1750, in: Vom Augendienst zur modernen Ophthalmologie, Symposium an der Augenklinik der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg 22.23. Oktober 1994 (300 Jahre Universität Halle 1694-1994), Hg. Manfred Tost, Halle 1994, S. 259-281. 8 8 Henning, Ο vozniknovenii russkoj medicinskoj leksiki (wie Anm. 59). 8 9 Aloys Henning, The Formation of Russian Ophthalmological Terminology, Clio Medica 20 / 1 - 4 (19851986) S. 105-123. 83

Zu einem anatomischen Manuskript von 1719

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„Compendium Anatomicum", das dieser zum ersten Mal 1717 in Altdorf publiziert hatte: 90 „Lavrentija Gejstera - SOKRASCENNAJA ΑΝΑΤΟΜΙΑ vse delo anatomiceskoe kratko ν sebe zakljucajuscaja. Perevedena c Latinskago jazyka na Rossijskoj: Sanktpeterburgskoj Admiraltejskoj gospitalja Glavnym Lekarem Martinom Seinym - Napecatana ν Sanktpeterburge pri Imperatorskoj Akademii Nauk 1757 goda [Laurentii Heisteri Compendium anatomicum totam rem anatomicam brevissime complectens Ubersetzt aus der Lateinischen Sprache in die Russische: vom Leitenden Wundarzt Martin Sein des Sanktpetersburger Admiralitätshospitals - Gedruckt in Sanktpetersburg bei der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften 1757]" Zur Anatomie des Auges findet sich im Abschnitt „O plenach i vlaznostjach glaznych" [Tunicae et humores oculi] unter ,,Vlaznost[i] (gumores- [humores])": 91 „Chrustal'naja ili gorusnoobraznaja (kristallinus ili lentiformis) - i ottudu pravil'nee telom ili zernom chrustal'nym (korpus ili lens kristallina) nazvannaja", zu deutsch: „Kristallen[e Feuchte] oder senfkornartig (crystallinus oder lentiformis), und daher richtiger Kristall-Körper oder -Kern (corpus oder lens crystallina) genannt". Damit ist die Identität des Ubersetzers von Heisters „Compendium Anatomicum" mit dem der Dokumentation Kaau Boerhaaves zu Hillmer belegt. Ebenso ist die Verwendung der russischen Nomenklatur zu Govard Bidloos Anatomie-Atlas als Hilfsmittel bei Seins Übersetzungen nachweisbar, 92 obwohl deren Textgestalt 1751 veraltet war. Wie schließlich in der westlichen medizinischen Terminologie das substantivierte Adjektiv „crystallinus" verkürzend für „Augenlinse" verwandt wurde, ist die Substantivierung von „chrustal'najafyj]" im Russischen das Wort für die Linse des Auges geworden: „chrustalik". So wie der Gebrauch der russischen Bidloo-Nomenklatur noch 1757 machen nicht zuletzt die 100 Jahre, die bis zum Druck von Seins „Sokrascennaja Anatomia" 1757 seit Slavineckijs Vesal-Übersetzung vergangen waren, die Schwierigkeiten deutlich, die zur Schaffung von Fachsprachen im Russischen zu überwinden waren. Besonders akzentuiert der Tod Boris Volkovs die Mühsal der Ubersetzer. Volkov, der bei Auslandsaufenthalten in Konstantinopel, Paris und Venedig seine Bildung erwarb, 93 arbeitete seit 1704 als Ubersetzer des russischen Reichskollegiums für auswärtige Angelegenheiten, auch drei Jahre in Berlin (1713-1716?) im Dienste des russischen Gesandten Aleksandr Gavrilovic Golovkin. 94 Auf Weisung Peters I. hatte er seit 1704 acht französische Bücher ins Russische übersetzt, darunter solche über Geographie, Artillerie, Binnenwasserstraßen wie auch den ersten Band von Jean de La Quintinye, Instruction pour les Jardins Fruitiers et Potagers.95 Bei der Arbeit am zweiten Band nahm sich der Übersetzer um 1720 das Leben: 90

91 92

93

94 95

Lorenz Heister, 1717: Compendium anatomicum, totam rem anatomicam brevissime complectens, Bde 1-2, Altorfi 1717, 5 Norimbergae 1741. Gejster 1757 (wie Anm. 40) Bd 2, S. 232; kursiv im zitierten Original. Henning, Ο vozniknovenii russkoj medicinskoj leksiki (wie Anm. 59): Sein hat einen Schreibfehler, „stkljan(n)aja" anstelle von richtig „stekljan(n)aja" für „gläsern" bei der russischen Wiedergabe von „humor vitreus", „vlaznost' stkljanaja" für „Glaskörper" aus der übersetzten Nomenklatur zu G. Bidloos Atlas übernommen. Friedrich Christian Weber, Das veränderte Rußland . . . Neu-verbesserte Auflage, Zweyter Theil, Hannover 1738, S. 25 f. Pekarskij, Nauka i literatura (wie Anm. 53) S. 225. Jean de La Quintinye, Instruction pour Les Jardins Fruitiers et Potagers, Avec un Traite des Orangers et des Reflexions sur l'Agriculture, Nouvelle Edition, Augmentee de la Culture des Melons, de la maniere de tailler des Arbres Fruitiers, d'un Dictionnaire des termes dont se Servern les Jardinieres en parlant des Arbres et d'une Table des Matieres, Bde 1-2, Paris 1716.

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Aloys Henning

„weil er eine blutsaure Arbeit antraf, indem unzählige in der Sclavonischen Sprache unbekante und Französische neue Kunst=Wörter vorkamen, so schnitte er aus Eigensinn und Verzweifelung sich die Puls=Ader ab, und gab seinen Geist auf. Er war von derjenigen Art Menschen, welche die Gabe einer Stoischen Unempfindlichkeit nicht besizen [sie], und deren Gemüht durch stets anhaltende Traurigkeit verfinstert und niedergeschlagen, folglich dadurch die Lebens=Geister endlich gehemmet und die Kraft der zum tiefen Nachdenken erfoderlichen [sie] aufmerksamen Sinnen stumpf gemacht werden, daher solche Leute, ohngeachtet ihres guten Willens, dasjenige, was sie wol vorhin bey freyerem Gemüthe gethan, nicht mehr so gut zu Werke richten können . . Damit bezeugte Friedrich Christian Weber für Volkov Symptome, die eine Depression als wesentliche Ursache seines Selbstmords anzeigen.97 Immerhin enthält der Index des 1200seitigen Werkes über Nutzgärten - das zwischen 1690 und 1756 vielfach verlegt wurde - mehr als 800 Gartenbau-Begriffe. Sein Verfasser war Chefgärtner der Nutzgärten aller Schlösser Ludwigs XIV. La Quintinye (1626-1688) gilt als Erfinder des Spalierobstes und der Methode, ausgewachsene Bäume zu verpflanzen. Der preußische König Friedrich II. benutzte „seinen" Quintinye als Handbuch bei der Errichtung von Sanssouci.98 Die Terrassen des Potsdamer Schlosses zierten - erstmalig in Europa - Nutzpflanzen: Wein und Feigen! Der russische Quintinye gehörte zur Folge übersetzter Bücher, für die ursprünglich Ernst Glück (1654-1705) verantwortlich war. Den gelehrten Probst des livländischen Marienburg brachten russische Truppen nach der Einnahme seiner Heimatstadt 1702 nach Moskau. Glück war der Ziehvater Martha Skawronskas, der Ehefrau Peters I. ab 1711, Katharina I. Auf Wunsch des Zaren „muste Hr. Glük in der Stadt Moscau eine scholam illustrem in dem Nariskischen Pallast aufrichten" 99 als „Gymnasium Academicum" mit dem Schwerpunkt, Fremdsprachenkenntnisse zu vermitteln.100 Der Index von Martin Seins Übersetzung von Heisters Compendium Anatomicum weist über 1400 russisch wiedergegebene Fachbegriffe auf. Seins zweite Lehrbuch-Übersetzung, die russische Version eines europaweit verbreiteten chirurgischen Handbuchs des Leipziger Ordinarius für Chirurgie, Johann Zacharias Platner (1694-1747), von 1745 101 ist ein zweibändiges Werk von insgesamt 981 Seiten. Es erschien 1761: „Ioganna Zacharij Platnera . . . Osnovatel'nyja Nastavlenija CHIRURGiCESKIJA Medic "eskija i Rukoproizvodnyja ν pol'zu ucascimsja . . . Perevedeny s Latinskago jazyka na Rossijskoj Sanktpeterburgskoj Admiraltejskoj Gospitali 5tap Lekarem Martinom Sejnym - V Sanktpeterburg pri Imperatorskoj Akademii Nauk 1712 goda [Institutiones chirurgicae rationalis tum medicae tum manualis in usum discentium... Ubersetzt aus der Lateinischen Sprache in die Russische vom Stabswundarzt des Sanktpetersburger Admiralitätshospitals Martin Sein Sanktpetersburg, bei der Akademie der Wissenschaften 1761]" 102 Martin Sein, seit 1754 leitender Chirurg des Petersburger Marine-Hospitals - noch 1751 hatte diese Position Johann Georg Rodet (1706-1775) aus Königsberg, ein Absolvent des 96 97 98

99 100 101

102

Weber, das veränderte Rußland (wie Anm. 93) S. 24-26. vgl. Anm. 59. Susanne Plum / Antonius Witte, Barocker Terrassengarten Kloster Kamp, Wiedererrichtung 1986-1990, Kamp-Lintfort am Niederrhein, Ausstellungsführer zur Ausstellung 1991 in Schloß Sanssouci in Potsdam, Hg. Stadt Kamp-Lintfort o. D. S. 29. Weber, Das veränderte Rußland (wie Anm. 93) S. 24 f. Donnert 1984 (wie Anm. 45) S. 56 f. Johann Zacharias Platner, Institutiones chirurgicae rationalis tum medicae tum manualis in usum discentium, Lipsiae 1745. vgl. Anm. 38.

Zu einem anatomischen Manuskript von 1719

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Berliner Collegium Medico-chirurgicum - war sich seiner außerordentlichen Leistung bewußt. Im Vorwort zur „Sokrascennaja Anatomia" verwies er auf sprachliche Schwierigkeiten der Ubersetzungsarbeit und ließ seine Leser wissen: 103 „Amerika zu suchen hat man nicht vor Kolumbus begonnen, nachdem man damit angefangen hatte, fand man es. In Rußland wurde nicht nach Gold gesucht, jetzt aber begann man damit und fand welches. Man hatte sich nicht damit befaßt, Porzellan herzustellen, Werke verschiedener Art, Manufakturen und Maschinen zu bauen, man fing damit an, und es gelang. Früher ließen russische Herrscher ihre Untertanen, die ihrer Natur nach durchaus scharfsinnig und für höhere Wissenschaften sehr geeignet sind, nicht in anderen Sprachen unterrichten, in Wissenschaften und Künsten; doch mit glücklichem Effekt hat dies Peter der Große getan! - Früher wurden hier auch nicht verschiedenartige Bücher übersetzt, unter Peter dem Großen begann man damit - Dem folgend habe ich dieses Anatomiebuch übersetzt, dem Volk zum Nutzen." Im gleichen Vorwort bat Sein um die Kritik der Leser zur Unterstützung der Übersetzungsarbeit und gab bekannt, bereits an der Ubersetzung der Platnerschen Chirurgie zu arbeiten. Die vier Jahre, die bis zu ihrer Publikation 1761 nach dem Erscheinen der russischen Heister-Ausgabe vergingen, machen den Arbeitsaufwand deutlich, den solche Ubersetzungen erforderten. Mit ihnen hat Martin S e i n die Fachsprache russischer Mediziner geschaffen. Seine sprachliche Leistung würdigte 1948 der sowjetische Medizinhistoriker Β. N. Palkin, 104 ohne die Ubersetzungsarbeit an Herman Kaau Boerhaaves Dokumentation berücksichtigen zu können. S e i n s Heister- und Platner-Übersetzungen gehören zu den literarischen Quellen der bis 1992 gelieferten sieben Bände (Buchstaben A - 3 , bis „Zalez,") des Wörter-

buchs der russischen Sprache des 18. Jahrhunderts.105 Martin Sein verkörpert den im 18.

Jahrhundert neuartigen Typ des wissenschaftlich gebildeten Chirurgen, auf den wesentlich die medizinischen Reformen Peters des Großen abgestellt waren. In Preußen diente dem gleichen Ziel die wissenschaftlich fundierte Ausbildung von Chirurgen am 1723 gegründeten Collegium Medico-chirurgicum in Berlin. In beiden Staaten war dafür der militärmedizinische Bedarf ihrer zunehmend politisch gewichtiger werdenden stehenden Heere ausschlaggebend.

103 104 105

Gejster [= Heister] Sokrascennaja Anatomia (wie Anm. 40) Bd 1, S. [V-VIII], Palkin 1948 (wie Anm. 69) Slovar' russkogo jazyka X V I I I veka [Lexikon der russischen Sprache des 18. Jahrhunderts], hg. Institut Russkogo jazyka [Institut für die Russische Sprache], AdW der UdSSR / Rußländische AdW, Bde 1-6, Leningrad 1984-1991, Bd 7, S.-Peterburg 1992; Bd 4 , S. 8; Bd 5, S. 182; Bd 6, S. 134. (vgl. Anm. 59).

M I C H A I L I . FUNDAMINSKI,

STUTTGART

Resident Johann Friedrich Böttiger und die russische Propaganda in der 1. Hälfte des 18. Jahrhunderts

Unmittelbaren Anlaß für den folgenden Beitrag zur Frühgeschichte russischer Propaganda in Deutschland bot eine Sammlung von Publikationen, die ich bei meinen Forschungsarbeiten in der Η erzog August Bibliothek Wolfenbuttel 1993/94 gesichtet habe. Mein Aufenthalt wurde durch Stipendien seitens der Thyssen-Stiftung und der Haniel-Stiftung ermöglicht, wofür ich auch an dieser Stelle danken möchte. Anmerkungen nebst dem chronologischen Verzeichnis der Veröffentlichungen J.F. Böttigers werden im Anhang angeführt. 1 Rußlands Auftauchen im Europa des 18. Jh. und Emporkommen als Großmacht erfolgten im Ergebnis militärischer Aktionen des Zaren Peter I. In Westeuropa lernte der Monarch auch das Rußlandbild und die Bedeutung der „öffentlichen Meinung" kennen. Das war ein Faktor, den russische Machthaber im Inland von jeher zu mißachten oder auch zu unterdrücken pflegten. Im alten ,Moskowien' galten nur Siege. Aber der erste Feldzug gegen die schwedische Festung Narva in Estland vom November 1700 endete mit einer vernichtenden russischen Niederlage. Diese Niederlage und das Erscheinen von russophoben Pamphleten, so einer Schrift Martin Neugebauers1, worin Rußland verunglimpft wurde, lösten beim Zaren Unbehagen aus. Baron Heinrich von Huyssen, der Erzieher des Thronfolgers Aleksej, wurde eigens nach Westeuropa entsandt mit dem Auftrag, die deutschen und holländischen Zeitungen zu veranlassen, über Rußland wahrheitsgemäß zu berichten und die öffentliche Meinung für das Zarenreich einzunehmen.2. Um die gesetzten Ziele in Europa zu erreichen, fühlte sich Peter geradezu herausgefordert, die westeuropäische öffentliche Meinung, vor allem die deutsche Presse, direkt zu beeinflussen. Es ist lehrreich zu beobachten, wie der Selbstherrscher aller Reußen' zu Anfang meinte, Zeitungen bzw. Autoren knebeln zu dürfen und auch zu können. Allmählich mußte er freilich einsehen, daß die Zeitungen privatwirtschaftlich finanziert wurden und dem Staat wenig gefügig waren, daß man aber einiges durch eigene konkurrierende Propaganda erwirken könne. Für diese Aufgabe brauchte Rußland Personen, die es im Inland noch nicht gab. So sah man sich veranlaßt, willige und kundige Männer im Ausland für russische Dienste anzuwerben. So geschah es, daß während des langwierigen Nordischen Krieges, den Rußland mit seinen Alliierten zusammen gegen die damalige Großmacht Schweden führte, gerade in der Freien und Hansestadt Hamburg antimoskowitische Zeitungsartikel und Pamphlete erschienen. Und da Hamburg vom Handel mit Rußland schon seit langem profitierte, schien der Zar berechtigt, gedruckte Ausfälle gegen sein Land und gegen seine Person kurzerhand verbieten zu lassen, zumal Hamburg, - wie es Heinrich Doerries nannte, - zu 1

1 3

Schreiben eines vornehmen deutschen Officieres an einen Geheimen Rath eines hohen Potentaten wegen der üblen Handtierung der frembden Officierer so die Moskoviter in ihre Dienste locken, o . O . 1705. S.M. Solovev, Istorija Rossii s drevnejsich vremen, Moskva 1962, Buch 8, S. 85 f.,334 f. Heinrich Doerries, Rußlands Eindringen in Europa in der E p o c h e Peters des G r o ß e n , Tilsit S. 58.

1938,

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Michael I. Fundaminski

einem „Sammelpunkt der Avisenschreiber" wurde. 3 Es erschienen nämlich im dortigen „Nordischen Merkurius" um 1701, aber auch später Artikel, die dazu angetan waren, Fachleuten, die Peter für Rußland anwerben wollte, abzuraten, dorthin zu gehen. Gekränkt, wandte sich Peter 1701 mit einer Forderung an den Magistrat von Hamburg, derartige Schriften zu verbieten und künftig solche nicht mehr erscheinen zu lassen. Diesen Wunsch hat der Magistrat, - wie er in seiner Antwort an Peter I. vom Februar 1702 mitteilte, - allen „Gazettieren" ausgerichtet. Angesichts der fortgesetzten antirussischen Propaganda ergriff der Zar 1705 gegen Hamburg Restriktionen wirtschaftlicher Art. Der dortige Magistrat suchte den russischen Herrscher zu besänftigen, entschuldigte sich und ließ wegen Beleidigung des russischen Herrschers das Erscheinen des „Nordischen Merkurius" für einen Monat einstellen. 4 Indes, es erschienen weiterhin Pamphlete und Zeitungsartikel, die den grimmigen Zorn des dem Westen gegenüber allgemein freundlich gesinnten Monarchen hervorriefen. 1708 entstand ein neuer Konflikt mit Hamburg. Die russische Regierung erfuhr nämlich, daß die Schweden für ihre Armee Söldner in Hamburg anwarben. Dorthin wurde nun Fürst B.I. Kurakin gesandt, und zwar mit dem Auftrag, die hamburgische Obrigkeit von der Gesetzwidrigkeit dieser Aktivitäten zu überzeugen. Daraufhin erwiderte der Magistrat, daß der schwedische König Fürst des Deutschen Reiches sei, daß ihm deutsche Territorien unterstünden und man ihm deshalb die Anwerbung von Söldnern nicht verbieten könne, weswegen der Magistrat um gnädige Verzeihung bitte. 5 So wurde Zar Peter immer klarer, daß in deutschen Ländern mit Verboten, Protesten und Sanktionen im Handel und von der Ferne her nichts auszurichten war. Man entschloß sich daher russischerseits zu eine Gegenpropaganda mittels eigener Publikation. Dafür sollte gerade in Hamburg ein zuständiger diplomatischer Vertreter russischer Interessen eingesetzt werden. Laut N . N . Bantys-Kamenskij war der Diplomat gehalten, insbesondere für die „Beobachtung der in Hamburg erscheinenden politischen Schriften" Sorge zu tragen. 6 Wenig später wurde der Auftrag verschärft und dem russischen Vertreter in Hamburg die Aufgabe übertragen, nicht nur über politische Ereignisse in Europa dem Zaren durch schriftliche „Relationen" zu berichten, sondern alle für Rußland schädlichen Nachrichten und Pasquille zu unterbinden. 7 Mit der Erfüllung dieses Auftrags wurde Johann Friedrich Böttiger betraut, den Zar Peter I. in seine Dienste nehmen ließ.

2 Über den Werdegang von Johann Friedrich Böttiger (1659-1739) ist nur wenig bekannt. Seit 1697 wirkte er in Danzig als diplomatischer Agent Sachsens, später, während des wechselvollen Nordischen Krieges, vertrat er dort als Resident das Königreich Polen. 8 Böttiger blieb in Danzig, auch nachdem König August II. von Polen, der Verbündete Peters I., 4

5 6 7 8

Adolf Wohlwill, H a m b u r g während der Pestjahre 1712-1714, in: Jahrbuch der Hamburgischen Wissenschaftlichen Anstalten, 1892,1. Hälfte, H a m b u r g 1893, S. 316 ff.; Recueil des traites et conventions conclus par la Russie. Publ. par F.P. Martens, St-Petersbourg 1890, T. 5, P. 77 f. (Sobranie traktatov i konvencij, zakljucennych Rossijeju s inostrannymi derzavami, H g . F.P. Martens). Recueil (wie Anm. 4), S. 78. Ν . N . Bantys-Kamenskij, O b z o r vneänich snosenij Rossii (po 1800 god), Moskau 1896, Tl. 2, S. 151. Ebd. Repertorium der diplomatischen Vertreter aller Länder seit dem Westfälischen Frieden, H g . F. Hausmann u. a., Zürich 1950, Bd 1, S. 437, 451.

Resident Johann Friedrich Böttiger und die russische Propaganda

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1706 durch die Schweden vom Thron vertrieben worden war. 1709 trat Böttiger in russische Dienste über. Der Danziger Magistrat versuchte allerdings seine Ausreise, wohl mit Rücksicht auf die schwedische Besatzungsmacht, zu verhindern, was jedoch nicht gelang. 9 Bereits am 5. März 1709 hatte Feldmarschall Fürst Alexander Mensikov mit Böttiger einen Vertrag abgeschlossen, demzufolge dieser seinen Dienst als russischer Resident im Niedersächsischen Kreis mit Sitz in Hamburg aufnehmen sollte. Nach zwei Tagen fand die „Praesentatio credentialis" statt. 10 Darüber berichtete die Zeitschrift »Die Europäische Fama": „Den 7. Mertz waren 2 Rathsherren bey dem neuen Moscowitischen Residenten, Herrn Bötgern, und hat ihnen derselbe sein Creditiv übergeben; worbey denn zu merken, daß er der erste Resident, welcher iemahls von dem Czaar in Moscau zu Hamburg gewesen ist". 11 Im März 1712 verfügte der Zar, das Amt seines Residenten in Hamburg aus nicht näher bekannten Gründen zu schließen. Böttiger wurde förmlich abberufen, blieb aber in Hamburg, trotz der dort wütenden Pest, und setzte seine Berichterstattung über die schwedischen Truppenbewegungen fort. 12 Im Januar 1713 näherten sich die Kampfhandlungen der Russen gegen die Schweden Hamburg. Peter selbst hielt sich zwei Tage in der Stadt auf und wohnte im Haus Böttigers (am Jungfernstieg). 13 Am 20. Februar 1713 unterzeichnete der russische Kanzler und Reichsgraf G.I. Golovkin einen neuen Vertrag mit Böttiger, wonach dieser wieder als russischer Resident und Betreuer der Kaufherren im Niedersächsischen Kreis (als „Commercien-Rat") fungieren sollte. 14 Wir wissen, daß Böttiger in guten Beziehungen zu Vizekanzler Baron P. P. Safirov stand und seine Tochter Anna den damaligen russischen Residenten in Dänemark und späteren Kanzler Rußlands, Aleksej Petrovic Bestuzev-Rjumin, zum Manne hatte. 15 Nach acht Jahren, am 30. März 1731, wurde Böttiger von seinem Posten abberufen und am 29. April wieder nach Danzig beordert. Jedoch Böttiger kam der Aufforderung nicht nach und blieb in Hamburg. Die Folge war, daß er unter Zuwendung einer einmaligen bescheidenen Prämie von 3 000 Rubel vom russischen Dienst suspendiert wurde. Neuer russischer Resident in Danzig wurde sein Schwiegersohn Bestuzev-Rjumin. 16 . Am 24. Mai 1731 wurde Böttiger von Kaiser Karl VI. in den Adelstand erhoben. 17 Wahrscheinlich hatte er bereits vorher die russische Adelswürde erworben, begann er doch schon seit 1721 auf Titelblättern seiner Veröffentlichungen seinem Namen den Adelspartikel „von" zuzusetzen (siehe Anhang). Am 19. August 1739 ist Böttiger in Hamburg als Achtzigjähriger gestorben. 18 Im Nachschlagewerk von N.N. Bantys-Kamenskij wird allerdings erwähnt, daß er 1730 bereits 75 Jahre alt 19 gewesen sein soll. Jedoch wird man bei dem Geburtsjahr 1659 bleiben müssen. Bantys-Kamenskij (wie Anm. 6), S. 151; Pis'ma i bumagi Petra Velikogo, Bd 11, Lieferung 1, Moskau 1962, S. 15, Bd. 12, Lieferung 1, Moskau 1975, S. 439 f. 10 Bantys-Kamenskij (wie Anm. 6), S. 151; Repertorium (wie Anm. 8) S. 414. ' 1 Die Europäische Fama, welche den gegenwärtigen Zustand der vornehmsten Höfe entdecket, Tl. 99,1710, S. 216. 12 Bantys-Kamenskij (wie Anm. 6), S. 151; Pis'ma i bumagi Petra Velikogo, Bd. 12, Lieferung 1, Moskau 1975, S. 152 f., 439. 13 Pochodnyj zurnal [Petra I] 1713 goda, St. Petersburg 1854, S. 2; Wohlwill (wie Anm. 4) S. 315. 14 BantyS-Kamenskij (wie Anm. 6), S. 151. 15 B. v. Köhne, Berlin, Moskau, St.Petersburg 1649 bis 1763, Berlin 1882, S. 121. 16 Bantys-Kamenskij (wie Anm. 6), S. 156. 1 7 Stammbuch des blühenden und abgestorbenen Adels in Deutschland, Bd. 1, Regensburg 1860, S. 144. 18 Listen der bis 1870 in Hamburg residierenden sowie der Hamburg in Ausland vertretenden Diplomaten und Konsuln. Zusammengestellt von Johann Martin Lappenberg/ Christian Mahlstedt, Masch. Ms., Hamburg 1969, S. 114. Auch an dieser Stelle sei für freundliche Hinweise den Mitarbeitern des Staatsarchivs Hamburg, insbesondere Herrn Dr. Peter Gabrielsson, herzlichst gedankt. 19 BantyS-Kamenskij (wie Anm. 6), S. 156. 9

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Michael I. Fundaminski

3 Die frühesten uns bekannten Publikationen Böttigers stammen aus dem Jahre 1711. Während Rußland in Nordeuropa im Krieg um die Ostsee gegen Schweden bereits jahrelang im Kampfe stand, zog 1711 die Türkei ihre Streitkräfte zusammen, um im Verein mit den ukrainischen Kosaken im Süden gegen Peter die Kriegshandlungen zu eröffnen. Die militärische Lage Rußlands im Süden war auch für die Nordeuropäer von Belang. Im Juli 1711 erschien in Hamburg eine Flugschrift, 20 die über die Erfolge der Feinde Rußlands berichtete und dazu angetan war, die neuerlich wiederhergestellte Nordische Allianz gegen Schweden aufzuweichen. So machte es sich erforderlich, die Gerüchte von Rußlands angeblicher Schwäche entschieden zu widerlegen. Demgemäß veröffentlichte der russische Resident Böttiger einige Briefe (in einem Sammeldruck), die russische und polnische Feldherren an ihn nach Hamburg anscheinend zur weiteren Verbreitung zugesandt hatten (siehe Nr. 1. von Böttigers Schriftenverzeichnis im Anhang). In der Briefsammlung war vom Einmarsch der russischen Armee in die türkische Provinz Walachei die Rede. So brachte die Copia, eines Schreibens von dem Grafen Sieniawski, Castellan von Cracau f...] aus dem Feldlager zu Naklo [...] (Nr. 2) eine Mitteilung von der Schlacht am Pruth, die als ein Sieg des Feldmarschalls B.P. Seremetev dargestellt wurde. Nach dieser ersten kurzen Nachricht ließ Böttiger die Ausführliche Relation, von der großen Victorie, über [...] die Türken befochten in zwei Sprachen, Deutsch und Französisch, gleichlaufend (Nr. 3) drucken. Diese Relation hat Peter I. seinem Sohn Aleksej, der damals in Wolfenbüttel bei seiner Braut weilte, geschickt. Als Gegendrucke ließen hamburgische Anhänger Schwedens zwei Schriften in Umlauf setzen unter den Titeln: 1. Nähere Relation und ausführlicher Bericht von der den 10/21 Jul. am Fluss Pruth vorgegangenen Action und darauff erfolgten Friedens zwischen der Ottomanischen Pforte und denen Moscowitem, samt beigefügten FriedensConditionen. Alles aus authentiiquen Briefenn hoher Potentaten zu Constantinopel residirenden Ministrorum exstrabiret", und 2. „Die durch verschiedene authentique Extract-Schreibens des Königlichen Schwedischen zu Constantinopel residirenden Envoyees confvrmirte Victoria abseithen der Türcken gegen die Moscowiter beym Fluss Pruth erhalten; unter denen innen benandten Datis,21 Beide Relationen enthalten eine schwedisch-türkische Version von den Pruth-Ereignissen. Man bemühte sich also auf beiden Seiten, die öffentliche Meinung der hamburgischen Hanseaten für sich zu gewinnen. Böttiger erwiderte mit dem Wahrhaftigen Journal und Relation, von demjenigen was zwischen der Armee von Se. Czaar. Maj. undder Türkischen seit dem 30. Maiist. v. 1711 passiert. [...], die in zwei Ausgaben (französisch und deutsch) gedruckt wurden (Nr. 4 und 5). Das , Journal" ist deshalb wichtig, weil es über eine Episode des im allgemeinen für Rußland keineswegs erfolgreichen Pruthfeldzugs berichtet. Es war die Kavalleriestreife unter General Karl Ewald v. Roenne zu den Donaumündungen, die den Ausgang des Krieges mit der Türkei beeinflußt hat. Böttiger wiederholte dabei eigentlich nur die Mitteilungen des russischen Botschafters in Berlin, des Grafen A. G. Glovkin, der das, Journal" von seinem Vater, J. G . Golovkin, erhalten hatte. Ähnliche Publikationen wurden auch in Dresden und Wien veröffentlicht. 22

20

Ausführliche Relation von des Grossen Tartar-Chans ausgeführten Expeditionen in Russland; desgleichen von des Circassischen Sultans Streiffereyen wie auch Eroberung unterschiedener Städte in der Ukraine, durch den Woywoden Potocky, und Cassackischen Feld-Herrn O r l i c k y , etc. - H a m b u r g 1711. (Diese Broschüre ist in der Russischen Nationalbibliothek von St. Petersburg vorhanden. V g l . R . Minzloff, Pierre le Grand in le litterature etrangere, St.Petersbourg 1872, S. 326 f.)

21

M i n z l o f f (wie A n m . 20), S. 324 f.

22

Ebd., S. 322 f.

Resident Johann Friedrich Böttiger u n d die russische Propaganda

51

Daraus wird ersichtlich, daß alle russischen Diplomaten in den deutschen Landen, nicht nur Böttiger in Hamburg, - gehalten waren, Propaganda für die aufsteigende Großmacht Rußland auch durch Druckerzeugnisse zu betreiben. Es waren sehr aktuelle Interessen im Spiel, denn der Krieg zwischen Schweden und Rußland war noch nicht endgültig entschieden, die Stellung der deutschen Staaten daher für beide Seiten wichtig. Bald aber kam es zu einem Ereignis, das zeigt, wie fremd es den Russen noch war, sich an die Spielregeln zu halten. Als Peter I. im Jahre 1713 mit seinen Truppen in die N ä h e von Hamburg gelangte, erhob er massive Forderungen an den Magistrat. Nach seinem Empfinden seien die russische Nation und die Person des Zaren von hamburgischen „Gazettieren" verunglimpft worden. Und da vor einigen Jahren in den Zeitungen eine „schreckliche Lüge" gedruckt wurde, weswegen der Zar die Bestrafung des Autors bzw. seine Auslieferung erfolglos gefordert hatte, also keine Genugtuung erhalten habe, so verlange er nun von der Freien Hansestadt 400 000 Reichstaler als Kompensation. Obwohl es keinen Krieg zwischen Rußland und Hamburg gab und die dortigen Zeitungen nicht dem Magistrat unterstanden, erklärte sich Hamburg angesichts der vor der Stadt stehenden russischen Truppen einverstanden, eine geringere, wenngleich beträchtliche Summe von 200 000 Talern an den Zaren zu bezahlen. Im Juni 1713 wurde die entsprechende Konvention mit Feldmarschall Mensikov in Wandsbeck unterzeichnet. 23 Man kann sich leicht vorstellen, wie verheerend sich diese Erpressung des Zaren auf die Beziehungen der deutschen Lande zum Zarenreich auswirkte. Es war daher keineswegs verwunderlich, daß 1713 in Hamburg erneut zwei proschwedische Flugschriften erschienen, die zugleich auch die Türkei favorisierten: die Copia der Universalien, [. . .] in welchen der Gross-Sultan die Ursachen der neuen Ruptur mit dem Moscowitischen Czaaren vorstellet, und die Wahrhafte und umbsändliche Relation von dem jenigen was im nächstverwichenen Januarii und Fehruarii Monathe mit Ihro Königl. Majestät zu Schweden bey Bender vorgefallen.24 Die meines Wissens einzige prorussische Stellungnahme ist bezeichnenderweise anonym in Hamburg gedruckt und in der „Europäischen Fama" wiederholt worden. Es handelt sich um den Druck der merkwürdigen lateinischen Inschrift „Petrum. Magnum. Victorum. Victorem. Maximum. Inter. Mortales. Moscorum. Imperatores. Semper. Immortalem. Vivae. Apotheosi. Haud. Sacer. Sacer. Sacrat. Consecrat. Bartholdus. Feindius. Hamburg. J.U.L. [?]" Darauf folgt in der „Europäischen Fama" ein lateinisches Gedicht, wo die Taten des Zaren klassizistisch, olimpisch-göttlich stilisiert wurden. Hier ist die „Verdeutschung" des Gedichtes, die ebenfalls, offensichtlich für einen größeren Kreis deutscher Leser, in der „Europäischen Fama" nachgedruckt wurde: Als Mars den grossen Czaar das Schwerdt sah blitzend führen, Erschrak er, dacht, er sah selbst Zevs die Keile rühren, Und sprach: Der Donner-Gott zeigt, wie ich kriegen soll, Ich geb ihm willig nach, und geh vom Sternenpol. Er muß mit grösserm Recht am Firmamente siehen; Sein Schwerdt sey Kriegs-Planet, und Mars muß untergehen Hamburg! mense Febr. MCCXIII. 25

23

24 25

Bantys-Kamenskij (wie A n m . 6), S. 151 f.; Recueil (wie A n m . 4), S. 79 ff.; Wohlwill (wie A n m . 4), S. 320ff.; C h r . Fr. Menke, Die politischen u n d diplomatischen Beziehungen zwischen R u ß l a n d u n d den Hansestädten im 18. u n d f r ü h e n 19. Jahrhundert, in: Hansische Geschichtsblätter 81(1963), S. 41 f. Minzloff (wie A n m . 20), S. 329. Die Europäische Fama (wie A n m . 11), 1713, Tl. 145, S. 69.

52

Michael I. Fundaminski

Diese Zeilen kündigten den gebildeten deutschen Kreisen eine Apotheose auf den Zaren Peter I. an. Man darf wohl vermuten, daß diese ziemlich mittelmäßigen Texte Böttiger selbst verfaßt oder angeregt hat. Aber allmählich bemächtigten sich andere Aktualitäten der Bühne. Im Dezember 1715 gab der Resident Böttiger in seinem Hause ein üppiges Fest mit einer Illumination, die ja auch das gemeine Volk als russisches Prachtstück bewundern sollte. Anlaß für diese Festivität war die Geburt des Enkels Peters I. (des späteren Zaren Peter II. - M.F.). Gefeiert wurde zugleich auch die Geburt des Sohnes Peters I. und seiner zweiten Gemahlin Katharina (der späteren Kaiserin Katharina I. - M.F.), ebenfalls Peter genannt. Zu diesem Doppelfest dichtete Böttiger eine Ode: Rußlands erfreulicher Glücks-Wechsel. (Nr. 6) Der Text wurde auf weißer Seide, vermutlich in wenigen Exemplaren, höchst sehr schön gedruckt. Diese Rarität habe ich in bestem Zustand in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel aufgefunden, war doch der junge Prinz, der Enkel Peters I., auch ein Verwandter der Herzöge von Braunschweig-Wolfenbüttcl. Es dürfte der erste Druck gewesen sein, bei dem Böttiger nicht nur als Herausgeber, sondern auch als Autor, nämlich als Dichter offiziell in Erscheinung trat. Nicht immer ließen sich die Geschäfte des Residenten poetisch verbrämen. So hat Böttiger sich 1716 bei der Festnahme eines „kosakischen G r a f e n " namens Vojnarovskij auf deutschem Boden und dessen Auslieferung nach Rußland hervorgetan. Wie gefährlich dieser Mann der russischen Regierung vorgekommen sein mag, läßt sich schon daraus folgern, daß der „kosakische G r a f " ein Neffe des ukrainischen Hetmans Mazepa, des Verbündeten des Schwedenkönigs Karl XII., war. 26 N o c h Jahre später war der Fall Andrej Vojnarovskij von gesellschaftlichem Interesse. In Rußland hat Kondratij F. Ryleev, der hingerichtete Dichter-Revolutionär, ihm ein Poem gewidmet, in dem das Schicksal seiner Familie in der sibirischen Verbannung geschildert wurde. Adalbert von Chamisso hat das Poem ins Deutsche übertragen. 27 Böttiger hat für diese für das Ansehen Rußlands nicht gerade rühmliche Aktion als Dank von Peter bei dessen zweitem Besuch in Hamburg eine Rente von 500 Rubel jährlich gnädig zugesagt bekommen. Allerdings wurde dieses Versprechen nicht gehalten. 28 Im Jahre 1717 veröffentlichte Böttiger einen Aufruf Peters I. an die europäischen Kaufleute. Der Zar suchte diese zu ermuntern, sich am persischen Seidenhandel über Rußland nach Westeuropa zu beteiligen. (Nr. 7) Diesen Aufruf habe ich nicht gefunden; er wird aber im „Memorial" des „rußlandschen Kammerrats" Heinrich Fick unter dem Jahr 1720 erwähnt. 29 Anscheinend im Bemühen, die Kaufleute und Reeder zu gewinnen, wurde Ende Mai

1719 die Declaration wegen des Freyen Comercii in der Nord- und Ost-See (Nr. 8) durch Böttiger veröffentlicht. Diese Erklärung sollte einerseits Rußlands Bestreben, den Freihandel zu fördern, bezeugen, andererseits aber die freie Fahrt für britische und holländische Kriegsschiffe in der Ostsee verhindern. Um Schweden zu zwingen, mit Rußland Frieden zu schließen, hat die russische Flotte zur selben Zeit mehrere Angriffe gegen die schwedischen Ostseeküsten unternommen. In diesem Zusammenhang hat Böttiger am 19. Juni

1719 die Relation 26

von der Victorie, welche der Capitain-Commandeur

Hr.

Naum

Diese Geschichte ist ausführlich in der Zeitschrift „Die Europäische F a m a " (wie Anm. 11), Tl. 1 9 4 , 1 7 1 7 , S. 1 3 5 - 1 4 1 erzählt.

27

C . D . Seemann, Adalbert von Chamissos Beziehungen zur russischen Literatur, in: Zs. für slavische Philologie, Bd. 21, Heidelberg 1963, S. 1 0 1 - 1 0 4 .

28

Bantys-Kamenskij (wie Anm. 6), S. 152 f 157.

29

A.R. Cederberg, Heinrich Fick, Ein Beitrag zur russischen Geschichte des X V I I I . Jahrhunderts. Dorpat 1930, S. 102; vgl. auch Doerries (wie Anm. 3), S. 105.

Resident Johann Friedrich Böttiger u n d die russische Propaganda

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Synawin wider schwedische Krieges-Schiffe befochten (Nr. 9) veröffentlicht. Dies war wahrscheinlich seine letzte Publikation über Kampfhandlungen. Übrigens wird er 1719 in den Schriften zum ersten Mal als „Hofrat" tituliert. Im August/September 1721 wurde endlich der Friedensvertrag zu Nystad unterzeichnet. Alle russischen Diplomaten im Ausland sollten dieses Ereignis an ein und demselben Tag feiern. Zu diesem propagandistischen Zweck erhielt jede Mission (und damit auch Böttiger) 2 000 Rubel. 30 Darüber, wie dieses Fest in Hamburg gefeiert wurde, berichtete die Zeitung „Hollsteinischer Correspondent" ausführlich: „In Hamburg hat gestern, als am 2ten dieses, der Russische Resident, Hr. von Böttiger, wegen des getroffenen Friedens zwischen Moscau und Schweden, ein herrliches Festin gegeben, welche Lustbarkeit Abends um 7. Uhr angangen, und die gantze Nacht durch gedauert, und hat Er mehr als 60 Personen von Condition, worunter der Hr. Burgermeister Sylm und der Raths-Herr Sunderland mit eingeladen waren, tractiret, und war dessen Behausung gantz illuminiret, wie dan auch das auf der Aelster aufgerichtete Lust-Feuerwerk des Nacht um 1. Uhr zum grossesten Vergnügen derer eingeladenen vornehmen Gäste angezündet wurde; und hat gedachter Hr. Resident auch einige Orhoffe rohten und weissen Wein, um diese Lustbarkeit so viel ansehnlicher zu machen, unter denen Leuten laffen lassen".31 Das Ende des Krieges zwischen Schweden und Rußland würdigte Böttiger auch in drei Schriften: So veröffentlichte er den Friedens-Tractat (Nr. 10), dann eine Relation über die Festlichkeiten in St. Petersburg (Nr. II) 3 2 und schließlich ein eigenes Lobgedicht, betitelt Die grossen Thaten des Aller-Durchlauchtigsten, Grossmächtigsten Kaisers, Gross-Czam und Herrn Petrus Alexowitz des Grossen etc. (Nr. 12) Uber die letzterwähnte Schrift äußerte sich R. Minzloff: „ [ . . . ] L'Auteur a depasse toutes les bornes de l'adulation la plus basse". 33 Eine solche Lobhuldelei war damals nichts Ungewöhnliches. Wichtig für das russische Ansehen in der Welt war die Titulatur Peters I. So wird der Zar bereits 1721 zum ersten Mal ,Imperator' genannt, und eine Motivierung für die neue Titulatur gegeben. Die eigene Aufwertung Peters rief im Ausland erneut eine Reihe kritischer und polemischer Schriften hervor, und die russischen Diplomaten mußten viel Mühe aufbringen, um den neuen Titel zu verbreiten. 34 Um Böttigers und zugleich Hamburgs wichtige Rolle bei der Anerkennung des russischen Kaisertitels im Ausland berichtete im Frühjahr 1722 die in St. Petersburg erscheinende Zeitung „Vedomosti". Es heißt dort: „Nach den mehrmaligen Bemühungen" des russischen Residenten hat der Hamburger Magistrat zugestimmt, den russischen Zaren als Kaiser anzuerkennen, und verordnet, in den periodischen Druckschriften überall, wo es sich um Peter handelt, diesen Titel anzuführen. 3 5 Das war bestimmt eine propagandistische und diplomatische Errungenschaft Rußlands vor allem in Hamburg, die mehrere Aktivitäten seitens des russischen Residenten erforderte. Für den Zeitraum 1722-1723 ist bislang keine Publikation Böttigers bekannt geworden. 30

31

32

33 34 35

L.A. Nikiforov, Vnesnjaja politika Rossii ν poslednie gody Severnoj vojny. Nistadskij mir, Moskau 1959, S. 477. „ S t a a t s / G e l e h r t e u n d ordentl. Zeitung Des Hollsteinischen unpartheyischen C o r r e s p o n d e n t e n " , 1721, N r . 55 von 4. N o v e m b e r . Diese „Relation" w u r d e mit einigen K ü r z u n g e n auch im „Holsteinischen C o r r e s p o n d e n t " (1721, N r . 61 von 25. November) veröffentlicht. Minzloff (wie A n m . 20), S. 358. P.P. Pekarskij, N a u k a i literatura ν Rossii pri Petre Velikom, St. Petersburg 1862, Bd. 2, S. 429-*33. Ebd., S. 589.

54

Michael I. Fundaminski

Erst 1724 hat Böttiger eine Publique Declaration über den Paquet-Booten-Verkehr zwischen Kronstadt und Lübeck, wie es hieß, „durch den Druck bekannt gemacht". (Nr. 14) Die Hansestädte Lübeck und Bremen, die damals auch zum Niedersächsischen Kreis gehörten, unterhielten ihre Kontakte zu Rußland über den Residenten Böttiger. Von politischem und propagandistischem Belang war ebenfalls die durch Böttiger verbreitete Nachricht über die Krönung Katharinas I. als Kaiserin von Rußland. (Nr. 13) 1726 erschien in Hamburg der Panegyrikus auf den 1725 frühzeitig verstorbenen Peter I., unter dem Titel: Lacrymae Roxolanae, seu de obitu Petri Magni, brevis narratio. Diese Würdigung wurde von Erzbischof Feofan Prokopovic verfaßt und zuerst in Reval gedruckt. Aber in Hamburg wurde diese Schrift wegen ihrer „besonderen und bishero noch unbekannten Umstände, auch schönen Einrichtung" ins Deutsche übersetzt und unter

dem Titel Rußlands Thränen, oder Kurtze Nachricht zum Tode Petri des Grossen, Kaysers über gantz Rußland, samt zweyen zu des verstorbenen Kaysers Lobe gehaltenen Reden veröffentlicht. Beide Schriften sind beim Verleger Johann Georg Piskator gedruckt worden. 36 Böttiger hatte in den gleichen Jahren öfters diese Druckerei benutzt, und es liegt nahe anzunehmen, daß er auch diese Publikation nicht nur vermittelt, sondern vielleicht selbst übersetzt hat. 1728 erschien anläßlich der Kaiserkrönung Peters II. Böttigers Lobgedicht unter dem Titel: Das frohlockende Rußland. (Nr. 15) Gleichzeitig veröffentlichte Böttiger die Beschreibung des Festes mit der Illumination, das in seinem Hause und im Hamburger Opernhaus anläßlich dieser Koronation stattgefunden hat. (Nr. 16) Gesondert wurde der dramatische Prologus gedruckt, auf des Residenten Bestellung von C . G . Wend gedichtet, vom Komponisten G.Ph. Telemann vertont und während des Festes im Theater aufgeführt. (Nr. 17) In einer Anmerkung zum Lobgedicht erinnert Böttiger daran, daß schon die Geburt des künftigen Kaisers 1715 von ihm „in einem gegebenen Freuden-Festin und einer darauf zielenden Illumination nicht nur allerunterthänigst gefeiert, sondern auch in einem poetischen allergetreuesten Glückwunsch: Rußlands erfreulicher Glücks- Wechsel betitelt," seine „darob geschöpfte Freude am Tage gelegt" wurde. Jene Festlichkeit könnte in Hamburg noch in Erinnerung geblieben sein, Böttiger mochte aber damit Erkenntlichkeit seitens des jungen Kaisers nahegelegt haben. Peter II. ist bekanntlich aber bereits 1730 gestorben. Im selben Jahr bestieg den Thron Rußlands Anna Jvanovna, eine Tochter Ivans V., des Halbbruders Peters I. Mit diesem Ereignis ist die letzte wohl imposanteste Schrift Böttigers verknüpft: Seine „Ausführliche Relation" über das von ihm in Hamburg besonders üppig zelebrierte Fest anläßlich der Krönung der neuen Kaiserin Anna. (Nr. 18) In ihr berichtet Böttiger, daß im Hamburger Opernhaus die „ganz neu geschriebene und komponierte prächtige Opera, Margaretha, Königin in Castilien (so aber auff eine russische Historie zielet) genannt, und vor derselben ein musicalisches Prologus" aufgeführt wurde. Im Opernhaus und auch vor und gegenüber dem Wohnsitz des Residenten wurden Illuminationen, die der hamburgische Schriftsteller und Autor von Feuerwerksprojekten, Thomas Lediard 37 entworfen hatte, veranstaltet. Die Beschreibung der Illuminationen und die großen Kupferstiche von Christian Fritzsch bilden zusammen den Hauptteil der Prachtausgabe. In Wolfenbüttel habe ich zwei Exemplare dieser Schrift gesehen. Beide haben noch die schönen Verlagseinbände. In diesem propagandistisch konzipierten Buch erweist sich

36 37

Minzloff (wie Anm. 20), S. 448 f. Über Th. Lediard vgl.: H. Schröder, Lexikon der hamburgischen Schriftsteller, Bd. 4, Hamburg 1866, S. 395-397.

Resident J o h a n n Friedrich B ö t t i g e r und die r u s s i s c h e P r o p a g a n d a

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5 -

Glocken Läuter und

Zechowie87

781 -

Rasnotscbinzi88

494 -

Bauren und Beysaßen89

72 -

Jamschtschiki90

141 -

Tataren —

die in D i e n s t e n stehen

die Jasak

Bucharen

bezahlen

17 24 51 Summa

82

86 87 88 89

-

17 H ö f f e -

Sänger Posadzki86

21 / 8 r /

3102 Höffe.

russ.flßopHHHH- Adeliger; „Dworjanin . . . ist eine Art von Adel, die den Patricien in Teutschland beykommt. In Rußland und Sibirien schreiben sie sich von den Städten, darin sie Dworjanins sind . . . Sie bezahlen an die Krone keine Abgaben, sondern empfangen gemeiniglich einen Sold von derselben, sind aber verbunden sich zu Verschickungen in Gesandtschaften, und zu allerley bürgerlichen Bedienungen, als bey den Zöllen, als Amtleute, als Woiwoden gebrauchen zu lassen Dieti bojarskie heißen eigentlich der Bojaren Kinder. . . . Diese sind etwas geringer, aber ebenfalls als Bediente der Krone anzusehen, die dieselbe nicht weniger zu Verschickungen und zu geringen Bedienungen in den Städten und auf dem Lande gebrauchet." (Johann Georg Gmelin: Reise durch Sibirien . . . Bd. 2. Göttingen: Vandenhoeck, 1752, S. 140-141). russ. fleTH öoapcKHe (Ez. c m öoflpcKHH) - Adelige untersten Ranges; der Rang war ursprünglich erblich, wurde in Sibirien aber auch nach Verdienst verliehen; s. auch Anm. 82. russ.flbHHOK- Vorsänger, Küster, auch Schreiber russ. riOHOMapb - Kirchendiener, Küster russ. nocancKOH - Bewohner einer Vorstadt (riocafl) russ. iiexoBoft - Zunftangehöriger russ. pa3HOHHHeij - abgabenfreier, weder einer Gilde noch Zunft angehörender Nichtadeliger Beisassen - „ . . . im Mittelalter Personen, die nicht im Besitze der vollen Bürgerrechte waren." (Der Große Brockhaus. 15. Aufl. Bd. 2. Leipzig: Brockhaus, 1929, S. 473).

92

Wieland H i n t z s c h e / T h o m a s Nickol

Von diesen Privat Wohnungen liegen die Tatarische / und Buckarische Häußer alle beysam fm] en in einer ge= / doppelten Reyhe längst dem Irtisch von der Mündung / des Kurdumka an biß fast an das Snamenskische Klo= / ster. Dabey sind zwey Metscheten91 zu Verrichtung / des Mubammedanischen Gottes Dienstes. Imgleichen / liegen die Häußer derJamschtschiken auch beysam f m] en, / und zwar an dem Ende der untern Stadt zu oberst / am Irtisch. Mann nen fn] et daher jene die Tatarische- / und diese die Jamskoi Slobode Uberhaupt ist von der untern Stadt zu sagen, daß / dieselbe sehr enge gebauet ist, sonderlich nahe am Marckte, / und am meisten in der Tatarischen Slobode, daher die / Feuers-Brünste daselbst sehr gefährlich sind; Man hat / auch schon zu verschiedenen mahlen den Schaden davon / mit Nachdruck erfahren und da die größeste Feuers- / Brünste jedesmahl bey denen Tataren ausgekom fm] en / so ist schon öffters vorgeschlagen, ja von Moßcau aus / der Befehl geweßen, denenselben außerhalb der Stadt / in einiger Entfernung auff dem Felde einen eigenen / 8ν / Ort zu ihren Wohnungen anzuweißen. Weil aber / die Tatarische= und Bucharische Einwohner zu Tobolsk sich / mehrentheils von der Handlung nähren, und ihnen folgl f ich] / daran gelegen ist, in der Nähe zu wohnen, so haben / sie obbesagte Veränderung jederzeit zu hintertreiben / gesucht, daß es auch biß auff den heutigen Tag dabey / geblieben ist. An der Mündung des Kurdumka ist zur Som fm] ers / zeit die gewöhnliche Anfahrt derer Kauffardey 3 Fahr= / Zeuge und anderer die in Cron angelegenheit an= / kom fm) en und abgehen. Daher ist daselbst von dem / Marckte an biß an den Irtisch eine bequeme Brü= / cke geschlagen. Wie denn auch übrigens die meisten / Straßen so wohl in der untern als obern Stadt / in denen letzten Jahren gut bebrückt worden, / anstatt daß vor dem nur einige Haupt-Straßen / diese bequemlichkeit gehabt, welche um so viel nöthiger / ist, als vor dem zur Frühlings= und Herbst-zeit son= / derlich in der untern Stadt, da die Gegend et= / was morastig ist, an etlichen orten Kaum durch= / zukom fm] en geweßen. Auff dem gegenseitigen Ufer des Irtisches der / untern Stadt gegen über stehen auch noch 15 Proviant- / anbaren, sonst aber keine Wohnungen. Man hat im Som fm] er bey Tobolsk eine gedoppelte / Uberfahrt über den Irtisch. Die erste und nächste / ist ohnweit oberhalb der Jamskoi, und führet den / Nahmen κρβπβτHHKOB n e p e B 0 3 T > , weil ehemahls daselbst / auff dem Westlfichen] Ufer des Irtisches einige Tatarische / Wohnungen gestanden, die Kretschatnikowi jurti / geheißen. Die andere ist 5 Werste von der Stadt den / 9r / Irtisch auffwerts, und wird n e p e B 0 3 noflHyBaIIIOM ge= / nan fn] t, weil daselbst das hohe Land, welches sich zu Tobolsk / in etwas von dem Irtisch entfernt, wieder den Fluß / erreichet, und eine Land Ecke formiret, die von Alters / her im Tatarischen den Nahmen Tschuwasch führet; / der ersten Uberfahrt bedienet man sich auff dem Wee= / ge nach Tümen, der andern auff dem nach Tara.

3 90 91

Kauffa rde y verbessert aus

K a u f f a hrenden

russ. »MiipiK - Fuhrmann russ. MeneTb - Moschee russ. cnoöofla - Vorstadt, nahe bei einer Stadt gelegenes Dorf

Eine Topographie der Stadt Tobol'sk von Gerhard Friedrich Müller

93

Oben auff der Land Ecke Tschuwasch sind noch Spu= / ren zweyer alten Tatarischen Verschantzungen zu se= / hen. Man sagt daß an dem orte wo in der Festung / zu Tobolsk die große Cathedral Kirche stehet, / gleichfalls vor Alters eine Tatarische Festung gewesen. / Von selbiger aber ist nichts mehr zu sehen. Panin / bugor93 nennet man eine Gegend des hohen Landes / zu Tobolsk, auff der Südl [ichen] Seite des Baches Kur= / dumka allwo die zu Tobolsk in der Gefangen= / schafft gewesene Schweden ihren Begräbniß Platz / gehabt. Die Autoren danken Herrn Prof. Dr. Hermann Goltz, Martin-Luther-Universität HalleWittenberg, für wertvolle Hinweise.

"

russ. 6yrop - Hügel

PETER H O F F M A N N , N A S S E N H E I D E BEI B E R L I N

Anton Friedrich Büsching als Schuldirektor in St. Petersburg

Im Leben Anton Friedrich Büschings gehen die vier Jahre 1761 - 1765, die er als Pastor und Schuldirektor in St. Petersburg verbracht hat, als relativ gut erforscht, vor allem, da er selbst in verschiedenen Publikationen 1 ausführlich über diese Zeit berichtet hat. Zwar war in Petersburg, wie Friedrich Gedike, sein Nachfolger als Direktor des Berlinischen Gymnasiums zum Grauen Kloster, in seinen „Erinnerungen an Büschings Verdienste" bereits 1795 festgestellt hat, „das Schulamt eigentlich nur Nebensache. Er war eigentlich als [zweiter] Prediger der dortigen deutschen Gemeine der Peterskirche berufen worden." 2 Aber gerade diese „Nebensache" sollte für Büschings weiteres Leben von größter Bedeutung werden und wird deshalb im folgenden im Mittelpunkt stehen. Büschings Wirken an der von ihm aufgebauten „Schule der Sprachen, Künste und Wissenschaften bei der evangelischen St. Peterskirche in St. Petersburg" begründete seinen Ruf als fortschrittlicher Pädagoge. Diesen Beitrag in die vorliegende Festschrift einzufügen, erhält seine Begründung durch die Tatsache, daß der zu ehrende Jubilar den Autor zu Beginn der fünfziger Jahre erstmals auf Büsching als einen wichtigen Mittler deutsch-slawischer Wechselseitigkeit in der zweiten Hälfte des 18. Jh.3 hingewiesen hat. *

Uber die Biographie Büschings selbst soll hier nicht eingehender berichtet werden. Wichtige Angaben und Rahmendaten sind aus seiner eigenen Lebensgeschichte, einschlägigen Handbüchern und einigen Aufsätzen zu entnehmen. 4 Über die Petersschule - so die Schreibweise bei Büsching, in späterer Zeit hat sich die heute in der Literatur dominierende Schreibweise Petrischule durchgesetzt - gibt es eine recht umfangreiche - wenn auch vielfach nur schwer zugängliche - Literatur. 5 Verschiedene neue Materialien - veröf1

Vgl. A.F.Büsching, Allgemeine Nachricht von den evangelisch-lutherischen Gemeinen und Kirchen in Rußland, Königsberg o. J. (1764 - Separatdruck aus Gelehrte Abhandlungen und Nachrichten aus und von Rußland, geliefert von der Schule der evangelischen S. Peterskirche zu S. Petersburg, 2. Stück, Leipzig 1765); ders., Geschichte der evangelisch-lutherischen Gemeinen im Russischen Reich, Teil I, II, Altona 1766, 1767; ders., Eigene Lebensgeschichte (= Beyträge zu der Lebensgeschichte denkwürdiger Personen, insonderheit gelehrter Männer, Teil VI), Halle 1789. 2 F. Gedike, Erinnerungen an Büschings Verdienste um das Berlinische Schulwesen, Berlin 1795, S. 3 f. ' G. Mühlpfordt, Ein deutscher Rußlandkenner des 18. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Beiheft 1, Berlin 1954, S. 40 ff. 4 Büsching, Eigene Lebensgeschichte, weiterhin: Slawistik in Deutschland von den Anfängen bis 1945. ein biographisches Lexikon, Bautzen 1993, S. 79 f.(mit Literaturverweisen); neuerdings: P. Hoffmann, Anton Friedrich Büsching als Schuldirektor in St. Petersburg und in Berlin, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 42 (1994,5), S. 389 - 398; ders., Eine Privatbibliothek im Berlin des 18. Jahrhunderts. Die Büchersammlung Anton Friedrich Büschings, in: Marginalien. Zeitschrift für Buchkunst und Bibliophilie 135 (1994/III), S. 31 - 3 6 . 5

Vgl. die Literaturangaben bei R. Tuchtenhagen, Bildung als Auftrag und Aufgabe. Deutsche Schulen in St. Petersburg 1704 - 1934, in: Nordost-Archiv. Zeitschrift für Regionalgeschichte, Neue Folge Bd III/1994, Heft 1, S. 65, Anm. 3, S. 70, Anm. 21. Unvollständig die Bibliographie: D. Wende/Margarete Busch/ Kristina Pavlovic, Bibliographie zur Geschichte und Kultur der Rußlanddeutschen, Bd. 1, Von der Einwan-

96

Peter Hoffmann

fentlichte 6 und unveröffentlichte 7 - lassen heute eine vertiefte und ergänzende Darstellung dieser Zeit zu. Diese beiden Quellen sollen hier kurz charakterisiert werden: 1. Die Originale des jetzt veröffentlichten Briefwechsels Büschings mit dem Petersburger Historiker und späteren Moskauer Archivar, Mitglied der Petersburger Akademie der Wissenschaften, Gerhard Friedrich Müller liegen überwiegend in der S. Petersburger Filiale des Archivs der Russischen Akademie der Wissenschaften, von der die Herausgabe unterstützt worden ist. Eine erste Information über diesen Briefwechsel 8 und eine problembezogene Teilauswertung 9 hatte ich bereits in den siebziger Jahren veröffentlicht. 2. Aus dem im Archiv der Universität Göttingen aufbewahrten bisher nicht ausgewerteten Briefen Büschings an Michaelis habe ich einige Angaben über das Leben in Petersburg in der Einleitung zur Edition des Büsching-Müller-Briefwechsels zitiert (S. 24, 28 u. a.), andere Angaben habe ich zur Identifizierung nicht datierter Briefe Büschings an Müller im Anmerkungsapparat benutzt. Die die Petersschule betreffenden Angaben dieser Briefe sollen im folgenden vollständig angeführt werden. Aufgrund der schwer lesbaren Handschrift Büschings wurden diese Quellen bisher zwar mehrfach von Forschern eingesehen, jedoch nicht systematisch ausgewertet. *

Schon bald nach seiner A n k u n f t in Petersburg wurde Büsching angetragen, den Plan seines Vorgängers, des am 2 . / 1 3 . Juli 1760 vertorbenen Pastors Zuckmantel aufzugreifen und die von jenem vorbereitete Reform der Schule bei der Peterskirche zu verwirklichen. Uber diese ersten Anfänge berichtet er in seiner eigenen Lebensgeschichte, daß nach dem Plan meines Vorgängers vier Lehrer vorgesehen waren, ein Lesemeister, der zugleich Organist sein sollte, ein Schreib- und Rechenmeister, der zugleich Kantor war, weiterhin mit Universitätsausbildung ein Konrektor und ein Rektor f ü r den Unterricht in christlicher Lehre, Latein, Französisch und Erdbeschreibung, der Rektor sollte auch Geschichte unterrichten. 10 Büsching fährt dann fort: „Als ich aber diesen [Plan der Schulverbeserungen] zu S. Petersburg in die H ä n d e bekam, gefiel er mir nicht, und ich sah mit Bedauern, daß das neue Schulgebäude für denselben viel zu kostbar, für einen besseren aber unbequem war, und von geliehenem Gelde erbauet wurde, weil man nur ungefähr zehntausend Rubel dazu vorrätig hatte." 1 1 derung bis 1917 (=Schriften des Bundesinstituts für Ostdeutsche Kultur und Geschichte 4), München 1994, zur Petersschule (Petrischule) S. 329. 6 Geographie, Geschichte und Bildungswesen in Rußland und Deutschland im 18. Jahrhundert. Briefwechsel Anton Friedrich Büsching - Gerhard Friedrich Müller 1751 - 1783, Hg. von P. Hoffmann unter Mitwirkung von V.I.Osipov (=Quellen und Studien zur Geschichte Osteuropas XXXIII), Berlin 1995 (weiterhin Angaben im Text: Brief N r . , S.). 7 Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung. Cod. Ms. Michaelis, Briefwechsel, Bd. 2 (weiterhin Angaben im Text: Blatt N r . ; für die Möglichkeit, Fotokopien dieser Quelle einzusehen, bin ich Herrn M. Schippan zu Dank verpflichtet). 8 P. Hoffmann, Ο perepiske G. F. Millera i A. F. Bjusinga, in: Archeograficeskij ezegodnik za 1977 god, Moskau 1978, S. 290 ff. ' P. Hoffmann, Zur Editionsgeschichte von Cantemirs „Descriptio moldaviae", in: Dimitrie Cantemir (1673 - 1723) (»Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften der D D R 13/1973), Berlin 1974, S. 89 - 95. 10 Büsching, Eigene Lebensgeschichte, S. 394; vgl auch: Geschichte der bey der evangelisch-lutherischen St. Peterskirche befindlichen und derselben zugehörigen Schule der Sprachen, Künste und Wissenschaften, in: Gelehrte Abhandlungen und Nachrichten aus und von Rußland, geliefert von der Schule der evangelischen S. Peterskirche zu S. Petersburg, Bd. 1, Teil 1, Königsberg 1764, S. 140. 11 Büsching, Eigene Lebensgeschichte, S. 395.

Anton Friedrich Büsching als Schuldirektor in St. Petersburg

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Büsching, der sich bald intensiver den Schulplänen widmete, fand im Kirchenkonvent für eine Schulreform nach seinen Vorstellungen die notwendige Unterstützung und ging schon bald nach seiner Ankunft in Petersburg an diese neue, zusätzliche Aufgabe. Als Grundlage für seine weiteren Bemühungen schuf er sich ein „Schulkomitee", mit dem er wichtige Fragen beraten konnte. Im Herbst 1761, also wenige Wochen nach seiner Ankunft in der Stadt an der Neva, schreibt er in einem nicht datierten Brief an Müller: „Nächstens werde ich mich bei Ew. Hochedelgeb. im Namen unseres Kirchenkonvents mit einem Ältesten und Vorsteher unserer Kirche einstellen, um sie angelegentlichst zu ersuchen, daß Sie an der Ausarbeitung des Plans unserer Schule gütigst Anteil nehmen mögen." (Brief 100, S. 199) Eine Rolle spielte im Verkehr zwischen Büsching, der bei der Peterskirche auf dem Nevskij Prospekt wohnte, und Müller, der auf der Vasilij-Insel in der 9. Linie sein Haus hatte, die Verhältnisse auf der diese beiden Stadtteile trennenden Neva. Mehrfach ist in den Briefen davon die Rede, daß die Passage, besonders im Frühjahr und im Herbst „zu bedenklich" sei, man also nur Boten mit Briefen über das noch nicht feste Eis schicken könne. Büsching fragt deshalb in einem solchen Fall bei Müller an, ob er am folgenden Tag kommen könne, wenn nicht „so müssen wir die nächste Zusammenkunft bis Morgen über 14 Tage aussetze. Ich bitte, mir Dero Entschließung bekanntzumachen, damit ich die übrigen Herren auf Morgen entweder einladen oder abbestellen könne."(Brief 103, S. 201, undatiert, Nov./Dez. 1761). Im Herbst 1761 bedauert Büsching, daß er „nun wegen weggenommener Brücke" in den nächsten Tagen Müller nicht werde besuchen können aber er übersendet Briefe mit der Bitte, sie unter Adresse der Akademie an Michaelis nach Göttingen zu senden (Brief 102, S. 200). Dann wieder lesen wir in einem aufgrund eines Briefes an Michaelis auf den 12./23. März 1762 zu datierenden Zettel: „Ich hoffe, daß Ew. Hochedelgeb. morgen Nachmittag unsere Schulkonferenz mit Dero Gegenwart beehren werden. Um halb 5 Uhr soll meine Kutsche unten am Galeerenhof für Sie bereitstehen." (Brief 111, S. 206). Neun Tage später erfolgte die nächste Einladung: In dem auf Grund der Erwähnung anderer Ereignisse (Manifest Peters III. vom 21. März a.St. 1762) datierbaren Brief läd Büsching seinen Briefpartner erneut ein: „Ich hoffe darauf, daß Ew. Hochwohlgeb. morgen Nachmittag unsere Schulkonferenz mit Dero Gegenwart beehren werden." (Brief 111, S. 206). Eine weitere Einladung findet sich in einem nur angenähert mit April 1762 datierbaren Brief (Nr. 113, S. 208). Dann wieder gibt es Absagen - so in einem undatierten Brief, der wohl Juni/Juli 1762 einzuordnen ist. Hier lesen wir: „Schulkonferenz kann heute nicht sein, weil ich um 6 Uhr ein Kind beerdigen muß." Es folgt dann der Satz: „Könnten und wollten Ew. Wohlgeb. aber doch um 5 Uhr kommen, so würde es mir sehr lieb sein." (Brief 118, S. 212). 12 Uber die Arbeitsweise dieses Schulkomitees, wie häufig es zusammenkam, welche Fragen behandelt wurden, welchen Einfluß es auf die Entwicklung der Schule hatte, lassen sich keine Angaben finden, wenn man von der Bemerkung Büschings absieht, daß Müller dort sein „bester Beurteiler und Ratgeber" gewesen sei. 13 Eine große Rolle spielten im Leben der Schule auch die von Büsching eingeführten öffentlichen Examina - im März 1764 schreibt Büsching dazu an Müller. „Beehren Sie doch am nächstkommenden Montag unser Schulexamen, welches von 6 - 1 2 dauern wird, mit Ihrer Gegenwart, wenn die Newa es verstattet, u[nd] laden Sie doch Herrn Prof. Fischer in meinem Namen auch dazu ein." (Brief 157, S. 241).

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Büsching, Geschichte der . . . Schule, S. 127 f. Büsching, Eigene Lebensgeschichte, S. 396.

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Die Überlieferung der Briefe von Büsching an Michaelis - die in ihren Aussagen über die Petersschule wichtigste Quelle - ist offensichtlich nur unvollständig. Büsching war am 24. Juli 1761 neuen Stils in Petersburg angekommen, 1 4 der erste vorliegende Brief an Michaelis ist vom 1 6 . / 2 7 . April 1762. Büsching berichtet in ihm ausführlich über seine Bemühungen um die Petersschule: „Ich bin jetzt mit dem Entwurf der neuen Schule in der Gemeine beschäftigt und hoffe zu Gott, daß sie eine wichtige Anstalt werden soll. Der 13. P[unkt] des Entwurfs lautet also: Weil es ein berüchtigter Fehler der bisherigen und meisten Schulen ist, daß in denselben die lateinische Sprache zur Hauptsache gemacht und folglich täglich in den meisten Stunden, ja von der ersten Kindheit an bis gegen etwa das 20ste Jahr getrieben, auch durch eine schlechte Lehrart den Kindern überaus schwer und unangenehm gemacht wird, und also ein wichtiger Teil des Lebens, wo nicht ganz, doch mehrenteils verlohren gehet, so wollen wir unsere Schule vernünftiger und nützlicher einrichten und folgende 2 Grundgesetze machen. Erstlich, kein Schüler soll Latein lernen, der nicht vorher die christliche Glaubenslehre, Naturgeschichte, Geographie, Historie nebst den Altertümern und der Mythologie, die Mathematik, Physik, Ökonomie, Gesundheitslehre, das Zeichnen und Modellieren und die Musik erlernt, eine Anleitung zu guten Sitten und zur Weisheit bekommen und sich in der deutschen und französischen Sprache geübet hat. Zweitens, die lateinische Sprache soll niemand lernen, als der es seiner Bestimmung wegen nötig oder besondere Lust dazu hat. Diese aber sollen sie auf eine kürzere und leichtere Art, als bisher insgemein gewöhnlich gewesen ist, lernen. Nach dieser Vorschrift soll in Ansehung aller derer Kinder, welche den ersten Anfang im Lernen bei uns machen, verfahren werden." (Blatt 171 Rücks.) Büsching macht dann drei Striche - offensichtlich hat er Teile des Schulprogramms ausgelassen - und fährt dann fort: „Hiernächst sollen auch die griechische und hebräische Sprache, die Logik, die Historie der Gelehrsamkeit und die schönen Wissenschaften gelehrt und die zum Studieren bestimmten jungen Leute dadurch zu der höheren Schule zubereitet werden." (ebenda, auszugsweise zitiert Einleitung, S. 20). 1 5 Uber die drei 1762 in Vorbereitung der Eröffnung der neuen Petersschule gedruckten, von mir nicht eingesehenen Schriften und auch über andere Drucke dieser Schule geben die Briefe Büschings an Müller zusätzliche Informationen (vgl. Brief 116, S. 210 f. u. a.). Die wichtigste allgemeine Schlußfolgerung ist die Bestätigung der Angabe im Gesamtkatalog der in Rußland im 18. Jh. in fremden Sprachen gedruckten Bücher, daß der Druck dieser Schriften in der Akademie-Druckerei 1 6 erfolgt ist, die zweite Schlußfolgerung ist die bisher unbekannte Tatsache, daß alle diese Drucke von Müller vermittelt worden sind. In seinem Brief vom 1 7 . / 2 8 . Juni 1762 an Michaelis teilt Büsching mit: „In künftiger Woche wird meine Nachricht von der neuen Schulanstalt meiner Gemeine gedruckt erfolgen, damit Ew. Wohlgeb. derselben in den Anzeigen Erwähnung tun mögen. 1 7 Dieses wichtige Werk kostet mir unbeschreibliche Mühe, die ich aber sehr wohl angewendet achten werde, wenn Gott dasselbe segnet. Ich arbeite schon seit einigen Monaten an einem vollständigen und genauen Entwurf desselben." (Blatt 172 Rücks.). Nach seinen eigenen 14

Büsching, Eigene Lebensgeschichte, S. 368.

15

In stark verkürzter Form hat Büsching dieses Programm in seiner eigenen Lebensgeschichte, S. 395

16

Svodnyj katalog knig na inostrannych jazykach, izdannych ν Rossii ν X V I I I veke (weiterhin SKKiJa), Bd.

angeführt; vgl. auch ders., Geschichte der . . . Schule, S. 130 f.. 1, Leningrad 1984, N r . 517 - 520, S. 156 - hier heißt es: Die Druckerei ist aufgrund der Schrift und der Buchgestaltung bestimmt. 17

Dieser Bitte hat Michaelis nicht entsprochen - jedenfalls beschwert sich Büsching in späteren Briefen, daß Michaelis keine Nachricht über die Petersschule in die Göttinger Gelehrten Nachrichten eingerückt hat (vgl. Brief vom 27. April 1764).

A n t o n Friedrich Büsching als Schuldirektor in St. Petersburg

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Angaben hat Büsching diese Schrift am 5. Juli 1762 vom Kirchenkonvent bestätigen lassen. 18 Nachdem er andere Mitteilungen zwischengeschoben hat, fährt Büsching dann in diesem Brief fort: „Noch eins von unserer Schule: In Ansehung der Schüler, welche Griechisch lernen sollen, lautet meine Vorschrift, daß sie zuerst Gesners Chrestomathionem Graecam, hierauf einen Teil der griechischen Ubersetzung des A[lten] Tfestaments] und alsdann des N[euen] Tjestaments] lesen sollen. Wenn wir es zwingen können, so sollen die künftigen Theologen erst syrisch, alsdann arabisch und hiernach hebräisch lernen. Es werden aber vielleicht so wenige junge Leute, die der Theologie gewidmet sind, bei uns zum Vorschein kommen, daß dies Vorhaben nicht ausgeführt werden kann." (Blatt 172 Rücks.) In den kurzen Notizen an Müller finden sich zu den ersten Drucken der Petersschule weitere Angaben. Am 21. (oder aber 29.) August 1762 war vom Kirchenkonvent der Druck eines „2ten Avertissements" gebiligt worden, das den bei der Schule zu errichtenden Pensionsanstalten gewidmet war. 19 Büsching bittet Müller, dieses Avertissement durchzulesen „und, wenn Sie nichts dabei anzumerken finden, zum Druck, so geschwind es möglich ist" zu befördern (Brief 120, S. 213 f.). Büsching bittet um den Druck von 300 Exemplaren. Angaben zur Auflagenhöhe waren bisher nicht bekannt. 20 Ende August bittet Büsching darum, ihm von der in den „Ezemesjacnye socinenija" veröffentlichten russischen Ubersetzung dieser Schrift 200 Exemplare zur Verfügung zu stellen (Brief 122, S. 215). 21 Im Brief 120 folgt nach den oben zitierten Ausführungen die Bitte um den Druck einer „Lesetafel" in 50 Exemplaren und eines „Lektionsverzeichnisses" - beide Drucke sind offensichtlich nicht erhalten, jedenfalls fehlen sie im „Svodyj katalog", in dem in lateinischer Sprache gedruckte Lektionsverzeichnisse der Petersburger Akademie und der Moskauer Universität angeführt sind. Von solchen Lektionsverzeichnissen ist auch in späteren Briefen mehrfach die Rede, so in den Briefen 145 und 146 (29. und 30. März 1763), in denen um den „Abbdruck" von 400 Exemplaren gebeten wird, damit man „den Kindern ihre Klassen auf diesem Zettul bezeichnen könne." Und es folgt der für die Druckgeschichte sicherlich beachtenswerte Nachsatz: „Wenn es dadurch auszurichten ist, daß Ew. Wohlgeb. dem Setzer und Abdrucker ein beliebiges Trinkgeld versprechen, so will ich solches gern bezahlen." (Brief 145, S. 231). Der folgende Brief ist durch eine Reihe von Büsching erbetener Veränderungen interessant, weil sie über den Charakter dieser „Lektionsverzeichnisse" Aufschluß geben. Sie seien hier zumindest teilweise zitiert: „Bei den Klassen der Schülerinnen fehlt von 8 - 9 die Leseklasse, welche nach der christlichen Lehre gesetzt wird. Bei den Klassen der Schüler ist zu bemerken, daß bei der Stunde von 9 - 1 0 der zweite Artikel also heißen müsse: Erste deutsche Klasse für die Russen, welche in dieser Stunde wöchentlich zweimal von einem gelehrten Mönch in den Lehrbegriff ihrer Kirche werden unterrichtet werden. Von 1 0 - 1 1 : Zweite lateinische Klasse, in welcher wöchentlich 1 Stunde in lateinischer Sprache disputiert wird." (Brief 146, S. 232) Am 1. Oktober 1762 konnte Büsching seine Schule eröffnen. In seiner eigenen Lebensbeschreibung nennt er die Zahl von anfangs „50 bis 60 Knaben". 2 2 Offensichtlich hat die

18

"

Büsching, Eigene Lebensgeschichte, S. 397. Die unterschiedlichen Daten bei Büsching, Eigene Lebensgeschichte, S. 399 bzw. Büsching, G e s c h i c h t e der . . . Schule, S. 134.

20

Vgl. SKKiJa, Bd. 1, N r . 517, S. 156.

21

Svodnyj katalog russkoj knigi grazdanskoj pecati X V I I I veka. 1725 - 1800, Bd. II, N r . 5694, S. 478 - die Auflagenhöhe des „Sonderdrucks" war bisher nicht bekannt.

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Büsching, Eigene Lebensgeschichte, S. 400.

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Zahl der Schüler rasch zugenommen, denn nur wenig später, am 18./29. Oktober 1762, berichtete Büsching an Michaelis: „Die Schule ist Gottlob zum Stande gekommen und mit 170 Kindern angefangen, die aus Deutschen, Franzosen, Italienern, Armeniern, Russen und Kalmüken bestehen. Jetzt sind täglich 1323 Klassen im Gange. Ich habe unbeschreiblich viele Schwierigkeiten zu überwinden und unaussprechlich viele Geduld auszuüben gehabt. Die Schule ist jetzt [vier Wörter nicht lesbar] ich bin, sie macht mir daher gar sehr viel zu tun. Wenn sie aber wirklich nach meinem Plan ausgeführet wird, so werde ich sie für meine wichtigste Arbeit halten. Wenn Gott sie ferner segnet, so kann sie eine Anstalt von großer Wichtigkeit werden. Wenn ich nur erst einen tüchtigen Mann zum Inspektor hätte. Denn jetzt, da ich nicht nur Stifter und Direktor, sondern auch Inspektor bin und sein muß, habe ich unsäglich viele Arbeit." (Blatt 174). In einem Anfang Dezember 1762 zu datierenden Brief hat Büsching Müller gebeten, den Druck der „3ten Schulnachricht" zu befördern, er bittet noch um eine Ergänzung - und wieder wünscht er eine Auflage von 300 Exemplaren. Zugleich übersendet er eine russische Übersetzung und bittet Müller, diese Übersetzung durchzusehen und eventuell zu korrigieren. (Brief 133, S. 222). Einen ausführlicheren Bericht über den Fortgang der Schule hat Büsching in seinem Brief an Michaelis vom 19. Dezember 1762 gegeben (im Nachsatz wird festgestellt, daß er erst am 21. Dezember abgesandt worden ist, als Datierung ist der neue Stil anzunehmen). Hier lesen wir: „Ich danke auch für das Anteil, welches Ew. Wohlgeb. an meiner Schule der Wissenschaften nehmen. Sie gehet Gottlob gut fort, allein sie kostet mir auch täglich über 6 Stunden Zeit und Mühe, die anderweitige mannigfaltige Bemühung für dieselbe ungerechnet. Sie hat bisher wöchentlich neuen Zuwachs an Schülern, insonderheit russischen gehabt. Die russischen Kinder übertreffen die deutschen sehr merklich. Die meisten russischen Kinder haben, wenn sie keinen russischen Buchstaben gekannt, in 8 Tagen schon ziemlich Buchstabieren und in 6 Wochen ziemlich fertig lesen gelernt. Ihre Schreib- und Zeichenbücher sehe ich mit Vergnügen, denn man sollte denken, sie hätten schon Jahr und Tag geschrieben und gezeichnet. In andern Dingen geht es auch so. Sie müssen unsrer Methode auch einen guten Teil dieses guten Fortgangs zuschreiben. Nun habe ich Gottlob einen geschickten Mann in Liefland gefunden, der zum Inspektor unserer Schule berufen worden. Ich hoffe, er soll bald kommen und mir also Erleichterung verschaffen. Die Direktion und seine Unterstützung werden ohnedies Mühe genug machen. Der ehrwürdige Generalfeldmarschall Graf Münnich, unser Kirchenpatron, unterstützt mich bestens in meinen Anforderungen und Einrichtungen. Wir sind innerhalb 18 Tagen 3mal der Schulsachen wegen, und jedes mal 3 bis 4 Stunden lang, unter seinem Vorsitz zusammen gewesen. Nächstens werden wir kaiserliche Bestätigung für unsere Schule suchen. An einem ehemaligen bedienten Sekretär[?], den ich aus Göttingen mitgebracht, habe ich einen guten Lehrer, vornehmlich im Schreiben, Lesen und Rechnen und selbst in Catechesieren. Er bekommt jetzt frei Wohnung und 200 Rubel für 4 Stunden täglichen Unterricht. H. Cyring [?] kenne ich als einen geschickten Mann, aber zum Inspektor ist er zu jung. Ich habe Lehrer von 40, 50, 60 Jahren und darüber bei der Kirche gefunden und annehmen und einschmelzen müssen. Ich wünsche noch einige geschickte Kandidaten, die als Hofmeister bei unseren Pensionärs und als Lehrer in der Schule dienen können. Es kommt hauptsächlich auf die schönen Wissenschaften an. Mit dem Griechischen und Hebräischen ist hier nichts zu tun. Latein wird gesucht, weil sich hier viele der Arztnei- und Apothekenkunst widmen, auch einige studieren. Ich habe nun einen2il Lehrer nötig, der eben die Sprachen 23

Die erste Ziffer ist nicht eindeutig lesbar, es kann auch 23 heißen.

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Von Büsching hervorgehoben.

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ziemlich schreibt und fertig redet. An einem ähnlichen französischen Lehrer ist mir auch gelegen. Die mathematischen Wissenschaften sind nächst den historischen die notwendigsten. Wenn Ew. Wohlgeb. mir einige gute Vorschläge tun können, so werden sie mir etwas Angenehmes erweisen. Unsere Hofmeister haben freie Wohnung, Essen und Trinken und 130 bis 200 Rfubel] Gehalt, davon sie etwas merkliches erübrigen können, wenn sie wollen. Ich habe Ew. Wohlgeb. Anzeige von dieser Schule in ihren Anzeigen noch nicht gefunden." (Blatt 175). Am 1 1 . / 2 2 . Februar 1763 gibt Büsching weitere Ergänzungen zu diesen Darlegungen: „In meinem neulich übersandten Artikel von unserer Schule habe ich nicht alle Nationen, aus welchen unsere Schüler bestehen, angegeben, denn ich habe die Schweden, Finnen, Letten, Preußen und Schweizer vergessen, also daß wirklich Kinder aus 11 Nationen unsre Schule besuchen. Sie wird berühmt. Die mit derselben verbundene Pensionairsanstalt für Kinder männlichen und weiblichen Geschlechts macht mir jetzt, da ich sie einrichte, große Mühe. Ew. Wohlgeb. wollen mir doch gebetener Maßen zu einigen artigen und geschickten Kandidaten, die ich als Hofmeister und Lehrer gebrauchen kann, behilflich sein." Büsching geht dann auf andere Probleme ein, ehe er den Satz hinzufügt: „Ich hoffe, daß heute oder morgen unser Herr Schulinspektor Goebel ankommen werde, und habe in diesen Tagen sein Haus ausmöbliert, dazu unterschiedene Personen das nötige Geld gegeben haben." (Blatt 176). Fast die gleiche Information - jedoch ohne den Müller offensichtlich bekannten Nachsatz zur Finanzierung - findet sich in einem Schreiben an Müller: „Heute oder morgen erwarte ich unsern H. Inspektor, dessen Haus ich in diesen Tagen meubliert habe." und an Müller folgt dann der Nachsatz: „Die Hofmeisterinnen für die Pensionairs weibl[ichen] Geschlechts habe ich nun." (Brief 140, S. 228). Die Rolle von Spenden für den Fortgang und das Aufblühen der Schule hat Büsching verschiedentlich sowohl in seiner eigenen Lebensgeschichte als auch an anderen Stellen hervorgehoben. Die Kirchenkasse war durch den Schulneubau erschöpft, es waren sogar Schulden aufgelaufen. Büsching schreibt dazu: „Ich tat dieserwegen den Vorschlag, daß alle Schüler und Schülerinnen das Schulgeld allemal ein halbes Jahr voraus bezahlen und ohne geleistete Vorauszahlung keine angenommen werden sollen. Hierüber wird beständig gehalten, und dieses vorausgezahlte Schulgeld macht allein die Mittel aus, durch welche die Schule unterhalten wird, ungeachtet es nach hiesiger Art sehr mittelmäßig ist." 2 5 Offensichtlich hat Büsching es verstanden, seine Schulanstalten in ein vorteilhaftes Licht zu setzen. Anfang Februar 1763 schreibt er an Müller, dem er für einige ihm übersandte Schriften dankt: „Ich bin dieserwegen eben aus der Schule weggegangen, in welcher ich den gelehrten Mönch Arsenium herumgeführt, der Sie kennen zu lernen wünschet und dem ich versprochen habe, daß ich ihn zu Ihnen bringen wolle." (Brief 139, S. 226). Dieser Arsenij unterrichtete 1 7 6 4 / 1 7 6 5 an der Petersschule und wurde später Abt zu Jaroslavl. Im Schlußabschnitt des Briefes bittet Büsching dann seinen Briefpartner darum, „ob nicht im Buchladen ein kleines und leichtes und nützliches französisches Buch, dessen Lesung Sie für nützlich halten, vorhanden sei, davon man um 30 Exemplaria haben kann, und kaufen und schicken Sie mir dieselben, so möglich, noch in dieser Woche. Ebenso wünsche ich auch ein kleines Buch zur Lesematerie für die russische Klasse, davon ich aber 60 bis 80 Exemplaria haben müßte."(Brief 139, S. 227). Vom Buch für den Russisch-Unterricht ist in weiteren Briefen nicht mehr die Rede, offensichtlich konnte Müller hier helfen. Nur wenig später, in dem durch die Mitteilung vom Tode des Lehrers Just Heinrich Gebhardi auf unmittelbar nach dem 11. März 1763 datierbaren Brief teilt Büsching dann mit: „Ich und der H. Inspektor [Göbel] sind beschäftigt, kleine Handbücher für unsere Schule zu verfer25

Büsching, Geschichte der . . . Schule, S. 132.

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tigen. Morgen vielleicht schicke ich Ew. Wohlgeb. ein französisches Lesebuch, welches 2 Bogen in Kleinoktav oder G r o ß d u o d e z f o r m a t ausmachen soll, an dessen geschwinden Druck uns viel gelegen ist, weil wir nichts zum Lesen für die Kinder haben. Sie werden durch gütige Beförderung dieses Büchleins uns Ihnen höchst verbinden." (Brief 142, S. 229) In einem M ä r z / A p r i l 1763 zu datierenden Schreiben berichtet Büsching dann, daß er an diesem „französischen Lesebuch" noch arbeite (Brief 143, S. 230). Im folgenden ebenfalls nicht exakt datierbaren Brief heißt es dann: „Für Dero gütige Vorsorge für das Lesebuch danke ich gar sehr. Morgen früh will ich die Korrektur in den Buchladen schicken. Ew. Wohlgeb. aber wollen alsdann nach Dero Geneigtheit bestens sorgen, daß der Abdruck in ein paar Tagen vollendet und das Büchlein uns noch vor Ende dieser Woche benutzbar werde." (Brief 144, S. 230 f.). Der Titel dieses französischen „Lesebuches" ist nicht bekannt, es ist offensichtlich nicht erhalten. Dagegen hat sich von dem f ü r die Schüler der Petersschule gedruckten „Kleinen Catechismus, nach den fünf Haupstücken besonders gedruckt für die St. Peters-Schule zu St. Petersburg", von dem sich Büsching 1000 Exemplare erbeten hat (Brief vom Dezember 1764, N r . 167, S. 249), in Moskau im Russischen Zentralarchiv für Alte Akten ein Exemplar erhalten. 2 6 A m 15. April 1763 schreibt Büsching an Michaelis: „Ew. Wohlgeb. danke ich ergebenst für Dero gütige Bemühung, mir einige geschickte Kandidaten zu verschaffen. H e r r Starke soll mir angenehm sein. Sobald Geschicklichkeit und Lebensart da sind, ist weiter keine Anfrage nötig. Solche Kandidaten sind mir lieb. Ihr völlig freier Unterhalt, den sie hier haben, kann nicht besser sein. U n d an 200 Rubel Gehalt haben sie weit mehr, als sie ausgeben. H e r r Mollwo, ein Kaufmann in Lübeck, wird ihnen das Reisegeld auszahlen. N u r müssen sie so geschwind abreisen, als möglich ist. Im Anfang des Junius ist die Seereise am geschwindesten und angenehmsten und dauert fast nie über 8 Tage. Meine Schule wächst gottlob stark. Jetzt habe ich schon 300 Kinder, und der dritte Teil derselben ist seit 14 Tagen dazugekommen. Ich habe auch 2 Pensionairanstalten eingerichtet und in Gang gebracht. Uber Jahr und Tag werde ich zwei neue Studioso aus meiner Schule nach Göttingen schicken, einen stud, theol. und einen stud, medicinae." (Blatt 177). A m 3. Juni 1763 schreibt Büsching an Michaelis: „Gestern habe ich Ew. Wohlgeb. Brief vom lOten März empfangen. Der Charakter des H e r r n Starke, wie Sie ihn schildern, ist so schlecht, oder wenigstens so bedenklich, daß ich keine Lust zu ihm habe. Weil H . H a d e r die wohlanständige Lebensart nicht verstehet oder wenigstens den Geschmack der wohlgesitteten Welt nicht hat, so ist er auch nicht nach Wunsch. Es ist also zu wünschen, daß diejenigen, welche H . Prof. Achenwall vorgeschlagen hat, meine H o f f n u n g erfüllen mögen. Ew. Wohlgebob. danke ich ganz ergebenst f ü r Dero bisherige gütige Bemühung und bitte Sie, keine Gelegenheit, mir einen wirklich brauchbaren, zuverlässigen und nicht ungeübten Mann zu verschaffen, aus den H ä n d e n zu lassen. Neulich habe ich aus Estland 2 brauchbare Kandidaten, die daselbst schon unterschiedene Jahre lang bei Edelleuten unterrichtet haben, erhalten. Ich habe jetzt 16 Lehrer und Lehrerinnen, aber noch nicht so viele, als ich gebrauche. Ich habe von unsrer Schule in den Götting[ischen] Anzeigen noch nichts gefunden." (Blatt 178). In diesem Brief ist die Angabe über die Zahl der Lehrer von besonderem Interesse. Es ist doch beachtenswert, daß Büsching in seinen Briefen einige N a m e n nennt, die in seinen gedruckten Darstellungen, auf die weiter unter eingegangen wird, fehlen. A m 9. August 1763 teilt Büsching mit: „Die H e r r e n Stark und Bec[k]mann sind hier am 7. Juli angekommen. Mich dünkt, daß Ew. Wohlgeb. gegen den ersten durch erhitzte Personen eingenommen worden sind und keine wichtige Ursache haben, auf ihn zu 26

SKKiJa, Bd. 2, Nr. 1842, S. 179.

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zürnen. Er ist auch voll von Ehrerbietung gegen ihre Person. Beide Kandidaten sind mir nützlich für die Schule, welche täglich zunimmt und unter den Russen in großem Ansehen stehet, also daß insonderheit der kaiserliche] Hof und die russische Geistlichkeit sehr mit derselben zufrieden sind. Die russischen Geistlichen besonders vom Mönchenstand haben ein großes Zutrauen zu mir. Es haben mich in diesem Sommer Archimandriten aus Susdal und N o w o g o r o d besucht. Ich habe Mönche kennengelernt, die in den lateinischen Büchern der Theologen unserer Kirche belesener sind als die meisten evangelischen Prediger in Deutschland." (Blatt 179). Etwa zur gleichen Zeit findet sich in den Notizen an Müller ein Stoßseufzer, der für die Belastung kennzeichnend ist, die sich Büsching durch die Schultätigkeit aufgeladen hatte: „Ich bin so müde und matt, daß ich mich kaum rühren kann. Eben k o m m e ich aus der Schule, woselbst heute und in den ersten 3 Tagen dieser Woche die neue Einrichtung der Klassen große Mühe macht. Überhaupt ist seit 14 Tagen meine Arbeit größer gewesen, als daß ich sie ertragen könnte." (Brief 148, S. 233). Am 16./27. Januar 1764 schreibt Büsching an Michaelis: „Mit Zuziehung des H . Ins p e k t o r s ] unserer Schule und einiger Lehrer derselben, als der Herren Bec[k]mann und Stark, werde ich eine periodische Schrift anfangen, welche folgende Aufschrift hat: Gelehrte Abhandlung und Nachrichten aus und von Rußland, geliefert von der St. Peterschule zu S. Petersburg und herausgegeben von derselben Direktor. Sie soll neue A b h a n d l u n g e n ] , die den ganzen U m f a n g der Gelehrsamkeit angehen, Auszüge aus hiesigen Schriften und Büchern, Neuigkeiten und Beurteilungen auswärtiger neuer Bücher von Rußland enthalten. In das erste Stück wird unter anderem meine Sammlung der Geborenen und Gestorbenen seit 9 Jahren in allen in Rußland befindlichen] ausländischen Gemeinen vorkommen. Es ist aber noch nichts davon ö f f e n t l i c h ] bekannt zu machen." (Blatt 180). Eine gleichartige Information findet sich auch in einem Brief Büschings an Müller (Brief 155, S. 239). Am 27. April 1764 beschwert sich Büsching, daß viele seiner an Michaelis für die Göttingischen Gelehrten Anzeigen übersandten Rezensionen bisher nicht veröffentlicht worden sind und fährt dann fort: „Ich habe sie aber nicht deswegen aufgesetzt, damit sie liegen bleiben oder weggeworfen werden müssen. Meine Zeit ist mir viel zu kostbar, als daß ich sie so unnütz anwenden sollte. Wenn Ew. Wohlgeb. sie nicht einrücken, so sind beigehende neue Rezensionen die letzten, welche ich für die Göttingischen Anzeigen überschicke, zumahl, da ich jetzt ein Journal herausgebe, an dessen ersten Stück von etwa 16 bis 18 Bogen jetzt zu Königsberg gedruckt wird und dessen Titul ist Gelehrte Abhandlungen und Nachrichten aus und von Rußland, geliefert von der Schule der Sprachen, Künste und Wissenschaften bei der evangelischen St. Peterskirche zu St. Petersburg und herausgegeben von derselben Direktor . . . Weil in demselben auch Bücher, die Rußlands Geschichte und Staatsverfassung betreffen und in andern Ländern herauskommen, beurteilet werden, so werde ich, wann ich obgedachtermaßen aufhöre, an den Göttingischen Anzeigen zu arbeiten, die Fehler der darin vorkommenden Rezensionen von den hier herausgekommenen oder Rußland betreffenden Büchern betreffen, verbessern. Es müssen nicht viele solche Rezensionen erscheinen, als des H . von H . Rezension 2ten Teil der voltairischen Geschichte Peters des Großen war." (Blatt 181) Es ließ sich nicht ermitteln, auf welche Rezension sich diese Bemerkung Büschings bezieht, in den Göttingischen Gelehrten Anzeigen erschien erst im Februar 1765 eine Rezension zum zweiten Teil von Voltaires „Geschichte des Russischen Reiches". 27 In den weiteren Ausführungen teilt Büsching mit, daß er „verfügt habe", seine 27

Göttingische Gelehrte Anzeigen 1765, 24. Stück, 25. Februar, S. 190.

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Peter Hoffmann

neue Schrift gleich nach Erscheinen nach Göttingen zu senden, damit sie dort angezeigt werde. (Blatt 181 Rücks.). Dieser Bitte hat Michaelis entsprochen - in der Rezension ist Büschings Beitrag über die Anfänge der Petersschule besonders hervorgehoben. 28 Am 19. Juni 1764 schreibt Büsching: „Unsere S. Petersschule (deren Sie in den Anzeigen nicht gedacht haben, ungeachtet sie es sehr wohl verdient und ich auch darum gebeten, deren Geschichte sie aber aus dem ersten Stück meiner nun bald zu Königsberg abgedruckten gelehrten Abhandlungen und Nachrichten aus und von Rußland, ersehen werden) unsere Petersschule ist gottlob jetzt schon das, was sie nach meinem Plan hat sein sollen, besteht und gehet gut fort. Sie ist aber, wie es zu gehen pfleget, hieselbst nicht durch lauter gute, sondern auch durch böse Gerüchte gegangen. Unterdessen haben Ihro Kaiserl. Maj. Katharina, meine Gönnerin, nicht nur das Privilegium erteilt, daß sie und ihre Nachfolger auf dem Throne diese Schule als ein mit allen ihren Gebäuden der S. Peterskirche und Gemeine allein angehöriges und von ihr allein abhängendes Eigentum schützen und gegen alle Anfechtungen verteidigen wollen, sondern auch zur Tilgung der Schulden, welche die Bauunkosten gemacht haben, 3000 Rubel, der Großfürst aber 1000 Rubel allergnädigst geschenket. Das letztere habe ich heute von unserm großen Gönner, dem unbeschreiblich für Kirche und Schule sorgenden Herrn Generalfeldmarschall Grafen von Münnich empfangen und jene sind vor ein paar Tagen eingezahlet worden." (Blatt 182 und Rücks.). Uber dieses kaiserliche Privileg für die Petersschule und die Geldspenden hat Büsching auch Müller sofort informiert (vgl. Brief 160, S. 244). Am 2. Oktober 1764 schreibt Büsching unter anderem an Michaelis: „Mit meinen gelehrten Abhandlungen und Nachrichten aus und von Rußland ist es bisher langsam gegangen. Nun wird das erste Stück von 15 Bogen endlich in Deutschland sein. Es wird künftig besser gehen, weil der Verleger sie in Leipzig bei H. Breitkopf drucken läßt. Der Verleger hat mir gemeldet, daß er das erste Stück an H. Prof. Kästner zur Rezension geschickt habe. Die Menge der Druckfehler ist mir sehr ärgerlich." (Blatt 184). Ein eigenes Kapitel ist die Sorge Büschings für seine Lehrer, die an einzelnen Stellen deutlich hervortritt. In seiner „Geschichte der . . . Schule" hat Büsching die Lehrer aufgezählt. Übernommen hatte er die Lehrer Joh. Gustav Luther, den Kantor Sebastian Bosse, Joh. Fried. Großlaub und Daniel Delphin. 29 Bis zur Neueröffnung der Schule hatte er weiterhin als Lehrer eingestellt: Just. Heinrich Gebhardi, Cand. jur. Erich Laxmann, Wüst, und Joh. Herrmann Christoph Knirim. 30 Der Inspektor Johann Bernhard Heinrich Goebel traf am 16. Februar 1762 in Petersburg ein und trat sofort seinen Dienst an. 31 Bis Ende 1763 kamen weitere Lehrer hinzu: Joh. Christian Weber, Johann Beckmann, Johann August Stark, Carl Melart, Johann Christian Faust, weiterhin als Tanzmeister Nie. Peslin, als Klaviermeister der Organist der Peterskircvhe Joh. Conrad Haas, als Zeichenmeister Joh. Bollenthien. Wie Büsching in diesem Zusammenhang mitteilt, verließen Melart und Wüst schon bald die Schule wieder. 32 Als Hofmeisterinnen für das Mädchenpensionat waren Demoiselle Isabelle Bourgeois und Charlotte Gebhardi angestellt. Als Arzt wirkte Joh. Heinrich Gänisch, als Wundarzt Joh. Gotthilf Scharf. 33 Zum 1. Oktober 1763 wurden weitere Lehrer eingestellt: Gottfried Adam Lehmann, Joh. Friedrich Heitzig, Louis Stanislas Carbonnet (für Französisch), Herr [Ivan] Chor-

28 29 30 31 32 33

Ebenda, S. 188 ff., zu Büschings Beitrag S. 189. Büsching, Geschichte der . . . Schule, S. 133. Ebenda, S. 135. Ebenda, S. 136. Ebenda, S. 137. Ebenda, S. 138.

Anton Friedrich Büsching als Schuldirektor in St. Petersburg

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schewsky, sowie „als Lehrer der Theologie der griechischen Kirche für die Russen" den bereits im Januar 1764 verstorbenen Mönch des Alexander-Newski-Klosters Jeremias Husarewsky, dessen Tätigkeit von dem bereits erwähnten Arsenius, ebenfalls ein Mönch dieses Klosters, weitergeführt wurde. Es folgt bei Büsching der Hinweis, daß Laxmann schon bald „als Prediger nach den Koliwanischen Bergwerken" ging und auch Lehman die Schule verlassen habe. 34 Das sind die bisher namentlich bekannten Lehrer der Petersschule. Für Büschings Sorge um seine Lehrer ist ein nicht näher zu datierenden Schreiben wohl aus dem Jahr 1764 charakteristisch, Büsching schreibt hier an Müller: „Seit unterschiedenen Tagen bin ich mit dem betändigen Klassenplan unserer Schule beschäftigt, sowohl um denselben zu vollenden, als um zu sehen, ob alles mit den jetzigen Lehrern bestritten werden könne, oder ob noch einer notwendig sei? Mein Hauptanliegen ist ein zweiter guter Inspektor. Hätte ich den, so brauchte ich keinen Lehrer mehr. (Brief 162, S. 246). In einem Mai/Juni 1764 einzuordnenden Brief lesen wir: „Wissen Sie nicht etwa einen Ort, wo unser alter H. Heitzig angebracht werden könnte? Er ist ein Mann von 50 Jahren, ungemein eingezogen und still von Lebensart, auch sehr pünktlich und fleißig, allein ein bisgen wahnsinnig und unvermögend, ganzen Klassen vorzustehen. Die Kinder haben ihn zum Besten. Bei einem oder ein paar Kindern würde er wohl besser fortkommen. Ich nahm ihn zur französischen Sprache an, nachdem ich aber nicht allein H. Carbonnet, sondern auch H. Lizentiaten Nardin (einen erfahrenen Didactum) habe, so habe ich ihm diesen Unterricht wieder genommen und nur zum deutschen Lesen und zur deutschen Orthographie bestellet." (Brief 160, S. 244). In mehreren Exemplaren erhalten ist Büschings „Sendschreiben an die Herren Verfasser des Berlinischen Wochenblatts zum Besten der Kinder über die Schule der Sprachen, Künste und Wissenschaften bei der Peterskirche zu St. Petersburg". Auch dieser Druck ist von Müller vermittelt. In einem wohl Dezember 1764 zu datierenden Schreiben Büschings an Müller finden sich die folgenden Ausführungen: „Ich plage Sie schon wieder, um bei der Akademie für gute Worte und gutes Geld 1 Bogen gedruckt zu bekommen. Es ist das beiliegende Sendschreiben, welches ich gern N B im kleinsten35 Oktavformat mit feiner Schrift auf einem Oktavbogen oder, wenn derselbe wider Vermuten nicht hinlänglich sein sollte, im kleinem Duodezformate, sonst aber auf feines und weißes Papier und 400 mal gedruckt zu haben wünsche. Daß ichs gerne bald fertig hätte, versteht sich von selbst. Wollen Sie so gütig dafür sorgen?" (Brief 168, S. 250). Nach dem „Svodnyj katalog" 3 6 ist diese Schrift in der Druckerei des Kadettenkorps gedruckt worden, die Auflage wird dort mit 600 Exemplaren angegeben. Im folgenden Brief, der durch den in ihm erwähnten Tod des Obristleutnant von Ende, der am 14. Dezember 1764 beigesetzt worden ist, auf wenige Tage davor zu datieren ist, dankt Büsching für Müllers „gütige Hilfe zum Druck meines Briefs." (Brief 169, S. 251). Da Müller seit 1761 - neben seiner Tätigkeit in der Akademie die Leitung der Lehranstalt und der Druckerei des Marinekadettenkorps übernommen hatte, 37 ist es durchaus möglich, daß Müller diese Verbindung genutzt hat, weil in der Akademie-Druckerei aus unbekannten Gründen Büschings Wunsch nicht so schnell zu erfüllen war. Und noch ein Druck ist hier zu nennen: Im Dezember 1764 hat Büsching eine „Kurze Nachricht von der durch kaiserliche Majestät allergnädigst privilegierten Schule der Sprachen, Künste und Wissenschaften bei der evangelischen St. Peterskirche in St. Petersburg" 34

Ebenda. Von Büsching hervorgehoben.

36

SKKiJa, Bd. 1, N r . 521, S. 156 f.

37

P. P. Pekarskij, Istorija imperatorskoj akademii nauk ν S. Peterburge, Bd. I, S. Peterburg 1870, S. 373.

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Peter Hoffmann

drucken lassen. Wieder war Müller der Vermittler. Büsching fordert 800 Exemplare des deutschen und 500 des russischen Textes. Das zugleich eine Kurzfassung dieser Schrift sowohl in deutscher als in russischer Sprache gedruckt worden ist (erstere in 300, letztere in 100 Exemplaren), war bisher unbekannt (vgl. Brief 170, S. 252), die letztgenannten beiden Drucke fehlen in den entsprechenden Bibliographien. Auf die Auseinandersetzungen Büschings mit dem Patron der Peterskirche, dem greisen Feldmarschall Burchard Christoph von Münnich, braucht hier nicht eingegangen zu werden - Büsching hat selbst das Material in seiner eigenen Lebensgeschichte veröffentlicht und die von mir herangezogenen Quellen bieten hierzu keine wesentlich neuen Sichten. Büsching hatte nach seinen eigenen Worten bei der Übernahme des Rektorats der Petersschule sich ausbedungen, „daß der Kirchenkonvent mir die Gewalt geben möge, die Schule nach meiner Einsicht einzurichten und zu regieren." 38 Die gleiche Formulierung findet sich auch in seiner eigenen Lebensgeschichte. 39 aber im autokratischen Rußland ließ sich eine solche Forderung nicht durchsetzen - der Kirchenpatron Feldmarschall Johann Burchard Münnich war gewohnt, daß seine Weisungen als Befehl unbedingt ausgeführt wurden - als er sich in Belange der Schule einmischte, legte Büsching seine Petersburger Ämter nieder und kehrte im Sommer 1765 nach Deutschland zurück. Wenn man rückblickend das Wirken Büschings als Schuldirektor in in St. Petersburg mit seiner späteren Tätigkeit als Direktor des Berlinischen Gymnasiums zum Grauen Kloster vergleicht, dann erkennt man, daß viele in Berlin realisierte Vorstellungen sich bereits in der Petersburger Zeit in Ansätzen erkennen lassen. Geben wir dazu seinem Berliner Nachfolger Friedrich Gedike noch einmal das Wort: „Eine Lieblingsidee des vortrefflichen Mannes bei dem Entwürfe des Lektionsplanes [des Berlinischen Gymnasiusm] war, jedem Lehrer soviel als möglich nur auf ei« 4 0 Hauptfach einzuschränken, in welchem er durch alle Klassen hindurch unterrichte." 41 Gedike weist auf die für jene Zeit neuen Probleme hin, die sich dadurch für die Stundenplangestaltung ergeben, aber das waren Probleme, denen sich - wie wir aufzeigen konnten - Büsching bereits in Petersburg bewußt gestellt hat.

38 39 40 41

Büsching, Geschichte der . . . Schule, S. 134. Büsching, Eigene Lebensgeschichte, S. 399. Von Gedike hervorgehoben. Gedike, Erinnerung, S. 10

M I C H A E L PANTENIUS, H A L L E

Das preußisch-russische Verhältnis im Spiegel der Schriften Anton Friedrich Büschings

Den Historiographen des 19. Jh. galt Anton Friedrich Büsching noch als Polyhistor. Geblieben ist von seinen vielfältigen Interessen, Bemühungen und Leistungen - er war zunächst Theologe, auch Philosoph, dann mehr als 30 Jahre Pädagoge - nur sein Verdienst als Geograph. Als Geograph, sogar als der bedeutendste des 18. Jh., wird er am Ausgang unseres Jahrhunderts noch erwähnt. 1 Doch ins alleinige „Schubfach" Geograph paßt Büsching nicht. Der königlich-preußische Oberkonsistorialrat und Direktor des Berliner Gymnasiums „Zum Grauen Kloster" war mehr als 40 Jahre seines Lebens „Erdbeschreiber", Herausgeber und Verfasser von in Preußen, Deutschland, in ganz Europa weithin verbreiteten Zeitschriften. Sich von den Geographen abzugrenzen, war ihm selbstverständlich. Während sich die Geographen seiner Zeit um das mathematisch-naturwissenschaftliche Abbild der Erde mühten, Topographie, Geodäsie und Kartographie auf wissenschaftliche Grundlagen stellten und mit der politischen Neutralität „reiner Naturwissenschaftler" scheinbar oder tatsächlich noch staatsfreie Räume betrachteten, ging Büsching andere Wege. Er forderte, die Länder und Landschaften als „gegebene Individuen" anzuschauen 2 und den Zusammenhang Erdboden-Mensch-gesellschaftliche Verhältnisse, nie aus den Augen zu verlieren. Naturwissenschaftliche Erkenntnis von politischer Beobachtung und Beurteilung zu separieren, wäre ihm nie in den Sinn gekommen. In der Einleitung zu seinem Hauptwerk, der „ N e u e n Erdbeschreibung", schreibt er in der ersten wie in der letzten Ausgabe - 1754 wie 1787 unverändert: „Der bekannte Erdboden aber m u ß sowohl nach seiner natürlichen als bürgerlichen Beschaffenheit betrachtet werden." Die gegenwärtige „bürgerliche Beschaffenheit" zu untersuchen war das vornehmste Ziel des Erdbeschreibers. Geographische Forschungen und durch sie ein möglichst exaktes, vollständiges Wissen um die realen Felder, auf denen sich die Geschichte der Völker vollzogen hatte, auf denen sie lebten, ihre Gegenwart und Künftiges gestalteten, gehörten zu den Grundlagen dieser neuen umfassenden Wissenschaft. In der weit ausgreifenden, in vielen Passagen einer „Gegenwartskunde" gleichenden Erdbeschreibung, in der die „enge" Geographie sich aufgehoben fand, sah Büsching die Voraussetzung, die unverzichtbare Basis der Geschichtswissenschaft. Deutlich hat er ausgesprochen, daß man vor der Beschäftigung mit der Vergangenheit „von der Beschaffenheit und Erheblichkeit vieler natürlicher Dinge, Werke der Kunst, Verfassungen und Einrichtungen eine deutliche, hinlängliche und fruchtbare Einsicht haben müsse." 3 So wie das Experiment zur wesentlichen Methode der Naturwissenschaft wurde, sollte die Erdbeschreibung die Geschichtswissenschaft fördern. D a ß sich Büsching weitgehend 1

2

H o r s t M ö l l e r wertet B ü s c h i n g als den „ w o h l b e d e u t e n d s t e ( n ) d e u t s c h e n G e o g r a p h e n des 18. J a h r h u n d e r t s " ; in: F ü r s t e n s t a a t o d e r B ü r g e r n a t i o n . D e u t s c h l a n d 1763-1819. Berlin 1994, S. 72. J . G . L ü d d e , D i e M e t h o d i k d e r E r d k u n d e o d e r A n l e i t u n g , die F o r t s c h r i t t e d e r W i s s e n s c h a f t d e r E r d k u n d e in d e n Schul- u n d a k a d e m i s c h e n U n t e r r i c h t leichter u n d w i r k l i c h e i n z u f ü h r e n . M a g d e b u r g 1842, S. 53.

' A. F. B ü s c h i n g , V o r b e r e i t u n g z u r g r ü n d l i c h e n u n d n ü t z l i c h e n K e n n t n i s d e r g e o g r a p h i s c h e n B e s c h a f f e n h e i t u n d Staatsverfassungen d e r e u r o p ä i s c h e n Reiche u n d R e p u b l i k e n , w e l c h e z u g l e i c h ein a l l g e m e i n e r A b r i ß von E u r o p a ist. H a m b u r g 1759. - Vorbericht. M i t Werken d e r K u n s t m e i n t B. n i c h t S c h ö p f u n g e n d e r b i l d e n d e n K u n s t ; er versteht d a r u n t e r P r o d u k t i o n s a n l a g e n , g r o ß e ö f f e n t l i c h e B a u t e n . B i l d e n d e K u n s t h a t er in k e i n e m seiner Werke z u m G e g e n s t a n d des Berichtes, d e r B e t r a c h t u n g g e m a c h t .

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Michael Pantenius

auf dieses Feld beschränkte, daß er hier seine eigentliche Aufgabe sah, rechtfertigt nicht den gegen ihn erhobenen Vorwurf, er hätte, indem er in der Erdbeschreibung eine Hilfswissenschaft der Historiographie erblickte, sie (und damit die Geographie) zu einer unselbständigen Dienstmagd der Geschichtswissenschaft herabgedrückt. Geographie - so verstanden - bedeutete, in jedem Land politische Strukturen, wirtschaftliche Systeme, strukturbestimmende wie allgemeine Zustände des gesellschaftlichen Lebens zu beobachten, zu erforschen und wertfrei aufzuheben in die Erdbeschreibung. Das war der Anspruch, mit dem der junge Büsching 1754 angetreten war. Notwendig aber wich seine Praxis von diesen Postulaten sehr schnell ab. Aus einer Überfülle der Erscheinungen galt es Wesentliches auszuwählen, einzuordnen, es mußte weggelassen werden. Dies aber hieß: Wertungen wurden deutlich. Man geht nicht fehl, daß Büsching - der kaum jemals kommentierte - eben diese Mittel nutzte. Er war Aufklärer. Er rechnete mit dem genau Lesenden, dem mitdenkenden Bürger. Diese Wertung durch Auswahl sollte erkannt, bedacht und angenommen werden. Seine „Erdbeschreibung" subsumierte mit steigender Tendenz aktuelle Politik mit ihren vielen Feldern, von denen die Außenpolitik - und allemal in Preußen - ein Feld von außerordentlicher Bedeutung war. Mithin: Die neue Wissenschaft mit Namen Erdbeschreibung war sich der Aufmerksamkeit der Obrigkeiten sicher, Subordination und Rücksicht auf die Staatsräson waren angesagt, Pressionen und Zensur standen in Aussicht. Und erfolgten. D a ß Büsching ein besonders starkes Interesse für Rußland und das Russische Reich entwickelte, verwundert nicht. Zwar empfing er im Hinblick auf die Leistungen des Slawentums - wie seine Zeitgenossen - Anregungen aus den Werken der französischen Philosophie, entscheidend aber war sein Studium an der Alma mater halensis. Halle ist der Ort, an dem die deutsche Rußlandkunde im 18. Jh. ihren Ausgang nahm! 4 D a ß Büsching 1750 sechs Monate in Petersburg weilte und daß er an der Newa vom Juli 1761 bis Juli 1765 Prediger und Schuldirektor bei der deutschen Petrikirche und -gemeinde war, ist ganz bestimmt von größter Wichtigkeit. Seine dort geknüpften persönlichen Beziehungen zu Akademikern und Politikern des Reiches haben sich später als äußerst fruchtbar erwiesen. Triebkraft des Interesses am Leben, an der Verfassung Rußlands war aber auch bei Büsching die Suche nach dem Idealstaat. Er glaubte mit der Vielzahl der Männer der Gelehrtenrepublik, daß man auf dem weitgehend unbeschriebenen Blatt Rußland die Ideen der Aufklärung am ehesten verwirklichen könne. Büsching war - wie andere große Denker - in der Illusion befangen, daß in Rußland - besonders im Zeitalter Katharinas II. - wesentliche Forderungen der Aufklärung bereits erfüllt seien. E r gehörte zu denen, die der Idee des aufgeklärten Absolutismus anhingen. Ebensowenig wie die große Mehrzahl seiner aufgeklärten Zeitgenossen erkannte er in letzter Konsequenz, daß der aufgeklärte Absolutismus nur den Versuch des Spätfeudalismus darstellte, „sich der bürgerlichen Aufklärungsideologie anzupassen und sich diese zur Aufrechterhaltung der Feudalordnung dienstbar zu machen." 5 Unkritisch war er deshalb auch gegenüber Rußland nicht. Wenn er auch hie und da aus theoretischen Erwägungen Katharinas II. und aus einzelnen Erscheinungen auf das Wesen ihres Staates Schloß: N o c h öfter hat er erschreckende soziale Erscheinungen den Lesern seiner Erdbeschreibung vorgestellt. Besonders denen seiner zwischen 1773 und 1788 erschienenen und weithin verbreiteten Zeitung „Wöchentliche Nachrichten von neuen

4

Eduard Winter, Halle als Ausgangspunkt der deutschen Rußlandkunde im 18. Jahrhundert. Berlin

5

Erich Donnert: Politische Ideologie der russischen Gesellschaft zu Beginn der Regierungszeit Katharinas

1953. II., Berlin 1976, S. 4.

D a s preußisch-russische Verhältnis im Spiegel der Schriften A n t o n Friedrich Büschings

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Landkarten, geographischen, statistischen und historischen Büchern und Sachen". Der Titel dieser „Nachrichten" - die am allerwenigsten Informationen zu „historischen Büchern und Sachen", wohl aber ausführliche aktuelle Sozialstatistiken und politische Informationen enthielten, versteht sich nur, wenn man um die Konzeption des „Erdbeschreibers" weiß. Gleiches trifft - wenn auch im weitaus minderem Maße auf das zwischen 1767 und 1788 in 22 Teilen vorgelegte „Magazin für neue Historie und Geographie" zu. 6 Büschings Werk ein Beispiel für Pressefreiheit in Preußen? Belegt ist, daß es Büsching durch geschickt geknüpfte Verbindungen und Beziehungen zur gelehrten und zur politischen Welt seiner Zeit verstand, sich den gröbsten Pressionen zu entziehen. Die „Wöchentlichen Nachrichten" waren von der preußischen Zensur befreit. Für sie gab es nur eine Nachzensur durch den königlich-preußischen Kabinettsminister Ewald Friedrich Graf von Hertzberg, der „um dieses Wochenblatt von der ordentlichen Zensur zu befreien" jahrelang „Stück für Stück selbst angesehen" hatte. 7 Friedrich II. nahm manche politischgeographische Schrift des Pädagogen dankend an, las wichtige Teile des „Magazins", insbesondere die Statistiken und finanzpolitische Betrachtungen Büschings. Die eigentümliche Freiheit hatte ihren Preis. Hertzberg war Außenminister. Besonders deutlich wird sein Einfluß vor allem dann, wenn Büschings Publizistik die außenpolitischen Interessen des Staates berührten. Gravierend war er insbesondere bei der Widerspieglung der Außenpolitik Preußens und Rußlands gegenüber Polen und der Teilung Polens 1772. 1772 war Büsching im siebenten Jahr Beamter in Berlin. Friedrich II. trug sich, wie Katharina II. und Maria Theresia, mit dem seit längerem verfolgten Plan einer Teilung Polens. Gegen Osterreich waren nach wie vor so gut wie alle publizistischen Mittel erlaubt. Was aber Rußland anging, so war die Tatsache zu berücksichtigen, daß es das wichtigste Anliegen Friedrichs II. nach Beendigung des Siebenjährigen Krieges war, mit Rußland in ein festes, dauerhaftes Bündnis zu kommen. Nach dem Bündnis mit Peter III. und dessen frühen Tod war es zunächst zu Irritationen gekommen, die preußisch-russische Gemeinsamkeit war aber bereits 1764 zwischen Friedrich II. und Katharina II. erneut besiegelt worden. Preußen sagte im neuen Bündnis die Unterstützung der Politik des Zarenreiches gegen die Türkei und - im ureigensten Interesse - gegen Polen zu. Wie hätte sich Büsching - direkt und indirekt abhängig von den beiden mächtigsten absoluten Fürsten seiner Zeit, dem unmittelbaren Druck des wichtigsten Beamten der preußischen Außenpolitik ausgesetzt - auf die Seite der angegriffenen Adelsrepublik schlagen sollen oder sich wenigstens Neutralität leisten können? Büsching versuchte, Zeit zu gewinnen. Doch schon im Frühjahr 1773, wenige Monate nach der vollzogenen Teilung Polens, forderte man seine Stellungnahme. Büsching gehorchte. Die Fragwürdigkeit der „Rechtsansprüche" Preußens an polnisches Gebiet hat er mit Sicherheit erkannt, auch ohne etwas vom politischen Testament seines Königs (1752) zu wissen. Zur preußischen Staatsräson aber gehörte die Anerkennung der Doktrin, daß jedes Mittel recht sei, um die verschiedenen getrennten Provinzen Preußens zu einem geschlossenen Staatsgebiet zu vereinigen. Und es verstand sich, wenn Osterreich und Rußland Anspruch auf polnische Gebiete stellten, wenn es Rußland jüngst gelungen war, gegen das Osmanische Reich bedeutende Landgewinne zu erreichen, so hatte Preußen durch wie auch immer begründete Ansprüche - das Gleichgewicht zu halten. Staatsräson bestimmte die Politik auf der Grundlage einer Interessenlehre. Allgemein anerkannt war, 6

M . Pantenius, Anton Friedrich Büsching ( 1 7 2 4 - 1 7 9 3 ) . Ein Beitrag zur deutschen Rußlandkunde im 18. Jahrhundert. Phil.Diss.(Masch.), Halle 1984, S. 44 ff.

7

A. F. Büsching, W ö c h e n t l i c h e Nachrichten von neuen Landkarten, geographischen, statistischen und historischen Büchern und Sachen ( W Ö N A ) , Berlin 1 7 7 3 / 1 , V o r r e d e .

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Michael Pantenius

daß jeder Staat seinen Interessen folgen müsse und sie, so vertraglich nicht durchzusetzen, mit kriegerischen Mittel lösen müsse. 8 Büsching referierte sehr ausführlich die 1772 in Berlin erschienene Schrift „Ausführungen der Rechte Seiner Majestät von Preußen auf das H e r z o g t u m Pomerellen und auf verschiedene andere Landschaften des Königreichs Polen - Mit Beweisurkunden" , und er zweifelte keines der Argumente der Hohenzollern auch n u r im entferntesten an. 9 Im Gegenteil. Der aufgeklärte Publizist, der sich in seinen Schriften ansonsten mühte, beim deutschen Leser Verständnis für die Andersartigkeit fremder Völker zu wecken, der empfahl, die Charakterisierung von Nationen zu vermeiden, stimmte in den C h o r derjenigen ein, die das polnische Volk verächtlich machten, um dessen Unterdrückung und die Auflösung seines Staates zu rechtfertigen. „Die Komplimente eines Kassuben sind polnisch. Einen Deutschen verachtet und haßt der Kassube, tut ihm auch den Gefallen nicht, daß er ihm in deutscher Sprache antwortet, wenn er sie gleich versteht. Er erscheint als abergläubisch, mißtrauisch, heimtückisch, zurückhaltend, eigensinning, grob, diebisch und zur Meuterei geneigt, auch als rachgierig bis ins dritte und vierte Glied. Er ist sehr arglistig und stellt sich äußerst d u m m , damit er, wenn er soll gestraft werden, sich mit seiner Einfalt entschuldigen kann." U n d so weiter und so fort. 1 0 Mit dieser „Rechtfertigung" vollzogener Tatsachen erkaufte sich Büsching zweifellos publizistische Freiheit auf anderem Gebiet. Büsching hat die preußische Politik gegenüber Polen stets verteidigt, jedoch Wert darauf gelegt zu betonen, daß die treibende Kraft der antipolnischen preußisch-russisch-österreichischen Allianz nicht Preußen war. Als 1774 in Frankreich, das Preußen und Rußland zu diesem Zeitpunkt ablehnend gegenüberstand, eine sehr ausgewogene, die Positionen aller Seiten berücksichtigende D o k u m e n t e n s a m m l u n g zur Teilung Polens erschien, meldete er sich zu Wort. Nicht, daß er nun seinerseits eine deutsche Übertragung des Manifests der Barer Konföderation veröffentlicht hätte. Die Chance, unterschiedliche Standpunkte zu aktuellen politischen Vorgängen zu vergleichen, bekam der Leser nicht.Büsching erkannte zwar an, daß in der französischen Edition sowohl „die Schriften, durch welche die drei Mächte (Rußland, Preußen, Österreich - M.P.) ihre Ansprüche an Polen bewiesen haben", als auch die Gegendarstellung, eben das Manifest der Barer Konföderation, enthalten waren, beschwerte sich aber über die „unverantwortliche" Vorrede oder Einleitung des Herausgebers. „Diese gründet sich auf das Vorurteil, daß die Sache, von welcher dieses Buch handelt, hierzulande ihren ersten Ursprung genommen habe, welches doch falsch ist, wie schon sehr viele Menschen wissen." 11 Büsching konnte aufgrund seiner guten Beziehung zum Berliner Hof, insbesondere zum Minister von Hertzberg, recht gut wissen, daß Katharina II. den Plänen Friedrich II. nur zugestimmt hatte, um einer möglichen Annäherung Preußens an Österreich entgegenzuwirken, das in Polen ohne Skrupel rasch besetzte, was es nehmen wollte. 12 Warum aber stimmte Katharina zu? Büsching w u ß t e es. Die Sache Preußens hatte einen Anwalt in Graf Nikita Ivanovic Panin, Chef des russischen Reichskollegiums für die auswärtigen Angelegenheiten, und er besaß das absolute Vertrauen Katharinas. Panin aber 8

9 10

11 12

R. Vierhaus, Deutschland im Zeitalter des Absolutismus (1648- 1763), Göttingen 1984, S. 165. W Ö N A 1773/13. W Ö N A 1779/25 , Büsching gibt hier die Ansichten eines namentlich nicht genannten Probstes wieder, ohne sich von dessen Ansichten zu distanzieren. W Ö N A 1775/5. W. Medinger, Friedrich II. und Rußland, in: Friedrich der Große in seiner Zeit, hg. Oswald Hauser, Köln/Wien 1987, S. 121.

Das preußisch-russische Verhältnis im Spiegel der Schriften Anton Friedrich Büschings

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zählte wie Fürst Grigorij Grigofevic Orlov, Kabinettsminister Grigorij Nikolaevic Teplov und Graf Ernst von Münnich zu den Förderern Büschings. Der Erdbeschreiber hatte diese und andere wichtige Männer aus Politik und Wissenschaft in Petersburg kennengelernt, seit dieser Zeit stand er mit ihnen in Kontakt. 13 Wenn Büsching auch aus innerster Überzeugung daran arbeitete, zum Abbau der zahllosen Vorurteile gegenüber Rußland und dem russischen Volk beizutragen, so kann nicht bestritten werden, daß seine diesbezügliche publizistische Arbeit genau das leistete, was höheren Orts in Preußen politisch nützlich schien. Das 31. Stück des Jahrganges 1776 seiner „Wöchentlichen Nachrichten" widmete der Herausgeber der Darstellung der „Geschichte der freundschaftlichen Verbindungen zwischen Rußland und Preußen". Schon die ersten Sätze belegen, daß diese kurze Abhandlung mit Blick auf die Objekte sowohl preußischer als auch russischer Expansion - auf Polen und Litauen - geschrieben war. Rußland und Preußen, so wird berichtet, waren einst unmittelbare Nachbarn. Für Büsching, der hier den Thesen des mit ihm befreundeten russischen Reichshistoriographen Gerhard Friedrich Müller folgt, bedeutet „Prutzia oder Preußen das neben Rußland liegende oder an Rußland grenzende Land." Die Litauer, ursprünglich ein auf ein kleines Gebiet zwischen Rußland und Preußen zusammengedrängtes Volk, hätten im 13. Jh. „das ganze von ihnen benannte Großfürstentum den Russen entrissen und ebensowohl als die Polen Rußlands Grenze gegen Westen eingeschränkt". 14 Büsching spricht es nicht aus, aber logisch folgt aus dieser Wiedergabe russischer Positionen: Wenn sich das Russische Reich nun, im Einvernehmen mit Preußen und Österreich, große Gebiete dieser Länder einverleibt hat und weitere Ansprüche erhebt, wird ein historisches Unrecht wieder gutgemacht. Büsching störte sich offenkundig auch nicht daran, daß diese Position dem polnischen Volk keinerlei Herkommen zubilligte. Die Litauer entstammen - in dieser Lesart immerhin einem sehr kleinen Gebiet und haben ihr Recht auf einen eigenen Staat nur durch ihre Aggressivität verwirkt. Wie aber das polnische Volk in den Raum zwischen Rußland und Preußen geraten ist, dort siedelte und Macht konstituierte, bleibt unerwähnt. In der bereits erwähnten „Kurzen Geschichte der freundschaftlichen Verbindungen zwischen Rußland und Preußen" von 1776 führt Büsching alle wesentlichen Ereignisse seit der Zeit auf, da Ostpreußen unter dem Markgrafen Albrecht 1525 ein selbständiges Herzogtum geworden war und den ersten Vertrag mit dem Zaren Ivan IV. Väsil'evic Schloß. Schon hier wird die aktuelle politische Zielsetzung der Veröffentlichung deutlich. Auch diese Verträge waren angeblich geschlossen worden, um der Aggressivität der Polen standhalten zu können. „Das Verhältnis der Staaten gegen Polen und Schweden, insonderheit gegen das erste, hat ihre Unterhandlungen gewissermaßen notwendig gemacht." 1 5 Schon in diesen frühen Jahren war also „Polen der Kitt für ein russisch-preußisches Bündnis". 16 Büsching erwähnt dann alle wichtigen Eckpunkte der russisch-preußischen Beziehungen, insbesondere die durch Kurfürst Friedrich Wilhelm und Aleksej Michajlovic geschlossenen Verträge sowie die persönlichen Begegnungen zwischen Peter I. und dem Kurfürsten Friedrich III. (ab 1701 König Friedrich I.) und Friedrich Wilhelm I. und die in diesem Zeitraum geschlossenen Verträge und gemeinsamen militärischen Aktionen gegen Schwe13

14 15 16

A.F. Büsching, Beyträge zu der Lebensgeschichte denkwürdiger Personen, insonderheit gelehrter Männer. 6. Teil, Halle 1789, S. 472 ff. W O N A 1776/31. Ebenda. I. Mittenzwei, Friedrich II. von Preußen, Berlin 1980, S. 168.

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den. Im Resümee sagt Büsching: „Mit einem Wort, alle drei Könige von Preußen haben so wie Kurfürst Friedrich Wilhelm zum besonderen Augenmerk gehabt, sich der Freundschaft des russisch-kaiserlichen Hofes zu versichern und dieselbige auf alle mögliche Art und Weise zu unterhalten." 17 Als ein anschauliches Beispiel preußisch-russischer diplomatischer Beziehungen veröffentlichte Büsching bereits ein Jahr zuvor im Magazin Teil 9 (1775) die „Beschreibung der zweiten Gesandtschaft, welche Joachim Scultetus 1675 nach Rußland getan". Samuel Pufendorf hatte im 2. Teil der Commentarii de rebus gestis Friderici Wilhelmi magni, Electoris Brandenburgici nur einen kleineren Auszug und einige Urkunden veröffentlicht. Minister Hertzberg, dem „verehrungswürdigsten Patrioten in den Preußischen Staaten" 1 8 , aber schien es wichtig, diese „Beschreibung" freundschaftlicher Verbindung vollständig zu veröffentlichen. Büsching wußte wohl, das Hertzberg nicht das reine historische Interesse trieb. In seiner Vorrede verspricht er, der Leser würde in dem eben hundert Jahre alten Dokument „etwas für die Geschichte . . . die alten und neuen (! M.P.) Verhältnisse, Staatsregeln, Gebräuche, Rangstreitigkeiten und Titel der Höfe . . . finden." Natürlich war die Veröffentlichung des gesamtes Textes in der Sprache seiner Zeit verdienstvoll. Dennoch: Der „praktische Hintergrund" scheint durch. Die „Beschreibung" enthält zahlreiche Details zum diplomatischen Reisen im letzten Viertel des 17. Jh., viel zu den Zeremonien, den Regeln des Umgangs, den Rechten und Pflichten der Gesandten, den Empfängen - kurz das ganze diplomatische Protokoll. Und sie enthält den Appell zum gleichberechtigten Umgang, den Wunsch des kleinen Partners Preußen, von Rußland als ebenbürtig anerkannt zu sein. Scultetus verzeichnete das russische Protokoll auch deshalb so genau, um zu demonstrieren, daß es vom brandenburgischen erheblich abwich, und er forderte, den russischen Gesandten in Berlin genauso „knapp" zu halten, wie es ihm in Rußland widerfahren war. Den offenkundigen „Wink" der aktuellen Diplomatie bringt Büsching allerdings mit ähnlich diplomatischem Geschick zur Waage, indem er in der Vorrede zum Scultetus sagt: „Es gibt in verschiedenen Ländern einäugige Leute, welche Rußland für das Land der Blinden halten und glauben, daß sie daselbst sehr scharfsichtige Menschen vorstellen würden. Sie irren aber sehr und werden nicht nur durch die neueste, sondern selbst durch die ältere Zeit beschämt." 1 9 Dies ist nicht Ausdruck einer Staatsräson bei Büsching. Der Satz entspricht seiner vielfach geäußerten Überzeugung. Er darf als Credo seiner Rußlandpublizistik angesehen werden. Sie steht - sieht man aufs Ganze - im glatten Widerspruch zu den Rußland-Berichten des königlich-preußischen Geheimen Kabinettrates Johann Gotthilf Vockerodt, aus denen Friedrich II. als Kronprinz sein Rußlandbild bezogen hatte und dem er lange anhing. Büsching hatte Vockerodt 1754 kennengelernt und von ihm eine wertvolle rußlandkundliche Quelle erhalten. 20 Doch Staatsräson ist andernorts sehr deutlich spürbar. Da Büsching in den „Wöchentlichen Nachrichten" auch von „historischen Sachen" berichten wollte, unterzog er auch die Jahre 1741 und 1756-1762, in denen das Einvernehmen zwischen Berlin und Petersburg unterbrochen, war in die Betrachtung ein. Die Ursachen für den Übergang Rußlands an die Seite Österreichs aber lagen auch für ihn keineswegs im Aufbrechen ökonomischer und dynastischer Interessengegensätze, sondern lediglich in den Ränken „gewisser Personen". Da unterscheidet sich der aufgeklärte Publizist, der zahllose objektive Berichte und fundierte Analysen über Rußland und russische Verhältnisse veröffentlicht hatte, kaum von 17

WÖNA

18

Büsching, Beyträge, 5. Teil, Halle 1788, S. 574.

1776/31.

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A.F. Büsching, Magazin für neue Historie und Geographie, Teil 9, Halle 1775, S. 1.

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M. Pantenius, A n t o n Friedrich Büsching,(wie A n m . 6), S. 12.

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der populären Presse seiner Zeit. So wird - entgegen jeder objektiven Einsicht - auch bei Büsching die Auflösung des Bündnisses Rußland-Preußen und der Ubergang des Zarenreiches auf die Seite Österreichs und Sachsens 1741 nicht etwa mit dem Uberfall des jungen Preußenkönigs Friedrich auf Schlesien erklärt. Sie hat vorgeblich einzig und allein zu tun mit den Intrigen des Wiener Marquis Anton Otto de Botta und des Dresdner Gesandten in Petersburg, Graf Moritz Carl von Lynar, „wobei der Prinzessin (Anna Ivanovna - M.P.) heftige Liebe zu dem sächsischen Gesandten die stärkste Triebfeder war." 21 Dieses Argument hätte Büsching - wie kein anderer Publizist - ad acta legen können. Zum Hause Lynar hatte er Beziehungen wie kein zweiter. Mit dem Bruder des verdächtigten Gesandten, Graf Friedrich Rochus von Lynar, der das Vertrauen Friedrich II. besaß und seinem König bei der Lösung der polnischen Frage 1769 wertvolle diplomatische Hilfestellung geleistet hatte, war er als Hofmeister 1750 erstmals nach Petersburg gereist. Anschließend hatte er in dieser Stellung zwei Jahre auf dem Lynarschen Stammsitz in Itzehoe in Schleswig gelebt. Briefe wurden seitdem gewechselt. Selbst die „Kriegsursache Moritz Carl von Lynar" kannte Büsching persönlich. 22 Kein Wort liest man also in den „Wöchentlichen Nachrichten" von den Beweggründen der Staaten England, Rußland, Österreich, Sachsen und Holland, die am 16. Februar 1741 in Dresden beschlossen hatten, Preußen mit Waffengewalt zur Einhaltung der Pragmatischen Sanktion zu zwingen. Die Rolle Englands, das zu dieser Zeit der Interessengemeinschaft Rußland-Österreich sehr wohlwollend gegenüberstand, wird überhaupt nicht erwähnt. Von Elizaveta Petrovna, deren Regierungsantritt den Vollzug des Dresdner Bündnisses durch Rußland zunächst verhinderte, heißt es bei Büsching, die Tochter Peters I. wäre nach anfänglichen Symphatien für die Sache Preußens dann doch noch den Einflüsterungen des Grafen und Großkanzlers Aleksej Petrovic Bestuzev-Rjumin erlegen, der „dem königlich-preußischen Hause sehr abgeneigt war". 2 3 Büsching beruft sich zwar auf die Aussagen, die der Großkanzler ihm gegenüber 1765 gemacht hätte, und die Preußenfeindlichkeit Bestuzev-Rjumins ist in zahlreichen Quellen belegt. Dennoch ist nicht anzunehmen, daß Büsching die wahren Hintergründe, die nach der preußisch-englischen Westminster-Konvention vom 16.1.1756 zur österreichisch-russisch-französischen Koalition geführt hatten, nicht kannte. Büsching unterhielt einen ausgedehnten Briefwechsel durch ganz Europa, aus nur einer Quelle hat er kaum geschöpft. Er konnte wissen, daß Friedrich II. die Westminister-Konvention nur geschlossen hatte, weil er glaubte, Rußland könne ohne englische Subsidien nicht an der Seite Österreichs in den Kampf gegen ihn eintreten. Es liegt auf der Hand: Die Ursachen für die höchst unbefriedigenden Erklärungen, die Büsching in den „Wöchentlichen Nachrichten" über das preußisch-russische Verhältnis der betreffenden Jahre macht, liegen in der Tatsache begründet, daß Preußen 1776 - am Vorabend des nächsten Waffengangs gegen Österreich - alles unterlassen mußte, was am Petersburger Hof auch nur im geringsten mißverstanden werden konnte. Büschings „Nachrichten" galten - wie sein „Magazin" - in Petersburg als halbamtliches Organ aus Preußen. Auf nichts war Preußen im Interesse der Durchsetzung seiner Politik gegen Habsburg dringender angewiesen als auf die Neutralität - und wenn es irgend möglich war - auch auf die Freundschaft des von einer preußischen Generalstochter regierten Rußlands. Als das Russische Reich 1779 gemeinsam mit Frankreich die Garantie des Teschener Friedens zwischen Preußen und Österreich übernahm, informierte Büsching zwar ausführ21 22 23

W Ö N A 1776/31. Büsching, Beyträge (wie Anm. 18), 4. Teil, Halle 1786, S. 7 3 - 2 1 8 . W Ö N A 1776/31.

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lieh über den Inhalt des Vertrages, der den Bayrischen Erbfolgekrieg 1 7 7 8 / 7 9 beendete, enthielt sich aber jeden Kommentars zu diesem Vorgang, der Rußlands Position als G r o ß macht in Europa wesentlich stärkte und den A n s t o ß zur fortschreitenden preußisch-russischen Entfremdung bot. Von der Verteidigung der „Rechtmäßigkeit" des Handelns der Teilungsmächte gegenüber Polen ist Büsching niemals abgewichen. N o c h 1785 verwahrt er sich gegen die inzwischen in der europäischen Publizistik üblichen Verwendung des Begriffs „Teilung von Polen" und stellt fest: Dieser „Ausdruck ist sehr übel gewählt, denn es ist noch ein besonderer, ansehnlicher Staat". 24 Natürlich wußte der Erdbeschreiber und hervorragende Kartograph Büsching nur zu gut, daß durch die „Teilung" - sprich durch die Abtrennung wesentlicher Teile des Staatsgebietes - Polen ein Drittel seines Territoriums verloren und Preußen mit dem Erwerb von Westpreußen und Ermsland mehr als 500 000 Seelen dazugewonnen hatte. 25 Dies vor allem bedeutete eine enorme Schwächung der Adelsrepublik. Büsching wußte ebenso, daß Rußland mit Polnisch-Livland und großen Teilen Weißrußlands größere Territorien erhalten hatte, daß Osterreich durch den Gewinn Galiziens zu 6 Millionen Neubürgern gekommen war 26 Preußens Anteil an diesem Raub erschien dagegen gering. Büsching akzeptiert die Handlung Friedrichs II., denn sie entsprach der Pflicht des Monarchen, dessen erste Sorge der Vermehrung der Bevölkerung zu dienen hatte. Dies Schloß ein, keine sichere Gelegenheit einer territorialen Gebietserwerbung ungenutzt zu lassen. 27 Demzufolge setzt sich die Akzeptanz des Einvernehmens der drei G r o ß m ä c h t e in der polnischen Frage bis in die 8. Auflage der „ N e u e n Erdbeschreibung" 1787 fort. Der Publizist, der auf zahlreichen Gebieten, wie Demographie, Kirchenpolitik, Volksbildung, Kultur, geographischer Forschung und Historiographie, zahllose objektive Berichte veröffentlicht hatte, blieb hier streng bei der Version der Mächtigen. Stanislaw August Poniatowski wurde demnach 1764 „zum König erwählt". Kein Wort davon, daß diese „Wahl" aufgrund preußisch-russischer Absprache und mit Hilfe russischer Bestechungsgelder und massiver militärischer Drohungen erfolgt war. Die sogenannte Dissidentenfrage wird von Büsching als Anlaß eines „grausamen innerlichen Krieges" akzeptiert, „währenddessen die benachbarten Mächte Rußland, Osterreich und Preußen (hier ist die Reihenfolge wichtig M.P.) sich verbanden, ihre Ansprüche an Provinzen des Staates geltend zu machen, wie sie denn Besitz von denselben nahmen." 2 8 Eine Einschätzung der Rechtmäßigkeit dieser Ansprüche gibt Büsching auch an dieser Stelle nicht. Vom Einrücken eines russischen Heeres 1767 und der Durchsetzung der Gleichberechtigung der nichtkatholischen Konfessionen unter diesem Druck findet sich nichts, ebensowenig aussagekräftige Informationen über H e r k o m m e n , Weg und Ziel der Adelsbewegung „Konföderation von Bar". Verwundern wird das nicht. Die Konföderation war eindeutig antirussisch und antimonarchisch ausgerichtet. Sie kämpfte mit Waffen gegen den polnischen König von russischen und preußischen Gnaden. D a f ü r ist die Bilanz des Teilungsjahres 1772 umso eindeutiger. Sie gipfelt in dem Satz: „Wenige Staaten haben so gewisse, bestimmte Grenzen als jetzt der polnische, und das ist der größte Vorteil, den er für den Verlust fast des dritten Teiles seiner ehemaligen Größe erlangt hat." 2 9 24 25 26 27

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W Ö N A 1785/11. I. Mittenzwei / E. Herzfeld, Brandenburg-Preußen 1648-1789, Berlin 1987, S. 384. R. Mandrou, Staatsräson und Vernunft. 1649-1775, Frankfurt 1981, S. 272. Vgl. K. Zernack, Polen in der Geschichte Preußens, in: Handbuch der Preußischen Geschichte, Berlin, New York 1992, Bd. II., S. 423 ff. Büsching, Neue Erdbeschreibung, 8. Aufl., Hamburg 1787,Teil II, S. 175. (Paginierung falsch, exakte Zählung ergibt S. 139). Ebenda.

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Folgerichtig ordnet Büsching alle russischen Landgewinne gegenüber Polen in der „Neuen Erdbeschreibung" kommentarlos den entsprechenden Gouvernements zu. D a ß es sich um ehemals polnische Gebiete handelt, wird nur an gelegentlichen Hinweisen, etwa auf aufgelöste katholische Priesterseminare und Klöster sichtbar, kaum je durch die Erwähnung der vormals polnischen N a m e n für Städte, Flüsse etc. Interessant ist nun, wie Büsching in einer Schrift urteilt, die zwar nicht außerhalb des preußischen Machtbereichs gedruckt wurde, von der aber von vornherein feststand, daß sie nur von sehr wenigen Lesern in Preußen zur Kenntnis genommen würde. 1784 - zwei Jahre vor dem Tod Friedrichs II, in einer Zeit, in der sich Meinungs- und Pressefreiheit stärker Bahn brachen - erschien in Halle an der Saale die „Neueste Geschichte der Evangelischen beider Konfessionen im Königreich Polen". Auf den ersten Blick scheint es in epischer Breite - 536 Seiten! - ausschließlich um die Darstellung der Streitigkeiten zwischen den Parteiungen Reformierte und Lutheraner in Polen zu gehen. In diesem großen Rahmen aber nimmt Büsching Gelegenheit, über den 1768 auf dem Reichstag zu Warschau zwischen Rußland, Preußen, Dänemark, Großbritannien und Schweden auf der einen und dem König und der Adelsrepublik Polen auf der anderen Seite geschlossenen Vertrag zu informieren. Ebenso über die in den vielgelesenen „Wöchentlichen Nachrichten" aus Berlin lediglich namentlich erwähnte Konföderation von Bar. Über die Ursachen, die zur Teilung der Rzeczpospolita führten, schweigt er sich zwar auch hier weitgehend aus, aufschlußreich aber sind die Anmerkungen, aus denen hervorgeht, mit welchen Mitteln und Methoden Rußland, vertreten durch seinen Großbotschafter O t t o Magnus von Stackelberg, nach der Teilung von 1772 versuchte, Einfluß auf die Entwicklung im Nachbarland zu nehmen. Detailliert berichtet Büsching von den russischen Versuchen, die Partei des Barons August Stanislaus von der Goltz zu stärken, mit dem Ziel, diesen, Rußland große Sympathie entgegenbringenden Mann, zum H a u p t der nichtkatholischen Bevölkerungsgruppe in Polen zu machen und den von ihm geführten Adel insgesamt dazu zu benutzen, den polnischen Staat weiterhin zu schwächen und zu spalten. Büsching bestätigt, daß Goltz versuchte, ein Kirchengesetzbuch zu unterdrücken, weil es angeblich ein diskriminierendes Werk sei, ein Gesetzbuch „welches die Dissidenten so vorstellt, als ob sie in einem Lande lebten, das ohne Gesetze und Gerichtshöfe wäre" und die man also nach wie vor befreien müsse. Von Goltz wird nachgesagt, „der zweite König in Polen und Litauen" sein zu wollen. 30 Abgedruckt in dieser „Neuesten Geschichte" finden sich Briefe von Goltz an Katharina II. und ein Brief von Nikita Ivanovic Panin an Stackelberg, der den kaiserlichen Befehl enthält, alles zu tun, um den Dissidenten unter Goltz beizustehen. 3 1 Panin bloßzustellen, war mehr als riskant. Panin war nicht nur sein Förderer, er erfreute sich - wenn die Aussagen auch zwiespältig sind - insgesamt der Gunst Friedrichs II. 32 Doch die offene Einmischung in die inneren Angelegenheiten Polens erregt den besonderen Zorn des Wissenschaftlers Büsching so, daß er sich darüber hinwegsetzt. Zwar weiß er, daß die adlige Goltzsche Partei alles tut, um ihre bürgerlichen Glaubensbrüder zu unterdrücken und auszubeuten, und er erkennt, daß der Streit von Personen und G r u p p e n geführt wird, „die um gewisser politischer Ursachen willen aus der Gottesdienstlichkeit ein Blendwerk machen" 3 3 . Er unterschiebt ihm lediglich „Privatabsichten", und ungebrochen ist sein 30

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Büsching, Neueste Geschichte der Evangelischen beider Konfessionen im Königreich Polen und Großherzogtum Litauen von 1768 bis 1783 nebst der besonderen Geschichte der evangelisch-lutherischen Gemeinde zu Warschau, Halle 1784, S. 68. Ebenda. Medinger (wie Anm. 12), S. 126. Büsching, Neueste Geschichte (wie Anm. 30), S. 129.

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Glaube an den „guten König", der leider schwach ist: „Der Partei, welche ohnedem schon die stärkste war, an deren Spitze der in einem fremden Staat wie (ein /M.P.) Landesherr befehlender russischer Großbotschafter blitzte, die aus lauter Exzellenzen und Hochwohlgeboren bestand, dieser Partei glückte es, selbst den König für ihre Absichten einzunehmen." 34 Büsching war - bei aller Kritik am absolutistischen System - die sich vielfach wenn eben auch nicht im Hinblick auf preußische Außenpolitik und die Beziehungen Preußen-Rußland findet - ein Reformer. Er befürwortete eine Reform des Bestehenden, revolutionäre Veränderungen aber lehnte er ab. Auch aus der der „Neuesten Geschichte" angehängten „Geschichte der evangelisch-lutherischen Gemeinde zu Warschau" läßt sich entnehmen, mit welchen Mitteln der russische Hof Einfluß in Warschau nahm. Die Streitigkeiten, die Otto Magnus von Stackelberg an der Weichsel förderte, in die er sich einmischte und mit grobem Druck im russischen Interesse zu entscheiden suchte, sind groß an Zahl. Die Ohnmacht des polnischen Staates gegenüber Rußland kann kaum deutlicher dargestellt werden als in Büschings Bericht. An einer Stelle heißt es, der polnische Großkanzler habe erklärt, „Willensäußerungen des russischen Großbotschafters" wären „Fundamentalgesetze", jede Widerrede dagegen ein „Staatsverbrechen". 35 Wenn Büsching das auch auf Religionsstreitigkeiten und diverse Angelegenheiten der Warschauer Gemeinde bezieht, so geht man doch nicht fehl in der Annahme, daß dies auf alle die Adelsrepublik Polen betreffenden Fragen gemünzt war. Festgehalten werden muß, daß Büsching in der Person Stackelbergs objektiv zugleich auch Rußland attackierte, daß in seiner Darstellung die Politik Katharinas II. in einem ungünstigen Licht erscheint. Wahrscheinlich hat sich Büsching vor der Veröffentlichung dieses Buches zumindest der Duldung Hertzbergs versichert. Der preußische Politiker, der erst 1791 den auswärtigen Dienst quittierte, sah als erster die Gefahr, die für Preußen durch weitere Teilungen Polens entstehen konnte. Die „Barriere" fiele weg, Preußen geriete in die unmittelbare Nachbarschaft seiner übermächtigen Rivalen. 36 Die preußisch-russische Entfremdung nach dem Bayrischen Erbfolgekrieg und den ihn beendenden Teschener Frieden von 1779 hatte ihre Ursache nicht nur in weiteren Annektionsabsichten Friedrich II. gegenüber Polen und der sich daraus ergebenden Konkurrenz zu Rußland und Osterreich. Sie lag vor allem in der offenkundigen Annäherung Rußlands an Österreich und dem Verhältniss dieser beiden Staaten zur Türkei. Rußland und Osterreich kämpften gegen das Osmanische Großreich, Rußland mit wachsendem Erfolg. Preußen begrüßte - im Interesse freier Hände in Zentraleuropa - die Bindung starker russischer Kräfte im Süden, am Kaukasus und auf der Krim. Daß Osterreich Truppen auf dem Balkan binden mußte, sah Preußen ebenso als Vorteil an, trug aber Sorge, daß die Türkei imstande blieb, die Kräfte seiner Gegner dauerhaft zu binden. Der preußisch-türkische Freundschafts- und Handelsvertrag vom 2. April 1761 war zwar von geringer Bedeutung, aber er war ein Indiz. Büsching, der vor allem im „Magazin" viel zum aktuellen Handel, zu Warenströmen publizierte, hat dazu nie etwas veröffentlicht. Das Thema Rußland-Osterreich, die Türkei und Preußen war äußerst diffiziel. Büsching wagte nicht, die Rechtmäßigkeit der Südexpansion Rußlands anzuzweifeln. Die Staatsräson in diesem Punkte anzunehmen, fiel ihm vielleicht nicht einmal schwer. In ihm war wohl der alte, ihm in Halle anerzogene, christlich-pietistische Missionsgedanke noch lebendig. Natürlich, Rußland unterdrückte fremde Völker. Aber es waren heidnische Völ34 35 36

Ebenda, S. 137. Ebenda, S. 440. Zernack, Polen in der Geschichte (wie Anm. 27).

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ker, und Unterdrückung durch einen Herrscher, der das Christentum brachte - und sei es mit Mitteln, die einem Kreuzzug gleichkamen - , war allemal noch besser als Unterdrückung durch die Heiden. Als solche sah der Lutheraner Büsching Krimtataren und Türken selbstverständlich an. Also erwuchs aus dieser russischen Aggression der reine Segen. Befremdend wirkt Büschings Darstellung der dem Osmanischen Reich verbundenen Krimtataren, die sich nach der russischen Eroberung urplötzlich vollständig gewandelt haben sollten. „Sie sind nicht mehr das rohe, schmutzige, räuberische Volk, das man vormals mit so abscheulichen Farben schilderte. Sie sind . . . regelmäßig und gut gebildet, in ihrem Gesicht liest man ihre Ehrlichkeit und Gutherzigkeit. Sie lieben die Menschlichkeit . . . Sie haben einen sehr guten, natürlichen Verstand und einen geschmeidigen Geist, welcher des höchsten Grades der Ausbildung fähig wäre. Ihre Kleidung ist sehr reinlich, ordentlich . . ," 37 Gesetzt den Fall, diese Darstellung wäre zutreffend, könnte das nur heißen, der hier festgestellte Nationalcharakter hat Tradition, er kann unmöglich das Ergebnis einer erst vierjährigen russischen Besetzung sein. Worin bestand dann aber die Notwendigkeit, die Krimvölker zu unterwerfen? Büsching geht auf den offensichtlichen Widerspruch nicht ein. Er hätte ihn zur Kritik an der Expansionspolitik des Zarenreiches geführt. Von den Befürchtungen seines Königs, Rußlands Macht könnte ausufern, Österreich dadurch genötigt werden, die türkische Partei zu stärken und Preußen in den Konflikt verwickelt werden, wußte Büsching nichts. Und die Kaschuben, die ja von Büsching auch in „abscheulichen Farben" geschildert worden waren? Sie waren unverbessert geblieben. Sollte aus dieser Auslassung geschlossen werden, daß es in Polen weitere preußische Eroberungen zu machen galt? Rußland agierte im Waffenbund mit Österreich und - zeitweise - auch mit preußischen Subsidien - gegen die Türkei, doch nachdem das Osmanische Reich weitgehend geschwächt worden war, fürchtete Joseph II. zunehmend den steigenden Einfluß des Russischen Reiches in Südosteuropa. Der römische Kaiser sah den Balkan in Gefahr, dessen slawische Völker seine Untertanen waren. Ihm mußte an Sicherheiten gelegen sein. Er lud sich deshalb selbst nach Rußland ein und traf bereits im Juli 1780 in Mogilev mit Katharina II. zusammen. Büsching berichtet über die Vorbereitungen der Reise des „Grafen von Falkenstein", zählt Stationen auf, erwähnt das Nebensächliche. Kein Wort fällt über die in Berlin scharf abgelehnte Annäherung Österreich-Rußland. Der Inhalt der Unterredungen zwischen Katharina II. und Joseph II. und dem Gespräch zwischen Katharina II. und dem König von Polen wird mit keinem Wort erwähnt. Dabei hatte Büsching den denkbar besten Informanten. Graf Friedrich von Anhalt, Generalleutnant und persönlicher Adjutant der Kaiserin, schrieb ihm von der Taurischen Reise regelmäßig. Er übermittelte Büsching sogar seltene Bücher, die er unterwegs erwerben konnte. - Es ist ganz offensichtlich: So wie man im Jahrgang 1781 in den „Wöchentlichen Nachrichten" vergeblich etwas über das in diesem Jahr geschlossene Garantieabkommen zwischen Österreich und Rußland, das zur völligen Entfremdung der Höfe in Berlin und Petersburg führte, suchen wird, so wie auch dem Jahrgang 1783 nichts über das faktische Zusammengehen Rußlands und Österreichs bei der Besetzung der Krim und dem in jenem Jahr zwischen Katharina II. und Joseph II. geschlossenen Vertrag zur weiteren Aufteilung des Osmanischen Reiches zu entnehmen ist, so hat Büsching jede eigene Stellungnahme zu einem den preußisch-österreichischen Dualismus berührenden Vorgang vermieden. Aber er mußte sich darauf verstehen, die preußisch-regierungsamtlichen Pamphlete zum Bayrischen Erbfolgekrieg abzudrucken. Das tat er ohne jeden Kommentar. An den äußerst fadenscheinigen Antworten, die er den 37

Büsching, Neue Erdbeschreibung (wie Anm. 28), S. 1200.

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österreichischen Kritikern seiner „Nachrichten" im Anschluß lieferte, ersieht man, wie zuwider ihm die Einbeziehung seiner Person in die neuen politischen Kontroversen war. Preußen war durch das Zusammengehen Österreichs mit Rußland weitgehend isoliert. Er aber war preußischer Untertan, wollte und mußte es bleiben. Doch nur der Kaiser in Wien konnte ihm seinen Lebenswunsch erfüllen und ihn zum Reichsgeographen bestellen. Mutwillig wollte er sich zwischen Preußen und Österreich nicht zerreiben lassen. Daß sich Büsching unter keinen Umständen durch vorzeitige politische Stellungnahmen zwischen die Stühle setzen wollte, ist auch aus der Behandlung der Frage der „bewaffneten Neutralität" in den „Wöchentlichen Nachrichten" ersichtlich. Die Bedeutung dieser von Rußland initiierten und 1780 veröffentlichten politischen Grundsatzerklärung, die auf eine direkte Unterstützung der sich erhebenden amerikanischen Kolonien Englands hinauslief, war Büsching nur zu gut verständlich. Nach der Entfremdung zwischen Preußen und Rußland aber lag in der Annäherung an England eine Chance Preußens. Im Jahre 1780 war da nichts entschieden. Preußen unterzeichnete zwar nach Dänemark, Schweden und den Niederlanden 1781 die Deklaration, doch Friedrich II. überstürzte nichts. Er beließ es bei freundlichen Gesten gegenüber den Aufständischen und lehnte deren Anerkennung solange ab, bis Großbritannien selbst die Unabhängigkeit der Kolonien im Pariser Präliminarfrieden vom 30.11.1782 verbriefte und feststand, daß die Amerikaner ihre Unabhängigkeit tatsächlich behaupteten. In den „Wöchentlichen Nachrichten" von 1781 findet sich deshalb nur die kommentarlose Referierung eines anonymen Essays zum Inhalt der Deklaration, der bereits 1780 unter dem Titel „La Liberte de la navigation et du commerce des nations neutres pendant la guerre" unter den Verlagsorten London und Amsterdam erschienen war. Erst als der preußische Kriegsrat und geheime Archivar Christian Wilhelm von Dohm in seinen „Materialien für die Statistik und neuere Staatengeschichte" (Lemgo 1782) eine deutsche Ubersetzung des russischen Gesetzes vorlegte und dazu 29 Dokumententexte veröffentlichte, war die offizielle politische Stellung Preußens für Büsching einsehbar. Er stimmte unverzüglich zu und schrieb, daß „alles vorzüglich erheblich" sei.38 Wer Büschings politische Vorsicht kennt, wird sich nicht wundern, daß er sich als Herausgeber des „Magazins für neue Historie und Geographie" dennoch nicht bemühte, nun ebenfalls Dokumente zu diesem Vorgang zu erlangen und zu veröffentlichen. Den Abdruck der Dokumente, die den Beitritt der Niederlande und Österreichs vor allem auch Preußens belegen und die wohl mancher Zeitgenosse im „Magazin" zu finden hoffte, überließ er dem „Neuen Petersburger Journal". Vermutlich wußte er von Hertzberg von den separaten Verhandlungen Preußens mit den Amerikanern, die sich hinzogen und erst 1785 zum Abschluß eines Freundschafts- und Handelsvertrages führten. Büsching publizierte in Preußen zwischen 1765 und 1788. Es war die Zeit, in der sich der Herrschaftsstaat Friedrichs II. zum „Anstaltsstaat" wandelte. Büsching gehörte zu der steigenden Zahl von Funktionären, die zu besonderer Loyalität verpflichtet waren. Und als nichtadliger Beamter war er es in besonderer Weise. Er war mit dem Funktionieren eines der wichtigsten Teile des Regimentes - dem Schulwesen - beauftragt. Das betraf die Innenpolitik, und auf diesem Gebiet hat er den relativ großen Spielraum preußischer Pressefreiheit auch bis an seine Grenzen genutzt. Beispiele dafür sind seine zahlreichen Schulschriften, die tiefgreifende Forderungen enthielten. Als Direktor des Grauen Klosters hat er sich in diesen Fragen auch in ungewöhnlich offener Weise direkt und fordernd an seinen König gewandt. Was die Außenpolitik angeht, so war er sich seiner besonderen Verantwortung als Herausgeber und Publizist bewußt. Er wußte, daß er einen großen Einfluß auf die Gruppe der Gebildeten, der Lesenden und Schreibenden besaß, auf den Teil 38

W Ö N A 1882/46.

Das preußisch-russische Verhältnis im Spiegel der Schriften Anton Friedrich Büschings

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der Bevölkerung also, der „das soziale Substrat der sich bildenden öffentlichen Meinung stellte". 39 Loyalität und Subordination waren Büsching keine widerwillig angenommenen Verhaltensweisen. Sie entsprachen dem Bildungsideal des Pietismus und der Aufklärung. Es galt der Erziehung nicht nur zum Menschen und Bürger, sondern auch zum Patrioten. Dieser Haltung ist auch Büschings Abhandlung über den „Charakter Friedrich des zweyten, Königs von Preußen" verpflichtet. Fragen der Außenpolitik, des Verhältnisses Preußens zu seinen Nachbarn, mithin Krieg und Frieden kommen hier - bis auf eine beschönigende Ausführung zur Subsidienfrage - nicht vor. Solange Büsching von der grundsätzlichen Übereinstimmung seiner aufklärerischen Grundüberzeugung mit dem Weg Preußens durchdrungen war, war er loyal, ordnete sich höherem Interesse unter. Im Interesse möglichst unbeschnittener Publikationsfreiheit ließ er es sich gefallen, daß sein populäres Wochenblatt zuzeiten von der preußischen Regierung als Mitteilungsblatt und Sprachrohr mißbraucht wurde. So verbreitete zum Beispiel der Großkanzler und Justizminister von Carmer seinen Entwurf eines allgemeinen Gesetzbuches für die preußischen Staaten mittels der „Wöchentlichen Nachrichten" 4 0 In das 52. Stück des Jahrganges 1785 rückte Büsching eine ausführliche Erklärung des preußischen Geheimrates von Dohm ein, in der der Zweck des von Friedrich II. angestrebten Fürstenbundes ausführlich erläutert wurde. Im folgenden Stück (1786/1) mußte sich Büsching darauf verstehen, Dohms Schrift „Uber den deutschen Fürstenbund" ausführlich und mit eigenen Worten zu würdigen. Erst als Carmer 1788 daran ging, die liberale Pressepolitik Preußens grundsätzlich infrage zu stellen, kündigte er dem Staat, dessen außenpolitische Maßnahmen er - in manchen Punkten wider eigene Uberzeugungen - unterstützt hatte, die publizistische Gefolgschaft. Doch über seinen Schatten sprang er nicht. Er ging nicht auf die Seite der revolutionären Publizisten über. 1888, am Vorabend der Französischen Revolution, legte er die Feder nieder. In den fünf Jahren bis zu seinem Tode 1793 hat er sich an den stürmischen Auseinandersetzungen mit den Ideen dieser neuen großen geistigen Bewegung nicht beteiligt. Wie er am Ende seines Lebens zu Preußen stand, erhellt das letzte Kapitel seines Lebens. Der hohe preußische Beamte, der mit der Königin zu Mittag gespeist, der Friedrich II. oftmals unerschrocken widersprochen hatte und von ihm „eine Vocation und 16 Cabinettsantworten" empfangen hatte 41 , ließ sich am 4. Juni 1793, ohne jede öffentliche Begleitung und um Mitternacht in einem Blumenbett seines Gartens begraben.

39 40 41

Vierhaus, Deutschland (wie Anm. 8), S. 80. W Ö N A 1784/9. Büsching, Beyträge (wie Anm. 13), Teil 5, S. 583.

ALEXANDER S . MYL'NIKOV, ST. PETERSBURG

Kaiser Peter III. von Rußland Wahrhaftig, diesem Mann war das Glück nicht hold, weder im Leben noch nach dem Tode. Mit welchen Schimpfnamen zeichneten Historiker und Schriftsteller diesen Peter Fedorovic nicht alles aus. So war er für sie ein stumpfsinniger Exzerziernarr", „Lakai Friedrichs II. von Preußen", „Verächter alles Russischen", „chronischer Alkoholiker", „beschränkter Despot" und „impotenter Ehemann". Jedoch das ist längst keine vollständige Aufreihung von Charakteristiken, die gewöhnlich die Namensnennungen dieses russischen Kaisers begleiteten und begleiten. In wahrhaft konzentrierter Form ist diese Verdammung von Person und Wirken Peters III. in einer Abhandlung neueren Datums enthalten, wo es heißt: „Diesem Monarchen war es schon vor seiner Thronbesteigung gelungen, sich durch seine närrischen Ausfälle, groben Trinkgelage und völlige Unfähigkeit zur Leitung von Staatsgeschäften sowie, was für seine Untertanen besonders beleidigend war, seine Verachtung alles Russischen einen Namen zu machen. Er befahl, die Garde in neue Uniformen nach dem Muster der preußischen zu stecken, ordnete an, den orthodoxen Geistlichen die Bärte zu scheren und deutsche Kleidung in der Art der protestantischen Pastoren zu tragen. Die Zukunft seiner Regierung war vorherbestimmt. Bereits sechs Monate nach seiner Thronbesteigung kam es zur Verschwörung gegen ihn". 1 Obwohl es um die Persönlichkeit und das Leben Peter Fedorovics „keinerlei Geheimnis" 2 gibt, sind die Fragen, die die Regierungsweise und den Charakter dieses Kaisers von Rußland betreffen, keineswegs so leicht zu klären, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. Schwierigkeiten macht erstens bereits die Kennzeichnung der Grundrichtung von Peters Regierungspolitik, die deutliche Züge eines „aufgeklärten Absolutismus" trägt. Darauf weist auch S. O . Smidt in seiner Stellungnahme zu dieser Frage hin. So heißt es bei ihm: „Die typischen Merkmale einer Politik des aufgeklärten Absolutismus' äußerten sich in der kurzen Regierungszeit Peters III. besonders deutlich . . . Das sogenannte Zeitalter Katharinas begann eigentlich schon einige Jahre vor deren Thronbesteigung". Aber, der Tradition folgend, wie sie von S. M. Solovev und V.O. Kljucevskij begründet wurde, räumte Smidt ein, daß „eine solche Politik nicht so sehr den Geschmack des Kaisers selbst ausdrückte, sondern den der Mitglieder seiner Regierung, die bereits in der Staatspolitik der vorangegangenen Regierung aktiv geworden waren". 3 Trotzdem ist, zweitens, durch diesen Vorbehalt die Frage der persönlichen Beteiligung Peters III. an der Lenkung des Staates nicht aufgehoben. Ist es doch bekannt, daß sich solch bedeutende Vertreter der russischen Kultur wie V.N. Tatiscev, M.V. Lomonosov und Jakob v. Stählin, die Peter persönlich kannten, achtungsvoll über den Großfürsten und späteren Kaiser geäußert haben. Schwerlich kann man auch die Meinung G.R. Derzavins ignorieren, der die Beseitigung der repressiven „Geheimen Kanzlei" durch Peter III. ein „Denkmal der Barmherzigkeit" genannt hat. 4 Oder soll man verschweigen, daß F.V. Krecetov, der 1793 wegen Freigeisterei lebenslänglich in die Peter-Pauls-Festung eingekerkert wurde, die Absicht hatte, „die Größe der Taten Peter Fedorovics bekanntzumachen", 1 2

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A. Gavrunskin, Ozabotjaä blagom Otecestva, in: Mezdunarodnaja ζίζή 1988/12, S. 107. E.V. Anisimov, Rossija ν seredine XVIII v., Moskau 1986, S. 214. Als neuere Übersicht der einschlägigen Historiographie vgl. S. C. Leonard, The Reputation of Peter III, in: The Russian Review (1988), Nr. 3. S. O. Smidt, Vnutrennaja politika Rossii serediny XVIII veka, in: Voprosy istorii 1987/3, S. 57-58. G.R. Derzavin, Izbrannaja proza, Moskau 1984, S. 266.

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und der Dichter A.F. Vojkov im Jahre 1801 den ermordeten Kaiser den „größten Gesetzgebern an die Seite stellte". 5 Und wenn wir selbst, ich wiederhole, damit einverstanden sind, daß Peter III. absolut keine rätselhafte Figur war, so kann sich vielleicht die Erinnerung an die wichtigsten Etappen seines Lebens und Wirkens dennoch als nützlich erweisen, weil sie in der einen oder anderen Weise gestattet, den Mechanismus der Verzerrungen aufzudecken, an denen, bedauerlicherweise, die Darstellungen der russischen Geschichte so arm nicht sind. Der künftige Kaiser kam in der Hafenstadt Kiel zur Welt, der Residenzstadt des Herzogtums Holstein-Gottorf. Sein Vater war Herzog Karl Friedrich, seine Mutter Anna Petrovna, die älteste Tochter Peters des Großen. In der Familie erwartete man den Erstling mit Ungeduld. Aus diesem Grunde sandte der holsteinische Minister G.F. Bassewitsch um 8 Uhr des Tages, an dem die Zarentochter glücklich entbunden hatte, eine eilige Depesche nach Petersburg, in der es lakonisch hieß: „Er wurde zwischen 12 und 1 Uhr (tags) am 21. Februar 1728 gesund und kräftig geboren. Er soll Karl Peter Ulrich heißen" 6 Das Datum ist nach neuem Stil bezeichnet, nach dem alten ist es der 10. Februar. Das Schicksal des Neugeborenen war schon einige Jahre vor seiner Geburt vorherbestimmt: im Ehevertrag, der 1724 geschlossenen worden war, verzichteten beide Ehegatten auf ihre Ansprüche auf den russischen Thron, obwohl sich Zar Peter I. das Recht vorbehielt, „einen der nach göttlicher Gnade in dieser Ehe geborenen Prinzen" 7 zu seinem Nachfolger zu bestimmen. Im übrigen konnte der Herzog von Holstein-Gottorf als Großneffe Karls XII., wie seine Nachfolger, auch Ansprüche auf die schwedische Krone erheben. So enthielt der Name des Neugeborenen einen tiefen Sinn: Karl - zu Ehren des schwedischen Königs, dessen Kriegsruhm bei Poltava untergegangen war; Peter - zu Ehren des russischen Kaisers, der Rußland zu einer großen europäischen Macht umgestaltet hatte. Dazu kam als dritter Vorname Ulrich. Auf so wundersame Weise vollzog sich in der Gestalt des kleinen holsteinischen Prinzen nach dem Tod Karls XII. und Peters I. die Versöhnung zwischen dem Besiegten und dem Sieger. Das bedeutete aber auch, daß schon im Moment seiner Geburt der holsteinische Kronprinz sich in der Lage eines möglichen Anwärters entweder auf den russischen oder den schwedischen Thron befand. Dieser Druck der Vorherbestimmung drückte der Persönlichkeit, der Psyche und dem Verhalten Peters III. seinen Stempel auf. Bald nach Peters Geburt starb die Mutter. Der Vater liebte den Sohn auf seine Art, aber alle seine Gedanken und Sehnsüchte waren auf die Rückgewinnung Schleswigs gerichtet, das Anfang des 18. Jh. von Dänemark annektiert worden war. Da Karl Friedrich dafür aber weder militärische noch finanzielle Möglichkeiten besaß, konnte er nur auf die Hilfe entweder Schwedens oder insbesondere Rußlands zählen. So festigte die Heirat mit Anna Petrovna die russische Orientierung Karl Friedrichs. Nach dem Tode Peters II. (1730), der der Cousin Karl Peter Ulrichs war, und der Thronbesteigung Anna Ivanovnas wird diese frühere Orientierung hinfällig, ringt doch die neue Kaiserin darum, ihre Nichte Elizaveta Petrovna die Thronrechte zu entziehen, um das Thronfolgerecht ihrer eigenen Familie, der Nachkommen Ivans V., zu stärken. Der in Kiel aufwachsende Enkel Peters des Großen bedeutete eine ständige Bedrohung für die Pläne der kinderlosen Kaiserin Anna, die voller H a ß des öfteren wiederholte: „Das Teufelchen lebt noch immer" (diese ihre Worte werden unverständlicher Weise in anderem Zusammenhang auch Kaiserin Elisabeth zugeschrieben). 5 6

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Vgl. Ju.M. Lotman, A.S. Kajsarov i literaturno-obscestvennaja bofba ego vremeni, Tartu 1958, S. 30. Gosudarstvennaja publicnaja bibliotheka im M.E. Saltykov-Scedrina (jetzt Russische Nationalbibliothek, St. Petersburg = RNB), Handschriftenabteilung Fonds (=f) 73, Nr. 84, Blatt 1. P.K. Sebal'skij, Politiceskaja sistema Petra III, Moskau 1870, S. 12.

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Karl Friedrich verband nun alle seine Hoffnungen auf die Rückgewinnung der abgetrennten Teile seine Landes mit dem Sohn, den man auf eine mögliche Besteigung des schwedischen Throns vorbereitete. Der Vater nährte in ihm den Gedanken der Revanche und erzog den Prinzen von Kindesbeinen an militärisch nach preußischem Vorbild. „Dieser Bursche wird uns rächen", liebte Herzog Karl Friedrich zu sagen. Im übrigen war der Prinz aber gerade keine starke und kämpferische Natur. Wohl physisch kräftig geboren, kränkelte er in seiner Kindheit öfter. Nichtsdestoweniger verlieh ihm der Vater zum 10. Geburtstag dem Titel eines Seconde-Leutnants, was den Knaben stark beeindruckte und in ihm die Liebe für Paraden und Exerzierübungen weckte. Nach dem Tode des Herzogs Karl Friedrich von Holstein-Gottorf 1739 wurde dem verwaisten unmündigen Prinzen Peter dessen Oheim Adolf Friedrich als Regent beigegeben, der 1750 schwedischer König wurde. In die alltägliche Erziehung seines Neffen mischte er sich nicht ein; diese verlief nach den festgesetzten Regeln, aber unkontrolliert. Sein Erzieher, der grobe und polternde Schwede O t t o Friedrich Brümmer, erniedrigte seinen Schützling auf raffinierte Weise, schreckte nicht vor derben Schimpfkanonaden und Schlägen zurück, nicht einmal im Beisein von Höflingen. Später, schon in Rußland, erinnerte sich Peter innerlich bewegt „an den harten und mitleidlosen Umgang seiner Vorgesetzten mit ihm", die ihn zur Strafe nicht selten auf Erbsen zu knien zwangen, wovon seine Beine „rot wurden und anschwollen." 8 Die Türen nach Rußland, die sich unter Anna Ivanovna geschlossen hatten, schlugen nach ihrem Tode anscheinend endgültig zu, als den Thron gemäß Testament ein zwei Monate alter Säugling, der Großneffe der Verstorbenen, Sohn des Prinzen Anton Ulrich von Braunschweig, Ivan Antonovic, einnahm. Für Karl Peter blieb nunmehr nur eine Orientierungsrichtung geöffnet - die Marschroute Kiel-Stockholm. Man erzog ihn verstärkt im lutherischen Glauben und schürte in ihm antirussische Stimmungen. Der 25. N o vember 1740 aber eröffnete eine neue Wende im Leben des holsteinischen Prinzen: in Petersburg war die Tochter Peters I. zur Macht gelangt. Kinderlos wie ihre Vorgängerin, beeilte sich Elizaveta Petrovna, zur Festigung ihrer - nach damaligen Vorstellungen ungenügend gesicherten dynastischen Rechte, ihren Neffen aus Kiel zu sich zu rufen. An den Ufern der Newa erschien er 15jährige Prinz am 5. Februar 1742. Und als im November eine Abordnung aus Stockholm eintraf, um Karl Peter Ulrich über seine Wahl als Erben der schwedischen Krone zu unterrichten, war es zu spät. Ein Mensch diesen Namens existierte nicht mehr: der war zur Orthodoxie übergewechselt und bereits offizeill zum Erben des russischen Thrones erklärt worden. Sein Name war von nun an Petr (Peter) Fedorovic. Kaiserin Elizaveta Petrovna, die selbst nicht durch Gelehrsamkeit und Bildung glänzte, war über den geringen Bildungsstand ihres Neffen erstaunt. Ihm wurde eiligst ein Lehrer beigegeben; die Pflichten des Erziehers wurden Akademiemitglied Stählin übertragen. Die in der Literatur geäußerte Meinung, wonach der Schüler sich als selten stumpfsinnig gezeigt und der Erzieher keine gemeinsame Sprache mit ihm gefunden habe, beruht auf einem offensichtlichem Mißverständnis. Im Gegenteil, Jakob v. Stählin hebt die Fähigkeiten und das außerordentlich gute Gedächtnis Peter Fedorovics hervor, obwohl er einräumte, daß diesen die Humanwissenschaften nicht interessierten und er „häufig darum bat, ihm statt dieser Unterricht in Mathematik zu geben." Die Lieblingsfächer des Thronfolgers waren Fortifikation und Artilleriewesen, „und den Aufmarsch der Soldaten während einer Parade zu sehen, machte ihm mehr Vergnügen als 8

Ja.Ja. Stelin (Jakob v. Stählin), Zapiski ο Petre Tret'em, imperatore Vserossijskom, in: Ctenija ν Obfiestve istorii i drevnostej rossijskich (1866), Buch 4, Abt. 5, S. 69.

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alle Ballette zusammengenommen". 9 D o c h insgesamt verlief sein Unterricht mit Unterbrechungen, unsystematisch, trotz aller Bemühungen Stählins, dem es gelungen war, ihm geistig nahezukommen - die Anhänglichkeit an Stählin hat Peter Fedorovic bis ans Ende seines Lebens bewahrt. An dieser Zerissenheit war in bedeutendem Maße die Kaiserin schuld. Launisch, zu Vergnügungen und häufigen Ausfahrten geneigt, forderte sie die ständige Anwesenheit des Thronfolgers. Während einer dieser Reisen - und Elizaveta Petrovna fuhr nicht nur wiederholt nach Moskau, sondern auch nach Kiew - erkrankte Peter an den Pocken, deren Spuren für immer sein Gesicht zeichneten. Am 7. Mai 1745 erklärte der Vikar des Heiligen Römischen Reiches, der sächsische Kurfürst und polnische König August III., Peter Fedorovic zum Regierenden Herzog von Holstein-Gottorf. Und am 25. August fand die Eheschließung des Thronfolgers mit der Prinzessin Sophie Friederike Auguste von Anhalt-Zerbst statt, die nach orthodoxem Ritus jetzt Ekatarina (Katharina) Alekseevna hieß. Sie war ein jünger als ihr Ehemann. Obwohl sie sich 1739 in Eutin zum erstenmal gesehen hatten, spielten die persönlichen Gefühle der Gatten bei der Eheschließung nur eine untergeordnete Rolle. Die Braut war dem russischen H o f von Friedrich II. aufgedrängt worden, der die Meinung vertrat, daß von allen möglichen Kandidaturen „eben diese für Rußland am besten geeignet sei und den preußischen Interessen entspäche". Und Friedrichs Schützling Katharina, die für ihr Alter reichlich berechnend und listig war, verstand sehr gut, welche Rolle in ihrer unerwarteten Erhöhung die politische Berechnung spielte. Bald nach ihrer Ankunft in Rußland bedankte sie sich nicht nur bei Friedrich, sondern versicherte ihm auch, sie werde künftig die Gelegenheit finden, ihn von ihrer Dankbarkeit und Ergebenheit zu überzeugen". 1 0 Wenn für Peter Fedorovic der preußische König ein Vorbild der Feldherrnkunst darstellte (wovon im übrigen auch die europäische Öffentlichkeit überzeugt war), so war er für Katharina in erster Linie der Mensch, der sie der Erfüllung ihrer ehrgeizigen Träume nähergebracht hatte. Was Friedrich selbst anbetraf, so profitierte er von der von ihm erstrebten Verbindung. Der von Kindheit an einsame und vernachlässigte Großfürst Peter brachte seiner Gemahlin zunächst wenn nicht Liebe, so doch Sympathie und Vertrauen entgegen (beide waren auch dritten Grades miteinander verwandt). Für die Großfürstin jedenfalls war die russische Kaiserkrone wichtiger als die Person Peters. Das hat Katharina weder unmittelbar nach der Heirat, noch in ihren späteren Memoiren verheimlicht. Ihre Biographen glaubten auch gern die Erzählungen der künftigen Kaiserin, daß Peter statt der Erfüllung seiner ehelichen Pflichten nachts mit ihr Puppenspiele veranstaltete und sie auch militärische Befehle ausführen ließ. Als Folge davon „bewahrte" Katharina, nach ihren eigenen Beteuerungen, im Verlaufe von fünf oder sogar neun Jahren ihrer Ehe „ihre Jungfräulichkeit". 1 1 Wir möchten nicht in den Bettgeschichten des großfürstlichen Paares wühlen; andererseits wird man sie auch nicht völlig ignorieren können, denn hier schürzte sich einer der psychologischen Knoten des sich im höfischen Milieu insgeheim herausbildenden Rufes nicht nur Katharinas, sondern auch Peters. Der Natürlichkeit und unmittelbaren Kindlichkeit seiner Beziehung zu seiner Frau (und vieles, worüber Katharina später sprach oder schrieb, läßt eben diesen Schluß zu) wurde Entfremdung entgegengestellt. Katharina, die sich im Bewußtsein ihrer Umgebung von ihrem Mann entfernen wollte, begann die Maske der verschmähten und beleidigten Gattin zu tragen. Dem widersprachen auch nicht die

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Ebd., S. 76-77. A.G. Brjukner (Alexander Brückner), Ζίζή Petra III do vstuplenija na prestol, in: Russkij vestnik (1883), Nr. 1, S. 195, 197. A.B. Kamenskij, Ekaterina II, in: Voprosy istorii 1 9 8 9 / 3 , S. 66.

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Liebesabenteuer, denen sie sich frühzeitig hingab. Hier der Text einer zufällig erhaltenen, von Peter französisch geschriebenen Notiz, die er an seine Frau richtete: „Madame, ich bitte Sie sich nicht zu beunruhigen, daß Sie diese Nacht mit mir verbringen müssen, weil die Zeit, mich zu betrügen, nun vorüber ist. Das Bett war zu eng. Nach zweiwöchiger Trennung von Ihnen, heute nach Mitttag, Ihr unglücklicher Ehemann, den Sie niemals dieses Namens würdigten." 1 2 Diese Worte, deren Sinn recht durchsichtig ist, widersprechen der späteren Version von der Jungfräulichkeit" Katharinas - beziehen sie sich doch auf das Jahr 1746, als seit der Heirat kaum ein Jahr vergangen war. Nach der Geburt Pauls im Jahre 1754 aber nahmen die Beziehungen zwischen den Ehepartnern rein formalen und keineswegs freundlichen Charakter an. Bald wurde Elizaveta Romanovna Voroncova, die Schwester der Fürstin Ekatarina Romanovna Daskova und eifrige Parteigängerin Katharinas, die allgemein anerkannte Favoritin des Großfürsten. Die Entfremdung in den ersten Ehejahren blieb nicht ohne Einfluß auf den Charakter Peter Fedorovics. Sie verstärkte einerseits seine Unsicherheit, andererseits seine spöttische Überheblichkeit, mit der er sich zu verteidigen suchte. Außerdem besaß der Großfürst, wie Stählin betonte, schon in jungen Jahren die „Fähigkeit, bei anderen das Komische zu bemerken und es durch die Nachahmung dem allgemeinen Spott preiszugeben." 1 3 Das alles stieß auf die Ablehnung der höfischen Meinungsmacher und schadete ihm letztendlich selbst. Der preußische Botschafter, Graf v. Finkenstein, der Peter Fedorovic in dieser Zeit beobachtet hat, schrieb seinem König 1747, daß der Großfürst kaum jemals regieren werde: „Es ist unverständlich", so hieß es, „wie ein Prinz sich in seinen Jahren so kindisch benehmen kann." 1 4 So ist es nicht verwunderlich, daß Peter die Atmosphäre am Hofe seiner Tante als drückend empfand und bestrebt war, seine Zeit in Oranienbaum, seiner Residenz, fern von den Intrigen und einer mißgünstigen Umgebung zu verbringen. Dafür ist eine Nachricht charakteristisch, die er dem Favoriten der Kaiserin, 1.1. Suvalov, zukommen ließ: „Ich bitte inständig darum, tuen Sie mir den Gefallen und regeln Sie es so, daß Wir in Oranienbaum bleiben können. Wenn ich gebraucht werde, schicken Sie mir einen Pferdeknecht, weil das Leben in Peterhof für mich unerträglich ist". 1 5 Liest man diese Zeilen, so begegnet man der in der Geschichtsschreibung und der schönen Literatur vielfach belächelten Neigung des jungen Großfürsten, seine Zeit nicht im aristokratischen Milieu, sondern in der Gesellschaft der ihm beigegebenen Diener und Lakaien zu verbringen, mit größerem Verständnis. Nachdem er zum Kommandeur des Preobrazensker Regiments befördert worden war, unterhielt sich Peter Fedorovic gern mit den Soldaten, und in Oranienbaum verkehrte er regelmäßig mit den Offizieren der dortigen Holsteinischen Abteilung, die man für ihn aus Kiel hatte kommen lassen. All das wurde von den mondänen und aristokratischen Kreisen des Hofes mit Mißbilligung aufgenommen und festigte die Meinung vom Thronfolger als einem grobschlächtigen Exerziernarren. In Wirklichkeit waren die Interessen Peters ungleich breiter und vielfältiger. Er liebte italienische Musik und spielte selbst recht gut auf der Geige. Auch zur Malerei, zu Feuerwerken und Büchern fühlte sich der Großfürst hingezogen. Schon im Jahre 1746 hatte man auf seine Anforderung hin die Bibliothek seines verstorbenen Vaters kommen lassen, die in Oranienbaum untergebracht wurde. Die Aufsicht über die Bibliothek, einschließlich der Bücher über Ingenieur- und Militärwesen, war Stählin übertragen worden. Der Großfürst, der sich mit der Übernahme der väterlichen und Familienbibliothek nicht zufrieden geben 12 13

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Central'nyj gosudarstvennyj archiv drevnich aktov ( C G A D A ) , Moskau, f. 4, N r . 109. Stählin (wie Anm. 8), S. 71. S. M . Solovev, Istorija Rossii s drevnejsich vremen, Buch 12, Moskau 1964, S. 343. Russkij archiv (1875), Buch 2, S. 490.

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wollte, wachte daher über deren Erweiterung. „Sobald ein Katalog neuer Bücher herauskam", erinnerte sich Stählin, „las er ihn aufmerksam durch und vermerkte für sich eine Vielzahl von Büchern, die eine solide Bibliothek ausmachten". 1 6 Nach seiner Thronbesteigung setzte Peter III. Stählin als seinen Bibliothekar ein und beauftragte ihn, einen Plan für die Aufstellung der Bücher in dem in Petersburg fertiggestellten „Winterpalais" auszuarbeiten, und stellte für die Bibliothek „eine jährliche Summe von einigen Tausend Rubeln" zur Verfügung. Peter sammelte Geigen, die er zu schätzen wußte; auch der Katalog seines Numismatischen Kabinetts ist erhalten, zusammengestellt ebenfalls von Stählin. Die geistige Welt des Großfürsten erschöpfte sich entgegen den Beteuerungen Katharinas nicht in Vergnügungen und Zerstreuungen, obwohl das eine wie das andere einen festen Bestandteil des Tagesablaufs am Hofe bildete. Das eben stellte Peter nicht zufrieden, dessen Betätigungsdrang und Ausdauer von vielen, sogar ihm nicht gewogenen Zeitgenossen hervorgehoben wurden. Er war bestrebt, auch in der Politik seinen Mann zu stehen. Eine solche Möglichkeit ergab sich, wie es schien, im Jahre 1745, als er Regierender Herzog von Holstein-Gottorf wurde. Jedoch die Grenzen Rußlands zu überschreiten, erlaubte Kaiserin Elisabeth ihrem Neffen nicht. In Kiel vertrat deshalb den Herzog ein Statthalter (von 1745-1751 war dies der Oheim des Großfürsten, Friedrich August von Holstein Gottorf, Fürstbischof von Lübeck), die exekutive Macht übte das „Geheime RegierungsConseil" aus, das schon 1719 eingerichtet worden war. Die Verbindung zwischen Holstein und Herzog Peter wurde durch eine diplomatische Vertretung in Petersburg wahrgenommen, an deren Spitze von 1746 bis 1757 Freiherr Johann v. Pechlin stand. In den Versuchen des Großfürsten, auf die Leitung des Herzogtums Einfluß zu nehmen, wird das Bemühen erkennbar, die Disziplin unter seinen Beamten zu stärken, das Militärwesen, die Gerichtssachen und andere Bereiche der Verwaltung seines holsteinischen Stammlandes in Ordnung zu bringen. Besonderes Interesse zeigte Peter auch für das kulturelle Leben seines Fürstentums. Wie aus dem erhaltengebliebenen Briefwechsel erkennbar wird, erstreckte sich dieses auch auf die Leitung und Entwicklung der Kieler Universität, von der Berufung der Professoren bis zu Erneuerungs- und Reparaturarbeiten an den Hörsälen. Ein großer Teil solcher Anordnungen war von Peter eigenhändig (in französischer Sprache) geschrieben worden, was von seiner Aufmerksamkeit für die Verwaltung Holsteins zeugt, obwohl ein ständiger Kompetenzstreit zwischen den höchsten Amtsinhabern der Administration die Bestrebungen des Herzogs behinderte. 17 Eine gewisse Befriedigung des Thronfolgers nach praktischer Betätigung stellte seine am 12. Februar 1757 erfolgte Ernennung zum Oberkommandierenden des „Adligen Kadettenkorps der Landstreitkräfte" dar. Das Kadettenkorps war in Petersburg auf Initiative eines Mitarbeiters Peters I., des Feldmarschalls Graf Burchard Christopher v. Münnich 1731 gegründet worden. Es war nicht nur eine militärische Anstalt, sondern spielte auch in der Entwicklung der russischen Kultur keine bedeutende Rolle. So befanden sich unter seinen Zöglingen auch die nachmaligen Dichter und Schriftsteller A.P. Sumarokov, V.A. Ozerov, M.M. Cheraskov und V.G. Volkov. Seinen Verpflichtungen als Hauptdirektor des Kadettenkorps kam Peter mit großem Eifer nach. Er machte sich persönlich mit den Schülern bekannt, sprach mit ihnen, besuchte den Unterricht in den Klassen und die Übungen im Freien. Der Thronfolger erwirkte für das Kadettenkorps eine Reihe von Privilegien, darunter das Recht, beliebige Bücher „in französischer, deutscher oder russischer Sprache" zu drucken, auch wenn ihre

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Stählin (wie Anm. 8), S. 71; R N B (wie Anm. 6), f. 871, Nrr. 68/69. R. Pries, Das Geheime Regierungs-Conseil in Holstein-Gottorf 1716-1773, Neumünster 1955, S. 74.

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Thematik nicht unmittelbar mit den Lehrplänen verbunden war. 18 Auf seine Veranlassung wurde 1761 der erste Teil eines „Namensregisters" aller Lehrer und Absolventen des Kadettenkorps seit seiner Gründung veröffentlicht, einschließlich der Personen, die bei den vorangegangenen Regierungen in Ungnade gefallen waren. Mit dem Regierungsantritt Katharinas II. wurde die Herausgabe dieses Lexikons unterbunden. Die laufende Tätigkeit des Hauptdirektors ist in dessen Berichten an den Senat dokumentiert. Schon zwei Wochen nach seinem Amtsantritt beantragte Peter, Mittel für die Aufnahme von Bauarbeiten an einem Gebäudeflügel bereitzustellen, um die Lernbedingungen der Studenten zu verbessern („nach dem Reglement ist festgelegt, daß in jedem Zimmer fünf bis sechs Kadetten wohnen. Jetzt aber leben wegen Wohnungsmangels manchmal mehr als zehn Mann in einem Zimmer".) 1 9 In vielen Appellen und von Peter unterzeichneten Stellungnahmen wird die Bedeutung des Kadettenkorps „für den Nutzen des Russischen Reiches" betont, „um die Armee mit würdigen Offizieren zu verstärken". 2 0 Es kann nun die Frage gestellt werden, inwieweit solche Überlegungen die persönlichen Stimmungen des Hauptdirektors ausdrückten? Hat er nicht nur formal und ohne nachzudenken Papiere unterschrieben, die ihm der Direktor des Korps, A.P. Mel'gunov, übergab? Natürlich schrieb Peter seine Berichte an den Senat nicht selbst, sondern ließ sie sich ausarbeiten. Und doch wird in diesen Papieren immer wieder die Persönlichkeit des Großfürsten erkennbar. Im Bericht vom 18. September 1760 ζ. B. wird die Bitte, Artilleriemunition zu Unterrichtszwecken unentgeltlich zur Verfügung zu stellen, mit den diesbezüglichen Vorstellungen „des früheren Kommandeurs des Kadettenkorps, des Feldmarschalls Graf Münnich", begründet 21 . Währenddessen aber saß der seiner Titel und Ehren beraubte, nach dem Machtantritt Kaiserin Elisabeths verbannte Münnich nun schon fast 20 Jahre im sibirischen Pelym. Die Nennung seines Namens mit Anführung seines ehemaligen Ranges - was nicht ohne Risiko war - konnte sich nur einer erlauben: der Thronfolger. Die politische Unerfahrenheit, die man Peter möglicherweise nicht grundlos zum Vorwurf macht, war nicht so sehr seine Schuld als vielmehr sein Unglück: Obwohl sie ihren Neffen zu ihrem Nachfolger erklärte, bereitete ihn die Kaiserin Elisabeth eigentlich nie richtig auf seine Aufgaben als Beherrscher eines so großen Reiches wie Rußland vor. Eine besondere Rolle spielten bei dieser Unterlassung auch Hofintrigen, besonders von Seiten des Kanzlers A.P. Bestuzev, der auf Katharina gesetzt hatte. „Nach den Worten von Zeitgenossen" so bemerkte A.S. Lappo-Danilevskij, „hat Bestuzev, der bei Kaiserin Elisabeth Befürchtungen schürte, Peter Fedorovic könne den Thron usurpieren, viel dazu beigetragen, diesen von den russischen Staatsangelegenheiten fernzuhalten und ausschließlich auf Holstein zu beschränken". 2 2 Auch die persönlichen Beziehungen zwischen Tante und Neffen spielten eine Rolle. Sie waren schon längere Zeit nicht allzu gut, gegen Ende von Elisabeths Regierung gespannt und von Entfremdung gekennzeichnet. Die Gegensätze zwischen dem Thronfolger und der Kaiserin betrafen vor allem die Außenpolitik und zeigten sich mit aller Deutlichkeit während des Krieges, der später den Namen „Siebenjähriger Krieg" (1756 bis 1763) erhielt. Im Jahre 1756 war die am Hofe bestehende „Konferenz" das höchste konsultative Staatsorgan, dem auch der Großfürst

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D.D. Samraj, Cenzurnyj nadzor nad tipografiej Suchoputnogo sljachetnego korpusa, in: X V I I I vek, Teil 2, Moskau-Leningrad 1940, S. 301. Central'nyj gosudarstvennyj istoriceskij archiv (CGIA), Moskau, f. 1329, op. 1, d. 101, Blatt 3. Ebd., Bll. 4, 64. Ebd., Bl. 64. A.S. Lappo-Danilevskij, Rossija i GolStinija, in: Istoriceskij archiv 1 9 1 9 / N r . 1, S. 275.

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angehörte. Da Peter, wie Katharina, Anhänger der preußischen Orientierung war, verurteilte er die Teilnahme Rußlands am Kriege bereits an und für sich, gegen Friedrich II. aber insbesondere. Nach dem Zeugnis Stählins „sagte" Peter Fedorovic „offen, daß man Kaiserin Elisabeth im Hinblick auf den preußischen König täusche, die Österreicher uns bestechen und die Franzosen uns betrügen". 23 Den Mitgliedern der „Konferenz" erklärte der Thronfolger darüber hinaus, „daß wir es mit der Zeit bereuen werden, uns mit Osterreich und Frankreich verbündet zu haben". Unterhielt Peter Fedorovic in dieser Zeit vielleicht irgendwelche Kontakte zum preußischen König? Im Briefwechsel mit ihm aus der Zeit nach seiner Thronbesteigung gibt es darüber einige allgemeine Hinweise. Friedrich II. dankte Peter III. für ihm früher erwiesene Dienste. Dieser selbst erinnerte Friedrich daran, daß er alles riskiert habe, „um Euch in unserem Land hingebungsvoll zu dienen". 24 Worin diese „Dienste" konkret bestanden, läßt sich beim Fehlen entsprechender dokumentarischer Daten schwer sagen. Aber offensichtlich handelte es sich um die preußischen Sympathien des Thronfolgers, die er niemals und vor niemandem verbarg. Damit hing auch sein demonstrativer Austritt aus der „Konferenz" zusammen, der den Charakter eines Protestes gegen die Außenpolitik Elisabeths trug. Peters Kritik an der Beteiligung Rußlands auf der Seite der antipreußischen Kriegskoalition war nicht unbegründet. Eigentlich war nur die österreichische Kaiserin Maria Theresia an diesem Krieg interessiert: sie wollte sich mit Hilfe russischen Kanonenfutters Schlesien zurückholen, das Friedrich zu Beginn der 1740er Jahre erobert hatte. Nach den Vorstellungen Peters hätte Rußlands Ausscheiden aus dem Krieg der Lösung seiner territorialen Ansprüche gegenüber Dänemark gedient, war doch sowohl der preußische König als auch der König von England in seiner Eigenschaft als Kurfürst von Hannover der nächste Nachbar und Verbündete Holsteins. Indem er sich ihrer diplomatischen Unterstützung und einer möglichen militärischen Hilfe Friedrichs II. versichert hätte, hoffte Peter das Vermächtnis seines Vaters zu erfüllen, nämlich Schleswig und die angrenzenden Gebiete für Holstein zurückzugewinnen. In seiner Vorstellung vertrug sich dies durchaus mit den Interessen Rußlands. Diese seine Gedanken legte er in einem Memorandum Kaiserin Elisabeth am 17. Januar 1760 dar. Dabei verurteilte er nochmals den im Gange befindlichen Krieg als „leidvoll" und „zerstörerisch für Deutschland", drückte die Hoffnung auf sein baldiges Ende aus und erinnerte an seine „hohe Vorherbestimmung", womit er andeutete, daß sich in der Zukunft der Herzogsstuhl in Kiel und der Kaiserthron in Petersburg in seiner Person vereinigen würden. 25 Während er sich um die holsteinischen Belange kümmerte, blieb Peter nicht gleichgültig gegenüber der Lage des Landes, das er einmal regieren sollte. Ihm, der militärische Exaktheit liebte, gefiel hier vieles nicht; so die sich häufende Vernachlässigung der staatlichen Angelegenheiten durch die kaiserliche Tante, die Willkür der hohen Würdenträger, die Unordnung in den Gesetzen sowie die Bestechlichkeit in der Administration und im Gerichtswesen. Aufs äußerste beunruhigt, reizte den Thronfolger die Disziplinlosigkeit in der Garde. „Noch als Großfürst", erinnerte sich Stählin, „nannte er die Gardesoldaten, die in den Kasernen zusammen mit Frauen und Kindern wohnten, Janitscharen' und sagte: ,Sie versperren nur die Residenz, sind unfähig zu jeder Arbeit und zu militärischen Übungen und eine beständige Gefahr für die Regierung". 26 23 24 25 26

Stählin (wie Anm. 8), S. 93. Russkij archiv (1898), Buch 1, s. 7, 9. CGADA (wie Anm. 12), f. 1261, op. 1, N r . 367. Stählin (wie Anm. 8), S. 106.

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Stählin bezeugt, daß Peter bereits als Thronfolger über die Notwendigkeit nachdachte, die adligen Freiheiten zu stärken, die „Geheime Kanzlei" zu beseitigen und religiöse Toleranz zu gewähren. 27 Dieses Urteil wird durch mehrere Senatsbeschlüsse in Angelegenheiten des Kadettenkorps bestätigt. Am 2. Dezember 1760 wandte sich der Thronfolger an den Senat mit der Bitte, aus dem Lande Antworten auf Anfragen zu der vom Kadettenkorps geplanten geographischen Beschreibung Rußlands einzuholen. Objektiv bedeutete das die Unterstützung für eine ähnliche Inititive Lomonosovs, die dieser 1758 in der Akademie angeregt hatte. In dem Antrag Peters wurde die Notwendigkeit einer solchen Beschreibung durch patriotische Argumente unterstützt. So sollten die in „diesem Korps erzogenen jungen Männer nicht nur die Geographie des Auslandes, in der man sie tatsächlich unterrichtet, gründlich kennen, sondern auch über den Zustand ihres eigenen Vaterlandes eine klare Vorstellung besitzen". 28 Ein anderer Appell Peters vom 7. März 1761 enthielt den Plan, am Kadettenkorps aus Soldatenkindern „gute nationale Meister" heranzubilden: Schmiede, Schlosser, Sattler, Schuster, Veterinäre, Gärtner und andere qualifizierte Fachleute. Neben der Ausbildung in den Handwerken war vorgesehen, sie das Lesen und Schreiben, Arithmetik, Geometrie, Zeichnen und Deutsch zu lehren, da, wie es in der Vorlage hieß, „in der russischen Sprache noch keine Lehrbücher vorhanden" seien. Aus dem Antrag beigefügten Berechnungen ging hervor, daß bei einem jährlichen Studienabschluß von 30 Mann „ein solcher Meister die Staatskasse nur 200 Rubel" koste; bei der Verbreitung dieser Erfahrung in der Armee und beim Eintritt dieser Meister in den Ruhestand aber würde „das Land ausgezeichnete nationale Handwerker erhalten". 29 Der Senat unterstützte das Projekt und gestattete am 30. April 1761 die Ausbildung von 150 Soldaten- und Kleinbürgerkindern im Kadettenkorps 30 . Daß sich in derartigen Projekten die politische Orientierung Peters ausdrückte, stimmt nicht nur mit den Aufzeichnungen Stählins überein, sondern auch mit denen eines solchen Gegners, wie es Ja.P. Sachovskoj war, der unter Elisabeth den Posten des Generalprokurors des Senats innehatte. Im Ton deutlicher Ablehnung und Verurteilung erinnerte sich dieser, daß der Thronfolger ihm durch seinen Günstling, General I.V. Gudovic, häufig „Bitten oder, gelinde gesagt, Forderungen übergeben ließ zu Gunsten von Fabrikanten, Pächtern und weiterer derlei Dinge" 31 . Aber eben das, was Sachovskoj verächtlich „derlei Dinge" nannte, entsprach den dringenden Bedürfnissen des Landes und fügte sich vollends in den Kreis von Ideen ein, die sich in der Gedankenwelt des Großfürsten zu Beginn der 1760er Jahre herausgebildet hatten. Viele seiner Vorhaben und Projekte suchte Peter zu verwirklichen, nachdem er Kaiser geworden war. Das geschah am 25. Dezember 1761, um 3 Uhr nachts, als die Tochter Peters I., Kaiserin Elisabeth, verstarb. Ihr Nachfolger wußte nicht, daß das Schicksal ihm nur einen außerordentlich kurzen Zeitraum beschieden hatte - alles in allem 186 Tage. Indem er die „Wohltaten und Barmherzigkeit" der Verblichenen würdigte, versprach Peter III., in seinem ersten Manifest, „in allem den Fußstapfen des weisen Herrschers, unseres Großvaters Kaiser Peter des Großen zu folgen". Vom ersten Tag seiner Regierung an richtete er sein besonderes Augenmerk auf die Festigung von Ordnung und Disziplin in den Ministerien und höchsten Amtsstuben, auf die klare Abgrenzung ihrer Kompetenzen und die Erhöhung der Operativität der Verwaltung. 27 28 29 30 31

Ebd., S. 98. CGIA (wie Anm. 19), f. 1326, op. 1, d. 101, Bl. 77. Ebd., Bll. 87, 88 f. A.V. Viskovatov, Kratkaja istorija Pervogo kadetskogo korpusa, St. Petersaburg 1832, S. 31. Ja.P. Sachovskoj, Zapiski, St. Petersburg 1872, S. 157, 176.

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Mit alledem gedachte sich Kaiser Peter III. in Nachahmung Peters I. auch selbst zu bestätigen, wofür er ein strenges Tagesregime festlegte. Der Kaiser stand gewöhnlich um 7 Uhr morgens auf und nahm von 8 bis 10 Uhr die Berichte seiner höchsten Beamten entgegen; um 11 Uhr führte er persönlich die Wachparade durch, davor oder danach unternahm er Fahrten zu Besuchen und Inspektionen in Regierungsinstitutionen oder Produktionsstätten. Um 13 Uhr speiste er zu Mittag - entweder in seinen Gemächern, wohin er ihm wichtige oder für ihn interessante Persönlichkeiten unabhängig von ihrer gesellschaftlichen Stellung einlud, oder er fuhr zu ihm nahestehenden Persönlichkeiten oder Diplomaten. Die Abendstunden waren Spielen und Vergnügungen am Hofe vorbehalten. Besonders liebte Peter III. Konzerte, in denen er selbst gern Geige spielte. Später zur Nacht wurden Höflinge und Gäste (unter ihnen in der Regel auch Diplomaten) zu einem großen und fröhlichen Abendessen eingeladen, bei dem man kräftig einschenkte. Der Kaiser selbst bevorzugte englisches Bier, da er sich nach dem Genuß von Wein nicht wohl fühlte. Mondäne Reden und Scherze wechselten ab mit der Erörterung wichtiger Fragen, wobei die Diplomaten die nicht immer vorsichtigen Äußerungen des Herrschers begierig aufgriffen, um sie umgehend Wort für Wort ihren Regierungen mitzuteilen. Manchmal entfernte sich der Zar vom Tisch, um mit seinen Beratern wichtige Tagesfragen zu erörtern. 32 Die bis dahin bestehende „Konferenz" bei Hofe löste Peter auf und übertrug die Beratung der Fragen, mit denen sie sich befaßt hatte, dem Senat, dessen Vorsitzender A.I. Glebov wurde. Beim Senat, Justiz-Kollegium, Güter-Kollegium und bei der Gerichtskanzlei wurden besondere Behörden zur Aufarbeitung von Gesuchen und Beschwerden geschaffen, die sich von früheren Jahren her angesammelt hatten. Im Mai richtete man unter Vorsitz Peters III. einen Kaiserlichen Rat ein, um, wie es in der Begründung hieß, nützliche Reformen „best- und schnellstmöglich in die Tat umzusetzen". Unter den Mitgliedern des Rates befanden sich so angesehene Staatsmänner wie der Kanzler M.I. Voroncov, der Vorsitzende des Militär-Kollegiums Generalfeldmarschall N.Ju. Trubeckoj, der Direktor des Kadettenkorps General A.P. Mel'gunov und der aus der Verbannung zurückgeholte Feldmarschall B.Ch. Münnich; eine bedeutende Rolle spielte auch D.V. Volkov, der bereits im Januar zum Geheimsekretär des Kaisers berufen worden war. Zu den nächsten Gehilfen und engsten Beratern des Herrschers gehörte I.I. Suvalov, einer der gebildetsten Männer Rußlands, Mäzen und Förderer Lomonosovs. Jedoch der von Peter III. und seinen Beratern in Gang gesetzte Aufschwung geriet bald ins Stocken, wie Ende Juni 1762 ganz deutlich wurde. Für den 29. Juni, den kirchlichen Feiertag „Peter und Paul", war eine festliche Zeremonie angesetzt. Am Morgen des Vortages brach der Kaiser mit seinem Gefolge aus Oranienbaum in das nahegelegene Peterhof auf, wo ihn Katharina erwarten sollte. Aber es erwies sich, daß diese wenige Stunden vor dem Eintreffen der kaiserlichen Gesellschaft eilig nach Petersburg abgereist war. Bald begannen von dort beunruhigende Nachrichten einzutreffen. Gestützt auf das IzmajlovGarde-Regiment und andere sich anschließende Teile der Garde hatte sich Katharina zur Selbstherrscherin ausrufen lassen und ihren Gemahl für abgesetzt erklärt. Nach einem Gottesdienst in der Kasaner Kathedrale Petersburgs eilte sie an der Spitze von auf ihre Seite übergegangenen Truppen nach Oranienbaum, wo Aleksej Orlov, einer ihrer engsten Parteigänger, den gestürzten Kaiser bereits in Gewahrsam genommen hatte. Obwohl Peter III. eine Verschwörung gegen sich wohl nicht ausgeschlossen hatte und auch gewarnt worden war, trafen ihn die Ereignisse völlig unvorbereitet. Hätte er ent32

Stählin (wie Anm. 8), S. 97; P. Bartenev, Dnevnik statskogo sovetnika Mizepe ο sluzbe pri Petre Tret'em, in: Russkij archiv 1911 / B u c h 2, vyp. 5; Zurnaly kamer-furerskie 1762 goda, B.m. B.g.

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schlossener gehandelt, so hätte es Chancen gegen, die entstandene Lage unter Kontrolle zu bringen. Die einfachen Soldaten der Garde und ein Teil ihrer Offiziere schwankten, die Armee stand abseits der Verschwörung, und der Kommandeur des Expeditionskorps in Ostpreußen, General-en-chef P.A. Rumjancev, gehörte zu den dem Kaiser treu ergebenen Heerführern. Aber, nachdem sich Peter zunächst entschlossen hatte, Widerstand zu leisten, ließ er die Zeit verstreichen und konnte so die vorhandenen Möglichkeiten nicht mehr nutzen, sich in Kronstadt zu verbarrikadieren und von dort entweder auf dem Seeweg zu Rumjancev oder nach Kiel zu begeben. In seinem ganzen Leben war Peter nicht auf den Kampf um die Macht vorbereitet worden. In seinen Vorstellungen war Rußland nichts anderes als der Hof und die Obrigkeit der Garde, die sich nun im entscheidenden Augenblick gegen ihn wandten. „Der Herrscher war bemitleidenswert", erinnerte sich N . K . Zagrjazskaja an die Stunden des Umsturzes. 33 Der verzweifelte Peter III. beschloß, mit Katharina zu verhandeln, um seine Ausreise nach Kiel zu erreichen. Als die Bediensteten des Kaisers dessen Vorsatz vernahmen, begannen sie zu beten, wobei sie jammerten: „Unser Väterchen! Sie wird befehlen, Dich umzubringen!" 3 4 Das Ergebnis von Peters Kapitulation vor Katharina war der Verzicht auf den Thron. Nach der Ironie des Schicksals erfolgte dieser am Tag von Peter und Paul. Das Verzichtsdokument war in der Tat erniedrigend: der gestürzte Kaiser bekannte öffentlich seine Unfähigkeit, „nicht nur als Selbstherrscher, sondern auch in jeder anderen Hinsicht die Regierung über den russischen Staat auszuüben". 3 5 Die Geschichte dieses Dokuments ist in vieler Hinsicht widersprüchlich und zweifelhaft. Es wurde in Briefform als Anlage dem sogenannten „Ausführlichen Manifest", das mit dem 6. Juli datiert ist und am 13. Juli veröffentlicht wurde, beigefügt, später jedoch nicht in die „Vollständige Sammlung der Gesetze des Russischen Reiches" aufgenommen. Entgegen den von Katharina in Umlauf gesetzten offiziellen Behauptungen wäre es naiv zu glauben, daß Peter III. freiwillig den Thronverzicht unterzeichnet habe. Nach seiner Arretierung in Oranienbaum hatte man ihn nach Ropsa in eines der Zimmer des dortigen Schlosses gebracht und unter die strenge Bewachung des Fürsten F.S. Barjatinskij, A.G. Orlovs, P.B. Passeks und einiger anderer vertrauter Persönlichkeiten Katharinas II. gestellt. Hier erdrosselte Aleksej Orlov, der Bruder Grigorij Orlovs, des Favoriten der neuen Selbstherrscherin, am 6. Juli 1762 Peter Fedorovic, den leiblichen Enkel Peters des Großen. Die Manipulationen mit der Datierung der Unterschriftsleistung unter dem „Ausführlichen Manifest" legen den Gedanken nahe, daß dieses entweder nach der Ermordung Peters III. verfaßt wurde oder dessen Todesurteil darstellte. Es ist auffällig, daß die Thronentsagung Peters III. anonym erfolgte, d. h. in ihr wurde nicht gesagt, in wessen Hände die Macht übergehen sollte. Eigentlich hätte Peters minderjähriger Sohn, der Thronfolger Paul, Rechtsnachfolger sein müssen, bis zu seiner Volljährigkeit unter der Regentschaft der Mutter, womit auch einige hohe Würdenträger rechneten, so der Erzieher des Zäsarewitsch, N.I. Panin. Katharina, die zur Macht drängte, mußte zeitweilig auf solche Erwartungen Rücksicht nehmen und deshalb lavieren. Diese Sachlage machten die drei Briefe Peters III. deutlich, die er aus Ropsa an Katharina schrieb. Die ersten beiden Schreiben vom 29. Juni (der eine in russischer, der andere in französischer Sprache) widerspiegelten die tiefe Niedergeschlagenheit des Inhaftierten und waren 33

A.S. Puskin, Socinenija, Bd. 12, Moskau 1949, S. 175. K..-K. Rjul'er (Claude C a r l o m a n de Rulhiere), Istorija i anekdoty revoljueii ν Rossii ν 1762 g., in: Rossija

35

X V I I I ν glazami inostrancev, Leningrad 1989, S. 304. Manifesty po povodu vossestvija imp. Ekateriny II, in: O s m - n a d c a t y j vek, Moskau 1869, Buch 4, S. 221.

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von einer erniedrigenden Bittstellerstimmung erfüllt. In einem ganz anderen Ton war der Brief vom 30. Juni gehalten. In ihm wurde erneut die für Peter charakteristische Ironie deutlich. Er wiederholte darin seine Bitte, ihn nach Holstein zu entlassen, und ersuchte seine Gemahlin, mit ihm nicht wie „mit dem größten Verbrecher umzugehen". Gleichzeitig versprach er, „nichts gegen Ihre Person und Ihre Regierung zu unternehmen". Diese Erklärung, die prinzipielle Bedeutung besitzt, ist gleichsam nebenbei abgegeben, im Postskriptum des Briefes. Es entsteht der Eindruck, daß im Verlaufe eines Tages eine Veränderung eingetreten sein muß. Wahrscheinlich hatte die Kaiserin im Austausch gegen die Anerkennung ihrer Rechte Peter das Versprechen gegeben, ihn nach Kiel ausreisen zu lassen. Jedenfalls informierte Katharina II. bereitwillig darüber, daß in Kronstadt für diesen Zweck Schiffe bereitgestellt würden. Aber es gab weder die ernsthafte Absicht, den Gefangenen von Ropsa freizulassen, noch Vorbereitungen für dessen Ausreise, noch gar eine Weisung, Schiffe auf der Reede von Kronstadt in Wartestellung zu versetzen. Stattdessen hatte Katharina die feste Absicht, sich auf jede Weise des gefährlichen Konkurrenten zu entledigen. Gleichwohl war sie ebenso darauf bedacht, vor den Zeitgenossen und der Nachwelt das Gesicht zu wahren, was ihr auch gelang. Und das erste Glied in der Kette der nachfolgenden Diskreditierung des gestürzten, betrogenen und ermordeten Monarchen war Katharinas kurzes Manifest vom 28. Juni 1762, mit dem die Untertanen vom Wechsel auf dem Thron in Kenntnis gesetzt wurden. Gegen Peter III., dessen Name übrigens nicht genannt wurde, ergingen im Manifest drei Anschuldigungen. Erstens: Erschütterung und Zerstörung der Kirche; angestrebte Ablösung der alten rechtgläubigen Religion Rußlands durch Annahme eines anderen Glaubensgesetzes; zweitens: Abschluß des Friedensvertrags mit Friedrich II., der im Manifest als „Übeltäter" bezeichnet wird; drittens: schlechte Regierung, wodurch die „innere Ordnung, die den Wert unseres Vaterlandes ausmacht, gänzlich am Boden liege". Diese Beschuldigungen, die durch Regierungserklärungen der folgenden Tage (besonders durch das „Ausführliche Manifest") erweitert wurden, bildeten den Kern des späteren Mythos über Peter III., der den Grundtenor der vorrevolutionären russischen Geschichtsschreibung bestimmte und nach 1917 von der sowjetrussischen Historiographie übernommen wurde. Inwieweit dieser Mythos den Tatsachen entsprach, interessierte dabei weder die Wissenschaftler noch die Belletristen. Wie stand es nun wirklich um die Beschuldigten, die gegen Peter III. vorgebracht wurden? Zunächst ein Wort zur „angeblichen „Zerstörung" der staatlichen Ordnung. Wie die Tatsachen bezeugen, zeichnete sich die Regierung Peters III. durch Energie und Eifer aus. Allein in der „Vollständigen Sammlung der Gesetze des Russischen Reiches" sind für die Zeit vom 25. Dezember 1761 bis zum 28. Juni 1762 192 Dokumente aufgeführt: Manifeste, kaiserliche Erlasse und Ukase des Senats, Beschlüsse und anderes mehr. In die große Gesetzessammlung fanden jedoch die Ukase über Einzelfragen - Ernennungen und Beförderungen, Verpachtung von Staatsgütern, Geldzahlungen - keinen Eingang. Im erhaltenen Archiv-Register der persönlichen Erlasse Kaiser Peters III. sind 220 Eintragungen festgehalten. 3 6 Darüber hinaus pflegte der Zar in breitem Umfang die Form der „Allerhöchsten mündlichen Erlasse", deren Gültigkeitsbereich durch das Gesetz vom 22. Januar 1762 geregelt war. Zur Vermeidung von Mißbrauch und Mißverständnissen war dem Senat vorgeschrieben, dem Kaiser einmal wöchentlich „die Kopien aller von Uns verkündeten mündlichen Erlasse" zu übergeben. 3 7 Zwei Tage vor dem Umsturz, am 26. Juni, hatte Peter insgesamt 14 Erlasse unterschrieben. 36

C S I A (wie Anm. 19), f. 1329, op. 1, d. 96.

37

Polnoe sobranie zakonov Rossijskoj imperii (PSZ), Bd. 15, St. Petersburg 1830 (Zitate nach dieser Ausgabe).

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Von Bedeutung aber ist im übrigen nicht so sehr die Zahl der erlassenen Gesetze, sondern deren Inhalt und die allgemeine Richtung von Peters gesetzgeberischer Tätigkeit. In dieser Hinsicht ist seine Regierung in vieler Hinsicht bemerkenswert. Unter den von Peter III. unterzeichneten Gesetzesakten, die fundamentalen Charakter trugen, waren solche, wie die Februar-Manifeste über die Adelsfreiheit und die Abschaffung der „Geheimen Kanzlei". Beide Manifeste beinhalteten die Verwirklichung lange gehegter Absichten Peters, der in den 1750er Jahren zu Reformprojekten neigte, die P.I. Suvalov und dessen Anhänger Volkov und Glebov vorgeschlagen hatten. Der Sinn von Peters Reformen bestand in der Verteidigung der Interessen des Adels bei gleichzeitiger Gewährung bestimmter Vorteile und Privilegien an die Kaufmannschaft und Unternehmer. Am 17. Januar 1762, wie im Kammer-Furier-Journal festgehalten, „in der zehnten Morgenstunde", hatte sich der „Kaiser höchstselbst" in den „Regierenden Senat" begeben. 38 Hier legte er seine Absicht dar, die Adligen von der Pflicht des Staatsdienstes zu befreien, womit er bei seinen Zuhörern einen Ausbruch der Begeisterung hervorrief. Am folgenden Tag schlug der Generalprokuror Glebov dem Senat vor, als Zeichen der Dankbarkeit dem Kaiser eine goldene Statue zu errichten. Als Peter davon erfuhr, sagte er: „Der Senat kann eine bessere Verwendung für das Gold finden; ich aber hoffe, durch meine Regierung in den Herzen meiner Untertanen ein dauerhaftes Denkmal zu errichten". 39 Einen Monat später, am 18. Februar, bestätigte der Zar das Manifest über die Adelsfreiheit. Die Autorschaft des Statuts wird Volkov und Glebov zugeschrieben. Es ist eine verbreitete Meinung, daß das Manifest, das die privilegierte Stellung des Adels stärkte, dessen Pflichten gegenüber dem Staat fast auf Null reduzierte. Und tatsächlich bestand der Sinn der gewährten „Freiheit" darin, dem Adel die volle und uneingeschränkte Entscheidung zu überlassen, Militär- oder Zivildienst zu leisten oder nicht zu leisten, d. h. auf eigenem Wunsch in den Ruhestand zu treten, ins Ausland zu reisen oder Dienste bei Herrschern anderer Staaten aufzunehmen. Indes, die wohltönenden Worte der Präambel von Peters Manifest wurden durch verschiedene Einschränkungen und Bedingungen doch spürbar gedämpft: Nur in Friedenszeiten war es nämlich erlaubt, sich in den Ruhestand zu begeben, und Dienste im Ausland waren nur in den „mit uns verbündeten europäischen Staaten" gestattet unter der Bedingung unbedingter Rückkehr nach Rußland „nach Aufforderung". Auf gesonderte Weise wurde die Frage des Dienstes von Adligen im Senat und dessen Büro entschieden, wofür jeweils 20 bis 30 Beamte benötigt wurden. Die personelle Zusammensetzung dieser Institutionen wurde dem Adel selbst überlassen; es waren „jährlich Vertreter proportional zu den in den Gouvernements wohnenden Adligen" zu wählen. Für die Eltern wurde die strenge Verantwortung für eine entsprechende Erziehung ihrer Söhne bekräftigt: nach Erreichen des 12. Lebensjahres ihrer Kinder waren die Eltern verpflichtet, den Verwaltungsorganen Aufschluß darüber zu geben, was diese bisher gelernt hatten und ob sie in Rußland oder im Ausland zu studieren wünschten. Eine neue Überlegung bestand auch in der Festsetzung einer Art von „Existenzminimum" für Adelsfamilien: wer weniger als 1 000 leibeigene Seelen besaß, mußte seine Söhne in das Kadettenkorps schicken. Hier beugte das Manifest vor, daß „niemand seine Kinder zu erziehen wage ohne Ausbildung in den für den Adelsstand würdigen Wissenschaften bei Strafe unseres gestrengen Zornes". Wiederholte Appelle an die Macht der öffentlichen Meinung und das Gefühl der persönlichen Verantwortung der Adligen vor dem Vaterland

38 39

Zurnaly kamer-furerskie 1762 goda (wie Anm. 33), S. 9-10. Solovev (wie Anm. 14), Buch 13, S. 12.

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bildeten einen bemerkenswerten Wesenszug des Manifests als einer Art Gesellschaftsvertrag zwischen der obersten Macht und deren Stütze, dem Adel. Bei seinem Besuch im Senat am 7. Februar 1762 verkündete Peter III. seine Absicht, die „Geheime Kanzlei" abzuschaffen. Bereits am 21. Februar war das von Volkov vorbereitete Manifest unterschrieben - ein für jene Zeit erstaunliches Dokument. Indem der Gesetzgeber die Notwendigkeit dieser repressiven Institution durch Peter I. rechtfertigte, erkannte er, daß jetzt das System der geheimen Denunziationen allein durch seine Existenz einen verderblichen Einfluß auf die Gesellschaft ausübe, denn es gäbe „bösen, gemeinen oder nichtsnutzigen Menschen die Möglichkeit, mit falschen Angaben ihre verdienten Strafen hinauszuschieben oder ihre Vorgesetzten und Feinde mit übelsten Verleumdungen zu überhäufen". Daher, so hieß es im Manifest, solle aus Gründen der Menschenliebe und Barmherzigkeit jene verhaßte Devise „Wort und Tat" von heute an keine Gültigkeit mehr besitzen. Jene aber, die diese Formel in betrunkenem Zustand oder während einer Rauferei aussprächen, sollten als „Ordnungsstörer" bestraft werden. Die Aufhebung der „Geheimen Kanzlei" bedeutete noch nicht die Abschaffung der repressiven Gesetze. Aber deren Anwqendung unterlag ab sofort einer strengen Reglementierung, und jeder Untertan, der von verräterischen Absichten gegen den Staat oder den Monarchen Kenntnis erhielt, mußte einen schriftlichen Bericht „an die nächste Gerichtsinstanz richten oder umgehend beim nächstgelegenen Militärkommandeur erscheinen". Dabei setzte man die Regierungstreue des Adels und jetzt auch der „angesehenen Kaufmannschaft" voraus. Gleichzeitig waren konkrete Maßnahmen vorgesehen, um Verleumdungen „gemeiner Menschen aller Stände und R ä n g e " gegen ihre Vorgesetzten, Herren und Feinde auszuschließem. Das Manifest legte den Grundstein für die Ablösung der außergerichtlichen, rechtlosen Willkür durch die normale gerichtliche Ermittlung in politischen Strafsachen. Das förderte beim Adel und den Vertretern des sich formierenden russischen „dritten Standes" das Gefühl der persönlichen Würde. Hatte Peter auch vorgehabt, die Rechte des „dritten Standes" in einer besonderen Gesetzgebung festzuschreiben? Eine berechtigte Frage, die bereits in den Diskussionen um das in den 1750er Jahren in Angriff genommene Projekt einer neuen Verfassung eine Rolle spielte, besonders in den Überlegungen zu deren Teil III „Uber den Zustand der Untertanen". Zur Beratung dieses Projekts begannen die Deputierten des Adels und der Kaufmannschaft im Januar 1762, d. h. unmittelbar nach dem Machtantritt Peters III., in der Hauptstadt anzureisen. Der Zar selbst war um die beschleunigte Durchführung der Beratung bemüht. Aber nicht nur das. Neben Erlassen zu Fragen des Städtebaus (betr. Anreiz und Förderung des steinernen Hausbaus, Organisation der Feuerwehr, der sanitären und medizinischen Hilfe etc.) hatte der Kaiser auch bereits ein Gesetz über die Gründung einer Staatsbank und die Herausgabe von Papierassignaten sowie weitere Verfügungen über die Förderung der Kaufmannschaft, des Handels und der Gewerbetätigkeit erlassen. Wahrscheinlich handelte es sich hierbei um Teile eines allgemeinen und größeren Plans. In den Aufzeichnungen über die Tätigkeit Peters III. heißt es bei Stählin: „Er betrachtet alle Stände im Staat und hat die Absicht, ein Projekt in Auftrag zu geben, wie man den mittleren Stand in den Städten Rußlands heben könne, nach der Art des deutschen, und wie man seine Gewerbetätigkeit fördern kann". Stählin vermerkt die Ubereinstimmung des Kaisers mit seinem Vorschlag, „einige begabte Kaufmannssöhne nach Deutschland, Holland und England in die dortigen Handelskontore zu schicken, damit sie Handel und Buchhandel erlernen und die russischen Kontore nach ausländischem Vorbild aufbauen"· 4 0

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Stählin (wie Anm. 8), S. 103.

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Die Richtigkeit der Worte Stählins wird dadurch bestätigt, daß in seinen persönlichen Gesprächen mit Peter III. die Idee der Heranbildung russischer „nationaler Meister" mit Hilfe deutscher Handwerker bereits eine Rolle gespielt hatte. Eine Reihe ehemaliger sowjetischer Forscher (S.M. Kastanov, N.L. Rubinstejn, S. O. Smidt) und ausländischer Wissenschaftler (M. Raeff) 41 hat in den gesetzgeberischen Bemühungen Peters III. Elemente einer neuen Politik erkannt, so Förderung von Handel, Industrie und Gewerbe, Absage an das Monopol der Adligen auf unternehmerische Aktivitäten und anderes mehr. In dieser Hinsicht bemerkenswert war der von Volkov ausgearbeitete und von Kaiser Peter III. am 28. März 1762 unterzeichnete Erlaß über den Handel. Darin nahmen Maßnahmen zur Erweiterung des Getreidexports („unser Staat kann Getreidehandel in großem Umfang durchführen, wodurch auch die Landwirtschaft gefördert wird") und Ausfuhr weiterer landwirtschaftlicher Produkte einen bedeutenden Platz ein. Aufmerksamkeit wurde ebenso dem schonenden Umgang mit den Wäldern gewidmet, die „wir für das notwendigste und wichtigste Gut des Landes halten". Gleichzeitig war es verboten, Zucker, Rohstoffe für Kattunmanufakturen und andere Waren zu importieren, deren Produktion in Rußland selbst in Gang gesetzt werden könnte. Als bemerkenswert muß der Senatserlaß vom 31. Januar 1762 bezeichnet werden, durch welchen gestattet wurde, Fabriken für die Fertigung von Segeltuch auch in Sibirien zu betreiben, „besonders für den Ochotsker Hafen", um langen Transportwegen aus Moskau aus dem Wege zu gehen, „wodurch finanzielle Verluste vermieden werden können". Eine Reihe anderer Erlasse war auf die Erweiterung der Anwendung der freien Lohnarbeit gerichtet. Dabei wurde den Arbeitern empfohlen, „nicht unbegründeten Protest zu üben", sondern sich so zu verhalten, daß ein Anreiz entstünde, „für die Lohnarbeit mehr Interessenten zu finden". Die Logik der gesetzgeberischen Arbeit führte Peter III, zur Schlüsselfrage des Landes: der Bauernfrage. Im Januar 1762 waren der Gutsbesitzerin E.N. Holstein-Beck die Rechte auf den Besitz ihres Gutes entzogen worden, weil die Dispositionen der Herrin „nicht zum Nutzen, sondern zur Verelendung der Bauernschaft führe". Zum ersten Mal in der russischen Rechtssprechung wurde per Ukas vom 25. Februar die Tötung von Bauern durch Gutsbesitzer als „tyrannische Quälerei" bezeichnet und mit lebenslanger Verbannung bestraft. In einer Serie von Erlassen, die Peter III. unterschrieb, wurde die Vorrangigkeit des sozialen Status der Staatsbauern gegenüber den Gutsbauern bekräftigt. Nach den von Februar bis April erlassenen Gesetzen wurden Bauern, die auf Kirchen- und Klostergütern lebten, aus der Leibeigenschaft befreit, mit Boden ausgestattet und in Staatsbauern umgewandelt, die zur Zahlung einer individuellen jährlichen Abgabe verpflichtet waren. Letztere wurden für das Jahr 1762 mit 1 Rubel pro Seele männlichen Geschlechts festgesetzt. Während Peter III. und seine Regierung ein humanes Verhältnis gegenüber den Bauern forderten, unterbanden sie gleichzeitig jegliche Form von „Ungehorsam" und „Eigenwilligkeit", traten Gerüchten über eine mögliche Aufhebung der Leibeigenschaft entgegen und setzten sich mit Entschiedenheit für die Verteidigung der gutsherrlichen Rechte ein. Dabei bemühte sich die Staatsmacht bis zu einem gewissen Grad, die angewandten Unterdrückungsmaßnahmen nicht publik werden zu lassen. Auf der Grundlage einer Vorlage Volkovs schrieb der Kaiser dem Senat am 31. Mai vor, „zur Befriedung der bei verschiedenen Gutsbesitzern in Ungehorsam verfallenen Bauern umgehend entsprechende Gegenmaßnahmen zur Anwendung zu bringen, aber nichts darüber verlauten zu lassen". 42 4' 42

M. Raeff, The Domestic Policies of Peter III and His Overthrow, in: The Americal Historical Review 75 (1970), Nr. 5, S. 1289-1310. CGIA (wie Anm. 19), f. 1329, op. 1, d. 97, Bl. 94.

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D o c h die Gerüchte über eine angeblich bevorstehende Befreiung der Bauern führten alsbald dazu, die Taktik zu ändern, worüber im Manifest vom 19. Juni 1762 im Zusammenhang mit den Auflehnungen von Leibeigenen in den Kreisen Tver und Klin Mitteilungen gegeben wurde. „Mit größtem Zorn und Empörung", hieß es darin, „haben wir davon Kenntnis genommen, daß Bauern einiger Gutsbesitzer, verführt und verblendet durch von nichtsnützigen Menschen verbreitete, falsche Gerüchte sich von ihrem pflichtgemäßen Gehorsam gegenüber ihren Gutsherren losgesagt haben". Um diese „Verblendung" der Bauern zu beenden und die Gutsbesitzer zu beruhigen, ließ Peter III. wissen: „Es ist unser Wille, die Gutsbesitzer mit ihren Gütern und Besitzungen unangetastet zu erhalten und die Bauern in ihrem gebotenen Gehorsam zu halten". Das war das Anliegen dieses „zornigen" Manifests. In keiner Weise gab so die gesetzgeberische Tätigkeit Peters III. Katharina II. Veranlassung, ihn der „Zerstörung der inneren Ordnung" zu beschuldigen. Diese Beschuldigung wurde durch eine weitere ergänzt, wonach Kaiser Peter III. durch seinen Friedensschluß mit Preußen „den Ruhm Rußlands nunmehr vollends der Sklaverei ausgeliefert" habe. Der Anwurf, Peter III. habe die staatlichen Interessen Rußlands verraten, erwies sich in der russischen Historiographie als überaus zählebig, obwohl er nicht unumstritten blieb, in jedem Fall jedoch längst korrekturbedürftig war. In der Tat stieß der Krieg mit seinen sinnlosen Opfern im ganzen Lande auf zunehmende Verurteilung. Kein anderer als Lomonosov schrieb im November 1761 an I.I. Suvalov: „Das derzeitige Übel des Krieges in Europa zwingt nicht nur alleinstehende Menschen, sondern ganze zugrundegerichtete Familien, ihre Heimat zu verlassen und Zuflucht in Gegenden zu suchen, die von der Gewalt des Krieges weiter entfernt liegen". 4 3 Diese Zeilen stimmten im übrigen fast wörtlich mit dem bereits erwähnten Memorandum überein, das Großfürst Peter 1760 an Kaiserin Elisabeth gerichtet hatte. Der Ubergang Rußlands von der Konfrontation zur friedlichen Zusammenarbeit mit Preußen erwies sich beiderseits als nützlich. Er nahm Wien die Möglichkeit - und Verhandlungen darüber wurden seit 1759 geführt - , einen Separatfrieden mit Preußen abzuschließen, was Rußland in die internationale Isolation geführt hätte. 4 4 In diesem Sinne Schloß die von Peter III. entwickelte Initiative buchstäblich schon in den ersten Stunden seiner Herrschaft eine solche Gefahr aus. Freilich erwies sich die scharfe Wende im außenpolitischen Kurs Rußlands als Rettung für Friedrich II., was dieser selbst auch nicht leugnete. Aber auch von Seiten Peters waren die eingeleiteten Schritte bei aller Pietät gegenüber dem preußischen König keineswegs eine Bekundung reiner Selbstlosigkeit. Peter III. Schloß mit Friedrich II. Frieden unter bestimmten Bedingungen, die teilweise das „Nordische System" Nikita Panins vorwegnahmen. Tatsächlich versprach Friedrich II. Peter III. in den Friedenstraktaten vom 24. April, 8. Juni und den geheimen Anlagen. 1. „ . . . mit allen Mitteln", einschließlich militärischer Hilfe, für die Befreiung Schleswigs von dänischer Okkupation einzutreten, 2. Die Wahl des Prinzen Georg Ludwig von HolsteinGottorf, Peters Oheim, auf den kurländischen Thron zu bewirken (in Erwartung der Gespräche mit Preußen wurde Ernst Johann v. Biron aus der Verbannung zurückgeholt und als rechtmäßiger Herzog von Kurland anerkannt); 3. Gemeinsam mit Rußland als Garant der Rechte der orthodoxen und lutherischen Bevölkerung Polens aufzutreten und die Erhebung eines Rußland freundlich gesinnten Kandidaten auf den polnischen Thron zu unterstützen. Bei Verwirklichung dieses Programms wäre Rußland unter Peter III. in eine günstige Lage gebracht worden.

43 44

M.V. Lomonosov, Polnoe sobranie socinenij, Bd. 6, Moskau-Leningrad 1952, S. 402. E. Prister (Eva Priester), Kratkaja istorija Avstrii, Moskau 1952, S. 274.

Kaiser Peter III. von Rußland

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Obwohl der Zar mit Friedrich II. freundschaftliche Beziehungen herstellte, war er doch nicht zu grenzenlosen Zugeständnissen an Preußen bereit. In einer Depesche vom 14. April 1762 übermittelte der österreichische Gesandte Mercier Peters III. Worte: Er habe „schon viel im Interesse des preußischen Königs getan"; jetzt müsse er, der russische Kaiser, „an sich selbst denken und Sorge tragen, daß er seine eigenen Angelegenheiten und Absichten" voranbringe. Er könne „jetzt das Königreich Preußen nicht aus den Händen geben", es sei denn, der König helfe ihm „mit Geld". Das waren keine zufällig hingeworfenen Sätze, sondern eine dokumentarisch belegte Aussage. In den mit Friedrich II. unterzeichneten Verträgen war die Unterbrechung des Abzugs der russischen Truppen aus Preußen für den Fall der Zuspitzung der internationalen Lage vorgesehen. In Ubereinstimmung damit befahl Peter III. am 14. Mai dem Konderadmiral G.A. Spiridov, „mit der Revaler Eskadron von der Rigaer bis zur Stettiner Bucht zu kreuzen und die Transportschiffe zu decken" 4 5 , die das dort stationierte Expeditionskorps mit Proviant und militärischer Ausrüstung versorgten. Am 12. Februar 1762 wurde den in Petersburg befindlichen Botschaften der ausländischen Mächte eine Deklaration ausgehändigt, die den Vorschlag enthielt, auf alle während des Krieges gemachten Eroberungen zu verzichten und in Europa einen allgemeinen Frieden herzustellen. Während jedoch Rußland zur Beendigung der Kampfhandlungen aufrief, ergriff es gleichzeitig Maßnahmen, die Kampffähigkeit der Armee und insbesondere der Flotte, die in dieser Zeit gesunken war, wieder anzuheben. Im Februar und März wurden unter dem Vorsitz von Peter III. spezielle Kommissionen gebildet mit dem Ziel, „unsere militärische Stärke in einen besseren und für unsere Freunde achtungsvollen, für unsere Feinde aber furchgebietenden und abschreckenden Zustand zu versetzen". Bleibt noch als letztes die Beschuldigung Peters III., die Absicht verfolgt zu haben, die Rechtgläubigkeit zu „erschüttern" und „auszurotten" und sie durch den lutherischen Glauben zu ersetzen. Bis heute ist unklar, was den Anlaß für diese Behauptung gab. In einer Notiz aus dem Schleswiger Archiv, die sich auf die Sommermonate 1762 bezieht, wird mit Bezug auf die „bekannte Mitteilung in französischer Sprache" behauptet, daß Peter III. mit Friedrich II. über die Einführung des lutherischen Glaubens konferiert habe. 46 Von der Absicht einer Kirchreform berichteten auch die Verfasser einer ganzen Serie deutscher Broschüren, die nach den Sommerereignissen des Jahres 1762 erschienen. In der gesetzgeberischen Arbeit fand dies jedoch keinen Niederschlag, wenn man von einigen Erlassen zu konkreten Fragen absieht, wie dem Verbot, private Hauskirchen einzurichten, da der Bau von Kirchen nicht Privatsache, sondern öffentliche Angelegenheit sei. Sogar in der apokryphen „Stellungnahme", die Peter angeblich eigenhändig verfaßt und am 25. Juni an den Synod geschickt haben soll, ist der Schwerpunkt auf das Recht eines jeden Menschen gelegt, seine Religion frei auszuüben und ihre Rituale freiwillig zu befolgen. Darin lag letztlich nichts Ungewöhnliches: der Kaiser, der sich der Religion gegenüber recht gleichgültig verhielt, ließ sich vom Prinzip der Gewissensfreiheit leiten. Schon am 29. Januar hatte Peter die Verfolgung der Altgläubigen wegen ihres Ritus eingestellt und dem Senat empfohlen, „kein Gesetz zu erlassen, das, wie gewöhnlich, ihrer Verurteilung dient." In der Erklärung, die Peter III. den Senatoren übergab, wurde betont, daß in Rußland neben Rechtsgläubigen auch „Andersgläubige leben, wie Mohammedaner und Heiden. Jene Altgläubigen aber sind Christen, nur daß sie in einem älteren Aberglauben verharren, wovon man sie nicht durch Gewalt oder Beleidigung abkehren soll, denen

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Centralnyj gosudarstvennyj archiv Voenno-morskogo flota SSSR, f. 227, op. 1, d. 17, Bl. 12. Schleswig-Holsteinisches Landesarchiv, 8. I, S. II, Nr. 12.

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sie durch Flucht ins Ausland zu entgehen versuchen und in großer Zahl nutzlos leben". Die Rechte der Altgläubigen wurden im Manifest vom 28. Februar 1762 garantiert. Ins Ausland geflohenen „groß- und kleinrussischen Menschen aller Stände, desgleichen Altgläubigen, Kaufleuten, Gutsbauern, Leuten des Hofgesindes und Deserteuren" wurde gestattet, bis zum 1. Januar 1763 zurückzukehren „ohne Angst und Furcht". In der Begründung des Manifests waren Gewissensfreiheit und Erwägungen des ökonomischen Nutzens miteinander verknüpft worden. Der Pragmatismus und aufklärerische Rationalismus der Begründung nicht nur dieses, sondern auch anderer Gesetzesakte, die Peter III. unterzeichnete, lassen einen Charakterzug erkennen, der in der frühen Literatur nicht beachtet wurde: die manchmal sogar wörtliche Ubereinstimmung mit den Empfehlungen, die Lomonosov in seinem Traktat „Uber die Erhaltung und Mehrung des russischen Volkes" ausgesprochen hat. Indem dieser die in „fremde Staaten besonders Polen" geflüchteten Raskol'niki (Altgläubigen) „lebende Leichname" nennt, verwies der Gelehrte auf den daraus für das Land erwachsenden ökonomischen Schaden. Lomonosov erachtete es für notwendig, die uneffektiven Formen des gewaltsamen Kampfes gegen die Raskol'niki zu überdenken und sie durch jene zu ersetzen, die in der „Besserung der Sitten und der größeren Aufklärung des Volkes liegen". 47 Peter III. folgte Lomonosov nicht nur auf diesem Wege, sondern entschloß sich zu einem noch radikaleren Schritt. Indem er die Freiheit der Glaubensausübung proklamierte, beabsichtigte der Kaiser nicht nur, die Kirchenleitung unter die politische Kontrolle des Staates zu stellen (was schon Peter I. getan hatte), sondern auf dem Wege der Säkularisierung der Kirchen- und Klostergüter dieses auch ökonomisch zu bewerkstelligen (was den Großvater Peters III. noch nicht möglich war). Kaiser Peter III., der die praktische Seite dieser Reform Volkov anvertraute, nahm jedoch daran persönlich Anteil. Stählin bezeugt: „Er (der Zar - Α. M.) arbeitet am Projekt Peters des Großen über die Säkularisierung der Klostergüter und die Berufung eines besonderen „Ökonomie-Kollegiums" zu ihrer Leitung . . . Er nimmt dieses Manifest regelmäßig mit sich ins Kabinett, um es noch einmal gründlich durchzusehen und durch Bemerkungen zu ergänzen" 4 8 . Infolge der außerordentlichen Gefährlichkeit des Vorhabens wurde die Reform nicht durch einen einmaligen Ukas, sondern eine ganze Serie von Erlassen verkündet. Im ersten Erlaß vom 16. Februar 1762 wurde aus taktischen Erwägungen betont, daß es lediglich um die Erfüllung des Willens der verstorbenen Kaiserin Elisabeth ginge, die sich um die Vereinigung des „Glaubens mit dem Nutzen des Vaterlandes" bemüht habe. Tatsächlich war die neue Ordnung in Anwesenheit Kaiserin Elisabeths bereits 1757 von der „Konferenz" gebilligt worden, aber nicht mehr zur Ausführung gelangt. Bei aller blumigen Rhetorik des Präambeltextes klingen wieder voltaireianische Töne durch. Insonderheit wurde darin hervorgehoben, daß Elisabeth es zur Beseitigung der fortschreitenden Zerstörung und Festigung der „wahren Grundlagen unserer rechtgläubigen Ostkirche für notwendig erachtete, die Mönche als Menschen, die sich von diesem begrenzten irdischen Leben losgesagt haben, von weltlichen und alltäglichen Sorgen und Pflichten zu entbinden". Durch Peters III. Erlasse vom 21. März und 6. April 1762 wurde zur Leitung der ehemaligen Kloster- und Kirchengüter und der dort ansässigen Bauern das „Kollegium für Ökonomie" eingerichtet, wodurch die Belange der Geistlichkeit in die Hände der staatlichen Verwaltung und Versorgung „etatmäßig" übergingen.

47 48

Lomonosov (wie Anm. 43), S. 401-402. Stählin (wie Anm. 8), S. 103.

Kaiser Peter III. von Rußland

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Es bleibt ein Rätsel, ob Peter III. die politische und ökonomische Kontrolle der Kirche durch weitere Eingriffe auch in den rituellen Bereich der orthodoxen Kirche zu ergänzen gedachte. Solche Pläne existierten freilich. Sie sahen vor: Aufhebung der Begrenzung von Eheschließungen für Witwer und Verbot des Eintritts in den Mönchsstand für Männer unter 50, für Frauen unter 45 Jahren; die Forderung, Neugeborene nicht mit kaltem, sondern mit warmem Wasser zu taufen; Verlegung der Zeit der großen Fasten, gemäß dem Klima des Landes, in den späten Frühling bzw. frühen Sommer, da „das Fasten nicht als Vorbeuge zum Selbstmord durch schädliche Speisen, sondern zur Enthaltsamkeit von Überfluß" festgelegt sei. Der Trunksucht, öffentlichen Handgreiflichkeiten und der Unbildung eines Teils der Geistlichkeit wurde die Lebensweise der lutherischen Pastoren gegenübergestellt, die „nirgendwo an Mittagessen, Feiern zu Taufen, Kindsgeburten, Hochzeiten und Beerdigungen teilnehmen", vielmehr Kinder unterrichteten etc. Für alle diese Pläne galt die Devise: „Deutschland soll das Beispiel sein". Diese Worte stammten jedoch nicht von dem vermeintlichen „Russenfeind" Peter III., sondern von dem großen russischen Gelehrten und Patrioten Lomonosov, der die innere Verfassung und die gesellschaftlich-erzieherische Funktion der rechtgläubigen Kirche mit den Forderungen des Geistes der Zeit in Übereinstimmung zu bringen suchte. 49 Die Behauptung einiger zeitgenössischer Autoren, Peter III. habe angeblich orthodoxe Geistliche in Pastorenkleidung „gesteckt" und ihnen die Bärte geschoren, rufen zurecht Zweifel hervor. Im übrigen gab es auch unter den Zeitgenossen genügend Weitsichtige. Dazu gehörte auch der Erzbischof Amvrosij (A.S.Zertis-Kamenskij), ein bekannter Kirchengelehrter und Bibliophiler. Dieser fragte in einem Schreiben an Katharina II. äußerlich loyal, jedoch mit versteckter Ironie, ob nicht die Erinnerung an Peter III. als einen „in höchstem Maße Strenggläubigen" im Volke Verdacht wecken könne, daß die in den Manifesten „ihm zugeschriebenen Sünden unbegründet" und „irgendwelche anderen Gründe für seinen Sturz" ausschlaggebend gewesen seien." 50 In ihren „Memoiren", die zu Beginn des 19. Jh. geschrieben wurden, behauptet Fürstin E.R. Daskova: „Peter III. verstärkte durch seine gesetzgeberischen Maßnahmen die Abneigung, die man ihm gegenüber hegte, und rief durch sie eine tiefe Verachtung gegen sich hervor". 51 Das aber war durchaus nicht so. Die Politik des Kaisers entsprach nicht nur den Interessen breiter Adelskreise, sondern rief breite Genugtuung hervor und fand allgemeinen Zuspruch. Zahlreiche Gesetze, die Peter erließ, und Pläne, die man nach den vorhandenen Quellen beurteilen kann, bewegten sich auf der Linie der „Projekte" des Suvalov-Kreises. In vielem entsprachen sie den Empfehlungen Lomonosovs. Mittler zwischen dem Gelehrten und dem Kaiser war sehr wahrscheinlich I.I. Suvalov, dem Lomonosov seinen Traktat „Über die Erhaltung und Mehrung des russischen Volkes" gewidmet hatte. Sicherlich beruht auch die ablehnende Haltung Katharinas II. gegenüber Lomonosov nicht auf Zufälligkeit. Jedenfalls löste die Absetzung Peters III., die für den größten Teil der Bevölkerung unerwartet kam, einen Schock nicht nur in den unteren Volksschichten aus, sondern auch im Adel, insbesondere beim Moskauer und dem Provinzadel. Alles in allem sah die Situation am Vorabend des Umsturzes anders aus, als sie Fürstin Daskova in ihren Memoiren darzustellen sich bemüht. Natürlich standen die meisten der abgegebenen Werturteile und Stellungnahmen in engem Zusammenhang mit dem höfischen Milieu und den dortigen Geflogenheiten. In 49 50

51

Lomonosov (wie Anm. 43), S. 386. 387, 390, 394, 395, 407-408. Zadrudnenija pri pominovenii Petra III. Aus den Papieren von M.D. Chmyrov, in: Istoriceskij vestnik 1881, Bd. 4, S. 432. E.R. Daskova, Zapiski 1743-1811 gg., Leningrad 1985, S . , 37.

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den Erinnerungen an ihre Jugend urteilte ζ. Β. die ehemalige Hofdame N.K. Zagrjazskaja nach dem Zeugnis Puskins über Peter III.: „Er war einem Herrscher nicht ähnlich". 52 Das eben wurde ihm später als Vergehen angerechnet. In der Tat vereinte Peter in sich sehr gegensätzliche Eigenschaften: Beobachtungsgabe, Eifer und Scharfsinn in Wortgefechten, Hast in seinen Handlungen, Unvorsichtigkeit und Unbedachtsamkeit in Gesprächen, Offenheit, Güte, Spottlust und Jähzorn. All das zeigte sich auch in seinem Verhalten als Kaiser. Er liebte es nicht, den strengen Regeln des höfischen Zeremoniells zu folgen, verletzte und verachtete es oft. So entstanden nicht von ungefähr die Gerüchte, wonach Peter III. „von den Russen gehaßt" werde (Graf v. Finkenstein), „immer wieder die Eigenliebe des russischen Volkes" verletzte (J.L. Favier) und „den Russen Haß und Verachtung" entgegenbringe (A.T. Bolotov). Gründe für solche Meinungen gab es sicherlich: das Wissen um den Doppelcharakter seiner Herkunft (Deutscher nach dem Vater, Russe nach der Mutter) rief in Peter nach seiner Ankunft in Rußland jenen unbeständigen Komplex eines doppelten Selbstbewußtseins hervor. Dennoch bezogen sich die oben angeführten und weiteren Einschätzungen nicht auf das Volk als Ganzes, sondern, wie A.T. Bolotov präzisierte, auf „unsere hohen Würdenträger". 5 3 Und das war die Wahrheit: Peter brüskierte die ihm nicht wohlwollende mondäne und höfische Umgebung und verkehrte gern mit einfachen Menschen - diese Gewohnheit hatte sich bei ihm schon in jungen Jahren herausgebildet. Als er Kaiser geworden war, fuhr und ging er allein, ohne Wachen, durch Petersburg, besuchte seine ehemaligen Bediensteten zu Hause. Durch mündlichen Erlaß vom 25. Mai gestattete er „Menschen jeden Ranges", ungehindert im „Sommergarten" und auf dem „Marsfeld" „jeden Tag bis 10 Uhr abends in anständiger, nicht gewöhnlicher Kleidung" spazierenzugehen. 54 Seine Unmittelbarkeit und Einfachheit fanden im Volke Sympathie und Zustimmung, riefen aber in den oberen Schichten eine sich verstärkende Gereiztheit hervor, deren wesentliches Symptom die unwahrscheinlichsten Gerüchte und Anekdoten waren, die im Sommer 1762 Verbreitung fanden. In ihnen erschien Peter III. als verrückter und geistesschwacher Sonderling und Trinker, der ohne zu überlegen bereit sei, jedes ihm untergeschobene Papier zu unterschreiben. So sei das Manifest über die Adelsfreiheit angeblich von Volkov verfaßt worden, den der Kaiser, selbst zu einem geheimen Liebesabenteuer eilend, für eine Nacht in sein Kabinett eingeschlossen habe mit dem Befehl, irgendein wichtiges Gesetz zu verfassen. Oder: während eines fröhlichen Gelages habe K.G. Razumovskij nach vorheriger Rücksprache mit seinen Kumpanen angeblich mit dem Ruf „Wort und Tat" diejenigen angezeigt, die sich geweigert hatten, den Pokal auf die Gesundheit des Kaisers bis zur Neige zu leeren; der sich der Praxis der Zuträgerei und Denunziation schämende Peter III. habe daraufhin dienstfertig das ihm von Volkov vorgelegte Manifest über die Auflösung der „Geheimen Kanzlei" unterzeichnet. Es ist nicht ausgeschlossen, daß die Quelle vieler Anekdoten, denen nicht nur eine Generation Glauben schenkte, Volkov war, der sich nach dem Umsturz auf jede nur mögliche Weise von der Teilnahme am Wirken seines verflossenen Herrn lossagte. 55 An der Verbreitung solcher Gerüchte beteiligte sich nach dem Umsturz aber auch 52 53 54 55

Puäkin (wie A n m . 33), S. 177. A.T. Bolotov, Zapiski, Bd. 2, St. Petersburg 1871,S. 1 6 4 - 1 6 5 . C G I A (wie Anm. 19), f. 1329, op. 2, d. 52, Bl. 12. G.V. Vernadksij, Manifest Petra III ο vol'nosti dvorjanskoj i zakonodatel'naja komissija 1 7 5 4 - 1 7 6 6 gg., in: Istoriceskoe obozrenie, 1915, Bd. 20, S. 5 1 - 5 3 .

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Katharina II., die dieser Tätigkeit Staatsbedeutung beimaß. Im „Ausführlichen Manifest" wurde ζ. B. der gestürzte Kaiser der Absicht bezichtigt, sie ermorden und Paul Petrovic von der Thronfolge ausschließen zu lassen. Außerdem wurden Gerüchte genährt, wonach Peter III. die Absicht gehabt habe, seine Favoritin, die Gräfin Elizaveta Voroncova, zu heiraten, und noch vor dieser Hochzeit „40-50 Damen der großen Gesellschaft mit holsteinischen und preußischen Männern zu verehelichen". Kritisch beurteilte ein holsteinischer Diplomat diesen Sturm pikanter Informationen des Sommers 1762, als er aus Petersburg nach Kiel schrieb: „Diese Dummheiten werden nur darum ,breitgetreten', um das Volk zu beeinflussen, nachdem die aus Petershof,geflohene' Kaiserin es aufgewühlt und um seinen ,Schutz' gebeten hatte". 56 Sogar vier Jahrzehnte später erinnerte sich Bolotov, damals Hauptmann, der am Hofe diente, mit Schrecken an die Raucherleidenschaft Peters III. oder daran, wie einmal in Oranienbaum der Kaiser und seine belustigte Suite „auf einem Bein zu hüpfen begannen, andere wiederum mit angewinkelten Knien ihre Mitbeteiligten in den Hintern stießen und laute Schreie ausstießen". 57 Solche Scherze waren, wenn man sie unvoreingenommen und leidenschaftslos betrachtet, gänzlich harmlos im Vergleich mit den Belustigungen anderer Selbstherrscher, die vor und nach Peter III. regierten. Wie ihnen, so hätte man sie auch ihm sicher verziehen, wenn er nicht die Grenze der politischen und materiellen Interessen jener herrschenden Elite überschritten hätte, jener „Handvoll Intriganten und Kondottieres", die, nach der treffenden Bemerkung Alexander Herzens, „in Wirklichkeit den Staat leitete" 58 . Diese Kreise empfanden immer größere Gereiztheit nicht nur im Ergebnis vieler weitreichender Absichten Peters III. (ζ. B. der Erweiterung der Vorteile für die Kaufmannschaft oder die Reform der Leitung der Kirchengüter), sondern besonders ihrer tatsächlichen praktischen Verwirklichung. Das unerwartete und energische Auftauchen Peters III. im Senat, besonders aber im Synod, wo sich schon lange keines der regierenden Häupter mehr hatte blicken lassen, erschreckten und reizten die hochgestellte Bürokratie, die der Kontrolle entwöhnt war und verlernt hatte, richtig zu arbeiten. Ohne Enthusiasmus wurden auch die Schritte des Kaisers zur Festigung der militärischen Disziplin in der Garde aufgenommen. Umso mehr, als Peter II. seine negative Beziehung zu ihr nicht verbarg und sie mit der Zeit wohl überhaupt abzuschaffen gedachte, aber vorerst beabsichtigte, sie gegen Dänemark zu schicken in einen Krieg, den er zur Rückgewinnung Schleswigs als beschlossene Sache betrachtete. Gleichzeitig wurden neue Formeln militärischer Kommandos eingeführt und der Umtausch ihrer Kleidung durch Uniformen preußischen Musters vorbereitet. Einige Truppenverbände, die in Preußen standen, wurden, um Friedrich II. zu helfen, sogar gegen den ehemaligen österreichischen Verbündeten eingesetzt. In Kreisen der hauptstädtischen Aristokratie und in der Garde, die um ihre allernächste Zukunft bangte, wurden diese Schritte mit Sorge betrachtet und entschieden verurteilt. Ungeachtet ihn erreichender Warnungen traf Peter III. keine Maßnahmen zu seiner Selbstverteidigung, da er fest von der Unerschütterlichkeit und Gegebenheit seiner autokratischen Rechte überzeugt war. Und das in einem solchen Maße, daß er entgegen den dringlichen Ratschlägen Friedrichs II. sogar den Krönungsakt bis zum Ende des dänischen Feldzugs verschob, von dessen erfolgreicher Beendigung er überzeugt war. Später wird der preußische König mit soldatischer Geradlinigkeit sagen: „Der arme Kaiser wollte Peter I.

56 57 58

Schleswig-Holsteinisches Landesarchiv, 400.5. Nr. 316, Bl. 66. Bolotov (wie Anm. 53), S. 205. A.I. Gercen (Alexander Herzen), Sobranie socinenij, Bd. 12, Moskau 1957, S. 365.

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nachahmen, aber es fehlte ihm dessen Genius". 5 9 Damit kann man sich nur teilweise einverstanden erklären: gibt es etwa wenige Beispiele, daß absolut nichtgeniale Menschen lange Zeit an der Spitze eines Staates standen?! Für Peter III. war ein anderes Moment bestimmend: die sich vertiefende Kluft zwischen dem Träger der Macht und den sozialen Oberschichten, die die Stabilität des autokratischen Regimes behüteten und außerdem ihre Alternative in Katharina Alekseevna sahen. Die Kräfte, die mit Peter unzufrieden waren, setzten auf sie in dem Maße, wie sie auf diese setzte. Das aber vollzog sich nicht nach, sondern bereits vor der Thronbesteigung Peters. Auf den ersten Blick scheint dies der Version zu widersprechen, die Katharina immer wieder bekräftigt hat, nämlich, daß sie bis 1762 vor der schicksalhaften Wahl gestanden habe, „entweder mit dem Verrückten zugrundezugehen oder sich mit der Menge zu retten, die danach verlangte, ihn loszuwerden". 6 0 D o c h die Kaiserin heuchelte in diesem Falle. Es ist bekannt, daß schon in den letzten Jahren und Monaten des Lebens von Kaiserin Elisabeth im engen Kreis von Höflingen die Möglichkeit erörtert wurde, den Großfürsten nach Holstein auszuweisen und statt seiner den minderjährigen Paul unter der Regentschaft Katharinas zum Kaiser auszurufen. Dieser Plan befriedigte damals viele nicht, darunter auch Katharina, die Größeres erstrebte. Der Gedanke von einer möglichen Beseitigung des rechtmäßigen Nachfolgers aber war damit geboren. Katharina nahm dies zur Kenntnis und bevorzugte nach dem Ableben Kaiserin Elisabeths in der Atmosphäre verworrenster Intrigen die Vorsicht. Und als Ende des Jahres 1761 der Hauptmann der Garde M.I. Daskov der Großfürstin den Vorschlag unterbreitete, sie auf den Thron zu heben, hörte er als Antwort jene Worte, die Katharina II. später in ihren „Memoiren" niederschrieb: „Ich befahl ihm zu sagen: ,Um Gottes willen, machen Sie keinen Unsinn. Was Gott will, das wird auch werden, aber Ihr Unternehmen ist eine verfrühte und unreife Sache'". 6 1 Die notwendigen Schlußfolgerungen zog sie jedoch: auf der Hut sein, Peter zu unvorsichtigen Handlungen provozieren und gleichzeitig einflußreiche Persönlichkeiten aus der aristokratie und Garde auf ihre Seite ziehen, die geeignete Stunde abwarten und, war sie da, den Schlag führen. In diesem Sinne war die Zukunft Peters III. bereits vor seiner Thronbesteigung vorherbestimmt. Später jedoch, nachdem sie den Gatten abgesetzt und dieser physisch beseitigt war, tat Katharina II. alles, um diesen nicht nur als Herrscher, sondern auch als Persönlichkeit zu disqualifizieren. Diesem Ziel mußte Peters verzerrt-groteske Charakteristik in den Manifesten der Kaiserin von Ende Juni Anfang April 1762 dienen, die in ihren „Memoiren'" ausgeweitet wurde, mit welchen sie sich, den Text in immer neuen Varianten niederschreibend, über einen großen Teil ihrer langen Regierungszeit befaßte. Es ist jedoch bemerkenswert, daß das Bewußtsein des Volkes sogleich die lügenhafte N o t e in den Manifesten Katharinas erkannte und ihnen die moralische Bewertung verlieh, die zur Grundlage der Legende von der wundersamen Errettung des „dritten Kaisers" wurde. Diese Legende fand in der Reihe der Usurpatronen, die unter dem Namen Peter Fedorovic in den 60er und 70er Jahren in den gewaltigen Weiten Rußlands und in angrenzenden Ländern - von Sibirien und dem Ural bis zur Adria und Mitteleuropa - auftraten, ihre Personifizierung. Die gegen Peter vorgebrachten übelwollenden Beschuldigungen riefen in Kreisen hochgestellter Zeitgenossen keine geringen Zweifel hervor, wie das am Beispiel des bereits erwähnten Amvrosij deutlich macht. Und auch Katharina selbst hat die Unse59 60 61

N . N . Firsov, Petr III i Ekaterina II, Petrograd-Moskau 1915, S. 23. Perevorot 1762 goda. Socinenija i perepiska ucastnikov i sovremennikov, Moskau 1908, S. 6. Ekaterina II, in: Sobranie socinenij, Bd. 12, Teil 2, St. Petersburg 1907, S. 500.

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riosität dieser Beschuldigungen bald bestätigt. Als sie zur Macht gelangte, setzte sie die Erlasse über die Säkularisierung der Kirchen- und Klostergüter, den Friedensvertrag mit Preußen, das Manifest über die Adelsfreiheit und einige andere Gesetze Peters III. außer Kraft. Diese Maßnahme sollte die gegen ihn gerichteten Beschuldigungen bekräftigen, die im Manifest vom 28. Juni 1762 enthalten waren. Jedoch 1764 wurde von Katharina II. ein neuer Vertrag mit Friedrich II. abgeschlossen, die Säkularisierung der Güter der geistlichen Verwaltung erneuert, und, obwohl mit großer Verspätung, 1785 auch die Gnadenurkunden für den Adel und die Städte erlassen. S.S. Tatiscev bemerkte mit Erstaunen: „Wie groß auf den ersten Blick der Unterschied zwischen den politischen Systemen Peters III. und seiner Nachfolgerin auch sein mag, so muß man, andererseits, anerkennen, daß diese in einigen Fällen nur die Fortsetzerin der von ihm eingeleiteten Schritte war". 6 2 Im übrigen sollte man sich nicht so sehr über diese Tatsache wundern, als vielmehr darüber, daß die treffliche Beobachtung dieses Historikers von anderen Forschern nicht gebührend gewürdigt worden ist. Dabei widerlegt der von S.S. Tatiscev erkannte Zusammenhang nicht nur den Inhalt der entscheidenden „Sünden" Peters III., die in Katharinas Manifest zur Thronbesteigung aufgeführt waren, sondern bezeugt ebenso, daß der Kurs der Regierung Peters bei allen Mängeln nicht unvernünftig oder verräterisch war. Durch den Druck der Umstände selbst war Katharina II. gezwungen, einige der von Peter II. konzipierten und eingeleiteten Reformen weiterzuführen, aber, wie so oft in der Geschichte Rußlands, mit großer Verspätung, halbherzig und unter Beschneidung ihrer kühnsten Gedanken. Natürlich besteht keine Notwendigkeit, Peter III. zu idealisieren, seine persönlichen Mängel zu vertuschen oder ihnen und seiner Tätigkeit eine höhere Bewertung zu verleihen, als sie es verdienen. Doch besteht auch kein Grund, sie uneingeschränkt zu verurteilen und alle seine Schritte, ungeachtet ihrer Abhängigkeit von den Umständen und den Motiven, die hinter ihnen standen, mißgünstig zu bewerten. N o c h verfehlter aber wäre es, als Hauptquelle für die Beurteilung Peters III. die „Memoiren" Katharinas II. zu wählen, nach deren Lektüre der Senator F.P. Lubjanovskij zu seiner Zeit zu der Einschätzung gelangte: „Man kann schwer daran glauben, daß derjenige, der so viele Jahre im unerschütterlichen Glauben an sein künftiges hohes Schicksal lebte, sich entschlossen hätte, ein solches Zeugnis über sich eigenhändig zu schreiben und es, dazu noch ohne Reue, der Nachwelt zu hinterlassen". 63 Die Gründe, von denen sich die Historiker der Vergangenheit zur Rechtfertigung der Thronbesteigung Katharinas II. leiten ließen, haben längst ihre Beweiskraft und ihren politischen Sinn verloren. Heute bedarf es einer Umbewertung der verknöcherten und tief ins historische Bewußtsein gedrungenen Tradition - im Interesse der Erkenntnis der Wahrheit. Dazu ist die Ausweitung der Quellengrundlage notwendig, und zwar nicht nur durch Hebung der in den Archiven verstaubten Materialien der staatlichen Tätigkeit Peters III. Schon lange wurde die Forderung nach einer kritischen Analyse der Memoiren Katharinas II. erhoben, die in gleicher Weise für die Erinnerungen der Fürstin Daskova, A.T. Bolotovs und einer Reihe ausländischer Augenzeugen der Ereignisse des Jahres 1762 gilt, darunter für den französischen Diplomaten Claude Carloman de Rulhiere, den Verfasser des Werkes „Histoire ou anecdotes sur la revolution de Russie en l'annee 1762, das im Jahre 1797 in Paris erschien. 62 63

Sbornik Russkogo istoriceskogo obscestva, Bd. 18, St. Petersburg 1876, S. VI. F.P. Lubjanovskij, Zapiski, Moskau 1872, S. 176-177.

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In diesen und ähnlichen Quellen ist die wertvolle und authentische Information über Peter III. und seine Zeit nicht selten mit Entstellungen, Fehlern, groben Überzeichnungen sowie pikanten, jedoch nicht immer nachprüfbaren Berichten vermengt. Deren unkritische Wiedergabe dient nur der unrichtigen, irrigen Deutung einer der am meisten verfälschten Perioden der russischen Geschichte. Schon 1797 rief N.M. Karamzin zu einer gerechten Bewertung Peters III. auf, wobei er betonte: „Mehr als dreißig Jahre sind seit der Zeit verstrichen, da Peter III. traurigen Angedenkens ins Grab gestiegen ist, und das betrogene Europa hat die ganze Zeit über diesen Herrscher nach den Worten seiner Todfeinde oder deren gemeinen Anhängern beurteilt". 64 Wir meinen, daß die Zeit längst gekommen ist, die Meinung des großen Historikers endlich zur Kenntnis zu nehmen.

64

Zitiert nach J.M. Lotman, Certy real'noj politiki ν poezii Karamzina, in: XVIII vek, Teil 1, Leningrad 1981, S. 126. Über Peter III. jetzt: Alexander Mylnikow, Die falschen Zaren. Peter III. und seine Doppelgänger in Rußland und Osteuropa, Eutin 1994.

G Ü N T E R A R N O L D , WEIMAR

Katharinas II. Große Kommission und Instruktion in der Sicht Herders

Die Preisfrage der Berliner Akademie der Wissenschaften /Philosophische Klasse für das Jahr 1780, betitelt „Est-il utile au peuple d'etre trompe, soit qu'on l'induise dans de nouvelles erreurs, ou qu'on l'entretienne dans Celles oü il est?", rief unter den deutschen Intellektuellen beträchtliches Aufsehen hervor und fand bei einigen bedeutenden Autoren noch viele Jahre später Resonanz. Gegen seinen Willen, von seinem hochgeschätzten Korrespondenzpartner d'Alembert gedrängt, hatte Friedrich II. der Akademie diese Fragestellung durch Kabinettsorder im Oktober 1777 befohlen. Auf die Religion bezogen, hatte d'Alembert schon am 18. Dezember 1769 und erneut am 22. September 1777 geschrieben, daß den Menschen immer die Wahrheit vermittelt werden sollte und Volksbetrug keinen Nutzen bringe. Darüber solle die Berliner Akademie entscheiden. Der skeptische König, der sich selbst als ersten Diener des Staates verstand, hielt die überwiegende Mehrheit des Volkes für unfähig, die Wahrheit zu begreifen, und meinte daher, zu seinem Wohl sei Täuschung erlaubt. Das von dem berühmten Enzyklopädisten aufgeworfene moralphilosophische Problem traf den Kern des aufgeklärten Absolutismus, die „wohlmeinende" Bevormundung der für unmündig erklärten Untertanen, worüber sich dann 1784 in der „Berlinischen Monatsschrift" Moses Mendelssohn und Kant als Verfechter von politischliterarischer Öffentlichkeit und Volksaufklärung zu Wort meldeten. Uber die Aufgabenstellung der Akademie für 1780 aber waren in Unkenntnis ihrer Veranlassung manche Zeitgenossen verärgert und hielten sie für Heuchelei, da wohl niemand wagen würde, den Volksbetrug offen zu bekämpfen, oder sie spotteten darüber wie noch 1788 Jean Paul. N o c h ein Menschenalter später wies Hegel in der „Phänomenologie des Geistes" auf das Unhistorische der Frage hin. Herder hatte die Aufgabe „Von den Vorurtheilen" im Kalender 1777 notiert und plante eine Antwort in drei platonischen Gesprächen, führte diesen Plan aber nicht aus, da er eine Preisschrift über die zweite Berliner Frage für 1780 „ Q u e l l e a ete l'influence du gouvernement sur les lettres chez les nations ού elles ont fleuri?" an die Akademieklasse der Schönen Wissenschaften eingereicht hatte. In Herders gekrönter Einsendung „Vom Einfluß der Regierung auf die Wissenschaften und der Wissenschaften auf die Regierung" wird am Schluß der universalhistorischen Darstellung Möglichkeit und Verpflichtung des aufgeklärten Staates zur Förderung der Wissenschaften, der Gedanken- und Pressefreiheit und der Erziehung aufgezeigt und damit indirekt die gleichzeitige Preisfrage der Philosophischen Klasse negativ beantwortet. Ende Januar 1781 schickte Herder die Preisschrift über die Regierungen an den ihm befreundeten preußischen Gesandten in Petersburg, Johann Eustachius Graf von Schlitz, genannt von Görtz, der bis 1778 in sachsen-weimarischen Hofdiensten gestanden hatte, und bat ihn, die Schrift, in der er unter anderem auf Katharinas Projekt der Erneuerung Griechenlands anspielte, „in der Kaiserin H a n d " zu bringen. Er betrachtete sich als einen Aufklärer, der den Regenten „hie und da die Vorurtheile benimmt, ihnen über gewisse Sachen die Augen öffnet" und wünschte praktische Wirkungen; denn „was hilft alles Sagen, wenn nichts gethan wird?" Da er „die besten Jahre seines Lebens" in Riga gelebt hatte, erkundigte er sich mit Anteilnahme nach den „Anstalten für die Literatur, Erziehung, Künste, Menschheit" in Rußland, die damals „noch bloße Hoff-

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nung" gewesen seien. Reichlich zehn Jahre waren vergangen, seit er im November 1769 von Nantes aus einen Rigaer Freund nach einem Weg fragte, wie er ein politisches Werk als deutsches oder französisches Manuskript - eventuell vermittelt durch den allmächtigen Günstling Graf Grigorij Orlov - an Katharina II. senden könne. In der Zwischenzeit war Herder durch seine praktischen Erfahrungen in leitenden geistlichen Amtern im Fürstendienst in Bückeburg und Weimar weitgehend desillusioniert über die Aufrichtigkeit und Wirksamkeit des aufgeklärten Despotismus, so daß die erneut aufflackernde Hoffnung auf Reformen der russischen Kaiserin - zumal nach der von ihm gemißbilligten Ersten Teilung Polens 1772 - nicht ganz glaubwürdig erscheint. Die nordische „Semiramis", die Anfang 1768 auf Wunsch Friedrichs II. zum wirklichen auswärtigen Mitglied der Berliner Akademie ernannt worden war, hätte im Fall ihrer Beteiligung an dem philosophischen Preisausschreiben die Täuschung des Volkes durch den Regenten gewiß für legitim erklärt, illustriert doch ihre „Gesetzbuch-Kommission" dieses Problem geradezu auf klassische Weise. Die Zerbster Prinzessin hatte sich am 28. J u n i / 9 . Juli 1762 durch einen Staatsstreich bzw. eine Palastrevolte mit Hilfe der Garde des russischen Thrones bemächtigt. Die acht Tage danach erfolgte Ermordung ihres Gemahls, des Zaren Peter III., eines Enkels Peters I., durch Gardeoffiziere und der gewaltsame Tod des seit 1741 gefangengehaltenen Zaren Ivan VI., eines Urgroßneffen Peters I., bei dem Putschversuch des Leutnants Mirovic in der Festung Schlüsselburg am 5 . / 1 6 . Juli 1764 warfen bedrohliche Schatten auf Katharinas Herrschaftsantritt. Beide Ereignisse, in die sie verstrickt war, obgleich ihre unmittelbare Mitschuld kaum nachzuweisen ist, wurden ihr als ausländischer Usurpatorin in anonymen Flugschriften schuldhaft angelastet. N o c h der große Auführer Pugacev schlug daraus 1773/74 propagandistisches Kapital. Der üble Zustand in Verwaltung und Staatswirtschaft Rußlands und das Legitimierungsbedürfnis der Kaiserin, deren Lage außerordentlich schwierig und unsicher war, drängten sie, in Anwendung vorausgegangener politischer Lektüre über baldige Veränderungen nachzudenken. Im Januar 1765 begann sie mit der Ausarbeitung eines gesetzgeberischen Werkes, der Urfassung der späteren „Instruction für die zu Verfertigung des Entwurfs zu einem neuen Gesetz-Buche verordnete Commission". Das Original in französischer Sprache trägt den Titel „Materiaux dont les traductions dans le Senat, et qui ont servi pour composer l'instruction de la Commission etablie pour faire le projet des Lois". Schon als Großfürstin hatte Katharina sich mit politischen Theorien beschäftigt - mit den Werken Montesquieus, aber auch Macchiavellis, des Begründers der skrupellosen Staatsräson. In der Urfassung von 1765 war noch nicht an die Einberufung einer repräsentativen Gesetzbuch-Kommission gedacht; daher ist die Vermutung Isabel de Madariagas, Katharina sei möglicherweise von dem Artikel „Representants" (von Holbach) im 14. Band der „Encyclopedie" Diderots und d'Alemberts beeinflußt gewesen, trotz ihrer im literarischen Europa bekanntgewordenen (vergeblichen) Einladung d'Alemberts als Erzieher des Großfürsten Paul im November 1762 und trotz ihres Angebots an Diderot im August desselben Jahres, die „Encyclopedie" in Rußland zum Abschluß zu bringen, nicht überzeugend. Erst im A p r i l / M a i 1766 wurde die Einberufung einer Reichsversammlung beschlossen, nicht aus freien Stücken, sondern zur Verteidigung der Selbstherrschaft gegen das Machtstreben oppositioneller Kreise. Der Ukas Katharinas II. vom 14./25. Dezember 1766 „zur Errichtung einer Kommission in Moskau, in der der Entwurf zu einem neuen Gesetzbuch gemacht werden soll" ist im 9. Stück der „Rigischen Anzeigen von allerhand Sachen, deren Bekanntmachung dem gemeinen Wesen nöthig und nützlich ist" vom 26. Februar/9. März 1767 veröffentlicht. Darin werden die Bestrebungen der Zarin als Fortsetzung der von Peter I. und seiner Tochter Elisabeth gemachten Anfänge zur Verbesserung der Gesetze bezeichnet. Es wird

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der Befehl mitgeteilt, daß aus allen Städten, Kreisen, Distrikten und Provinzen, Reichskollegien und Kanzleien je ein Deputierter zu wählen sei - Vertreter der Beamten, Adligen, Stadtbürger, Freibauern, Kosaken und Fremdvölker, insgesamt 564 Abgeordnete, von denen bürgerliche und (frei)bäuerliche zahlenmäßig überlegen waren. In der Beilage zum 12. Stück der Anzeigen vom 19./30. März 1767 wird chronikartig die Wahl des Rigaer Stadtdeputierten, des Ratsherrn Johann Christoph Schwartz, dokumentiert. Schwartz gehörte einer der mit Herder befreundeten führenden Rats- und Patrizierfamilien an und wird noch 1795 in den „Briefen zu Beförderung der Humanität" als „Bürgermeister des alten Rates" erwähnt. 1765 hatte Herder, der in seiner Heimat Preußen von der kantonalen Konskription erfaßt war und Zwangsrekrutierung fürchtete, sich daher in der Rigaer hanseatischen Freiheit dankbar als russischer Patriot bekannte, in dieser Provinzzeitschrift die Kaiserin in offiziellem Auftrag in drei Oden verherrlicht. Von der Eröffnung der Gesetzbuch-Kommission am 30. J u l i / 1 0 . August 1767 an berichteten die „Rigischen Anzeigen" fortlaufend und detailliert über die Vorgänge in Moskau, wobei sie sich ζ. T. auf Berichte der „Petersburgischen Zeitung" stützten. Im 18./19. Stück der „Gelehrten Beyträge zu den Rigischen Anzeigen aufs Jahr 1767" wird die wichtige von Katharina anberaumte Sitzung vom 9 . / 2 0 . August beschrieben, in der die Abgeordneten nach der Verlesung der „Instruction" der Kaiserin dankbar den Titel „Katharina die Große" und „Mutter des Vaterlandes" antrugen, von dem sie den letzten Ehrennamen als Legitimierung ihres Thronanspruchs durch die gewählten Vertreter des Volkes annahm. Das 21. Stück der „Gelehrten Beyträge" enthält - unter Benutzung von d'Alemberts Artikel über den „Esprit des L o i s " im 5. Band der „Encyclopedie" - einen konzisen Auszug aus Montesquieu, „Grund-Riß des Werks von den Gesetzen", das zuerst „Unsere weiseste Monarchin" bei der Einrichtung ihres Reiches zugrunde gelegt habe. In den überlieferten Briefen Herders werden diese Ereignisse zuerst im März 1767 reflektiert, als dieser von Johann George Scheffner für die „Königsbergschen Gelehrten und Politischen Zeitungen" um die Rezension eines polyhistorischen Werkes des kameralistischen Schriftstellers Jakob Friedrich von Bielfeld gebeten wird und ablehnend antwortet, obwohl „unsre Kaiserin . . . seine institutions politiques' nächt- und täglich . . . liest" und „bei dem neuen Gesezbuch auf sie ein Auge haben wird." Den der Kaiserin im August 1767 von den Abgeordneten verliehenen Ehrentitel „Mutter des Vaterlandes", über den durch Senatsbeschluß im Dezember eine Urkunde ausgefertigt und durch die Presse der ganzen zivilisierten Welt mitgeteilt wurde, apostrophierte Herder panegyrisch in seiner Predigt zum Namensfest der Monarchin in der Rigaer Jesuskirche am 25. N o v e m b e r / 6. Dezember 1768: „ . . . sie ists, die den Gesezzen emporhilft, die Wißenschaften an ihren Thron rufft, oder sie in der Ferne belohnt . . . " (letzteres eine Anspielung auf Katharinas Kontakte zu den Enzyklopädisten, u. a. den großzügigen Ankauf der Bibliothek Diderots, die er zu Lebzeiten behalten konnte, was 1765 durch die Presse ging). Am 7. April 1768 bat Herders Königsberger Lehrer und Freund Johann Georg Hamann ihn dringend um eine Abschrift „des Projects zum neuen Gesetzbuch", das „einer seiner dortigen Freunde . . . aus dem Rußischen übersetzt" habe und von dem „einige Handschriften . . . ausgestreut seyn sollen"; „der Brief des gekrönten Philosophen von S(ans) S(ouci)" habe ihn „nach diesem Plan etwas neugierig gemacht". In einem späteren Brief fügte er entschuldigend hinzu, er sei von einem anderen darum ersucht worden. Der erwähnte Freund Hamanns in Petersburg war der Gouvernementssekretär und Übersetzer Christian Gottlieb Arndt. Einen Brief Friedrichs II. an Katharina II. vom 26. November 1767 hatten die „Königsbergschen Gelehrten und Politischen Zeitungen" am 21. März 1768 veröffentlicht. Der König dankte darin für die Instruktion zu einem neuen Gesetzbuch, deren deutsche Übersetzung (Moskau 1767) die Kaiserin ihm am 1 7 . / 2 8 . Oktober 1767 gesandt hatte,

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machte ihr das Kompliment, die alten Griechen würden sie als Gesetzgeberin „zwischen dem Lycurg und Solon gesetzt haben", und rühmte ihre „weitläufigen Einsichten". Bei der Lektüre habe er die Notwendigkeit eingesehen, daß „der Gesetzgeber sich zu dem Genie seiner Nation, so wie der Gärtner zu seinem Terrein verhalte." Um die Ausübung der Gesetze in den oft strittigen und verworrenen Fällen der Praxis zu erleichtern, empfahl er Katharina die Gründung einer Akademie der Rechte zur Ausbildung von Fachjuristen. Auf Hamanns Bitte um Mitteilung der Instruktion reagierte Herder ablehnend, als handle es sich um ein Staatsgeheimnis; seine auf flüchtiger Kenntnis beruhende Einschätzung ist uneingeschränkt negativ: „Den Plan zum Gesetzbuch kann ich nicht schicken, weil ich ihn nicht habe; ich habe ihn in einem SchleichManuscript halb und schlecht abgeschrieben gesehen, aber auch diese Hälfte nicht durchgelesen, weil eine unordentliche Collektion von Stellen aus Montesquieu und Beccari(a) so wenig für Sie, als mich seyn wird. Es sind nichts weniger, als Grundsätze, die entweder zur sichern N o r m , oder zu würklichen Materiellen Grundfäden der Gesetze dienen müsten: es sind loci communes, oft (Geschichte) Beispiele nach Art des Montesquieu aus Spanien und aus China, nur leider! nicht aus Rußland, oft Meinungen pro und contra. Indessen macht man ein Mysterium draus und an ein Archiv jeder Stadt ist ein heiliges Exemplar gesandt worden. Ueberheben Sie mich also eines Auftrages, den ich als geistlicher Bürger hieselbst, nicht leisten kann." In der Nachschrift seines nächsten Briefes an Hamann am 11./22. November 1768 wies Herder den Freund daraufhin, daß die Instruktion jetzt gedruckt, folglich auch in Königsberg zu haben sei. Und schon am 25. November brachten die „Königsbergschen Zeitungen" eine Rezension - vielleicht von dem Juristen und Bewunderer der Zarin Theodor Gottlieb Hippel? - der in Johann Friedrich Hartknochs Verlag in Riga und Mitau 1768 herausgegebenen Instruktion der Kaiserin, im wesentlichen einen Auszug der Hauptgedanken (mit Seitenangaben), wobei die „Sanftmuth und Billigkeit" der „weisen Beherrscherin" gerühmt werden, die das Werk Peters des Großen zu vollenden berufen sei und durch ihre Gesetzgebung ihr Volk zum glücklichsten auf Erden machen wolle. In Hartknochs Verlag war bereits 1767 eine Sammlung von Aktenstücken erschienen, „Neuverändertes Rußland oder Leben Catharinä der Zweyten Kayserinn von Rußland. Aus authentischen Nachrichten beschrieben. Erster Theil"; ein zweiter Teil (mit den Verlagsorten Riga und Leipzig) von 1772 und zwei Bände „Beylagen" 1 7 6 9 / 7 0 folgten. Herausgeber war unter dem Pseudonym , Johann Joseph H a i g o l d " (Mädchenname seiner Mutter) der bedeutende Universalhistoriker, Statistiker und Geschichtsschreiber Rußlands Professor August Ludwig Schlözer, mit dem Herder später als Rezensent in den „Frankfurter gelehrten Anzeigen" 1772 durch eigene Schuld in eine häßliche Polemik verwickelt wurde. Dieses wichtige Quellenwerk enthält die Manifeste, Ukase und öffentlichen Verfügungen, die Katharina bis zu dieser Zeit erlassen hatte, im ersten Teil unter anderem den Erlaß über die Berufung der Gesetzeskommission und den vollständigen Text der Instruktion in Schlözers Übersetzung. Der Titel der Sammlung schließt programmatisch an das chronikartige Werk über Peter I. von dem braunschweigischen Gesandten Friedrich Christian Weber „Das veränderte Rußland" (1721-1740) an, so daß Katharina schon dadurch als unmittelbare Fortsetzerin der Reformen Peters erscheint. Als Herder nach seiner Seereise nach Frankreich Ende Oktober 1769 in Nantes eine politische Denkschrift „über die wahre Kultur eines Volks und insonderheit Rußlands" plante, bestellte er als Quellenmaterial dafür bei Hartknoch Schlözers Einleitung in die Nestor-Chronik „Probe russischer Annalen" (Bremen und Göttingen 1768), sein „Neuverändertes Rußland" samt Beilagen sowie Anton Friedrich Büschings „Gelehrte Abhandlungen und Nachrichten aus und von Rußland" (Königsberg und Leipzig 1764/65) und dessen „Magazin für die neue Historie und Geographie" (Hamburg 1767ff.). Die Bücher-

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bestellung erweiterte er wenige Tage später im Brief an den mit ihm und Hartknoch befreundeten Rigaer Zollkontrolleur Begrow am 4. November 1769 noch um das „Gesetzbuch der Kaiserin", d. h. die Instruktion, Gerhard Friedrich Müllers „Sammlung Rußischer Geschichte" (Petersburg 1732-1764), Büschings „Neue Erdbeschreibung. 1. Theil" (Hamburg 1754), desselben Ausgabe von „Voltaire Geschichte des rußischen Reiches unter Peter dem Großen" (Frankfurt und Leipzig 1761/63) und Michail Vasil'evic Lomonosovs „Alte Russische Geschichte, von dem Ursprung der Russischen Nation bis auf den Tod des Großfürsten Jaroslaws I. oder bis auf das Jahr 1054" (übersetzt von J. V. Bacmeister, Riga und Leipzig 1768). Auf Herders Wunsch schickte Hartknoch im Dezember diese Bücher an den Kaufmann Christian Fräser nach Amsterdam, wo Herder im Februar 1770 eintraf. Inzwischen hatte er - wahrscheinlich von Begrow über den Aufschub der Gesetzgebung informiert - den Plan der genannten politischen Schrift aufgegeben. Die meisten jener Bücher gehörten zu den umfangreichen Russica-Beständen seiner 1804 versteigerten Bibliothek. In dem von Juli/August bis November/Dezember 1769 verfaßten Manuskript .Journal meiner Reise im Jahr 1769" weiten sich die pädagogischen Reformpläne des designierten Rektors der Kaiserlichen Ritterschule (Lyzeum) in Riga aus zu Reformideen für die Stadt Riga, für die Provinz Livland, ja schließlich für das Russische Reich. Herder war in der Absicht auf Reisen gegangen, Erfahrungen zu sammeln, die er nach seiner Rückkehr nach Riga in verantwortlicheren Funktionen zum Nutzen der Stadt anwenden wollte. Der pädagogische Enthusiasmus der Aufklärung, die Hochschätzung durch Magistrat, Gouverneur und Landstände bei seinem Abschied im Mai und die weitläufigen kulturpädagogischen Anstalten und gesetzgeberischen Verlautbarungen der russischen Herrscherin ließen ihn hoffen, daß „seine Plane und Absichten, wenn sie einmal eine würdige Stelle finden, nicht verkannt werden" könnten. Während er Hartknoch nur geheimnisvolle Andeutungen von einem großen Plan machte, erinnerte er Begrow in dem obengenannten Brief an Gespräche in Riga über ein politisches Werk. Die Idee dazu ist ihm also nicht erst in Nantes gekommen, als er im ,Journal" die Absicht fixierte, die „Kaiserin von Rußland . . . bei der Schwäche ihres Gesetzbuchs (zu) fassen". ,Journal" und gleichzeitige Briefe sind stellenweise im Wortlaut fast identisch bzw. kommentieren sich wechselseitig. Die bei Hartknoch bestellten Büchertitel zum vorbereitenden Studium für die Schrift „über die wahre Kultur eines Volks und insonderheit Rußlands" werden auch im ,Journal" aufgeführt, und der Brief an Begrow erläutert den hier nur als „gegenwärtigen Krieg" bezeichneten aktuellen politischen Hintergrund. Der Ausbruch des Russisch-türkischen Krieges 1768-1774 im Oktober 1768 und die ihn auslösenden militärischen Operationen der Russen werden beiläufig erwähnt in Herders Brief an Hamann vom 11./22. November 1768, als er, über seine hypochondrische Stimmung scherzend, mit dem Gedanken spielte, „als Divisionsprediger nach der Tartarischen Steppe mitgehen zu können", und nicht abgeneigt wäre, „wenn unser Krieg gegen andere, als gegen die Türken und in einem andern Lande, als in Polen wäre". Am 11./22. Mai 1769 schrieb er an Hamann in Anspielung auf Apostelgeschichte 17,20f. (die Neugier der Athener), seine Abreise aus Riga sei „so lange das Mährchen der Stadt, bis etwa die Türken schlagen oder geschlagen werden, denn haben mich meine Athenienser vergessen." Der Russisch-türkische Krieg war durch die Kämpfe russischer Truppen gegen die polnischen Konföderierten von Bar ausgelöst worden, da letztere auf türkisches Gebiet (nach Bessarabien) flohen und von den Russen verfolgt wurden. Die Tataren als Vasallen der Pforte und als unmittelbare Grenznachbarn Polens und Rußlands zwischen Dnjepr und Dnjestr leiteten türkischerseits die Kampfhandlungen ein, die im Juli 1771 zur Unterwerfung der Tataren unter Rußland führten. Besonders in Polen wurde der Krieg von seiten

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der Russen mit äußerster Brutalität und großen Verheerungen geführt. Der erste große Sieg war die Einnahme der Grenzfestung Chotschim (Chotin) am Dnjestr am 20. September 1769 nach der Vernichtung einer türkischen Armee von mehr als 30 000 Mann unter dem leichtsinnigen, militärisch unfähigen Großwesir Ali Pascha Moldowandschi (der den vorsichtig taktierenden Großwesir Nischandschi Mohammed Eminpascha abgelöst hatte) durch die Russen unter General Weismann (unter nominellem Oberbefehl des Feldmarschalls Fürst Alexander Michajlovic Golicyn). An der Nordostgrenze des Osmanischen Reiches, im Kaukasus, unterstützte General Gottlob Heinrich Graf von Tottleben, ein russischer Freikorpskommandeur aus Sachsen, georgische Fürsten in ihren Unabhängigkeitsbestrebungen gegen die türkische Oberherrschaft. Das traditionell mit der Türkei verfeindete Persien führte in dieser Zeit keinen Krieg. In der Residenz Konstantinopel lösten im Verlauf der türkischen Geschichte wiederholt Unruhen der vom Fetwa des Großmufti aufgehetzten, religiös fanatisierten Volksmassen Palastrevolten und willkürliche Regierungsumbildungen aus, ein beträchtlicher Unsicherheitsfaktor auch im Kriege. Im Oktober 1769 hatte eine russische Flotte von zwölf Linienschiffen, zwölf Fregatten und vielen Transportschiffen unter Graf Aleksej Grigorevic Orlov, dem vermeintlichen Mörder Peters III., den Kriegshafen Kronstadt verlassen, um sich ins Agäische Meer (Archipelagus) zu begeben, und befand sich zur Zeit in der Nordsee. (Am 5.-7. Juli 1770 wurde die türkische Flotte in der Seeschlacht bei Tschesme in der Meerenge zwischen Kleinasien und der Insel Chios besiegt und verbrannt.) Die Griechen, wie die Russen Anhänger der griechisch-orthodoxen Kirche, im 15./16. Jh. von den Türken unterworfen, wurden von den Russen zum bewaffneten Aufstand bewogen (April/Mai 1770 in Morea auf dem Peloponnes), dann aber im Stich gelassen und der grausamen Rache der Türken preisgegeben. Frankreich hatte zwar 1740 mit dem Osmanischen Reich einen damals noch gültigen Freundschafts- und Handelsvertrag abgeschlossen, aber sein 1770 gegen Subsidienzahlung angebotener Flottenbeistand wurde vom Sultan nicht angenommen, obwohl man in Konstantinopel nach der Seeschlacht von Tschesme das Erscheinen der russischen Flotte fürchtete und erst dann die Dardanellen-Festungen, die den Hellespont, die Zufahrt zum Marmara-Meer, schützten, durch den von Frankreich beauftragten ungarischen Ingenieuroffizier Frangois de Tott in Verteidigungszustand setzen ließ. Das ist in der Reihenfolge der in Herders Brief an Begrow erwähnten Ereignisse der zeitgeschichtliche Hintergrund für seine Spekulation, daß die „glorreichen Aussichten" Rußlands günstige Bedingungen für seine weiträumigen Reformpläne darböten: „Können Sie mir nicht beantworten, wie es mit der Gesetzgebung stehe? ob der Krieg sie aufschiebe? Was für Seiten man bei Gelegenheit des vortreflichen Sieges über die Türken nach dem Gerüchte nimmt? Was man sonst von Peterburg aus neues höre? - Rußland kann nicht in glorreichem Aussichten seyn, als es ist. Die Hauptarmee der Türken geschlagen: Chotzim über: ein groß-Vezir, der ein toller Kopf ist, und es seyn muß, weil er dazu gesetzt ist, um die Stelle eines zu Furchtsamen zu ersetzen, der also Alles fürchten und für uns hoffen läßt. Weiter die Janitscharen in ihrem zweiten Auflauf der Verzweiflung wieder geschlagen, die Perser an der Gränze, kleine Völker im Aufruhr, Tottleben, der recht dazu ist, um solche Leute zu unterstützen, nicht weit von ihnen. Der Pöbel in Konstantinopel, der alles thun kann, im Mißvergnügen: die Rußische Flotte in der grossen See: ein ganzes Griechenland, das wider Willen eine Sklavin der Türken, Religionsfreundin der Rußen und bettelarm sind, um für Geld Alles zu unternehmen: nichts, was der Rußischen Flotte wiederstehen kann, weder Frankreich, noch Türkische See, noch das unbewehrte Konstantinopel - sagen Sie, was das für Aussichten gibt?" Unerklärlich bleibt, warum bei der Mitteilungsdichte über hochoffizielle und amtliche Vorgänge, Ukase und Verordnungen in den „Rigischen Anzeigen" und anderen Zeitungen,

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mehr noch bei Herders Vertrautheit mit Rigaer Magistrats- und Kronsbeamten, sogar mit dem Abgeordneten der Großen Kommission Schwartz, er nicht genau über den Stand der Gesetzgebung informiert zu sein scheint. Unter dem Vorwand des Kriegsausbruchs wurde am 1 8 . / 2 9 . Dezember 1768 der kaiserliche Erlaß bekanntgegeben, daß die Sitzungen der Großen Kommission bis auf weiteres abgebrochen werden sollten. N o c h in seiner Rigaer Neujahrspredigt 1769 wünschte Herder der Kaiserin „Segen und G n a d e in das Buch ihrer Verdienste um ihr Reich und Unterthanen, in das Buch ihrer Verdienste für die Cultur der Menschen, der Gesetzgebung und Beglückung der Völker . . . Auch der Krieg m ü ß e zum R u h m ihres Reichs ausschlagen und sich bald der Friedenskranz zu der Krone schlingen . . . " Am 1 2 . / 2 3 . Januar 1769 wurde die Kommission aufgelöst, die f ü r Katharina ihren Zweck, die Legitimierung ihres Thronanspruchs und die Festigung der Selbstherrschaft vollkommen erfüllt hatte. Der gesetzgeberische Zweck war nicht erfüllt worden. Wahrscheinlich nicht allgemein bekannt wurden damals die in der Arbeit der Kommission zutage getretenen und verstärkten Bestrebungen einer Adelsopposition und die Interessenkonflikte zwischen Abgeordneten sowie russischen und baltischen Gutsbesitzern. Mit Sicherheit ist auch nicht publik gemacht worden, daß die Berufung der Großen Kommission zu Bauernunruhen Anlaß gegeben hat. Die überwiegende Mehrheit des russischen Volkes, die leibeigenen Bauern, durften keine Abgeordneten in die Gesetzbuch-Kommission entsenden und keine Beschwerden über ihre Herren an die „Landesmutter" oder die Behörden richten. In handschriftlichen Stellungnahmen mit Gedichten dieser Zeit findet sich eine „Klage der Leibeigenen", in der es heißt: „Der Klage des Leibeignen nachzugehn, ist kein Gebot. Unrechte Richter gaben den Erlaß heraus: Man peitsche uns dafür tyrannisch aus. Zu ihren Gunsten konnten sie auch das Gesetz verdrehen: Leibeigne dürften nicht zur Wahl als Deputierte stehen. Was sollte ein Leibeigner dort erzählen? Die Freiheit gibt man ihnen, uns zu Tod zu quälen. . . . Einst, als es hieß, die Volksversammlung tagt, hat man uns eine bessere Regierung zugesagt. D o c h nur für Einhofbauern nahmen sie das Adelsrecht in Kauf und teilten unter sich uns Unglücksel'ge auf". Hätte H e r d e r dieses (erst um 1900 gedruckte) russische Volksgedicht gekannt, wäre es wahrscheinlich wie die estnische „Klage über die Tyrannen der Leibeignen" in seine „Volkslieder"-Sammlung 1 7 7 8 / 7 9 aufgenommen worden. Katharinas Instruktion, von der H e r d e r noch 1768 nicht viel hielt, gewann Ende 1769 eine ganz andere Bedeutung für ihn als A n k n ü p f u n g s p u n k t und allerhöchste Legitimation für seine eigenen Reformideen. Die ζ. T. textbezogenen Aufzeichnungen des Reisejournals lassen die Schlußfolgerung zu, daß er die nach Amsterdam bestellte Instruktion möglicherweise schon in Bibliotheken in Nantes, sicher aber in Paris einsehen konnte; lag doch 1769 in Petersburg neben deutschen und lateinischen Ubersetzungen eine weitverbreitete französische Ausgabe vor, die Katharina an die H ö f e und die befreundeten Pariser Enzyklopädisten versenden ließ, um die öffentliche Meinung Westeuropas für sich zu gewinnen. Richtlinie für die angekündigte Gesetzgebung, Diskussionsgrundlage f ü r die Abgeordneten, die ihnen allmonatlich vorgelesen werden sollte, theoretische Rechtfertigung des Absolutismus vor allem gegen ständische Beschränkungen, aufklärerische Propaganda zur Täuschung der öffentlichen Meinung und Selbstdarstellung der um europäische Anerkennung bemühten Selbstherrscherin - das alles war die Absicht Katharinas mit ihrer Instruktion, die sie bei der Ubersendung an Friedrich II. bescheiden als eine Kompilation aus Montesquieus „L'esprit des lois" (1748) und Cesare Beccarias „Traite des delits et des peines" (1763) bezeichnete; wenn man alles zusammenfasse, was sie selbst hinzugefügt habe, komme man nicht über zwei bis drei Blatt. D e r Gesamtumfang der in zwanzig Kapitel bzw. 525 Paragraphen gegliederten Instruktion beträgt in einer 1771 in Amsterdam

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erschienenen französischen Ausgabe 229 Seiten, in der von Herder benutzten deutschen Übersetzung Schlözers im ersten Teil des „Neuveränderten Rußland" 142 Seiten Oktavformat. In Paragraph 2 wird als Ziel der Gesetzgebung bezeichnet, „das Vaterland auf der höchsten Stuffe der Wolfart, des Ruhms, der Glückseligkeit und der Ruhe zu sehen", der Weg dahin seien Gesetze, „deren besondere Einrichtung der Verfassung des Volks, für welches sie gemacht werden, am gemäßesten ist" (Paragraph 5). Im 1. Kapitel wird Rußland für eine europäische Macht erklärt, der die Einführung europäischer Sitten und Gebräuche durch Peter I. angemessen war (Paragraph 6f., nach Montesquieu, XIX. Buch,14. Kapitel). Im 2. Kapitel wird aus der weiten Ausdehnung des Russischen Reiches die Notwendigkeit der Selbstherrschaft (Autokratie) abgeleitet (nach Montesquieu VIII, 19). Jede andere Regierungsform als die unumschränkte Monarchie wäre Rußland schädlich und „zuletzt die Ursache seiner gänzlichen Zerstörung" (Paragraph 9ff.). Paragraph 34 (5. Kapitel) setzt die Gleichheit der Bürger vor den Gesetzen fest, in Paragraph 38 wird Freiheit definiert als „das Recht, alles das zu thun, was die Gesetze erlauben." Kapitel 6 und 7 handeln von den Gesetzen. Die Gesetzgebung muß sich nach der allgemeinen Denkungsart der Nation richten; denn die Gesetze sind nur bestimmte Verordnungen des Gesetzgebers, „Sitten und Gebräuche aber sind Satzungen der ganzen Nation." Paragraph 60 - „Es ist eine sehr schlechte Politik, die das durch Gesetze verändern will, was durch Gebräuche verändert werden muß." - lautet bei Montesquieu (XIX, 14): „Wenn man durch Gesetze ändert, was am Lebensstil geändert werden muß, so ist das eine sehr schlechte Politik."Das 8. Kapitel handelt von den Strafen, die gemäßigt sein sollen, Kapitel 9 von der Rechtspflege, Kapitel 10 vom Kriminalgericht. Nach dem Vorgehen Beccarias spricht Katharina II. sich entschieden für die Humanisierung des Strafvollzuges, für die Abschaffung der Tortur und der Verstümmelungen aus. Die Gerichtsbarkeit müsse transparent und das Strafmaß nach der Schuld differenziert werden, damit jeder die Folge seiner Taten voraussehen könne. Durch die Verbreitung von Wissenschaften und Vernunft, ein gutes Gesetzbuch und pädagogische Maßnahmen sei der Kriminalität vorzubeugen. Das 11. Kapitel, das von der Leibeigenschaft handelt, mußte Katharina aus Rücksicht auf den Adel stark kürzen. In der gedruckten Fassung ist immerhin noch die Rede davon, „den Mißbrauch der Leibeigenschaft abzuwenden", über tyrannische Gutsherren Vormünder zu setzen und den Leibeigenen ein Eigentum zu bestimmen. Man dürfe aber nicht vielen Leibeigenen auf einmal die Freiheit schenken. „Weg zur allmälichen Freiheit. Was eine plötzliche schaden könne?" notierte Herder unter den zu erörternden Problemen im Journal. Im 12. Kapitel wird eine geringe Bevölkerungszahl gemäß den kameralistischen Einsichten der Zeit als Zeichen schlechter Regierung bewertet und die Hebung des Wohlstandes als Voraussetzung für die Population des Reiches erkannt. Handwerk und Handel seien, wie Kapitel 13 in Anwendung physiokratischer Gedanken ausführt, auf den Ackerbau gegründet und auf die Verarbeitung der Landesprodukte. Allen Bürgern müsse die Regierung sicheren Unterhalt durch Arbeit verschaffen. Als Bestandteile der Erziehung werden in Kapitel 14 die griechisch-orthodoxe Religion, die Liebe zum Vaterland, zu den Gesetzen und zur Landesobrigkeit sowie die Lust zur Arbeit genannt. Der Adel ist nach Kapitel 15 auf durch Tugend und Verdienste erworbene Vorzüge gegründet und wird in seinen Funktionen auf Kriegsdienste und juristische Amter verwiesen, aber von Handelstätigkeit ausgeschlossen. Der freie Mittelstand sind die Stadtbürger, von denen nach Kapitel 16/17 „der Stat viel Gutes erwartet" (Paragraph 378), sie sollen in ihrer Tätigkeit in Handwerk, Handel, Künsten und Wissenschaften nicht durch Zünfte eingeschränkt werden. Das 18. Kapitel betrifft Erbfolge und Vormundschaften, das 19. die einfache und

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eindeutige, für alle verständliche Schreibart der Gesetze nach dem Vorbild des Ulozenie des Zaren Aleksej Michajlovic von 1649. Im 20. Kapitel werden ganz im Geist der Aufklärung sehr freisinnig verschiedene Punkte wie Majestätsbeleidigung, Gedanken-, Meinungs-, Presse- und Glaubensfreiheit und Vorwürfe angeblicher Zauberei und Ketzerei behandelt. Wie Friedrich II. als erster Diener des Staates, so erklärt Katharina sich zum Diener ihres Volkes. Der unvoreingenommene Leser in Westeuropa und ebenso der junge Herder im Jahre 1769 mußte von ihrer Gerechtigkeitsliebe und ihren aufgeklärten Grundsätzen überzeugt sein. Um die Kaiserin „bei der Schwäche ihres Gesetzbuchs" fassen zu können, vertiefte Herder sich in das Studium ihrer wichtigsten Quelle - Montesquieus Werk „Vom Geist der Gesetze" (Studien und Exzerpte Herders aus Beccaria und Bielfeld sind nicht nachweisbar). Wie er am 4. November 1769 an Begrow schrieb, wollte er auf der Reise nach Paris „nichts als Montesquieu" lesen. Demzufolge sind die „Gedanken bei Lesung Montesquieus" unter den einzelnen Blättern, die Bernhard Suphan 1878 in der Gesamtausgabe von Herders Werken als Anhang zum ,Journal meiner Reise" veröffentlicht hat, und der bisher ungedruckte tabellarische „Auszug aus Montesquieu Geist der Gesetze", 11 Quartseiten (das Format des Journals) umfassend, wahrscheinlich im November 1769 in Paris niedergeschrieben worden, ebenso wie die „Sammlung von Gedanken und Beispielen fremder Schriftsteller über die Bildung der Völker" und „Nutzungen dieser Beispiele" der Entwurf der geplanten Schrift „über die wahre Kultur eines Volks und insonderheit Rußlands". Schon Ende Oktober in Nantes entstanden sind nach Schriftvergleichen Suphans die Abschnitte des Journals selbst, die das „Gesetzbuch der Kaiserin", die Verhältnisse in Riga und die Kritik an Montesquieus Grundsätzen betreffen. Herders äußerst detaillierter, innerhalb der einzelnen Kapitel untergliederter, ζ. T . wörtlicher Auszug aus Montesquieus Hauptwerk beschränkt sich in gleichmäßiger Ausführlichkeit auf die Bücher I-V: „Von Gesetzen überhaupt; Von den Gesetzen, die aus der Natur der Regierungsart fliessen; Von den Principien der Regierungsarten; Von den Gesetzen der Erziehung relativ auf die Arten des Gouvernements; Von den Gesetzen, relativ auf diese Triebfedern der Regierung". Herder exzerpierte ein Buch immer nur so weit, wie es für seine Autorpläne wichtig war; der Montesquieu-Auszug endet abrupt im 5. Kapitel von Buch V ohne Ausblick auf den Inhalt der noch folgenden Kapitel und der Bücher VIX X X I . In bezug auf das Gesetzgebungsprojekt in Rußland sind die Exzerpte über despotische Staaten von besonderem Interesse. Aus Buch II, Kapitel 4 notiert Herder: „In despotischen) Staaten wo keine Fundament(al)Gesetze auch kein Depot (=eine Instanz zur Obhut der Gesetze, G.A.): daher h(at) hier 1) d(ie) Rel(igion) so v(ie)l Stärke, denn s(ie) ist das einz(ige) Depot. 2) Gewohnh(eiten) und Gebr(äuche) statt d(er) Gesetze." Das 5. Kapitel beschreibt den orientalischen Despotismus: Der Herrscher überläßt alle Regierungsgeschäfte einem einzigen Wesir und gibt sich den Wollüsten des Serails hin. Aus Buch III, Kapitel 3 wird unter anderem vermerkt, daß Tugend, das Prinzip der Demokratie, „nicht so nöthig" sei „in dem Desp(otischen) Staat wo der aufgehobne Arm des Fürsten ihre Stelle vertritt." Kapitel 8-10 erklären, warum Ehre, das Prinzip der Monarchie (bei der Montesquieu immer an Frankreich dachte), nicht die Triebfeder des Despotismus ist: ,,D(ie) M(en)schen s(ind) s(ich) alle gleich: m(an) kann s(ich) nicht andern vorziehen; alles ist Sklave." Ehre ist an Regeln und Gesetze gebunden, der Despot aber ,,h(at) keine Regel, . . . oft h(at) m(an) also selbst kein Wort für d(ie) Ehre". „Furcht" ist das Prinzip des Despotismus, „Tugend ist nicht nöthig, Ehre gefährl(ich)", weil sie Lebensstrafen verachtet, die einzige Stärke des Despoten. Daher muß „also aller Muth niedergeschl(agen) w(er)den bis (au)f jedes Sentiment des Ehrgeizes." Die Furcht vor dem Herrscher schützt aber das Volk vor der Willkür der Großen: ,,D(er) Kopf der Niedr(igen) muß sicher seyn:

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d(er) Grossen nie". Äußerster „Gehorsam ist dav(on) d(ie) Folge . . . Alles ist hier w(ie) bei Thieren, Instinkt, Gehors(am), Züchtig(ung)." Kein Einwand gilt: „M(an) h(at) Order." In der Monarchie erreicht der Fürst die gleiche Machtfülle durch das Prinzip der Ehre, aber im Unterschied zu Despoten ,,h(at) der Prinz Licht (ist aufgeklärt, G.A.) und d(ie) Minister sind unendl(ich) geschickter." In Buch IV, Kapitel 3 wird gezeigt, wie die Erziehung in despotischen Staaten dem Regierungsprinzip Furcht entsprechen muß: Während in der Monarchie die Erziehung das Herz zur Ehre zu erheben sucht, ist sie im Despotismus beauftragt, „es zu erniedrigen. Erzieh(ung) also knechtisch. Selbst für den Befehlenden knechtisch: k(eine)r ist Tyrann, d(er) nicht zu eben d(er) Z(ei)t Sklave sei." Voraussetzung für äußersten Gehorsam ist Unwissenheit. Ziel der Erziehung ist, „dem H(er)zen Furcht e(in)zuflössen; dem G(ei)st einige simple Känntn(isse) d(er) Rel(igion) zu geben"; Wissenschaft „wäre hier gefährl(ich)", und Tugend gibt es „in einer Sklavenseele" nicht. „Erzieh u n g ) ist also hier (au)f gew(isse) Art keine." Ein „guter Bürger" würde sich selbst in Gefahr bringen und die Regierung zu stürzen versuchen. Im Hinblick auf die zahlreichen Einrichtungen zur Erziehung im republikanischen Staat, der ja auf dem Prinzip Tugend beruht, wird im 5. Kapitel lakonisch angemerkt: „ - d(ie) Ehre d(er) Mon(archie), d(ie) Furcht des Desp(otismus) braucht nicht so v(ie)l Sorgfalt." Herders Schlußfolgerungen aus dem Studium des „unvergleichlichen Montesquieu" kritisieren gleichermaßen sein System und dessen falsche Anwendung in Katharinas Instruktion. „Ob bei Rußlands Gesetzgebung Ehre das erste seyn könne?", fragt er skeptisch zu Beginn seiner Überlegungen „über die wahre Kultur eines Volks und insonderheit Rußlands" im Journal und bezweifelt, daß Montesquieu „dem würklichen Nutzen nach? . . . nach seinem Tode ein Gesetzgeber des größesten Reichs der Welt seyn" könne. In seiner undifferenzierten Typologie der Regierungsarten habe er die „unendliche Mischung" nicht beachtet; sein Despotismus-Modell sei die Türkei, in Rußland aber herrsche „Aristokratischer Despotism". Katharina hat in der Instruktion den Senat als „Depot der Gesetze" bezeichnet, Herder sieht in den Senatoren jedoch zu Recht nicht „Gewährleute der Gesetze, da Rußland keine Gesetze hat". Diese Adligen, denen die Kaiserin „sich bequemen muß", vertreten nicht das Reich, sondern dienen für „ihr Palais, Güter, Luxus, Bedürfnisse" und sind Despoten über Kaiserin und Reich. Katharina, nach Herders Einschätzung von 1769 selbst keine Despotin, sehe irrtümlich, um Rußland nicht herabzusetzen, Ehre als „Triebfeder" der Nation, während die russische Nation und ihre Verhältnisse in Wirklichkeit „Zug für Zug" durch Despotismus, dessen Prinzip Furcht, Sklavengesinnung, Betrug und Schmeichelei gekennzeichnet seien. Ein nach dem Prinzip Ehre abgefaßtes Gesetzbuch würde unter diesen Umständen „nie gehalten" werden und unwirksam. Nach den „Gedanken bei Lesung Montesquieus" ist Katharinas Irrtum darauf zurückzuführen, daß ihr Reich in „Nuancen zwischen Despotism und Monarchie" liege und „Montesquieus Despotism . . . Unrußisch" sei. Aber „keine zwei Regierungsarten, Länder und Völker sind sich in der Welt gleich", und „Montesquieu hat nur wenige gekannt", weswegen „seine Grundsätze nie anzuwenden sind". Weiterhin, so kritisiert Herder in Anwendung der entwicklungsgeschichtlichen Betrachtungsweise, habe Montesquieu in seinem Buch nicht berücksichtigt, daß „keine Regierungsform dauret: die Zeit ändert mit jeder Minute". Herder wäre nicht er selbst, wenn er bei der bloßen Kritik der „Fehler der Gesetzgebung" stehenbliebe. Sein Ruf im , Journal meiner Reise" nach einem „zweiten Montesquieu, um ihn anzuwenden" (d. h. im Gegensatz zu Katharina II. richtig anzuwenden) verbindet sich mit großangelegten Konzeptionen zur „Nationalerziehung", die ihn selbst als diesen zweiten Montesquieu ausweisen sollen. Vom detaillierten Plan seiner „liefländischen Vaterlandsschule" ausgehend, erklärt er, „daß zur Kultur einer Nation mehr als Gesetze und Colonien, insonderheit Schulen und Einrichtungen nöthig sind." Die Gesetzgebung dürfe sich vor allem nicht im Widerspruch zum Nationalcharakter, den Sitten und

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Gewohnheiten der Völker entwickeln, sondern die Gesetze müssen aus der Natur des Volkes hervorgehen. Für Rußland werden die Vorbilder Englands, Frankreichs, Deutschlands, Schwedens, des antiken Griechenland und Rom als untauglich abgelehnt; als ein großenteils asiatisches Reich müsse es von orientalischen Völkern lernen. Herder weist auf die Problematik des Vielvölkerstaates hin - „Vielheit und . . . Stuffe der Rußischen Nationen", die von einer differenzierenden Gesetzgebung berücksichtigt werden müsse entsprechend der jeweiligen Entwicklungsstufe der Zivilisation „in ganz cultivirte(n), halb cultivirte(n) und wilde(n) Gegenden" ebenso wie die Unterschiede der Kultur in Provinz-, Haupt- und Handelsstädten, an der Küste, im Binnenland und in den Grenzgebieten. „Welch ein Wunderwerk, für alle diese Nationen ein Gesetzbuch zu geben, jedem in seiner Denkart und in seinem Gefühl." Als vorbildlich betrachtet Herder Montesquieus universalhistorische „Methode", die Untersuchung von kausalen Zusammenhängen unter völkerpsychologischem und soziologischem Aspekt, als unbrauchbar sein „System", die unendliche Vielheit der geschichtlichen Erscheinungsformen zu reduzieren auf drei oder vier Regierungsarten und deren abstrakte Prinzipien. Im Unterschied zu Montesquieus „Metaphysik für ein todtes Gesetzbuch", aber im Einklang mit seinen Bemerkungen in Buch X I X , Kapitel 12 und 14 (=Katharinas Instruktion, Paragraph 60) fängt Herders geplantes „Buch zur Bildung der Völker" bei Gewohnheiten und Erziehung an und endet bei der Gesetzgebung; „Geist der Nationen, der Erziehung, der Mittel der Bildung" ist sein Zweck. Die „drei Erziehungen" durch Natur, Religion und Staat, „die einander entgegen sind", müssen eins werden zur Ganzheit der menschlichen Natur. „Prediger, Philosophen, und insonderheit Monarchen" müssen zu dieser Vereinigung beitragen. Wie Schlözer in der Vorrede zum „Neuveränderten Rußland" den Staat als „todte Masse" bezeichnet, „die der Monarch erst belebet; eine stillstehende Maschine, die der Monarch erst aufzieht", so vergleicht Herder den idealen Monarchen als „Schöpfer der Nation" mit dem Verhältnis der Seele zum Körper bzw. Gottes zur Welt - eine nicht mehr zu überbietende Hypertrophie des aufgeklärten Absolutismus, die sich nur mit der illusionären Hoffnung des jungen Herder, „ein Wort ans Ohr der Kaiserin" zu bekommen und „Gesetzgeber für Fürsten und Könige" zu werden, entschuldigen läßt. Detaillierter als in den „Gedanken bei Lesung Montesquieus" werden die verschiedenen Erziehungen geprüft in dem Entwurf „Ueber die Bildung der Völker" im Studienbuch V (Excerpta, „Beiträge zur Kenntniß der Litteratur"): a. durch Religion, b,c. durch Poesie und Beiesprit, d. durch Philosophie. Das Fazit lautet: „Wir (sind) aus dieser Zeit heraus . . . Also Prediger nicht, Poeten nicht, schöner Geist nicht, Philosophen nicht allein: Regierung. Erziehung, daß sie politisch, menschlich und zugleich religiös seyn könne . . . Anstalten der Kaiserin von Rußland . . . In Deutschland Alles vollendet, aber da noch viel zu machen . . . " Die historisch konkrete Anwendung dieser bildungstheoretischen Überlegungen auf Rußland enthält die offensichtlich danach in Paris 1769 angefertigte Niederschrift „Nutzungen dieser Beispiele" (diese Überschrift bezieht sich auf vorausgehende Exzerpte aus dem Buch des Jesuitenpaters Joseph Gumilla vom Orinoco 1758). Zunächst untersucht Herder die Auswirkung des Christentums auf den Nationalcharakter und warnt nach dem Beispiel Montesquieus (Buch X X V , 11. Kapitel), der darin die Gefahr einer Revolution erblickte, vor der Einführung einer fremden Religion: Religion sei als „ein Nationaleigentum in Erziehung, in Denkart, im Publikum, im Geschlecht" zu betrachten und „ein Hauptgesichtspunkt" (ein konstitutiver Faktor) für das Nationalgefühl eines Volkes. Diesen Gedanken wollte er am Beispiel der Petrinischen Kirchenreform ausführen. Wenn Herder das „behutsame" Verfahren und das „Nationalgefühl" Peters I. lobt, so widerspricht das der negativen Meinung Montesquieus über die überflüssigen Gewaltmaßnahmen des Reformkaisers (Buch X I X , 14. Kapitel) und späteren Einsichten über die Resistenz

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des russischen Nationalcharakters im „Adrastea"-Aufsatz „Peter der G r o ß e " 1802. Die Quelle für die Einschätzung 1769 war anscheinend eine die historische Realität beschönigende, panegyrische Gedenkrede aus Peters Todesjahr 1725 von dem aufgeklärten Erzbischof von Großnovgorod und Vizepräsidenten des Heiligen Synods Feofan Prokopovic, einem Freund des Zaren und Propagandisten seines europäisierenden Reformwerks, im 2. Teil von Webers „Verändertem Rußland" (Hannover 1739). Herder gliedert die Nationalerziehung in drei Stufen: 1. „Bildung einer Nation durch sich", d. h. Erweckung des Nationalgefühls, das „in ihr schläft", durch den Monarchen (was schon im Hinblick auf Peter I. historisch unrichtig ist, im Falle der Deutschen Katharina aber völlig absurd!). „So liegt alles in Einer Nation und wartet auf Auferstehung." 2. „Bildung einer Nation durch Anstalten: die keine Gesetze sind." Bei dieser Fortbildung der Nationalkultur trägt der Monarch große Verantwortung, er darf keinen zeitgemäßen Keim ersticken, muß allen Freiheit und Aufmunterung gewähren. Die (damals im wesentlichen durch deutsche Gelehrte repräsentierte) Akademie der Wissenschaften in Petersburg muß national werden und sich der Pflege der russischen Sprache und Geschichte sowie der politisch - „Menschlichen Philosophie" und der Landesökonomie widmen. Das Theater hat nationale Stücke mit Stoffen „aus der Geschichte der Völker" Rußlands aufzuführen, „Tänze und Gesänge des Volks an Festen" sind zu fördern, öffentliche Schulen, Kunstsäle und Bibliotheken einzurichten. 3. „Bildung einer Nation nach andern", d. h. die Einführung und Nachahmung des Fremden, muß behutsam vor sich gehen, „sich gleichsam nationalisieren", damit die Nation „nichts an sich verliere". Die entstehende russische Nationalkultur muß sich fremdes Kulturgut assimilieren. „Eine Nation . . . bleibt unvollkommen, wenn sie gar nicht nachahmet." Der Hinweis auf den Nutzen von Reisen erinnert an Herders Absicht, auf seiner Reise 1769 Erfahrungen für sein großes Reformwerk zu sammeln und dem „Geist der Bildung der Völker nachzuspüren". Kaum anderthalb Jahre später, nach seinem Amtsantritt als Oberprediger in Bückeburg, schrieb Herder seiner Braut Karoline Flachsland in Darmstadt, er wolle nur noch Landpastor sein und „alle Gelehrsamkeit, und Weltgeschäfte in den Archipelagus bei die Rußische Flotte wünschen." Während ihm noch in seinen Pariser Aufzeichnungen vom Dezember 1769 der „ehrwürdige Anblick" der inzwischen längst aufgelösten Gesetzgebenden Versammlung vorschwebte, war deren letzte Erwähnung eher ironisch, wenn ihm in seiner Rezension der Ossian-Ubersetzung von Michael Denis in der „Allgemeinen deutschen Bibliothek" 1772 die Denissche Poesie dafür so unpassend erscheint „als etwa einen Samojedischen Gesandten bei der rußischen Gesetzkommißion das Ceremonienkleid des Hofmarschalls." Als Herder 1795 in den „Briefen zu Beförderung der Humanität" (77.-80. Brief) Auszüge aus Johann Christoph Berens' Schrift „Bonhomien. Geschrieben bei Eröffnung der neuerbauten Rigischen Stadtsbibliothek" (Mitau 1792) zusammenstellte, begegnete ihm noch einmal die Instruktion der Kaiserin in verklärtem Licht als „reiche Quelle der gesetzgebenden Weisheit". Der Ratsherr Berens bezog sich auf den Paragraphen 501 („Das Verderben einer jeden Regierung fängt fast allemal mit dem Verderbniß ihrer Grundsätze an."), der wörtlich übereinstimmt mit Montesquieu, Buch VIII, 1. Kapitel. Herder hat diese Passagen in den Humanitätsbriefen nicht berücksichtigt, da er nicht mehr wie sein alter Rigaer Freund als russischer Untertan zu einer solchen Huldigung Veranlassung sah. In einer ungedruckten Niederschrift zum 43. Brief verwahrte er sich 1794 gegen die Verteufelung der französischen Aufklärung durch die Revolutionsfeinde in Deutschland und erklärte: „Wir erkühnten uns, Montesquieu's Grundsätze zu prüfen, selbst da eine grosse Kaiserin sie zur Grundlage ihres Gesetzbuchs auszeichnete; und werden uns von keinem Hof-Edikt irren lassen, Roußeau, Montesquieu u. a. zu lesen und hochzuhalten, selbst wenn ihre Namen und Werke außer Frankreich aufs tolleste verunglimpft, in

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Frankreich aufs tolleste mißgebraucht würden." O b w o h l es sich nicht aus persönlichen Quellen belegen läßt, kann angenommen werden, daß H e r d e r durch Zeitschriften und Briefwechsel über die Reformen der russischen Kaiserin informiert war. 1775 wurde eine Verwaltungsreform durchgeführt, die die bis 1917 gültige Einteilung in Gouvernements festlegte. Katharina versuchte, Voltaire zu überzeugen, daß diese wie alle ihre anderen Regierungsmaßnahmen auf der Instruktion für das Gesetzbuch beruhte. Im Vergleich zur Gouvernementsverordnung hielt sie die Instruktion von 1767 für leeres Geschwätz. 1774 beauftragte sie Diderot, der sie in Petersburg besuchte, mit der Herausgabe der französischen Ubersetzung ihrer von General Ivan Ivanovic Beckoj ausgearbeiteten Statuten zur Einrichtung eines neuen Erziehungssystems in Rußland (Amsterdam 1775), die im Juli 1775 in Melchiors Grimms „Correspondance litteraire" gelobt wurden, und veranlaßte ihn, einen (erst 1 8 1 3 / 1 4 auszugsweise in Paris veröffentlichten) Plan für eine Universität und die Organisation des öffentlichen Unterrichts in Rußland zu entwerfen - was H e r d e r 1769 so gern getan hätte. Nachdem die „Große Kommission" ihre systemstabilisierende Funktion erfüllt hatte und im Januar 1769 (endgültig durch Erlaß vom 7.2.1773) als Plenarversammlung aufgelöst worden war, arbeiteten Abgeordnete noch in verschiedenen Ausschüssen bis Dezember 1774, danach bestand nur noch ein bürokratischer Ausschuß. Die G r o ß e Kommission wurde nie wieder einberufen. Auch der zweite gesetzgeberische Anlauf der Kaiserin, zu dessen Ergebnissen die wichtigen Verordnungen über den Adel und die Städte in Rußland vom Jahre 1785 gehörten, brachte für das Land nicht die von Katharina II. in jungen Jahren erstrebte Verfassung. So sollten bis zum Erlaß der russischen Reichsgesetze von 1906 noch viele Jahre vergehen.

Literatur Quellen: Herders Sämmtliche Werke. Hrsg. von Bernhard Suphan, 33 Bde, Berlin 1877-1913, besonders Bd. 4 (Journal meiner Reise im Jahr 1769), Bd. 5 (Ossian-Rezension, S. 325), Bd. 9 (Vom Einfluß der Regierung auf die Wissenschaften, und der Wissenschaften auf die Regierung), Bd. 17 (Briefe zu Beförderung der Humanität), Bd. 18 (43. Brief, ältere Niederschrift, S. 335f.), Bd. 23 (Adrastea), Bd. 31 (Predigten), Bd. 32 (Ueber die Bildung der Völker, S. 23Iff.). Johann Gottfried Herder. Briefe. Gesamtausgabe. Unter Leitung von Karl-Heinz Hahn hrsg. von den Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar (Goethe- und Schiller-Archiv). Bearbeitet von Wilhelm Dobbek und Günter Arnold, 10 Bde, Weimar 1977-1996, besonders Bd. 1, 2 und 4. Herders handschriftlicher Nachlaß XXV, 151 (Montesquieu-Exzerpt). Ich danke den Kollegen der Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek Berlin Stiftung Preußischer Kulturbesitz für die Benutzungserlaubnis. Montesquieu, Vom Geist der Gesetze. Übersetzt von Kurt Weigand, Stuttgart 1989. Königsbergsche Gelehrte und Politische Zeitungen (Universitätsbibliothek Bremen). Rigische Anzeigen und Gelehrte Beyträge zu den Rigischen Anzeigen (Riga, Bibliothek der lettischen Akademie der Wissenschaften). August Ludwig Schlözer, Neuverändertes Rußland. Erster Theil, Riga und Mitau 1769. Friedrich Christian Weber, Das veränderte Rußland, Theil 1-3, Frankfurt 1721, Hannover 1739/40.

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Nebenquellen: Johann Christoph Berens, Bonhomien, Mitau 1792 (Riga, Stadtbibliothek). Chorus an die verkehrte Welt. Russische Dichtung des 18. Jahrhunderts, Hgg. Annelies und Helmut Grasshoff, Leipzig 1983 (Klage der Leibeigenen). Friedrich II. von Preußen. Schriften und Briefe, Hg. Ingrid Mittenzwei, Leipzig 1987. Melchior Grimm. Paris zündet die Lichter an. Literarische Korrespondenz, Hg. Kurt Schnelle, Leipzig 1977. Johann Georg Hamann. Briefwechsel, Hgg. Walther Ziesemer und Arthur Henkel, Bd. 2, Wiesbaden 1956. Alexander Herzen, Rußlands soziale Zustände, Leipzig 1948.

Sekundärliteratur: B. von Bilbassoff, Katharina II. Kaiserin von Russland im Urtheile der Weltliteratur, 2 Bde, Berlin 1897. Konrad Bittner, Die Beurteilung der russischen Politik im 18. Jahrhundert, in: Im Geiste Herders (Marburger Ostforschungen, Bd. 1), Kitzingen a.M. 1953. Erich Donnert, Politische Ideologie der russischen Gesellschaft zu Beginn der Regierungszeit Katharinas II. Gesellschaftstheorien und Staatslehren in der Ära des aufgeklärten Absolutismus (Quellen und Studien zur Geschichte Osteuropas, Bd. 20), Berlin 1976. Julius Eckardt, Livland im achtzehnten Jahrhundert. Umrisse zu einer livländischen Geschichte, Bd. 1, Leipzig 1876. Joseph von Hammer, Geschichte des Osmanischen Reiches, großentheils aus bisher unbenützten Handschriften und Archiven, 2. verbesserte Ausgabe, Bd. 4, Pest 1836. Adolf Harnack, Geschichte der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Bd. I, 1. Hälfte, Berlin 1900. Rudolf Haym, Herder nach seinem Leben und seinen Werken, 2 Bde, Berlin 1877/80, 1885 (besonders Bd. 1,2, S. 313-354). Lew Kopelew/Mechthlid Keller (Hgg.), West-östliche Spiegelungen. Reihe A: Russen und Rußland aus deutscher Sicht, Bd. 2: 18. Jahrhundert. Aufklärung, München 1987 (besonders S. 357-395, Mechthild Keller, „Politische Seeträume": Herder und Rußland). Isabel de Madariaga, Katharina die Große. Ein Zeitgemälde. Aus dem Engl, von Karl A. Kiewer, Berlin 1993. Irene Neander, Russische Geschichte in Grundzügen, Darmstadt 1988. Werner Rieck, „In unserm Jahrhundert ists Zeit". Zur aufklärerischen Reformprogrammatik im Frühwerk Herders, in: Weimarer Beiträge, Jg. 2 4 / 1 0 (1978); Ästhetische und literaturprogrammatische Aspekte in Herders Pariser Notizen, in: Kwartalnik neofilologiczny, Warszawa, Jg. 2 6 / 4 (1979). Georg Sacke, Die Gesetzgebende Kommission Katharinas II. Ein Beitrag zur Geschichte des Absolutismus in Rußland (Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, Beiheft 2), Breslau 1940. Friedrich Christoph Schlosser, Geschichte des achtzehnten Jahrhunderts und des neunzehnten bis zum Sturz des französischen Kaiserreichs mit besonderer Rücksicht auf geistige Bildung, 5. Auflage, Bd. 3, Tübingen und Leipzig 1879. Heinz Stolpe, Die Auffassung des jungen Herder vom Mittelalter. Ein Beitrag zur Geschichte der Aufklärung (Beiträge zur deutschen Klassik, Bd. 1), Weimar 1955. Bernhard Suphan, Die Rigischen „Gelehrten Beiträge" und Herders Anteil an denselben, in: Zeitschrift für deutsche Philologie, Bd. 6 / 1 (1874). Rainer Wisbert, Das Bildungsdenken des jungen Herder. Interpretation der Schrift .Journal meiner Reise im Jahr 1769", Bern, Frankfurt/M., New York 1987

SERGEJ JA. KARP, MOSKAU

unter Mitarbeit

von

SERGEJ N . ISKJUL', ST. PETERSBURG

Der Briefwechsel Friedrich Melchior Grimms mit Katharina II.

Friedrich Melchior Grimm (1723-1807) ist dem russischen Leserpublikum immer noch wenig bekannt. Indes war es diesem aus Regensburg gebürtigen Deutschen, der 1749 unbekannt und ohne besondere Verbindungen nach Paris kam, vergönnt, eine hervorragende Rolle in der Entwicklung und Verbreitung der französischen Kultur zu spielen. Dem interessierten Leser ist er vor allem als Redakteur der bemerkenswerten Correspondance litteraire bekannt, eines handschriftlichen Journals, welches das kulturelle Leben Frankreichs beleuchtete und zwischen 1753 und 1813 auf Subskription verschiedenen gekrönten und titulierten Häuptern zugeschickt wurde. Im Unterschied zur Correspondance litteraire ist der Briefwechsel zwischen Grimm und Katharina II. nur Fachkennern geläufig, gilt jedoch zu Recht als ein bedeutendes Denkmal des Briefgenres seiner Zeit. Die Verbindungen Grimms zu den europäischen Höfen und zur „literarischen Republik", sein Takt, seine geschäftlich-diplomatischen Qualitäten bewogen die mächtige Monarchin, sich vertrauensvoll an ihn zu wenden. Und was interessierte dabei? Diplomatische Neuigkeiten, dynastische Probleme, Hofklatsch, lebendige Porträts historischer Persönlichkeiten, das Schaffen von Architekten, Bildhauern, Malern, Musikern, weltbekannter wie heute vergessener, die Geschichte von Büchern, Handschriften, Bibliotheken . . . Diese Korrespondenz, ohne die das Bild des kulturellen Lebens in Europa in der zweiten Hälfte des 18. Jh. nicht vollständig wäre, kann dem aufgeschlossenen Leser vieles Bemerkenswertes erzählen. Da wir eine kritische Ausgabe des Grimmschen Briefwechsels mit der russischen Kaiserin zur Veröffentlichung vorbereiten, konnten wir selbstverständlich die Publikationsgeschichte dieser Korrespondenz nicht umgehen, umso mehr, als diese Geschichte selbst den Ursprung, die Entstehung und das Schicksal der Handschriften erhellt und es gestattet, die realen textologischen Probleme der von uns vorbereiteten Ausgabe aufzuklären, Das (nach der Erscheinungszeit) erste Material der uns interessierenden Gruppe von Quellen ist ein Memorandum Grimms „Memoire historique sur l'origine et les saites de mon attachement pour l'imperatrice Catherine II. jusqu'au deces de Sa Majeste Imperiale", welches als Information für Paul I. bestimmt war. Es wurde von Alexander Christian Beck (1810-1878) im 2. Band des „Sbornik Imperatorskogo Russkogo Istoriceskogo Obscestva" (SIRIO)1 im Jahre 1868 herausgegeben. In Westeuropa wurde dieses Grimmsche Memorandum neun Jahre später einem größeren Kreis bekannt, als Maurice Tourneux den Text als Einleitung zum ersten Band seiner Ausgabe der „Correspondance litteraire" veröffentlichte.2 Beck war Historiker der Diplomatie und Staatsbeamter, der sein ganzes Leben im Dienste des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten Rußlands verbrachte, wobei er in seinem letzten Lebensjahr den Posten des Direktors des Staatsarchivs und des

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SIRIO, Bd. 22. St. Petersburg 1868, S. 324-393 (Originaltext mit russischer Übersetzung). Correspondance litteraire philosophique et critique par Grimm, Diderot, Meister etc. Revue sur les textes originaux . . . Par Μ. Tourneux, Paris 1877. Bd. 1, S. 17-63.

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Sergej Ja. Karp

St. Petersburger Hauptarchivs dieses Ministeriums einnahm. Das erwähnte Memorandum Grimms, jedenfalls sein erster Teil, befindet sich gegenwärtig im Russischen Staatlichen Archiv Alter Akten (RGADA)3, welchem das einst von Beck geleitete Archiv angegliedert wurde. Die Handschrift besitz das Format 185 x 230 mm; sie ist nicht von Grimms Hand, sondern von einem Kopisten geschrieben. Sie besitzt nicht nur die unten vermerkte, sondern auch noch eine eigene Paginierung: durchnumeriert wurden die großen Blätter, die dann zu Heftchen zusammengelegt wurden, aus denen die ganze Handschrift besteht. Solcher Heftchen sind es fünf. Ein Vergleich der Handschrift des RGADA mit dem von Beck veröffentlichten Text zeigt, daß sie nur den ersten Teil der Publikation darstellt (die Seiten 325-348); dahinter (auf den Seiten 348-393) folgt der zweite Teil, an dessen Ende sich das Datum und der Ort der Niederschrift befinden: „Gotha, den 17./28. Februar 1797". Bisher gelang es uns nicht, den Aufenthaltsort dieses zweiten Teils zu ermitteln. Die Handschrift des RGADA (mit Ausnahme der Gliederung nach Absätzen, welche nicht überall eingehalten wird, entspricht ihr der erste Teil der Veröffentlichung Becks vollständig) gehört zum 1. Teil der „Akte 154" der Fünften Kategorie des Staatsarchivs des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten (d. h. des jetzigen Fonds 5 des RGADA), einer Akte, die die Kopien fast aller Briefe Voltaires an die Kaiserin und, weiter, die Originale von 74 Briefen Katharinas II. an ihn enthält Untersuchungen des verstorbenen Voltaire-Forschers V. S. Ljublinskij halfen uns, das Schicksal des Grimmschen Memorandums näher kennenzulernen. Ljublinskij, der die erwähnte Akte 154 sorgfältig studierte, lenkte die Aufmerksamkeit auf eine kleine Notiz auf dem ersten der Schutzumschlagblätter - „Madame Gobet quai de la Megisserie n° 62" und die nachfolgende mit Bleistift geschriebene Zeile: „616 / 21 nicht gedruckt".4 Nach dem Vergleich dieser Notiz mit der „Akte der Leitung der Kaiserlichen Öffentlichen Bibliothek und des Rumjancev-Museums für das Jahr 1856" Nr. 46 „Über die Überreichung einer Kollektion von Briefen der Kaiserin Katharina II. an Voltaire und der Kopien der Briefe des letzteren an Ihre Hoheit durch M me Gobet an Seine Majestät den Kaiser sowie über die Aushändigung eines Geschenks an sie aus dem Kabinett" kam Ljublinskij zu dem Schluß, daß es sich dabei um ein und dieselben Briefe handelt. Nachdem wir uns nach Ljublinskij mit der erwähnten Akte des Archivs der Öffentlichen Bibliothek in Petersburg (jetzt: Russische Nationalbibliothek) vertraut gemacht haben, erfahren wir aus einem Schreiben des Direktors der Bibliothek, des Barons Μ. A. Korf, an den Minister des Hofes vom 30. November 1856, daß diese Briefe „das Eigentum der in Paris wohnenden älteren Jungfer Gobet waren, die im Gefühl verehrungsvoller Ergebenheit gegenüber Seiner Majestät dem Kaiser wünschte, diese Kollektion, die besondere dadurch wertvoll war, daß große Teile noch niemals veröffentlicht worden waren, Seiner Kaiserlichen Hoheit für die .Kaiserliche Öffentliche Bibliothek' darzubringen".5 Wir erfahren des weiteren, daß Alexander II. im Februar 1857 verfügte, die Schenkung der Melle Gobet „gemeinsam mit der Bibliothek Voltaires der Eremitage zur Aufbewahrung zu übergeben"6, von wo sie später ins Staatsarchiv überführt wurde.7 Was die Ziffer „616" betrifft, so verband sie Ljublinskij mit der Nummer 616 des Katalogs der Pariser Auktion vom 25. Oktober 1841 zu Verkauf des Besitzes des Herrn 3 4

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RGADA, f. 5, Nr. 154, Teil 1, Bl. 198 Rückseite-206 Rückseite. Novye teksty perepiski Vol'tera. Pisma k Vol'teru, hg. eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von V. S. Ljublinski, Leningrad 1970, S. 178-179. Archiv Pubiii noj Biblioteki. Delo upravlenija . . . Nr. 46 za 1856 g. Bl. 1. Ebd., Bl. 10. RGADA (wie Anm. 3), Teil 2, Bl. 152 a.

Der Briefwechsel Friedrich Melchior Grimms mit Katharina II.

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GXXX, „einer ehemaligen Amtsperson", und verwies darauf, daß auf der Seite 47 des Katalogs unter dieser Nummer 161 Briefe aus Voltaires Briefwechsel mit Katharina II. aufgeführt waren. 8 Die Hinweise Ljublinskijs verglichen wir mit Informationen, die uns freundlicherweise Jean de Booy zur Verfügung stellte. Es erwies sich dabei, daß sich die uns interessierende Handschrift in dem genannten Katalog findet, und zwar auf der gleichen Seite 47, ab unter der Nummer 617.9 Sie wurde für 5 Frcs verkauft und gelangte zusammen mit dem Briefwechsel Voltaires später zu Me"e Gobet und durch sie - nach Rußland. Die Veröffentlichung einzelner Briefe des Grimmschen Briefwechsels mit Katharina begann im Zusammenhang mit der Aufarbeitung und Herausgabe der im Staatsarchiv aufbewahrten schriftlichen Hinterlassenschaften der Kaiserin durch die Russische Historische Gesellschaft, Das Erbe der „Nordischen Minerva" weckte im Nachreformrußland (nach 1861) besonderes Interesse, jedoch der Herausgeber, Akademiemitglied Peter Petrovic Pekarskij, verstarb (1872) nach der Veröffentlichung der beiden ersten Bände des schriftlichen Nachlasses der Kaiserin, und die Vorbereitung des dritten Bandes zum Druck wurde Akademiemitglied Jakov Karlovic Grot (1812-1893) übertragen. Grot war einer der im vergangenen Jahrhundert häufig anzutreffenden Gelehrten, deren philologische, linguistische und historische Forschungen uns heute durch ihren Umfang in Erstaunen versetzen - reichen sie doch im gegebenen Falle von der skandinavischen Sprache bis zur russischen klassischen Literatur. Eine vollständige kritische Ausgabe der Werke Derzavins, Arbeiten über Lomonosov, Karamzin, Krylov, Chemnicer, über die russische Sprache der Petrinischen Epoche - das war in allgemeinen Zügen die „Bagage" der Arbeiten Grots zum russischen 18. Jh., die es ihm gestattete, in diesem Augenblick das Erbe Pekarskijs zu übernehmen. Als im Jahre 1873 in Petersburg das berühmte Denkmal für Katharina auf dem Nevskij Prospekt eröffnet wurde, hielt Grot in der Festsitzung der Russischen Historischen Gesellschaft seine Rede „Katharina II. in ihrem literarischen Briefwechsel", und schon im nächsten Jahr veröffentlichte er den dritten Band der Schriften Katharinas im 13. Band des SIRIO. Im gleichen Band wurden auch sechs Briefe Katharinas an Grimm aus dem Jahre 1774 publiziert. 10 In seiner Einleitung zum Band teilte Grot seinen Lesern mit, daß die Briefe der Kaiserin an Grimm vollständig im Staatsarchiv erhalten und noch niemals gedruckt worden seien, und er versprach, sie in den folgenden Bänden des SIRIO zu veröffentlichen. 11 Dabei ist bemerkenswert, daß Grot zu dieser Zeit von Grimm reichlich verschwommene Vorstellungen hatte 12 und sich erst über die Veröffentlichung mit dessen

^ Novye teksty perepiski Vol'tera (wie Anm. 4), S. 179. BN Mss, CV 1898, Catalogue G ™ , 25.-30. Oktober 1841 [Verkauf Bibliothek MG™, alter Magistrat, 25.-30. Oktober 1841, Haus Silvestre, Malard c.-pr. (R. Merlin), S. 47. Nr. 617: „Historisches Memorandum über den Ursprung und die Folgen meiner Zuneigung für Kaiserin Katharina II. bis zum Ableben Ihrer Kaiserlichen Majestät". - Dieses Memorandum ist nicht signiert; es stammt nicht von der Hand des Autors, der sich dort nennt, sondern von Baron Grimm, von dem wir die Correspondance littiraire besitzen. - Dieses biographische Dokument ist recht bemerkenswert; es umfaßt 32 große Seiten in Folio, ist sehr dicht beschriftet; die Kopie scheint von einem russischen Schreiber zu stammen. Verkauft 5 fr. Möglicherweise handelt es sich um die Bibliothek von Louis-Antoine Gobet, dem ehemaligen girondistischen Revolutionär und Schriftsteller, der später Vorsitzender des Handelsgerichts war und am 16. Mai 1841 gestorben ist. (Dictionnaire de biographie franchise, sous la dir. de Μ. Prevost, J. Roman d'Amat et Η. "Iribout de Morembert, Paris 1983. Bd. 16, S. 386. 10 SIRIO, Bd. 13. St. Petersburg 1874, S. 400-402, 407^10, 415^tl7, 429-432, 439-440, 447^48. 11 Ebd., S. XXI, 400. 12 Ebd. 9

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brieflichem Nachlaß bekannt machte, wovon der folgende Satz seines Kommentars Zeugnis ablegt: „Offensichtlich wurden in diesem umfangreichen Sammelband, erschienen unter dem Titel ,Correspondance litteraire, philosophique et critique de Grimm et de Diderot' (Paris 1829-1831; 15 Bde)13, „keine Auszüge aus den Briefen Grimms veröffentlicht". Jedoch riefen die gewaltige Zahl und der Inhalt der von ihm im Staatsarchiv entdeckten Briefe Katharinas an Grimm offensichtlich das Interesse Grots für diese Persönlichkeit wach, denn schon 1878 veröffentlichte er im „Russkij Archiv" Peter Ivanovic Bartenevs (1829-1912) den Aufsatz „Grimm und Madame d'Epinay". 14 Dieser Beitrag trug im wesentlichen kompilativen Charakter und diente der einführenden Bekanntmachung der Leser mit Grimm, dessen Name vielen Russen nur durch eine flüchtige humoristische Erwähnung in Pus kins „Eugen Onegin" bekannt war. Man weiß, wie sich Rousseau beklagte, Weil Grimm, der Weltmann, ruhig dreist Vor ihm, dem großen Mann von Geist, Die Nägel sich zu putzen wagte. Doch unser Kämpfer für das Recht Beurteilt diesen Kasus schlecht. Kann doch als Mensch sehr viel bedeuten, Wer auch auf saubre Nägel hält. Weshalb denn gegen Mode streiten? Regiert sie doch die ganze Welt.15 Grot beschränkte sich nicht auf die Veröffentlichung im „Russkij Archiv". Er beabsichtigte des weiteren, einen Aufsatz über Grimm auch in der Zeitschrift Sergej Nikolaevic Subinskijs „Drevnjaja i novaja Rossija" zu veröffentlichen, doch konnte dieses Vorhaben aus Gründen, die nicht von Jakov Karlovic Grot abhingen, nicht verwirklicht werden. 16 Im gleichen Jahr 1878 gab Grot im 23. Band des SIRIO alle Originalbriefe der Kaiserin an Grimm (mit einem Vorwort, kurzen Fußnoten und einem Namensregister in russischer Sprache) heraus. 17 Diese Briefe (Autographe) in einem Umfang von 1 bis 54 (!) Seiten auf Papierblättern 185 x 225 mm mit Goldschnitt, in 2 Bänden in Ledereinbänden, befinden sich im RGADA im Fonds 5, opis 1, Nr. 152 (Teil I und II). Der I. Teil besteht aus 445, der zweite aus 655 Blättern mit Rückseiten. Ihre erste archivarische Bearbeitung hatte ein Archivar, der Kollegienassessor I.Ja. Moroskin vorgenommen, der Grot bei der Auffindung der Papiere Katharinas im Staatsarchiv behilflich war. 18 Jeder der beiden Teile hat seine einmalige Paginierung, wobei zunächst nur die Vorderseiten der Blätter mit Tinte numeriert worden waren, dann (offenbar später) mit schwarzem Bleistift die Rückseiten. Auf den Buchrücken ist entsprechend eingeprägt: Eigenhändiger Briefwechsel der Kaiserin Katharina II. mit Baron Grimm (1774-1784), Teil I. Archiv des Reichskollegiums für 13

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Ebd., S. 400-401. Grot hatte so noch nicht die Unterschiede zwischen Grimms Briefen an Katharina II. und dessen Correspondance litt&raire bemerkt. Ja. Grot, Grimm i gospoza d'Epine, in: Russkij Archiv, 1878, Nr. 8, S. 463-471. Kap. 1. Strophen XXIV, XXV. S.-Peterburgskoe Otdelenie Archiva Akademii Nauk (AAN), f. 137, op. 2, Nr. 71, Bl. 111 Rückseite. Als einer der ersten äußerte sich Albert Sorel über diese Publikation: „Diese Korrespondenz, die man schon seit langer Zeit erwartet, entspricht in großem Maße der Erwartung der Kritik, und unter den zahlreiche Dokumenten, die wir schon der klugen und weitsichtigen Tätigkeit der Russischen Historischen Gesellschaft verdanken, gibt es nichts Wertvolleres und Bemerkenswerteres als diese." Siehe A. Sorel, Essais d'histoire et de critique, Paris 1883, S. 193. Vgl. Moroäkins Autograph vom 16./27. Mai 1878 auf den Vorsätzen der Bände 1 und 2 dieses Akts wie auch das Dankschreiben Grots an seinen Vorgesetzten (RGADA, f. 31, Nr. 316, Bl. 65 - 65 Rückseite -).

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Auswärtige Angelegenheiten" und „Eigenhändiger Briefwechsel der Kaiserin Katharina II. mit Baron Grimm (1785-1796) Teil 2. Archiv des Reichskollegium für Auswärtige Angelegenheiten". Auf Grund der Erwähnung des Archivs des Kollegiums für Auswärtige Angelegenheiten darf man schlußfolgern, daß die Bucheinbände nicht später als 1834 gefertigt wurden, da in diesem Jahr das Archiv umbenannt wurde und den Namen eines „Petersburger Staatsarchivs des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten" bekam. 1 ' De facto wissen wir wenig über das Schicksal dieser Briefe bis zum Jahre 1834. Wir erfahren nur aus dem schon erwähnten Memorandum Grimm von seinem Vermächtnis (das noch zu Lebzeiten Katharinas ausgefertigt wurde), dem zufolge zehn Jahre nach dem Tode Grimms Katharinas Briefe an ihn ihrem Lieblingsenkel, dem Großfürsten Alexander Pavlovc20, übergeben werden sollten. Diese Festlegung wurde wahrscheinlich eingehalten.21 Geht man von dieser Voraussetzung aus, so gelangten die Briefe ungefähr 1817 ins Archiv des Kollegiums fur Auswärtige Angelegenheiten, d. h. in der Regierungszeit Alexander I. Desweiteren blieb die dokumentarische Bestätigung erhalten, wonach sie schon unter Nikolaus 1.1830 dem Fürsten Α. N. Golicyn und 1832 der Kaiserin Alexandra Fedorovna übergeben wurden.22 Der erste Brief Katharinas ist vom 25. April 1774 datiert (d. i. unmittelbar nach der Abreise Grimms aus Petersburg); der letzte - vom 20. Oktober 1796 (nur kurz vor ihrem Tode). Die Abstände zwischen den Briefen machen gewöhnlich eine Woche aus, in Einzelfällen aber von einigen Stunden bis zu einem knappen Jahr. 23 Von geringen Ausnahmen abgesehen, sind die Dokumente in dem Aktenbündel in strenger chronologischer Folge geordnet. Vergleichen wir die Publikation Grots mit dem Original, so gelangen wir zu folgenden Erkenntnissen. Erstens: Der Numerierung Grots zufolge gibt es in der Akte 273 Briefe, von Ergänzungen abgesehen. Nach unserer Berechnung könnte es sich insgesamt um etwa 255 Briefe handeln, ,etwa' darum, weil die realen, zeitlichen oder thematischen Grenzen zwischen den verschiedenen Briefen durchaus nicht immer genau bestimmt werden können. Manchmal vermögen wir nicht einzusehen, wovon sich Grot bei seiner Gliederung der Handschrift leiten ließ; außerdem fällt es uns selbst jetzt nicht minder schwer als vor hundert Jahren, einen selbständigen Brief von einem Teil eines anderen, ihm zeitlich benachbarten mit einer Zwischendatierung zu unterscheiden. Der letzte Umstand erklärt ζ. T. die festgestellten Abweichungen; letztere erklären sich aber möglicherweise auch aus den im vorigen Jahrhundert vorherrschenden Prinzipien für die Publikation von Dokumenten. So hielt es Grot zuweilen für möglich, im Interesse einer sujetbezogenen oder chronologischen ,Ordnung' des Materials dessen reale Ganzheitlichkeit zu mißachten. Beispielsweise hat er einen zweifelsfrei einheitlichen Brief, datiert vom 8.-15. April 1784, in Teile zerrissen und zwischen den Anfang (8. April) und das Ende (15. April) einzelne andere Briefe vom 8. Mai und 5. April des gleichen Jahres 1784 geschoben.24 Zweitens: Nach seinen eigenen Worten hat Grot beim Druck „nichts als die Rechtschreibung und die Punktation verändert, da die Kaiserin in beiderlei Hinsicht sehr inkonse19

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Central'nyj gosudarstvennyj archiv drevnich aktov SSSR. Putevoditel' ν ietyrech tomach, Bd. 1, Moskau 1991, S. 31. SIRIO (wie Anm. 1), Bd. 2, S. 377. Man kann jedoch nicht garantieren, daß absolut alle Briefe Katharinas nach Rußland gelangt und von Grot publiziert wurden. Siehe ζ. B.: Verkauf 4. November 1844 Haus Silvestre, Lenormant de Villeneuve c.-pr. (Charavay), S. 39, Nr. 14 (Supplement): „Catherine II . . . L. s ä M. le baron de Grimm; Saint Petersbourg, 30. septembre 1785, 1 Seite in-4." (Mitgeteilt von Jean de Booy). RGARDA, f. 31, op. 2, Nr. 23. Bl. 1-2. Zwischen dem 2. September 1776 und dem 22. August 1777. Vgl. RGADA, f. 5, op. 1, Nr. 152, Teil 1, Bll. 401-403 Rückseite; SIRIO, Bd. 23, S. 301, 308-309.

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quent und willkürlich verfuhr, was sie wiederholt selbst einräumte und was gelegentlich sogar die Klarheit ihrer Gedankenführung beeinträchtigt." 25 Das Massiv der Autographe Katharinas bereitet uns heute noch manche Schwierigkeiten, denn eine originalgetreue Wiedergabe der Orthographie eines solchen Textes würde endlose textologische Kommentare erfordern. Der Gerechtigkeit halber vermerken wir, daß dank der Bemühungen Grots de facto das Problem „Dechiffrierung" der Briefe der Kaiserin entfallen ist, im Unterschied zu Grimm, der es mit der Rechtschreibung nicht so genau nahm. Außerdem haben wir es nicht immer mit der Handschrift Katharinas zu tun: manchmal wurde ein Brief wahrscheinlich diktiert und fast kalligraphisch von einem der Staatssekretäre geschrieben, während Katharina nur unterschrieb. 26 Ein andermal wurden Briefe, die Katharina eigenhändig geschrieben hatte, von A. D. Lanskoj, einem ihrer Günstlinge, unterzeichnet. 27 Die Briefe Katharinas an Grimm gab Grot unter Verletzung des § 23 des Statuts der Russischen Historischen Gesellschaft' über die Veröffentlichung ausländischer Dokumente heraus, der eine unbedingte Ubersetzung ins Russische vorsah. 28 Obwohl die Notwendigkeit einer solchen Forderung nicht einmal den Zeitgenossen klar war, im gegebenen Fall konnte Grot von der Festlegung auch schon darum abweichen, als parallel zu seiner Veröffentlichung im gleichen Jahr 1878 im „Russkij Archiv", ausgestattet mit einem Vorwort des Herausgebers P. I. Bartenev, in russischer Übersetzung umfangreiche Auszüge aus den Briefen Katharinas an Grimm erschienen, genauer: Auszüge aus 187 Briefen (aus der Gesamtzahl von 273, nach Grots Berechnung). 29 In der Zeitschrift von Bartenev wird der Name des Ubersetzers nicht genannt, aber die Ubersetzung stammte offenbar von Grots Frau Natal'ja Petrovna. Die Übersetzungsarbeiten erwähnt Grot selbst in seinem Notizbuch, z.B. am 29. März, 16.-17. Juni, 16. und 25. Oktober 1878.30 Da Grot den Inhalt der Korrespondenz Grimms und Katharinas einer maximal großen Zahl russischer Leser zugängig machen wollte, beginnt er 1879 die Publikation einer Serie von drei Aufsätzen unter dem übergreifenden Titel „Katharina II. im Briefwechsel mit Grimm". Sie wurden gleichzeitig in zwei Periodika 31 veröffentlicht, was noch einmal vom Bemühen Grots zeugt, ein sehr breites Publikum zu erreichen. Der Inhalt der Aufsätze diente der referierenden Nacherzählung der Inhalte der Korrespondenz, der Erleichterung ihres Verständnisses durch die Gliederung der Briefe, Pläne und Beziehungen der Kaiserin nach Themen und Jahren. Schon in seinem ersten Aufsatz beschränkte sich Grot nicht auf die Darlegung der publizierten Briefe, sondern bezog sich auch auf zu dieser Zeit noch nicht veröffentlichte Briefe Grimms. Diesem Grundsatz folgte er auch in den nachfolgenden Aufsätzen des gesamten Zyklus.

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SIRIO, Bd. 23, S. VII. Vgl. ζ. B. die Briefe vom 10. (21.) und 13. (24.) Dezember 1787 (RGADA, f. 5, op. 1, Nr. 152, Teil 2, Bl. 195-196. Vgl. ζ. B. den Brief vom 1. März 1784 (RGADA, f. 5, op. 1, Nr. 152, Teil 1, Bl. 417-418 Rückseite). SIRIO, Bd. 1, S. I. Für eine Ausgabe der Briefe Katharinas an Grimm ohne Übersetzung hatte sich Grot bereits im Jahre 1874 ausgesprochen: AAN, f. 137, op. 2, Nr. 147, Bl. 6 Rückseite. Novootkrytyja pisma imperatricy Ekateriny Vtoroj k baronu Grimmu, in: Russkij Archiv, 1878, Nr. 9, S. 5-128: Nr. 10, S. 129, 242. AAN, f. 137, op. 2, Nr. 71, Bl. 63 Rückseite, 104-104 Rückseite, 165, 172 Rückseite. Ja. Grot, Ekaterina II ν perepiske s Grimmom. Zapiski Imperatorskoj Akademii Nauk, Bd. 34, St. Petersburg 1879, Buch 1, Beilage Nr. 1; Bd. 40, Buch 1, Beilage Nr. 1; Bd. 48, Buch 1, Beilage Nr. 1; Sbornik Otdelenija russkogo jazyka i slovesnosti Imperatorskoj Akademii Nauk, Bd. 20, St. Petersburg 1879, Nr. 1; Bd. 21 (1881), Nr. 4; Bd. 33 (1884), Nr. 4. Diese drei Aufsätze wurden bald zusammengearbeitet, nochmals durchgesehen und als Buch herausgegeben: Ja. K. Grot, Ekaterina II ν perepiske s Grimmom, St. Petersburg 1884.

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Im Jahre 1881, im Band 33 des SIRIO, veröffentlicht Grot die Briefe Grimms an Katharina II., indem er ihnen diesmal nicht nur ein Vorwort und ein Namensregister hinzufügt, sondern auch eine Übersetzung ins Russische. 32 Diesen 33. Band 33 ergänzte Grot außerdem durch 8 Anlagen zu den Briefen Grimms, zwei Briefe Grimms an den Vize-Kanzler Fürst Α. M. Golicyn, 13 Briefe Ernst Johann von Birons, des Herzogs von Kurland, an den russischen Gesandten in Warschau, Graf Keyserling (der nicht einmal mittelbare Beziehungen zu Grimm hatte), und 7 Briefe Diderots an Katharina. Was die Briefe Grimms an Katharina selbst betrifft, so stammten sie aus zwei Quellen. Die erste ist das schon öfter erwähnte Staatsarchiv, die zweite das Archiv der Fürsten Voroncov in Odessa. Im Unterschied zu den Briefen Katharinas an Grimm waren die Briefe Grimms an Katharina verstreut und wurden erst wesentlich später aufgefunden. Mehr als das. Nach Grots eigenen Worten war, als er 1877 die Arbeit an der Veröffentlichung der Briefe Katharinas begann, „von Grimms Briefen noch nichts zu sehen" 34 , selbst nicht im Staatsarchiv. Heute gehören die Briefe Grimms an die Kaiserin, die im Staatsarchiv in einem „besonders aufbewahrten Bündel seines Briefwechsels" 35 aufgefunden und von Grot im 33. Band des SIRIO veröffentlicht wurden, zum Bestand des 3. Teils der schon genannten Akte 152 des 5. Fonds des RGADA: „Briefwechsel der Kaiserin Katharina II. mit Grimm. Briefe der Kaiserin in 2 Bänden, 4°, gebunden, 3. Teil." Dieser 3. Teil enthält Autographe der Briefe Grimms, deren frühester am 26. Januar 176436, - der späteste am 19./30. November 1796 datiert ist, Das Dokument umfaßt 258 geheftete Blätter mit Rückseiten im Format 180 χ 228 mm, Nach der Handschrift auf der Rückseite des ersten blauen Einschlagpapiers wurde die allererste archivarische Bearbeitung von dem schon erwähnten I. Ja. Moroskin vorgenommen. Am Anfang des Aktenbündels ist ein Verzeichnis eingenäht, welches in der 2. Hälfte des 19. Jh. angefertigt wurde. In ihm stehen neben den Nummern des Dokuments seine kurze Beschreibung und die Nummern der entsprechenden Blätter. Diesem Verzeichnis zufolge besteht die Akte aus 75 Dokumenten. 37 Das war jedoch nicht das zeitlich erste Register, da die Dokumente selbst Spuren einer noch früheren Paginierung und Numerierung enthalten, der zufolge das Gesamtbündel aus 72 Dokumenten besteht. Die Differenz erklärt sich aus der Umstellung eines Teils der Materialien und unbedeutenden Abweichungen bei der Beschreibung ein und derselben Dokumente. Eine dritte Paginierung, welche die Blätter und Seiten der im Aktenhefter befindlichen zweiten Beschreibung in die allgemeine Zählung einschloß, wurde in sowjetischer Zeit, in der Mitte der 50er Jahre, vorgenommen. Die „Briefe Grimms an Katharina II. Aus dem Archiv des Fürsten Voroncov." befinden sich im RGADA (Fonds 10, op. 3, Nr. 510). Auf dem Blatt 2 (nach der Buchstabenordnung dieser Akte) lesen wir in der rechten oberen Ecke: „Aus den Papieren des Herrn Elagin", weiter unten in der Mitte: „Briefe des Herrn Grimm" und noch weiter unten den Code: 32

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Vgl. die kritischen Anmerkungen zu dieser Üersetzung durch V. A. Bil'basov, Ekaterina II i Grimm, in: Russkaja Surina, März 1893, S. 503. M. Tourneux äußerte sich so über das Erscheinen von Band 33 des SIRIO: „Ist es nicht kurios, daß die Briefe der Kaiserin an einen Mann, dessen Haus 1794 verwüstet und dessen Papiere in alle vier Winde verstreut wurden, heil und unversehrt sind, während die Archive Rußlands heute nur noch Bruckstücke von den Antworten liefern können, die auf diese Briefe geschrieben wurden?" - Siehe CL, Paris 1882, Bd. 16, S. 251. Grot wurde mit Tourneux in Petersburg am 4. November 1879 bekannt. Siehe: AAN, f. 137, op. 2, Nr. 72, Bl. 160 Rückseite. SIRIO, Bd. 33, St. Petersburg 1881, S. 1. Grot, Ekaterina II ν perepiske s Grimmom (wie Anm. 31), S. 17. Diesen Brief kann man als Beginn der Korrespondenz Grimms mit Katharina II. ansehen; der systematische Briefwechsel zwischen beiden setzt freilich erst zehn Jahre später ein. Was durch unsere Berechnungen bestätigt wird.

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„I 3 / 3 8 " . Wie die Briefe Grimms aus dem Archiv I. P. Elagins (1725-1794), des Staatssekretärs Katharinas, zu Voroncov gelangten, ist uns unbekannt. Jedoch finden sich die Spuren eben dieser Briefe in der kürzeren Beschreibung der Odessaer Familienbibliothek der Fürsten Voroncov", die 1875 angefertigt wurde und unter der Nr. 1318 im Fonds 36 des Archivs des SPOIRI, des ehemaligen LOH, verwahrt wird. Die Übersicht dechiffriert den in der Akte erwähnten Code: „Schrank I, Regal 3, Nr. 38. Briefe Grimms an die Kaiserin Katharina II. 38 Bekanntlich wurde im September 1877 ein bedeutender Teil der in diesem Register erwähnten Handschriften nach Petersburg verlagert, später wurde die ganze Odessaer Sammlung eben dorthin überführt. 39 Die Autographe der Briefe Grimms aus dem Odessaer Archiv der Voroncovs wurden vom Fürsten Semen Michajlovic Voroncov (1823-1882) an die Russische Historische Gesellschaft übergeben, und zwar über Mitwirkung P. I. Bartenevs, der nicht nur das „Russische Archiv" redigierte, sondern auch das vielbändige „Archiv der Fürsten Voroncov" herausgab.40 Nach dem Tode Ja. K. Grots 1893 übergab dessen Sohn K.Ja. Grot diese Briefe an das Staatsarchiv41 bzw. erstattete sie dorthin zurück. Die „Voroncovschen" Briefe enthalten 10 verschiedene Schreiben Grimms an Katharina vom 24. November 1776 bis zum 18. (29.) September 1780 und umfassen in der Akte 61 Blätter (die Mehrzahl auch rückseitig beschrieben) in einem Format von 188 χ 234 und 180 x 224 mm. Die Seiten der Akte besitzen keinen Einband und zeigen die Spuren dreier Paginierungen, deren jede mit einer kleineren Umgruppierung der Materialien verbunden war. Insgesamt veröffentlichte Grot in der I. Abteilung des 33. Bandes des SIRIO 45 Schreiben Grimms an Katharina, während ihm alles in allem 85 Dokumente zur Verfügung standen. So gab Grot ζ. Β. zwei Folgen der Correspondance litteraire für April 1778 und April 1779 nicht heraus, die zwischen die Briefe Grimms geraten waren.42 Grimms Briefe selbst erwiesen sich als wesentlich heterogener als die Briefe Katharinas. Zwei Grundtypen seiner Schreiben - die eigentlichen Briefe und die Berichte, von Grimm selbst numeriert, bilden zwei systematisch geordnete Serien von Nummern (mit Auslassungen). Sie sind in sehr sauberer, gut leserlicher Handschrift verfaßt, mit der Grimm schrieb, wenn er sich an hochgestellte Persönlichkeiten wandte. Neben diesen Briefen und Berichten schickte Grimm Katharina jedoch noch eine Menge anderer Dokumente: - Memoranden, Kopien von an ihn gerichteten Briefen, Finanzabrechnungen, Quittungen über den Erhalt von 38 39

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LOH, f. 36, Nr. 1318, Bl. 50 Rückseite. V. A. Petrov, Obzor sobranija Voroncovych, in: Problemy istocnikovedenija, vyp. 5, Moskau-Leningrad 1956, S. 102-145. SISRIO, Bd. 33, S. 1. Ebd., f. 10, op.3, Nr. 510, Bl. 1. Ebd., g. 5, op. 1, Nr. 152, Teil III, Bl. 8-13 Rückseite und 14-23 Rückseite. Interessant ist, daß Grot seinerseits unbekannte Materialien der Korrespondenz Grimms und Katharinas II. in einem Exemplar der Correspondance litteraire suchte, das in 24 Teilen im MGAMID unter dem Titel „Zapiski Grimma" (Aufzeichnungen Grimms) aufbewahrt wurde. Zur Erleichterung der Arbeit für Grot wurde dieses Exemplar nach entsprechendem amtlichen Schriftverkehr an das Staatsarchiv nach Petersburg ausgeliehen. Unsere Aufmerksamkeit zog u. a. ein Brief des Barons F. A. Bühler, des Direktors des MGAMID, an den Baron D. F. Stuart, den Direktor des Staatsarchivs in Petersburg, vom 29. Januar 1876 auf sich, der zusätzlich die Geschichte des Moskauer Exemplars der Correspondance litteraire erhellt. Bühler schreibt, daß die Aufzeichnungen Grimms' im Jahre 1842 von seinem Amtsvorgänger, dem Fürsten Μ. A. Obolenskij, gekauft wurden, der damals der Bibliothek des Archivs 20 Teile (mit Ausnahme des 18. Teils) übergab; die restlichen 5 wurden im Hause Obolenskijs nach dessen Tod (1873) aufgefunden. Geht man davon aus, das Fürst Obolenskij seine Bibliothek und Handschriftensammlung noch zu Lebzeiten testamentarisch dem MGAMID übergab, so kann man vermuten, daß er das „katharinäische" (Moskauer) Exemplar der Correspondance litteraire auf eigene Kosten erworben hat. Siehe: RGADA, f. 31, Nr. 316, Bl. 36-36 Rückseite und f. 31, Nr. 306.

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Geldsummen, die er auf Weisung der Kaiserin gezahlt hatte u.v.a. Da Grot nicht alles veröffentlichen konnte, sah er sich vor die Notwendigkeit der Auswahl gestellt. Er entschloß sich, die wirklich wichtigen Materialien herauszugeben, in erster Linie die Autographe der Briefe und Berichte Grimms; darüber hinaus piazierte er in der II. Abteilung des 33. Bandes, wie schon gesagt, einige Anlagen zu den Briefen, die aus den gleichen Quellen (der Voroncovschen Sammlung und dem Staatsarchiv) und aus dem Moskauer Staatlichen Archiv des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten ( M G A M I D ) stammten. Bei der Gegenüberstellung der Publikation Grots mit den Originalen stießen wir auf den interessanten Tatbestand, daß Grot absichtlich, und zwar aus Gründen der ,Wohlanständigkeit', auf die Veröffentlichung eines Textes von Grimm verzichtete. Im Bericht Nr. 23 nämlich vom 1 8 . / 2 9 . August 1780 4 3 suchten wir vergeblich nach einem entzückenden Postskriptum, das in der Handschrift verzeichnet ist. 44 Als Grot 1885 diesen Bericht nochmals im 44. Band des S I R I O abdruckte, entschloß er sich, nur ein Fragment des genannten Postskiptums zu veröffentlichen. 4 5 Wir gestatten uns, den ausgelassenen Text hier anzuführen - ein schönes Beispiel einer Korrespondenz des 18. Jh., denn die besagte Weglassung zeugt nicht nur von der Evolution der editorischen Prinzipien, sondern auch von den Normen des ,Anstands' in wissenschaftlichen Publikationen. So hatte Grimm (in französischer Sprache) geschrieben: „Ich weiß nicht, ob Eure Majestät noch die unerträgliche und hochmütige Ambition besitzen, dem seligen Ludwig X V . zu gleichen, einem der größten Philosophen seiner Zeit. Wenigstens in Sachen Frömmigkeit aber muß man ihm den Vortritt lassen. Dieser große Mann würde niemals seine Zeit mit einer griechischen Messe oder einer lutherischen Predigt versäumt haben. Er würde das Kreuz über diese Schandtaten geschlagen haben. Ich habe nun vor kurzem einen einmaligen Charakterzug von ihm kennengelernt, der die skrupulöse Delikatesse seines königlichen Gewissens trefflich kennzeichnet. [Der dienstfertige Beauftragte seiner geheimen Vergnügungen hatte ihm eine charmante Tochter des Elsaß besorgt. Der Monarch, der sie in seinem Interieur empfing, fand sie sehr nach seinem Geschmack und begann, sich in amourösen Freudensprüngen zu üben, als dieses Mädchen in einem süßen Herzenserguß ihm gestand, daß sie Lutheranerin sei. Der König stieß sie entsetzt von sich, läutete nach dem Kammerdiener, ließ die Ketzerin hinauswerfen und drohte empört seinem vertrauten Minister mit dem äußersten, sollte dieser ihn künftig nochmals in die Lage bringen, die Todsünde mit wem auch immer zu begehen, ohne daß er sich vorher des katholischen Glaubens versichert hat. Wenn ich keinen Hinweis auf diesen Zug bei Plutarch Galiani feststellen könnte, müßte man zustimmen, daß er auf seine Art einmalig ist und daß es tatsächlich nichts ihm Vergleichbares gibt.]" 4 6 Aber Spaß beiseite! Im Jahre 1882 kommt es zu einem Ereignis, das den neuen Maßstab der Aufgaben verdeutlicht, die vor Grot stehen. Ein Nikolaj Romanovic Furman, 4 7 ehemaliger Oberst und Jägermeister beim Warschauer Generalgouverneur, 4 8 macht dem soeben

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SIRIO, Bd. 33, St. Petersburg 1881, S. 31-50. RGADA, f. 10, op. 3, Nr. 510, Bl. 20-50. SIRIO, Bd. 44, St. Petersburg 1885, S. 99. RGADA, f. 10, op. 3, Nr. 510, Bl. 32 Rückseite. - 3 3 . Grot selbst setzt das Fragment, das er sich nicht ru veröffentlichen getraute, in eckige Klammern, geschrieben mit Bleistift. Er wurde am 1. August 1823 geboren; das Datum seines Todes ist uns unbekannt. - Siehe RGIA, f. 1343, op. 38, Nr. 2281, Bl. 5. Adres-kalendar. Obscaja rospis nacal'stvujuscich u procich dolznostnych lie po vsem upravlenijam ν Rossijskoj Imperii na 1881 god, St. Petersburg 1881, Teil 2, S. 383. Die zeitlich letzte Erwähnung seiner dienstlichen Tätigkeit findet sich im Adres-kalendar für das Jahr 1887, St. Petersburg 1887, Teil 2, S. 370.

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auf den Thron gelangten Alexander III. eine Sammlung von Briefen G r i m m s an Katharina zum Geschenk, die er in der Bibliothek seines verstorbenen Vaters auf dessen Gut in der N ä h e von Wilna gefunden hatte. 4 9 Furmans Vater, Roman F. Furman (1784-1851), war ein recht bekannter Mann, der eine Karriere vom einfachen Kontrolleur des Petersburger Zollamts bis zu einem der höchsten Ränge der russischen Administration im Königreich Polen durchlief. 5 0 Es gelang uns, den O r t zu ermitteln, wo die Briefe Grimms aufgefunden wurden: es ist das Majoratsgut Brwilno in der Gemeinde fconsk im Kreis Gostyn des Gouvernements Warschau. 51 Jedoch verfügen wir nicht über die geringsten Hinweise darüber, wie die Briefe Grimms in die Bibliothek Furmans gelangt sind. Am 15. (27.) September 1882 besuchte G r o t Alexander III. in Peterhof, um ihm für die Glückwünsche anläßlich des 50jährigen Jubiläums seiner literaturwissenschaftlichen Tätigkeit 5 2 und die damit für die Dauer von sechs Jahren zuerkannte Jahresrente in H ö h e von 2 000 Rubeln zu danken. 5 3 Bei der Gelegenheit fand auch das Gespräch über die von Furman dem Urenkel Katharinas (Alexander III.) übergebenen Briefe statt. Hier geben wir einen Auszug aus dem im Notizbuch festgehaltenen Gespräch wieder, weil er davon zeugt, wie sich damals Rußlands Herrscher zu solchen Dokumenten verhielten: - Ε. M. 5 4 haben unlängst Briefe Grimms erhalten? - Ja, hat man Ihnen das schon mitgeteilt? Ich hatte sie Giers 5 5 gegeben, damit er Sie in Kenntnis setzt. - Ich hatte bereits Kenntnis von ihnen. - Haben Sie sie gesehen? - Nein, noch nicht. - D e r Kaiser 5 6 : Ich habe sie durchgesehen. D a sie aber schon klassifiziert waren, fürchtete ich, Unordnung zu stiften; ich habe aber gesehen, daß es dort außer den Briefen noch eine Art Journal gibt, das G r i m m für die Kaiserin führte. Sagen Sie, hatte G r i m m eine leserliche Handschrift? - N i c h t nur eine leserliche, sondern sogar eine sehr schöne. - Aber er schrieb doch Französisch, während die Kaiserin bald Französisch, bald Deutsch schrieb. - Eigentlich gebrauchte sie Deutsch nur gelegentlich, aus Spaß, G r i m m war von Geburt Deutscher, kam aber schon mit 25 Jahren nach Frankreich und begann bald Französisch nicht schlechter als die besten französischen Schriftsteller zu schreiben. Man müßte alle seine Briefe an die Kaiserin gemeinsam herausgeben: sie bilden einen ganzen Band, genau wie auch die Briefe der Kaiserin.

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Godicnoe Obscee Sobranie Imperatorskogo Russkogo Istoriceskogo ObScestva, in: Pravitel'stvennyj vestnik, 1883, Nr. 96, S. 1-16. Russkij Biograficeskij Slovar (RBS), Bd. 21, St. Petersburg 1901, S. 254. RGIA, f. 1343, op. 38, Nr. 2281, Bl. 2, 14 Rückseite, 15. Dieses Jubiläum wurde am 6. September 1882 begangen. Eine entsprechende kaiserliche Weisung wurde am 16. August 1882 unterschrieben, siehe: RGIA f. 381, op. 44, Nr. 19093, Bl. 9. In dieser Akte (Bl. 4-7) wird auch eine von Natal'ja Petrovna Grot verfaßte „Notiz über Ja. K. Grot" vom 2. August 1882 aufbewahrt, in der es u.a. heißt, daß dieser an der Herausgabe der Korrespondenz von Grimm und Katharina II. in den Sammelbänden I (Sborniki) der Russischen Historischen Gesellschaft „unentgeltlich" (Bl. 6 Rückseite) gearbeitet hat. Siehe auch: AAN, f. 137, op. 2, Nr. 4 / 6 , Bl. 88-89 Rückseite (Hinweise auf die Autorschaft Natal'ja Grots). „Eure Majestät." Nikolaus Karlovic Giers (Girs, 1820-1895), seit 28. März 1882 Außenminister. „Gosudaf".

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- Zwischen seinen Briefen sah ich die Briefe noch einer anderen Personi an den Namen erinnere ich mich nicht. - Das sind die Briefe Reiffensteins, des Beauftragten der Kaiserin in Kunstangelegenheiten. Sie besitzen Bedeutung für die Kunstgeschichte - Leben Sie wohl, ich wünsche Ihnen eine lange Fortsetzung Ihrer nützlichen Tätigkeit. - Ich betrachte es als meine heilige Pflicht, für den Herrscher und Rußland zu arbeiten, solange es meine Kraft erlaubt! Nach diesen Worten reichte mir Majestät die Hand; ich küßte seine Schulter, und er neigte sein Gesicht an meinen Kopf. Ich verließ ihn, gerührt vom Empfang . . ," 57 Ungeachtet der etwas verworrenen Tagebuchnotiz und des pathetischen Tons von Grot macht das Gespräch schon durch seinen Gegenstand großen Eindruck auf uns: wie unsere Vorfahren sind wir gerührt selbst von dem Minimum an Intelligenz, das unsere Herrscher besaßen. Das Gespräch hatte Folgen. Schon am 5. Oktober 1882 erklärte Ja. K. Grot auf der Sitzung des Rates der Russischen Historischen Gesellschaft, daß die von Furman gefundenen Briefe Grimms auf Allerhöchsten Befehl dem Staatsarchiv übergeben wurden, die Russische Historische Gesellschaft davon verständigt wurde und er, Grot, den Wunsch geäußert habe, die Mühen der Herausgabe der Briefe Grimms in einem gesonderten Band auf sich zu nehmen. 58 Die Schenkung N. R. Furmans blieb bis heute, ohne Schaden zu nehmen, erhalten; unter der Bezeichnung „Briefe des Barons Melchior Grimm an Kaiserin Katharina II." wird sie im RGADA Fonds 30, Nr. 10, Teile I—III aufbewahrt. Der Teil I ist ein eingebundenes Heft von 509 Blättern (Vorder- und Rückseiten beschrieben): es besteht aus 96 Briefen, Berichten und einigen anderen Materialien Grimms aus den Jahren 1776-1796. im wesentlichen im Format 185 χ 230 mm. Die Seiten tragen die Spuren von mehreren Paginierungen: von zwei bis evtl. vier. Die Unterschiede zwischen ihnen erklären sich durch unterschiedliche Ordnung ein und derselben Dokumente. Es ist nicht auszuschließen, daß auch ihr früherer Besitzer Furman einige Versuche zur Ordnung der Briefe unternommen hat, die, wahrscheinlich, nicht gleichzeitig in seine Hände gelangten. So sind ζ. B. auf einer Seite des Berichts vom 20./31. Januar 1783 59 deutlich die „ältesten" Ziffern erkennbar, die auch auf die Ordnungsnummer des Dokuments in der vorangehenden Kollektion verweisen und nicht nur auf die frühere Seitenzahl. Diese alten Nummern reichen im Bericht vom 20. (31.) Dezember 1793 bis zum 20. (31.) Januar 1794 60 und hören dann auf. Eine folgende Serie Nummern beginnt auf dem Brief vom 1. (12.) Januar 1794 und reicht bis zum letzten Brief dieses Heftes, dem Brief vom 1. (12.) Oktober 1796. 61 Eine andere Gruppe umfaßt die Briefe vom 5. (16.) März 1782 bis zum 24. November (5. Dezember) 1782/11. (22.) Januar 1783.62 Die das Heft eröffnenden Materialien 63 sind vermischte Dokumente, in mehr oder weniger strenger chronologischer Abfolge geordnet. Der Teil II der Akte Nr. 10 umfaßt 185 eingebundene Blätter (Vorder- und Rückseiten), im Format 115 x 188 mm. Darin sind 98 Dokumente enthalten. Es sind im wesentlichen die sog. Grimmschen ,Bulletins' (das Journal, welches Alexander III. im Gespräch mit 57 58 59 60 61 62 63

AAN, f. 137, op. 2, Nr. 80, Bl. 82 Rückseite, 83 Rückseite - 84. Godicnoe Obscee Sobranie (wie Anm. 49), S. 7-8. RGADA, f. 30, Nr. 10, Teil 1, Bl. 200. Ebd., Bl. 307 Rückseite. Ebd., Bl. 311-509 Rückseite. Ebd., Bl. 80-199. Ebd., Bl. 1-80.

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G r o t erwähnte), in welchem er, gleichsam im Vorgriff auf seine künftigen diplomatischen Dienste für Rußland, der Kaiserin über militärische und politische Neuigkeiten in Europa der Jahre 1794-1796 berichtete. Diese Bulletins hat G r i m m selbst numeriert. Insgesamt sind es in dieser Akte 57 (von N r . 1 bis N r . 82 mit Auslassungen). Bevor sie ins Staatsarchiv gelangten, waren sie zusammen aufbewahrt worden und (mit N r . 2 beginnend) von ihrem früheren Besitzer numeriert. Die übrigen Materialien sind Kopien verschiedener Briefe, Ausschnitte, Nachrichten, Rechnungen, die in den gleichen Zeitraum gehören, aber wohl in erster Linie nach dem Format der Bulletins geordnet wurden. 6 4 Der III. Teil der Akte N r . 10 u m f a ß t 361 eingebundene Blätter (zumeist auf Vorder- und Rückseiten beschrieben). Die Formate der Blätter sind verschiedene: 185 x 230.mm, 190 X 225 m m , 185 x 225 m m , 185 x 115 m m , 185 χ 240 m m und 195 χ 155 m m . Insgesamt handelt es sich um 68 Dokumente. Es sind im allgemeinen Anlagen zu den Briefen und Sendschreiben Grimms, Briefe seiner verschiedenen Korrespondenten, welche direkt oder mittelbar mit den Anweisungen und weiteren Aufträgen Katharinas II. verbunden waren. Darunter befinden sich Autographe und Kopien von Briefen des Sekretärs von Voltaire J. L. Wagniere der Jahre 1778-1794, 65 Kopien von Briefen J. F. Reiffensteins der Jahre 1778—179366 und viele andere. Es gibt im III. Teil nur eine Paginierung, aber die D o k u mente tragen völlig verschiedene N u m m e r n . Das zeugt u. E. davon, daß sie aus verschiedenen Quellen in die Sammlung Furmans gelangten. Im Band 44 des S I R I O unternahm Grot eine neue Ausgabe der Briefe G r i m m s an Katharina. 6 7 Diesmal ohne russische Übersetzung der Brieftexte selbst, aber mit einem Vorwort in Russisch und Französisch, mit A n m e r k u n g e n in russischer Sprache, einem französischen Namensregister und französischer Ubersetzung des Vorworts und der Anmerkungen zum 23. Band des S I R I O (ebenfalls zu den Briefen Katharinas an Grimm). In den Band wurden sowohl alle früher - im Band 33 - herausgegebenen Briefe G r i m m s aufgenommen, 6 8 als auch ein Teil der Furmanschen Materialien, wobei diese letzteren, erstmalig veröffentlichten, am Rand mit einem Sternchen (*) gekennzeichnet waren. G r o t konzentrierte sich auf den ersten der drei Teile der Akte N r . 10 und gab alle zu ihm gehörigen D o k u m e n t e heraus. Ungeachtet der empfindlichen Lücken (die Briefe G r i m m s der Jahre 1784 und 1788 fehlen vollständig) bleibt diese Ausgabe die bis heute vollständigste. 69 Wir können nicht genau sagen, ob Grot die Veröffentlichung der übrigen Teile der gleichen Akte für überflüssig oder für allzu schwierig gehalten hat. Wir haben auch keinerlei G r u n d anzunehmen, daß er Grimms Bulletins zur Ausgabe vorbereitete. Möglich ist, daß ihn deren militärisch-diplomatische Spezifik abschreckte, der Ton dieser Berichte, der deutlich zum scherzhaft-schmeichlerischen Stil der Schreiben G r i m m s an die Kaiserin

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RGADA, f. 30, N r . 10, Teil 2, Bl. 3-121. Ebd., Bl. 17-53 Rückseite. Ebd., Bl. 54-134 Rückseite. SIRIO, Bl. 44, St. Petersburg 1885. Obwohl auf dem Titelblatt das Jahr 1885 angegeben ist, wurde das Vorwort zu diesem Buch erst im Januar 1886 verfaßt. Ihre Veröffentlichung erfolgte praktisch ohne Veränderungen. Einen seltenen Ausnahmefall stellte das erwähnte Postskriptum zum Vortrag N r . 23 vom 18. (29.) August 1780 dar, das in Bd. 33 ausgelassen und in Bd. 44 verkürzt wiedergegeben ist. Im Zuge der Vorarbeiten für Bd. 44 sandte Grot die Briefe an Edmond Scherer, der sie bei der Abfassung seiner Grimm-Biographie benutzte, die in der Revue des deux Mondes, beginnend mit dem 15. Oktober 1885, erschien. Siehe: Mitteilungen über Kontakte zwischen Grot und Scherer, in: SIRIO, Bd. 44, S. IV; auch E. Scherer, Melchior Grimm. L'Homme de lettres, le factotum, le diplomat. Avec un appendice sur la correspondance secrete de Metra, Paris 1887, S. 8-9.

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kontrastierte. 7 0 Was allerdings die verschiedenen Anlagen zu den Briefen G r i m m s betrifft, die Grot bereits zu einem großen Teil in Band 33 publiziert hatte, so eröffnen sich uns hier größere Möglichkeiten für Vermutungen. Im R G A D A wird im Fonds 10, op. 3, ζ. B. die Akte N r . 504 „Mitteilungen verschiedener Personen aus verschiedenen Städten Europas an den Baron G r i m m " aufbewahrt. Diese Akte, die 216 Blätter (mit Rückseiten) umfaßt, kam im Verlauf der Arbeiten Grots an der Herausgabe der Briefe Grimms an die Kaiserin zusammen und stellt eine der wichtigsten Gruppen von Anlagen zu diesen Briefen dar. 71 Innerhalb der Akte sind die Dokumente in der Form kleiner Dossiers zusammengelegt, deren jedes sich in einem zur Hälfte gefalteten Schutzblatt befindet. Die Schutzblätter tragen die Spuren der Arbeit Grots, die Spuren seiner Hand, und sie verweisen den Inhalt der Dossiers jeweils zu konkreten Seiten des 44. Bandes in der Druckerei. Damit wird klar, daß die Papiere, die zur Akte 504 gehören, nach Grots ursprünglichem Plan in den gleichen Band 44 aufgenommen werden sollten, nur in kleinerer Schrift, neben den Briefen Grimms, auf die sie sich bezogen. Später änderte Grot seine Pläne und beschloß, einen gesonderten Band ,Anlagen' zu publizieren. Zu diesem Schluß gelangten wir, nachdem wir im oberen Teil des Blattes 162 folgende mit Bleistift geschriebene Notiz Grots fanden: „Dieser Brief wird zusammen mit anderen, die von fremder H a n d geschrieben sind 72 , in den Band .Anlagen' übernommen. 7 3 Nach Kenntnis der Absichten Grots hätte man nun annehmen können, daß er sich bei der Sammlung der Materialien für den Anlagen-Band nun nicht mehr nur auf die Papiere dieser einen Akte beschränkte, sondern vielleicht auch die Funde aus den Sammlungen Furmans, der Voroncovs und des Staatsarchivs hätte aufnehmen wollen. Doch ein solcher Band erblickte nie das Licht der Welt. Weshalb nicht? Wir stellen uns diese Frage bewußt, da wir über die realen Probleme einer solchen Ausgabe möglichst vollständig Klarheit gewinnen wollen. Wahrscheinlich merkte Grot, daß der Anhang der Anlagen zu den Briefen G r i m m s ungleich größer geworden wäre, als er ihn sich anfangs vorgestellt hatte. Zunächst ist selbst der Terminus „Anlage" verschwommen. Im engeren Sinne sind Anlagen zu den Briefen Grimms ihnen beigefügte D o k u m e n t e , die gleichzeitig und gemeinsam mit der Sendung oder wenig später ankamen. Solche Anlagen, die, wie wir sahen, auf einige Fonds verteilt sind, tragen einen recht unterschiedlichen Charakter: es sind Briefe an G r i m m von dritten Personen, Brief dritter Personen an Katharina, welche G r i m m an sie weitersandte, Finanzabrechnungen, Quittungen (Bestätigungen), Auszüge aus verschiedenen Werken von Literaten der Zeit.,Anlagen' im weiteren Sinne würden praktisch einen großen Teil der Briefe Grimms an andere Korrespondenten wie auch Kopien der Briefe an ihn selbst und weitere Papiere umfassen, die mit den der Kaiserin Katharina erwiesenen Gefälligkeiten zusammenhängen. Solche Materialien gibt es in vielen Moskauer und Petersburger Archiven 7 4 , und nicht nur in ihnen. 7 5

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Im Zusammenhang damit werfen die Nachrichten, die sich in den Bulletins finden, manchmal ein helles Licht auf die Vorgänge und kontrastieren so mit den Stellen der „undurchsichtigen" Korrespondenz, wie sie für diesen Zeitabschnitt kennzeichnend ist. Namentlich aus diesem Bestand exzerpierte Emile Lize Seiten von unbekannten Autographen Diderots: RGADA, f. 10, op. 3, N r . 504, Bl. 98-121 Rückseite, 148-151; E. Lize, Memoires inedites de Diderot ä Catherine II., in: Dix-Huitieme Siecle (= DHS), N r . 10, 1978, S. 191-22. Das heißt: nicht von Grimms Hand. RGADA, f. 10, op. 3, N r . 504, Bl. 162. An einem Register der Papiere Grimms in russischen Archiven arbeitet gegenwärtig A. F. Stroev. Vgl. Correspondence inedite de Frederic-Melchior Grimm, Hg. Jochen Schlobach, München 1972. Ein Teil von Grimms Papieren, die sich auf den Briefwechsel mit Katharina II. beziehen, befinden sich im Französischen Nationalarchiv: A N Τ 319 1 , Τ 319 4 , Τ 319 5 , Τ 1631 η° 18, Τ 1685 η° 294. F 1 7

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Was sollte man also veröffentlichen und wie? Grot beschränkte sich letztendlich auf die Autographe Grimms und verzichtete auf den Plan,, Anlagen' zu publizieren; auch ohne sie war seine Ausgabe ziemlich umfangreich. Uns selbst scheint folgender Weg vernünftig, der, im weiteren, natürlich nuanciert werden muß. Erstens, - sollte man vom Text der Briefe Grimms selbst ausgehen und die Standorte jedes Dokuments präzisieren, das im Text erwähnt wird. Zweitens, - alle derart aufgefundenen Dokumente könnten, bedingt, in zwei Kategorien eingeteilt werden: 1. Materialien, die in den Anmerkungen besprochen werden, welche sich dem Text der Briefe anschließen, in denen sie erwähnt werden. Sie werden am Ende des Bandes im Abschnitt ,Anlagen' veröffentlicht. 2. Materialien, auf deren Existenz nur in einem Hinweis in den Anmerkungen aufmerksam gemacht wird. Indem wir nun zu Grot zurückkehren, stellen wir fest, daß die Herausgabe des 44. Bandes (und darin auch des Vorworts und der Kommentare zu Band 23 in französischer Sprache) eine bemerkenswerte kritische Resonanz in der Revue critique d'histoire et de litterature hatte. In N r . 17 vom 26. April 1886 verwies dieses Wochenblatt auf das Erscheinen der 2., erweiterten Ausgabe der Briefe Grimms an die Kaiserin Katharina II. und kündigte in Bälde eine gründlichere Besprechung der Arbeit Grots an. 76 Diese Ankündigung wurde in der N r . 23 vom 7. Juni 1886 in einer ausführlichen Rezension von Arthur Chuquet eingelöst. 77 Aus der Sicht des französischen Kritikers besteht die Bedeutung der Briefe Grimms aus der Furmanschen Sammlung darin, daß sie die in den Briefen Katharinas unklar gebliebenen Stellen gleichsam klären und kommentieren, wie auch wichtige und vorher unbekannte Informationen über Ereignisse und Teilnehmer der Französischen Revolution, über Aktivitäten der Koalitionsmächte und ihre gegenseitigen Beziehungen vermitteln. Chuquet räumt auch ein, daß die Korrespondenz in bemerkenswerter Weise die Rolle Grimms als anerkannten Vermittlers in der Welt der Künste und als Kenner der französischen Literatur widerspiegelt. 78 Gleichzeitig stellt der Rezensent einen Vergleich zwischen den Briefen Katharinas und Grimms an und schlußfolgert, daß dieser Vergleich nicht zugunsten Grimms ausfalle: „Der Mann der Feder hat nicht den gleichen trefflichen Blick wie der Staatsmann und Mann der Aktion (wobei man uns diese Charakteristik im H i n blick auf die Zarin verzeihen m ö g e . . . ) , er hat, wie es scheint, auch nicht die Nervenstärke, Vitalität und das Feuer, weil er nicht die gleiche Beweglichkeit des Geistes, die gleiche H ö h e des Blicks, die gleiche Überlegenheit der Intelligenz besitzt wie seine Korrespondentin. 79 Neben diesen durchaus interessanten, aber am Ende nicht so sehr wesentlichen Erörterungen 8 0 enthält die Rezension noch eine Menge nützlicher Beobachtungen zur

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1036 a / 3 F 1 7 1198/3. Wir benutzen die Gelegenheit, um an dieser Stelle Madame D. Galle dafür Dank zu sagen, daß wir den Fonds Τ 319 ducharbeiten konnten. Vgl. auch die aus diesem Fonds bereits veröffentlichten Teile: Objets d'art acquis pour l'imperatrice de Russie par le baron de Grimm (1787-1790). Documents communiques et annotes par Μ. J. J. Guiffrey, in: Nouvelles archives de l'art francais, Serie 2, Bd. 2. 1880-1881, S. 328-341. Über diese Publikation informierte uns liebenswürdigerweise Madeleine Pinault. Im Nationalarchiv (Munitier Central) befinden sich auch notarielle Akte über einige Geschäfte, die Grimm im Auftrag der Kaiserin wahrnahm: AN MC fitude LXXI, Hasses 35, 36, 37, 55, 59. 65 . . . Revue critique d'histoire et de litterature. Recueil hebdomadaire publicite sous la direction de MM.. J. Darmesteter, L. Havet, G. Monod, G. Paris, Nr. 17 (26. April 1886), S. 340. Ebd., Nr. 23 (7. Juni 1886), Art. 128, S. 450-458. Ebd., S. 451. Ebd., S. 454. Überhaupt war die Gegenüberstellung der Vorzüge Katharinas und der Schwächen Grimms lange Zeit einer der Gemeinplätze vieler, sogar flüchtiger Repliken der damaligen Zeit über die Veröffentlichung ihrer Korrespondemz. Besonders weit ging V. A. Bil'basov, der sogar behauptete, daß die Grotsche Veröffentlichung dieses Briefwechsels „Grimm zugrundegerichtet" habe (in der öffentlichen Meinung)

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Arbeit Grots als Herausgeber. Chuquet hatte sehr aufmerksam die Kommentare und den bibliographischen Apparat zu den Bänden 23 und 44 des SIRIO studiert. Wenn er zu den Anmerkungen Grots und der Transkription des Textes im 23. Band 6 konkrete Korrekturen anbrachte, so erreichen die Korrekturen zu Anmerkungen, Text und Namensregister im 44. Band die Zahl 45. Aus unserer Sicht sind diese Bemerkungen gerechtfertigt: ihre Bedeutung ist im Hinblick auf eine Neuausgabe dieser Briefe schwer zu überschätzen. Auch Grot selbst hat indirekt die Berechtigung der Kritik anerkannt. 81 Schon Tourneux hatte in Erwiderung auf die Publikationen Grots in den Bänden 23 und 33 des SIRIO geschrieben: „Grimm war vor allem der Lieferant, der von allem angezogen war, was dem künstlerischen Geschmack Katharinas schmeicheln konnte, und man muß diese beiden Bände aufmerksam lesen, wenn man sich über das Wachsen der Sammlungen der Eremitage unter der Herrschaft der Semiramis des Nordens Rechenschaft ablegen will. Es gibt darin mehr als ein unbekanntes Kapitel vom europäischen Einfluß des französischen Geschmacks im 18. Jahrhundert. 82 Diese Herausforderung nahm Loui Reau, der bekannte Kunstwissenschaftler, an, als er 1932 seine Variante des Briefwechsels zwischen Grimm und Katharina veröffentlichte. Er erblickte darin eine überaus wertvolle Quelle zur Geschichte der französischen Kunst, ihrer Rolle in der Weltkultur 83 Reau gab im Grunde eine Auswahl aus Grot heraus - 174 Briefe Grimms und Katharinas in Auszügen, mit kurzen Kommentaren, Namensverzeichnis, einem Index der erwähnten Kunstwerke und Schwarz-Weiß-Illustrationen. Die bedeutendste Leistung Reau's war die Verwirklichung einer einheitlichen Ausgabe der Briefe Grimms und Katharinas, die Wiederherstellung des lebendigen Dialogs zwischen ihnen, den Grot notgedrungen zerstört hatte, als er die Briefe faktisch in der Reihenfolge ihrer Entdeckung veröffentlichte. Die folgende Etappe in der Herausgabe des Briefwechsels eröffnete I. S. Sarkova, die 1974 die ersten, vorher unbekannten Schreiben Grimms an Katharina im Archiv des LOII entdeckte und einige von ihnen 1976 unter Mitwirkung von A. D. Ljublinskaja publizierte 84 . Der Fonds der Kaiserin Katharina II. (Nr. 203) des Archivs des SPOIRI enthält 85 Akten, die zum Briefwechsel Grimms mit Katharina gehören (Briefe, Berichte, vielfältige Anlagen der Jahre 1784-1794). 85 Das Format der Mehrzahl von ihnen beträgt 188 x 234 mm. Besonderes Interesse rufen zwei Akten hervor, in denen sich Autographe von 18

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und „ihn in äußerst unangenehmem Lichte" zeige. Vgl. V. A. Bil'basov, Ekaterina II. i Grimm, in: Russkaja Starina, März 1893, S. 502. Derartig strenge Urteile finden sich überall in Bil'basovs Arbeiten, die in der „Russkaja Starina" von Februar bis Juni 1893 erschienen und später wiederaufgelegt wurden: V. A. Bil'basov. Istoriceskie monografii, Bd. 4, St. Petersburg 1901, S. 86-236. Revue critique d'histoire et de litterature, Nr. 33 (16. August 1886), S. 136: En reponse ä l'article de la Revue critique sur les Lettres de Grimm ä Catherine II (Nr. 23, Art. 128): „M. Ja. Grot hat uns geschrieben, daß der Index der Korrespondenz nicht von ihm selbst, sondern von einem Mitarbeiter des Büros der Historischen Gesellschaft in St. Petersburg verfaßt wurde. Wir geben den Wissenschaftlern gern Kenntnis von dieser Berichtigung." CL, Paris 1882, Bd. 16, S. 252. Correspondance artistique de Grimm avec Catherine II. Mit einer Einleitung und Anmerkungen hg. von Louis Reau, Paris 1932 ( - Archives de la Societe de l'histoire de l'art francaise, Bd. 17). I. S. Sarkova , Novye dannye ο biblioteke Didero, in: Vspomogatel'nye istoriceskie discipliny, vyp. 10, Leningrad 1978, S. 307-311; Novoe ο biblioteke Didero, in: Russkie biblioteki i ich iitatel', Leningrad 1983, S. 168-175. SPOIRI, f. 203, Nrn. 21, 37, 53, 83, 84, 150, 151, 156, 164-170, 176-212, 222-254. Siehe auch S. Karp, S. Iskul avec collaboration de G. Dulac et N. Plavinskaya. Les lettres inedites de Grimm ä Catherine II, in: Recherches sur Diderot et sur l'Encyclopedie ( - R D E ) , Nr. 10. April 1991, S. 41-55. Die von uns im vorliegenden Beitrag gemachten Angaben über die Briefe Grimms an Katharina aus dem Fonds 203 des Archivs des LOII wiederholen und präzisieren ζ. T. Daten, die von S. N. Iskjul' gesammelt wurden und in der gemeinsamen Publikation enthalten sind.

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Briefen (Akte Nr. 198) und 38 Berichten (Akte N r . 151) befinden. Die Briefe im Umfang von 260 Blättern (mit Rückseiten) beginnen am 5. (16.) Mai 1788, die aus 120 Blättern mit Rückseiten am 20. (31.) Dezember 1784 8 6 und enden am 25. März (5. April) 1788. Dementsprechend ergänzen diese Materialien wesentliche Lücken, die in der Edition Grots offengeblieben waren. Vorläufig sind wir noch nicht in der Lage, die Frage eindeutig zu beantworten, wie diese Materialien ins Archiv des L O H gelangt sind. Früher befand sich der Fonds der Kaiserin Katharina II. vollständig in der Handschriftenabteilung der B A N , von wo er am 22. Juni 1931 an die Archäographische Kommission der Akademie der Wissenschaften der U d S S R übergeben wurde. 8 7 Im Jahre 1936 kamen die Materialien dieser Kommission ins Archiv des L O H . Solange sich dieser Fonds in der sog. IV. (Handschriften - ) Abteilung der B A N befand, trugen die Materialien in Ubereinstimmung mit dem in dieser Bibliotheksabteilung üblichen System eine besondere Chiffre aus drei Zahlengruppen, die man gegenwärtig noch auf einigen Umschlägen des Fonds antreffen kann: diese Chiffres entsprechen vollständig den Chiffres im Karteikatalog des Fonds, der sich auch gegenwärtig noch in der Handschriftenabteilung der B A N befindet und, wahrscheinlich, am Ende des 19. J h . erarbeitet wurde. Wie die Papiere der Kaiserin in die B A N gerieten - darüber gibt es vorerst nur eine Vermutung, da genaue Unterlagen über ihre Aufnahme in die Bibliothek nicht aufgefunden wurden. In einem Aufsatz des Leiters der Handschriftenabteilung der B A N , V. I. Sreznevskij, „Über die Handschriftenabteilung der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften" (1913) findet sich ein bemerkenswerter Hinweis: „Das Anwachsen der Sammlungen von Handschriften mit alten Drucken wurde zunächst durch die Gaben gekrönter Häupter . . . teilweise durch Käufe der Akademie selbst . . . und durch Schenkungen privater Personen gefördert. Von den Sammlungen, die im 18. Jahrhundert aufgenommen wurden, sind neben der Sammlung Peters des Großen die Sammlungen des Grafen Ostermann, des Magisters Pauge . . . die Sammlung der Papiere der Kaiserin Katharina II. zu nennen . . ,". 8 8 Dieser dokumentarisch nicht belegte Gedanke Sreznevskijs wurde wahrscheinlich wie etwas Selbstverständliches immer wieder in verschiedenen Überblicken und anderen Materialien zur Geschichte der B A N wiederholt, die sich aus Anlaß der Jubiläen der Akademie ansammelten. So heißt es ζ. B. in dem Überblick zur Geschichte der B A N aus dem Jahre 1925. daß „im Verlaufe des 18. Jahrhunderts zur grundlegenden Sammlung durch Schenkungen allmählich neue wertvolle Sammlungen von Handschriften, Papieren . . . h i n z u k a m e n : . . . nach dem Tode Katharinas II. - die reiche Sammlung ihrer Papiere". 8 9 Wenn man von dieser Tatsache ausgeht, so darf man vielleicht auch mit einer gewissen Vorsicht vermuten, daß die Sammlung der Papiere Katharinas II. im Verlauf des ganzen 19. Jh. unangetastet in der B A N gelegen hat und erst dann durchgesehen wurde, als in der am Ende des 19. J h . gebildeten Handschriftenabteilung umfangreichere Arbeiten zur Erfassung und Ordnung der alten Fonds begannen. 9 0 Wahrscheinlich hatte Grot aus diesem Grunde keine Kenntnis vom Inhalt des Fonds, und die in ihm unberührt liegenden Briefe Grimms blieben unbekannt. 86

Gemeint ist der erste der datierten Berichte.

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A A N , f. 158, op. 3, 1931, N r . 37 (Verzeichnisse, Akten und Briefwechsel über die Eingliederung in die B A N und die Abgabe aus der B A N von Büchern und Archivmaterialien), Bl. 154. In dem Abgabe-Akt ist vermerkt, daß der Fonds Kathartina II. zu dem die Akten N r n . 2 6 . 4 . 1 . - 2 6 0 , N r . 5968 und ein „einzelnes Paket" gehörten, an die Archäographische Kommission abgegeben wurde.

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A A N , f. 158, op. 5, N r . 28, Bl. 44.

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Ebd., N r . 39, Bl. 4 - 4 0 Rückseite.

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Istorija Biblioteki Akademii nauk SSSR, 1 7 1 4 - 1 9 6 4 . Moskau-Leningrad 1958, S. 290.

Der Briefwechsel Friedrich Melchior Grimms mit Katharina II.

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Alle diese Überlegungen aber können immer noch nicht überzeugend beweisen, daß sich die Briefe Grimms an Katharina tatsächlich „von Anfang an" und vollständig in der Handschriftenabteilung der B A N befunden haben. So haben wir in der Handschriftenabteilung der R G B im Fonds Jakov Lasarevic Barskovs handschriftliche Kopien von Auszügen aus 12 Schreiben Grimms an Katharina (23. F e b r u a r / 6 . März 1786 - 5 . / 1 6 . Mai 1788), 91 deren Originale sich heute unter den Materialien der Akten Nr. 151 und N r . 198 im Fonds Katharinas II. im Archiv des S P O I R I befinden. 9 2 Die Paginierung auf den Kopien entspricht vollständig der ursprünglichen Paginierung der Originale, deren Spuren als durchgestrichene Ziffern noch auf einigen Seiten der Handschriften dieser Akten erkennbar sind. Auf Blatt 1 ist von der Hand Barskovs geschrieben: „Briefe Grimms Arch. I. Α. Ν . " , d. i. aus dem Archiv der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften. Ja. L. Barskov (1863-1937), ein bekannter Herausgeber historisch-archivalischer Materialien des 17. und 18. Jh., diente Anfang der 1900er Jahre als Sachbearbeiter im St. Petersburger Hauptarchiv des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten (MID) und von 1908 an als Hauptsachbearbeiter im Staatsarchiv. Schon 1902 zog ihn Akademiemitglied Α. N . Pypin zur Herausgabe der Vollständigen Sammlung der Werke Katharinas II. hinzu. Während der Arbeiten an dieser Ausgabe ist Barskov möglicherweise auf die handschriftlichen Briefe Grimms an die Kaiserin aus dem Archiv der Akademie gestoßen. So befanden sich, wie wir vermuten können, die Grot noch unbekannten Briefe Grimms an Katharina ganz oder teilweise im Archiv der Akademie der Wissenschaften in Petersburg und kamen - später in die B A N und, letzten Endes, ins Archiv des L O H , wo Sarkova auf sie stieß. Nach I. S. Sarkova setzte 1980 George Dulac die Herausgabe der Materialien des Fonds Nr. 203 9 3 fort. Ihre Veröffentlichung machte deutlich, daß der bisher unveröffentlichte Teil der Korrespondenz eine wichtige Quelle insonderheit für Informationen über das Schicksal der Handschriften Diderots, seiner Bibliothek, über Projekte einer postumen Ausgabe seiner Werke darstellt. Der außerordentliche Reichtum des Fonds N r . 203 (in ihm befindet sich etwa ein Drittel aller bekannten Schreiben Grimms an die Kaiserin) war ein für uns ausreichender Grund, um in der Serie „Archives de l'Est" gemeinsam mit Sergej N . Iskjul', George Dulac und Madeleine Pinault eine neue Ausgabe von Grimms Briefwechsel mit Katharina II. nach den im R G A D A und im Archiv des S P O I R I aufbewahrten Autographen vorzubreiten.

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R G B , Handschriftenabteilung, f. 16. Karton 11, Nr. 1, Bl. 1-40. Ebd., Karton 22, Nr. 77, Bl. 9 Rückseite - 10. G. Dulac, L'envoi des livres et des manucrits de Diderot en Russie, quelques documents inedits, in: D H S , 1980, Nr. 12, S. 233-245; Le discours politique de Petersbourg, suivi de „Diderot vu par Grimm", in: R D E , 1986, Nr. 1, S. 32-58; Les manucrits de Diderot en URSS in: Diderot, Studies on Voltaire and the Eigtheenth Century, 254. Oxford 1988, S. 19-50.

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Sergej Ja. Karp

Abkürzungen AAN AN BAN CL f. LOH MGAMID Op. PSZ RBS RGADA RGB RGIA SIRIO SPOIRI Vyp

Archiv Akademii nauk - Archiv der Akademie der Wissenschaften Akademija nauk - Akademie der Wissenschaften Biblioteka Akademii nauk - Bibliothek der Akademie der Wissenschaften Correspondance litteraire Fonds Leningradskoe Otdelenie Instituta istorii - Leningrader Abteilung des Institus für Geschichte Moskovskij Glavnyj Archiv Ministerstva Inostrannych Del - Moskauer Hauptarchiv des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten Opis - Inventar, Verzeichnis, Beschreibung Polnoe Sobranie Zakonov Rossijskoj Imperii - Vollständige Sammlung der Gesetze des Russischen Reiches Russkij Biograficeskij Slovar - Russisches Biographisches Wörterbuch Russkij Gosudarstvennyj Archiv Drevnich Aktov - Russisches Staatsarchiv für Alte Akten Russkaja Gosudarstvennaja Biblioteka - Russische Staatsbibliothek Russkij Gosudarstvennyj Istoriceskij Archiv - Russisches Staatliches Historisches Archiv Sbornik Imperatorskogo Russkogo Istoriceskogo Obäcestva - Magazin der Kaiserlichen Russischen Historischen Gesellschaft Sankt-Peterburgskoe Otdelenie Instituta Russkoj istorii - St. Petersburger Abteilung des Instituts für Russische Geschichte Vypusk - Lieferung

CLAUS SCHARF, M A I N Z

Katharina II. von Rußland - die Große? Frauengeschichte als Weltgeschichte 1

Fast 35 Jahre lang, vom Frühsommer 1762 bis zum Spätherbst 1796, regierte Katharina II. das Russische Reich. 2 Keine kaiserliche Herrschaft im nachpetrinischen Rußland dauerte länger als ihre, auch nicht die Diktatur Stalins. Und es war nicht eine Regierung in ihrem Namen, wie ζ. B. im 19. Jh. die von Queen Victoria, sondern in der Tat Kaiserin Katharina persönlich, die weit über die Grenzen Rußlands hinaus und über ihre eigene Lebenszeit hinaus entscheidenden politischen Einfluß ausübte. Daß sie nicht nur den Alten Fritz, der ja noch über ein Jahrzehnt länger regiert hatte, sondern auch den jüngeren Joseph II. überlebte, machte sie im Revolutionsjahrzehnt zur letzten großen Repräsentantin des europäischen Ancien regime. Doch nicht allein wegen der ungewöhnlichen Dauer empfanden schon ihre gebildeten Zeitgenossen diese Herrschaft als eine Ära. Bewunderer und Kritiker Katharinas innerhalb und außerhalb des Russischen Reiches begriffen sich im Rückblick auf ihre Regierungszeit vielmehr noch als Zeugen weltgeschichtlicher Ereignisse, als bereits der republikanische General Bonaparte Italien eroberte. 3 Kaum daß Katharina im November 1796 gestorben war und sich die höfische Gesellschaft und die Gebildeten in Rußland auf den neuen Herrscher Paul einzustellen hatten, wurde ihr Tod im übrigen monarchischen Europa zu einem „Buchereignis" der Saison. 4 Angeblich bereits 24 Stunden nach dem Empfang der Nachricht verfaßte der wallonische Aristokrat, französische moralische Schriftsteller und österreichische General Prince Charles Joseph de Ligne ein ehrendes „Porträt weiland Ihrer Majestät, der Kaiserin von Rußland", der er seit 1780 mehrmals begegnet war und mit der er korrespondiert hatte. Zu ihren Gunsten verglich er ihre herrscherlichen Qualitäten mit Peter dem Großen und mit Ludwig XIV. Doch obwohl er die weibliche Natur auch noch der alternden Monarchin mit großer Sympathie zu schildern wußte, begann er seinen Nachruf mit einem Lob, das ihm als das höchste erschien: „Katharina der Große (ich hoffe, Europa wird ihr diesen Namen bestätigen, den ich ihr verliehen habe), Katharina der Große ist nicht mehr." 5 Zweifel sind ausgeschlossen: Der Autor würdigte die Herrscherin der männlichen Form, weil historische Größe grundsätzlich nur Männern zukam.

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Diese Skizze habe ich zuerst am 6. Mai 1993 im Institut für Geschichte der Universität Salzburg vorgestellt. Der Beitrag variiert Thesen meiner Dissertation, die ich in Anwesenheit des Jubilars am 2. April 1993 in Halle verteidigt habe und die erweitert und überarbeitet jetzt im Druck vorliegt: Claus SCHARF, Katharina II., Deutschland und die Deutschen, Mainz 1995. Umfassende neuere Darstellungen: Isabel de MADARIAGA, Russia in the Age of Catherine the Great, London 1 9 8 1 ; Klaus ZERNACK (Hg.), Handbuch der Geschichte Rußlands, Bd. 2 , Halbbd. 2 , Stuttgart 1 9 8 8 ff., S. 5 2 7 - 8 6 7 .

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Die Dezembernummer 1796 der Hamburger Zeitschrift Politisches Journal (vgl. Anm. 7) meldete und kommentierte sowohl den Tod Katharinas (S. 1236-1247) als auch Bonapartes wechselndes Kriegsglück bei Arcole (S. 1292-1297). 24 selbständige biographische Titel, die 1797 außerhalb Rußlands erschienen, nennt allein die kommentierte Bibliographie von Basil von Bilbassoff (Vasilij Alekseevic BIL BASOV], Katharina II., Kaiserin von Rußland, im Urtheile der Weltliteratur, Bde. 1-2, Berlin 1897, hier Bd. 2, S. 1-45. Charles Joseph Prince de LIGNE, Portrait de feu Sa Majeste Catherine II, imperatrice de toutes les Russies (1797), hier nach der Übers.: Porträt weiland ihrer Majestät, der Kaiserin von Rußland, in: Fritz SCHALK

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Claus Scharf

Anderen patriotischen spätaufklärerischen oder frühbildungsbürgerlichen Schriftstellern im Heiligen Römischen Reich diente vor allem die deutsche Herkunft der Kaiserin von Rußland als Anlaß, sich engagiert über Katharinas historische Größe zu äußern. Dabei lag ihnen über die Revolutionszeit hinaus Friedrich der Große als maßgebendes Beispiel am nächsten. 6 Stolz auf Friedrich noch nicht etwa als die Verkörperung der „preußischen Idee", sondern als einen großen Deutschen, zeigte sich das Politische Journal aus Hamburg gleichermaßen beeindruckt, daß „dies große menschliche Wesen, welches in Rußland thronte und ein Drittheil des achtzehnten Jahrhunderts zu seiner Epoche machte, [ . . . ] eine teutsche Prinzessin aus dem unmächtigen Anhaltschen Hause von Zerbst" war. 7 Ebenso hielt Johann Erich Biester, der langjährige Herausgeber der aufklärerischen Berlinischen Monatsschrift, zwar den Preußenkönig für den „außerordentlichsten Mann der neuern Weltgeschichte", den „Held und Staatsmann des Jahrhunderts". 8 Aber schon zur Ostermesse 1797 veröffentlichte er eine heute noch beachtenswerte, weitgehend aus publizierten und mündlichen Quellen erarbeitete Biographie und politische Geschichte Katharinas, für die er auch präzise sein Erkenntnisinteresse definierte: „So ewig denkwürdig ihre Regierung für das Russische Reich ist, so gehört die große Kaiserinn doch darum weder der Geschichte jenes Landes, noch der Nachwelt, ausschließlich an; sie gehört auch ihren Zeitgenossen, da sie auf das übrige Europa so mächtig innerhalb 34 Jahre gewirkt hat; und vorzüglich uns Deutschen, in deren Mitte sie vor 67 Jahren geboren ward." 9 Geboren sei sie „in Friedrichs Staaten, mit dem sie nachher den Ruhm dieses Jahrhunderts theilte". 10 Offenkundig vertrug sich dieser kosmopolitische, vornationalistische Patriotismus, der eine Kaiserin von Rußland weitherzig einschloß, noch mit Lob und Preis einer bedeutenden Frau, wenn auch nur, weil sie deutscher Herkunft war. Findigen Lobrednern gelang es sogar, beide Herrscher, Friedrich und Katharina, in einem Atemzug mit Superlativen zu würdigen, indem sie die historische Größe der Kaiserin gleichsam in einer Damenkonkurrenz ermittelten. „Mit allem Rechte", so eine andere Berliner Schrift „aus dem ablaufenden Jahrhundert", dürfe man sie „als die Grosse, in ihrer Art als die Grosseste auspreisen". 11 Weil die Kaiserin auch als Autorin hervorgetreten war, widmete ihr 1796, kurz vor ihrem Tode, Johann Georg Meusel selbstverständlich einen Eintrag in sein Lexikon der jetzt lebenden teutschen Schriftsteller,12 Ebenso führte 1810 der entsprechende Artikel in Jöchers

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(Hg.), Die französischen Moralisten. Neue Folge. Galiani - Fürst von Ligne - Joubert, Wiesbaden 1940, S. 114-122, hier S. 114. So schon richtig zusammenfassend Ulrich PREUSS, Katharina II. von Rußland und ihre auswärtige Politik im Urteile der deutschen Zeitgenossen, in: Jbb. für Kultur und Gesch. der Slaven N . F. 5 (1929), S. 1-56, 169-227, hier S. 208-211. Tod der Kaiserin, Katharina der Zweyten. Historisch-Statistischer Schattenriß; von Ihr und Rußland unter Ihrer Regierung, in: Politisches Journal, Jg. 1796, Bd. 2, Zwölftes Stück: Dezember, S. 1247; vgl. auch PRELSS, Katharina (wie Anm. 6), S. 208. Johann Erich BIESTER, Abriß des Lebens und der Regierung der Kaiserinn Katharina II. von Rußland, Berlin 1797, S. 31, 133 f. Ebd., S. IV. Ebd., S. 3. Ähnlich auch: Politisches Journal, Jg. 1796, Dezember (wie Anm. 7), S. 1237, 1244-1247; H . F. AXDRÄ, Katharine die Zweite, Kaiserin von Rußland und Selbstherrscherin aller Reussen. Ein biographisch-karakterisches Gemälde, Halle 1797, S. 200. Weitere Nachweise bei PREUSS, Katharina (wie Anm. 6), S. 208. Denkwürdigkeiten aus dem ablaufenden Jahrhundert bei historisch-statistischer Darstellung der Russischen Monarchie und der merkwürdigen Revolutionen in Frankreich und Polen zu politisch- und kriegerischen Reflexionen, Berlin 1800, S. 545, zit. bei BIL'BASOV, Katharina II. im Urtheile der Weltliteratur (wie Anm. 4), Bd. 2, S. 83-84, hier S. 84. [Johann Georg MEUSEL,] Das gelehrte Teutschland oder Lexikon der jetzt lebenden teutschen Schriftsteller, angefangen von Georg Christoph Hamberger, fortgesetzt von Johann Georg Meusel, 5. Aufl., Bd. 1,

Katharina II. von Rußland - die Große?

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Gelehrten-Lexiko bei aller gebotenen Kürze hinreichend Belege an, „um den ehrenvollen Platz zu bezeichnen, der dieser Frau von viel umfassendem Geiste im Tempel des Literarischen Nachruhmes gebühret". 13 Und in einen anderen Tempel, einen „Deutschen Ehrentempel", wurde sie noch 1827 aufgenommen, habe sie sich doch „durch eigene Thätigkeit in Staatsgeschäften, neben dem grossen Friedrich, auf das Vortheilhafteste vor allen andern damaligen Grossen Europa's" ausgezeichnet. 14 Ohne ihre Ruhmsucht, die Kriege und ihren Eigennutz, schränkte Biester immerhin ein, könne Katharina als ein „Muster aller Regenten" gelten. Aber letztlich rechtfertigte er gar Rußlands Machtpolitik unter ihrer Regierung als naturbedingt: „Ein Reich größer als Alexanders Monarchie, als Roms besungene Weltherrschaft, in sich ganz zusammenhängend, itzt wohl geordnet, einfach organisirt, mit neuem Geiste beseelt, mußte nothwendig den mächtigsten Einfluß auf den Handel, die Finanzen, die Politik, ja selbst auf das Dasein der übrigen Staaten des Erdbodens haben; und es hatte ihn." 1 5 Doch gab es unter den deutschen aufklärerischen und gegenaufklärerischen Autoren auch solche, die Katharina schon zu ihren Lebzeiten öffentlich kritisierten, ihr „Ruhmbegierde" und „Eroberungssucht" vorwarfen, ihre Polenpolitik als völkerrechtswidrigen Despotismus anprangerten, hinter ihrem Bekenntnis zur Aufklärung nur ihre Machtinteressen verschleiert sahen, ihre Reformen im Inneren als unzulänglich darstellten, die Blütezeit des Adels und den Luxus des Hofes mit der Bedrückung der Bauern kontrastierten und einen verderblichen Einfluß der Favoriten auf ihre Regierung behaupteten. In einer Summe aller jener bis heute geläufigen Argumente befand 1797 ein Anonymus in seiner Schrift Katharine vor dem Richterstuhle der Menschheit, es müsse erst geprüft werden, „ob ihr wohl je [der Menschenfreund] den Beynahmen der Großen geben kann". Das Urteil nahm der Menschenfreund allerdings vorweg, habe sie doch „für das achtzehnte Jahrhundert, den Geist ihres Zeitalters und ihre eigenen Kenntnisse zu wenig, viel zu wenig gethan" und mit dem Ziel, „Vormünderin der ganzen Welt" zu werden, „die kühnsten Eroberungspläne mit Strömen von Menschenblut" ausgeführt. 16 Seither hat Katharina II. in einer von Männern dominierten Geschichte der Haupt- und Staatsaktionen wie auch in einer von Männern dominierten Geschichte der europäischen Aufklärung durch eine von Männern dominierte Geschichtsschreibung einen herausragenden, wenn auch nicht immer vornehmen Platz behalten oder jeweils von neuem zugemessen bekommen. Keinesfalls gehört sie zu jenen zahllosen Frauen, die mit historischen Methoden erst „sichtbar" gemacht und aufgewertet werden müssen. Kein anderer Monarch in Rußland - und ihr folgten bis zur Revolution von 1917 nur noch Männer auf dem Thron - hat zudem auf die Interpretation der eigenen Herrschaft persönlich stärker

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Lemgo 1796, S. 563 f.; Nachtrag im „Verzeichnis der in der fünften Ausgabe des gelehrten Teutschlandes vorkommenden verstorbenen Schriftsteller", ebd., Bd. 12, Lemgo 1806, S. 318 f. [Christian Gottlieb JÖCHER,] Fortsetzungen und Ergänzungen zu Christian Gottlieb Jöchers Allgemeinem Gelehrten-Lexiko, angefangen von Johann Christoph Adelung und fortgesetzt von Heinrich Wilhelm Rotermund, Bd. 3, Delmenhorst 1810, N D Hildesheim 1961, Sp. 122 f. Katharina II., Kaiserin von Rußland, Gotha 1827, S. 13, zitiert bei BIL BASOV, Katharina II. im Urtheile der Weltliteratur (wie Anm. 4), Bd. 2, S. 227 f.

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BIESTER, A b r i ß ( w i e A n m . 8), S. 1 1 8 .

16

Katharine II. vor dem Richterstuhle der Menschheit. Größtentheils Geschichte, St. Petersburg 1797, Zitate S. 5, 17, 49. Der Erscheinungsort ist fiktiv. Tatsächlich wurde die kleine Schrift bei Wolf in Leipzig gedruckt. Vgl. Svodnyj katalog knig na inostrannych jazykach, izdannych ν Rossii ν X V I I I veke. 17011800, Bde. 1-3, Leningrad 1984-1986, hier Bd. 3, Prilozenie IV, No. 20, S. 258. Überaus negativ ζ. B. auch das Urteil in der schlampig recherchierten Gelegenheitsschrift: Catharina die Zweite. Darstellungen aus der Geschichte ihrer Regierung, und die Anekdoten von ihr und einigen Personen, die um sie waren, (Altona) 1797.

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C l a u s Scharf

eingewirkt als Katharina. Durch ihre folgenreiche Politik wie als Autorin hat sie im Grunde selbst dafür gesorgt, daß ihre Herrschaft nicht in Vergessenheit geriet, nicht erst entdeckt werden muß, auch nicht von der modernen frauengeschichtlichen Forschung. Insofern gibt es keinen Anlaß, pathetisch für sie „historische Gerechtigkeit" zu fordern. N o c h weniger eignet sich eine absolute Herrscherin von Rußland als Galionsfigur für die Sache der Frauenemanzipation unserer Tage. Der einzige Nutzen, den sich der Autor von einer Betrachtung unter frauen- oder geschlechtergeschichtlichem Aspekt erhofft, sind neue oder wiederzugewinnende Einsichten in die europäische Geschichte des 18. Jh. Wer sich mit einem solchen seltenen Beispiel einer bedeutenden weiblichen Persönlichkeit in der von Männern geprägten Weltgeschichte beschäftigt, kann allerdings in der aktuellen historischen Frauenforschung nicht auf einhelliges Interesse rechnen. Nach einem ersten beachtlichen Aufschwung vor 1917 hat sich dieser noch immer junge Zweig der modernen Geschichtswissenschaft weder später in der Sowjetunion noch bisher in ihren Nachfolgestaaten überhaupt als eigene Disziplin etabliert, sieht man von verstreuten Ansätzen in der Bevölkerungs- und in der Familiengeschichte, in der Geschichte von Hygiene und Medizin, in der Bildungsgeschichte, in der Kulturgeschichte und in der sog. historischen Ethnographie ab. 17 Im deutschen Sprachraum hingegen hat sich die akademische Frauengeschichte der letzten zwei Jahrzehnte praktisch auf vier Gebiete konzentriert: erstens auf ihre theoretische Grundlegung sowie auf ihre wissenschaftliche und politische Legitimation, zweitens auf die Geschichte der organisierten Frauenbewegung, drittens auf Sozial- und Familiengeschichte und viertens auf Literatur- und Kunstgeschichte. Und soweit eine maßgebliche Fraktion in der deutschsprachigen frauengeschichtlichen Forschung ihr Selbstverständnis ausschließlich aus dem gesellschaftskritischen Geist der Sozialgeschichte zieht, widerspricht es anscheinend ihrem emanzipatorischen Erkenntnisinteresse, sich überhaupt einer Weltgeschichtsschreibung zuzuwenden, die sie durch die Normen der Männerdominanz, durch „Männerlogik" konstituiert sieht. Wer dennoch gleichsam als die niedrigste Stufe der frauengeschichtlichen Betätigung - „weibliche Beiträge und Ergänzungen zur allgemeinen Geschichte" erforscht, setzt sich in Deutschland dem Vorwurf aus, daß er „männliche Maßstäbe" unreflektiert beibehält, tendenziell die „regelhafte männliche Überlegenheit" bestätigt, Frauen nur in einer Ausnahmesituation zeigt, ohnehin Geschichte personalisiert und „eher für Bewunderung als Nachahmung" wirbt. 18 N o c h krasser ernüchtert das einflußreiche Urteil von Simone de Beauvoir: „ . . . die wirkliche Führung der Welt lag nie in den Händen von Frauen." Und gegen den auch ihr vorstellbaren Einwand, es gebe doch in der Geschichte Frauen, deren Werke mit denen von Männern zu vergleichen seien, machte sie apodiktisch geltend, dies seien solche gewesen, die kraft der sozialen Institutionen über jeder einseitig sexuellen Differenzierung gestanden hätten: „Isabella die Katholische, Elisabeth von England, Katharina von Rußland

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Vgl. die familiengeschichtlich orientierte, k n a p p e , aber durchaus repräsentative kommentierte Auswahlbibliographie: H a r o l d M . L E i c H / J u n e PACHUTA, A n n o t a t e d Bibliography, in: D a v i d L . RANSEL (Hg.), T h e Family in Imperial Russia. N e w Lines of Historical Research, U r b a n a , III. 1978, S. 3 0 5 - 3 3 5 . Eher auf dem U m w e g über die Rezeption der vorrevolutionären u n d der westlichen frauengeschichtlichen F o r s c h u n g wagen sich einzelne russische Historiker auf das lange Zeit vernachlässigte Gebiet. Vgl. die Präsentation von zwei Beispielen in engl. Übers.: R u s s i a n Studies in H i s t o r y 33 (1994), N o . 2.

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B o d o von BORRIES, Forschen und Lernen an Frauengeschichte. Versuch einer Zwischenbilanz, in: Ruth-Ellen B. JOERES/Annette KUHN (Hg.), Frauen in der Geschichte VI: Frauenbilder u n d Frauenwirklichkeiten. Interdisziplinäre Studien zur Frauengeschichte in D e u t s c h l a n d im 18. u n d 19. Jahrhundert, D ü s s e l d o r f 1985, S. 4 9 - 8 9 , hier S. 5 5 - 5 7 ; ders., Unterricht über Frauengeschichte - Wege u n d Schritte, in: B o d o von BORRIES/Annette KUHN (Hg.), Frauen in der Geschichte VIII: Zwischen Muttergottheiten u n d Männlichkeitswahn. Frauengeschichtliche Unterrichtsmodelle für die S e k u n d a r s t u f e I, D ü s s e l d o r f 1986, S. 9 - 1 9 .

Katharina II. von Rußland - die Große?

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waren weder männlich noch weiblich, sie waren Herrscher." 1 9 Bei allem Respekt: Ein so radikales Urteil provoziert nicht nur die sympathisierende Leserinnengemeinde vieler romanhafter Katharina-Biographien oder neugierige Besucherinnen der Schlösser von St. Petersburg und Umgebung. Es widerspricht mindestens Katharinas Verständnis von ihrer weiblichen Identität, letztlich gar manchen entgegengesetzten Äußerungen Simone de Beauvoirs selbst 20 , und eine überzeugende geschlechterhistorische Forschungsstrategie läßt sich gewiß auch aus einer sich feministisch begründenden Neutralisierung des Geschlechts, und sei es mancher Frauen oder mancher Männer, nicht entwickeln. Als eine andere Welt hebt sich wieder einmal die Neue Welt ab. Nicht nur gebührt der nordamerikanischen wie auch der britischen Rußlandgeschichtsschreibung der letzten drei Jahrzehnte das Verdienst, Katharinas Regierungszeit zu einem modernen Forschungsgebiet entwickelt zu haben. 2 1 Englischschreibende Historikerinnen und Historiker unserer Tage haben vielmehr auch in Anknüpfung an die fortgeschrittene angelsächsische historische Frauenforschung vielfältige Probleme der russischen Geschichte des 18. Jh. unter geschlechterhistorischem Aspekt untersucht, darunter so durchaus politische Themen wie „female rule" und Favoritismus, die elitären Heiraten der Hofparteien, die geschlechtsspezifische Erziehung der Thronfolger und den Militarismus. 2 2 D a ß im Englischen aber nicht nur populäre Biographien, sondern auch bedeutende Forschungsleistungen unter dem Titel „Catherine the G r e a t " erscheinen, ist eher nicht auf ein günstigeres Klima für die Frauengeschichte zurückzuführen, sondern auf eine unbefangenere Einstellung einerseits zu einer heroischen, also ausgerechnet prononciert maskulinen historiographischen Tradition seit Thomas Carlyle, andererseits zu den kommerziellen Interessen von Verlagen, Autorinnen und Autoren. Nie hatte sich hingegen für Katharina II. der Beiname „die G r o ß e " in der russischen Geschichtsschreibung durchgesetzt, erst recht nicht seit 1917 in der Sowjethistoriographie, und nur wenige französische Beispiele sind zu ermitteln. Wenn er jedoch in den letzten Jahren in Rußland immer häufiger verwendet wird, so zeugt dies am meisten für die zunehmende Rezeption der angelsächsichen historischen Forschung. In der deutschsprachigen biographischen Tradition seit den 1830er Jahren erschien fast ausnahmslos allein populärer Lesestoff unter dem Titel „Katharina die G r o ß e " . Überhaupt verebbte in der historisch-politischen Literatur Deutschlands im Vormärz die kosmopolitische und zugleich patriotische Begeisterung für die aufgeklärte Monarchin zunächst im Zeichen der liberalen und der katholischen Parteinahme für

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Simone de B E A U V O I R , Le Deuxieme Sexe ( 1 9 4 9 ) , dt. Neuübers.: Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau, Reinbek bei Hamburg 1992, S. 181 f. Ebd., S. 142-145. Überaus nützlich, inzwischen längst wieder ergänzungsbedürftig: Philip C L E N D E N M N G / R o g e r B A R T L E T T , Eighteenth Century Russia: A Select Bibliography of Works Published since 1955, Newtonville 1981. Brenda MEEHAN-WATERS, Catherine the Great and the Problem of Female Rule, in: Russian Review 34 (1975), S. 2 9 3 - 3 0 8 ; Richard S. WORTMAN, T h e Empress as Mother, in: RANSEL, T h e Family in Imperial Russia (wie Anm. 17), S. 6 0 - 7 4 ; ders., Images of Rule and Problems of Gender in the Upbringing of Paul I and Alexander I, in: Ezra M E N D E L S O H N / M a r s h a l l S . SHATZ (Hg.), Imperial Russia 1700-1917. State Society - Opposition, Essays in Honor of Marc Raeff, DeKalb, 111. 1988, S. 5 8 - 7 5 ; David L. RANSEL, An Ambivalent Legacy: T h e Education of Grand Duke Paul, in: Hugh RAGSDALE (Hg.), Paul I: A Reassessment of His Life and Reign, Pittsburgh 1979, S. l - 1 6 ; J o h n T . ALEXANDER, Politics, Passions, Patronage: Catherine II and Petr Zavadovskii, in: Roger P. B A R T L E T T / A n t h o n y G . CROss/Karen RAS.WLSSEN (Hg.), Russia and the World of the Eighteenth Century, Columbus, O h i o 1988, S. 6 1 6 - 6 3 3 ; ders., Catherine the Great. Life and Legend, N e w Y o r k / O x f o r d 1989; ders., Favourites, Favouritism and Female Rule in Russia, 1 7 2 5 1796, in: B A R T L E T T / Janet M. H A R T L E Y (Hg.), Russia in the Age of the Enlightenment. Essays for Isabel de Madariaga, London 1990, S. 106-124; Anthony CROSS, Catherine the Great: Views from the Distaff Side, ebd., S. 2 0 3 - 2 2 1 .

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Claus Scharf

Polen und in der Gegnerschaft zum spätabsolutistischen Machtkartell der drei schwarzen Adler. Nach 1848, erst recht nach dem politischen Bündnis zwischen Rußland und Frankreich in den neunziger Jahren und nochmals gesteigert während des Ersten Weltkriegs entrüsteten sich deutschnationale Historiker dann vor allem über die französische Bildung der Kaiserin und ihre kompromißlose Wahrnehmung russischer Interessen.23 Doch Mächtekonstellationen und ideologische Fronten erklären allein nicht hinreichend, warum sich zu einer Zeit, in der die bürgerliche Geschichtsschreibung Weltgeschichte vornehmlich durch das Handeln großer Persönlichkeiten bestimmt sah, Katharina aus der Konkurrenz um historische Größe eher stillschweigend als durch geschichtswissenschaftliche Beweisführungen ausschied. Jacob Burckhardts klassischer Text Die Individuen und das Allgemeine (Die historische Größe) aus den sog. Weltgeschichtlichen Betrachtungen mag als Schlüssel dienen. Es schmerzt, daß es nicht etwa ein bornierter Chauvinist, sondern dieser abwägende und ideologiekritische, kluge und sympathische Weltbürger aus Basel war, der jene „einzelnen Individuen", in denen sich die Weltbewegung konzentriere, in anstößiger Selbstverständlichkeit mit den „großen Männern" gleichsetzte.24 Der gleiche Burckhardt, der 1860 Die Cultur der Renaissance in Italien noch wesentlich dadurch bestimmt gesehen hatte, „daß [in der höheren Geselligkeit] das Weib dem Manne gleichgeachtet wurde"25, sah einige Jahre danach in seinem mehrfach überarbeiteten Vorlesungstext „Staaten, Religionen, Culturen und Crisen" ausschließlich in großen Männern resümiert: „Weit das größte Beispiel Alexander der Große dann Carl der Große, Peter der Große, Friedrich der Große." 26 Und obwohl dem Kritiker seiner Zeit die „heftige heutige Nachfrage nach großen Männern" mißfiel, findet sich nirgends in diesen so anregenden Weltgeschichtlichen Betrachtungen auch nur ein Gedanke, es könne je in Politik, Religion und Kultur große Frauen gegeben haben. Daß er Katharina nicht in Betracht zog, lag übrigens nicht etwa an seiner mangelnden Kenntnis. Vielmehr beurteilte er ihre Politik durchweg als unmoralisch.27 Soweit es um Katharinas Nachleben geht, spaltete sich zudem die Literatur gleich mehrfach auf. Für die russische Geschichtswissenschaft vor und nach der bolschewistischen Revolution sind wenigstens zwei miteinander eng verbundene Hauptursachen dafür anzuführen, daß sich überhaupt nur wenige Historiker vom Fach mit Forschungen zu Katharinas Biographie beschäftigt haben. Einerseits hemmte die Zensur im autokratischen Rußland und in der Sowjetunion den Zugriff auf brisante Dokumente in den Archiven, die Publikation wichtiger biographischer Quellen, die Ubersetzung im Ausland erschienener Schriften, die wissenschaftliche Bearbeitung ganzer Themenbereiche und zusätzlich die offene Darstellung politisch und moralisch als heikel empfundener, wenigstens zum Teil auch geschlechtergeschichtlich aufschlußreicher Details. Tabuisiert waren vor der Revolu23

Vgl. vor allem Theodor SCHIEMANN, Geschichte Rußlands unter Kaiser Nikolaus I., Bde. 1-4, Berlin 1904-1919, hier Bd. 1: Kaiser Alexander I. und die Ergebnisse seiner Lebensarbeit, S. 4 - 2 0 ; ders., Katharina II. und Potemkin, in: Ders., Russische Köpfe, Berlin 1916, S. 8 7 - 1 2 3 , 2 . Aufl. 1919; ders., Katharina II. Eine Charakteristik, in: Wissenschaftliche Vorträge, gehalten auf Veranlassung Sr. Exz. des Herrn General-Gouverneurs Hans Hartwig von Beseler in den Kriegsjahren 1 9 1 6 / 1 7 , Berlin 1918, S. 115-136; Wilhelm RATH, Das Deutsche in Katharina II., in: Konservative Monatsschrift 74 ( 1 9 1 6 / 1 7 ) , Dezember-

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Jacob BURCKHARDT, Über das Studium der Geschichte. Der Text der Weltgeschichtlichen Betrachtungen' auf Grund der Vorarbeiten von Ernst Ziegler nach den Handschriften hg. von Peter Ganz, München 1982,

25

Jacob BURCKHARDT, Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch (1860), 13. Aufl., hg. von Walter Goetz, Leipzig 1922, S. 291. BURCKHARDT, Über das Studium der Geschichte (wie Anm. 24), S. 392 f. Vgl. seine Vorlesung über die europäische Geschichte zwischen dem Siebenjährigen Krieg und den napoleonischen Kriegen: Ernst ZIEGLER (Hg.), Jacob Burckhardts Vorlesung über die Geschichte des Revolutionszeitalters in den Nachschriften seiner Zuhörer, Basel/Stuttgart 1974.

heft, S. 2 1 0 - 2 1 7 .

S. 3 7 7 - 4 0 5 .

26 27

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tion insbesondere die gewaltsame Eroberung des Throns im Jahre 1762, die ungeahndete Tötung des rechtmäßigen Kaisers Peter III. und 1764 eines weiteren Thronanwärters, auch wenn Katharina im strafrechtlichen Sinne kein Gattenmord und in beiden Fällen nicht einmal Anstiftung zum Mord angelastet werden kann, desweiteren die wohl illegitime Geburt des Thronfolgers Paul, von dem das gesamte Kaiserhaus des 19. J h . abstammte, dazu die peinlich lange Reihe ihrer Günstlinge, schließlich gegen Ende ihres Lebens die nachweisliche Absicht, erneut die Thronfolge zu korrigieren, diesmal zugunsten ihres Enkels Alexander gegen ihren Sohn Paul. Zwei Beispiele dafür, daß bei der Unterdrückung der Pressefreiheit nicht nur politische Motive eine Rolle spielten, sondern auch Verstöße gegen Tugend und Moral indiziert wurden, mögen genügen. Katharinas autobiographische Texte, von denen Alexander Herzen einen Teil als „Memoiren" 1859 in London veröffentlichte 2 8 , bedeuteten zwar in ganz Europa eine literarische Sensation, blieben aber wegen ihrer Offenherzigkeit bis zum Ende des 19. J h . in Rußland verboten. Obwohl dort nach der Revolution von 1905 offiziell die Zensur aufgehoben wurde, verhinderte es das Herrscherhaus dennoch, daß 1907 in die Akademieausgabe der autobiographischen Aufzeichnungen Katharinas jene Hinweise aufgenommen wurden, die ihren Liebhaber Sergej Saltykov statt ihren Gemahl als Vater Pauls wahrscheinlich machten. 2 9 Und die prüden sowjetischen Zensurbehörden verhinderten ζ. B. seit den dreißiger Jahren unseres Jahrhunderts den Abdruck der zwar intimen, aber politisch belanglosen Liebesbriefe Katharinas an Potemkin. 1934 konnten sie nur im Ausland in einer französischen Ausgabe und erst im Zeichen von perestrojka und glasnost' 1989 in Moskau erscheinen. 3 0 Andererseits beeinflußt Zensur aber nicht nur Arbeitsbedingungen, sondern auch Erkenntnisinteressen. So vereinbarte es sich schon vor 1917 nicht mit dem wissenschaftlichen Ethos und dem gesellschaftlichen Selbstverständnis vieler russischer Historiker, dem Haus Romanov Herrscher- und Herrscherinnenbiographien zu widmen, solange die Forschung gerade auf diesem Felde keine Freiheit genoß. Selbst die Werke der beiden besten Kenner der Geschichte von Leben und Herrschaft Katharinas II. vor 1905, Alexander Brückner und Vasilij Bil'basov, erschienen unzensiert zuerst nicht im Russischen Reich, sondern im wilhelminischen Deutschland. 31 Andere russische Autoren reagierten auf die Restriktionen mit einer Publikationspraxis, die mehr einem Enthüllungsjournalismus glich, als daß sie sich an wissenschaftlichen Kriterien orientierte. Aber die überwiegend liberale Geschichtsschreibung konzentrierte sich teils affirmativ, teils kritisch auf Katharinas Außenpolitik und Kriege, auf die territoriale Expansion des Reiches, auf die Reformen des aufgeklärten Absolutismus als Etappen auf dem langen Wege zur Konstitutionalisierung Rußlands, auf die Versuche, die ökonomische Rückständigkeit zu überwinden, auf die Vorgeschichte der sozialen Probleme des späten Zarenreichs, auf die Frühgeschichte der gesellschaftlichen Bewegungen und auf die Förderung von Bildung und Kultur durch die Kaiserin. [Ekaterina II,] Memoires de l'imperatrice Catherine II, ecrites par elle-meme [hg. von Alexandre Herzen], Londres 1859. 29

EKATERINA II, Avtobiograficeskie zapiski, in: [Dies.,] Socinenija imperatricy Ekateriny II na osnovanii podlinnych rukopisej i s ob-jasnitel'nymi primecanijami Aleksandra Nikolaevica Pypina, Bde. 1 - 5 , 7 - 1 2 , S.-Peterburg 1 9 0 1 - 1 9 0 7 , hier Bd. 12. Zur Zensur dieser Ausgabe und zum Forschungsstand vgl. Sergej Leonidovic PESTIC, Russkaja istoriografija X V I I I veka, Tie. 1 - 3 , Leningrad 1 9 6 1 - 1 9 7 1 , hier Tl. 2, S. 2 6 3 ; MADARIAGA, Russia (wie Anm. 2), S. 10 f.; ALEXANDER, Catherine the Great (wie A n m . 22), S. 4 4 - 4 6 .

30

Georges OLDARD (Hg.), Lettres d'amour de Catherine II Ä Potemkine. Correspondence inedite, Paris 1934; Natan Jakovlevii EJDELMAN (Hg.), Pis'ma Ekateriny II G. A. Potemkinu, in: Voprosy istorii 1989, N o . 7, S. 1 1 1 - 1 3 4 ; N o . 8, S. 1 1 0 - 1 2 4 ; N o . 9, S. 9 7 - 1 1 1 ; N o . 10, S. 1 0 2 - 1 1 6 ; N o . 12, S. 1 0 7 - 1 2 3 .

31

Alexander BRÜCKNER, Katharina die Zweite ( = Allgemeine Geschichte in Einzeldarstellungen, hg. von Wilhelm Oncken, Dritte Hauptabtheilung, Tl. 10), Berlin 1883; B. von Bilbassoff [Vasilij Alekseevic BIL BASOV], Geschichte Katharina II., Bde. 1 - 2 / 2 , 3. Aufl., Berlin 1 8 9 1 - 1 8 9 3 .

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Im Blick auf die historiographische Situation außerhalb der russischen Grenzen ist es ein hier gewiß nur vereinfacht darzustellender, aber doch geschlechterhistorisch relevanter Befund, daß sich die etablierte, männlich dominierte Geschichtsschreibung von den dreißiger Jahren des 19. bis zu den siebziger Jahren des 20. Jh., bemüht um akademische Seriosität, gleichfalls auf die politische, militärische und kulturelle, verstanden als die „allgemeine" Geschichte Rußlands unter Katharina II. beschränkte. Hingegen belieferten nicht zur Zunft zu rechnende Autoren und vor allem Autorinnen einen eher nichtakademischen, durch Ubersetzungen internationalen Markt mit zahllosen romanhaften Biographien unter Auswertung vor allem der Memoirenliteratur, aber zumeist ohne wissenschaftlichen Anspruch. Gewiß verdient dieser Lesestoff erst noch eine intensivere Erforschung. 3 2 D o c h kann einstweilen vermutet werden, daß es hauptsächlich das „Frauen"-Schicksal der Kaiserin und die Amouren der höfischen Gesellschaft waren, die solchen Schriften bürgerliche Leserinnen und Leser gewannen. Jedenfalls ist nicht den Universitätsprofessoren und ihren Doktoranden das bis heute anhaltende populäre Interesse f ü r die Lebensgeschichte der Kaiserin zu verdanken, an das seit den zwanziger Jahren auch die Filmindustrie in Europa und in Hollywood nahtlos anknüpfen konnte. 3 3 Erst in den erwähnten englischsprachigen Forschungen seit den siebziger Jahren finden allmählich Frauen- und Weltgeschichte wieder zueinander 3 4 , die zuletzt in der spätaufklärerischen Historiographie vereint gewesen waren, sei es in Biesters apologetischem Abriß des Lebens und der Regierung

der Kaiserinn Katharina II. von Rußland, sei es in der Anklageschrift Katharine II. vor dem Richterstuhle der Menschheit. Aber sogar schon deren despotismuskritischer Verfasser, vermutlich ein radikaler bürgerlicher Aufklärer aus den Ostseeprovinzen, ließ keinen Zweifel daran, was er von Akteurinnen der Weltgeschichte hielt, stellte er doch von vornherein seine Abrechnung unter das Livius-Motto: „Initium turbandi omnia a femina ortum est." 35 Zudem wäre in dieser Broschüre noch exemplarisch eine weitverbreitete Männerphantasie zu entschlüsseln, die Katharinas „heißen Durst nach R u h m " und ihre Eroberungslust einerseits und andererseits das Trinken der Favoriten „mit der Monarchin aus dem feurigen Becher der Wollust" zu einem moralischen Gesamturteil verknüpft. 3 6 Eine Zwischenbilanz ergibt somit in der Sprache der Börse eine auffällig uneinheitliche Tendenz. Behauptet hat sich seit der Spätaufklärung Katharinas Kurswert als Herrscherin von welthistorischem Rang. Als eine bedeutende Frau, die den Beinamen „die G r o ß e " verdient, wurde sie jedoch überwiegend nur noch außerhalb des Geschäftsbereichs der professionellen Geschichtsschreibung notiert, dort allerdings mit beachtlichen Umsätzen. Der Schluß liegt nahe: H a t sich seit dem 18. Jh. kaum verändert, was die akademischen Historiker für Weltgeschichte halten, so m u ß sich wohl ihr Frauenbild gewandelt haben. In der Tat: Die geschlechterhistorische Forschung der letzten Jahre hat deutlich gemacht, daß erstens seit der Französischen Revolution der Anspruch der Bürger auf staatsbürgerliche Gleichheit nicht die Bürgerinnen einschloß 3 7 und daß zweitens die gesell32

33 34 35 36 37

Unzulänglich die Dissertation von Ekkehard W . BORNTRÄGER, Katharina I I . Die „Selbstherrscherin aller Reussen". Das Bild der Zarin und ihrer Außenpolitik in der westlichen Geschichtsschreibung, Freiburg (Schweiz) 1991. Vgl. dazu jetzt ALEXANDER, Catherine the Great (wie Anm. 22). Vgl. oben Anm. 22. Katharine II. vor dem Richterstuhle der Menschheit (wie Anm. 16), Titelblatt. Ebd., S. 56-59. Mit Nachweisen auch der internationalen Forschung vgl. Viktoria S C H M I D T - L I N S E N H O F F (Hg.), Sklavin oder Bürgerin? Französische Revolution und neue Weiblichkeit 1760-1830, Frankfurt a. M. 1989; Elke HARTEN/Hans Christian HARTEN, Frauen - Kultur - Revolution 1789-1799, Pfaffenweiler 1989; Marie-

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schafiliche Arbeitsteilung des bürgerlichen Zeitalters die Ausprägung der modernen „Geschlechtscharaktere" förderte. 38 Insofern hat sich die geschlechterhistorische Problemstellung bereits bewährt, geschichtsmächtige bürgerliche Werturteile des 19. J h . zusätzlich als moderne Männerideologie zu durchschauen. D o c h ist es eine andere Frage, ob, wenn auch nur in dem begrenzten Blickwinkel auf eine aufgeklärte Selbstherrscherin, authentische Züge des 18. j h . hinter seinen im 19. erlittenen Deformationen entdeckt werden können. Als Kontrast sei eine Schäferidylle aus dem Ancien regime nacherzählt: Am 11. April 1776 wurde in Rom Karoline Luise von Baden, nicht wegen ihres aufgeklärten Gemahls, des Markgrafen Karl Friedrich, sondern wegen ihrer persönlichen Verdienste um die Förderung von Aufklärung und Künsten feierlich, zum Bedauern der Veranstalter in absentia, in die Literatur- und Kunstakademie Arcadia aufgenommen. 3 9 Zu diesem Festakt traf pünktlich der Schriftsteller Friedrich Melchior Grimm ein, der gerade zwei junge russische Adlige, die Söhne Nikolaj und Sergej des gegen die Türken erfolgreichen Feldmarschalls Petr Aleksandrovic Rumjancev, auf ihrer Kavaliers- und Bildungstour durch Europa begleitete. Grimm stammte aus Regensburg, lebte seit den fünfziger Jahren in Paris, genoß die Achtung und Freundschaft der führenden französischen Aufklärer um Voltaire und die Enzyklopädisten und war diesen insbesondere unentbehrlich als Vermittler ihrer Botschaft und ihrer materiellen Interessen bei den Höfen im Heiligen Römischen Reich und überall, wo zwischen Florenz und Petersburg Fürsten deutscher Herkunft regierten. Vor allem aber war er ein enthusiastischer Verehrer der klugen Monarchinnen seiner Zeit. 4 0 So kam Grimm auch nach Rom als Mitwirkender an der Ehrung der badischen Markgräfin, denn er hatte für einen Auftritt der berühmten Improvisatorin Corilla das Thema gestellt: „ O b dieses Jahrhundert, in welchem die Frauen gelehrter und höher geehrt sind, auch ein für die Männer glückliches und rühmliches sei." Begleitet von Harfe und Violine, pries die Künstlerin, in grober Schäferkleidung, versteht sich, vor den Mitgliedern der Arcadia, dem Adel und den Prälaten der Ewigen Stadt, dann vor allem die Persönlichkeiten und die Taten Maria Theresias und Katharinas, verhieß der Laureatin aber immerhin noch, daß sie „zwischen beiden, die zu den Wundern unseres Jahrhunderts zählen, auch [ . . . ] ihren leuchtenden Platz finde". Sich über Grimms rhetorische Sorge um das Wohl der Männer zu amüsieren, ist zwar erlaubt, dient jedoch allein ebensowenig der Erkenntnis wie das in der Geschichtsschreibung weitverbreitete bürgerliche Werturteil, das solche Lobredner als Schmeichler und die Empfänger des Lobs als ruhmbegierig denunziert. Die Szene verhilft vielmehr zu einer

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luise CHRISTADLER (Hg.), Freiheit, Gleichheit, Weiblichkeit. Aufklärung, Revolution und die Frauen in Europa, Opladen 1990. Karin HALSEN, Die Polarisierung der „Geschlechtscharaktere" - eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben, in: Werner CONZE (Hg.), Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas, Stuttgart 1976, S. 363-393; Gisela BOCK, Historische Frauenforschung: Fragestellungen und Perspektiven, in: Karin HALSEN (Hg.), Frauen suchen ihre Geschichte. Historische Studien zum 19. und 20. Jahrhundert, München 1983, S. 2 2 - 6 0 ; dies., Geschichte, Frauengeschichte, Geschlechtergeschichte, in: G e s c h i c h t e u n d G e s e l l s c h a f t 14 ( 1 9 8 8 ) , S. 3 6 4 - 3 9 1 .

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40

Im folgenden nach der Darstellung von Jan LAUTS, Karoline Luise von Baden. Ein Lebensbild aus der Zeit der Aufklärung, Karlsruhe 1980, S. 379-381. Jochen SCHLOBACH, Die frühen Abonnenten und die erste Druckfassung der Correspondance litteraire, in: Romanische Forschungen 82 (1970), S. 1-36; ders., Französische Aufklärung und deutsche Fürsten, in: Zeitschrift für historische Forschung 17 (1990), S. 327-349; ders., Grimm in Paris. Ein Kulturvermittler zwischen Deutschland und Frankreich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: Jean MONDOT/JeanMarie VALENTIN/Jürgen Voss (Hg.), Deutsche in Frankreich - Franzosen in Deutschland 1715-1789. Institutionelle Verbindungen, soziale Gruppen, Stätten des Austausches, Sigmaringen 1992, S. 179-189.

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Ansicht der Kommunikationsstruktur zwischen den gekrönten Häuptern und den philosophischen Schriftstellern, zwischen Absolutismus und Aufklärung.41 Geltung erlangte der Begriff des aufgeklärten Absolutismus als Typenbegriff der modernen Geschichtswissenschaft für einen Regierungsstil und eine forcierte Reformpolitik in vielen europäischen Fürstenstaaten zwischen 1740 und 1789. Doch „ein europäisches Problem" ist der aufgeklärte Absolutismus nicht allein, weil die gleichzeitigen historischen Erscheinungsformen des Typus innerhalb einer Epoche von wenigen Jahrzehnten stets von neuem zu vergleichender Betrachtung einladen.42 Diese Bedeutung bedarf vielmehr der Ergänzung durch die Explikation einer keineswegs neuen Beobachtung: Der aufgeklärte Absolutismus war auch „a broad and complex European phenomenon", so Leo Gershoy43, „mehr als eine Summierung ähnlicher Erscheinungen in mehreren Staaten", so Karl Otmar Freiherr von Aretin.44 Aus seinen Anfängen in einzelnen Staaten, insbesondere im Preußen Friedrichs II., entfaltete er sich zu einem transnationalen System mit bedeutenden Interaktionen zwischen den einzelnen aufgeklärten Monarchen, ihren gebildeten Gemahlinnen, ihren Häusern und Höfen, ihren leitenden Ministern und Diplomaten und ihrer gesamten Klientel. Dieses europäische System des aufgeklärten Absolutismus entstand in einem bestimmten Zeitpunkt als die Schnittmenge zweier anderer Systeme, einerseits der fortdauernden „Solidarität der Throne", der traditionalen und sich immer wieder, auch nach dynastischen Krisen, erneuernden Gemeinsamkeit der souveränen Herrscher und der europäischen Aristokratie45, andererseits des sich ausbreitenden und verdichtenden Kommunikationsnetzes der europäischen Aufklärung.46 Gegenüber diesen beiden übermächtigen Systemen, aus denen sich seine Entstehung ableitet, gewann das neue System nur eine begrenzte Autonomie. Einerseits blieb es dominiert von den machtpolitischen Interessen und der Konkurrenz der Herrscherhäuser und Staaten und wurde durch deren Konflikte, vor allem den Siebenjährigen Krieg, erheblich beeinträchtigt. Andererseits definierte sich die Zugehörigkeit zum europäischen System des aufgeklärten Absolutismus durch die Anerkennung der Regeln der aufklärerischen Kommunikation. Die charakteristische Interaktion seiner Mitglieder bestand sogar vornehmlich aus der Kommunikation miteinander und mit maßgeblichen Aufklärern durch Korrespondenzen und Begegnungen, durch den Austausch von Ideen und Erfahrungen sowie durch gemeinsames Handeln zur Förderung der Aufklärung. Grundsätzlich fand diese Kommunikation, soweit sie als Teil des aufklärerischen Diskurses gelten wollte, öffentlich statt. Gegenstand einer permanenten öffentlichen, somit „politischen" Diskus41

Hierzu und zum folgenden nach SCHARF, Katharina II., Deutschland und die Deutschen (wie Anm. 1), S. 4 4 - 5 1 .

42

Karl O t m a r Freiherr von ARETIN, Einleitung: Der Aufgeklärte Absolutismus als europäisches Problem, in: Ders. (Hg.), Der Aufgeklärte Absolutismus, Köln 1974, S. 1 1 - 5 1 ; Manfred KOSSOK, Der aufgeklärte Absolutismus. Überlegungen zum historischen O r t und zur Typologie, in: Zs. für Geschichtswiss. 33 (1985), S. 6 2 2 - 6 4 5 .

43

Leo GERSHOY, F r o m Despotism to Revolution. 1 7 6 3 - 1 7 8 9 , N e w Y o r k / E v a n s t o n / L o n d o n 1944, N D 1963, S. 3 1 8 .

44

Karl O t m a r Freiherr von ARETIN, Der Aufgeklärte Absolutismus als europäisches Problem, in: D o c u m e n tatieblad Werkgroep 18e-eeuw N r . 4 9 / 5 0 (1981), S. 1 1 - 2 3 , hier S. 21.

45

Heinz GOLLWITZER, Europabild und Europagedanke. Beiträge zur deutschen Geistesgeschichte des 18. und

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Vgl. dazu Michael MAURER, Europäische Kulturbeziehungen im Zeitalter der Aufklärung. Französische

19. Jahrhunderts, München 1951, 2. Aufl. 1964, S. 5 0 - 5 2 . und englische Wirkungen auf Deutschland, in: Das achtzehnte Jahrhundert 15 (1991), S. 3 5 - 6 1 ; Jerzy WOJTOWICZ, Korrespondenzzirkel als Kommunikationsgruppen im Zeitalter der Aufklärung. Vorschläge Postulate - Forschungsmöglichkeiten, in: Alexandra D u j u / E d g a r H ö s c H / N o b e r t OELLERS (Hg.), Brief und Briefwechsel in Mittel- und Osteuropa im 18. und 19. Jahrhundert, Redaktion: Wolfgang Kessler, Essen 1989, S. 2 7 1 - 2 8 2 .

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sion war auch die Frage, welche Monarchen der grenz- und ständeüberschreitenden „republique des lettres", der „Aufklärungspartei" zuzurechnen waren und welche Kriterien darüber entscheiden sollten. Doch nicht nur die großen Konfliktlagen der zweiten Hälfte des 18. J h . verbieten es, sich die Kommunikation innerhalb jenes transnationalen Systems des aufgeklärten Absolutismus ideell als Diskurs von Gleichberechtigten, spannungs- und herrschaftsfrei vorzustellen. Erstens resultierten Konflikte aus dem latenten Widerspruch zwischen absolutem Machtanspruch der Fürsten und aufklärerischem Denken, ob es auf Rationalität oder auf Emanzipation gerichtet war. Zudem nutzten die Öffentlichkeit alsbald auch „Gegenaufklärer" und als Gegenöffentlichkeit Gegner der Monarchen. Zweitens bestand in der Familie der Könige die Hierarchie fort. Sie wurde noch überlagert durch die von den Aufklärern selbst konstituierte Rangfolge der aufgeklärten Herrscher, die ihre Ideale aus Geschichte und Gegenwart in aller Regel nicht etwa dem europäischen Kleinstaat entlehnten. Drittens war aber auch die öffentliche Meinung des europäischen Ancien regime hierarchisch strukturiert und in Einflußsphären aufgeteilt, die gleichfalls von der Mächtekonkurrenz geprägt waren, ohne jedoch mit der politischen Gliederung Europas und den Klientelsystemen der großen Mächte kongruent zu sein. Zwar gewann die englische Kultur seit der eindeutigen Vorherrschaft der französischen unter Ludwig X I V . erheblich an Ausstrahlungskraft, doch mindestens auf dem Kontinent standen seit den fünfziger Jahren an der Spitze dieser Hierarchie, nicht zuletzt als Wegbereiter den englischen Einflusses, Voltaire, Montesquieu und die Enzyklopädisten. 4 7 Obwohl aber deren ausschlaggebende Bedeutung für die Übernahme aufklärerischer Ideen durch die Fürsten in Europa weitgehend bekannt ist, hat die Forschung bisher nicht konsequent genug berücksichtigt, daß diese „Philosophen" auch darüber befanden, welche Höfe ihrer Zeit als aufgeklärt anzusehen waren. 48 Das angemaßte Amt der „Philosophen" beanspruchte seine Würde nicht zuletzt aufgrund der Pflicht, der Nachwelt zu dokumentieren, welche Herrscher unter den großen Geistern der Zeit als Kandidaten für eine posthume Zuerkennung von historischer Größe und „Unsterblichkeit" in Betracht kamen. Trotz der Bemühungen um Quellenkritik und historistische Abwägung lebte auch die humanistische Orientierung an den Maßstäben der antiken, insbesondere der römischen Schriftsteller Tacitus und Plutarch fort. Vor dem Hintergrund ihres säkularisierten Weltverständnisses erlaubten sich die „Philosophen" sogar selbstbewußt das sakrale Sprachspiel, als „Hohepriester" über die Zugehörigkeit zur „Universalkirche der Aufklärung" zu entscheiden und neue Mitglieder zu „weihen". Und es war der in der Geschichtsschreibung überwiegend geringschätzig behandelte Grimm, der mit seinem Talent zur Kommunikation als der „Prophet" die deutschen Fürsten und vor allem Fürstinnen „missionierte" oder, war der Kontakt einmal hergestellt, seine Pflege betrieb und sich beiden Seiten des Geschäfts unentbehrlich machte. 4 9 Die Ideologiekritik greift jedoch erheblich zu kurz, wenn sie sich darauf beschränkt, die Beziehungen zwischen absoluten Herrschern und aufgeklärten Philosophen mit dem mehr oder weniger begründeten Hinweis auf solche wechselseitigen zeitlichen Interessen moralisch zu diskre-

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Andre ROUSSEAU, L'Angleterre et Voltaire, Bde. 1-3, (= Studies on Voltaire and the Eighteenth Century, Bde. 145-147), Oxford 1976; Robert SHACKLETON, Montesquieu. A Critical Biography, London 1961; Michael MAURER, Aufklärung und Anglophilie in Deutschland, Göttingen/Zürich 1987, vor allem S. 2 8 39.

48

Vgl. jetzt aber SCHLOBACH, Französische Aufklärung und deutsche Fürsten (wie Anm. 40). SCHLOBACH, Die frühen Abonnenten; ders., Französische Aufklärung und deutsche Fürsten; ders., Grimm in Paris (alle Titel wie Anm. 40).

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ditieren. Vielmehr müssen Struktur und Strategie des aufklärerischen Denkens und die Regeln dieses Sprachspiels beachtet werden. Gipfelte das Prestige der Monarchen in „historischer Größe" und „Unsterblichkeit", so ging es jedenfalls nicht allein um den kurzfristigen Erfolg, den Beifall für den Tag, das Lob aus Gefälligkeit, sondern um das Urteil der Nachgeborenen, wenn nicht der Weltgeschichte als dem Weltgericht. Und einer solchen Prüfung durch die Nachwelt sahen sich auch die Schriftsteller ausgesetzt, die als eine „selbsternannte Elite" von historisch gebildeten Zeitzeugen in kritischer Absicht Argumente für die posthume Beurteilung von Fürsten lieferten. 50 Sinn gewinnt in diesem Interpretationsrahmen nun auch noch einmal jenes eingangs erwähnte deutsche Pro und Contra unmittelbar nach dem Tode Katharinas, ob ihr der Beiname „die Große" zustehe.51 Doch über den Einzelfall Katharina hinaus ist hier von Belang, daß in dem Beziehungsgeflecht zwischen Höfen und Aufklärern die gebildeten Frauen in der europäischen „Familie der Könige" und in der höfischen Gesellschaft allgemein eine historisch spezifische Rolle einnahmen. Dabei ist vorauszusetzen, daß die Geschlechterbeziehung an den meisten Höfen, die an der Kommunikation mit den Aufklärern teilhatten, als „Patriarchat" nicht hinreichend beschrieben werden kann. Bis über die Mitte des 18. Jh. galt, erst recht für die Gemahlinnen von Fürsten, was Norbert Elias für den französischen Hof im 17. Jh. festgestellt hat: „Frauen als soziale Gruppen betrachtet haben am Hofe größere Macht als in irgendeiner anderen gesellschaftlichen Formation dieser Gesellschaft." 52 Zwar blieben es die wichtigsten Aufgaben der herrscherlichen Gemahlinnen, als solche zu repräsentieren und Nachkommen zu präsentieren. Aber daneben differenzierten sich im 18. Jh. an zahlreichen Höfen, vor allem im Reich, die „öffentlichen" Funktionen zwischen Fürst und Fürstin. Die Fürsten standen im Heeresdienst eines mächtigeren Herrn oder widmeten sich einer am Beispiel des preußischen Königs Friedrich Wilhelm I. orientierten, häufig nicht bezahlbaren eigenen Soldatenspielerei. Sie waren für die „Politik" ihres Landes, auch für die Personalpolitik und die Finanzen, zuständig. Aber in der Zeit der Aufklärung gewannen viele Ehefrauen von Fürsten an Ansehen und der Herrschaft ihres Gemahls Prestige hinzu. Die Verheiratung der Töchter und überhaupt die Beobachtung des familiären Geschehens unter ihresgleichen waren ohnehin schon „politische" Aufgaben der Mütter. Denn obwohl die Heiratspolitik im 18. Jh. wie jede Politik oft andere Ergebnisse als die intendierten zur Folge hatte und viel Ideologie im Spiele war, galt als Regel, daß von

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Zum Selbstverständnis und zum sozialen Typus des aufklärerischen Schriftstellers: Fritz SCHALK, Die Entstehung des schriftstellerischen Selbstbewußtseins in Frankreich, in: Ders., Studien zur französischen Aufklärung, Frankfurt a. M . 2 . Aufl. 1 9 7 7 , S. 1 3 - 6 1 ; H a n s Ulrich GUMBRECHT/Rolf REICHARDT, Philosophe, Philosophie, in: Rolf REICHARDT/Eberhard SCHMITT (Hg.), H a n d b u c h politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich 1 6 8 0 - 1 8 2 0 , H e f t 3 , München 1 9 8 5 , S. 7 - 8 8 , vor allem S. 4 1 - 5 5 ; ; Rudolf VIERHAUS, Die aufgeklärten Schriftsteller [im Inhaltsverzeichnis: Der aufgeklärte Schriftsteller]. Zur sozialen Charakteristik einer selbsternannten Elite, in: H a n s Erich BöDEKER/Ulrich H E R R M A N N (Hg.), Über den Prozeß der Aufklärung in Deutschland im 18. Jahrhundert. Personen, Institutionen und Medien, Göttingen 1987, S. 5 3 - 6 5 ; Siegfried JÜTTNER, The Status of the Writer, in: Seventh International Congress on the Enlightenment: Introductory Papers. Budapest, 2 6 July - 2 August 1 9 8 7 , O x f o r d 1 9 8 7 , S. 1 7 3 - 2 0 1 .

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Direkt auf Katharina bezogen ähnlich auch schon: Friedrich ANDREAE, Bemerkungen zu den Briefen der Kaiserin Katharina II. von Rußland an Charles Joseph Prince de Ligne, in: O t t o Hötzsch [HOETZSCH] (Hg.), Beiträge zur russischen Geschichte, Theodor Schiemann zum 60. Geburtstage von Freunden und Schülern dargebracht, Berlin 1907, S. 142-175, hier S. 153-161; David M. GRIFFITHS, TO Live Forever: Catherine II, Voltaire and the Pursuit of Immortality, in: B A R T L E T T / C R O S S / R A S M U S S E N , Russia and the World of the Eighteenth Century (wie Anm. 22), S. 446-468.

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N o r b e r t ELIAS, Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie (1969), Frankfurt a. M. 1983, S. 361.

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ihrer geschickten oder ungeschickten Handhabung abhing, ob sich Herrschafts- und Besitzrechte, Allianzen und Gegnerschaften zum Vor- oder Nachteil des Hauses neu ordneten. 5 3 Zunehmend übertrafen Fürstinnen auch ihre im Militärdienst aufgehenden Ehemänner an zeitgemäßer Bildung, weil sie aus eigenem Antrieb lasen, schrieben, Zeitschriften abonnierten, mit den großen französischen Schriftstellern, in Deutschland auch mit Gottsched, Geliert oder Friedrich II., in Verbindung traten und für die Aufklärung praktisch tätig wurden, indem sie Kultur und Wissenschaft, Volksbildung und Armenpflege, Bautätigkeit und Gartenkunst förderten. Dies alles vorausgesetzt, läßt sich nun auch bestimmen, 1. wie die Kaiserin Katharina II. von Rußland ihre Herrschaft verstand und wie sie deren Bedeutung in der Weltgeschichte interpretierte und interpretiert wissen wollte, 2. wie sie sich selbst gegenüber dem ehrenden Beinamen „die G r o ß e " verhielt, 3. wie sie ihren Lebensweg bis zum Staatsstreich von 1762 und 4. schließlich ihre Rolle als Frau an der Spitze des Russischen Reiches reflektierte. Zur Verfügung stehen viele Selbstzeugnisse Katharinas aus verschiedenen Lebensabschnitten, vor allem ihre Briefwechsel und jene erwähnten häufig gedruckten und übersetzten autobiographischen Texte. 54 Diese sind bis heute vor allem deshalb ungenügend erforscht, weil sich seit dem 19. J h . keine der in Betracht kommenden nationalen Literaturgeschichten für die französischen Aufzeichnungen einer aus Deutschland stammenden Kaiserin von Rußland zuständig fühlte. Die Fürstentochter Sophie Auguste Friederike von Anhalt-Zerbst hatte es in doppelter Hinsicht ihrer Mutter zu verdanken, daß sie als Gemahlin des russischen Thronfolgers in Betracht gezogen wurde. Denn wie dieser stammte die Fürstin Johanna Elisabeth aus dem holsteinischen Herzogshaus, das bereits mit der Familie Peters des Großen verwandtschaftlich verbunden war. 55 Und zweitens hatte die junge Mutter mit unerhörter Willenskraft dafür gekämpft, ihrer ältesten Tochter durch eine vorteilhafte Heirat einen Aufstieg in der Hierarchie der regierenden Familien zu sichern, der ihr selbst nicht beschieden gewesen war. Aus Katharinas Autobiographie ist zu erkennen, daß sie sich diesen Willen zu einer möglichst steilen Karriere und letztlich zur Macht vollkommen zueigen gemacht hatte. Als die Kaiserin zu Beginn der siebziger Jahre nach einzelnen vorausgegangenen Texten zu einer systematischen Niederschrift ihrer Geschichte ansetzte 5 6 , gestaltete sie jedenfalls ihr Leben als einen ganz aus eigener Kraft gemeisterten hindernisreichen Weg auf den russischen Thron. Und während sie unter der Regie ihres frommen Vaters bis zu ihrer Abreise nach Rußland eine nur mittelmäßige Erziehung mit orthodox-lutherischen, pietistischen, hugenottischen und rationalistischen Einflüssen erfahren hatte, betonte sie in ihrer Darstellung ihre Selbstbildung aus eigenem Antrieb und ihre Zielstrebigkeit, sich der hohen Aufgabe würdig zu erweisen. 57 Frühe Zeichen und Bewährungsproben, Anfechtungen und Rückschläge lassen ihre Selbstbeschreibung als eine säkularisierte Berufungsge-

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Michael STOLLEIS, Staatsheiraten im Zeitalter der europäischen Monarchien, in: Gisela VÖLGER/Karin von W E L C K (Hg.), Die Braut. Geliebt - verkauft - getauscht - geraubt. Zur Rolle der Frau im Kulturvergleich, Bde. 1-2, Köln 1985, hier Bd. 1, S. 274-279; SCHARF, Katharina II., Deutschland und die Deutschen (wie Anm. 1), S. 106 f., 272-277. EKATERINA II, Avtobiograficeskie zapiski (wie Anm. 29). Eckhard HÜBNER, Kiel, Eutin, St. Petersburg. Das Fürstbistum Lübeck, Schleswig-Holstein und die nordeuropäische Politik im 18. Jahrhundert, in: Dieter L O H M E I E R (Hg.), Kiel - Eutin - St. Petersburg. Die Verbindung zwischen dem Haus Holstein-Gottorf und dem russischen Zarenhaus im 18. Jahrhundert. Politik und Kultur, Heide i. H. 1987, S. 11-26. Ο. E. KORMLOVIC, Zapiski imperatricy Ekateriny II. Vneünij analiz teksta, in: Zumal Ministerstva narodnogo prosveäcenija N . S. 37 (1912), No. 1, Otdel nauk, S. 37-74, hier S. 47-50. S C H A R F , Katharina II., Deutschland und die Deutschen (wie Anm. 1 ) , S . 6 0 - 6 2 .

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schichte von der Art erkennen, wie sie gleichzeitig in der deutschen Literatur die pietistischen Autobiographien ablöste. 58 Für eine geschlechtergeschichtliche Interpretation ist besonders wichtig, daß ihr Weg als einer Frau mit einer Herkunft ohne Verheißung aus überaus ungünstigen Verhältnissen auf den Thron der größten Macht in Europa sie nicht nur faszinierte und mitunter sogar amüsierte, sondern ihr selbst als einzigartig erschien. Eine Schlüsselphase auf ihrem Wege zur Macht bedeuteten die Jahre zwischen der Geburt ihres Sohnes, des Thronfolgers Paul, 1754 und dem Beginn des Siebenjährigen Krieges 1756. Erstens stabilisierte die Geburt nach neun Jahren kinderloser Ehe mit einem ungeliebten und nicht einmal geachteten Gatten ihre Stellung am Hofe der Kaiserin Elisabeth. Für Katharina vollendete sich zugleich auch die in ihrer Autobiographie gut zu verfolgende geschlechtliche Emanzipation, und sei es mindestens in dem Sinne, daß sie sich fortan zu ihren emotionalen Bedürfnissen bekannte und ihre Liebhaber selbst wählte. Angeregt durch die freundschaftlichen Beziehungen mit dem britischen Gesandten Hanbury-Williams und ihr Liebesverhältnis mit dessen gebildetem Sekretär Graf Stanislaus Poniatowski, gefiel ihr zweitens in jenen Jahren zunehmend der Gedanke, wenn es die Umstände erlauben sollten, sich selbst die Krone zu sichern. 59 Und drittens transformierte zur selben Zeit die intensive Lektüre der römischen Schriftsteller, Voltaires, Montesquieus, der Enzyklopädie und der Oeuvres Friedrichs II. ihr gesamtes Denken. 6 0 Vor allem verinnerlichte sie die Maßstäbe der Philosophen für eine zeitgemäße und aufgeklärte Fürstenherrschaft. Daß sie außerdem - neben den historischen Vorbildern Heinrich IV. und Peter dem Großen - als zeitgenössisches herrscherliches Leitbild allein den Preußenkönig akzeptierte, ist insbesondere wegen des Siebenjährigen Krieges nur aus Indizien wahrscheinlich zu machen. 61 Im Sommer 1762 stürzte Katharina mit einem gut organisierten Staatsstreich ihren Gemahl Peter III. und übernahm selbst die Herrschaft. Hatte ein Teil ihrer Helfer zwar nur ihre Regentschaft für den minderjährigen Sohn Paul angestrebt, so waren sich die Verschwörer allerdings einig in dem Ziel, Peters des Großen Werk der Modernisierung Rußlands nach europäischem Vorbild forciert fortzusetzen. Schon in ihren ersten Manifesten und mit einer Reihe symbolischer Handlungen gab Katharina nicht nur den Gebildeten ihrer Untertanen, sondern der gesamten europäischen Öffentlichkeit kund, daß in Rußland eine neue Ära angebrochen war 62 , und ihre gesamte Herrschaft hindurch setzte sie diese Einflußnahme auf die Meinungsbildung in Europa fort. Rasch machte sie die französischen „Philosophen" auf sich aufmerksam, ließ sich gleichsam in der „Universalkirche der Aufklärung" akkreditieren und gewann Voltaire, die Enzyklopädisten und in der Folge auch viele deutsche Autoren, nicht zuletzt König Friedrich von Preußen, als einflußreiche Lobredner. Vor allem Voltaire, der seit Jahrzehnten auf die Fortsetzung der Europäisierung Rußlands sorgenvoll gewartet hatte und gerade am zweiten Band seiner Geschichte Peters des Großen arbeitete 63 , war glücklich, noch zu erleben, daß eine gebildete Kaiserin proklamierte, dessen Reformwerk von welthistorischer Bedeutung wiederaufzunehmen. 58

Günter NIGGL, Zur Säkularisation der pietistischen Autobiographie im 18. Jahrhundert (1974), Neudruck in: Ders. (Hg.), Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung, Darmstadt

59

SCHARF, Katharina II., Deutschland und die Deutschen (wie Anm. 1), S. 61, 73-76. Peter PETSCHAUER, The Education and Development of an Enlightened Absolutist: The Youth of Catherine the Great, 1729-1762, Ph. D. diss. New York University 1969, S. 372-376. SCHARF, Katharina II., Deutschland und die Deutschen (wie Anm. 1), S. 416-425. Claus SCHARF, Innere Politik und staatliche Reformen seit 1762, in: ZERNACK, Handbuch der Geschichte Rußlands (wie Anm. 2), Bd. 2, Halbbd. 2, S. 676-806, hier S. 710 f. Francois-Marie Arouet de VOLTAIRE, Histoire de l'Empire de Russie sous Pierre le Grand, Bde. 1-2, Geneve 1759-1763. Zur Editionsgeschichte: Evgenij Francevic SMURLO, Voltaire et son oeuvre „Histoire

1 9 8 9 , S. 3 6 7 - 3 9 1 . 60

61 62

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Die ältere absolutismuskritische Geschichtsschreibung hat das erstaunliche Beispiel einer systematischen Öffentlichkeitsarbeit im Ancien regime zwar nur in Stichproben erkundet 6 4 , im ganzen aber als bloße Propaganda Katharinas abgetan, ihr Bekenntnis zur Aufklärung als Schein. Von den negativen Interpretationen haben sich zwei seit dem 18. J h . als besonders beständig erwiesen. Soweit historische G r ö ß e von vornherein nur Männern zuerkannt wurde, erinnert sei an Burckhardts Summe einer langen europäischen Tradition, galt Katharina seit dem Beginn ihrer Regierungszeit, so ζ. B. schon im nicht für die Öffentlichkeit bestimmten Urteil Friedrichs des Großen und Josephs II., schlichtweg als geschlechtsspezifisch eitel und kokett, männliches L o b für sie als Schmeichelei und gleichsam als Kavaliersdelikt. Politischer ist das zweite Argument, die durch einen Staatsstreich auf den Thron gelangte Kaiserin habe mit den Koryphäen der französischen Aufklärung korrespondiert und um deren günstiges Urteil über ihre Politik gebuhlt, weil sie die Illegitimität ihrer Herrschaft kaschieren mußte. 6 5 Was allerdings die führenden aufklärerischen Schriftsteller zu Katharinas L o b und Preis bewogen haben könnte, wurde entweder mit ihrer Naivität oder mit ihrer, insbesondere Voltaires, Ironie, mit ihrer eigenen Eitelkeit oder mit ihrem materiellen Eigeninteresse zu erläutern versucht. Und wie sich dieses Lob aus Westeuropa im zeitgenössischen Rußland herrschaftsstabilisierend ausgewirkt haben sollte, blieb vollends im Dunkel. Doch rechtfertigt der aktuelle Forschungsstand längst nicht mehr die bislang vorherrschenden ideologiekritischen und psychologisierenden Erklärungen. Denn zweifellos orientierte Katharina ihre nahezu alle Politikbereiche umfassende Reformgesetzgebung an den Maßstäben einer zeitgemäß aufgeklärten und humanen Herrschaft. Die Forschungen der letzten drei Jahrzehnte nehmen jedenfalls durchweg ihre Absicht, Rußland zu erneuern, ernst und halten ihre Rezeption der zeitgenössischen politischen Literatur auch nicht für Blendwerk, sondern für eine ihren Reformwillen tatsächlich inspirierende Quelle. 6 6 Darüber hinaus bleibt aber zu klären, welchem eigentlichen Zweck die Anstrengungen um eine positive Selbstdarstellung dienten und was die Kaiserin antrieb, auf ein günstiges Bild ihrer Person und ihrer Herrschaft bedacht zu sein. Wenn nicht die weibliche Schwäche der Eitelkeit oder das dringende Bedürfnis nach aktueller Legitimation, was also motivierte Katharina „die G r o ß e " ? Ersten Aufschluß können zwei Episoden aus der Vorgeschichte jenes Beinamens geben. Schon ein halbes Jahr nach dem Staatsstreich verhieß der Kaiserin einer der wichtigsten de ['Empire de Russie sous Pierre le Grand", Prague 1929; Otto HAINTZ, Peter der Große, Friedrich der Große und Voltaire. Zur Entstehungsgeschichte von Voltaires „Histoire de l'Empire de Russie sous Pierre le Grand" (Akad. der wiss. und der Literatur. Abh. der Geistes- und Sozialwiss. Klasse, Jg. 1961, No. 5), Mainz/Wiesbaden 1962. 64

66

Vgl. vor allem Vasilij Nikiforovic ALEKSANDRENKO, Anglijskaja pecat' i otnosenie k nej russkich diplomaticeskich agentov ν XVIII v., in: Russkaja Starina 1895, No. 10, S. 113-137; ders., Russkie diplomatiieskie agenty ν Londone ν X V I I I v., Bde. 1-2, Varsava 1897; Ferdinand FRENSDORFF, Katharina II. von Rußland und ein Göttingscher Zeitungsschreiber, in: Nachrichten von der Königl. Ges. der Wiss. zu Göttingen, Philolog.-Hist. Klasse 1905, S. 305-320; 1906, S. 242-250; Georg SACKE, Entstehung des Briefwechsels zwischen der Kaiserin Katharina II. von Rußland und Voltaire, in: Zs. für franz. Sprache und Literatur 61 (1937), S. 274-282; ders., Die Kaiserin Katharina II., Voltaire und die „Gazette de Berne", in: Zs. für Schweizerische Gesch. 18 (1938), S. 305-314; ders., Die Pressepolitik Katharinas II. von Rußland, in: Zeitungswissenschaft 13 (1938), S. 570-579. So vor allem Georg SACKE, Die Gesetzgebende Kommission Katharinas II. Ein Beitrag zur Geschichte des Absolutismus in Rußland, Breslau 1940, S. 35-60. So die Synthesen des Forschungsstandes.· MADARIAGA, Russia (wie Anm. 2); SCHARF, Innere Politik und staatliche Reformen (wie Anm. 62); Aleksandr Borisovic KAMENSKIJ, „Pod seniju Ekateriny . . . " Vtoraja polovina X V I I I veka, S.-Peterburg 1992; Oleg Anatol'evic O.MELCENKO, „Zakonnaja monarchija" Ekateriny Vtoroj. Prosvescennyj absoljutizm ν Rossii, Moskva 1993.

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Mitverschwörer, Nikita Panin, ihre Regierung werde als das „Zeitalter Katharinas der Großen" in die Geschichte eingehen und an Bedeutung alle Vorgängerregierungen übertreffen, wenn sie sich seine Vorschläge zur Reform der Staatsspitze zueigen mache und einen Kaiserlichen Rat von Honoratioren berufe. 67 Gegen die ältere Auffassung, Panin habe eine ständisch-aristokratische Verfassungsänderung angestrebt 68 , betonen neuere Arbeiten, daß er vielmehr aufgrund der Erfahrungen mit den Palastrevolutionen seit dem Tode Peters des Großen der aufgeklärten Autokratie auch in kritischen Situationen Stabilität und Kontinuität verleihen wollte. Außerdem sollte die einflußreiche Stellung der etablierten Hofparteien, zumal Panins eigener, die Konjunkturen von Favoriten überdauern. Die Monarchin ließ sich jedoch nicht zu einer solchen Reform verleiten, da sie vermutete, ihre selbstherrscherliche Souveränität könne von einer Gruppierung des Hofadels abhängig werden. 69 Die zweite Episode spielt im August 1767, zu Beginn ihres sechsten Regierungsjahres, als die aufgeklärte Öffentlichkeit in Europa mit Voltaire an der Spitze Katharinas Politik längst mit Lob überhäufte. Aus Dankbarkeit für die von der Kaiserin verfaßte Instmetion für die zu Verfertigung des Entwurfs zu einem neuen Gesetzbuche verordnete Commission trug ihr deren Große Versammlung, stellvertretend für das ganze Menschengeschlecht, wie der Kommissionsmarschall Bibikov begründete, einmütig den Ehrentitel „Katharina die Große, weise Mutter des Vaterlandes", an.70 Für beide Anträge liegt das Vorbild unter den Beispielen des 18. Jh. nahe. Nicht in Betracht kommt der Vergleich mit Friedrich. Nach dem Zweiten Schlesischen Krieg hatten ihm als dem ruhmreichen Sieger 1745 Bürger auf den Straßen Berlins mit dem Beinamen eines „Großen" und dem Titel eines „pater patriae" gehuldigt. Theodor Schieder zufolge ist auch aus der Folgezeit keine Äußerung des Preußenkönigs über diese Epitheta überliefert. 71 Hingegen hatte sich Peter I. 1721 nach dem siegreichen Abschluß des Nordischen Krieges von einer Versammlung seiner obersten Reichsbehörden formell bitten lassen, den römischen Titel „Vater des Vaterlandes, allrussischer Kaiser Peter der Große" zu akzeptieren. „ . . . nach seiner gewohnten und ruhmwürdigen modestia" hatte er sich zunächst der Verleihung widersetzt und dann doch noch eingewilligt. 72 Katharina II. aber bewies sofort, daß sie die Regeln der Kommunikation zwischen weltgeschichtlichen Akteuren und philosophischen Zeitzeugen perfekt beherrschte. Sie wußte, welches Verhalten diese Schriftsteller von ihr erwarteten, und sie entsprach diesen Erwartungen. Scheinbar kühl und ein für allemal verweigerte sie 1767 die Annahme des Titels mit dem Hinweis darauf, über ihre historische Größe werde erst die Nachwelt unvoreingenommen urteilen. Im übrigen sehe sie es als ihre Pflicht an, ihre Untertanen zu 67

68 69

Sbornik Imperatorskogo Russkogo Istoriceskogo Obäfestva, Bde. 1-148, S.-Peterburg 1867-1918, hier Bd. 7, S. 207-217; engl. Übers.: Marc RAEFF, Plans for Political Reform in Imperial Russia, 1730-1905, Englewood Cliffs, New Jersey 1966, S. 53-68. SACKE, Die Gesetzgebende Kommission (wie Anm. 65), S. 43-45, 54 f. David L. RANSEL, Nikita Panin's Imperial Council Project and the Struggle of Hierarchy Groups at the Court of Catherine II, in: Canadian Slavic Studies 4 (1970), S. 443-463; ders., The Politics of Catherinian R u s s i a . T h e P a n i n P a r t y , N e w H a v e n 1 9 7 5 , S. 7 3 - 9 8 ; MADARIAGA, R u s s i a ( w i e A n m . 2), S. 3 9 - 4 2 ; SCHARF,

70

71

72

Innere Politik und staatliche Reformen (wie Anm. 62), S. 679 f. Vgl. Sbornik (wie Anm. 67), Bd. 4, S. 57-66. Vgl. dazu vor allem SACKE, Die Gesetzgebende Kommission (wie Anm. 65), S. 132-144; Michail Timofeevic BELJAVSKIJ, Krest'janskij vopros ν Rossii nakanune vosstanija Ε. I. Pugaceva (formirovanie antikrepostniceskoj mysli), Moskva 1965, S. 180-182. Theodor SCHIEDER, Friedrich der Große. Ein Königtum der Widersprüche, Frankfurt a. M . / B e r l i n / W i e n 1983, S. 473-491. Reinhard WITTRAM, Peter I. Czar und Kaiser. Zur Geschichte Peters des Großen in seiner Zeit, Bde. 1-2, h i e r B d . 2 , S. 4 6 2 - 4 6 7 .

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lieben. Bibikov sorgte dann wenigstens noch dafür, daß der Antrag mit den Unterschriften aller Deputierten im Archiv des Senats für die Nachwelt deponiert wurde. 7 3 Wie von einer spontanen Huldigung weder bei Peter noch bei Friedrich die Rede sein kann, so war auch der Antrag der Moskauer Großen Versammlung, Katharina zu ehren, nachweislich von Anfang an im Einvernehmen mit der Kaiserin vom Kommissionsmarschall, dem Metropoliten Dmitrij Secenov und einzelnen Deputierten aus den zentralen Behörden vorbereitet worden. 74 Er erzielte aber seinen intendierten Zweck, in Europa Aufsehen zu erregen. Natürlich ist auch aus Panins nichtöffentlicher Verheißung bloße Schmeichelei und aus dem öffentlichen Antrag der Großen Versammlung die Absicht der Verschleierung der illegitimen Herrschaft Katharinas herausgelesen worden. Die Suche nach den „eigentlichen" Motiven und „Hintergründen" hat aber erstens den Blick dafür verstellt, daß es in beiden Episoden um reale Reformprojekte aus dem Geist der Aufklärung ging, die höchste Anerkennung finden sollten, während Peter und Friedrich den Titel für militärische Siege verliehen bekamen. Zweitens nahmen die Initiatoren in beiden Fällen an, das Lob für diese Werke im Interesse des gemeinen Wohls sei erwünscht. Und drittens sollte über die historische Größe der Kaiserin nach ihrer eigenen und nach Panins Auffassung die Nachwelt entscheiden. Insofern aber haben die beiden Episoden weder mit einer Überlebensstrategie Katharinas noch mit geschlechtsspezifischer Eitelkeit etwas zu tun. Vielmehr gehören sie in den erwähnten, früher kaum beachteten Kontext des zeitgenössischen, vornehmlich an römischen Autoren orientierten Diskurses über historische Größe, den vor allem Voltaire und die Enzyklopädisten anführten. Im säkularisierten Denken der Aufklärer entschieden über die Bedeutung eines Herrschers grundsätzlich die künftigen Generationen. Beifall konnte durch Mißfallen abgelöst werden, Ruhm sich als vergänglich erweisen. Über die Unsterblichkeit der Großen aber befand allein die Nachwelt aufgrund der Überlieferung, als deren Urheber und Hüter die philosophischen Schriftsteller berufen waren. Nur sie waren auch befugt, bereits zu Lebzeiten eines großen Herrschers zu ermessen, ob seine Herrschaft Aussicht hatte, in die Unsterblichkeit einzugehen. 75 In diesem Sinne war es weder weibliche Eitelkeit noch geschicktes Taktieren im politischen Tagesgeschäft, daß Katharina seit der Usurpation des Throns ihre Herrschaft als eine aufgeklärte und humane inszenierte und zugleich bestrebt war, sich permanent bei den zuständigen Instanzen zu vergewissern, daß sie sich auf dem richtigen Wege befand. Voltaire und Katharina waren in dem Wechselspiel erstklassige Besetzungen ihrer Rollen. Die Kaiserin versuchte gar nicht erst, wie Friedrich mit ihm über Philosophie zu korrespondieren, sondern begegnete ihm als seine zu politischer Verantwortung verpflichtete Schülerin, er ihr als der Meister, kompetent in der philosophischen Deutung der Weltgeschichte, aber auch meinungsbildend in der öffentlichen Interpretation des aktuellen Weltgeschehens. 76 Nach seinem Tode bekannte Katharina selbst dankbar Voltaires ausschlaggebende Funktion einerseits für ihre Weltsicht: „er war mein L e h r m e i s t e r ; . . . es war er, oder es waren seine Werke, die mich zu denken lehrten" 7 7 , andererseits für das Katharinas Antwort im eigenhändigen Entwurf: Sbornik (wie Anm. 67), Bd. 10, S. 236 f.; die Dokumentation über den Antrag der Versammlung: Polnoe sobranie zakonov Rossijskoj Imperii, Serija I, Bd. 18, No. 12978. 7 4 S A C K E , Die Gesetzgebende Kommission (wie Anm. 65), S . 136-141. 7 5 G R I F F I T H S , To Live Forever (wie Anm. 51). 7 ' Antony LENTIS·, Voltaire and Catherine the Great. Selected Correspondence, Cambridge 1974, Introduction, S. 4-32. 7 7 Katharina an Grimm, 1. Oktober 1778, in: Sbornik (wie Anm. 67), S. 102. So auch schon Katharinas erster Brief an Voltaire, September 1763, in: The Complete Works of Voltaire, hg. von Theodore Besterman, Bde. 73

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Ansehen ihrer Herrschaft in Europa: „Wissen Sie, daß er mich einst in Mode gebracht hat?" 7 8 In Katharinas Politik erkannte der Philosoph die Fortsetzung des zivilisatorischen Werks Peters des Großen und die Verkörperung seiner eigenen Ideale: gute Gesetze, Besiedlung menschenleerer Räume, Religionsfreiheit, Verstaatlichung der Kirchengüter, Förderung der Künste aller Art. 7 9 Als Kampf gegen die ihm verhaßte römische Kirche und für die Toleranz billigte er aber auch Rußlands bewaffnete Intervention in Polen, und noch im Geiste des 17. J h . berauschten ihn die russischen Siege gegen das Osmanische Reich als Triumphe der europäischen Kultur gegen die Barbaren. 8 0 Früher noch als Katharina selbst geriet er in Enthusiasmus beim Gedanken an eine russische Herrschaft über Konstantinopel und die Befreiung der Griechen, während die Kaiserin sich bescheiden gab: „Ich hoffe, daß die Nachwelt, frei von Leidenschaft, mir Gerechtigkeit gegenüber jenen Leuten [den Türken und polnischen Konföderierten] widerfahren läßt, und daß Eure Schriften nicht zum geringsten zu diesem Ziel beitragen werden." 8 1 Hatte Voltaire mehr als zwei Jahrzehnte zuvor frühzeitig Friedrich II. als den „ G r o ß e n " tituliert, so war er seit 1763 - auch weil sich seine Beziehung zum Preußenkönig inzwischen abgekühlt hatte 8 2 - überzeugt von Katharinas Anspruch auf dieses Prädikat: „die glücklichste und die größte Herrscherin auf der Welt" 8 3 , „zweifellos die größte Persönlichkeit auf der Welt" 8 4 , „das großartigste Mitglied des Menschengeschlechts, dessen Name Katharina II. ist". 8 5 Als glücklich pries er den Historiker, „der ein Jahrhundert später die Geschichte Katharinas II. schreiben wird". 8 6 Vier große Zeitalter habe es in der Weltgeschichte gegeben, Athen unter Perikles, Rom unter Augustus, Florenz unter den Medici und Frankreich unter Ludwig X I V . , doch jetzt komme Rußland unter Katharina dazu. 8 7 Die Reihung ist verräterisch, erst recht das L o b für „Katharina die Zweite, die erste aller Frauen, die so viele Männer beschämt". 8 8 Aber es gibt keinen Zweifel: Nur weil es auch für Voltaire allein die großen Männer waren, die Weltgeschichte machten, faszinierte ihn Katharina als einzigartige große Herrscherin. Als er 1762 von ihrer Machtergreifung erfahren hatte, war ihm noch Semiramis als Beispiel eingefallen 89 , die schemenhafte Königin Altassyriens, die über die Leiche ihres Gemahls auf den Thron gekommen sein soll, der Sage nach nicht nur ihr Reich vergrößerte, sondern auch Kultur und Baukunst förderte.

78

1-135, Geneva/Oxford/Toronto 1968 ff., darin Bde. 85-135: Correspondence and Related Documents. Definite Edition, im folgenden zitiert: BESTERMAN, D mit Numerierung, hier D 11421. LIGNE, Porträt, S. 121.

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V o l t a i r e a n K a t h a r i n a , 2 7 . M a i 1 7 6 9 , i n : BESTERMAN ( w i e A n m . 7 7 ) , D

80

Etwa achtzig Prozent des Briefwechsels beider stammen aus den Kriegsjahren 1768-1774. Vgl. SACKE, Pressepolitik (wie Anm. 64); ders., Die Kaiserin Katharina II., Voltaire und die „Gazette de Berne" (wie Anm. 64); LENTIN, Voltaire and Catherine (wie Anm. 76), S. 22-28; Carolyn Η. WILBERGER, Voltaire's Russia: Window on the East, Oxford 1976, S. 160-183. Katharina an Voltaire, 10. (21.) Juni 1771, in: BESTERMAN (wie Anm. 77), D 17256.

81 82

15664.

SCHIEDER, F r i e d r i c h d e r G r o ß e ( w i e A n m . 7 1 ) , S. 4 3 7 - 4 6 5 , 4 7 7 - 4 8 2 ; WILBERGER, V o l t a i r e ' s R u s s i a ( w i e

Anm. 80), S. 145-183; Christiane MERVAUD, Voltaire et Frederic: une dramaturgie des lumieres 1736-1778, O x f o r d 1985, S. 3 5 9 - 3 8 7 . 83 84 85 86 87

88 89

Voltaire an Katharina, 25. Oktober 1770, in: BESTERMAN (wie Anm. 77), D 15702. Voltaire an Katharina, 6. Juli 1771, ebd., D 16243. Voltaire an Katharina, 5. Dezember 1777, ebd., D 20938. Voltaire an Katharina, 3. Dezember 1771, ebd., D 17488. VOLTAIRE, Lettres sur les panegyriques (1767), hier zitiert nach LENTIN, Voltaire and Catherine (wie Anm. 76), S. 21. Voltaire an Katharina, 14. April 1770, in: BESTERMAN (wie Anm. 77), D 15288. Voltaire an Bernard Louis Chauvelin, 13. August 1762, ebd., D 10648.

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Doch in den Briefen an Katharina selbst ehrte er sie entweder durch den historischen Vergleich mit den antiken Gesetzgebern, den Männern Lykurg und Solon, Minos und Numa, mit Justinian oder - der Menschen- und damit auch der Geschlechtergeschichte entrückt - durch ihre Anbetung als „Stern des Nordens", als Juno oder Minerva, Venus oder Ceres. 9 0 Auf alles Lob, auch kleinerer Geister, reagierte Katharina bedacht zurückhaltend, gegenüber Grimm häufig mit Ironie, manchmal auch mit schroffem Tadel. Aber außer Frage stand für die Schülerin Voltaires, daß sie als Frau an der Spitze des Russischen Reiches den von Männern formulierten und überwachten Standards der männerdominierten Weltgeschichte entsprechen mußte. Hatte einst Friedrich die Maßstäbe für eine zeitgemäße Herrschaftsausübung gesetzt, so berief Katharina seit ihrer Machtübernahme diesen selbst wie die von Voltaire angeführte öffentliche Meinung Europas in den Zeugenstand für ihre souveräne Beherrschung des politischen Handwerks. Und zunehmend sah sie sich in der Einzigartigkeit ihrer aufklärerischen Mission, auch gegenüber dem alternden Rivalen, bestätigt: Im rückständigen, klimatisch benachteiligten, polyethnischen und multikonfessionellen Russischen Reiche gesellschaftliche Reformen zu implementieren, durch gute Gesetze Toleranz und mehr Freiheit für die Untertanen zu sichern, bessere Verwaltung und ein unabhängiges Gerichtswesen zu schaffen, menschenleere Landstriche zu besiedeln, für die Volksbildung zu sorgen und das kulturelle Niveau zu heben, waren unvergleichlich größere Aufgaben, als sie der Preußenkönig bei seinem Herrschaftsantritt vorgefunden hatte, war nicht nur Voltaire zufolge von vornherein ebenso Weltgeschichte wie die Kriegführung gegen das Osmanische Reich. Als Katharina sich in den achtziger Jahren bemühte, das österreichische Normalschulsystem zu kopieren, war sich ζ. B. der rußlanderfahrene Göttinger Historiker Schlözer gewiß, „daß von allen Taten, die die Regierung Catharinä II. auszeichnen, keine auf die Nachwelt bleibenderen Einfluß haben, keine sorgfältiger in den Welt-Annalen protocolliert wird, als 1. Rumanzows Siege über die Türken, und 2. Einrichtung von Schulen durch das ganze Reich". 9 1 Als Frau nach den männlichen Maßstäben des 18. Jh. mit Erfolg das russische Riesenreich zu regieren, machte Katharina II. also schon zu Lebzeiten zu einem Weltwunder. Darüber hinaus hegte aber auch sie nicht die Vision von einer Weltgeschichte, in der Frauen eine den Männern gleiche Rolle einnehmen könnten. Vor allem ihre Außenpolitik und ihre Kriege bieten jedenfalls keinen Anhaltspunkt für die Utopien weiblicher Alternativen, weder die einer größeren Friedfertigkeit noch die der Schwäche. Uberhaupt ist es nicht einfach zu unterscheiden, wo sich in ihrer Handhabung des Regierungsgeschäfts geschlechtsspezifische Merkmale zeigen und wo ihr solche von nahen und fernen Zeitzeugen nur zugeordnet wurden. Wahrscheinlich lassen solche Fragen nur auf Erwartungen von heutigen Frauen und heutigen Männern - schließen, die sich letztlich doch wieder vornehmlich an den im 19. Jh. entstandenen Geschlechtscharakteren orientieren. Insbesondere schließt die Verengung des historischen Interesses auf die Politik von vornherein geschlechterhistorisch wie biographisch relevante Erkenntnisse aus. Katharinas Einzigartigkeit in ihrer Selbstdeutung wie durch ihre klugen Bewunderer ernstgenommen, legt statt dessen den Gedanken an eirien durch ihre selbsterrungene gesellschaftliche Position begünstigten, überaus modernen Lebensentwurf nahe. Auch in unserer Gesellschaft gilt es ja noch als Ausnahmesituation, wenn eine Frau sich weder in Ehe noch in lebenslanger 90

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Voltaire an Katharina, November 1765, 21. Juni und 22. Dezember 1766, 29. Januar 1768, 26. Februar 1769, 5. Dezember 1777, ebd., D 12973, 13364, 13756, 14704, 15487, 20938. Hier nach Peter POLZ, Theodor Jankovic und die Schulreform in Rußland, in: Erna Lesky u. a. (Hg.), Die Aufklärung in Ost- und Südosteuropa. Aufsätze, Vorträge, Dokumentationen, K ö l n / W i e n 1972, S. 119174, hier S. 169.

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Partnerschaft bindet, ohne zugleich auf Sexualität zu verzichten, damit tradierte Lebensweisen und Rollenmuster überwindet, einen Beruf ausübt, sich ihre finanzielle Unabhängigkeit sichert, Freundschaften pflegt und ein selbstbestimmtes Leben führt. Den Alltag der Kaiserin bestimmte der Dienst des Regierens, zu dem auch noch die repräsentativen Pflichten am Abend bis zehn U h r zu rechnen sind. Selbst die von ihr als Freizeit betrachteten Stunden morgens zwischen fünf und acht U h r und nach dem Mittagessen verbrachte sie schreibend. Sie zeichnete sich durch eine starke Selbstdisziplin aus und hatte ein Faible für Leistungsbilanzen und Rechenschaftsberichte auch ihrer eigenen Arbeit. 9 2 Soweit die Quellen Auskunft über das Sexualleben der Kaiserin geben, bleibt ihre zu verallgemeinernde Deutung im Rahmen rationaler, also unspektakulärer Interpolationen: Einerseits fürchtete Katharina die Einsamkeit um sich und suchte die körperliche Nähe der Zweisamkeit. Andererseits kompensierte sie, soweit einer Kaiserin eine Privatsphäre zuzugestehen war und ist, ihren arbeitsreichen Tageslauf und das höfische Zeremoniell. D o c h in der Öffentlichkeit des Hofes, sozusagen am Tage, hatten die Favoriten dieses Zeremoniell und die von ihr gesetzten Normen grundsätzlich zu respektieren, ihren hohen Platz in der höfischen Gesellschaft einzunehmen und die von ihr definierten Interessen des Russischen Reiches zu beachten und zu fördern. Dieses nicht allzu kunstvolle, zu keiner Zeit reibungslos funktionierende System geriet endgültig aus dem Gleichgewicht, als sie mit zunehmendem Alter ihre immer jüngeren Favoriten auf die Gestaltung dieser Normen Einfluß gewinnen ließ. 9 3 Aber vielen verleumdenden Klischees zum Trotz wurde das Russische Reich unter Katharina nie ein Spielball ihrer Günstlinge. Gegenüber dem herrischem Regierungsstil Peters des Großen oder auch dem misanthropischen Rückzug des Alten Fritz in die selbstgewählte Isolation pflegte sie im Umgang mit den Menschen am Hofe und mit ihren Besuchern einen freundlichen Ton. Überzeugend beschreiben sie zahllose Zeugnisse als leutselig und großzügig, als charmant und geistreich. Sie interessierte sich ehrlich für Menschen jeden Standes und hielt sich selbst mit Recht für besonders fähig, charakterliche, intellektuelle und praktische Qualitäten zu erkennen und für sich und das allgemeine Wohl nutzbar zu machen. Zeit ihres Lebens imponierten ihr vor allem starke, selbstbewußte und begabte Frauen, und ihre eigene Lebensbeschreibung enthält ein Panorama sympathischer und höchst differenzierter Bilder von solchen Geschlechtsgenossinnen. 9 4 Uberhaupt: Was viele Autorinnen romanhafter Biographien der Großfürstin und Kaiserin seit jeher an deren sog. Memoiren fasziniert, haben die hauptsächlich an Politik interessierten männlichen Historiker stets in seiner Aussagekraft gemindert, wenn nicht verdrängt: Katharinas Autobiographie ist auch Zeugnis, vor allem aber Darstellung eines selbst für die höfische Gesellschaft ungewöhnlichen Frauenlebens. Dabei geht es hier nicht um den trivialen wie zynischen Schluß, daß ihre Selbstbefreiung als Frau letztlich dem Gatten das Leben gekostet hatte. Aber seit sie 1771 zur umfassenden Niederschrift ihrer Autobiographie ansetzte, erforderte es ein Höchstmaß an schriftstellerischer Kunst, die Ehe mit dem Thronfolger und Kaiser Peter zu interpretieren, die ihr doch erst den Weg nach Rußland und auf den Thron gebahnt hatte. Insofern konnten Ehe und Mutterschaft von vornherein nicht die maßgeblichen Kriterien ihrer Lebensbeschreibung sein. Die

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MADARIAGA, R u s s i a ( w i e A n m . 2), S. 5 7 3 f.

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Ebd., S. 562-567. Vgl. ζ. B. die Porträts von Elisabeth Cardel, Charlotte Gräfin Bentinck, Gräfin Praskov'ja Aleksandrovna Bruce geb. Rumjanceva, Praskov'ja Nikiticna Vladislavova, Hedwig Elisabeth von Biron, Prinzessin von Kurland, in: EKATERINA, Avtobiografiieskie zapiski, vgl. Index.

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Katharina II. von Rußland - die Große?

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Aufgabe bestand vielmehr darin, einerseits Erziehung und verinnerlichte Bereitschaft für Ehe und Mutterschaft entsprechend den Normen der höfischen Gesellschaft historischpragmatisch darzustellen, andererseits Leserin und Leser für die Einsicht zu gewinnen, daß es für das Ausbrechen aus dem Normengefüge in ausreichender Zahl rationale Motive gab. Peter zum lächerlichen und gefährlichen Despoten zu stilisieren und den Staatsstreich als eine im Interesse des Reiches unvermeidliche Rettungsaktion zu verbrämen 95 , genügte als politische Begründung. Aber darüber hinaus deutete die Autorin ihre Ehe als ein siebzehnjähriges Martyrium, als unvereinbar die Gegensätze, nicht zwischen Mann und Frau, sondern zwischen diesem Mann und sich selbst als einer ihm weit überlegenen Frau mit Verantwortungsbewußtsein für das Russische Reich, mit dem Willen, sich durch Selbstbildung dieser Aufgabe würdig zu erweisen, und auch mit „natürlichen" emotionalen Bedürfnissen. So gab sie ihre Erinnerungen an erotische Erfahrungen seit ihrer Kindheit nicht einfach preis, um damit die Nachwelt zu unterhalten, sondern komponierte sie zur Geschichte ihres Reifeprozesses und der eigenen mühsamen geschlechtlichen Emanzipation. Nicht zuletzt beeinträchtigte es Katharinas Beurteilung in der russischen Geschichtswissenschaft, daß sich im bürgerlichen 19. Jh. das Idealbild der kaiserlichen Gemahlinnen wandelte. 1797 regelte ein sog. Fundamentalgesetz Kaiser Pauls I. die Thronfolge neu. 96 Es beendete die von Peter I. legitimierte Willkür der autokratischen Herrscher, über ihre Nachfolge zu entscheiden, und führte die Primogenitur ein. Von der Thronfolge ausgeschlossen wurden auch die Mütter der männlichen Thronerben. Nur noch als Mütter und Ahnfrauen der kaiserlichen Familie genossen sie seither Ansehen und prangen sie von den kinderreichen Familienbildern 97 , jedoch nicht mehr als potentielle „Mütter des Vaterlands": Weder als Regentinnen für einen minderjährigen Thronfolger noch - wie Katharina - gar als Kaiserinnen aus eigenem Recht kamen sie fortan in Betracht. Es lohnt sich gewiß, auch die Geschichte dieser Frauen zu erkunden, aber Weltgeschichte haben sie nicht gemacht.

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Ebd., S. 479. Polnoe sobranie zakonov I (wie Anm. 73), Bd. 24, N o . 17906 und 17907. Vgl. dazu O t t o EICHELMANN, D a s kaiserlich-russische Thronfolge- und Hausgesetz, in: Archiv für öffentliches Recht 3 (1887), S. 8 7 - 1 3 6 , 4 (1888), S. 263-290; Ν . M . KORKUNOV, N a s i zakony ο prestolonasledii, in: Sbornik statej Ν . M. Korkunova, professora Peterburgskogo universiteta. 1877-1897, S.-Peterburg 1898, S. 310-321. WORTMAN, The Empress as Mother (wie Anm. 22). Vgl. als Prototyp das 1 7 9 9 / 1 8 0 0 entstandene Gemälde des Hofmalers Pauls I., Gerhard von Kügelgen (geb. 1772 in Bacharach, gest. 1820 in Dresden): Kaiser Paul I. mit seiner Familie, ursprünglich in Schloß Pavlovsk, jetzt in der Ermitage, Inventarnummer C C h - 3 5 8 9 S. Hier nach dem Katalog: St. Petersburg um 1800. Ein goldenes Zeitalter des russischen Zarenreichs, Recklinghausen 1990, N o . 26, S. 159 (Text) und S. 162 (Farbtafel).

BURKHARD MALICH, H A L L E

Von Gröst bei Merseburg nach Moskau. Christian Friedrich Matthaei

Nach Hans-Georg Beck ist der deutsche Beitrag zur theologischen Byzantinistik des 18. J h . nicht sehr groß. 1 Als Vorläufer der byzantinischen Literaturgeschichte bezeichnete Guyla Moravcsik Johannes Albertus Fabricius (1668-1763) aufgrund seiner 14 Bände der Patrologia Graeca aus den Jahren 1705-1727 (Nachdruck zwischen 1790 und 1809). 2 Beck nennt noch den Erlanger Philosophen Gottfried Christian Harles (1738-1815), den evangelischen Theologen Johann Georg Walch (1693-1775) und Johann Rudolf Kiesling ( 1 7 0 6 1775). Ein sehr viel größeres Format als den Letztgenannten wird von ihm Christian Friedrich Matthaei (1744-1811) zugebilligt. 3 Bis ins erste Viertel des 19. J h . hatte die byzantinische Theologie trotz aller bedeutsamen Ansätze aber nur die Bedeutung eines Nebenfaches. Die eigentliche Standortbestimmung des Wissenschaftsgebietes war noch nicht gefunden worden. 4 Die byzantinische Literatur und Geschichte besaß dagegen nach den vernichtenden Urteilen der Aufklärer kaum einen anerkannten spezifischen Eigenwert und stand auch in den folgenden Jahren weitgehend im Schatten der Antike. Die eigentliche Editionsarbeit folgte den mehr oder weniger zufälligen Handschriftenfunden. Ungeachtet des Wirkens des „Vaters der deutschen Byzantinistik" - Hieronymus Wolf (1516-1580) - fehlte bis ins 17. J h . jede Systematik bei der Editionsarbeit. 5 Nach Beck war Griechisch eben Griechisch ohne jede Unterscheidung nach den Jahrhunderten. 6 Deshalb galt die Literatur der byzantinischen Zeit (sowohl der byzantinischen Theologie als auch säkularen Inhalts) nur als eine Art Fortsetzung der griechischen Antike und ihrer Autoren. Die verstärkte Beschäftigung mit der griechischen Geisteswelt brachte es aber mit sich, daß auch Texte wiederentdeckt und Themenkreise behandelt wurden, die wir heute der Byzantinistik zurechnen. Erst ab der Mitte des 17. J h . begann mit Philipp Labbe (1607-1667) und seinem Corpus byzantinischer Historiker, mit Du Cange ( 1 6 1 0 1688), dem Venezianer Corpus und dem Oriens Christianus von Michel Lequien (1661— 1733) ein gewisser Aufschwung. Mit der Patrologia Graeca von Migne und dem Bonner Corpus erfolgte zu Beginn des 19. J h . eine Art Wiederbelebung im Zuge des Philhellenismus. Man denke auch an das Wirken von Eugenios Bulgaris in Leipzig (1716-1806). 7 Die spürbarsten Fortschritte wurden erzielt durch die immer präziser werdenden Textausgaben, insbesondere auf dem Gebiet der Erschließung patrologischer Texte. Trotz-

Hans-Georg Beck, Kirche und Theologische Literatur im Byzantinischen Reich, München 1959, S. 13 (— Byzantinisches Handbuch II, 1). Guyla Moravcsik, Einführung in die Byzantinologie, Budapest 1976, S. 23; vgl. auch Georg Ostrogorsky, Geschichte des Byzantinischen Staates, ^München 1963, S. 4 ( « Byzantinisches Handbuch I, 2). Beck (wie Anm. 1) S. 13. Vgl. Herbert Hunger, Byzantinische Geisteswelt, Amsterdam 1967, Vorwort, Beck (wie Anm. 1) S. 7. 13. Vgl. Ostrogorsky (wie Anm. 2) Einleitung, S. 2. Beck (wie Anm. 1) S. 7. Vgl. Hermann Goltz, Ein griechisch-orthodoxer Aufklärer in Halle: Zur Vita des Eugenios Bulgaris (1716-1806), in; Aufklärung und Erneuerung, Hgg. Günter Jerouschek/Arno Sames, Hanau-Halle 1994, S. 3 5 5 - 3 7 0 (= Beiträge zur Geschichte der Universität Halle im ersten Jahrhundert ihres Bestehens (16941806).

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dem bleibt alles noch mehr oder weniger zufällig, wie ζ. B. die glückliche Entdeckung des Zeremonienbuches von Konstantin VII. Prophyrogennetos in Leipzig durch Johann Jacob Reiske (1716-1774), dem späteren Lehrer von Christian Friedrich Matthaei. Obwohl seine Kommentare und Hinweise bis in unsere Zeit ihre Berechtigung nicht verloren haben, wurden sie zu seiner Zeit nicht ediert. 8 Selbst Friedrich Schiller glaubte sich bei seiner Herausgabe der Alexiade von Anna Komnenina im Jahre 1790 in Jena noch wortreich dafür entschuldigen zu müssen. 9 Zu stark wirkten die negativen Urteile von Edward Gibbon (1737-1799), von Charles Lebeau (1701-1778), von Christian Gatterer (1727-1799) oder von Ludwig August Schlözer (17351809). Sie sahen in der byzantinischen Literatur nur den Ausdruck des Verfalls der antiken Welt. Ungeachtet dessen gehörte aber gerade die Erhaltung und Förderung der antiken Texte nach Herbert Hunger zu den Ruhmesblättern der byzantinischen Geisteswelt. Ohne die durch viele Jahrhunderte fortgesetzte und unermüdliche Tätigkeit in Edition und Kommentierung altgriechischer Texte und ihre Rezeption wäre unsere heutige Kenntnis antiker Geistlichkeit wesentlich ärmer. 10 Für Otto Mazal waren gerade die Grammatik und Philologie ein wesentliches Element der nationalen Selbsterhaltung und des byzantinischen Selbstbewußtseins, das als Teil des Fortlebens des Römischen Weltreiches empfunden wurde. 11 Es ist daher verständlich, daß die moderne Byzantinistik und die klassische Philologie aufs engste miteinander verbunden sind und die Bedeutung der Vermittlung antiker, spätantiker und byzantinischer Texte weit über die reine Sprachvermittlung hinausgeht. Zwangsläufig bestand auch eine sehr enge Verbindung mit den biblischen Texten und denen der Kirchenväter. Zumindest im 18. und beginnenden 19. Jh. dienten diese als Art Rechtfertigung für die Aufarbeitung und Lektüre griechisch-byzantinischer Autoren. 12 Erst allmählich verloren die mit griechisch theologischen und säkularen Texten verbundenen Editionen der späteren Jahrhunderte den Ruf, nur Ableger der klassischen Philologie und Theologie zu sein. Insbesondere Rußland war seit den ältesten Zeiten sehr eng mit der byzantinischen Kirche verbunden. Zumindest in der Theorie war deshalb hier das Studium des Griechischen an Akademien und Universitäten ebenso unerläßlich wie im Westen das Latein. In der Praxis allerdings behalf man sich häufig mit Ubersetzungen, und die Studenten an der Moskauer Universität (seit 1755) hatten noch zu Beginn des 19. Jh. ihre Probleme mit der Sprachbewältigung. 13 Es ist wirklich nicht erstaunlich, daß zu dieser Zeit insbesondere über Rußland die Verbindung zur Mönchsrepublik auf dem Athos zustande kam und wertvolle Texte aus dem Orient diesen Umweg nach Westeuropa nahmen. Das betraf sowohl klassisch antike Autoren als auch theologische Streitschriften aus der späteren byzantinischen Zeit (ζ. B. Palamas). Trotz aller Verdienste um die Kommentierung, Edie-

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Vgl. Ostrogorsky (wie Anm. 2), S. 5. Friedrich Schiller, Allgemeine Sammlung historischer Memoires vom 12. Jahrhundert bis auf die neuesten Zeiten, Jena 1790, I, 1-2, Einleitung. Herbert Hunger, Die Hochsprachliche Profane Literatur der Byzantiner, München 1978, Bd. II S. 3-9 (= Byzantinisches Handbuch V, 2). Otto Mazal, Handbuch der Byzantinistik, Graz 1989, S. 126. Vgl. Beck (wie Anm. 1) Einführung; vgl. auch Rudolf Pfeiffer, Die Klassische Philologie von Petrarca bis Mommsen, München 1982, S. 201-213. Vgl. Viktor Emil v. Gardthausen, Sammlung und Cataloge Griechischer Handschriften, Leipzig 1903, S. 2 (= Byzantinisches Archiv H. 3); Wilhelm Stieda, Deutsche Gelehrte als Professoren an der Universität Moskau, Leipzig 1930, S. 47 (= Abhandlungen der Sachs. Akad. der Wiss., philol.-hist. Klasse, Bd. 40, Nr. 5); G. Schmidt/S. Uvarov/Chr. Fr. Gräfe, in: Russische Revue 26 (1886) S. 79 (Griechisch wurde als Luxus empfunden).

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rung und Herausgabe der verschiedenen Autoren aus dem 9. bis 17. Jh. haben sich aber weder Johann Jacob Reiske noch Christian Friedrich Matthaei als Byzantinisten bezeichnet. Letzterer trug voller Stolz den Titel eines Professors der Griechischen Sprache und Literatur und galt als klassischer Philologe. Gerade für Matthaei gehörten eben dazu alle Texte in griechischer Sprache, ungeachtet des dazugehörigen Jahrhunderts oder ihres Inhalts. 14 Wer war nun dieser Mann, dessen Nachruhm in den Handbüchern der antiken Philologie, der Patristik und der Byzantinistik bis in unsere Tage nachwirkt? Christian Friedrich Matthaei wurde am 4. März 1744 in Gröst, einem Dorfe im ehemaligen Thüringer Landkreis des Herzogtums Sachsen (Kursachsen), geboren. Gröst liegt zwischen Merseburg, Mücheln und Freiburg/Unstrut. 1 5 Sein Vater, Christian Gottfried, war seit dem Siebenjährigen Krieg kurfürstlicher Hoftrompeter in der Kompanie des Rittmeisters Rüdiger. 16 Während eines kurzen Aufenthaltes in Gröst ist Christian Friedrich geboren worden. Der Name wird nur an dieser Stelle in den Kirchenbüchern erwähnt. Ein Hinweis auf die Mutter fehlt. 17 Seinen ersten Schulunterricht erhielt Christian Friedrich im sächsischen Königsbrück an der Pulsnitz und dann auf St. Annen in Dresden (1754). Auf Anraten des Rektors M. Goldschatz wurde er gegen Ende 1754 mit 10 Jahren Alumnus an der Kreuzschule in Dresden. 18 Im Jahr 1763 schrieb er sich als Student der Theologie und Philosophie an der Leipziger Universität ein. Voller Wißbegierde und unermüdlichen Fleißes, ζ. T. bis zur Beeinträchtigung seiner Gesundheit, widmete er sich hier auf Anregung von Johann August Ernesti (1701-1781) der klassischen Philologie und Theologie und durch Johann Jacob Reiske (1716-1774) dem Studium der orientalischen Sprachen. 19 Matthaei charakterisierte sich später als scheu, verschlossen und sehr zurückhaltend. 20 Besonders dem Studium der alten Sprachen in Verbindung mit dem Neuen und Alten Testament gab er sich mit Feuereifer hin. Der Text der Septuaginta blieb auch in den späteren Jahren ein Schwerpunkt seiner Forschungsarbeit. Das Vorbild seines Lehrers Ernesti - als Rektor der Thomasschule und gleichzeitig als Extraordinarius an der Leipziger Universität und seit 1759 als Professor der Theologie 2 1 14

Christian Friedrich Matthaei, Über die sogen. Recensionen welche der Herr Abt Bengel, der Herr Doctor Semler und der Herr Geheime Kirchenrath Griesbach in dem griech. Texte des N. Testaments wollen entdeckt haben.Eine kritisch-theologische Streitschrift, Ronneburg/Leipzig 1804, S. 40; vgl. auch Walter Friedensburg, Urkundenbuch der Universität Wittenberg, (1611-1813), Magdeburg 1927, T. 2 Nr. 9 S. 514 (= Geschichtsquellen der Provinz Sachsen und des Freistaates Anhalt); Oskar v. Gebhardt, Christian Friedrich Matthaei und seine Sammlung griech. Handschriften, in: Centraiblatt für Bibliothekswesen XV (1898), S. 352 Anm. 3 (Widmung).

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Vgl.Gebhardt, Sammlung (wie Anm. 14), S. 347; Franz Eyssenhardt, Allgemeine Deutsche Biographie, 20 (1884) S. 606/Nachdruck Berlin 1970; Christian Gottlieb Jöcher/Heinrich Wilhelm Rotermund, Gelehrtenlexikon 4, Bremen 1813/Neudruck Hildesheim 1961, S. 966-970. Die Bemerkung von Beck (wie Anm. 1) S. 13, über den Thüringer Trompetersohn ist irreführend. Zu dieser Zeit gab es keinen politischen Begriff Thüringens. Gröst gehörte zum Thüringer Kreis des Herzogtums Sachsen, später zum Querfurter Kreis des preußischen Regierungsbezirks Magdeburg, heute zu Sachsen-Anhalt. Vgl. Gebhardt, Sammlung (wie Anm. 14), S. 347 Anm. 3; Johann August Müller, Versuch einer vollständ. Geschichte der Chursächsischen Fürsten- u. Landesschule zu Meißen aus Urkunden und glaubwürdigen Nachrichten, Leipzig 1787, Bd. II, S. 142. Vgl. Eyssenhardt (wie Anm. 15), S. 606. Vgl.Müller (wie Anm. 16) II, S. 142. Vgl. Heinrich Doering, Die gelehrten Theologen Deutschlands im 18. und 19. Jahrhundert. Nach ihrem Leben und Wirken dargestellt, Neustadt a. d. Orla 1832, S. 425; Müller (wie Anm. 16), II, S. 142. Matthaei, Recensionen (wie Anm. 14), S. 92. Vgl.Holger Preisler, Ein Einsamer in Leipzig? Zu Reiskes Beziehungen in Leipzig 1746 bis 1776, in: Johann Heinrich Schulze (1687-1744) und seine Zeit, Hgg. Wolfram Kaiser/Arina Völker, S. 186-189 ( Wiss. Beiträge der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg 1988/40 (T. 68); Baidur Schyra, Carl

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hat den Lebensweg des jungen und lernbegierigen Matthaei durch sein ganzes Leben gekennzeichnet. Aus diesem Grunde haben ihn die feindseligen Attacken gegen seine Herausgabe des Neuen Testaments auch besonders tief getroffen und verletzt. Er antwortet deshalb im Jahr 1804 in einer für uns heute unverständlichen Schärfe: „Mir kommt's nicht zu. Ich bin nicht Professor der Theologie, sondern bloss der griechischen Sprache, welche man, bey unsern aufgeklärten Zeiten, schon längst angefangen hat, unter die Schwarzkünstler zu zählen, die wegen ihrer Verbindung mit dem Teufel, eben so wenig, wie Doctor Faust, höllischen Andenkens, theologischen Kredit haben. Mein Vor- und Aberwitz, die Religion zu vertheidigen, ist mir ohnedem schon schön bezahlt worden". 2 2 Er widmet seine Antwort („Über die sog. Recensionen welche der Herr Abt Bengel, der Herr Doctor Semler und der Geheime Kirchenrath Griesbach in dem griechischen Texte des N . Testaments wollen entdeckt haben") allen gelehrten und christlichen Verehren der Schriften der heiligen Apostel und Evangelisten aus wahrer Hochachtung. Er verbindet das allerdings mit der dringenden Aufforderung, doch zuerst seine Schriften aufmerksam und genau zu lesen, zu prüfen und dann zu beurteilen. 23 Insbesondere Herrn Griesbach spricht er jede Rechtfertigung zu einem kritischen Urteil ab. Nach Matthaei hat der „Herrgott Herrn Semler" ob seiner vielen Fehler in den griechischen und lateinischen Texten und damit für die Schäden, die er in der Religion angerichtet habe, schon frühzeitig aus dem Leben abberufen. Herr Griesbach würde vor persönlichem Ehrgeiz bis nach Konstantinopel zu F u ß laufen und sich dort, nur um aufzufallen, auch öffentlich beschneiden lassen. Ihm, Matthaei, hätten diese Herren unterstellt, selbst als „Recensions-Fabrikant" tätig gewesen zu sein. Doch sie hätten nur eine „donauartig dahinstürzende Beredsamkeit" und leider keine gründlichen Kenntnisse in der griechischen Sprache. 2 4 Heftiger konnte die Reaktion eines doch selbst europaweit anerkannten Wissenschaftlers wohl kaum ausfallen. Zu spüren ist darin auch die Feststellung von Ulrich Wilamowitz-Moellendorff (1848-1931), der rund 100 Jahre später der Geschichte der Philologie bescheinigt, wissenschaftlich zu sein, aber eigentlich in dieser Zeit noch keine Wissenschaft zu vertreten. 25 Der Vorwurf, nur eine Art „wissenschaftlicher Hilfsarbeiter" zu sein, hat Matthaei zeit seines Lebens besonders tief und schmerzlich getroffen. Die enge Verbindung zwischen Kirche, theologischer Literatur und philologischer Arbeit ist immer ein wesentlicher Bestandteil seiner wissenschaftlichen Aufgabenstellung geblieben. Später wird er deshalb als bedeutender Gräzist, als Philologe, wohl mehr aus Versehen bei Karamzin als Philosoph, und bei Heinrich Doering als großer Theologe bezeichnet. 2 6 Auf Empfehlung von Johann August Ernesti wird Matthaei nach Studienabschluß von 1767 bis 1769 Hofmeister bei den Söhnen des Oberhofrichters von Watzdorf. 2 7 Voller Dankbarkeit widmet Matthaei im Jahre 1786 seinem Schüler Adam Friedrich August von Friedrich ein Außenseiter der deutschen Aufklärung, in: Dixhuitieme: Zur Geschichte von Medizin und Naturwissenschaften im 18. Jahrhundert, H g g . Arina Völker, Halle 1988, S. 1 0 7 - 1 0 9 ( = Wiss. Beiträge der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg 1 9 8 8 / 2 0 (T. 67). 22 23

Matthaei, Recensionen (wie Anm. 14), S. 40. Ebd. Widmung; vgl. auch Matthaei, Kurze Nachricht von den 13 Handschriften des Griech. Neuen Testaments in Augsburg, von welchen der verstorbene Abt Joh. Albrecht Bengel nur 7 verglichen hat, in: Allg. Litterarischer Anzeiger 1800, S. 1 5 9 3 - 1 5 9 8 ; Johann Georg Meusel, Das gelehrte Teutschland 1 0 , 2 5 5 (Nachtrag 1803 zu Christian Friedrich Matthaei).

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Matthaei, Recensionen (wie Anm. 14) S. 9. 77. 88 f. Ulrich v. Wilamowitz-Moellendorff, Geschichte der Philologie,

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Leipzig 1 9 2 7 / N e u d r u c k Leipzig 1959,

S. 1. 26

Nikolaj Michajlovic Karamzin, Briefe eines russischen Reisenden, Übers. Johannes R i c h t e r , 2 Berlin 1981,

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Vgl. Gebhardt, Sammlung (wie A n m . 14), S. 348; Jöcher (wie Anm. 15), S. 966.

S. 124 (Brief vom 13. Juli 1789); Doering (wie Anm. 19), S. 4 2 5 .

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Watzdorf für die empfangene Unterstützung auf der Stellensuche seine Ausgabe des Johannesevangeliums. 28 Hier zeigt sich eine weitere wichtige Verbindung in seinem Leben. Er fühlte sich als Philologe und Pädagoge und der humanistisch-christlichen Erziehung der Jugend verpflichtet. Diese Auffassung weist auf seine Leipziger Lehrer Ernesti und Reiske hin, die ungeachtet ihrer persönlichen Fehde beide Pädagogen am Thomas- bzw. NikolaiGymnasium waren. 29 Reiske allerdings mußte gestehen, daß er sehr wenig Erfolg im Unterricht hatte. 3 0 Im Jahre 1769 kehrte Matthaei an die Leipziger Universität zurück. Er wurde Magister und verteidigte im nächsten Jahre (17. 3. 1770) seine „Disputatio de Aeschine Oratore". Reiske hat, wie er an Gotthold Ephraim Lessing berichtet, sie in seinem Oratorium Graeca (Leipzig 1770) abgedruckt. 3 1 Matthaei hatte während des Studiums die Achtung von Ernesti und Reiske errungen. Nach ihrer Meinung berechtigte dieser junge Mann zu den schönsten Hoffnungen und Aussichten auf eine glänzende wissenschaftliche Karriere. 3 2 Aus diesem Grunde verwendeten sich beide für ihn, um eine seinem Wissensstand und seinen Fähigkeiten adäquate Anstellung zu finden. Von Ernesti wurde er an verschiedenen Stellen ganz besonders empfohlen, so für Ihlfeld und Gießen. Diese Hoffnungen zerschlugen sich aber ebenso wie die Fürsprache von Christian Gottlieb Heyne in Göttingen (1729-1812). Ihm hatte er deshalb seine Ausgabe des Chrysostomos gewidmet (1792). 3 3 Auch sein Vater versuchte, beim Kurfürsten in Dresden für Christian Friedrich ein gutes Wort einzulegen. Matthaei berichtet über diesen erfolglosen Versuch in seiner Widmung vom 17. Juli 1781. 3 4 Reiske wandte sich brieflich im Herbst 1771 an Lessing. Er bat ihn darum, Matthaei in der Bibliothek zu Wolffenbüttel oder in einer Schule unterzubringen. Für Reiske war Matthaei ein wahrhaft brauchbarer Mann und guter Schulmann. Sowohl in seinem äußeren Auftreten als auch in seiner Wissenschaft fehle es ihm in keiner Weise. Als Empfehlung teilte er Lessing mit, daß Matthaei neben Aeschinos nun auch den Dionysios Halicarnassos herausbringen wolle, was 1789 im Zusammenhang mit seiner Berufung nach Wittenberg dann auch erfolgte. 35 Die Bitte an Lessing war eindringlich. Der junge Mann dauerte Reiske. Die meisten Leute würden ihn trotz seiner bedeutenden Talente verkennen. Man versuche sogar, so Reiske, ihn nach Moskau abzuschieben. Doch dort, so fürchte er, wird er für die Wissenschaft verloren sein. Im Antwortschreiben vom 16. Mai 1772 hat Lessing auf diese Bitte nicht reagiert, nicht einmal den Namen Matthaei hat er erwähnt. 3 6 Der Lebensweg von Matthaei bewies, daß genau das Gegenteil von dieser Befürchtung eintraf. Auch die Fürsprache beim Superintendenten D. Ruhrkoph in Helmstedt zerschlug sich. Reiske nimmt an, daß Matthaei ein 28 29 30

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Vgl. Gebhardt, Sammlung (wie Anm. 14), S. 351 Anm. 4. Vgl. Preisler (wie Anm. 21), S. 186. Vgl. Burkhard Malich, Johann Jacob Reiske (1716-1774), Absolvent der Franckeschen Stiftungen, in: Dixhuitieme: Zur Geschichte von Medizin und Naturwissenschaften im 18. Jahrhundert, Hgg. Arina Völker, Halle 1988, S. 24-26 (= Wiss. Beiträge der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg 1 9 8 8 / 2 0 (T. 67); O . Kaemmel, Geschichte des Leipziger Schulwesens vom Anfang des 13. bis gegen Mitte des 19. Jahrhundens (1214-1846), Leipzig/Berlin 1909, S. 370-406. Vgl. Richard Foerster (Hgg.), Johann Jacob Reiske, Briefe, Leipzig 1897, S. 482 (= Abhandlungen der philol.-hist. Klasse der Königlichen Sachs. Gesellschaft der Wiss. Bd. XVI); Gebhardt, Sammlung (wie Anm. 14) S. 349. Gebhardt, Sammlung (wie Anm. 14) S. 348; Müller (wie Anm. 16) S. 143. Ebd. Ebd. S. 434 Anm. 3 (Widmung an den Kurfürsten Friedrich August). Programm d Dionysio Halicarnesseni, Wittenberg 1789. Bei Johann Georg Meusel, Das gelehrte Teutschland Bd. V Nr. 34. Gemeint ist Lessings Antwort vom 16. Mai 1772; vgl. Gebhardt, Sammlung (wie Anm. 14) S. 349 Anm. 4.

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Landeskind im K a m p f um die Stelle „querfeldein" g e k o m m e n sei. 3 7 Als der erste R e k t o r der beiden Moskauer Gymnasien, des adligen und nichtadligen, J o h a n n Matthias Schaden ( 1 7 3 1 - 1 7 9 7 ) , im Jahr 1772 den Lehrstuhl für Praktische Philologie an der Universität erhalten hatte, suchte der Geheimrat, Ritter und Kurator der Universität Moskau, Ivan Ivanovic Melissino ( 1 7 1 8 - 1 7 9 5 ) , in Deutschland einen geeigneten Nachfolger. 3 8 A u f E m p fehlung Ernestis wurde diese Stellung Matthaei angetragen. D i e Ansprüche an diesen Posten waren nicht gering. So wurde ζ. B . dem ersten R e k t o r J o h a n n Tönnies im Jahr 1755 die Eignung für dieses A m t nicht bestätigt. 3 9 Matthaei nahm trotzdem die Stelle an. Die beiden Gymnasien waren aufs engste mit der Universität verbunden. Das adlige Gymnasium hatte einen relativ kleinen Kreis von Schülern. D i e Moskauer Universität galt dagegen den neuen bürgerlichen Auffassungen gegenüber als aufgeschlossener als St. Petersburg. W ä h r e n d die adligen Schüler im G y m n a s i u m insbesondere auf dem Gebiet der klassischen Altertumswissenschaften ausgebildet werden sollten, stand für die nichtadligen Söhne die Heranführung an das Niveau und den Standard westeuropäischer Studienbewerber im Vordergrund. Für sie sollte damit ein späteres Studium an den westeuropäischen Universitäten ermöglicht werden. Matthaei trat am 18. (29.) Juni sein neues A m t in einem fremden Land ohne Kenntnis der Landessprache an. D i e ersten Lehrer und Professoren an der Universität waren meist Deutsche, 4 0 die gleichfalls der Landessprache nicht oder nur wenig mächtig waren. D e r Unterricht fand daher zumeist in der deutschen Sprache oder entsprechend der Richtlinie des russischen Conseils in Latein statt. 4 1 Wie schwierig das Finden geeigneter Lehrer war, zeigt das Beispiel des aus dem Rheinland stammenden T h e o l o g e n Franz H o l t e n h o f f ( 1 7 6 3 1780). E r hatte seit 1758 in Kazari unterrichtet und war verschiedener Umtriebe und häretischer Einstellungen verdächtigt worden. Zeitweilig landete er vor G e r i c h t und in Festungshaft. 4 2 Leider ist über das Ergebnis des Unterrichts von Matthaei an den beiden Gymnasien nur sehr wenig bekannt. Später wird er an der Universität Moskau belobigt, daß er sich mit großer M ü h e der Einführung der Studenten in die lateinische Rethorik unterzogen habe. 4 3 Einige Professoren, wie der jüngere Christian Schlözer ( 1 7 7 4 - 1 8 3 1 ) , erlernten sehr schnell die russische Sprache und trugen unter begeisterter Anteilnahme der Studierenden ihre Vorlesungen in Rhetorik oder Philosophie in Russisch vor. 4 4 Andere resignierten vor dem Sprachproblem und den Problemen des Lebens in Moskau und verließen bald wieder die Universität. 4 5 Matthaei hatte in Moskau einflußreiche Fürsprecher wie Eugenios Bulgaris oder auch seine ehemaligen Leipziger Lehrer, die ihm den Start als Professor durch 37 38

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Brief an Lessing vom Herbst 1771; etd. S. 349. Kurator von 1771-1795 und von 1763-1768 Oberprokur des hl. Synod in Moskau; Vgl. Erik Amburger, Beiträge zur Geschichte der deutsch-russischen kulturellen Beziehungen, Gießen 1961, S. 175. 195 Nr. 100. Vgl. Amburger (wie Anm. 38) S. 175 und Anm. 85. Vgl. insbesondere die Berufungspraxis des ersten Kurators Ivanovic Suvalov (1727-1797) ; Stieda (wie Anm. 13) S. 3f. Vgl. Stieda (wie Anm. 13) S. 47; Amburger (wie Anm. 38) S. 175. Vgl. Amburger (wie Anm. 38) S. 175 f.; Stieda (wie Anm. 13) S. 6. 13. 33. mit Berichten von Ablehnungen und Widerständen. Vgl. Biograficeskij Slovar, Moskau 1855, I, S. 191, daraus Stepan Sevyrev, Istorija Imperatorskogo Moskovskogo Universitete, Moskau 1855, und 2 Moskau. 1859; deutsche Übersetzung in Auszügen bei Gebhardt, Sammlung (wie Anm. 14) S. 356. Vgl. Stieda (wie Anm. 13), S. 26. Karamzin hatte für den Beginn dagegen die besser bekannte französische Sprache empfohlen, ebd. S. 27. Ebd. S. 16. 26. 13 f. 33.

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Einführung in die vornehmen Salons zu erleichtern suchten. Zu seinen Gönnern gehörte auch der Günstling Katharinas II., Fürst Grigorij Aleksandrovic Potemkin (1739-1791). 4 6 Auch der Kurator der Moskauer Universität, Michail Nikitic Muravev (1757-1807), bemühte sich sehr um das Wohlbefinden der aus Deutschland zugewanderten Wissenschaftler. Je nach Alter trug Matthaei während dieser Zeit, wie wir aus dem viel späteren Bericht des Jahres 1855 wissen, fast alle griechischen und römischen Schriftsteller nach der Beurteilung seiner Schüler in sehr gutem Latein vor. 47 Auf Empfehlung von Michail Vasil'evic Lomonosov (1711-1765) bestand zwischen den beiden Gymnasien und der Universität Moskau eine sehr enge Verbindung, ζ. T. nahmen die Professoren auch den Unterricht an den Gymnasien wahr. Erfolgreiche Lehrer der Gymnasien wurden gern an die Universität berufen. So wird auch Matthaei bereits 1776 zum Außerordentlichen und 1778 zum Ordentlichen Professor der Klassischen Philologie (literarum humaniorum) berufen. In dieser Stellung verblieb er über sechs Jahre. 4 8 Am 28. 2. 1782, und das ist kennzeichnend für den Weg zu höchster Anerkennung, wird Matthaei auf ausdrücklichen Befehl Katharinas II. zum Russisch-Kaiserlichen Kollegienassessor ernannt. 49 Wenn wir die russisch-deutschen Beziehungen des 17. und 18. Jh. betrachten, so sind wir über die steile Karriere von Matthaei weniger erstaunt. Insbesondere die Zentren Leipzig und Halle waren nach Günter Mühlpfordt Drehpunkte der deutsch-russischen Verbindungen. 50 Die Vermittlung junger Deutscher nach Rußland geschah ζ. T. über Johann Christoph Gottsched in Leipzig, der besonders ob seiner guten Kenntnisse der russischen Sprache hoch geschätzt war. Auf Empfehlung Gottscheds wurde ζ. B. der Historiker Christian Gottlieb Koellner (1729-1760) nach Moskau berufen, der 1757 sein Amt antrat, aber bereits 1760 verstarb, oder Johann Gottfried Reichel (1727-1778), der seit 1757 21 Jahre lang als Lehrer und Professor für Sprache und Literatur sowie für Geschichte wirkte, oder der Jurist Philipp Heinrich Dilthey (1723-1781). 5 1 Andere Gelehrte wie Christian Gottlieb Heyne (1729-1812) oder Christoph Meiners (1747-1810) in Göttingen waren russische Vertrauensleute und wurden immer wieder um Vorschläge für Professorenstellen ersucht. Von Meiners ist für den Zeitraum von 1803 bis 1809 eine Liste von 80 Empfehlungen für die verschiedensten Wissensgebiete überliefert worden. 52 Allerdings konnten nicht alle Vorschläge von Muravev umgesetzt werden. Man denke auch an die Bedeutung und Wirkung des Sängers der Sturm- und Drangbewegung, Friedrich Max von Klinger, der Erzieher am Zarenhof und späterer Kurator der Dorpater Universität wurde. Besonders der erste Kurator der Moskauer Universität, Ivan Ivanovic Suvalov (1727 -1797), berief gern junge und als bedeutende Wissenschaftler bereits ausgewiesene Talente über die Vermittlung von Göttingen, Halle oder Leipzig nach Moskau. 55 Erinnert sei auch an die große Zahl deutscher Mediziner, Juristen, Naturwissen46

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Vgl. Oskar v. Gebhardt, Recensionen und Schriften, in: Centralblatt für Bibliothekswesen X I V (1897) S. 299-301. Vgl. Sevyrev (wie Anm. 43) II, S. 24 f.; Gebhardt, Sammlung (wie Anm. 14) S. 356. Vgl.Gebhardt, Sammlung (wie Anm. 14) S. 350. Vgl. Müller (wie Anm. 16) S. 142. Günter Mühlpfordt, Leipzig als Brennpunkt der internationalen Wirkung Lomonossovs, Berlin 1968, S. 271 f.; ders., Petersburg und Leipzig - zwei engverbundene Zentren der Aufklärung, in: Russisch-Deutsche Beziehungen von der Kiever Rus bis zur Oktoberrevolution, Berlin 1976, S. 115 f. (= Quellen und Studien X I X ) ; vgl. auch Erich Donnert, Rußland im Zeitalter der Aufklärung, Leipzig 1983, S. 87 f. Vgl. Stieda (wie Anm. 13) S. 3-4; Sevyrev (wie Anm. 43) S. 330. Vgl. auch E. Donnert, Philipp Heinrich Dilthey, in: Österreichische Osthefte 31 (1989), S. 203-237. Vgl. Stieda (wie Anm. 13) S. 109-110. Ebd. S. 46 f.

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schaftler oder an den Historiker Johann Gotthilf Stritter (1740-1801), der sich durch die Übersetzung und Herausgabe von griechischen Texten über die Völker des Kaukasus und angrenzender Stämme in russischer und deutscher Sprache auszeichnete. Von August Ludwig Schlözer war er 1766 für das Gymnasium in St. Petersburg gewonnen worden. Auch er hatte den Titel Russisch-Kaiserlicher Hofrat und Ritter des Wladimirordens erhalten. 5 4 In der Regel war man mit den Berufungen, der finanziellen Ausstattung und den verliehenen Titeln auf der einen und den wissenschaftlichen und pädagogischen Bemühungen und dem Auftreten der deutschen Wissenschaftler auf der anderen Seite zufrieden. So nennt Muravev in einem Brief vom 9. März 1804 und auch am 7. Juni 1805 die deutschen Gelehrten „seine werthesten Freunde". 55 Daneben gab es negative Beispiele, ζ. B. Johann Ide (1775— 1805), der sich in Moskau „totgrämte" und tatsächlich mit 30 Jahren dort starb. 56 Der Jurist Christian Julius Ludwig Steltzer (1758-1831) bedankte sich zwar euphorisch bei Meiners für die Vermittlung nach Moskau, doch bereits mit seiner Ankunft erhob er Proteste und Beschwerden gegen die Moskauer Universität. 57 Uberhaupt nicht zurecht kam der Rechtshistoriker Christian Heinrich Gottlieb Köchy (1769-1828), der ebenso wie Steltzer auch in Halle gelehrt hat. Gemeinsam werden sie später nach undurchsichtigen Handlungen ihrer Professur in Dorpat enthoben. Christoph Wilhelm Hufeland und Friedrich August Wolf lehnten schon bei der Anfrage ab. 58 Andere Deutsche haben ob der Probleme die Universität Moskau sofort wieder verlassen oder die Verhandlungen abgebrochen. 59 Insbesondere die Schwierigkeiten mit der Unterkunft und die Probleme mit der Sprachverständigung und der ζ. T . sich länger verzögernden Ankunft des Reisegepäcks mögen dabei eine gewisse Rolle gespielt haben. Hinzu kamen die Nachwirkungen der Pest von 1771. Eine Reihe von Gelehrten klagte über die hohen Versandkosten bei Büchern und den langen und beschwerlichen Anmarschweg zur Universität. Positiv waren die sich in Moskau gegen Ende des 18. J h . verstärkenden Verlegeraktivitäten, insbesondere von Nikolaj Ivanovic Novikov (1744-1811), ehe auf diesem Gebiet 1796 eine starke staatliche Beschränkung einsetzte. 60 Die durchschnittliche gezahlte Summe für einen ordentlichen Professor belief sich auf 2000 Rubel. Sie wurde häufig verbunden mit einer kostenlosen Unterkunft in eigens für diesen Zweck durch die Universität erworbenen Gebäuden. 28 Ordentliche Professorenstellen waren an der Universität vorgesehen. Der Kostenvoranschlag für den Jahreshaushalt der Universität belief sich auf 130 000 Rubel. Die Zahl der Adjunkten (Außerordentliche Professoren) war auf 12 festgelegt. Sie erhielten 800 Rubel, die Sprachlehrer 600 Rubel. Rektor und Dekan besserten ihr Verdienst noch mit Zulagen von 600 bzw. 300 Rubel auf. Hinzu kamen Leistungen an Reisegeld. 61 Dagegen stehen gerade für jüngere Gelehrte die relativ hohen Kosten für Unterbringung, Heizung und die Sicherung des Anmarschweges zur Universität. Jeder Gelehrte konnte durch Privatveranstaltungen in seiner Unterkunft die offiziellen Jahreszuschüsse ergänzen. Gerade die Kuratoren der Universität gaben sich alle Mühe, die finanzielle Situation der berufenen Gelehrten zu

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Vgl. Guyla Moravcsik, Byzantinoturcica. Die byzantinischen Quellen der Geschichte der Turkvölker, ^Berlin 1958, I S. 24 ( = Berliner Byzantinistische Arbeiten 1 0 / 1 1 ) ; Johann Georg Meusel, Das gelehrte Teutschland, 1798, VII S. 7 0 4 - 7 0 5 mit Aufzählung seiner Veröffentlichungen.

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Zitiert nach Stieda (wie Anm. 13) S. 25.

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Ebd. S. 29.

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Ebd. S. 30; Biograficeskij Slovar (wie A n m . 43) I, 33.

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Vgl. Stieda (wie Anm. 13) S. 30. 32.

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Ebd.S. 13.

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Vgl. Amburger (wie Anm. 38) S. 2 2 9 - 2 3 1 ; Sevyrev (wie Anm. 47) S. 127 Sp. 3.

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Vgl. Stieda (wie Anm. 13) S. 2 f.

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verbessern, so daß niemand N o t leiden sollte und ihre Lebenslage im Vergleich zum Heimatland eine Verbesserung darstellte. Auch Matthaei wohnte mit Johann Gottlieb Buhle (1763-1821), Professor f ü r Philosophie und Philologie, und später mit dem Botaniker Georg Franz H o f f m a n n (1761-1826) und dem Astronomen Christian Friedrich Goldbach (1763-1812) gemeinsam in von der Moskauer Universität erworbenen Gebäuden. 6 2 Während seines ersten Moskauer Aufenthaltes erhielt Matthaei bald den kaiserlichen Ukaz, übermittelt von Potemkin im N a m e n der Kaiserin Katharina II., Ordnungsarbeiten in der Bibliothek des Moskauer Synods durchzuführen. 6 3 D u r c h das Erstellen eines neuen Kataloges mit einer ausführlichen Beschreibung der vorhandenen Drucke und Handschriften sollten die Bestände einem größeren wissenschaftlichen Leserkreis zugänglich gemacht werden. Bald nach seiner A n k u n f t veröffentlichte Matthaei 50 Folianten aus der Moskauer Synodalbibliothek. 6 4 Wie wir aus verschiedenen Schilderungen wissen, müssen die Zustände in der Bibliothek katastrophal gewesen sein. Es wurde von ungeordnet herumliegenden Büchern berichtet und von Mäusen, die die kostbaren Buchbestände und Handschriften anknabberten. 6 5 Viele Vorwürfe, die später erhoben werden, müssen im Zusammenhang mit den schlechten Bibliotheksverhältnissen gesehen werden. Der Sakristan Gavriil gab 1774 einen ersten Überblick heraus. Der Bücherbestand wurde mit 3555 Exemplaren und 105 griechischen Handschriften beziffert. Die N u m m e r n sind nur z . T . mit dem Nachweis bei Matthaei aus dem Jahr 1780 identisch. 66 Aus dem Vergleich mit den späteren Katalogen, z . B . vom Archimandriten Sawa 1858 oder vom Archimandriten Vladimir aus dem Jahr 1894 67 können wir erkennen, welches Durcheinander geherrscht hat und welche Bestände ζ. B. seit dem Katalog von Schiada aus dem Jahr 1723 vermißt wurden. Der Katalog des Athanasius Schiada war 1723 auf Befehl Peters des G r o ß e n gedruckt worden. Als später Matthaei Vorwürfe gemacht werden, er hätte durch seine Veröffentlichungen der Bibliothek geschadet, beruft er sich auf diesen Erlaß Peters. 68 Immer wieder weist Matthaei auf die vorhandenen Bestände hin, ζ. B. im Brief an David Ruhnken in Leiden, in seiner Notitia 1776, in seinem Nachweis von 1780 oder in seinem Katalogsverzeichnis von 1805. 69 Für den Verlust bzw. das Nichtwiederauffinden wird man nicht in allen Fällen Matthaei verantwortlich machen können, ζ. B. beim Text des Oreibasios aus dem 16. Jh.

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Ebd. S. 84. 86. (Briefe von G. F. Hoffmann an Meiners vom 12. Januar 1805 und von J. G. Buhle an Meiners vom Dezember 1804). Vgl. Gebhardt, Recensionen (wie Anm. 46) S. 299 f.; ders., Sammlung (wie Anm. 14) S. 353 (Ukaz); Argumente gegen Matthaeis Beteiligung bei Gebhardt, Sammlung (wie Anm. 14) S. 409; für diese trat ein Sergej Belokurov, Arsenij Suchanov, Moskau 1891, S. 354 f.; ders., Obibliot. moskovskich gosudarev ν XVI stol., Moskau 1898. Vgl. Gebhardt, Sammlung (wie Anm. 14) S. 354.409; ders., Recensionen (wie Anm. 46) S. 299 f. Dazu vgl. auch die Praefation aus dem Index aus dem Jahr 1780; Matthaei, Index codd. graec. bibliothecarum Mosquensium, Petropoli 1780. Vgl. Gebhardt, Sammlung (wie Anm. 14) S. 405 Anm. 3. Ebd. S. 405-406; vgl. auch das Nachwort in der Notitia von Matthaei, ders., Notitia codd. russ. graecorum bibliothecarum Mosquensium, Moskau 1776. Archimandrite Sawa, Ukasatel' dlja obozvenija Moskovskoj Patriaräej (nyne Sinodal' noj) Biblioteki, ^Moskau 1855/1859; Archimandrite Vladimir, Sistematiceskoe opisanie rukopisej Moskovsko Sinodal' noj (Patriarsej) Biblioteki, I. Rukopisi greceskie, Moskau 1894; Vgl. dazu die Notitia (wie Anm. 66) oder den Index von 1780 (wie Anm. 64) oder Matthaei, Accurata codd. graecorum bibliothecarum Mosquensium S. Synodi notitia et recensio, Leipzig 1805. Vgl.Gebhardt, Sammlung (wie Anm. 14) S. 350. 353 und Anm. 1. 405. 410 f.; Brief an Ruhnken vom 8. Juni 1778 mit Klagen von Matthaei, ebd. S. 350. Vgl. Gebhardt, Sammlung (wie Anm. 14) S. 350; Brief an Ruhnken vom 8. Juni 1778.

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Die Aufarbeitung und Bekanntmachung der in der Bibliothek des Hl. Synod in Moskau liegenden Schätze war eine bedeutende Leistung. Sie ist in der internationalen wissenschaftlichen Geisteswelt durchgängig anerkannt worden. Vermutlich waren die ersten bedeutenden Schätze im Auftrage des Zaren Aleksej (1645-1673) und auf Weisung des Patriarchen Nikon (1605-1681) durch den Mönch Suchanov im Jahr 1653 im Orient und insbesondere auf dem Athos erworben worden. Es wird eine Liste von 466 Handschriften genannt. 70 Matthaeis Kenntnisse auf dem Gebiet der Philologie und Paläographie werden im Nachruf von 1855 besonders hervorgehoben. Sie hätten ihn geradezu dazu prädestiniert, eine solche Sichtung, Beschreibung und Publizierung der Bücherbestände durchzuführen. 71 In der Widmung an die Kaiserin bzw. Potemkin vom Jahr 1776 betont Matthaei, daß er die meiste Zeit seines ersten Aufenthalts mit dieser Arbeit zugebracht habe. Er spricht von drei Jahren. Diese Mitteilung würde bedeuten, daß der Auftrag an ihn im Jahr 1773 erteilt worden ist.72 Nach Erledigung und Überreichung der ersten Ergebnisse wird er 1776 von der Zarin ausgezeichnet.73 Matthaei hat mit großem Feingefühl und scharfsinnigem Verstand und der Erfahrung eines gut ausgebildeten Philologen und Paläologen die Bestände erschlossen und über zwölf Jahre lang immer wieder auf sie hingewiesen. Er versah dies mit einer möglichst genauen Beschreibung des Vorgefundenen. Mit gleicher Gründlichkeit widmete er sich der Berichtigung griechischer Texte der hl. Schriften wie der klassischen Autoren. 1782 bis 1788 brachte er eine vollständige Ausgabe des Neuen Testaments auf der Grundlage der 100 Handschriften aus dem Hl. Synod heraus, die nach Matthaeis Angaben bislang nicht veröffentlicht waren und von ihm in Moskau entdeckt und erschlossen worden sind.74 Bei dieser Arbeit in der Synodalbibliothek war es Matthaei gelungen, eine Reihe von Texten wiederzufinden, die nach allgemeiner wissenschaftlicher Meinung als verloren galten. Die Büchersammlung des Hl. Synod galt in Westeuropa als völlig vernachlässigt und vergessen. Matthaei entdeckte u. a. die Demeter-Hymnen des Homer aus einer Handschrift des 14. Jh. (veröffentlicht Leiden 1780) und 120 Verse des Hymnos an Dionysios. Er sandte sie an David Ruhnken (1723-1798) in Leiden. 75 Obwohl Matthaei um Rückantwort gebeten hatte, um den Text noch einmal zu überprüfen, veröffentlichte Ruhnken sofort den Text und erlebte eine ziemlich unangenehme Überraschung. Gleichzeitig hatte Matthaei nämlich die Verse auch zur Einsicht an den Grafen Christian von Stollberg (1748-1821) gesandt, auch mit der Bitte um Nichtweitergabe. Als aber Johann Heinrich Voß (17511826) den von Ruhnken in Leiden veröffentlichten Text mit seiner von Stollberg erhaltenen Vorlage verglich, stellte er fest, daß bei der Leidener Fassung eine Reihe von Versen fehlte. Ruhnken hat sich öffentlich für die fehlerhafte Veröffentlichung entschuldigt. 76 Formell 70

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Vgl.Gebhardt, Sammlung (wie Anm. 14) S. 408 (Oribasius aus dem Jahre 1808); ders., Recensionen (wie Anm. 46), S. 298; Belokurov, Arsenij Suchanov (wie Anm. 63) S. 354 ff.; Viktor Emil v. Gardthausen, Katalog der Griechischen Handschriften der Universitäts-Bibliothek zu Leipzig, Leipzig 1898, III S. XII. Vgl. Gebhardt, Sammlung (wie Anm. 14) S. 353 f. Ebd. S. 408 f. (Entsprechend der Widmung des Katalogs vom 13./24. April 1776). Den freien Zutritt zu den Bibliotheken erwähnt Matthaei besonders in der Praefation des Index von 1780; ders. (wie Anm. 64) S. 13; Gebhardt, Sammlung (wie Anm. 14) S. 410. Vgl. Gebhardt, Recensionen (wie Anm. 46) S. 299 Anm. 1; ders., Sammlung (wie Anm. 14) S. 353, Lobrede. Vgl. Gebhardt, Sammlung (wie Anm. 14) S. 355. Vgl. Conrad Bursian, Geschichte der klassischen Philologie in Deutschland von den Anfängen bis zur Gegenwart, München/Leipzig 1883, S. 551; Gebhardt, Sammlung (wie Anm. 14) S. 445 Anm. 1 (Bitte um Kollationsmöglichkeit vom 31. Oktober 1779). Vgl. Gebhardt, Sammlung (wie Anm. 14) S. 445 f.; Brief an Ruhnken vom 15. September, ebd. S. 451 f.

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hat er auch die Erklärungen von Matthaei akzeptiert. Den Text korrigierte Ruhnken in der zweiten Auflage, seinem Moskauer Kollegen hat er aber dafür eigentlich nicht mehr verziehen. Er wies sogar eine Widmung von Matthaei zurück. 7 7 Noch im Jahr 1883 rühmt der klassische Philologe Conrad Bursian die bedeutende Leistung von Matthaei durch die Auffindung des Homer-Textes für die griechische Poesie. 78 In dieser Zeit hat Matthaei relativ häufig Kodizes und Texte, die er in der Synodalbibliothek fand oder nach eigener Angabe gekauft hatte, an westliche Kollegen mit Widmung und Empfehlungsschreiben verschickt. An Heyne und Ruhnken hat er sowohl Texte verkauft als auch mit einer Widmung versehen verschenkt. Diese wurden dann später unter den Handschriftschätzen der dortigen Bibliotheken erwähnt. An Ruhnken sandte er vier griechische Handschriften, an Heyne u. a. einen wertvollen Pindartext mit Scholien. 79 Das Vorhandensein von Bücherschätzen, die auf Matthaei zurückgeführt werden und ζ. T. mit eigenhändigen Randnotizen versehen sind, wird auch aus den Katalogen der Bibliotheken in Leipzig, Dresden, St. Petersburg, Göttingen und Charkow berichtet. 80 Ruhnken fragte allerdings vergeblich nach der Herkunft einiger Texte und Handschriften. Er erhielt nur die etwas merkwürdig klingende Auskunft, daß er, Matthaei, sie im Innern Rußlands erworben habe. 81 Da Matthaei niemals eine Orientreise unternommen hat, scheidet der Erwerb bei den Athosmönchen oder im Orient aus. Matthaei behauptet, daß er einen Teil der Handschriften von Kartacev erworben habe, wohl aus dem Nachlaß der Familie von A . A . Borzov ( t 1736). Diese Herleitung erwies sich bei den späteren Untersuchungen (rund 100 Jahr später) als nicht stichhaltig. Die große Bibliothek des Herrn Kartacev, den Matthaei selbst als „unsauberes Element" im Brief an Ruhnken bezeichnet hat, 82 erschien als eine Art „Fiktion". 83 Vermutlich hat dieser von Matthaei überhöhte Preise verlangt. Eine andere Möglichkeit, in den Besitz alter und kostbarer Drucke zu gelangen, bestand in der Art der Entleihung und fehlerhaften Rückgabe oder dem Austausch mit minderwertvollen Drucken. Anfang der 70er Jahre war zur besseren Sicherung der Bestände eine Kommission eingesetzt worden. Sie sollte eine Revision durchführen und einen vollständigen Katalog vorlegen. Folgen wir Matthaei in seiner Äußerung im Nachwort der Notitia von 1805,84 so haben der Abt Sofronij und der Hierodiakon Gedeon seine Hilfe angenommen und mit ihm zusammengearbeitet. Drucke und Handschriften wurden sorgfältig geschieden. Es erfolgte eine Trennung der Bestände nach den zugrundeliegenden Sprachen. 1773 erreichte diese Arbeit einen gewissen Abschluß. Am 20. April 1775 übernahm der Abt Kiprian die Bibliothek von seinem Vorgänger Gavriil und versuchte, erstmalig eine Signierung der Bestände durch Eigentumskennzeichnung, Name und Unterschrift zu erreichen. 85 Bei den Klagen um die verschwundenen Bestände rund 100 Jahre nach dem Tod von Matthaei sollte diese Sicherung eine große Rolle bei der Bestandsaufnahme spielen.

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Vgl. Gebhardt, Sammlung (wie Anm. 14) S. 448 Anm. 3; Brief vom 12. Januar 1782. Vgl. Bursian (wie Anm. 75) S. 551. Vgl. Gebhardt, Sammlung (wie Anm. 14) S. 459 Anm. 1. 462. Vgl.Gardthausen, Katalog (wie Anm. 70) S. 23. 65. 67. 75. 77; Marcel Richard, Repertoire Des Bibliotheques Et Des Catalogues De Manuscrits Grecs, Paris 1958, S. 88. 125. 131. 141. 164-167; Otmar Schissel, Kataloge Griechischer Handschriften, Graz 1924 Nr. 89. 100. 124. 173. 176. 240. 293. Vgl. Gebhardt, Sammlung (wie Anm. 14) S. 443 f. 458, laut Antwort vom 8. Juni 1778. Ebd. 454. 455 Anm. 3. Ebd. S. 565; vgl.insbesondere Eduard Thrämer in der Münchener Allgemeinen Zeitung 1892, Beilage Nr. 2 S. 1 und Gardthausen, Katalog (wie Anm. 70) S. XI. Matthaei, Notitia (wie Anm. 66) Nachwort, S. 11. Vgl. Gebhardt, Sammlung (wie Anm. 14) S. 410 Anm. 1. 483.

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Nach der Übernahme des Reichsarchivs durch Gerhard Friedrich Müller (1705-1783) und der Einführung einer Bibliotheksordnung entfiel auch hier die Möglichkeit einer unkontrollierten Bücherentnahme. Obwohl 1777 eine Reihe von Büchern zum Zwecke von Neuanschaffungen veräußert wurden, ist durch den Vergleich mit der Liste der Bestände, die Matthaei an Ruhnken geschickt hatte, eine unrechtmäßige Entnahme aus dem Reichsarchiv kaum erfolgt (8. Februar 1778). 86 Der Vorwurf, der Leiter der Bibliothek hätte mit Matthaei bei Erwerb und Verkauf, ζ. B. nach Charkow, gemeinsame Sache gemacht, entbehrt jedes Beweises und hängt wohl nur mit den öffentlichen Angriffen gegen Müller zusammen. 8 7 Im Mittelpunkt der Texte und Handschriften standen entsprechend der Herkunft der Bibliotheksbestände des hl. Synod aus den Athosklöstern natürlich griechische Drucke und Handschriften, die sich mit religiös-patristischen Themen befaßten. Es werden aber auch Realientexte genannt, ζ. B. vom Mediziner Galen, weniger von historischen Autoren. 8 8 Die meisten Ausgaben entstammen dem 9. bis 17. Jahrhundert. August Ludwig Schlözer (1735-1809) schrieb 1802 an einen russischen Historiker, daß gerade die byzantinische Literatur (nicht die klassischen Autoren) in seiner Zeit völlig eingeschlafen sei. 89 Es ist verständlich, daß deshalb insbesondere die religiösen Debatten, ζ. B. über den Hesychastenstreit mit seinen Folgen und die Auseinandersetzung um Palamas, neben den griechischen Kirchenvätern wie Chrysostomos, Eusebios, Basilius der Große, Origines usw. das besondere Interesse von Matthaei gefunden haben. 9 0 Darauf verweisen auch die Zusammenarbeit mit dem von Matthaei so verehrten Eugenios Bulgaris und die ihm gewidmete Ausgabe aus dem Jahre 1776. 9 1 Nicht immer allerdings entsprach die Ankündigung, neue und bisher unbekannte Texte vorzulegen, den Tatsachen. Offensichtlich war trotz des regen Briefverkehrs unter den Gelehrten die Fehlerquelle in der Informationsübermittlung nicht zu übersehen. Es war aber stets das Ziel von Matthaei, fast vergessene und verlorene Drucke und Handschriften der europäischen Gelehrtenwelt zugängig zu machen und philologisch zu erschließen. 9 2 Es gibt in dieser Zeit kaum eine Veröffentlichung von Matthaei, in der er im Zusammenhang mit der Liste seiner eigenen Publikationen nicht auch auf die Bestände der Moskauer Synodalbibliothek und seine Verdienste um deren Erschließung hinweist. 93 Während seines ersten Aufenthalts in Moskau hatte Matthaei das Recht, sowohl in den Bibliotheken zu arbeiten als auch Bibliotheksbestände zur häuslichen Arbeit mitzunehmen. Bei der unklaren Situation in den Bibliotheken mag die Rückgabe dann auch zu Verwechslungen geführt haben. Erst viel später wird Matthaei vorgeworfen, daß dies nicht aus Versehen geschehen sei. Fast 100 Jahre nach seinem Tode vermehren sich diese Angriffe. Es ist kaum zu bezweifeln, daß Matthaei den Gefahren eines ungeordneten Bibliothekswesens erlegen ist. 86

Ebd. S. 4 1 6 f.; Stieda (wie Anm. 13) S. 5 4 7 - 5 5 3 .

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Vgl. P. Pekarskij, Geschichte der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, St. Petersburg I (russ.), S. 335; Gebhardt, Sammlung (wie Anm. 14) S. 4 1 6 ; Stieda (wie Anm. 13) S. 26 f.

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Vgl. Gebhardt, Sammlung (wie Anm. 14) S. 353. 5 3 7 - 5 6 6 . Genannt werden u. a. Theophylaktos Simokates, Andronikos Komnenos, Michael Glykas, Zosimos, Zonaras, Nikephoros Gregoras, Arethas.

89

Zitiert nach Moravcsik, Einführung (wie Anm. 2) S. 25.

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Vgl. Doering (wie Anm. 19) S. 425; Gebhardt, Sammlung (wie Anm. 14) S. 354.

91

Vgl. Goltz (wie Anm. 7) S. 365 Anm. 43 mit weiterer Literatur. Widmung von Gregorii Thessalonicensis

92

Vgl. Gebhardt, Sammlung (wie Anm. 14) S. 353 f.;Walter Friedensburg, Geschichte der Universität W i t -

93

Vgl. Gebhardt, Sammlung (wie Anm. 14) S. 354. Zuletzt in Poikila 'Ellenikä. Varia Graeca, Moskau 1811.

X Orationes, Moskau 1776, S. 2. tenberg, Halle 1917, S. 593. Dort wird es für Wittenberg betont. D o r t werden 55 Bücher genannt ohne Reden, einige Übersetzungen, Rezensionen und Lehrbücher zum Studium.

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Trotz der Trennung von der Heimat hebt Matthaei hervor, daß er sich in Moskau wohlfühlt. 94 Doch bereits 1784 bittet er überraschenderweise unter Hinweis auf die Erkrankung seiner Frau, auf seine angegriffene Gesundheit und andere häusliche Probleme um eine Urlaubsreise nach Sachsen. Ob eine Entlassung oder nur Beurlaubung beantragt worden ist, ist nicht ersichtlich. 95 Nach vorheriger Ernennung zum Korrespondierenden Mitglied der Moskauer Universität erhält er im Sommer 1785 die kaiserliche Genehmigung und trifft am 16. August in Sachsen ein. 96 Obwohl er in Moskau eine finanziell gesicherte Stellung hatte, begab er sich mit seiner Familie in eine ungewisse Zukunft. 97 Es ist deshalb sehr erstaunlich, daß er am 16. November 1785 die dringende Aufforderung des Fürsten Potemkin zur Rückkehr und zur Übernahme einer Professur an der von Katharina II. geplanten Universität Jekaterinenburg ablehnt unter Hinweis auf seinen angegriffenen Gesundheitszustand und die lange Reise nach Moskau. 98 Matthaei verbringt nun einige Zeit ohne direkte Anstellung in Leipzig. Er beschäftigt sich auch hier mit der Sichtung der griechischen Bestände in den verschiedenen Bibliotheken. Er legte ζ. B. Kataloge für Dresden und Leipzig an, aber auch die Bestände in Zittau, Gotha und München werden erfaßt." Im März 1786 wendet er sich mit der Bitte um Hilfe an den Präses und die Mitglieder des Oberkonsistoriums in Dresden. Durch die Widmung seiner Ausgabe des Evangeliums versuchte er, dieses Anliegen zu unterstützen. 100 Nach kurzem Aufenthalt in Dresden erhält er die erledigte Stelle eines Rektors der Meißener Fürstenschule zu St. Afra. Am 10. Oktober wurde er feierlich in sein neues Amt eingeführt. 101 Neben der pädagogischen Tätigkeit als Rektor und Erzieher suchte er nach Möglichkeiten zur Durchführung kritischer Textvergleiche der Evangelien, der Apostelgeschichte und der Paulinischen Briefe, die er mit eigenen Erläuterungen versah. Er gab auch das ganze Testament heraus. 102 Gerade die Arbeit an den Evangelien brachte ihm dann allerdings den Widerspruch einiger Theologen ein und führte u. a. zu seiner Antwort im Jahr 1804. 103 Es wird berichtet, daß Matthaei aus Moskau einen großen Bestand von mehr als 60 Handschriften mitgebracht habe. Eine große Anzahl verkaufte er 1788 an den sächsischen Hof. 104 Als Nikolaj Michajlovic Karamzin (1765-1826) auf seiner Europareise am 13. Juli 1789 in Dresden weilte, bestaunte er auf einer Ausstellung den großen griechischen Bü-

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Vgl. Gebhardt, Sammlung (wie Anm. 14) S. 353. Ebd.S. 350. Anm. 1. Im Brief an Ruhnken vom 8. Juni 1778 wird wohl die Absicht zur Rückkehr schon angedeutet. Vgl. Müller (wie Anm. 16) S. 143; Gebhardt, Sammlung (wie Anm. 14) S. 350 Anm. 2; Stieda (wie Anm. 13) S. 3 Anm. 9. Vgl. Gebhardt, Sammlung (wie Anm. 14) S. 351 Anm. 1. Ebd. S. 351 Anm. 1 und 2. Vgl. Doering (wie Anm. 19) S. 425; Friedrich Adolf Ebert, Geschichte der königlichen Bibliothek zu Dresden, Leipzig 1822, S. 105; Gardthausen, Katalog (wie Anm. 70) S. XII f., Wilhelm Weinberger, Wegweiser durch die Sammlungen altphilologischer Handschriften, Wien/Leipzig 1930, S. 52 zu Dresden (= Akad. der Wiss. in Wien, philos.-hist. Klasse 209. Bd., 4. Abh.). Vgl. Gebhardt, Sammlung (wie Anm. 14) S. 351 Anm. 6. Vgl. Müller (wie Anm. 16) II S. 114. Vgl. die Veröffentlichungen, die bei Müller (wie Anm. 16) II S. 145 aufgeführt werden; siehe auch Doering (wie Anm. 19) S. 425 und Al. Rodosskij, Katal. knig. pecn. i rükopisn. bibl., St. Petersburg 1885, S. 134. Matthaei, Recensionen (wie Anm. 14); Doering (wie Anm. 19), S. 425. Vgl.Gardthausen, Katalog (wie Anm. 70) III S. XI. Hier werden genannt 68 griechische Handschriften und 8 Handschriften mit collationierten Ausgaben für den Preis von 1700 Talern; so Ebert (wie Anm. 99), S. 105. Karamzin (wie Anm. 26) S. 118, nennt die Summe von 1500 Talern.

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cherbestand und insbesondere die Ausgabe des Euripides. Er bedauerte, daß er Matthaei zu dieser Zeit schon nicht mehr angetroffen habe, da dieser dem Ruf nach Wittenberg gefolgt sei. 105 Für 1700 Taler hätte Matthaei Handschriften und Drucke verkauft (68). Karamzin äußert sein großes Erstaunen darüber, woher und wie Matthaei solche Schätze in Rußland erworben habe. Für ihn ist Matthaei ein bedeutender Gelehrter, den er gern getroffen hätte. Es besteht für ihn keine Frage, daß dieser bald eine adäquate Anstellung in Deutschland finden werde. 106 Bereits im Jahr 1789 hatte Matthaei den Ruf an die Universität Wittenberg als Professor für Klassische Sprachen und Literatur erhalten. Die Stelle war frei geworden durch den Tod von Johann Karl Zeune (1736—1788). 107 Besonders durch Zeune war hier der Lehrbetrieb auf dem Gebiet des Griechischen intensiviert worden. Statt wie bisher das Neue Testament in den Mittelpunkt der Vorlesungen zu stellen, waren es unter ihm die klassischen Autoren des Griechentums, denen er seine besondere Aufmerksamkeit in der Lehre widmete. 1 0 8 Am 9. Juli trat Matthaei seine neue Stelle mit der Rede „De praestantia muneris doctoris Academicae" an, die er in einem Programm ankündigte, das auch „Animadversiones in Dionysii Halicarn. epistolam" enthielt. 1 0 9 Matthaei hat nach Amtsantritt die Änderungen von Zeune wieder aufgehoben. Er trug allerdings das Neue Testament nicht in vollem Umfange vor, sondern nur in bestimmten Schwerpunkt-Teilstücken. Er bevorzugte für die damalige Zeit Neuausgaben, die das Interesse der Studenten hervorrufen sollten. 1 1 0 1792 wird Matthaei als Rektor der Universität Wittenberg genannt. 1 1 1 D o c h auch die Zeit in Wittenberg ist nicht frei von Anfeindungen. In einem Bericht an den Kurfürsten über die Professoren der Wittenberger Universität wird über ihn berichtet, daß er als Ablösesumme für die aufgegebene Stelle als Rektor der Meißner Fürstenschule das Durchschnittsgehalt von 250 Talern Jahresgehalt ausgezahlt bekommt und „ein mehreres jetzt nicht vonnöten sei". 1 1 2 Unbestritten sind in dem Bericht vom 28. Dezember 1792 seine Fähigkeiten als griechischer Linguist, als Professor der Klassischen Philologie und seine Fähigkeiten zur Auslegung des Neuen Testaments. Es wird aber auch betont, daß Matthaei keine große Resonanz bei den Studenten fände. 1 1 3 Laut Vorschrift wurden in den Vorlesungen regelmäßig Kontrollen des Lehrkörpers durchgeführt. Die Ordinarien hielten für ihr Jahresgehalt eine unentgeltliche Vorlesung, 4stündig und in der Regel über 4 Semester. Für die sog. privaten Unterrichtsveranstaltungen, die ζ. T . in den Privatwohnungen abgehalten wurden, bekamen die Professoren von den Studenten ein gesondertes Entgelt. 1 1 4 Gerade die Wohnbedingungen in Wittenberg waren aber ein häufiger Anlaß zur Kritik. Als Vergleich wurde Leipzig herangezogen, was sehr zu ungunsten von Wittenberg ausfiel. 115 Die Zahl der Hörer in den Vorlesungen war sehr unterschiedlich. So wird berichtet, daß in der Rhetorikvorlesung gegen 300 Studenten anwesend gewesen seien, in anderen Gebie-

105

Karamzin Brief vom 13. Juli 1789 (wie Anm. 26) S. 124.

106

Ebd.

107

Vgl. Friedensburg, Geschichte (wie A n m . 9 2 ) S. 593; Müller (wie A n m . 16) S. 144; Gebhardt, Sammlung (wie Anm. 14) S. 352.

108

Vgl. Friedensburg, Geschichte (wie Anm. 92) S. 593.

109

Vgl. Friedensburg, Urkundenbuch (wie Anm. 14) S. 515; Müller (wie Anm. 16) S. 142.

110

Vgl. Friedensburg, Geschichte (wie A n m . 92) S. 593.

111

Ebd.; Gebhardt, Sammlung (wie Anm. 14) S. 352 Anm. 3 mit Hinweis auf das Wittenberger Renunciationsprogramm vom Jahr 1792.

112

Zitiert nach Friedensburg, Urkundenbuch (wie Anm. 14) N r . 9, S. 514. Ebd.

114

Vgl. Walter Friedensburg , Bearb., Neujahrsblätter 44 (1922) S. 6. 9. 20. 33. Ebd. S. 18 f.

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ten sich die Zahl der Hörer aber auf unter 10 belief. 116 Als Professor der Griechischen Sprache kündigte Matthaei Auszüge aus den Reden des Chrysostomos an und als Privatunterricht die Paulusbriefe, die Galater-, die Epheser- und Philipperbriefe. Er hielt aber auch Veranstaltungen über Xenophontis Memorabilia Socratis. 117 Es muß schon deprimieren, daß einerseits sein Wille zu einem guten Unterricht durch die Vorlage neuer Texte und Interpretationen hervorgehoben, ihm aber andererseits die Fähigkeit zu einem guten Unterricht abgesprochen wird. Es wird über ihn berichtet, daß er auf dem „Catheder und in den akademischen Disziplinen" sehr schläfrig wirke. Ansonsten sei er aber ein friedlicher und kollegialer Mann. 118 Erschwerend kam für Matthaei sicher hinzu, daß er insbesondere in dieser Zeit Angriffen ausgesetzt war, die sich mit seiner Ausgabe des Neuen Testaments befaßten und ihm Unkorrektheiten vorwarfen. Er kam sogar in den Geruch, gewissen Häresien nahezustehen. 119 Es wird verständlich, daß er in dieser Zeit angesichts der niedrigen Studentenzahlen in seinen Vorlesungen und der öffentlichen Angriffe versucht hat, über die Widmung seiner Ausgabe des Neuen Testaments an den Zaren Alexander I. (1801-1825) die Beziehungen nach Rußland wieder aufzunehmen. 120 Als Matthaei durch den Kurator Muravev ein Rückkehrangebot an die Moskauer Universität als Professor für Klassische Philologie erhält, nimmt er deshalb trotz aller Vorbehalte an. 121 Matthaei ist zu dieser Zeit kein unbekannter Wissenschaftler mehr wie zur Zeit seines ersten russischen Aufenthaltes. Er ist nun fast 60jährig. Namentlich wird er unter den Professoren genannt, die der Moskauer Universität international Ehre bereitet hätten. 122 Er wird vom russischen Herrscher ausgezeichnet, erhält den Hofratstitel verliehen, und - vermutlich noch vor seiner Rückkehr - wird er in den Adelsstand erhoben. Im Jahr 1803 bekommt er von Alexander I. einen Brillantring, 1804 für den Handschriftenkatalog zusätzlich zu seinem Gehalt 1000 Taler und zwischen 1805 und 1806 noch weitere drei Brillantringe. 123 Seit 1802 hatte der Kaiser Alexander I. versucht, durch Einrichtung neuer Ministerien, einer Oberschuldirektion und seit 1804 mit dem Versuch der Neugründung von Universitäten den allgemeinen Bildungsstand in Rußland zu heben, wenn auch bald durch den russisch-französischen Krieg ein Rückschlag eintrat. 124 Ungeachtet dessen wurde nach der Schließung der Universität Halle eine Reihe von Professoren, wie ζ. B. Ludwig Heinrich Jacob (1759-1828) oder Julius Christian Loder (1753-1832), an russische Universitäten berufen. 125 Die Kuratoren gaben sich jede Mühe, den Neuberufenen den Aufenthalt im fremden Land so angenehm wie möglich zu gestalten und sogar Sonderrechte für sie zu erkämpfen. Matthaeis Ruf für Genauigkeit, sprachliche Präzision und eines auf den verEbd. S. 33; Friedensburg, Geschichte (wie Anm. 92) S. 473 f. Vgl. Friedensburg, Urkundenbuch (wie Anm. 14) Nr. 9 S. 514. 1 1 8 Ebd. 1 1 9 Matthaei, Recensionen (wie Anm. 14) S. 71. 120 Yg| Gebhardt, Sammlung (wie Anm. 14) S. 351; Matthaei, Accurata (wie Anm. 67) Widmung. 1 2 1 Vgl. Stieda (wie Anm. 13) S. 4. 20. Für ihn wird Matthaei merkwürdigerweise zum zweiten Mal berufen. S. 26. 1 2 2 Ebd.S. 5. 123 v g l . Gebhardt, Sammlung (wie Anm. 14) S. 354. 1 2 4 Vgl. Stieda (wie Anm. 13) S. 2; Amburger (wie Anm. 38) S. 177-182. 1 2 5 Vgl. Burkhard Malich, Napoleon und die hallesche Universität zu Beginn des 19. Jahrhunderts, in: Johann Christian Reil (1759-1813) und seine Zeit, Hgg. Wolfram Kaiser/Arina Völker, Halle 1989, S. 42-74 (= Wissenschaftliche Beiträge der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, 1989/43, T. 73); Heinz E. Müller-Dietz, Justus Christian von Loder (1753-1832) als Hochschullehrer, in: ebd. S. 45. 116

117

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schiedensten Gebieten der Theologie wohl bewanderten Wissenschaftlers ist unbestritten. Sehr ärgerlich war es für Matthaei, daß er während seines zweiten Aufenthalts nicht die Genehmigung erhielt, unkontrolliert in den Bibliotheken zu arbeiten. Er mußte ζ. B. für seinen Unterricht und die Ausleihe des Oreibasios außer Haus bei der Synodalbibliothek einen offiziellen Antrag stellen, dem trotz Fürsprache des Kurators nicht bedingungslos zugestimmt worden ist. Im Vorwort seiner Ausgabe von 1808 äußert er sich darüber empört. 126 Uber sein persönliches Verhältnis zu den deutschen Kollegen wird aus dieser Zeit kaum etwas berichtet. Zu Lebzeiten werden keine offenen Angriffe oder Untersuchungen gegen ihn eingeleitet. Er bleibt bis zu seinem Tod am 14. September 1811 in Moskau der hochangesehene Wissenschaftler. 127 Nach Matthaeis Tod verkaufte seine Witwe seine Bücherbestände an die Geistliche St. Petersburger Akademie. Zu aller Überraschung enthielten sie aber keine besonders alten Drucke oder Handschriften. 128 Seine gedruckten und mit handschriftlichen Notizen versehenen Bücher und Ausgaben lagerten glücklicherweise bei der Geistlichen Akademie in St. Petersburg. Die Moskauer Bestände wurden durch den Brand von 1812 weitgehend vernichtet. In seiner letzten Veröffentlichung aus dem Jahre 1811 wurden von Matthaei noch einmal alle seine Bücher aufgeführt. 129 Nach Herbert Hunger ist aber gerade dieses Werk (Poikila 'Ellenikä. Varia Graeca) aus den Bibliotheken der Welt weitgehend verschwunden und wohl dem Brand in Moskau zum Opfer gefallen. 130 Andere Handschriften kamen in die Bibliotheken von Dresden, Leipzig, Leiden, Göttingen und Charkow. 1 3 1 Zumeist hat sich Matthaei von Polemiken ferngehalten. Die Bearbeitung, Herausgabe mit kritischen Untersuchungen und Erklärungen (in Latein beigefügt) der griechischen Bibeltexte, der griechischen Kirchenväter und klassischer Autoren bildeten den Hauptgegenstand seiner Forschungstätigkeit. Teilweise sehr kritisch äußert er sich zu lateinischen Übersetzungen einiger lateinischer Kirchenväter wie Cyprian oder Tertullian. Die Texte von Terenz hält er schlechtweg für barbarisch und lächerlich in der Übersetzungstechnik. 132 Er glaubt, viele unkorrekte Übernahmen aus den griechischen Vorbildern zu erkennen, ζ. B. von Cyrillus, Eusebius, Origines, Chrysostomos und Basilius dem Großen. Er gab sich der Aufarbeitung der griechischen Texte in über 40jähriger Arbeit bedingungslos und in seltenem Eifer und unter Aufopferung seiner Kräfte hin. Sieht man moderne Handbücher der Byzantinistik oder Patrologie durch, so ist man immer wieder erstaunt über den Hinweis, daß nach fast 200 Jahren die griechischen Texte und lateinischen Kommentare von Matthaei empfohlen werden, teilweise mit dem Hinweis „noch immer die beste Ausgabe". 133 Es entspricht den Tatsachen, wenn Hans-Georg Beck auf die Erstausgaben von Matthaei als unersetzliches Hilfsmittel hinweist und seine große Bedeutung der Popularisierung griechischer Texte der Moskauer Synodalbibliothek her126 127 128

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Vgl.Gebhardt, Sammlung (wie A n m . 14) S. 4 1 1 A n m . 6. Ebd. S. 353-356; Jöcher (wie Anm. 15) S. 966 Vgl. Gardthausen, Katalog (wie A n m . 70) S. XIII. 20; ders., Sammlungen (wie A n m . 13) S. 77; Gebhardt, Sammlung (wie A n m . 14) S. 555 f. Matthaei, Poikila 'Ellenikä. Varia Graeca, Moskau 1 8 1 1 . Vgl. dazu A n m . 93. Hunger, Profanliteratur (wie A n m . 10) II S. 266 A n m . 14. Vgl. Gardthausen, Katalog (wie A n m . 70) S. XIII. Matthaei, Recensionen (wie A n m . 14) S. 1 0 - 1 1 . Vgl.Berthold Altaner, Patrologie. Leben und Schriften und Lehre der Kirchenväter, 8 Freising/Basel/ Wien 1978, S. 799; vgl dazu auch Beck (wie A n m . 1) S. 715; Karl Krumbacher, Geschichte der Byzantinischen Literatur, 2 München 1 8 9 8 , 1 S . 488. 51, auch in Mignes Patrologia Graeca 1 5 1 , 9 - 5 5 0 wird der Text durch die Ausgaben von Matthaei erweitert, weitere Stellen bei Krumbacher S. 100. 104; Johannes Quasten, Patrology Vol. III, Patristik Literatur, Utrecht 1963, S. 354.

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vorhebt. 134 Von Conrad Bursian wird festgestellt, daß Matthaei bei der Wiederauffindung von antiken Texten, wie dem Demeter-Hymnus, eine Pionierrolle gespielt hat. 135 Seine Katalogzusammenstellungen der Moskauer Synodalbibliothek blieben bis Ende des 19. Jh. ein aufschlußreiches Dokument über die dortigen Bücherschätze und über das Reichsarchiv in Moskau. 136 Er ließ nicht nach, wie es im Nachruf von 1855 heißt, unermüdlich diese Schätze ans Licht zu heben, sie selbst zu benutzen und für andere zu öffnen. 137 Viele Texte edierte er selbst im Zusammenhang oder in Auszügen, teils im Auftrage und auf Kosten der Regierung, teils im eigenen Namen. An anderen Orten zitierte er unter Hinweis auf ihr Vorkommen oder verbesserte bisherige Veröffentlichungen. In mehreren europäischen Bibliotheken werden griechische Handschriften aufbewahrt, die auf Matthaei zurückgeführt werden. In jeder einzelnen Ausgabe sind eine Reihe von griechischen Autoren zusammengefaßt. Man steht noch heute staunend vor dem gewaltigen Lebenswerk und dem großen und unermüdlichen Schaffen dieses Gelehrten. Unter Auslassung von Aufsätzen, Rezensionen und sonstigen kleinen Werken, wie ζ. B. im Leipziger Literarischen Anzeiger und in anderen Journalen, werden über 60 verschiedene Bücher von unterschiedlichen griechischen und lateinischen Autoren genannt, aber auch Hilfsmittel für seine Schüler, so ein griechisches Lehrbuch aus der Wittenberger Zeit. Sein Interesse reichte von Homer, Hesiod, Euripides, Plutarch, Pindar bis zu Photios, Psellos, Palamas, Neilus von Cabasilas und Kydones.137® Und doch, so muß man fortfahren, obwohl er noch 1855 als einer der berühmtesten Ausländer in Moskau gefeiert wurde und nach der ihm zuerkannten Würdigung die Berufung voll und ganz gerechtfertigt und sich der Anerkennung von Fachkollegen und Studenten zeit seines Leben erfreut hat, gab es einen dunklen Punkt in seinem Leben. Er fand Aufnahme nicht nur in die Handbücher der Byzantinistik, der Philologie und der Patristik, sondern auch in das Handbuch der Bibliophilen. 138 Nur selten gab es zu Lebzeiten kritische Anmerkungen, wie von Karamzin, oder das Verbot der uneingeschränkten Nutzung während des zweiten Moskauer Aufenthaltes. Er ist weder überführt noch angeklagt worden. Er wurde vielmehr geehrt und vom Kaiserhaus ausgezeichnet. Von allen Seiten wurden von ihm Gutachten und Ratschläge erbeten. Er wurde von den bedeutendsten Kollegen in Rußland und in anderen Ländern voller Stolz als Briefpartner genannt. 139 Erst etwa 100 Jahre nach seinem Tod begann systematisch die Nachforschung nach den mit dem Namen von Matthaei im Ausland aufgeführten griechischen Beständen. Zwischen 1855 und 1859 äußerte A. F. Malinovskij (1814-1840 Aktuarius im Archiv) nach Überprüfung der Vermutungen seines Vorgängers N . N . Bantys-Kamenskij (1783-1814) bei der Sichtung der Bibliotheksbestände erste schwerwiegende Verdachtsmomente. 140 Mit Beginn der 90er Jahre des 19. Jh. und insbesondere nach dem Erscheinen des VladimirKatalogs begannen bei der Erfassung der Moskauer Bestände durch S. A. Belokurov und dem Vergleich mit den früheren Katalogen immer mehr Fragen als Antworten aufzutreten, Beck (wie Anm. 1) S. 13. Bursian (wie Anm. 75) S. 551 1 3 6 Eine erste kritische Stellungnahme wurde von Eduard Kurtz in seiner Rezension der neuen Kataloge veröffentlicht, in: Byzantin. Z. 2 (1893) S. 312. Erst durch den Katalog von 1894 galt Matthaeis Arbeit als überholt. 1 3 7 Nachruf von Stepan Petrovic Sevyrev aus dem Jahr 1855/ 2 Nachdruck 1859 (wie Anm. 43). 1 3 7 a Vgl. Meusel, Das gelehrte Teutschland V, 68 ff.; 10, 255 und Ergänzung in 14, 05 f. (1810). 1 3 8 Vgl.Gustav Adolf Erich Bogeng, Die Großen Bibliophilen. Geschichte der Büchersammler und ihrer Sammlungen, Leipzig 1922, III S. 124. 1 3 9 Vgl. Gebhardt, Sammlung (wie Anm. 14) S. 355. 1 4 0 Ebd, S. 345. 357. 454. 134

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und es verdichtete sich der Verdacht auf ungerechtfertigte Entnahme von kostbaren Beständen, von Kodizes und Handschriften. 1 4 1 Besonders schwierig erwies sich die Uberprüfung des Moskauer Reichsarchivs, da hier keine Kennzeichnung vorgenommen worden war. Bei den Synodalbeständen gab es ζ. T. Hinweise auf die frühere Zugehörigkeit zu den Beständen, die auf dem Athos erworben worden waren. Zuerst veröffentlichte Eduard Thrämer in der Münchener Allgemeinen Zeitung 1891 den massiven Verdacht und eröffnete damit den Angriff auf den guten Ruf von Matthaei. 142 Bei seiner Suche nach den Beständen der Bibliothek Ivans des Schrecklichen begann er die griechischen Handschriften in Deutschland zu überprüfen. Er stellte voller Entsetzen fest, daß in einer ganzen Reihe von Kodizes und Handschriften, die mit dem Namen von Matthaei verbunden waren, die Herkunft unklar war oder die vorgelegten Blätter eindeutig manipuliert worden sind. Belokurov allerdings stellte fest, daß diese sogenannte große zarische Bibliothek aus dem 16. Jh. wohl nicht in dem von Thrämer angenommenen Ausmaß bestanden haben kann. 1 4 3 Es sind nur sehr wenige Teile, aus der Zeit des Patriarchen Filaret (t 1633) ganze 6 Handschriften, nachweisbar. 144 Es wird außerdem berichtet, daß im Jahr 1633 als Geschenk des Patriarchen von Konstantinopel 7 griechische Bücher nach Moskau in die Bibliothek gelangt seien. Die Zahl der Drucke und Handschriften ist nicht kontrollierbar. Sie wurden laut Inventar von 1658 nicht gesondert aufgeführt. 1 4 5 Erst zu Ende des 17. Jh. und Mitte des 18. Jh. sind die meisten Handschriften nach Moskau gelangt. Erschwerend kam bei der Überprüfung hinzu, daß große Teile beim Brand 1812 zugrunde gegangen sind. In der Zeit von 1723 bis 1773 erfolgte ein Zuwachs von vermutlich 403 griechischen Handschriften. 1 4 6 Oskar Leopold von Gebhardt (1844— 1906), Kirchenhistoriker und Bibliothekar in Leipzig, konnte in Abstimmung mit Belokurov feststellen, daß nicht jeder gegen Matthaei erhobene Vorwurf seine Berechtigung hatte. Gemeinsam haben sie durch die Uberprüfung der europäischen Bibliotheken die Herkunft der Handschriften und Drucke zurückverfolgt. Doch zu seinem Entsetzen stellte der Leipziger Bibliothekar fest, daß, und diese Feststellung ist ziemlich eindeutig, an einer ganzen Reihe von griechischen Handschriften aus dem ehemaligen Synodalbestand Manipulationen vorgenommen worden sind. Bei einigen Handschriften, die ζ. T. von Matthaei noch in seinen Katalogen oder im Brief an Ruhnken als Eigentum der Synodalbibliothek genannt worden waren, fehlte jeder Hinweis auf ihre Herkunft. So schenkte er kurze Zeit später die Handschrift des Orpheus und Callimachos dem Leidener Professor, ebenso Piatos Timaeus und einige Briefe. 147 Es überrascht, daß Ruhnken offensichtlich entgangen ist, daß Matthaei sie noch vier Monate früher als Eigentum des Hl. Synod bezeichnet hat. 148 Ζ. T. waren vorhandene Textteile offensichtlich aus dem Gesamtzusammenhang gelöst worden, häufig sogar unter Ausradierung der Paginierung. Die in der Mitte der 70er Jahre eingeführten Kennzeichnungen mit Unterschrift und Stempel waren ausradiert oder weg-

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Ebd. S. 345. 347. Vgl. Thrämer (wie Anm. 83) S. 3 N r . 4. Vgl. Gebhardt, Sammlung (wie Anm. 14) S. 393. 408. 416. 452. Belokurov, Ο bibliot. mosk. gosud. (wie Anm. 63) S. 38 A n m 1. Vgl. Gebhardt, Sammlung (wie Anm. 14) S. 344 A n m . 3. Ebd. S. 395. Ebd. S. 405 Anm. 2. Ebd. S. 418. Matthaei hat Ruhnken eine Liste der in Moskau gefundenen Handschriften und Drucke übersandt; vgl. Gebhardt, Sammlung (wie Anm. 14) S. 418.

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geäzt worden. 1 4 9 Bei anderen Handschriften waren die Ränder zurechtgeschnitten, um offensichtlich die Auffindung zu erschweren. 150 Die Behauptung, daß er, Matthaei, die Möglichkeit zur Entwendung erst durch den Handel mit Kartacev erkannt, und die Hilflosigkeit der ungebildeten Moskauer Bibliothekare ausgenutzt habe, ist kaum belegbar. 151 Es ist eindeutig, daß hier bewußt und nicht aus Versehen die Handschriften aus dem Zusammenhang gerissen und manipuliert worden sind. Selbst bedeutenden Männern wie Viktor Emil von Gardthausen (1843-1925) und dem Vater der deutschen Byzantinistik ,Karl Krumbacher (1859-1909), blieb der Atem stocken, nachdem sie sich davon überzeugen mußten, daß ein so bedeutender Gelehrter wie Christian Friedrich Matthaei offenbar das ihm in Moskau entgegengebrachte Vertrauen so mißbraucht hat. Er benutzte die Kenntnisse über die Bibliotheksverhältnisse in seiner zweiten Heimat, um durch Entwendung und Verfälschung sein persönliches Ansehen durch Geschenke zu vermehren oder durch die Verkäufe seine finanzielle Lage zu verbessern. 152 Karl Krumbacher bemerkt, d a ß ihn angesichts der drückenden Beweise nur tiefe Trauer umfängt. 1 5 3 O s k a r von Gebhardt glaubt nach Abwägung aller Tatsachen und dem fast verzweifelten Versuch, zumindest in Einzelfällen die Unschuld von Matthaei zu beweisen, ihn der bewußten Manipulation zum Schaden der Wissenschaft durch das Zerreißen von originalen Handschriften schuldig sprechen zu müssen. Er sieht f ü r Matthaei keinerlei Entschuldigungsgründe. 1 5 4 Natürlich ist auch ihm bewußt, d a ß eine Aufarbeitung der Moskauer Bibliothek große Schwierigkeiten mit sich gebracht hat. Matthaei hat in einem Brief an Ruhnken festgestellt, daß er die Handschriften gefunden habe „inter pullos et porcos'. 1 5 5 Thrämer wies allerdings nach, daß die Leidener H a n d schrift genau dort beginnt, wo die noch vorhandene Moskauer abbricht. Auch die H i n weise auf den Erwerb über Kartacev oder aus dem sogenannten Innern Rußlands glaubte nun niemand mehr. 1 5 6 Bei einigen anderen Vorwürfen dürfte der Verdacht der bewußten Verfälschung allerdings nicht zutreffen. So ist an den Handschriften in Leipzig ein persönlicher Kommentar mit dem Hinweis auf die Moskauer Varianten an den Rändern eingetragen, ein Gegenstück ist nach Gardthausen auch noch in Dresden vorhanden. 1 5 7 Insgesamt bleibt aber der Vorwurf bestehen, daß bei einer Reihe von Stücken zu erkennen ist, daß die von Matthaei verkauften Teile aus der Synodalbibliothek stammen und nicht etwa aus dem 1777 stattgefundenen Verkauf von Stücken aus dem Russischen Reichsarchiv. Nach O s k a r von Gebhardt sei das Vergehen so schlimm, daß man nicht einfach den Mantel des Schweigens und Vergessens darüber ausbreiten könne. 1 5 8 Es besteht kein Zweifel, daß der Trompetersohn aus Gröst bei Merseburg auf den Stufenleitern des Erfolges aufstieg bis zum Professor f ü r Klassische Philologie, zum Rektor der Wittenberger Universität, zum allseitig geachteten Wissenschaftler, ernannt und erhoben in den Adelsstand, ausgezeichnet mit dem Titel eines Hofrats, daß ihm die Moskauer

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Vgl. Gebhardt, Sammlung (wie Anm. 14) S. 411. 453. 466. 473. Ebd. S. 462, zu vgl. auch 411. 418. 565. Ebd. 448 f. 452 Anm. 2. 453 f. und Schlußwort 565. Vgl. Gardthausen, Katalog (wie Anm. 70) S. XI. Karl Krumbacher, Recension zum Katalog von V. Gardthausen, in: Byzant. Z. 7 (1898) S. 626. Gebhardt, Sammlung (wie Anm. 14) S. 564 Schlußwort. Vgl. Gardthausen, Katalog (wie Anm. 70) S. X. Brief an Ruhnken vom 26. November 1778. Die Bezeichnung der Bibliothekare: „homines imperiti et indocti" zitiert bei Gebhardt, Sammlung (wie Anm. 14) S. 411. Vgl. Thrämer (wie Anm. 83) Nr. 2 S. 1. Vgl. Gardthausen, Katalog (wie Anm. 70) S. XII; Ebert (wie Anm. 99) S. 241. Gebhardt, Sammlung (wie Anm. 14) S. 346.

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Synodalbibliothek die Sichtung, Aufarbeitung und Publizierung ihrer Schätze verdankt, daß er daneben aber auch die Bibliotheken ihrer Schätze beraubt und sie zu persönlichem Vorteil veräußert hat. Aus dem Herausreißen von Teilstücken aus dem Originalzusammenhang ist großer wissenschaftlicher Schaden entstanden. Dazu kommt der finanzielle Schaden, der angerichtet worden ist. So entstand vor uns das Bild eines zweifellos großen Gelehrten, der in der Allgemeinen Deutschen Biographie gebührend geehrt wurde, in der Neuen Deutschen Biographie aber keinen Platz mehr erhielt, der angesichts der drückenden Beweise bis in unsere Tage hinein den merkwürdig anmutenden Ruhm besitzt, selbst fast nach 200 Jahren für seine hervorragenden Ubersetzungen, Herausgaben und Kommentare in verschiedenen Handbüchern genannt und gerühmt zu werden, aber dessen Name auch unter den bekannten Bibliophilen aufgeführt wird. 159 Auch wenn Oskar von Gebhardt keinerlei Entschuldigungsgründe für Matthaei zu erkennen glaubt, 160 so muß freilich gesagt werden, daß persönlicher Ehrgeiz und das Streben nach internationaler Anerkennung mitgespielt haben, erkennbar ζ. B. in Matthaeis Widmungen an die gekrönten Häupter, wie 1782 die Apostelgeschichte an Kaiser Joseph II., die Katholischen Briefe an Katharina II., die Römerbriefe an Kurfürst Friedrich August, 1783 die Korintherbriefe an den Großfürsten Paul und 1804 der Katalog an Alexander I verdeutlichen. 161 Wir müssen aber auch erkennen, daß trotz der Titel und Ehrungen die finanziell nicht allzu üppige Situation und der Zustand der Bibliotheken einen Teil zur Schuld an dem Vergehen des großen Gräzisten - und das war und bleibt er trotz alledem - beigetragen haben.

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Vgl. Bogeng (wie Anm. 138) S. 513. Gebhardt, Sammlung (wie Anm. 14) S. 564 f. Schlußwort. Noch drei Jahre vor seinem Tod hat er seine Kritiker mit Spott und Hohn überhäuft, als diese an seinem Verhalten in der Synodalbibliothek erste schwache Kritik äußerten; vgl. ebd. S. 412 f. Ebd. S. 564.

FOLKWART WENDLAND, BERLIN

Johann Zacharias Logan - ein deutscher Buchhändler und Verleger in St. Petersburg

Vorbemerkungen Die Kenntnis über das Leben und Wirken von Johann Zacharias Logan ist außerordentlich gering. Es wird erstmals der Versuch gemacht, die wenigen verfügbaren Daten über Logan zusammenzutragen. Die im Zuge der Untersuchungen des Verfassers zu Peter Simon Pallas (1741-1811) angefallenen Informationen bilden den Grundstock der nachstehenden Ausführungen. Als eine zusätzliche Quelle erwiesen sich drei Briefe von Logan und Nathanel Sigismund Frommann an Christoph Friedrich Nicolai in Berlin, die sämtlich aus dem Jahre 1775 stammen 1 . Wichtige Angaben zu den deutschen und russischen Buchhändlern in St. Petersburg im Zeitraum 1750-1812 verdanken wir der akribischen Auswertung der „Sankt-Peterburgskie Vedomosti" durch Α. A. Zajceva. Der Aufsatz will ein Beitrag zur Erforschung der weithin noch unbekannten, geschweige denn geschriebenen Geschichte der deutschen und anderen ausländischen Buchhändler und Verleger in St. Petersburg und Rußland sein. Am Beispiel von Peter Simon Pallas und Johann Zacharias Logan läßt sich die Zusammenarbeit eines schriftstellerisch intensiv tätigen Gelehrten und eines Verlegers und Buchhändlers recht gut belegen. Keine Aussagen sind bisher möglich über die Beziehungen von Logan zu deutschen und russischen Buchhändlern und Verlegern. Ebenso kann nur wenig über die Wege der Informationsdistribution in der zweiten Hälfte des 18. Jh. zwischen Rußland und Mitteleuropa beigesteuert werden.

Stationen des Lebens von Johann Zacharias Logan Johann Zacharias Logan soll 1754 in Lindau am Bodensee geboren sein. Als möglicherweise einzige in Deutschland verfügbare Quelle für die Vor-Petersburger Periode des Verlegers und Buchhändlers können drei eigenhändige Briefe von Logan an den berühmten Berliner Verleger, Schriftsteller und Aufklärer Friedrich Nicolai gelten. Die Briefe stammen vom 12. Februar, 5. März und 9. April 1775. Einen weiteren Aufschluß über Logan liefert ferner ein Brief, der rein zufällig eingesehen wurde. Ihn hatte der Buchhändler und Verleger Nathanael Sigismund Frommann ( + 1786) aus Züllichau am 26. Januar 1775 an Friedrich Nicolai gerichtet. 2 Der Anlaß des Briefwechsels, von dem die Antwortbriefe Nicolais nicht mehr erhalten zu sein scheinen, war, daß Logan sich bei Friedrich Nicolai um eine Stelle in dessen

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Berlin, Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz, Haus 2, Handschriftenabteilung, Nachl. Nicolai, Bd. 46. Rudolf Schmidt, Deutsche Buchhändler. Deutsche Buchdrucker. Beiträge zu einer Firmengeschichte des deutschen Buchgewerbes. Bd. 2. Ebbecke - Härtung, Berlin 1903; Lexikon des gesamten Buchwesens, Hgg. Severin Corstae, Günther Pflug und Friedrich Adolf Schmidt-Künsenmüller. Bd. 4, Stuttgart 1991, S. 66.

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Buchhandlung bewerben wollte. Am 26. Januar 1775 unterrichtete Frommann Nicolai von der zu erwartenden Bewerbung des jungen Johann Zacharias Logan: „ . . . Herr Günther in Glogau aber hat einen jungen Menschen ausgelernt, welcher 6 1 / 2 Jahr bey ihm gewesen, und der sich mir als Diener vor 4 Wochen durch einen sehr würdigen Mann antragen lies, welcher ihm ein sehr gutes Zeugnis gab, u. außer einen besondern Fleis u. guten Aufführung an ihm rühmte, daß er lateinisch, französisch, italiänisch u. englisch verstünde, daß er aber nicht jede dieser Sprachen sprechen könte. Wollen Sie selbst deshalb an Hr. Günthern schreiben, so bitte ich nur sich auf mich nicht zu beziehen, denn Hr. Günther weis nichts davon, daß mir dieser Diener angetragen worden - Wollen Sie mir aber den Auftrag thun, diese Sache zu beendigen, so will ich mit Vergnügen dis Geschäft übernehmen." 3 Demnach hat Logan 6 1 / 2 Jahre bei dem Buchhändler und Verleger Christian Gottfried (?) Günther in Glogau gelernt. Er muß also etwa im August 1769, im Alter von 15 Jahren, die Lehre aufgenommen haben. Die aktiven bzw. passiven Kenntnisse in mehreren Sprachen deuten darauf hin, daß Logan eine gute schulische Bildung genossen hatte bzw. aus einem gebildeten Elternhaus kam. Der erste Brief des 21-jährigen Logan vom 12. Februar 1775 an Friedrich Nicolai enthält die eigentliche Bewerbung, die in einem ehrerbietigen, aber durchaus selbstbewußten Ton abgefaßt ist. Johann Zacharias Logan, der Nicolai von „gütigen Freunden" bereits vorgeschlagen war, bewirbt sich um eine Stelle in dessen „berühmter Handlung", um „seine Kenntnisse zu vermehren und die wenigen erlangten so zu verbeßern, daß sie Denenselben nüzlich werden können". Von seiner Seite bringt er statt der ihm „mangelnden Glücksgüter" als für ihn sprechende Eigenschaften Treue, Redlichkeit, Fähigkeit und Geschicklichkeit ein. 4 In einem zweiten Brief vom 5. März 1775 wiederholt er seine Bewerbung auf der Grundlage der Tatsache, daß er Hinweise habe, daß seine Bewerbung nicht von vornherein aussichtslos sei. Er bittet Friedrich Nicolai um eine Antwort, nicht zuletzt deswegen, weil er seinen „Principal" in Anbetracht des nahenden Osterfestes und der Jubilatemesse nicht zu kurzfristig um das „Zeugniß der Redlichkeit" angehen wolle. Allerdings sei er an keinen Termin mit seinem Lehrherren gebunden. 5 Aus dem dritten und ausführlichsten Brief von Logan an Nicolai vom 9. April 1775 geht hervor, daß dieser ihm am 15. März 1775 ablehnend geantwortet hatte. Zunächst hatte er eine Reise nach Berlin in Erwägung gezogen, um Nicolai persönlich seinen Wunsch vorzutragen: „Nach Empfang Dero Werthesten Schreibens wirkte ich mir meine Freyheit bey H. Günthern aus und war entschloßen auf meine eigne Gefahr eine Reise nach Berlin zu thun und Ew: HochEdelgeb: meinen Wunsch, der wahrhaftig nicht etwan nur erdichtet ist, mündlich ans Herz zu legen. . . ." 6 Er schildert dem Berliner Verleger eingehend den für ihn möglichen zeitlichen Rahmen des Wechsel von Günther zu Nicolai. Theoretisch hätte er von Günther den Abschied im März nehmen können, verschob die Kündigung zunächst bis zur Rückkehr des Buchhänd-

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Berlin, Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz, H a u s 2, Handschriften-abteilung, Nachl. Nicolai, Bd. 23, Brief von N . S. Frommann an Ch. F. Nicolai vom 26. 01. 1775. Vf. dankt der Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz für die Genehmigung, Auszüge aus den Briefen an Ch. F. Nicolai zitieren zu dürfen. Berlin (wie Anm. 3) Nachl. Nicolai, Bd. 46, Brief von J. Z. Logan an Chr. F. Nicolai vom 12. 2. 1775. Berlin (wie Anm. 3) Nachl. Nicolai, Bd. 46, Brief von J. Z. Logan an Chr. F. Nicolai vom 05. 3. 1775. Berlin (wie Anm. 3) Nachl. Nicolai, Bd. 46, Brief von J. Z. Logan an Chr. F. Nicolai vom 09. 4. 1775.

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lers von der Leipziger Ostermesse, war dann aber bereit, sich noch bis zur Michaelsmesse im September bei Günther zu verdingen: „Hätte ich die Sache brusquement handeln wollen, so hätte mir meine Freyheit den März werden müßen.... Damit aber Herr Günther nicht die Meinung, daß ich ihn kränken wollte, von mir haben möchte, versprach ich vielmehr auf Verlangen biß zu deßen Zurückkunft von Leipzig hier zu bleiben. . . . Die Ungewißheit, worinn Ew: HochEdelgeb: mich in Ansehung meines Schicksals gelaßen, einige vernünftige Ueberlegungen und meine Umstände bestirnten mich bey H. Günthern aufs neue biß Michael zu verbinden.... Herr Günther hat sich gütigst erklärt, auf Michael für mich zu sorgen, aber diß möchte ich mir gern erst zuletzt zu Nutzen machen; denn ich kann mich an den Gedanken noch nicht gewöhnen, daß mein Wunsch jetzt und künftig bey Ew: HochEdelgeb: fehlschlagen sollte."7 Aus dem Brief geht auch hervor, daß der Wunsch des jungen Logan von dem Hofprediger Zimmermann, einem „Vertrauten" des Pastors Patzke in Magdeburg, an Frommann in Züllichau mit der Bitte um Vermittlung bei Nicolai herangetragen worden war. Dieser letzte Brief beinhaltet den nochmaligen Versuch, Nicolai umzustimmen bzw. von diesem zu erreichen, die Ablehnung als eine nicht für alle Zeiten gültige Entscheidung zu werten: „Es ist mir immer, als spräche jemand zu mir: vor der Hand können dich der Herr Nicolai nicht gebrauchen, aber laß nur nicht ab, und wage noch ein Schreiben, künftig wird es geschehn."8 Da Nicolai nicht bereit war, seine Entscheidung zu ändern, muß sich Logan zwischen 1775 und 1779 nach Rußland gewandt haben. 1779 ist er erstmals in St. Petersburg nachweisbar. Möglicherweise ist er auf Anregung des Buchhändlers und Buchbinders Christian Tornow (Torno, Torneau) nach St. Petersburg gekommen. Der ebenfalls aus Lindau am Bodensee stammende Tornow lebte mindestens bereits seit 1770 in St. Petersburg:9 1770-1773 1773-1783? 1780—? ?—1788 1799-?

In der Kleinen Millionnaja im Hause des Architekten Kvasov10 In der Lugovaja Millionnaja im Hause von Poznjakov unter Nr. 7 2 " Am Newskij-Prospekt nahe dem Palais Stroganov, im Hause des Gastwirts Frenz unter Nr. 3412 Nahe der Roten Brücke im Hause des Schneiders Heidemann unter Nr. 15213 An der Blauen Brücke über der Mojka beim Hause des Grafen Cernysev unter Nr. 35414

Christian Tornow ist der erste St. Petersburger Buchhändler, von dem aus den Jahren 1771-1773 Kataloge bekannt sind. 1773 übernahm Karl Wilhelm Müller seinen Buchladen und setzte die Herausgabe von Katalogen in den Jahren 1773, 1778, 1785 und 1788 fort.15

Berlin (wie Anm. 6). ' Berlin (wie Anm. 6). ' A. A. Zajceva, Inostrannye knigotorgovcy ν S. -Peterburge k konce X V I I I - nacale XIXv., in: Knigotorgovoe i bibliotecnoe delo ν Rossii ν XVII - pervoj polovine XIXv., Leningrad 1981, S. 41. 1 0 Sankt-Peterburgskie Vedomosti, S. -Peterburg, 1770, Nr. 51, 25. Juni, ohne Seitenangabe. 1 1 Sankt-Peterburgskie Vedomosti, S. -Peterburg, 1773, Nr. 69, 27. August, ohne Seitenangabe. 1 2 Sankt-Peterburgskie Vedomosti, S. -Peterburg, 1780, Nr. 77, 25. September, S. 953. 1 3 Sankt-Peterburgskie Vedomosti, S. -Peterburg, 1788, Nr. 1, 4. Januar, S. 9. 1 4 Sankt-Peterburgskie Vedomosti, S. -Peterburg, 1799, Nr. 3 , 9 . Januar, S. 33. 1 5 Erik Amburger, Buchdruck, Buchhandel und Verlage in St. Petersburg im 18. Jahrhundert, in: Buch- und Verlagswesen im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert, Hgg. Herbert G. Göpfert, Gerard Kozielek u. Reinhard Wittmann, Berlin 1977, S. 207 (= Studien zur Geschichte der Kulturbeziehungen in Mittelund Osteuropa, Bd. 4). 7

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In den Jahren 1779-1784 ist Johann Zacharias Logan als in St. Petersburg tätiger Kommissionär nachzuweisen. Von 1 7 7 9 - 1 7 8 0 führte er einen Buchladen im Hause von Georg Thomas Frh. v. Asch in der Neuen Isaak-Straße/Novo-Isaakievskaja uliza. 16 1780 richtete er ein Zirkular über sein Geschäft an die Geschäftsfreunde in Deutschland. 1 7 Von 1 7 8 1 1784 betrieb er seinen Buchladen im Hause von P. A. Jaroslavcev an der Ecke Bol'saja Morskaja Nr. 133. 18 Johann Zacharias Logan stand auch mit der Petersburger Akademie der Wissenschaften in geschäftlichen Beziehungen. Die Akademische Konferenz beschloß am 18. September 1783 als Reaktion auf einen Brief von Maximilian Schimek (1748-1798) vom 20. August 1783 aus Wien dessen Werk „Slavische Sprachforschung in tabellarischer Darstellung des Gegenverhältnisses slavischer Mundarten, nach den besten Sprachlehren eingerichtet" bei der Buchhandlung Logan zu subskribieren und nach seinem Erscheinen für die Akademische Bibliothek zu erwerben. 1 9 1785 müssen Logan und Tornow in verwandtschaftliche Beziehungen zueinander getreten sein, da ersterer als „zjat'" von Christian Tornow bezeichnet wird. O b er nun Schwager oder Schwiegersohn von Tornow war, konnte bisher nicht ermittelt werden. Von 1785-? hatte Logan seinen Buchladen im Eckhaus von Kusovnikov an der Roten Brücke nahe dem Klub. 2 0 Am 2. Juli 1791 schrieb sich Johann Zacharias Logan als ausländischer Gast in die 3. Gilde mit einem Kapital von 1100 Rubeln ein. Von 1791-1802 hat er seine Buchhandlung wieder im Hause des Frh. v. Asch in der Neuen Isaak-Straße. 2 1 Logan betätigte sich auch als Kommissionär der Petersburger Akademie. Am 11. August 1792 kaufte er im Akademischen Buchladen 37 Titel in 138 Bänden ein. 2 2 Nachdem Christian Tornow im Jahre 1790 eine „Lesebibliothek" 2 3 eröffnet hatte, folgte 1792 auch Johann Zacharias Logan seinem Verwandten. 1792 gab er die Eröffnung zweier „Bibliotheques de Lectures", einer französischen und einer deutschen Lesebibliothek bekannt. Sie befanden sich in seinem Buchladen im Hause des Frh. v. Asch. 2 4 Ü b e r die Loganschen Lesebibliotheken ist nichts Näheres bekannt. Logan hat aber in diesen Jahren auch mit Visitenkärtchen, Tabaksbeuteln und auf Seide gedruckten Glückwünschen gehandelt. Offenbar haben seine Lesebibliotheken nur bis 1798 bestanden. Denn er offerierte zu Beginn des Jahres 1798 einen Ausverkauf ausgewählter neuer und alter Bücher in französischer, deutscher, lateinischer, griechischer u. a. Sprachen, wofür er Rabatt gewähr-

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Sankt-Peterburgskie Vedomosti, S. -Peterburg, 1779, N r . 57, 16. Juli, S. 848.

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Amburger, Buchdruck (wie Anm. 15), S. 206.

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Sankt-Peterburgskie Vedomosti, S. -Peterburg, 1781, N r . 16, 23. Februar, S. 87.

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Vgl. Protokoly zasedanij konferencii Imperatorskoj Akademii nauk s 1725 po 1803 goda, Bd. 3, S. -Peterburg 1900, S. 698; Ucenaja korrespondencija Akademii nauk X V I I I veka. N a u c n o e opisanie 1 7 8 3 - 1 8 0 0 , bearb. von Judif' Chaimovna Kopelevic, Valerij Ivanovic Osipov u. I. A. Safran, H g . G. K. Michajlov, Leningrad 1987, S. 20, N r . 64 ( = Trudy Archiva Akademii nauk SSSR, Bd. 29).

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Sankt-Peterburgskie Vedomosti, S.-Peterburg, 1786.

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Sankt-Peterburgskie Vedomosti, S. -Peterburg, 1791, N r . 55, 11. Juli, S. 1123. Α. A. Zajceva, Akademija nauk i castnye knigoprodavcy ν konce XVIIIveka, in: Kniga i biblioteki ν Rossii ν X I V - pervoj polovine X l X v e k a , Leningrad 1982, S. 113.

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Amburger, Buchdruck (wie Anm. 15), S. 209.

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Sankt-Peterburgskie Vedomosti, S. -Peterburg, 1792, N r . 101, S. 1984 zitiert nach Α. A. Zajceva, „Kabinety dlja ctenija" ν Sankt-Peterburge konca X V I I I - nacala X I X veka, in: Russkie biblioteki i castnye kniznye sobranija X V I - X I X vekov, Leningrad 1979, S. 33.

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13. Juni, S. 488 und Verlagsprogramm

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te. 25 Danach wies er in der Werbung für seinen Buchladen nicht mehr auf die Lesebibliotheken hin 1793 betätigte er sich auch als Übersetzer, indem er den Reisebericht von Grigorij Ivanovic Selechov aus dem Russischen ins Deutsche übertrug und verlegte. Johann Zacharias Logan ist, wie das Verlagsprogramm belegt, von 1781 bis mindestens 1797 auch als Verleger tätig gewesen und hat bis 1796 mit Peter Simon Pallas zusammengearbeitet. Dem scheint die Tatsache zu widersprechen, daß im Leipziger Meßkatalog von der Ostermesse 1790 der „Ankauf des sämmtlichen Verlages von Joh. Zach. Logan in Petersburg" durch Adam Friedrich Böhme in Leipzig gemeldet wird. 2 6 Wie danach die Geschäftsbeziehungen zwischen Böhme und Logan beschaffen waren, ist unbekannt. Denkbar ist, daß er den Verlag unter seinem Namen im Auftrage von B ö h m e weitergeführt hat. Über die verlegerische Tätigkeit von Logan in St. Petersburg nach 1797 sind bisher keine Daten bekannt geworden.

Verlagsprogramm Bisher konnten 36 selbständige bibliographische Einheiten, Bücher- und Zeitschriftenbände, ermittelt werden, die Johann Zacharias Logan verlegt hat: 1781 Buffon, Georges Louis Lerclerc Comte de, Epochen der Natur, übersetzt aus dem Französischen, Bd. 1 - 2 , St. Petersburg: J. Z. Logan 1781, 204 + 190 S. 2 7 Brünnich, Morten Thrane, Mineralogie, St. Petersburg-Leipzig: J . Z. Logan 1781, [20], 347 S.28 Discours en vers sur l'origine des societes fait au sujet de l'erection des nouveaux tribunaux de justice en Russie par mr. M.-i., St. Petersbourg: J. Z. Logan 1781, 28 S. 2 9 Lange, Lorenz, Tagebuch zwoer Reisen welche in den Jahren 1727, 1728 und 1736 von Kjachta und Zuruchaitu durch die Mongoley nach Peking gethan worden [Hg. P. S. Pallas], Leipzig: J . Z. Logan 1781, 152 S . 3 0 Neue Nordische Beyträge zur physikalischen und geographischen Erd- und Völkerbeschreibung, Naturgeschichte und Ökonomie [Hg. P. S. Pallas], Bd. 1 - 2 , St. Petersburg Leipzig: J . Z. Logan 1781, [8] + 342, [6] + 375 S. 3 1 Der Beobachter, eine periodische Schrift für Denker, St. 1 - 3 , St. Petersburg: J . Z. Logan 1781-1783. 3 2

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Sankt-Peterburgskie Vedomosti, S. -Peterburg, 1798, Nr. 6, S. 119 zitiert nach A.A. Zajceva, „Kabinety dlja ctenija" (wie Anm. 24), S. 39. Konrad Burger, Beiträge zur Firmengeschichte des deutschen Buchhandels aus den Meßkatalogen, Leipzig 1898, S. 172 u. 184 (= Archiv für Geschichte des Deutschen Buchhandels. Bd. 20). Svodnyj katalog knig na inostrannych jazykach, izdannych ν Rossii ν X V I I I veke. 1701-1800, bearb. von Elena Alekseevna Savel'eva, Tat'jana Pavlovna Scerbakova u.a., Bd. 1, Leningrad 1985, S. 153f., Nr. 505. Svodnyj katalog knig (wie Anm. 27), Bd. 1, S. 151, Nr. 500. Svodnyj katalog knig (wie Anm. 27), Bd. 1, S. 231, Nr. 782. Folkwart Wendland, Peter Simon Pallas (1741-1811). Materialien einer Biographie, Berlin - New York 1992, S. 505 u. 1004, Nr. 173 (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, Bd. 80). Wendland, Peter Simon Pallas (wie Anm. 30), S. 515-520 u. 1002f., Nr. 169. Amburger, Buchdruck (wie Anm. 15), S. 206.

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1782 Hermann, Benedikt-Franz Johann, Abriss der physicalischen Beschaffenheit der Oesterreichischen Staaten, und des gegenwärtigen Zustandes der Landwirthschaft, Gewerbe, Manufacturer Fabriken und der Handlung in denselben, St. Petersburg-Leipzig: J. Z. Logan 1782, [16] + 372 S. 3 3 Neue Nordische Beyträge zur physikalischen Erd- und Völkerbeschreibung, Naturgeschichte und Ökonomie [Hg. P. S. Pallas], Bd. 3, St. Petersburg-Leipzig: J. Z. Logan 1782, [34] + 410 S. 34 1783 Buffon, Georges Louis Leclerc Comte de, Buffons Geist oder Kern seiner Naturgeschichte. Aus dem Französischen des Herrn M***, St. Petersburg: J. Z. Logan 1783, [237] + 264 S. 3 5 Duclos, Charles Pinot, Herrn Duclos beständigen Sekretärs der französischen Akademie und Geschichtsschreibers von Frankreich Sammlung merkwürdiger und wenig bekannter Anekdoten. Zur Geschichte dieses und des vorigen Jahrhunderts. Aus dem Französischen, St. Petersburg: J. Z. Logan 1783, VIII + 319 S. 36 Hablitzl, Karl Ludwig, Bemerkungen in der persischen Landschaft Gilan und auf den Gilanischen Gebirgen, St. Petersburg: J. Z. Logan 1783, 140 S. 3 7 Logan, G.: Verzeichnis über die Gifte, s.l. [St. Petzersburg]: J. Z. Logan 1783.38 Neue Nordische Beyträge zur physikalischen und geographischen Erd- und Völkerbeschreibung, Naturgeschichte und Ökonomie [Hg. P. S. Pallas], Bd. 4, St. Petersburg-Leipzig: J. Z. Logan 1783, 404 S. 3 9 Patrin, Eugene-Melchior Louis: Relation d'un voyage aux monts Altaice en Siberie fait en 1781, St. Petersbourg: J. Ζ. Logan 1783, 38 S. 40 [Woensel, Pieter van:] Der gegenwärtige Staat von Rußland, St. Petersburg-Leipzig: J. Z. Logan 1783, [8] + 230 S. 41 1784 Orraeus, Gustav, Descriptio pestis quae anno 1770. in Jassia, et 1771. in Moscua grassata est, Petropoli: J. Z. Logan 1784, [6] + 238 S. 42 1785 Jänisch, Johann Heinrich, Vom Krebse und dessen Heilart. 2. Ausgabe, St. Petersburg: J. Z. Logan 1785, XV + 80 S. 43

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Svodnyj katalog knig (wie Anm. 27), Bd. 2, Leningrad 1985, S. 27f., N r . 1295. Wendland, Peter Simon Pallas (wie Anm. 30), S. 515-520 u. 1002f., N r . 169. Svodnyj katalog knig (wie Anm. 27), Bd. 1, S. 152, N r . 504. Svodnyj katalog knig (wie Anm. 27), Bd. 1, S. 238, N r . 813. Gesonderter Abdruck aus Neue Nordische Beyträge, St. Petersburg - Leipzig 4 (1783), S. 3-104; Wendland, Peter Simon Pallas (wie Anm. 30), S. 1002f., N r . 169; Svodnyj katalog knig (wie Anm. 27), Bd. 2, S. 5, N r . 1205. Amburger, Buchdruck (wie Anm. 15), S. 206. Wendland, Peter Simon Pallas (wie Anm. 30), S. 515-520, 529 u. 1002f., N r . 169. Svodnyj katalog knig (wie Anm. 27), Bd. 2, S. 294, N r . 2169. Svodnyj katalog knig (wie Anm. 27), Bd. 3, Leningrad 1986, S. 152, N r . 311. Svodnyj katalog knig (wie Anm. 27), Bd. 2, S. 285, N r . 2139. Svodnyj katalog knig (wie Anm. 27), Bd. 2, S. 70, N r . 1453; Amburger, Buchdruck (wie Anm. 15), S. 206.

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1786

[Logan, Johann Zacharias:] Deutsche Bücher bey Johann Zacharias L o g a n Buchhändler an der roten Brücke in Kusownikows Eckhause, St. Petersburg: J. Z. L o g a n 1786, 90 S. 4 4 1787

[Schleussner, Paul David:] Gedichte von Schleussner dem jüngern, St. Petersburg - Leipzig: In Kommission bei J . Z. Logan 1787, [16] + 156 S. 4 5 1792

[Logan, Johann Zacharias:] Deutsche Bücher bey Johann Zacharias Logan Buchhändler in der neuen Isaakstrasse im Hause des Bar[ons], v. Asch. N r . 114, St. Petersburg: J . Z. Logan 1792, 86 S . 4 6 1793

[Cicagov, Vasilij Ja.:] Herrn v. Tschitaschagow Russisch-Kayserlichen Admirals Reise nach dem Eismeer, St. Petersburg: J . Z. L o g a n 1793, [2] + 104 S. 4 7 Georgi, Johann Gottlieb, Description de la Ville de St. Petersbourg et de ses environs traduite de l'allemand. Avec le plan de St. Petersbourg, St. Petersburg[Leipzig]: J . Z. L o g a n [Breitkopf] 1793, X V I , 404 + [2] S. 4 8 Milon, C., Denkwürdigkeiten zur Geschichte Benjamin Franklins, St. Petersburg: J . Z. Logan 1793, [2] + 110 S. 4 9 N e u e Nordische Beyträge zur physikalischen und geographischen Erd- und Völkerbeschreibung, Naturgeschichte und Ö k o n o m i e [Hg. P. S. Pallas], Bd. 5-6, St. Petersburg Leipzig: J. Z. Logan 1793, 363 + 264 S . 5 0 Popov, Michajl Ivanovic, Kleine slavonische Mythologie. Aus verschiedenen Schriftstellern in alphabetischer O r d n u n g abgefaßt. N a c h dem Russischen, St. Petersburg: J . Z. Logan 1793, 54 S . 5 1 Popov, Michajl Ivanovic, Petite mythologie slavonne, tiree du plusieurs auteurs et arrangee selon l'ordre alphabetique. Traduit de russe, St. Petersbourg: J . Z. L o g a n 1793, 64 S . 5 2 Reise durch die Insel des Archipelagus. Mit neuen Bemerkungen, besonders für Freunde der Erd- und Geschichtskunde, Politiker, Kaufleute und Seefahrer, St. Peterburg: J . Z. Logan 1793, [2] + 190 S . 5 3 [Selechov, Grigorij Ivanovic:] Grigori Schelechof russischen Kaufmanns Erste und zweyte Reise von Ochotsk in Sibirien durch den Ostlichen Ocean nach den Kurilen von Amerika in den Jahren 1783. bis 1789. N e b s t umständlicher Beschreibung der von ihm neuentdeckten Inseln Küktak, Afagnak und mehrerer anderer, zu welchen selbst der berühmte C a p . 44 45

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Svodnyj katalog knig (wie Anm. 27), Bd. 3, S. 183, N r . 3228. Svodnyj katalog knig (wie Anm. 27), Bd. 3, S. 29, N r . 2552; Amburger, Buchdruck (wie Anm. 15), S. 206. Svodnyj katalog knig (wie Anm. 27), Bd. 3, S. 183, N r . 3229. Gesonderter Abdruck aus: N e u e Nordische Beyträge, St. Petersburg/Leipzig 5 (1793), S. 1-104; Wendland, Peter Simon Pallas (wie Anm. 30), S. 1002f., N r . 169; Svodnyj katalog knig (wie Anm. 27), Bd. 2, S. 239, N r . 2016. Svodnyj katalog knig (wie Anm. 27), Bd. 1, S. 312, N r . 1067. Svodnyj katalog knig (wie Anm. 27), Bd. 2, S. 220, N r . 1950. Wendland, Peter Simon Pallas (wie Anm. 30), S. 515-520, 529 u. 1002f., N r . 169; Amburger, Buchdruck (wie Anm. 15), S. 206f. gibt allerdings eine falsche Bandnummer an. Svodnyj katalog knig (wie Anm. 27), Bd. 2, S. 314f., N r . 2238. Svodnyj katalog knig (wie Anm. 27), Bd. 2, S. 315, N r . 2239. Svodnyj katalog knig (wie Anm. 27), Bd. 2, S. 351, N r . 2340.

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C o o k nicht gekommen und die sich der russischen Herrschaft unterworfen haben. Aus dem Russischen übersetzt von J . Z. Logan, St. Petersburg: J . Z. Logan 1793, 84 S . 5 4 Steller, Georg Wilhelm, Reise von Kamtschatka nach Amerika mit dem CommandeurCapitän Bering. Ein Pendant zu dessen Beschreibung von Kamtschatka, St. Petersburg: J . Z. Logan 1793, [2] + 133 S . 5 5 1794 Fenelon, Francois de Salignac de la Motte, Les avantures de Telemarque, fils d'Ulysse. Nouvelle edition conforme a l'original, St. Petersbourg: J . Z. Logan 1794, [2] + 434 S. 5 6 1796 Neue Nordische Beyträge zur physikalischen und geographischen Erd- und Völkerbeschreibung, Naturgeschichte und Ökonomie [Hg. P. S. Pallas], Bd. 7, St. Petersburg/Leipzig: J . Z. Logan 1796, 557 S . 5 7 Pallas, Peter Simon, Physikalisch-topographisches Gemähide von Taurien, St. Petersburg: J . Z. Logan 1796, 557 S . 5 8 Pallas, Peter Simon, Tableau physique et topographique de la Tauride tire du journal d'un voyage fait en 1794, St. Petersbourg: J. Z. Logan 1796, [8] + 148 S. 5 9 [Schleussner, Paul David:] Edelmut und Liebe. Ein Sittengemälde in vier Aufzügen von Schleussner dem jüngern, St. Petersburg - Leipzig: In Kommission bei J. Z. Logan [1796], 133 + [1] S . 6 0 Sievers, Johann August Karl, Briefe aus Sibirien an seine Lehrer den Königl. Grosbritannischen Hofapotheker Herrn Brande, den Königl. Grosbritannischen Botaniker Herrn Ehrhart, und den Bergcommissarius und Ratsapotheker Herrn Westrumb, St. Petersburg: J. Z. Logan 1796, [2] + 226 S. 6 1 1797 [Städer:] Tagebuch einer Reise, die im Jahre 1781 von der Gränzfestung Mosdok nach dem Innern Caucasus unternommen worden [Hg. P. S. Pallas], St. Petersburg-Leipzig: J . Z. Logan 1797, [2] + 142 S. 6 2

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Gesonderter Abdruck aus: Neue Nordische Beyträge, St. Petersburg - Leipzig 6 (1793), S. 165-249; Wendland, Peter Simon Pallas (wie Anm. 30), S. 506, 1002f., Nr. 169 u. S. 1008, Nr. 184 u. 190; Svodnyj katalog knig (wie Anm. 27), Bd. 3, S. 45f., Nr. 2618. Gesonderter Abdruck aus: Neue Nordische Beyträge, St. Petersburg - Leipzig 5 (1793), S. 129-236; 6 (1793), S. 1-26; Wendland, Peter Simon Pallas (wie Anm. 30), S. 506, 1002f., Nr. 167, S. 1007f., Nr. 188; Svodnyj katalog knig (wie Anm. 27), Bd. 3, S. 79, Nr. 2778. Svodnyj katalog knig (wie Anm. 27), Bd. 1, S. 279, Nr. 953. Wendland, Peter Simon Pallas (wie Anm. 30), S. 515-520, 529 u. 1002f., Nr. 169. Wendland, Peter Simon Pallas (wie Anm. 30), S. 467 u. 956, Nr. 16e; Svodnyj katalog knig (wie Anm. 27), Bd. 2, S. 289, Nr. 2154. Wendland, Peter Simon Pallas (wie Anm. 30), S. 467 u. 956, Nr. 16d; Svodnyj katalog knig (wie Anm. 27), Bd. 2, S. 292, Nr. 2159. Svodnyj katalog knig (wie Anm. 27), Bd. 3, S. 29, Nr. 2551. Svodnyj katalog knig (wie Anm. 27), Bd. 3, S. 50, Nr. 2641. Gesonderter Abdruck aus: Neue Nordische Beyträge, St. Petersburg - Leipzig 7 (1796), S. 1-127; Wendland, Peter Simon Pallas (wie Anm. 27), S. 506 u. 1008, Nr. 191; Svodnyj katalog knig (wie Anm. 27), Bd. 3, S. 66, Nr. 2725.

Johann Zacharias Logan - ein deutscher Buchhändler und Verleger

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Damit hat Johann Zacharias Logan ein erheblich umfangreicheres Verlagsprogramm zwischen 1781 und 1797 gehabt, als bisher angenommen worden war. 63 Neben 28 Büchern verlegte er zwei Zeitschriften in sechs Bänden. Mehr als 35 % aller Bücher waren Ubersetzungen aus dem Russischen ins Deutsche und Französische sowie aus dem Französischen ins Deutsche. Auffällig ist der hohe Anteil von Werken aus den Naturwissenschaften und der Medizin, insgesamt 17 Werke oder mehr als 61%. Der inhaltliche Aufbau dieses Verlagsprogramms wird erst verständlich, wenn man um die enge Zusammenarbeit von Johann Zacharias Logan und Peter Simon Pallas weiß (s.ff.). Neben Johann Friedrich Hartknoch d. J. in Riga vermittelte Johann Zacharias Logan auch Abonnements der „Allgemeinen Literatur-Zeitung". 64

Zusammenarbeit Gelehrter - Verleger Der in ganz Europa berühmte Naturforscher Peter Simon Pallas hat in den Jahren 17811796 eng mit Johann Zacharias Logan zusammengearbeitet. Pallas hatte - sicher begünstigt durch seinen hohen Bekanntheitsgrad - bei der Herausgabe der eigenen Werke die Wahl unter zahlreichen Verlagen in St. Petersburg, deren Zahl seit dem Ukas Katharinas II. vom 1. März 1771 a. St. stürmisch angewachsen war. Peter Simon Pallas ließ seine Werke in St. Petersburg außer bei Johann Zacharias Logan in der Akademischen Typographie, bei Weitbrecht & Schnoor und Johann Karl Schnoor erscheinen. 65 Die relativ große Zahl von wichtigen Publikationen, die er bei Logan verlegen ließ, kennzeichnen den hohen Stellenwert, den der Gelehrte diesem Verleger und Buchhändler beimaß. Ein Grund ist wahrscheinlich darin zu suchen, daß über die Zusammenarbeit von Logan mit Johann Gottfried Immanuel Breitkopf in Leipzig, vielleicht durch Vermittlung von dessen Verwandten Bernhard Theodor Breitkopf in St. Petersburg, die Verbreitung von Druckwerken in Mitteleuropa leichter zu realisieren war, wie das Beispiel der „Neuen Nordischen Beyträge" zeigt. Außerdem konnte damit die russische Zensur umgangen werden, die seit Mitte der 80er Jahre immer weiter verschärft wurde.66 Von Pallas hat Logan 1781-1783 und 1793-1796 die Zeitschrift „Neue Nordische Beyträge" und 1796 das Werk „Physikalisch-topographische Gemälde von Taurien" und die französische Fassung „Tableau physique et topographique de la Tauride" verlegt. Die „Neuen Nordischen Beyträge" wurden von Peter Simon Pallas in den Jahren 17811796 in sieben Bänden herausgegeben, die Bände 5 bis 7 tragen zusätzlich den Titel „Neueste Nordische Beyträge" Bände 1-3. Die Gründe für die Unterbrechung des Erscheinens zwischen 1783 und 1793 sind ebenso unbekannt wie die Entstehungsgeschichte dieser Zeitschrift. Aus der Vorrede geht hervor, daß das Druckmanuskript des ersten Bandes am 24. Juli/4. August 1780 fertig vorgelegen haben muß. Die „Neuen Nordischen Beyträge" boten ein recht breites Spektrum vorwiegend naturwissenschaftlicher Fachinformationen von hoher Aktualität und minimaler Redundanz. 63

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Amburger, Buchdruck (wie Anm. 15), S. 206; Α. A. Zajceva, Inostrannye knigotorgovcy (wie Anm. 9), S. 31,37 u. 43. Allgemeine Literatur-Zeitung, Jena 1 (1785) 1, 3. Umschlagseite. Wendland, Peter Simon Pallas (wie Anm. 30), S. 524. Wolfgang Gesemann, Grundzüge der russischen Zensur im 18. Jahrhundert, in: Buch- und Verlagswesen im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert, Hgg. Herbert G. Göpfert, Gerard Kozielek u. Reinhard Wittmann, Berlin 1977, S. 69 (= Studien zur Geschichte der Kulturbeziehungen in Mittel- und Osteuropa, Bd. 4).

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Folkwart Wendland

Diese „vermischten Materien" sah Pallas als nicht geeignet zur Wiedergabe bzw. Verwendung in den Monographien oder in Abhandlungen der Petersburger Akademie an. Es handele sich aber um „Nachrichten . . . die . . . doch wohl zu gut sind, als daß man sie zur Finsterniß verdammen könnte". 6 7 Johann Zacharias Logan hat mit Johann Gottlob Immanuel Breitkopf in Leipzig zusammengearbeitet hat, da als Verlagsorte der Neuen Nordischen Beyträge St. Petersburg und Leipzig angegeben sind. 68 Das „Physikalisch-topographische Gemälde von Taurien" bzw. das „Tableau physique et topographique de la Tauride" stellte eine erste auswertende Skizze der Beobachtungen und Eindrücke dar, die Pallas auf der Reise 1 7 9 3 - 1 7 9 4 durch Südrußland auf die Krim gesammelt hatte. Das kleine Werk erhob keinen Anspruch auf eine umfassende Darstellung der Krim, sondern beschränkte sich auf eine Darstellung vorzugsweise der Geographie und Geologie, Botanik und Zoologie. Nachdem das Werk 1795 in einer französischen und zwei russischen Fassungen in der Akademischen Typographie herausgekommen war, verlegte es 1796 Logan erstmals in deutscher und nochmals in französischer Sprache. 6 9 Pallas hat neben der Herausgabe der „Neuen Nordischen Beyträge" und des „Physikalisch-topographischen Gemähides von Taurien" weiteren, erheblichen Einfluß in zweierlei Hinsicht auf das Verlagsprogramm von Logan genommen und es mitbestimmt. O b er auch Geld in den Loganschen Verlag investiert hat, ist allerdings nicht belegt. Zum einen setzte Peter Simon Pallas die Herausgabe von wissenschaftlichen Werken und Reiseberichten von Freunden, wie ζ. B. Karl Ludwig Hablitzl, Eugene-Melchior Louis Patrin, evtl. Benedikt-Franz Johann Herrmann, oder von mit ihm korrespondierenden Fachkollegen, wie George Louis Leclerc de Buff on, Morten Thrane Brünnich oder Johann August Karl Sievers, durch. Zum anderen bewirkte er das Erscheinen von unveröffentlicht gebliebenen älteren und neuen Reiseberichten von Lorenz Lange aus China, Vasilij Ja. Cicagov, Grigorij Ivanovic Selechov und Georg Wilhelm Steller aus dem nordostsibirischen-pazifischen Raum. Peter Simon Pallas erteilte Johann Zacharias Logan aber auch andere Aufträge. So sollte dieser anläßlich einer Reise nach Leipzig zur Ostermesse 1781 an Abraham Gottlob Werner im sächsischen Freiberg die Kaufsumme für eine Mineraliensammlung auszahlen. In einem Brief an von Peter Simon Pallas an Abraham Gottlob Werner vom 0 8 . / 1 9 . Januar 1781 heißt es: „ . . . Weil ich aber eine Summe von etwas über 100 Rthlr. zu Sächsischen Mineralien bestirnt habe, die der auf anstehende Ostermesse nach Leipzig reisende hiesige Buchhändler Hr. Logan an Ew. Wohlgeb. zu zahlen den Auftrag haben wird, . . ." 7 0 Allerdings gibt es auch eine Unmutsäußerung des äußerst korrekten Pallas über das offenbar lässige Verhalten des Verlegers. In einem Brief vom 24. März 1810 an Friedrich Adelung in St. Petersburg heißt es: „Für die überschikten, durch Logans Schuld gröstentheils überflüssig gewordenen Manuscripte, bin ich Ew. Hwgeb. ebenfalls Dank schul-

67

N e u e Nordische Beyträge, St. Petersburg - Leipzig 1 (1781) 1, Vorrede, S. 1.

68

Wendland, Peter Simon Pallas (wie Anm. 30), S. 515.

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Wendland, Peter Simon Pallas (wie Anm. 30), S. 466ff.

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Freiberg/Sa., Bergakademie Freiberg, Hochschulbibliothek, Wiss. Altbestand, Werner-Nachl., Briefe an Werner, Bd. 1, Bl. 1 9 9 - 2 0 2 ; Folkwart Wendland, Ein Brief von Peter Simon Pallas ( 1 7 4 1 - 1 8 1 1 ) an Abraham Gottlob Werner ( 1 7 4 9 - 1 8 1 7 ) . Zur Geschichte von geowissenschaftlichen Sammlungen und zur Beziehungsgeschichte, in: Zeitschrift für geologische Wissenschaften, Berlin, 13 (1985), 2, S. 2 5 5 - 2 6 1 ; Wendland, Peter Simon Pallas (wie A n m . 30), S. 549.

Johann Zacharias Logan - ein deutscher Buchhändler und Verleger

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dig." 7 1 Die erwähnten Manuskripte standen vermutlich im Zusammenhang mit dem Universalglossarium „Linguarum Totius Orbis Vocabularia comparativa" ( 1 7 8 7 , 1 7 9 8 ) von Pallas.

Schlußbemerkungen Der junge Johann Zacharias Logan war in einer für den Buchhandel und Buchverlag im Russischen Reich günstigen Zeit nach St. Petersburg gekommen. In den 70er Jahren des 18. J h . nahm die Zahl der zugelassenen privaten Druckereien (1771 Johann Michael Härtung, 1776 Weitbrecht & Schnoor) zu, die mit dem Ukaz Katharinas II. vom 15. Januar 1783 a.St. einen Höhepunkt erreichte. Diesem Ukaz zufolge konnten sich private Druckereien in allen Städten des Russischen Reiches niederlassen. 72 Mit der sich vergrößernden Zahl von privaten Druckereien begann die Produktion von Büchern in russischer und anderen Sprachen und deren Vertrieb durch Buchläden sprunghaft zu steigen. Die selbst schriftstellerisch tätige Kaiserin förderte in der Anfangszeit ihrer Regierung zwar einerseits den literarischen Umsetzungsprozeß, indem sie Konzessionen zur Errichtung von privaten Buchdruckereien vergab und die Ubersetzung von Büchern in Russische förderte, deren staatspädagogische Bedeutung im Zusammenhang mit der Einrichtung neuer Lehranstalten sie erkannt hatte. Andererseits suchte sie diesen Prozeß bereits seit Ende der 60er Jahre des 18. Jh. durch eine systematische Zensurpolitik jederzeit unter Kontrolle zu halten. Im Zuge der Verbreitung der Ideen und Vorstellungen der Aufklärung begann sich, wenn auch mit Zügen einer Mode behaftet, ein wachsendes Lesebedürfnis des Adels und des sich langsam herausbildenden Bürgertums zu entwickeln. 7 3 Der Buchhandel wurde in St. Petersburg im Unterschied zu Moskau bis zum Beginn der 90er Jahre des 18. Jh. von ausländischen, vorzugsweise von deutschen Buchhändlern beherrscht. Zu nennen sind Johann Jakob Weitbrecht (1744-1803), Hermann Johann Klostermann (1757-1838), Evers, Geyh, Anton Rospini, Johann Karl Schnoor (1738-1812), Johann Daniel Gerstenberg und Wilhelm Konrad Müller und sein Sohn Karl Wilhelm Müller (* 1749), die über eine ausreichende Kapitalbasis verfügten. Begünstigt durch die aufgeklärten Reformen der 80er Jahre und die intensive Verlags- und Buchhandelstätigkeit von Nikolaj Ivanovic Novikov wuchs in St. Petersburg der Einfluß russischer privater Buchhändler. Aus dem Kreis der Novikovschen Kommissionäre in St. Petersburg gingen die ersten selbständigen russischen Buchhändler, wie I. A. Polezaev, I. P. Glazunov, Ν . N . Kol'cugin, V. S. Sopikov u. a. hervor. 74 Über die kaufmännischen Erfolge der russischen und deutschen Buchhändler entschied auch in St. Petersburg die Lage ihrer Buchläden, die deutlich voneinander getrennt waren. Die russischen Buchläden konzentrierten sich auf den Gostinnyj dvor gegenüber dem Nevskij-Prospekt, auf die Sadovaja-Straße und den Sennaja-Platz. 7 5 Die ausländischen Buchhändler eröffneten ihre Buchläden vorzugsweise am Nevskij Prospekt von der Admiralität bis zur Kasaner Kathedrale, am Isaak-Platz an der Blauen

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St. Petersburg, Russische Akademie der Wissenschaften, Petersburger Filiale des Archivs (RAN PFA), F. 89, op. 2, d. 81, Bl. 3-4v; Wendland, Peter Simon Pallas (wie Anm. 30), S. 529 f. Gesemann, Grundzüge (wie Anm. 68), S. 68. Amburger, Buchdruck (wie Anm. 15), S. 205. A. A. Zajceva, Novye materialy ο russkich kniznych lavkach ν S. .-Peterburge ν konce X V I I I - naiale XlXveka, in: Kniznoe delo ν Rossii ν XVI - X I X vekach, Leningrad 1980, S. 117. Zajceva, Novye materialy (wie Anm. 74), S. 129.

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Folkwart Wendland

Brücke, an der Großen und Kleinen Morskaja, in der Millionnaja und auf dem Vasi'levskij Ostrov. Seit der Mitte des 18. J h . gab es Häuser, in denen ständig Buchhändler wohnten bzw. die ihre Buchläden beherbergten. 7 6 Johann Zacharias Logan gelang es, offenbar mit Unterstützung von Christian Tornow und vielleicht Peter Simon Pallas, in dieser sich vergrößernden und ständig wandelnden Buchhandels- und Verlagslandschaft F u ß zu fassen und sich zu behaupten. Tornow und Logan werden neben den Müllers, Klostermanns und Rospini zu den sich herausbildenden Dynastien deutscher Buchhändler in St. Petersburg gerechnet. 7 7 Johann Zacharias Logan war Buchhändler, Kommissionär und Verleger gewesen, hat aber offenbar keine amtliche Tätigkeit ausgeübt, wie ζ. B. seine Zeitgenossen Johann Jakob Weitbrecht oder Johann Karl Schnoor. 7 8 Auch hat er die Möglichkeiten erfaßt, welche die Gründung von Leih- bzw. Lesebibliotheken boten, auch wenn sie nur von relativ kurzer Dauer waren. Als Verleger nimmt er durchaus eine Ausnahmestellung ein, aber nicht dadurch, daß er ausschließlich deutschsprachige Werke verlegt hat, sondern durch die enge Bindung seines Verlages und inhaltlichen Programms an den Gelehrten Peter Simon Pallas. 79 Offenbar hat sein Verlag sich während der Repression unter Paul I. nicht mehr behaupten können, auch lebte sein Mentor Pallas seit 1795 auf der Krim. Sein buchhändlerisches Wirken muß aber so erfolgreich gewesen sein, daß er diese Jahre überstanden hat, denn er ist in den Sankt-Petersburgskie Vedomosti bis 1802 nachweisbar, danach scheinen sich seine Spuren zu verlieren.

76 77 78 79

Zajceva, Inostrannye knigotorgovcy (wie Anm. 9), S. 32. Zajceva, Inostrannye knigotorgovcy (wie Anm. 9), S. 31. Amburger, Buchdruck (wie Anm. 15), S. 203f. Amburger, Buchdruck (wie Anm. 15), S. 206.

ERHARD HEXELSCHNEIDER,

LEIPZIG

Elisa von der Recke und ihre russischen Beziehungen

„Elisa von der Recke, geborene Gräfin Medem, ist eine imposante, große Frau, die einstmals eine der ersten Schönheiten Europas war; heute, im 65. Lebensjahr, nimmt sie durch ihre Güte, ihren Verstand und ihre Phantasie für sich ein. Von der Recke war die Freundin sehr berühmter Personen, die die letzten Jahre des Katharinäischen Jahrhunderts unsterblich gemacht haben: die große Herrscherin ehrte und liebte sie, verehrte sie vor allem deshalb, weil sie den verhängnisvollen Aberglauben haßte, den Cagliostro und ähnliche Betrüger bereits in den letzten beiden Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts verbreitet haben. [.. ] Ich werde diesen ehrwürdigen, imposanten und sanften Liebling der Musen nie vergessen. Der Abend ihrer Tage ist dem stillen, schönen Untergang der wohltätigen Sonne gleich; ihre Umgebung vergöttert sie."1 So urteilte der Schriftsteller und künftige Dekabrist Wilhelm Küchelbecker (Kjuchel'beker) (1797-1846), nachdem er ihr während seines Dresden-Aufenthaltes im Herbst 1820 vorgestellt wurde. Er bezeichnete damit wichtige Momente, die den Platz dieser Frau als „Zeugin der geistigen Auseinandersetzung im Umfeld der Aufklärung in Deutschland" 2 ausmachen. Charlotta Elisabeth Konstantia von der Recke (1754-1833), die sich seit 1783 Elisa von der Recke nannte, zählt zweifellos zu den bemerkenswertesten Frauenpersönlichkeiten am Ausgang des 18. und zu Beginn des 19. Jh. Als Schriftstellerin (u. a. „Geistliche Lieder", 1780, „Gedichte", 1806, und „Tagebuch einer Reise durch einen Teil Deutschlands und durch Italien", 1815-1817) vergessen, wird sie heute - wie schon zu Küchelbeckers Zeit vornehmlich mit ihrer mutigen Entlarvung des schillernden Scharlatans Cagliostro in Mitau in Verbindung gebracht; ihr (längst nicht erschlossener) Briefverkehr mit vielen Prominenten gilt als bedeutende Zeitquelle. Über ihre russischen Beziehungen ist bisher aber nur panegyrisch 3 oder beiläufig berichtet worden; einzig Paul Rachel und Johannes Werner 4 stellten in ihren Textveröffentlichungen Reckes Beziehungen zu Katharina genauer dar. Vorliegende Abhandlung will, gestützt auf diese Materialien und neue Archivfunde, ihre Haltung zu Rußland und die Rolle ihres Dresdners Salons für die Förderung von Rußlandkontakten zusammenhängend behandeln.

Elisa von der Reckes Weg zu Katharina II. Als gebürtige Reichsgräfin von Medem nahm Elisa von der Recke innerhalb des kurländischen Adels trotz ihrer unglücklichen Ehe und zeitigen Scheidung eine geachtete gesell1

Vil'gel'm Κ. Kjuchel'beker, Puteäestvie. Dnevnik. Stat'i, Leningrad 1979, S. 13 f.; alle Übersetzungen aus dem Russischen vom Vf. 2 Christine Träger, Vorwort, in: Elisa von der Recke, Tagebücher und Selbstzeugnisse, Leipzig 1984, S. 5. ' Christoph August Tiedge, Elisa von der Recke, geborne Reichsgräfin von Medem, in: Zeitgenossen Bd. 3, Heft 11, S. 3-76; Ludwig Brünier, Elisa von der Recke, Bremen 1873, der aber weitgehend auf Tiedge fußt. 4 Paul Rachel (Hg.), Elisa von der Recke. I. Aufzeichnungen und Briefe aus ihren Jugendtagen und II. Tagebücher und Briefe aus ihren Wanderjahren, Bde 1-2. Leipzig 1900-1902; Johannes Werner (Hg.), Elisa von der Recke, Mein Journal. Elisas neu aufgefundene Tagebücher aus den Jahren 1791 und 1793/95, Leipzig (1927).

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schaftliche Stellung ein. Hier erhielt sie sicherlich auch frühzeitig viele Informationen über das Ringen zwischen Rußland und Polen um das kleine, von letzterem lehnsabhängige Kurland. Somit kannte sie die russische Strategie, sich Kurland einzuverleiben, denn sie hatte mit dem einflußreichen Hofrat Sigismund Georg Schwander (1727-1784) 5 großen Anteil daran, daß ihre jüngere Stiefschwester Anna Dorothea (1761-1821) 1779 die Gattin Peter Birons (1724-1800), des Herzogs von Kurland, wurde. Damit war die kurländische Selbständigkeit noch für kurze Zeit gesichert. 6 Elisa von der Recke hatte sich schon frühzeitig für Katharina („deren großer Name schon meine Kinderphantasie beschäftigt hatte" 7 ) interessiert. So war sie zunächst bereit, Cagliostro 1779 nach St. Petersburg zu folgen, zumal dieser seine Absicht, Elisa an die Spitze einer von der Zarin gestifteten freimaurerischen Loge d'Adaption zu stellen, geschickt mit der damit verbundenen Aufwertung Kurlands verknüpfte. 8 Bekanntlich kam es aber anders; die empfindsame Elisa wandte sich von ihm und seinen Ideen ab. Ihre Erlebnisse und Erkenntnisse faßte sie in dem europaweit Aufsehen erregenden Buch „Nachricht von des berüchtigten Cagliostro Aufenthalte in Mitau im Jahre 1779. und von dessen dortigen magischen Operationen" (1787) zusammen. Das ebnete ihr den Weg zu Katharina II., zumal deren Mißtrauen gegenüber den Freimaurern bekannt war und sie sich mehrfach öffentlich gegen sie ausgesprochen hatte. So war es keinesfalls zufällig, daß der russische Diplomat Johann Heinrich von Kroock (1732-1798) sofort nach Erscheinen des Buches der Autorin empfahl, es der Zarin zu übermitteln. Sie wollte wohl auch erst, lehnte dann aber doch ab: „Denn so sehr ich die Monarchin verehre, die von ganz Europa bewundert wird, [ . . . ] eben so wenig kann ich mich dazu entschließen, mich diesen Kaiserlichen Hoheiten [sie hatte auch noch das Thronfolgerpaar genannt - Ε. H.] zuzudrängen." 9 Und eine zweite Empfehlung kam. Der Katharina-Korrespondent Johann Georg Zimmermann (1728-1795) aus Hannover informierte am 12. 6. 1787 den Zarenhof über Buch und Autorin, regte die Buchbestellung bei Nicolai an und hob Empfindsamkeit, Geist und Talent der Verfasserin gebührend hervor. 10 Elisa von der Recke fühlte sich dadurch sehr geschmeichelt und bedankte sich bei Zimmermann, der ihr am 5. 9. 1787 u. a. schrieb: „Was ich den 12. Junius dieses Jahres an die Kaiserin von Rußland über Sie und über Ihre mir äußerst merkwürdige heroische Schrift über Cagliostro geschrieben habe, verdient keinen Dank. Die Kaiserin hat die Gnade, sich oft mit mir über Dinge dieser Art zu unterhalten. Ich wußte zum voraus, daß diese Schrift von einer solchen Hand das große Interesse für sie haben wird. Aus Moskow vom 1. Julius schrieb mir die Kaiserin sogleich wieder. Aber weil dieser Brief eine Menge Anmerkungen der großen Frau über ihre große Reise, auch manches über

5

Rachel (wie Anm. 4), Bd 2, S. 2 6 - 3 4 und Bd 1, S. 4 5 8 - 4 6 2 .

6

Erich Donnert, Kurland im Ideenbereich der Französischen Revolution, Frankfurt am M a i n / B e r l i n / B o n n / N e w Y o r k / P a r i s / Wien 1992; Carl Wilhelm Cruse, Curland unter den Herzögen, Bd 2, Mitau 1837.

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Tiedge (wie Anm. 3), S. 53. Brief an F. Nicolai vom 26. 8. 1795.

® Vladimir R. Zotov, Kaliostro, ego zizn' i prebyvanie ν Rossii, in: Russkaja starina 1875, Bd. 12, N r . 1, S. 5 0 - 8 3 . ' In einem Brief an L. H . Nikolay vom 7. 6. 1787, vgl. Die beiden Nicolai. Briefwechsel zwischen Ludwig Heinrich Nikolay in St. Petersburg und Friedrich Nicolai in Berlin ( 1 7 6 6 - 1 8 1 1 ) . H g . u. komm. Heinz Ischreyt, Lüneburg 1989, S. 233 und 235. 10

Eduard Bodemann (Hg.). Der Briefwechsel zwischen der Kaiserin Katharina II. von Rußland und Joh. Georg Zimmermann, H a n n o v e r / L e i p z i g 1906, S. 4 6 f. Vgl. Horst Rohling, Katharina II. und J. G. Zimmermann, in: ZfsPh 4 0 (1978), H . 2, S. 3 5 4 - 3 9 2 , besonders S. 3 8 7 ff.

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viele äußere Dinge enthielt, und weil sie die Schrift über Cagliostro noch nicht erhalten haben konnte: so blieb dieser Artikel meines Briefes vom 12. Junius unbeantwortet. Freilich ist es im Grunde besser, und Sie, meine gnädigste Frau, sind allzu scharfsinnig, um dies nicht einzusehen, daß Ihre Schrift über Cagliostro aus irgend einer dritten Hand in die Hände der Kaiserin komme. Mit heutiger Post ermuntere ich dazu den meinen, unseren Freund Nicolai, mit dem ich einige sehr vergnügte Wochen in Pyrmont zugebracht habe. [···] Es schmerzt mich, daß Sie schon wieder von einer schwächlichen Gesundheit sprechen. Schwächlich waren Sie gewiß nicht, als Sie über Cagliostro schrieben und der Welt zeigten, mit welcher Stärke und Größe der Seele Sie sich aus einem Zustande emporgeschwungen haben, der bei schwachen Nerven und in Ihrer damaligen Lage sehr begreiflich und verzeihlich ist. Gehen Sie nächstes Jahr im Mai nach Carlsbad und kommen Sie dann für den ganzen Julius und August nach Pyrmont." 11 Katharina war von der Lektüre des Buches außerordentlich angetan und ließ es durch Timofej Zacharin im gleichen Jahr ins Russische übersetzen, was sie mit 400 Rubeln belohnte.12 Elisa von der Recke fühlte sich durch diese Wertschätzung, von der sie bald erfuhr, sehr geehrt; eins der russischen Exemplare verschenkte sie an den Kurländer Bernhard Becker.13 Die Herausgeber der „Berlinischen Monatsschrift" Friedrich Gedike und Johann Erich Biester nahmen das zum Anlaß, Katharina für ihren Beitrag „zur Beförderung der Aufklärung und zur Verbannung des Aberglaubens" gebührend zu würdigen. 14 Die Anerkennung der Monarchin beflügelte Elisa von der Recke, deshalb schickte sie ihr auch die polemische Schrift „Etwas über des Herrn Oberhofpredigers Johann Georg Starck Verteidigungsschrift nebst einigen anderen Erläuterungen" (1788) zu. Katharina richtete daraufhin an die Verfasserin ein huldvolles Schreiben, woraus sich ein bis heute nicht vollständig edierter Briefwechsel ergab, da die Recke-Briefe verschollen sind. In dem Brief vom 17. 6. 1788 hieß es u. a. (und die Recke stand nicht an, diese Äußerung sofort in die „Berlinischen Monatsschrift" einzurücken): „Beyde [Schriften - Ε. H.] tragen das Gepräge eines vor die Wahrheit tief fühlenden Herzens, und zugleich eines aufgeklärten und viel umfaßenden Geistes an sich. Es ist freylich tief zu beklagen, daß am Ende des achtzehenden Jahrhunderts sich neuerdings Meynungen ausbreiten, die schon seit Jahrtausenden als falsch und vernunftwidrig anerkannt, und als solche von allen verständigen Leuten, auch in den Zeiten die noch von so manchem den menschlichen Verstand entehrenden Aberglauben angefochten gewesen, verworfen und verachtet worden sind. Allein wann auch schon die Schaar der Betrüger wieder überhand genommen und die Anzahl der Betrogenen gleichmäßig zugenommen hat, so ist dennoch zu hoffen, daß allen diesen Anhängern der Isis-Tempeley, ihrem Aberglauben, und allen damit verbundenen Träumereyen eben der Verfall bevorstehe, dem sie vorzeiten unterworfen gewesen; absonderlich wann so gute Federn wie die Ihrige den Schleyer des Unsinns, worein sich diese geheimen Gaukeleyen einhüllen von denenselben abzunehmen, und den Welt-Bürgern so kräftige Gegengründe dawieder darzureichen fortfahren werden." 15 11

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Freies Deutsches Hochstift Frankfurt am Main, N r . 1827, dem für die Druckerlaubnis gedankt sei. Zuerst Russisch bei Zotov (wie Anm. 8), S. 79. Svodnyj katalog russkoj knigi grazdanskoj pecati XVIII veka. 1725-1800. Bd 3. Moskva 1966, S. 27. Vgl. sein auf den 26. 1. 1788 datiertes Gedicht „An Elisa, als sie mir die russische Übersetzung ihres Buchs über Cagliostro zuschickte", in: Berlinische Monatsschrift Bd 11 (1788), S. 209-216. Ebd., S. 210. Da zwischen der Erstpublikation in der „Berlinischen Monatsschrift" Bd 12 (1788), S. 129-131 (mit dem exakten Datum!) und Rachel (wie Anm. 4), Bd 2, S. 270 f. in der Transkription Unterschiede bestehen, wird nach dem Original zitiert: Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz, Handschriftenab-

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Ihrerseits geschmeichelt über den Ausdruck des Briefes in der „Berlinischen Monatsschrift" („wenn mein Brief wirklich Menschen von dem Wege der Torheit abhalten könnte"), ermutigte Katharina ihre Briefpartnerin, der sie ganz offensichtlich zunächst aus Neigung zu einer Gleichgesinnten schrieb: „Mit vielem Vergnügen lese ich die schöne Schreibart einer so angesehenen Verfasserin sowohl in ihren Büchern als auch in ihren Briefen."16 Sie lobte sie für ihre publizistischen Bemühungen gegen die Freimaurer: „Sie werden noch lange fortfahren, zur Aufklärung unseres Zeitalters und zur Ausbreitung der reinen Vernunft und des guten Geschmacks merkwürdige Beiträge zu liefern."17 Es war ein regelrechtes Werben um eine neue europäische Berühmtheit, zugleich stand dahinter aber immer mehr auch die Absicht, die vermeintlich naive, aber angesehene kurländische Adlige für die russische Politik einsetzen zu können. Die durch diese Gunstbeweise geschmeichelte Recke nutzte ihrerseits den jeweiligen Jahreswechsel oder die Friedensschlüsse Rußlands mit Schweden (1790 zu Werelä) und der Türkei (1792 zu Jassy), in (uns nicht vorliegenden) Episteln der Kaiserin ihre Gedanken mitzuteilen. Die ihr „wohlaffektionnierte" Katharina reagierte gefühlvoll und stellte sich als humane Friedensstifterin heraus: „Die Wiederherstellung des Friedens war stets derselben [Katharinas - Ε. H.] ohnverändertes Ziel; ich habe es nun zu meiner größten Zufriedenheit erreicht und danke dafür der göttlichen Vorsehung, die gerechte Waffen immer mit glücklichem Erfolg krönet." 18 Nach Erhalt des Anti-Cagliostro hatte sich Katharina - über die Informationen Zimmermanns hinaus - über die Autorin erkundigt. Ahnend oder wissend, wie sehr sich Elisa für ein selbständiges Kurland eingesetzt hatte, aber auch in Kenntnis der ärmlichen finanziellen Situation ihrer Korrespondentin, versuchte Katharina, unter Berufung auf einen Vertrag von 1762, der dem Zaren eine gewisse Einflußnahme auf die Gewährung von Adelsprivilegien gestattete, auf Herzog Peter Druck auszuüben. Er sollte seiner Schwägerin eine jährliche Summe von 12 000 Talern durch Überlassung eines Pachtgutes zur Verfügung stellen.19 Die Recke erkannte die Falle, die sie in russische Abhängigkeit gebracht hätte, auch wenn der ihr gewogene russische Resident in Mitau, Johann von Mestmacher (1733-1805), ihr den vermeintlichen Nutzen für das Vaterland schmackhaft zu machen versuchte, und schrieb höflich, aber bestimmt ab. Diese Haltung aber sollte ihr - wie die weitere Entwicklung zeigte - von außerordentlichem perspektivischen Nutzen sein. Dennoch lud Katharina Elisa von der Recke im Frühjahr 1789 nach St. Petersburg ein, um die direkte Bekanntschaft mit der eigenwilligen Kurländerin herbeizuführen: „Wenn Sie Ihren Weg hieher zu richten gedächten, so würden meine Geschäfte mich gewiß nicht abhalten, eine so angenehme Bekanntschaft wie die Ihrige zu machen." Und kokettierend setzte sie hinzu, geradezu Widerspruch herausfordernd: „Es würde zwar bei selbiger [Bekanntschaft - Ε. H.] die gehegte Bewunderung, wovon Sie Erwähnung tun, sich gänzlich zernichten, aber die Spuren eines redlichen und guten Herzens würden Ihrer Einsicht nicht entfallen." 20 Aber die Recke schützte aus den genannten Gründen diplomatisch ihren tatsächlich schwachen Gesundheitszustand vor, der sie zum Aufenthalt in Bädern, nicht

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teilung Haus 2, Nachlaß Elisa von der Recke, Ms. germ. qu. 452. Für Einsicht und (bei Erstpublikationen) Druckerlaubnis sei herzlich gedankt. In allen anderen Fällen wird der Text der heutigen Rechtschreibung (außer bei Eigennamen) und der Zeichensetzung vorsichtig angeglichen. Ein größerer Teil der Briefe bei V. Rakint, Briefe Katharinas II. und des Stanislaus August an Elisa von der Recke, in: Zs. f. osteurop. Geschichte, Bd IX (N. F. Bd V), S. 222-230; 403-410. Rachel (wie Anm. 4), Bd 2, S. 271. Brief vom 5. 8. 1788. Ebd., Bd 2, S. 272. Brief vom 2. 1.1788. Nachlaß Recke (wie Anm. 15) vom Februar 1792 sowie Rakint (wie Anm. 15), S. 228. Rachel (wie Anm. 4), Bd 1, S. 470 f. und Bd 2, S. 293. Träger (wie Anm. 2), S. 13 i m sich mit der Jahresrente für Elisa. Nachlaß Recke (wie Anm. 15). Brief vom 16. 3.1789 sowie Rakint (wie Anm. 15), S. 227.

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aber zu einer beschwerlichen Reise nach Rußland zwänge. Das hinderte sie aber nicht, in Deutschland eifrig die kurländischen Angelegenheiten im Maße des ihr Möglichen zu betreiben - trotz der zunehmendenden Streitigkeiten mit der Herzogsfamilie. An der Seite ihrer Schwester Dorothea unternahm sie im Auftrag des kurländischen Herzogs mehrfach den Versuch, die Beziehungen Kurlands zur polnischen Krone unter Stanislaw II. August Poniatowski durch drei Warschau-Besuche in den Jahren 1790-1792 zu verbessern. 21 Mit der Niederschlagung des Kosciuszko-Aufstandes und der Dritten Teilung Polens (1795) war auch das Ende kurländischer staatlicher Selbständigkeit gekommen; die polnischen Lehnsverhältnisse wurden aufgelöst; Kurland unterwarf sich der russischen Krone; Peter Biron dankte ab. Elisa von der Recke durchlebte diesen Prozeß sehr schmerzhaft. Kurland war für sie ihr Vaterland, obgleich sie durchschaute, wie der Adel gegen einen schwachen Herzog den Anschluß an Rußland angesichts eines zugrundegehenden Polens betrieb, denn „so steht mein armes Vaterland unter dem entsetzlichsten Drucke der egoistischen Aristokraten unsres Landes!", schrieb sie am 22. 8. 1794 in ihr Tagebuch (S. 266). Voller Sympathien gedachte sie der im Kosciuszko-Aufstand geschlagenen Polen: „Soll diese in den Staub gesunkene Nation, die sich emporzuheben strebt, denn ganz niedergebeugt werden? Mit Kosciuszko sinkt, wie ich fürchte, Polen in neue Sklaverei, denn noch glaube ich nicht, daß die Nation schon so weit gekommen ist, daß die Niederlage ihres Feldherrn sie zu noch größeren Siegen ermuntert." (S. 282). Das brutale Wüten der russischen Truppen unter Aleksandr Suvorov im Warschauer Stadtteil Praga im O k t o b e r 1794 weckte auch bei Elisa von der Recke tiefen Abscheu (S. 297). Aber noch mehr kreisten ihre Gedanken um das kurländische Schicksal, haderte sie mit dem kurländischen Adel: „Durch einen schwachen Fürsten ist unsre Nation so verdorben worden, daß sie nun selbst um Sklavenketten bittet. Der Privatvorteil einzelner Menschen hat das arme Vaterland verkauft."(S. 297) Mit dem Anschluß Kurlands an Rußland mußte sie über mögliche Alternativen für sich selbst (noch dazu aufgrund ihrer persönlichen Bindungen an das Herzoghaus und ihrer nichtstandesgemäßen finanziellen Situation) nachsinnen. So erbat sie Ende Juni 1794 vom Herzog eine Arrende, eine Bitte, die aber unbeantwort blieb (S. 262). Kummervoll notierte sie in ihr Wörlitzer Tagebuch unter dem 31. 12. 1794: „ U m alles in der Welt machte ich nicht zu denen gehören, die diese Sache beförderten - aber so, wie die Lage nun ist, m u ß ich entweder aufhören, Kurländerin zu sein, oder unter der direkten Protektion der Kaiserin stehen, denn Sklavin von russischen Sklaven sein - dies kann ich nicht."(S. 298). In dieser Situation bat sie in einem Huldigungsbrief an Katharina um einen E m p f a n g bei Hofe, ungeachtet der Überlegungen, die für sie bei ihrer früheren Absage bestimmend waren: „Erhalte ich eine geneigte Antwort, dann lebe ich in und für mein Vaterland; werde ich keiner Antwort gewürdigt, dann expatriiere ich mich, so sehr mein H e r z auch an meinen Jugendfreunden hängt." (S. 298) Dabei war sie sich darüber klar, daß diese Bitte Gefahren in sich barg, wurde ihr doch zugetragen, Katharina sehe in ihr die Urheberin der Tändeleien des Herzoghauses mit den Polen in früheren Jahren (S. 298). Aber die H o f f nung überwog, wenn sie später notierte: „ D o c h - vielleicht wird unsre neue Lage besser als die vorige sein. Katharina hat Geistesgröße. Vielleicht wird, wenigstens so lange sie lebt, Kurland minder unglücklich sein, als es unter der schwachen Regierung unseres Herzogs war." (S. 305) Was daran Schutzbehauptung und was Erkenntnis war, m u ß dahingestellt bleiben. 21

Ausführlich zum Polen-Aufenthalt bei Werner (wie Anm. 4), S. 125-127; Träger (wie Anm. 2), S. 12 nennt nur zwei Warschau-Aufenthalte. Im folgenden wird nach der zugänglicheren Ausgabe von Christine Träger (Seitenangaben im Text zitiert, soweit es die Tagebücher 1793-95 angeht. Zum Polen-Aufenthalt insgesamt noch Rakint (wie Anm. 15), S. 403 ff.

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Die Zarin jedenfalls reagierte, vielleicht mit berechnendem Blick auf die öffentliche Meinung, rasch und positiv, wenngleich im Ton unerwartet knapp und bestimmt: „Die Gesinnungen, die mir Ihre persönlichen Eigenschaften eingeflößt haben, waren Ihnen bekannt: Ich bin jederzeit bereit gewesen, zu Ihrer Zufriedenheit etwas beizutragen. Erlaubt es dereinst Ihre schwächliche Gesundheit, sich dem hiesigen rauheren Klima auszusetzen, so wird es mir angenehm sein, Ihre nähere Bekanntschaft zu machen." (S. 302) Diese erfreuliche Nachricht ereilte die Recke in Wörlitz bei ihrer Freundin Luise von Anhalt-Dessau. Sofort begann sie mit den Reisevorbereitungen für den Herbst; sie las auch die einschlägige Rußland-Literatur, vor allem Heinrich Storchs „Gemälde von St. Petersburg" (1793-1794).22 Ihre Motivation für die Reise war eindeutig und sehr pragmatisch: „Daß Petersburg für meine Art, zu denken, eben so wenig als Warschau gemacht ist, davon bin ich fest überzeugt. Daß ich aber, sobald mein Vaterland eine russische Provinz ist, unter der direkten Protektion der Kaiserin stehen muß, wenn ich dort nicht unter bitterem Drucke leben soll, ist eben so gewiß - denn von russischen Sklaven, die bei uns die Herren spielen werden, den personellen Druck zu fühlen, paßt noch weniger für meinen Charakter. Und außer meinem Vaterlande kann ich mich nicht etablieren, weil meine Einkünfte nicht hinreichen, mich bei meiner Kränklichkeit irgendwo zu unterhalten, als an dem Orte, wo man meine ganze Lage kennt und wo ich doch die treuesten und bewährtesten Freunde habe." (S. 302f.) Und am 24. 4. 1795 notierte sie in Kenntnis der kurländischen Unterwerfungsakte erneut: „Da meine äußeren Verhältnisse es mir nicht erlauben, mich zu expatriieren, so will ich mich ohne Verletzung meiner Grundsätze in unsre neue Lage zu schicken suchen. Möchte es mir doch glücken, das Wohlwollen der Monarchin zu erwerben, die nun über das Schicksal meines Vaterlandes rechtmäßige Gebieterin geworden ist!" (S. 320). Diese Überlegungen wurden anfangs von ihren Freunden kaum oder gar nicht verstanden. Am deutlichsten brachte das Friedrich Nicolai (1733-1811), mit dem sie seit 1784 bekannt und befreundet war, in einem bisher unveröffentlichten Brief vom 10. 1. 1795 zum Ausdruck, der hier im Auszug abgedruckt werden soll. Nicolai reagierte entsetzt: „Ich habe den größten Schreck gehabt, da ich las, daß Sie an die K(aiserin) geschrieben haben: Sie wünschten Ihr in St. P(etersburg) aufzuwarten. Großer Gott! Haben Sie nicht die Folgen überdacht. Dies ist einer von Ihren allerunbedachtsamsten Schritten - Nehmen Sie mir meine Offenherzigkeit nicht übel." Und dann führte er gewichtige Gründe an, die aus seiner Sicht gegen eine Reise sprachen: Ihr Gesundheitszustand („die Lebensart in St. P. ist ärger als in Warschau oder Hamburg"); schon ein Aufenthalt in Schlesien bei ihrer Stiefschwester in Sagan würde sie bedrücken („Großer Gott, und dann in St. P. nicht?"); da sie als intrigant seit der Warschauer Zeit denunziert werde, so werde man sie dort per Invitation festhalten und beobachten, zumal sie Feinde genug habe: „Und wenn Sie nichts ausrichten, um eine Pension zu bekommen, wie es leider! höchst wahrscheinlich ist, so haben Sie Ihre Gesundheit und Finanzen ruiniert, und sich den Herzog und die Herzogin [von Kurland - Ε. H.] ganz zum Feinde gemacht." Nicolai verwies auch auf die seinerzeit mit vorgeschobenen Krankheitsgründen ausgeschlagene kaiserliche Einladung; jetzt aber sei sie doch wirklich krank! Selbst die Reise mit einem jungen Leibarzt sei kompromittierend, zumal sie in Petersburg keinen wirklichen „Anwalt" für ihre Belange habe. Und schließlich führte Nicolai, sehr genau informiert, die Kosten ins Feld: Reise und drei Monate Aufenthalt in St. Petersburg kosteten rd. 1 500 Taler, wenn man standesgemäß mit eigener Equipage und Leibarzt (nochmals 300 Taler monatliches Gehalt) auftreten wolle. 22

Wilhelm Hosäus, Elisa von der Recke in ihren Beziehungen zu Dessau und Wörlitz, in: Mitteilungen des Vereins für Anhaltische Geschichte und Altertumskunde, Bd 4, Dessau 1886, S. 494.

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So kam er zu dem Schluß, eine Reise lohne nur, wenn sozusagen vorab eine Pension positiv zugesichert werde. Gleichzeitig riet er zu jeder Art von Vorsicht, denn sie solle die Folgen ihrer Offenheit bedenken: „Wenn Ihre Feder läuft, so denken Sie zuweilen nicht an die Folgen. In St. P(etersburg) könnte ein solches Vorgehen die übelsten Folgen haben." Zusammenfassend formulierte Nicolai: „Genug, Teuerste! Geschehene Sachen sind nicht zu ändern. Aber ich bekenne Ihnen, daß ich aus Liebe zu Ihnen über den ganzen Leib kalt wurde, als ich las, daß Sie diesen Schritt getan hätten. Wenn die Kaiserin Ihnen eine positive Einladung schickt, so müssen Sie freilich Gesundheit, häusliche Bequemlichkeit und Vermögen aufs Spiel setzen und nach St. P. reisen, aber sehen Sie zu, d a ß es eine ganz positive Einladung sei." 23 Nicolai wollte auf diese ernste M a h n u n g keine Antwort, zumal er wußte, daß auch die Post aus Wörlitz abgefangen und gelesen wurde. N o c h einmal, am 27. 1. 1795. riet er ihr von dem Unternehmen ab: „Liebe Teure! Diejenigen, die Ihnen geraten haben, sich der K(aiserin) zu einer Reise nach P(etersburg) anzubieten, haben wahrhaftig weder Ihre Gesundheit, noch Ihre Geldbörse zu Rate gezogen. Die Kosten würden sehr groß sein, und Ihre Gesundheit würde ganz ruiniert, welche schon in Warschau ruiniert wurde, u. in Petersburg ist die Lebensart noch ärger. Das Schlimmste ist, daß Sie in diesem kritischen Zeitpunkt unmöglich etwas Gutes für sich ausrichten können. Jetzt ist ja ganz andere Zeit als damals." 2 4 Elisa von der Recke scherte sich nicht um diese aufrichtig gemeinten Warnungen, sondern betrieb emsig ihre Reisevorbereitungen. Außerdem schienen ihr immer mehr Bekannte während ihres Karlsbad-Aufenthaltes zuzuraten, obgleich sie selbst plötzlich von Skrupeln befallen wurde, ob sie am kaiserlichen H o f e bestehen könne (S. 328 f.) Endlich war es soweit. A m 17. 5. 1795 schrieb sie aus Karlsbad an ihren vertrauten Freund Karl August Böttiger (1760-1835): „ N o c h bis zum 6ten Juni will ich hier Körperkraft einsammeln, um dann so schnell als möglich nach N o r d e n zu reisen, und mich der H u l d der Monarchin zu empfehlen, die nun über mein Vaterland zu gebieten hat." 2 5 Ursprünglich wollte sie Petersburg über Lübeck auf dem Seeweg erreichen, zog es dann aber doch vor, via Berlin (wo sie noch einmal Nicolai traf) und Königsberg zu reisen, nicht ohne zu beklagen, daß ihr Beobachtungsgeist gelähmt sei, weil alle Briefe geöffnet würden. Von dem welterfahrenen Böttiger erbat sie Empfehlungen: „ H a b e n Sie oder einer Ihrer Freunde unter den Petersburger Gelehrten Bekannte, die Sie hochachten, so empfehlen Sie mich diesen als ein Frauenzimmer, das durchaus keine Gelehrte ist, und auch auf Gelehrsamkeit keinen entfernten Anspruch macht, das aber den U m g a n g interessanter Gelehrten liebt, um ihren Geist und Charakter in der Art zu bilden, d a ß dieser durch Empfänglichkeit zu dauernder Glückseligkeit, sich von äußern Umständen unabhängig zu erhalten, und ihre Zufriedenheit selbst fest zu gründen strebt." 2 6 Inwieweit Böttiger dieser Bitte noch genügen konnte, ist unbekannt.

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Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz, Handschriftenabteilung Haus 1. Nachlaß Nicolai 288; Hervorhebungen wurden aufgehoben. Ebd. Sächsische Landesbibliothek Dresden, Handschriftensammlung, Ms. Dresd, h 37, Bd. 157. BöttigerNachlaß. Auch der SLB sei für die Publikationsgenehmigung gedankt. Ebd., Brief aus Königsberg vom 6.7. 1795.

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In St. Petersburg und bei Katharina II. Am 30. Juli 1795 kam Elisa von der Recke in St. Petersburg an. Die Stadt machte auf sie einen gewaltigen Eindruck, wie sie am 23. 9. 1795 Nicolai mitteilte: „Petersburg ist eine einzige Stadt, die wenig oder nichts gemein hat mit andern Städten ihres Ranges. Asiatische Herrlichkeit und Pracht eines weitstrahlenden Herrschersitzes wechselt ab mit dörflichen Stellen, wo ländlicher Friede durch grünende Wiesen und Saatfelder wandelt, unberührt vom störenden Geräusch des großstädtischen Lebens. Besonders aber ist es die gewaltige Newa, die den Blick des Fremden an sich zieht. Wie ein fortströmendes Wasser wagt sie dem Weltmeere zu. Alles deutet hier auf Dauer und Kraft [...] Alles, was ich bemerke, erscheint mir gigantisch, und mit gespannter Aufmerksamkeit treibt mich die Neugier von einem merkwürdigen Gegenstand zum anderen." 27 Sie bewunderte die orthodoxe Liturgie, besichtigte an der Seite ihrer neuen Bekannten die Stadt (das „Wunder unseres Jahrhunderts" 28 ) mit ihren Institutionen und die Umgebung (Oranienbaum, Kronstadt, Peterhof). Es sind vor allem drei Begegnungen (außer denen am Zarenhof), die auf ihre Vorstellung von Rußland offenbar nicht unwesentlich einwirkten. Endlich lernte sie den Dichter Ludwig Heinrich Nikolay (1737-1820), einst Erzieher des Kronprinzen Paul und diesem auch weiterhin nahestehend, durch Vermittlung von Friedrich Nicolai aus Berlin persönlich kennen. Er traf Ende August mehrfach auf die Zugereiste, von der er meinte, „diese paar mahl paar Stunden genügten, sie mir unvergeßlich zu machen." 29 Elisa hatte ihm schon 1783 ihre „Geistlichen Gedichte" übersandt und pflegte mit Nikolay im Sommer 1787 im Zusammenhang mit ihrem Buch einen regen brieflichen Gedankenaustausch über Cagliostro. 30 Daß es in den Petersburger Gesprächen auch um das komplizierte Verhältnis zwischen Katharina und Paul ging, darf vermutet werden. Auch später blieben die Kontakte zwischen Elisa und dem Dichter erhalten. So informierte er sie über den Tod der Zarin, worauf sie sich für die so „einfache, aber erhabene Erzählung von Catarinas letzten Stunden" bedankte. 31 Kundiger Begleiter auf ihren Streifzügen durch die Stadt war der von ihr hochgeschätzt Ökonom und Statistiker Heinrich Storch (1766-1835), dessen „Gemälde von Petersburg" sie nicht genug als Quelle zur Erkenntnis der Stadt zu rühmen wußte. Uber ihn selbst urteilte sie: „Bei Professor Storch ist eine sanfte liebenswürdige Seele, voll Gefühl für alles Gute und Große; bei einem kalten Kopf hat er eine eben so fühlbare Seele, bei der Festigkeit eines Mannes, hat er ganz das Zartgefühl eines edlen Weibes."32 Storchs Ansichten von Rußland und seinen Bewohnern haben ganz offenbar die Vorstellungen der Recke vom russischen Leben geprägt, wie ihre Briefe an Nicolai und Böttiger beweisen, auch was die Gott- und Zarengläubigkeit der einfachen Leute angeht. Aber für eigene Beobachtungen blieb sichtlich keine Zeit, zumal die Recke ohnehin dazu neigte, das einfache Volk

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Tiedge (wie Anm. 3), S. 56. Böttiger-Nachlaß (wie Anm. 25). Brief an Böttiger vom 31. 8. 1795. Die beiden Nikolai (wie Anm. 9), S. 408. Ebd., S. 207 f. und 233 sowie Donnert (wie Anm. 6), S. 52 f; Peter v. Gerschau, Aus dem Leben des Freiherrn Heinrich Ludwig von Nicolay, Hamburg 1834. Die beiden Nikolai (wie Anm. 9), S. 437. Brief vom 22. 5. 1797. Böttiger-Nachlaß (wie Anm. 25) vom 17. 5.1797; über Storch Annelies Grasshoff, Heinrich Storch (17661835), in: Helmut Reinalter (Hg.), Gesellschaft und Kultur Mittel-, Ost- und Südosteuropas im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert, Frankfurt am M a i n / B e r l i n / B e r n / N e w York/Paris/Wien 1994, S. 109116.

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(insbesondere die lettischen Bauern) zu idealisieren und als durch die Obrigkeit leicht formbar hinzustellen. War ihr Storch vor allem der ortskundige Begleiter, so faßte sie zu Friedrich Maximilian Klinger (1752-1831), damals Chef des Kadettenkorps in St. Petersburg, besonderes Zutrauen. Begeistert schrieb sie über seine „biedere Geradheit der Seele" und sein originelles Genie an Böttiger. Literarisches schien sie nicht zu berühren, wohl aber imponierte ihr der Charakter Klingers: „Wer ihn als Vater, Gatte und Hausvater sieht, fühlt sich zu dieser liebenden Seele hingezogen, selbst wenn sein sarkastischer Ernst einem Zurückhaltung eingeflößt hat. Selten findet man eine so glühende Phantasie mit so kaltem, philosophischen Untersuchungsgeist vereinigt, als bei diesem höchst interessanten Manne, der eben so schön spricht als er schreibt, und seine Grundsätze schweben nicht über seinen Lippen allein, bei ihm geht jedes rechte Resultat des Nachdenkens ins praktische Leben über. Da dichtet er nie, da ist er ganz seiner Lage nach angemessener Weltbürger! Man pflegt zu sagen, ein großes Genie ist kein guter Nachbar, aber in Klingers Nachbarschaft wird einem wohl." 3 3 Auch dieser neue Kontakt riß nicht ab, wie mehrere Briefe Klingers aus dem Jahre 1797 beweisen. In einem von ihnen bedankt er sich u. a. für eine Büste der Frau von der Recke; 3 4 1815 erhielt er von seiner „Freundin" die Reisebücher über Italien. 3 5 Prägend und lange lange nachwirkend sollten die Begegnungen mit Katharina selbst werden. Schon wenige Tage nach der Ankunft in der Hauptstadt wurde Elisa von der Recke am 4. August nach Carskoe Selo gerufen. Ein Empfang in der Sommerresidenz im kleinen Kreis der Familie und der engeren Umgebung der Zarin galt als Zeichen außerordentlicher Auszeichnung. 3 6 Hier wurde sie zunächst von der Oberhofmeisterin Charlotte von Lieven begrüßt und am gleichen Abend von der Monarchin empfangen. Es gab mehrere Begegnungen in Privataudienz und auf Bällen. Die Mittsechzigerin Katharina betörte trotz ihrer kleinen Gestalt (die die Recke ausdrücklich vermerkte) mit ihrem Auftreten das empfindsame Gemüt des Gastes und gewann in ihr eine rundum unkritische Parteigängerin. Das Bild der aufgeklärten Monarchin flöß in der kurzen Zeit ihres dreimonatigen Rußlandaufenthaltes mit einer grundsätzlich neuen, positiven Haltung zu R u ß land zusammen; Katharina wurde zur unantastbaren Autorität, die niemals und in nichts in Frage gestellt wurde. Es sind vor allem folgende Momente, die die Recke nicht müde wurde, immer wieder hervorzuheben: der Familiensinn Katharinas und ihre Fürsorge für Kinder (wobei sie Alexander, nicht aber Paul persönlich kennenlernte) und Enkel; die sie umgebende Liebe nicht nur der Höflinge, sondern auch des einfachen Volkes, die aus ihrer Güte resultiere (ihre „Landesmütterlichkeit", 3 7 wie sie an Nicolai schrieb); ihre Leutseligkeit im vertrauten Gespräch; schließlich ihre Beschlagenheit auf allen Gebieten, besonders aber der Staatskunst, was Elisa nach ihren polnischen Erfahrungen besonders auffallen mußte. 3 8 Nur drei Zitate aus Briefen an unterschiedliche Adressaten mögen das Gesagte illustrieren:

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Ebd. Zu Klinger: Christoph Hering, Friedrich Maximilian Klinger, Berlin 1960; Olga Smoljan, Friedrich Maximilian Klinger, Weimar 1962. Otto Clemen, Briefe an Elisa von der Recke, Berlin o. J., S. 32; Maximilian Rieger, Briefbuch zu Friedrich Maximilian Klinger, sein Leben und Werke, Bd 2. Darmstadt 1896, S. 31 f. Rieger (wie Anm. 34), S. 173 f. Kazimir Valisevskij (Kazimierz Waliszewski), Roman odnoj imperatricy, Moskva 1989, S. 142 f. Tiedge (wie Anm. 3), S. 55. Ebd., S. 58. Die Verehrung für Katharina wird auch dadurch bezeugt, daß auf ihrem Schreibtisch in Dresden eine Büste der Monarchin stand, vgl. Falkenstein Bd 2, S. 160 (wie Anm. 51).

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An Böttiger schrieb sie am 31. 8. 1795: „Und wie interessant es ist, Catarinens G r ö ß e hier zu studieren, wo diese so einzige Frau eben so geliebt wird, als man sie in Deutschland anstaunt und bewundert, dies gäbe Stoff zu einigen Wochen Unterhaltung. Um den Wert dieser großen Monarchin ganz zu fühlen, muß man sie im häuslichen Kreise, ihrer durch sie so liebenswürdig erzogenen Enkelinnen als GroßMutter sehen. Wie Europa auf die gebietende Stimme der Schiedsrichterin aller politischen Verhältnisse oft mit Staunen und Bewunderung achtet, ebenso weiß diese große Frau durch Liebe und Milde über die zu herrschen, die in ihrer Atmosphäre leben. Nie sah ich eine Großmutter von ihren G r o ß kindern zutraulicher geliebt, als diese Gebieterin so mannigfaltiger Völker von ihren allerliebsten Enkeln geliebt wird [ . . . ] Es liegt was höchst Interessantes darin, eine so große und starke Seele sich so liebevoll zum einfach kindlichen Tone liebenswürdiger Kinder herablassen zu sehen." 3 9 Am gleichen Tag schrieb sie an ihre Freundin, die Gräfin Charitas Emilie Bernstorff: „Wo Katharina in der Ferne Raunen und Bewunderung erweckt, so flößt ihre sanfte Milde in der Nähe Liebe und Zutrauen ein. Wie ich da so an der Seite der Schiedsrichterin Europens saß, sie von ihren schönen und sehr wohlerzogenen Enkeln umgeben, und mit liebvoller Seele unter diesen durch ihre Erziehung wohlgeratenen Kindern echt patriarchalisch glücklich sah, da wuchs meine zärtliche Verehrung für die so einzige Frau noch höher empor; u. ich kann mit Wahrheit sagen, die Stunden, in welchen Catharina mich ihrer seelenvollen Unterhaltung würdigte, gehören zu den interessantesten u. besten Stunden meines Lebens." 4 0 Und aus Pfalzgrafen schließlich schrieb sie am 27. 11. 1795 an einen Unbekannten: „In Katharinens Briefe an Voltaire können Sie diese große Frau am besten aus der Ferne kennenlernen. U m sie zu beurteilen, muß man sie im Privatleben sehen, stundenlange Gespräche mit ihr haben, und dies mit ihren Handlungen und dem vergleichen, was sie schon zum Besten ihres Volkes tat. Wenn ich das Glück hatte, mit Katharina zu sprechen, so war mir gerade so wohl, als in Ihrem vertrauten Kreis, mein edler Freund, und wie mit Ihnen konnte ich mit der Gesetzgeberin Europas Gedanken tauschen! - In der Nähe liebt man diese einzige Frau, wie man in der Ferne ihre Kunst bewundert, die im politischen System ihres Reiches ihren Willen zur Tat macht. Würde ihr Wille und Wunsch im Ganzen zur Tat werden können, dann lebten nur glückliche Menschen unter dem Zepter dieser großen und milden Seele." 4 1 Diese kritiklose Huldigung in unterschiedlichen Briefen hat gewiß nichts mit Zensurerwägungen zu tun, sondern entsprach den innersten Uberzeugungen Elisa von der Reckes, wie es sich auch in einem überaus gefühlvollen Brief an Böttiger anläßlich des Ablebens der Zarin zum Ausdruck kam: „Sie wünschen, ich machte Ihnen über Catarina etwas sagen! - etwas! - nur etwas über Sie, wie viel ist das? Mein Herz ist zu verwundet, als daß ich mir nicht das Gesetz geben sollte, in dieser Stimmung über die so einzige - so verkannt und doch bewunderte Frau zu schweigen. Gott Lob! daß sie mir das Glück geschenkt hat, sie lieben zu können, wie selbst ihre Feinde die Kraft ihrer Seele bewundern müssen." 4 2 O b von diesen Äußerungen etwas in die Publizistik Böttigers eingegangen ist, müßte noch genauer untersucht werden. Die Begegnung mit Katharina ließ sie jedenfalls auch die Gedanken über die erzwungene rechtliche Abhängigkeit Kurlands von Rußland verdrängen; immer mehr identifizierte sich die Recke mit dem russischen Staat und fühlte sich als russische Staatsbürgerin („meine (lieben) Russen" ist eine Formulierung, die in vielen Briefen immer wieder auf-

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Böttiger-Nachlaß (wie Anm. 25). Ebd. Ebd. Ebd., Brief vom 20. 12. 1796.

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taucht), und sie übertrug ihre Zuneigung zu Katharina auch auf die nachfolgenden russischen Monarchen, wie aus Ergebenheitsadressen an Paul, Alexander und Nikolaj zu ersehen ist.43 Dennoch änderte sich diese Grundstimmung zu Beginn der zwanziger Jahre zu einem etwas kritischeren Ton hin. Es war Elisa von der Recke in Petersburg mit Hilfe von Katharina gelungen, ihre Vermögensverhältnisse (der Hauptgrund der beschwerlichen Reise) grundlegend zu verbessern. Schon am 31. 8. 1795 schrieb sie an die Gräfin Bernstorff, daß Katharina bereits Befehl an den kurländischen Gouverneur gegeben habe, sie „durch eine gute Arrende zu versorgen. Noch ist es nicht bekannt, was nun wird. Da ich aber Catharinens Seelengröße jetzt vertraulich kenne, so bleibet mir nun keine Sorge der Zukunft übrig, da sie sich meines Schicksals annehmen u. meine äußere Lage verbessern will. Die 16 Jahre, die der Herzog mein Schwager war, u. immer für mich zu sorgen versprach, mußte ich oft gegen Nahrungssorgen kämpfen, weil ich aus Liebe für meine Schwester es dem Publikum verbergen wollte, wie meine Lage war, um dem Herzog durch sein Betragen gegen mich nicht neue Freunde [verschrieben, muß heißen: Feinde - Ε. H.] zuzuziehen: u. Catharinens Huld übernimmt es sogleich, ohne daß ich noch Verdienste um sie habe, für mich zu tun, was der Herzog, wenn er gerecht gewesen wäre, lange für mich hätte tun müssen. - Eine halbe Versicherung von Catharinen ist mehr wert als schriftliche Versicherungen mancher Männer." 44 Es beeindruckt hier nicht nur das Urteil über die Herzogsfamilie, sondern auch der feministische Ton gegen Ende des Briefes. Friedrich Nicolai dürfte wohl Recht behalten haben mit seiner Befürchtung, daß die Lebenskosten in St. Petersburg die schmalen Finanzen Elisa von der Reckes weit übersteigen könnten. Das muß auch im Umkreis der Zarin nicht verborgen geblieben sein, denn Katharina wies am 1.9. 1795 eigenhändig an, die Frau von der Recke mit einigem Geld zu versehen. Parallel dazu befahl sie, ihr „eine Arrende . . . lebenslang zu geben, ohne Arrende zu zahlen, wovon sie einige Tausend Albertustaler Revenues ziehen wird." 45 Es handelte sich um das große Krongut Pfalzgrafen bei Mitau mit 508 Bauern, das sie nun zum Besitz erhielt. Elisa war voller Glück über ihr Gut, erfüllt von Dankbarkeit gegenüber der verehrten Zarin und schrieb nach 14 Tagen an Böttiger: „Ich komme aus der schönsten Stadt Europens, wo ich in den geschmackvollsten Palästen die schimmerreichste Prachtversammlung sah, und fühle mich jetzt in einer elenden Rauchhütte glücklicher, als ich noch jemals war." 46 Freilich mußte sie feststellen, daß auf dem Gut eine Schuldenlast von 1 000 Talern, zahlbar an Herzog Biron, lag. Den Winter 1795/96 verbrachte sie in Pfalzgrafen, versuchte schrittweise, die Schuld abzutragen und zu ihren lettischen Bauern ein gutes Verhältnis zu gewinnen, wobei sie ihr eigenes Konzept entwickelte, über Erziehung und schrittweise Verbesserung der Lebensbedingungen der Bauern allmählich die bedrängende Leibeigenschaft abzubauen und die Bauern zur Freiheit zu erziehen. 47 Es blieb ihre einzige unmittelbare Begegnung mit ihrem neuen Besitztum, denn 1798 erlitt sie einen schweren Unfall, der ihr jeden Besuch dort und damit auch Rußlands überhaupt unmöglich machte. Elisa von der Recke sollte sich ihres Besitzes und der entsprechenden Einkünfte nicht ungestört erfreuen. Unter Alexander I. wurde ihr der Besitz beschnitten und - entgegen 43 44 45 46 47

Recke-Nachlaß (wie Anm. 15). Böttiger-Nachlaß (wie Anm. 25), Brief vom 31. 8. 1795. Ebd. Ebd., Brief vom 27. 11. 1795. Über das Verhältnis der Recke zur Leibeigenschaft vgl. Karl Tiander, Elisas von der Recke soziale Reformbestrebungen, in: Jahrbücher für Kultur und Geschichte der Slaven. N. F., Bd 2. H . 3, Breslau 1926, S. 68-74.

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der ursprünglichen Anordnung - eine jährliche Steuer erhoben. Elisa ging dagegen beim Zaren im April 1824 in Protest und kommentierte (wie es ihre Gewohnheit war) später auf dem französischsprachigen Briefkonzept den Vorgang, der ein interessantes Licht auf ihre sich wandelnde Einstellung zum Herrscherhaus wirft und deshalb hier erstmalig und vollständig abgedruckt werden soll: „Ermuntert von meinen kurländischen Freunden schrieb ich Kaiser Alexander diesen Brief, weil Pfalzgrafen alle Jahre weniger eintrug. Als Kaiser Alexander zur Regierung kam, wurde von Pfalzgrafen nicht nur eine schöne Wiese genommen und Grünhof (?) einverleibt, welches Gut von der Krone dem Bruder der Kaiserin erblich geschenkt wurde, sondern mir wurde eine jährliche Abgabe von 338 Silberrubel von der Regierung auferlegt. Als Kaiser Paul zur Regierung kam, versuchte die Kurländische Kammer, Kaiser Paul den nämlichen Vorschlag zu tun, aber Paul antwortete: was die Kaiserin Catarina der einzigen Schwester der Herzogin von Kurland auf Lebenszeit ganz fern von Abgaben verliehen hat, bleibt frei von Abgaben, so lange sie lebt, ganz frei von Abgaben. - Dies berührte ich freilich nicht in diesem Briefe, den Kaiser Alexander nicht beantwortete. Von meinem Freunde General Klinger, der sich für mich, bei allem Einfluß reicher Männer in Petersburg, zu meinem Vorteil verwendet hatte, erhielt ich dann Nachricht. - Kaiser Alexander habe Grafen Nesselrode meinen Brief mit Unwillen zu lesen gegeben und gesagt: - Dieser Brief brauche ebensowenig beantwortet zu werden als der, den er soeben von der dritten Tochter der verstorbenen Herzogin erhalten hat, die auch um eine lebenslängliche Pension bittet, da ihre geliebte Mutter sie in ihrer so bedrängten Lage nicht unterstützen könne. Noch soll der Kaiser gesagt haben: - erfülle ich die Bitte dieser beiden Damen, dann bestürmen mich gewiß noch mehrere, die von der Herzogin unterstützt wurden. Durch den frühen Tod meiner sehr gesunden, sieben Jahre jüngeren Schwester [Dorothea starb 1821 - Ε. H.] erbte die russische Krone 75 000 Silberrubel, welche ihr jährlich als vormalige Herzogin von Kurland als Witwenpension zugesichert wurde nach dem Tode des Herzogs, (sie) waren dem Kaiser eine ganz unerwartete Erbschaft. Doch ich danke es Alexander jetzt, daß er Pfalzgrafen nicht zurückgenommen und mir eine Pension zugesichert hat [so der Inhalt des französischen Briefes - Ε. H.], denn oft werden zugesicherte Pensionen in Rußland nicht gehalten." 48 Klinger vermittelte nicht nur - wie aus dieser Notiz hervorgeht - beim Zarenhof; er blieb auch danach ein Fürsprecher für Elisas Anliegen, wie folgender, m. W. bisher unveröffentlichter Brief aus St. Petersburg vom 4. 1.1825 bezeugt: „Theuerste, innigst verehrte Freundin. Ihr Schreiben, in welchem ich die edle u. treue Freundin in jedem Wort erkannte, hat mich sehr erfreut, aber auch durch die Beschreibung der Lage, worin Sie sich befinden, sehr betrübt. Leider kann uns die Antwort darauf [der negative Bescheid auf die Eingabe der Recke an Alexander vermutlich - Ε. H.] nicht zur Erheiterung dienen; so sehr ich mich auch mit Hoffnung schmeichelte. Die Einlage, welche Sie dem Schreiben an mich beilegten, ward von mir sogleich selbst übergeben; auch unterließ ich nicht, alle die vergangenen u. gegenwärtigen Umstände, die Sie in derselben darstellen, mitzuteilen. Ihr Schreiben ward gut aufgenommen, u. alles geschah, was nach dem Verhältnis geschehen konnte. Der Erfolg entsprach nicht Ihren Bitten. Und so kann ich Ihnen dieses nur mit kurzen Worten melden, was ich zu sagen habe, u. erspare es auf heitere Zeiten, mich mit meiner treuen, verehrten Freundin zu unterhalten. Ihr getreuer Verehrer u. Freund Klinger." 49 48

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Böttiger-Nachlaß (wie A n m . 25); ohne Unterstreichungen. Ähnlich Emilie von Binzer (Ernst Ritter), Drei Sommer in Löbichau. 1 8 1 9 - 2 1 , Stuttgart 1877, S. 130, w o sogar von jährlich 100 000 Albertustalern gesprochen wird, die an die russische Krone fallen. Freies Deutsches Hochstift Frankfurt am Main, Nr. 545.

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Interessant sind in beiden D o k u m e n t e n mehrere Umstände: die sehr engen Beziehungen zwischen Klinger und Recke, wie sie sich seit den Petersburger Begegnungen entwickelt hatten; ferner die Haltung Zar Pauls zu Festlegungen seiner Mutter in bezug auf Elisa von der Recke (diese hatte früher Paul gegenüber sehr reserviert reagiert; möglicherweise aber wirkte hier der Einfluß von Nikolay auf Paul nach); schließlich wirkten vermutlich auch alte Ressentiments bestimmter kurländischer Adelskreise und der russischen Bürokratie nach, die Elisa ihr Eintreten für ein selbständiges Kurland noch nachträglich verübelten. Elisa bewertete in der ersten Hälfte der zwanziger Jahre, offenbar unter dem Eindruck dieser Affäre, den Zaren und seine Politik kritischer, auch wenn sie die Befreierrolle Alexander I. während der Feldzüge von 1 8 1 2 / 1 3 in Briefen mehrfach würdigte. Doch gelegentlich tauchte - wie noch zu zeigen sein wird - der Gedanke auf, das zeitgenössische Rußland brauche in Erwartung besserer Zeiten andere Köpfe.

Der Dresdner Salon der Elisa von der Recke Auch nach dem Aufenthalt in St. Petersburg rissen die Kontakte zu Rußland und seinen Bewohnern nicht ab, und nicht nur zu dort geschlossenen Bekanntschaften; neue kamen hinzu: Diplomaten in Berlin und anderswo, russische Adlige im böhmischen Karlsbad, durchreisende Kurländer, die der Protektion der Freifrau bedurften. Sie alle rechneten es sich zur Ehre an, bei Elisa vorzusprechen. In Rom traf sie 1805 den Maler Fedor Matveev (1758-1826), der als Stipendiat dort arbeitete: „Ein junger [mit fast 50 Jahren! - Ε. H.] bescheidner Russe, Teodor Matweff [sie - Ε. H.], gibt schöne H o f f n u n g e n . Bis jetzt hat er vorzüglich schauerliche Schweizergegenden studiert und einige treffliche Gemälde rauher Felsenpartien, über welche schwere graue Wolken hinziehen, vollendet." 5 0 Andere N a m e n (wenn auch nicht von Künstlern oder Literaten) ließen sich anführen. Im Jahr 1819 siedelte sich Elisa von der Recke endgültig mit ihrem Freund und ständigen Begleiter Christoph August Tiedge (1752-1841), den sie seit 1784 kannte, in Dresden am Kohlmarkt an und öffnete - wie schon in Berlin - ihr gastfreundliches Haus. Wir wissen noch zu wenig über diesen Salon, einzig Karl Falkenstein hat ihn genauer beschrieben. 51 Er folgte in Anlage und „Ritual" (Teeabende, kleinere und größere Kreise, Lesungen und musikalische Darbietungen usw.) ganz dem Vorbild, wie es in den Berliner Wohnungen der Recke üblich war 52 und wurde durch die immer noch faszinierende Persönlichkeit der Gastgeberin und ihre geistige Regsamkeit maßgeblich geprägt. 5 3 Leider fällt in modernen Analysen literarischer Salons Dresden heraus. 54 Das hängt vielleicht mit der eigentümlichen literarischen Situation in der Elbestadt zusammen, die sich abseits vom H a u p t s t r o m der modernen literarischen Entwicklungen vollzog. In Dresden lebte noch der empfindsame Geist des 18. Jh. mit seinen aufklärerischen Tendenzen, 50

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Elisa von der Recke, Tagebuch einer Reise durch einen Theil Deutschlands und durch Italien in den Jahren 1804 bis 1806. B d 2 . Berlin 1815, S.406; zu Matveev vgl. Ulrich T h i e m e / F e l i x Becker, Allgemeines Lexikon der bildenden Künstler, Bd 24, Berlin 1930, S. 269. Karl Falkenstein, C. A. Tiedge's Leben und poetischer Nachlaß, Bd 1. Leipzig 1841, S. 163-169 und 176183. Gustav Parthey, Jugenderinnerungen, B d 2 . Berlin 1907, Kapitel „Frau von der Recke in Berlin 1814— 1816". Johann R o b e n Doering-Manteuffel, Dresden und sein Geistesleben im Vormärz, Phil. Diss, Dresden 1935, S. 16 f. Peter Seibert, Der literarische Salon, Stuttgart - Weimar 1993; Verena von der Heyden-Rynsch, Europäische Salons, München 1992.

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der durch die biedermeierlichen Gepflogenheiten sein besonderes Gepräge erhielt. Günter Jäckel hob für die Dresdner Kulturszene dieser Jahre hervor, es handelte sich dabei um einen „Versuch, eine geistige Mitte zu schaffen nach den Jahren der Zerrissenheit, des Chaos, des Todes; der Wille zu einer harmonischen Geselligkeit, in der alle Privilegien und Standesvorurteile im Namen einer literarischen Kultur, die auch von freimaurerischen Idealen inspiriert war, als überwunden gelten sollten." 5 5 Tatsächlich stellte der pseudoromantische „Liederkreis", dessen Mitglieder im Haus am Kohlmarkt ein- und ausgingen, einen Zusammenschluß von Dichtern und musisch interessierten Bürgern und Adligen dar, wie das nur in der spezifisch Dresdner Atmosphäre zwischen 1815 und 1830 möglich war: Geselligkeit und Toleranz auf der einen Seite, mittelmäßige literarische Produktion und gegenseitige Affirmation auf der anderen. Falkenstein führte in seiner Tiedge-Biographie eine gewaltige Liste von ständigen G ä sten an, die die Recke und ihren Dichterfreund Tiedge besuchten und sprach von einem „Sammelplatz in- und ausländischer Gelehrter, Staatsmänner und Künstler"; der Salon der Recke bildete neben dem von Ludwig Tieck den „Mittelpunkt für ganz Dresden". 5 6 Elisa von der Recke war - bei aller fast pietistischen Frömmelei - keinesfalls eine „belächelte Randfigur im Dresdner Kulturleben" 5 7 , sondern in ihrem Haus vor allem auch ein Anlaufpunkt für auswärtige Durchreisende. Darunter - und darum geht es hier - waren viele Russen und natürlich Deutschbalten, die der kurländischen Freifrau und dem einer früheren literarischen Epoche verhafteten Dichter der „Urania" ihre Aufwartung machten und über die Entwicklung in ihrer Heimat sprachen. Darüber ging es wohl vor allem in den Gesprächen mit der Hausherrin; für Literatur und Kultur (darunter auch für russische Literatur) war Tiedge der Partner. Das Recke-Tiedge-Haus wirkte so als „Transmissionsstelle", als „Dolmetscherformation" 5 8 auch zwischen verschiedenen Kulturen und Literaturen. Die Besucher lassen sich, bezogen auf unser Thema, in drei Gruppen einteilen: Russen aus St. Petersburg und Moskau, kaum aus anderen Städten; in russischen Diensten stehende Deutsche sowie die Deutschbalten; schließlich jene große Gruppe von Deutschen, die längere Zeit in Rußland gelebt oder es bereist hatten und über entsprechendes Wissen verfügten, das sie bereitwillig weiterverbreiteten. Im folgenden interessieren vor allem die erste und die letzte der genannten Gruppen. Als wohl erster wichtiger russischer Schriftsteller betrat der eingangs zitierte Wilhelm Küchelbecker den Salon. Als Gesellschafter des einflußreichen Höflings Aleksandr Naryskin auf dessen Reise durch Westeuropa weilte er im Herbst 1820 in der Elbestadt und schrieb begeistert über diesen Aufenthalt. 5 9 Im Recke-Salon durch ein Empfehlungsschreiben an Tiedge eingeführt (vielleicht von Klinger aus St. Petersburg? 60 ), sprach er u. a. mit Böttiger und Ludwig Tieck. Hier begegnete er auch einem Verwandten väterlicherseits, 55

Günter Jäckel, „Wer kommt durch die Stürme der Freude?", in: Dresdner Hefte 8 (1991), H . 26, S. 16; ders, Dresdner Biedermeier - Ruhende und bewegte Zeiten, in: Sächsisches Heimatblätter Dresden 3 7 (1991) H . 5, S. 2 9 2 - 2 9 4 ; ders, Literarisches Biedermeier ( 1 8 1 5 - 1 8 4 0 ) , in: ebd., 28 (1982), Η . 1, S. 2 3 - 2 6 .

56

Falkenstein (wie Anm. 51), S. 169 und 166.

57

So Jäckel 1982 (wie Anm. 55), S. 87.

58

Seibert (wie Anm. 54), S. 3 8 4 - 3 8 9 a[nhand von Berliner und Wiener Material].

59

Erhard Hexelschneider, Begegnungen eines russischen Dichters und eines deutschen Malers. Wilhelm Küchelbecker und Ludwig Richter, in: Sächsische Heimatblätter 38 (1992), H . 2, S. 1 1 9 - 1 2 4 ; ders., Wilhelm Küchelbecker in der Dresdner Galerie im Jahre 1820, in: Jahrbuch der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden 22 (1991) (Dresden 1994), S. 5 9 - 7 0 .

60

Kjuchel'beker (wie Anm. 1), S. 13. Für Klinger könnte sprechen, daß der Russe nur wenig später auch Goethe Grüße von diesem ausrichtete (ebd., S. 27); Ludwig Richter, Lebenserinnerungen eines deutschen Malers, Frankfurt am Main 1980, S. 9 0 spricht übrigens von „Empfehlungsbriefen" an Goethe.

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dem Porträt- und Historienmaler Johann Carl Rößler (1775-1845), der viel für russische Adlige arbeitete. Die literaturvermittelnde Funktion des Salons wird deutlich, wenn Küchelbecker ausführlich über eine Lesung aus Johann Friedrich Voß' Polemik mit Friedrich Leopold von Stolberg berichtete und daran seine Gedanken über Freundschaft anschloß oder auch über seine Gespräche mit Tiedge (den er ausführlich charakterisierte) schrieb: „Ich erzählte ihm viel von unserer Literatur: über Derzavin, 2ukovskij und den jungen Schöpfer von ,Ruslan und Ljudmila' und mußte für ihn einige Gedichte Batjuskovs und Puskins übersetzen; er will sie übertragen und in eine Zeitschrift einsetzen, die in nicht allzuferner Zeit in Deutschland zum Nutzen von Familien herausgebracht werden soll, die in den Kriegen der Jahre 1813 und 1814 gelitten haben." 6 1 D a s Projekt einer solchen Zeitschrift kam offenbar nicht zur Ausführung. Man darf aber wohl - mit Dietrich Gerhardt - mit F u g und Recht annehmen, daß es Küchelbecker war, der Tiedge zur ersten deutschen Ubersetzung eines Puskin-Gedichts anregte. 6 2 Die Begegnungen im Dresdner Salon waren für Küchelbecker auch willkommener Anlaß, seine selbstgestellte Aufgabe zu erfüllen, Mittler der russischen Literatur im Ausland zu werden. Deshalb dürfte er hier seine Auffassungen zur russischen Kultur- und Literaturentwicklung angelegt haben, die dann Gegenstand seines berühmten Pariser Vortrags vom Sommer 1821 wurden und die ihm die Rückberufung nach H a u s e einbrachten. O b er auf der Rückreise im Sommer 1821 mit seinem Dichterfreund Vasilij I. Tumanskij noch einmal im Salon der Freifrau weilte, ist anzunehmen, aber nicht belegt. Immerhin wurde die politische Unbesonnenheit des künftigen Dekabristen schon während seiner Dresdner Tage später gegenüber dem Slawisten Petr Keppen (Koppen) von Tiedge und Tieck bezeugt. 6 3 Übrigens las Küchelbecker noch 1833 in der sibirischen Verbannung mit Interesse Auszüge aus dem Italienbuch der Recke im „Syn otecestva" von 1816!64

Ständige Gäste im Salon waren von Herbst 1826 bis Frühjahr 1827 Vasilij A. 2ukovskij (1783-1852), Aleksandr Turgenev (1784-1845) und sein todkranker Bruder Sergej (17921827). Zukovskij bereitete sich auf seine Funktion als Erzieher des Tronfolgers vor. Die intensive geistige Arbeit wurde nur selten durch die Teilnahme am kulturellen Leben Dresdens abgelöst, zumal die Trauer um den gerade verstorbenen Nikolaj Karamzin, die Sorge um das Schicksal des wegen seiner aktiven dekabristischen Tätigkeit in Abwesenheit verurteilten Turgenev-Bruders Nikolaj und die Krankheit Sergej Turgenevs die Gedanken in ganz andere Richtungen trieben. Die zur Sentimentalität neigende Atmosphäre des Salons konnte hier sicherlich so etwas wie teilnehmenden Trost und Verständnis vermitteln. Über die Dresdner Begegnungen 2ukovskijs in dieser Zeit liegen außer einer 46 N a m e n umfassenden Liste von Bekannten und Besuchern (darunter mindestens 21 Russen bzw. Deutschbalten) keine weiteren Angaben vor, 6 5 aber von diesen 46 Personen nannte Falkenstein als Besucher des Recke-Salons allein 12! 66 An erster Stelle stehen bei Zukovskij: „ M - m e de Reke", Tiedge, der Historiker Friedrich Christian August H a s s e (1773-1848) und der Kunsthistoriker Karl August Förster (1784-1841) sowie der Maler C a s p a r David 61 62

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Kjuchel'beker (wie Anm. 1), S. 13, über Stolberg S. 17. Dietrich Gerhardt. Die erste deutsche Übersetzung eines Puäkin-Gedichtes, in: Die Welt der Slaven X I (1966), S. 1-16. Fedor P. Keppen, Biografija P. I. Keppena, St. Peterburg 1911, S. 93, in: Sbornik Otdelenija russkogo jazyka i slovesnosti imp. Akademii nauk, Bd. 89, N r . 5. Kjuchel'beker (wie Anm. 1), S . 2 6 1 und 701. Vasilij A. Zukovskij, Dnevniki, St. Peterburg 1901, S. 192, Anm. 2. Falkenstein (wie Anm. 51), Bd 2, S. 177-182.

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Friedrich. Falls die Aufzählung als eine gewisse Rang- und Reihenfolge verstanden werden soll, so charakterisiert das vielleicht den Eindruck, den die Recke auf den russischen Romantiker gemacht hat. Er las in ihrem neuesten Buch „Gebete und religiöse Betrachtungen" (1826) (er nannte es „Profession de foi") am 26. 4.1827 auf der Fahrt von Dresden nach Leipzig, ohne daß es ihm freilich in der Gedankenführung besonders imponiert zu haben scheint. 67 Aber als Persönlichkeit muß ihn Elisa beeindruckt haben, nicht zufällig schrieb wohl Petr Vjazemskij aus Moskau an A. Turegenev: „Laß Zukovskij bloß nicht mit der Recke klug reden, sondern gib mir seine Verse."68 Während von Zukovskij offenbar keine Mitteilungen über den Recke-Salon bewahrt blieben, berichtete Α. I. Turgenev in seinen Briefen an Bruder Nikolaj und in seinem nur teilweise publizierten Tagebuch von einigen dieser Begegnungen im Hause Recke/Tiedge genauer. Sie fanden mindestens seit dem 3. Dezember 1826 häufiger statt. Über Elisa von der Recke heißt es da: „Eine gute, kluge und liebenswürdige alte Frau, die ihren Erinnerungen an frühere Freunde, dem Gespräch mit den wenigen übrig gebliebenen treuen Begleitern ihres Lebens und den Heilwässern lebt. Sie zeigte Freude beim Treffen mit mir, sprach über Poesie, über Gesetzgebung, über Shakespeare und Schiller, über deutsche Philosophie und über ihren Einfluß auf alle Erscheinungen der Literatur und sogar auf das zivile Leben des Volkes."69 Am 19. 12.1826 ging es in einem anderen Gespräch um Frau von Krüdener, die Jesuiten und Katholiken, Sokrates und Christus, also um einen außerordentlich breiten Themenkreis, der durch Lesungen Tiedges oder Musikdarbietungen unterbrochen wurde. Ein ausgiebiges Literaturgespräch notierte Turgenev am 10. 2.1827: „Gestern verbrachten wir den Abend bei dem kranken Dichter Tiedge im Hause der Gräfin Recke und plauderten über alte und neueste deutsche Literatur. Tiedge und die Gräfin Recke kannten viele oder fast alle der berühmtesten Literaten, erlebten das ganze ruhmvolle Jahrhundert der deutschen Literatur und nahmen an ihm selbst teil. Ihre Anekdoten über frühere Schriftsteller und deutsche Autoren sind interessant. Sie haben in Harmonie gelebt und wurden wenig oder gar nicht in Zeitschriften oder Broschüren beschimpft." 70 Und zwei Tage später waren die drei Russen Mittagsgäste bei der Gräfin, wo Tiedge ein ungedrucktes satirisches Poem vortragen wollte. 71 Zukovskij erbat sich von der Recke und von Tiedge (wie übrigens auch von Tieck) Eintragungen in sein berühmtes Album. 72 Der Eindruck von dieser „Troika" auf den Dresdner Zirkel war kolossal. Tiedge wurde wie Falkenstein übermittelte - nicht müde, den „genialen Dichter" Zukovskij zu rühmen und betonte mehrfach: „Mit Schukowsky... beginnt im Lande der Nordslaven [sie! Ε. H.] die Poesie des Gedankens: Er lehrte Rußland die erhabenen Empfindungen verstehen, die eigentlich weder das Privat- noch das Volksleben irgend einer besonderen Nation angehen, sondern das Erbteil der ganzen Menschheit sind. Hätte jener Länderkoloß unter seinen Eingebornen mehr Männer wie ein Speransky, Rumänzoff, Uwarow, Stroganoff und Schukowsky, so würde die schöne Saat eines selbständigen philosophischen Strebens, welche Katharina II. ausgestreut, dermaleinst zur Reife gedeihen können." 73 Erstaunlich 67

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Zukovskij (wie Anm. 65), S. 192. Dieses Buch wird - ebenso wie die „Gedichte" 2 1816 Elisa von der Reckes und die „Familienszenen" (1826) in Tomsk aufbewahrt, vgl. Vasilij V. Lobanov, Biblioteka V. A. Zukovskogo (Opisanie), Tomsk 1981, S. 263 f. Puskin ν neizdannoj perepiski sovremenntkov, in: Literaturnoe nasledstvo Bd 58. Moskva 1952, S. 64. Zit. bei Aleksandr N . Veselovskij, V. A. Zukovskij. Poezija cuvstva i serdeenogo voohrazenija, St. Peterburg 1904, S. 340 f. Pis) Aleksandra Ivanovica Turgeneva k Nikolaju Ivanovicu Turgenevu, Leipzig 1872, S. 13 f. Ebd., S. 15. Veselovskij (wie Anm. 69), S. 342. Falkenstein (wie Anm. 51), Bd 2, S. 179.

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muß diese Einschätzung des Dichters Zukovskij schon deshalb bleiben, weil sein poetisches Werk zu diesem Zeitpunkt im Grunde genommen in Deutschland wenig bekannt war. Schließlich waren damals nicht mehr als 30 Gedichte in zum Teil entlegenen Zeitschriften übertragen worden, sieht man von der bekannten Anthologie Karl Friedrich von der Borgs „Poetische Erzeugnisse der Russen" (Dorpat-Riga 1820-1823) ab. 7 4 Der Ruf, der Zukovskijs Übertragungen aus dem Deutschen vorauseilte, prägte sichtlich das Urteil über seine Dichtkunst. Zukovskij hatte seinerseits übrigens schon 1813 Tiedges Gedicht „Vergiß mein nicht. (An Arminia)" (1790) ins Russische unter dem Titel „K moemu drugu" übertragen; 1818 folgte „Ach! esli b moj milyj byl roza cvetok!" nach Tiedges „ O , möchte mein Liebster ein Rosenstock sein" (1806). 7 5 Die Meinung Tiedges korrespondierte völlig mit der Auffassung von der Reckes, die in einem Empfehlungsbrief an Krug in Leipzig schrieb: „Wunderschöne Stunden verdanke ich dem Umgange des russisch kaiserlichen Geheimen Staatsrates, Herrn von Turgenef, seines Bruders [Sergej - Ε . H] und des Herrn von Schukofsky, der Erzieher unseres Thronerben ist. Hat das russische Reich mehrere Männer von so ausgebreiteten Kenntnissen und so edlen Grundsätzen als diese Herren, dann darf das weite russische Reich bessere Zeiten als jetzt erwarten." 7 6 Hier wird ein etwas kritischerer Ton gegenüber der Regierungspolitik η Rußland seit der Thronbesteigung Nikolajs I. deutlich. Vermutlich wurde im Recke-Salon auch der niedergeschlagene Dekabristenaufstand und seine Folgen für Rußland erörtert, betraf das Ereignis doch den bestens bekannten Küchelbecker und Nikolaj Turgenev (der bereits in Steins Zentralverwaltungsrat für die befreiten Länder tätig war), wenn auch seitens Elisas sicherlich von konservativen Positionen aus. Tiedge nannte in seiner Äußerung über Zukovskij weitere prominente russische Politiker. Einige waren tatsächlich im Salon der Recke, ζ. B. die Minister Sergej S. Uvarov (1786-1855) und Michail M. Speranskij (1772-1839) 7 7 sowie der Diplomat Grigorij A. Stroganov (1770-1857). 7 8 Leider ist über ihre Dresden-Aufenthalte bisher weiter nichts ermittelt worden. Ebenfalls noch zu erforschen sind die Besuche einer ungewöhnlich großen Zahl durchreisender Kurländer und anderer Deutschbalten, darunter des Dorpater Professors Karl Morgenstern (1770-1852), den die Recke 1808 in Löbichau kennengelernt hatte, und des Sammlers und Altertumsforschers Johann Friedrich Recke (1764-1846) aus Mitau. 7 9 Schließlich verkehrten im Recke-Tiedge-Haus viele Deutsche, oft in Dresden ansässig, die mit Rußland durch langjährige Aufenthalte oder auf andere Weise eng verbunden waren, so etwa die Schriftstellerin Fanny von Tarnow (1779-1862). Ihr Buch über einen zweijährigen Aufenthalt in St. Petersburg in den Jahren 1816-1817 unter dem Titel „Briefe auf einer Reise nach Petersburg, an Freunde geschrieben" (1819) mußte gerade bei Elisa viele Erinnerungen an ihren Aufenthalt wachrufen, zumal im Gedenken an Klinger, mit dem die Autorin befreundet war. 80 Gleiches trifft auf die Brüder Maltitz, den Diplomaten

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Karl Goedeke, Grundriß zur Geschichte der deutschen Dichtung aus den Quellen. 2. ganz neu bearbeitete Aufl., Bd 16, Lief. 4, Berlin 1985, S. 920. Gerhardt (wie Anm. 62), S. 8. Erhard Hexelschneider, Leipzig und die russische Kultur in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Leipzig 1994, S. 23 f, Anm. 22 (= Texte des Leipziger Geschichtsvereins e. V. H. 6). So machte sich Böttiger in einem Brief vom 29. 7. 1832 an den Brockhaus-Verlag anheischig, für das Konversationslexikon in Rußland über den von ihm erwarteten Speranskij zu werben. Vgl. Sächsisches Staatsarchiv Leipzig, Verlag F. A. Brockhaus, Nr. 170. Zukovskij (wie Anm. 65), S. 192 und Turgenev (wie Anm. 70), S. 9 u. a., in beiden Fällen ohne Initialen. Falkenstein (wie Anm. 51), Bd 2, S. 178. Aleksandr N . Veselovskij, V. A. Zukovskij i Α. I. Turgenev ν literaturnych kruzkach Drezdena (18261827 g.), in: Zurnal Ministerstva narodnogo prosvescenija 7 (1905), c. 359, S. 169-183.

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und Zukovskij-Freund Friedrich Apollonius Maltitz (1795-1870) und den Karamzin-Übersetzer Franz Friedrich (1794-1857), oder den aus den Kurland kommenden Journalisten und Bibliothekar Karl Konstantin Kraukling (1792-1873) zu. Bemerkenswert ist auch folgendes: Friedrich August Hasse, der häufige Gesprächspartner 2ukovskijs und Turgenevs (sie hörten seine historischen Kollegs), hatte 1805 Grigorij Stroganov als Erzieher seiner drei Knaben durch England und Portugal begleitet; 1835 trat sein Sohn Karl Ewald Hasse (1810-1902) als Kurarzt in Karlsbad in die Dienste Stroganovs. 81 An diesem Beispiel wird das Geflecht deutsch-russischer Beziehungen in Dresden sehr deutlich. Den entscheidenden Gewinn aus allen diesen Begegnungen sollte die Dresdner Kulturwelt selbst haben. Denn durch das offene Haus am Kohlmarkt (und natürlich auch durch die zahlreiche russische Kolonie in Dresden) gelangten viele Informationen über innerrussische Zustände, über Bildung, Kunst und Literatur auf unmittelbarem Wege an die Elbe, wie sich vor allem aus der vielgelesenen „Abendzeitung" unter der Redaktion von Karl Gottfried Theodor Winkler (Pseudonym: Theodor Hell, 1775-1856) mit ihren vielen Rossica ablesen läßt, die aber noch einer genaueren Untersuchung harren. Der Polenkenner Konstantin Karl Falkenstein (1801-1855), 8 2 aber auch die Professoren Christian August Heinrich Clodius (1772-1836), Wilhelm Traugott Krug (1770-1842) und Wilhelm Wachsmuth (1787-1866) aus dem nahen Leipzig entwickelten hier sicherlich unmittelbare Kontakte mit Rußlandkennern. Vielleicht den größten Vorteil für seine Informationstätigkeit zog möglicherweise Karl August Böttiger, für den der Recke-Salon eine „Zufluchtsstätte" 8 3 war. Hier konnte er im Gespräch mit Küchelbecker, den Turgenevs. Zukovskij, Speranskij und anderen (wie früher schon aus den Briefen der Recke aus Petersburg) viele Nachrichten ergattern, die er dann in seine Korrespondenzen für zeitgenössische Zeitschriften nutzte; hier traf er seine Korrespondenten aus dem Baltikum (Morgenstern ζ. B.). Und auch die große alte Dame konnte ihm sicherlich noch das eine oder andere direkt venmitteln, so wie sie es schon 1 7 9 5 / 9 6 von Ruß- und Kurland aus in Briefen an Katharina getan hatte, als es um einige kunsthistorische Themen ging. 84 Das sind sicherlich bei weitem nicht alle Rossica, die über den Recke-Salon vermittelt wurden. Ein systematische Durchsicht von Memorabilien und Archiven wird vermutlich noch manche überraschende Entdeckung bringen. Festzuhalten ist jedenfalls, daß dieser Dresdner Salon viele Impulse vermittelt hat, sich mit Rußland und seiner Kultur überhaupt zu befassen und etwas Authentisches zu erfahren. So gewinnt das Haus der Elisa von der Recke eine beachtliche kulturvermittelnde Dimension.

81

Κ. E. Hasse. Erinnerungen aus meinem Leben, Braunschweig 1893, S. 103 f.

82

Friedhilde Krause, Konstantin Karl Falkenstein als Autor der ersten ausführlichen Biographie von Tadeusz Kosciuszko, in: Zeitschrift für Slawistik 39 (1994), H . 2, S. 2 5 0 - 2 6 0 .

83

Karl Wilhelm Böttiger, Karl August Böttiger. Eine biographische Skizze, Leipzig 1837, S. 103. Über seine Rußlandkenntnisse U l f Lehmann, Karl August Böttiger, in: Studien zur Geschichte der russischen Literatur des 18. Jahrhunderts, B d 4 , Berlin 1970, S. 3 9 9 - 4 1 7 .

84

Vgl. den unveröffentlichten Brief Katharinas vom 16. 1. 1796 (Recke-Nachlaß wie Anm. 15) sowie den ebenfalls nicht publizierten Brief von der Reckes an Böttiger vom 16. 5. 1796 (Böttiger-Nachlaß wie Anm. 25).

Elisa von der Recke und ihre russischen Beziehungen

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Nachtrag N a c h Fertigstellung dieses Beitrags wurde mir durch die Handschriftenabteilung der H a m b u r g e r Staats- und Universitätsbibliothek „ C a r l von O s s i e t z k y " , der für K o p i e und Erlaubnis z u m D r u c k herzlich gedankt sei, ein Brief von Friedrich Maximilian von Klinger an Elisa von der Recke vom 14. April 1827 aus St. Petersburg zugänglich gemacht, der für unser T h e m a und als Resümee ihrer beiderseitigen Beziehungen relevant ist. D e r Brief wird unter der Signatur C S 2, Klinger aufbewahrt und ist m. W. bisher nicht publiziert. D e r Text lautet (Orthographie und Zeichensetzung wurden modernisiert): „Werteste, teuerste Freundin. Empfangen Sie meinen herzlichsten Dank, für die freundlichen Zeilen, womit Sie mich erfreut haben. O b wir nun gleich immer örtlich getrennt leben, so verschwanden bei Lesung derselben doch gänzlich die mehr als 30 Jahre, u. wir saßen persönlich einander gegenüber, im innigen Vertrauen. Was Sie mir waren, sind u. bleiben werden, bis an das Ende meines Lebens, wird Ihnen Ihr Herr Bruder am besten sagen können, denn ihm, dem Hochgeschätzten und Hochwerten, habe ich alles, bis aufs kleinste, mit seltnem Genüsse erzählt u. wieder erzählt, u. so vergegenwärtigte ich ihm alle unsere Verhältnisse während Ihres glücklichen Hierseins. Das wahre Interesse, welches er mir als der Bruder meiner verehrten Freundin, durch sein eignes Sein, seinen eignen hohen Wert einflößte, verband uns, wie ich mir schmeichle (?), freundschaftlich, u. ich werde mich für glücklich schätzen, wenn ich ihm einige Augenblicke, durch unsern Umgang, habe erheitern können. Er erträgt seine Lage mit Kraft, die ihm aus seinem reinen Sinne zufließt, und wird diese Lage bestehen, wie er sein Leben bestanden hat. Verzeihen Sie, wenn ich Ihren Wunsch, wegen Beiträgen zu der Morgen-Zeitung, die Ihr Landsmann herausgibt, nicht erfüllen kann. Ich habe ein Teil an Schriften dieser Art genossen; (ein Halbsatz nicht entziffert - Ε. H.). Seit 1804 habe ich keine Zeile für das Publikum geschrieben, mir dieses Gebot aufgelegt, ja es streng gehalten u. werde es fortdauernd halten, das ich auch das Letzte, was ich vorhatte, unterlasse u. gewiß unterlassen werde. Grüßen Sie bestens Ihren Tiedge von mir. Ich danke für das übersandte Drama, in den ich Sie erkannte; ich danke für Ihr liebes Portrait, ich danke für alle die glücklichen Stunden, die ich durch Ihre Freundschaft gehabt habe u. noch haben werde. Ihr treuer Klinger." Wie gesagt, der Brief zieht Bilanz eine Jahrzehnte währenden persönlichen Bekanntschaft seit der ersten B e g e g n u n g 1795 in Petersburg und verdeutlicht die engen geistigen Bindungen zwischen beiden. Kein Zweifel, Elisa wird diesen Brief in ihrem Salon verlesen oder anderweitig bekanntgemacht haben, vielleicht noch zu der Zeit, als Zukovskij und Turgenev in Dresden weilten. Bei dem Bruder dürfte es sich um Karl J o h a n n Friedrich G r a f von Medem (geb. 1762) handeln, auf diesen gesundheitlichen Zustand Klinger o f f e n b a r B e z u g nimmt und der am 26. N o v e m b e r 1827 gestorben ist. Er verhandelte 1817 als kurländischer Landesbevollmächtigter in der H a u p t s t a d t erfolgreich wegen der Bauernbefreiung und erreichte auch die Beseitigung der Besitzwechselsteuer. Bemerkenswert und für weitere Forschungen z u m Dresdner Kulturleben dieser Zeit wichtig ist die Tatsache, daß sich Elisa von der Recke auch u m das Schicksal der leider nur zwei Jahre (1827-1828) erschienenen, bemerkenswert viele Slavica enthaltenden und von Friedrich Kind und Karl Konstantin Kraukling herausgegebenen „ D r e s d n e r M o r g e n - Z e i t u n g " sorgte, indem sie dem Redakteur Kraukling berühmte Autoren zuzuführen suchte. Beide H e r a u s g e b e r waren ja ständige Besucher ihres Salons. Dieser Brief wie die anderen in diesem A u f s a t z aufgeführten Materialien machen die N o t w e n d i g k e i t deutlich, das T h e m a „ K l i n g e r in R u ß l a n d " einer gründlicheren Untersuchung zu unterziehen.

LARISSA V . KIRILLINA, M O S K A U

Russische Ubersetzungen deutschen Musikschrifttums aus dem 18. Jahrhundert

In der Geschichte der russischen Musik war das 18. Jh. zweifellos ein Jahrhundert des Umbruchs. Dabei handelt es sich nicht nur um eine schnelle und produktive Aneignung westeuropäischer künstlerischer Errungenschaften, sondern um einen Typenwechsel in der musikalischen Kultur Rußlands selbst. Aus diesem Grunde verlangt sogar ein so spezielles Thema, wie es die russischen Ubersetzungen deutschen Musikschrifttums sind, vom Forscher mit Notwendigkeit eine kulturhistorische Bewußtmachung. Eben im erneuerten nachpetrinischen Rußland begann sich eine schriftlich-professionelle weltliche Musikkultur europäischen Typs auszuprägen, die sich auf solche Begriffe wie „Autor", „Opus", „Text", „Schule", „Theorie", „Interpretation", und solche wie „Schaffen", „Inspiration", „Selbstausdruck", „Genius" „Geschmack" u. ä. stützte. Alle diese Kategorien, die für das europäische musikalische Denken der Neuzeit charakteristisch sind, waren in Rußland vor dem 18. Jh. nicht oder fast nicht bekannt. Veränderungen begannen freilich bereits in der 2. Hälfte des 17. Jh., als im Ergebnis der Reformen des Patriarchen Nikon und unter dem Einfluß der polnisch-ukrainischen sängerischen Traditionen im Kirchengesang der vielstimmige Stil Fuß faßte, was eine Veränderung des Systems der Notenschrift und der Gesangsausbildung nach sich zog. Die hohe Professionalität der russischen Sänger trug jedoch einen eigenartigen halbmündlichen Charakter; die Instrumentalmusik war aus dieser Tradition vollständig ausgeschlossen; Erfordernisse, die aus dem Leben und dem Alltag erwuchsen, wurden in der festlichen und einfach unterhaltenden Musik durch Anleihen aus der reichhaltigen Folklore befriedigt. Erst im 18. Jh., aber keineswegs schon von Beginn an, sondern erst in seiner zweiten Hälfte, begann die russische gebildete Gesellschaft nicht nur die Kirchenmusik, sondern auch die weltliche Musik (einschließlich Folklore) als wichtige geistige Werte aufzufassen und das Musizieren (das professionelle und das der Laien) als eine Beschäftigung, die des gebildeten und wohlerzogenen Menschen würdig ist, zu betrachten. Dieser Tendenz war die Begeisterung des russischen Hofes für die italienische Oper sehr förderlich, die in den 30er Jahren des 18. Jh. unter der Kaiserin Anna Ivanovna sichtbar wurde. Schon in der Regierungszeit der Kaiserinnen Elisabeth Petrovna und Katharina der Großen wurde Petersburg zu einer der Hauptstädte der europäischen Oper, wohin die besten Komponisten und Interpreten reisten. Am Ende des 18. Jh. wirkten in St. Petersburg sowohl französische als auch deutsche Operntrupps. Zur Aufführung gelangten aber auch erste russische Opern. All das bildete den Ausgangspunkt für den „Operozentrismus" in der russischen Musikkultur des 19. Jh. (von Michail Ivanovic Glinka bis zu Nikolaj Andreevic RimskijKorsakov). Die Oper zog das allgemeine Interesse auf sich, sammelte um sich die besten schöpferischen Kräfte und symbolisierte deutlich die im Musikschaffen eingetretenen Wandlungen. Als nicht weniger bedeutungsvoll muß man jedoch offensichtlich auch andere, äußere, periphere Erscheinungen betrachten, so die Zunahme des Musizierens durch Liebhaber und Laien unter den verschiedenen Schichten der gebildeten städtischen Bevölkerung und die Nachfrage nach Instrumenten, Noten, Anleitungen, Musikunterricht und Musiklehrern. Eben auf diesem Feld kann die Rolle der „russischen Deutschen" schwer überschätzt werden, jener aus Deutschland nach Rußland gekommenen Träger der deutschen Sprache,

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die in Rußland nicht nur ihrer Arbeit nachgingen, sondern bewußt die Rolle von Kulturmittlern und „Kulturträgern" übernahmen. Wenn die italienische Musik durch ihre Melodik bestach, die französische durch ihre Eleganz und Lebendigkeit, so hatte die deutsche Musik den Ruf einer „gelehrten Musik" erworben. Unter diesem „gelehrten Charakter" verstand man sowohl eine gewisse Schwierigkeit der Musik in der Ausübung und Aufnahme wie auch das Vorhandensein einer hochentwickelten Theorie, welche diese Schwierigkeit erklärte. Die deutschsprachigen Abhandlungen des 18. Jh. galten als die besten ihrer Art (und waren es womöglich auch). Der Unterricht in der Gesangskunst blieb immer das Privileg der Italiener, in der Tanzkunst das der Franzosen, aber jeder, der Generalbaß, Kontrapunkt und Komposition erlernen wollte, wandte sich an die grundlegenden Arbeiten der deutschen und österreichischen Musiker: den Interpreten des Clavecin oder des Pianoforte halfen die Arbeiten von Carl Philipp Emanuel Bach, Friedrich Wilhelm Marpurg, Georg Simon Löhlein und Daniel Gottlob Türk, sich in ihrer Kunst zu vervollkommnen; der Lehrmeister vieler Geiger war Leopold Mozart, der Flötisten - Johann Joachim Quantz. Eben diese theoretische Tradition galt es auf „russischem Boden" heimisch zu machen, was mit zahlreichen Schwierigkeiten objektiven und subjektiven Charakters verbunden war. Zu den objektiven Schwierigkeiten gehörte erstens das Fehlen eines offiziellen (höfischen oder akademischen) Auftrags für eine solche Literatur; zweitens die in Rußland gegebene ursprüngliche Trennung der musikalischen Bildung von der wissenschaftlichen (Universitätsbildung); drittens das präzedenzlose Unterfangen an und für sich. Man kann nicht sagen, daß es in der russischen Sprache keine musikalische Terminologie gegeben hätte, doch bezog sich diese Terminologie auf die Kunst des Kirchengesangs und war für die Wiedergabe der Grundbegriffe der westeuropäischen Musik nicht geeignet. Folglich konnte sich jeder Ubersetzer nur auf seine eigenen Kenntnisse in der Musik und in den verschiedenen Fremdsprachen verlassen (neben dem Deutschen und Russischen waren in mehr oder minder großem Umfang Kenntnisse in Italienisch, Latein oder Französisch vonnöten). Das bedeutende Werk des russischen musiktheoretischen Denkens des 17. Jh., die „Ideja grammatiki muzykal'noj" (Idee der musikalischen Grammatik) von Nikolaj Dileckij aus dem Jahr 1779, existierte nur in Handschriften und war den Ubersetzern ausländischer musikalischer Abhandlungen der 2. Hälfte des 18. Jh. nicht bekannt. Und wenn Dileckij auch einige Termini gebrauchte, die in der damaligen Musiktheorie verbreitet waren („Kontrapunkt", „Fuge" u. a.), so war doch ihre Bedeutung in seiner Interpretation eine andere als in den westeuropäischen Werken der nachfolgenden Zeit, und das konnte die Ubersetzer eher verwirren als ihnen behilflich sein.1 Diese Bemerkungen zur besonderen Lage der Musik im Gefüge der Wissenschaften und Künste des nachpetrinischen Rußlands erfordern wahrscheinlich einige Erklärungen, ohne die es nicht verständlich wäre, warum ein so wichtiges Unterfangen wie die russischen Ubersetzungen von westeuropäischen Abhandlungen zur Musik ein ausgesprochen privates, sehr schwieriges und häufig auch undankbares Anliegen blieb. In der westeuropäischen Kultur gehörte die Musik von alters her zu den sogenannten „Sieben Freien Künsten", die man in das Trivium (Grammatik, Dialektik, Rhetorik) und das Quadrivium (Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Musik) einteilte. Die Musiktheorie galt als eine der wichtigsten Wissenschaften und wurde an den dortigen Universitäten gelehrt. In Rußland gelangte ein solches Verständnis von Musik erst in der 2. Hälfte 1

Nikolaj Dileckij, Ideja grammatiki muzykal'noj. Veröffentlichung, Übersetzung, Anmerkungen und Kommentare von V. V. Protopopov, Moskau 1979, S. 15. (= Pamjatniki russkogo muzykal'nogo iskusstva, vypusk 7).

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des 17. Jh. zum Durchbruch. 2 Es verbreitete sich jedoch zunächst nur in einem kleinen Kreis von hochgebildeten Musikern und deren aristokratischen Gönnern. Im 18. Jh., als die Entwicklung der Wissenschaften in Rußland in bedeutendem Maße vom Staat gefördert wurde, gehörte die Musik freilich nicht zu den vorrangigen Wissenschaftsdisziplinen. Niemals, von Lomonosovs Zeiten bis zur Gegenwart, wurden die Geschichte und Theorie der Musik an russischen Universitäten gleichrangig mit anderen Geistes- oder exakten Wissenschaften gelehrt (so ermöglichen die musikalischen Klassen, die im 18. Jh. existierten und heute an der Moskauer Universität bestehen, den Studenten eine Ausbildung an jedem beliebigen Instrument, setzen aber nicht einmal für künftige Philologen und Historiker die obligatorische Kenntnis der Grundlagen des musikalischen Schaffens voraus). Bis fast zur Mitte des 19. Jh., als sowohl das Petersburger als auch das Moskauer Konservatorium seine Tätigkeit aufnahm, trug die Musikwissenschaft in Rußland nichtakademischen Charakter und blieb in vielfacher Hinsicht eine Sache für Laien und Musikliebhaber. Heimische Einführungen in die Notenkenntnis, den Kirchengesang oder das Spielen von Musikinstrumenten waren in der Regel Sache von Berufsmusikern, besaßen eine rein empirische Ausrichtung; mit Untersuchungen im Bereich der Musikästhetik, der Geschichte und Theorie der Musik beschäftigten sich meist nur sehr begabte und universell gebildete Wissenschaftler, die jedoch keine professionellen Musiker waren. Darunter befanden sich auch Vertreter angesehener aristokratischer Familien, so im 19. Jh. Fürst Vladimir Fedorovic Odoevskij, im 18. Jh. Fürst Alexander Michajlovic Belosel'skijBelozerskij, der bekannte Diplomat, der in französischer Sprache schrieb; 1778 erschienen in Den Haag seine Studie „De la musique en Italie" 3 und sein philosophischer Traktat „Dianyologie ou tableau philosophique de l'entendement", der 1790 in Dresden veröffentlicht wurde und die Zustimmung Immanuel Kants fand.4 Infolge einer Reihe von Gründen blieb selbst das Genre der „wissenschaftlichen" theoretischen oder historischen Untersuchung auf dem Gebiet der Musik lange Zeit der russischen Kultur fremd, da weder die angewandte Musiktheorie noch die belletristische Ästhetik und Geschichte der Musik als „Wissenschaften" galten und auch nicht nach solcher Anerkennung strebten. Außerdem bildete sich in Rußland am Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jh. unter dem Einfluß der aufklärerischen und frühromantischen Kunstphilosophie die Vorstellung von der Musik als einer der „Schönen Künste" heraus, die eine Einheit nicht mit den früheren Disziplinen des Triviums und des Quadriviums bildete, sondern mit der Poesie, der Malerei, dem Tanz usw. Darum tendierte auch die russische Musikliteratur stärker zur künstlerischen als zur „trockenen" wissenschaftlichen Prosa. Diese Neigung wurde besonders bei der Darstellung solcher großer Musikerpersönlichkeiten wie Johann Sebastian Bach, Wolfgang Amadeus Mozart oder Ludwig van Beethoven erkennbar: sie wurden zu Helden der „schönen Literatur" und Trägern einer besonderen „Mythologie der neueuropäischen Kunst" (wir denken dabei an die Novellen von V. F. Odoevskij „Sebastian Bach" und „Das letzte Quartett Beethovens" und die Tragödie Alexander Sergeevic Pus kins „Mozart und Salieri", die die Rezeption der genannten Komponisten in Rußland wesentlich beeinflußt haben).

2

3

4

Nikolaj Spafarij, Eticeskie traktaty. Mit Textbearbeitung und Einleitung von Ο . A. Belobrova, Leningrad 1978, S. 38-41, 152-153. Τ. N . Livanova, Russkaja muzykal'naja kul'tura X V I I I veka ν ee svjazach s literaturoj, teatrom i bytom, Bd. 1, Moskau 1952, S. 440-443; Muzykal'naja estetika Rossii X I - X V I I I vekov. Zusammengestellt, übersetzt und eingeleitet von Α. I. Rogov, Moskau 1973, S. 172-177. Immanuel Kant, Traktaty i pisma, Moskau 1980, S. 585-588.

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Die erkennbare Lücke musikalischer Bildung konnten die russischen Übersetzungen der besten (Lehr-) Bücher zu musikalischen Themen schließen, welche im 18. Jh. in Europa verfaßt worden waren. Dieser Weg war der offensichtlichste und natürlichste. Wie Vladimir Petrovic Semennikov feststellte, „erlebte die Ubersetzungsliteratur in der Epoche Katharinas II., wie auch schon in der davorliegenden Zeit, eine weit umfangreichere Entwicklung als die originale Literatur . . .Man kann sagen, daß sich in der Regierungszeit Katharinas Rußland an den in Jahrhunderten gewachsenen Kulturbesitz anschloß, den die Literatur Westeuropas verkörperte". 5 Und doch findet sich in der langen Aufzählung von Büchern aus den alten und neueuropäischen Sprachen, die auf direkte Weisung Katharinas und auf Beschluß der von ihr 1768 speziell einberufenen Versammlung übersetzt wurden, kein einziges didaktisches, ästhetisches oder historisches Werk zu Fragen der Musik. Man muß einräumen, daß ein herablassend-utilitaristisches Verhältnis zur Musik eigentlich zu allen Zeiten für die Herrschenden in Rußland charakteristisch war, und das 18. Jh., von Peter bis Katharina, bildete darin keine Ausnahme. Die Musik förderte man in dem Maße, wie man sie für notwendig, nützlich und dem Prestige dienend betrachtete. Notwendig aber war sie in der Kirche, in der Armee, auf höfischen Zusammenkünften und Vergnügungen; nützlich und dem Prestige förderlich - im Theater. Deshalb wurden in erster Linie die funktionalen Genres der Musik und die Oper (zunächst die italienische, später ebenso die russische) gepflegt. Bei der Ausbildung von Kirchen-, Militär-, Theatermusikern und weiterer die Musik dienstlich ausübender Musiker wurden eigentlich keinerlei theoretische Traktate benötigt: eine solche Ausbildung wurde vorrangig praktisch und mündlich durchgeführt; die Regeln des Singens oder des Instrumentalspiels wurden unmittelbar vom Lehrer auf den Schüler weitergegeben. Die Lage änderte sich etwas, als die Musik zum Bestandteil der weltlichen Erziehung wurde und breite Kreise der russischen Gesellschaft Interesse am Musizieren bekundeten. Nicht jeder Musikliebhaber hatte damals die Möglichkeit und die Mittel, einen guten Lehrer anzustellen; nicht alle konnte aber auch ein oberflächlicher mündlicher Unterricht „von schneller Hand" zufriedenstellen, bei dem vom Schüler nicht einmal elementare Notenkenntnis verlangt wurde; und wohl noch weniger Interessenten konnten ausländische Anleitungen zum Musizieren nutzen, die man im Ausland bestellen mußte, um dann eine Unmenge von Zeit und Kraft auf die Aneignung des Textes zu verwenden, der in schwerverständlicher Terminologie abgefaßt war. Alle diese Umstände riefen im letzten Drittel des 18. Jh. das Erscheinen russischer Übersetzungen musikalischer Traktate hervor - in erster Linie deutscher, die sich bereits Anerkennung in Europa erworben hatten. Wir werden im wesentlichen bei drei bedeutendsten Ausgaben verweilen: den Übersetzungen der „Clavier-Schule" von Georg Simon Löhlein (Moskau 1773 / 74); dem „Treulichen Unterricht im Generalbaß" von David Kellner (Moskau 1791) und der „Gründlichen Violinschule" von Leopold Mozart (St. Petersburg 1801). Den Historikern der russischen Musikkultur sind diese Ausgaben gut bekannt: sie werden in musikwissenschaftlichen Arbeiten, Lehrbüchern oder Nachschlagewerken etc. häufig erwähnt und beschrieben. Jedoch in einem so angesehenen Lexikon unserer Zeit wie „The New Grove Dictionary of Music and Musicians" (London, 1980) finden sich wohl Angaben über die russische Ausgabe von Löhleins Clavier-Schule, doch fehlen Hinweise auf die Arbeiten von Kellner und Mozart. 6 Und doch können die Probleme, die sich mit diesen Übersetzungen 5

6

V. P. Semennikov, Sobranie, starajuscesja ο perevode inostrannych knig, ucrezdennoe Ekaterinoj II, 17681783 gg., St. Petersburg 1913, S. 5. The New Grove Dictionary of Music and Musicians, London 1980, Bd. 17, S. 538; Bd. 9, S. 853; Bd. 12, S. 679.

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verbinden, nicht nur für Musiker von Interesse sein, sondern auch für Vertreter anderer Geisteswissenschaften, die sich mit der Geschichte der Wechselseitigkeiten deutscher und russischer Kultur beschäftigen. Die „Clavier-Schule" von Löhlein, übersetzt von dem Moskauer Studenten Fedor (Theodor) Hablitz (eine Reproduktion des Titelblatts mit der vollen Angabe des Titels findet sich auf der Illustration 1) war in der Druckerei der Moskauer Universität in zwei Teilen 1773 und 1774 auf Kosten des Buchhändlers Christian Ludwig Wewer erschienen. Uber das Wirken des Buchhändlers und -Verlegers Wewer in Moskau existieren nur sehr unvollständige und widersprüchliche Angaben. Obwohl sein Name in allen soliden Arbeiten zur Geschichte der russischen Musik des 18. Jh. und der dreibändigen Sammlung von Dokumenten zur Geschichte der Moskauer Universität dieser Periode (Moskau 1960/63) erwähnt wird, sind die Daten seines Lebens wie auch die Umstände, die ihn nach Rußland führten, nicht bekannt. Nicht später als 1763 trat er als Kommissionär und Geschäftsführer der Universitätsbuchhandlung in den Dienst der Universität (den Vertrag dazu hatte er mit Ivan Ivanovic Melissino, von 1757 bis 1763 Direktor der Universität, abgeschlossen).7 Zu den Aufgaben Wewers gehörte auch die Zusammenstellung von Lehrmaterialien entsprechend den Aufträgen der Hochschullehrer; zu diesem Zwecke bestellte er Bücher, vor allem deutsche, aus dem Ausland. Nach einem von Wewer selbst festgesetzten Preis wurden diese dann von der Universität gekauft und an die Studenten weitergegeben, während der Preis ratenweise von den Stipendien der Studenten abgezogen wurde. Nach den vorliegenden Angaben waren die Beziehungen Wewers und der Professoren schwierig und nicht konfliktlos: man beschuldigte ihn, geldgierig und unehrlich zu sein und sich nicht auf die notwendige Literatur zu beschränken.8 Währenddessen entsteht bei denjenigen, die seine musikverlegerische Tätigkeit erforschen, ein ganz anderes Bild von Wewer. Dieser wurde zum ersten privaten Noten- und Musikverleger Rußlands überhaupt. In der Druckerei der Moskauer Universität gab es selbstverständlich keine Lettern für den Notendruck; Wewer erwarb sie auf eigene Kosten in Leipzig bei Johann Gottlieb Immanuel Breitkopf.9 Im Oktober 1772 veröffentlichte Wewer in der „Beilage" zu Nr. 81 der Zeitung „Moskovskie vedomosti" eine Ankündigung der von ihm geplanten Musikpublikationen. Das waren keineswegs nur Sammlungen populärer Melodien, die sich schnell und gewinnbringend verkaufen ließen, sondern sehr solide Anleitungen für den Musikunterricht sowie Schriften theoretischen Charakters, nämlich: 1. ein Lehrbuch der Grundlagen des Musikschaffens unter dem Titel „Melodiceskij opyt" („Methodischer Versuch"), ohne Angabe des Autors; 2. die Clavier-Schule von Löhlein; 3. „Gründliche Schule des Geigenunterrichts" (wahrscheinlich Leopold Mozarts „Gründliche Violinschule"); 4. die Gesangsschule von Pier Francesco Tosi, erschienen in deutscher Ubersetzung mit Ergänzungen von Johann Friedrich Agricola, eines Schülers von Johann Sebastian Bach. 10 Dieser breit angelegte Plan wurde nicht bis zu Ende realisiert. Die Violinschule von Leopold Mozart erblickte erst unmittelbar zu Beginn des 19. Jh. in St. Petersburg das Licht der Welt, die Gesangsschule von Tosi / Agricola in russischer Ubersetzung erst hundert Jahr später.11 Somit blieb die Herausgabe der Clavier-Schule von Löhlein das bedeutendste Ergebnis der aufklärerischen musikverlegerischen Bemühungen Wewers. Dokumenty i materialy po istorii Moskovskogo universiteta vtoroj poloviny X V I I I veka, Bd. 2 : 1 7 6 5 - 1 7 6 6 , Moskau 1962, S. 321. 8 Ebd., S. 162-165, 228-234. 9 B.L. Vol'man, Russkie pecatnye noty X V I I I veka, Leningrad 1957, S. 53. 1 0 Ebd., S. 55. 1 1 K. Mazurin, Metodologija pesni, Bd. 1, Moskau 1902, S. 107-189. 7

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Wie B. L. Vol'man vermutet, „war die Absicht, mit der Herausgabe von Unterrichtsmaterialien zu beginnen, vom Gang der Ereignisse diktiert, welche mit dem Aufbau der ersten spezialisierten Musikschule in Rußland zusammenhingen. Diese wurde am 9. Januar 1773 in Moskau auf Initiative des tschechischen Musikers Ivan B. Kercelli eröffnet.12 Nach den Ankündigungen in der Beilage zu den „Moskovskie vedomosti" stellte Kercellis Anstalt eine Art privaten „Konservatoriums" dar, in welches Schüler aller Stände aufgenommen wurden, vom Adligen beginnend bis hin zum Leibeigenen (die Leibeigenen hatten in den zeitigen Morgenstunden Unterricht, die Adligen und Bürger begannen später). Derselben Quelle zufolge befand sich die Musikschule im Hause I. G. Belkins „Auf dem Cistyj prud, hinter der Staatsbank"; man unterrichtete dort Notenkunde, Generalbaß, Komposition sowie das Spiel auf dem Clavecin, der Violine, dem Violoncollo, der Flöte und dem Waldhorn. Nach Meinung von Vol'man „ist es begründet, davon zu sprechen, daß I. B. Kercelli Wewer nahestand und de facto der musikalische Leiter von dessen Verlag war". 13 Leider ist bislang weder über das Schicksal der Musikschule Kercellis noch über die Gründe etwas bekannt, die Wewer zur Abkehr von seinem ursprünglichen Editionsplan bewogen. Die Dokumente, die in diese Umstände Licht bringen könnten, sind entweder verschollen oder noch nicht entdeckt worden. Die zur Verfügung stehenden Daten lassen jedoch folgende Vermutung zu. Erstens war Wewer nach Aussage der Universitätsakten ein Mann mit wirtschaftlicher Denkart und einem ziemlich rauhen Charakter. Schwerlich hat er sich auf ein Unternehmen, wie die Herausgabe von musikalischen Abhandlungen in russischer Sprache, einfach aus edlen aufklärerischen Motiven heraus, eingelassen. Folglich hoffte er, daß er seine Bücher auch verkaufen konnte. Und wenn er mit Kercelli wirklich verbunden war, hatte er wahrscheinlich einen Vertrag mit ihm geschlossen. Zweitens konnte Wewer neben Kercellis Schülern auch auf das Interesse der Studenten der Moskauer Universität für seine Musikeditionen rechnen, die die Musikalische Klasse des Universitätsgymnasiums besuchten (von 1757 1771 war Kliment Janovskij Lehrer im Fach Instrumentalmusik).14 Offensichtlich unterhielt Wewer trotz seiner Konflikte mit dem Kollegium (der „Konferenz") der Professoren gute Beziehungen mit einer ganzen Reihe von Lehrkräften und Studenten, unter denen sich natürlich Musikliebhaber befanden. So war ζ. B. die Einführung in die Notenkunde, die Wewer im gleichen Jahr 1773 wie auch den I. Teil der Clavier-Schule Löhleins veröffentlicht hatte, von einem gewissen „E. S." aus dem Französischen übersetzt worden.15 Hinter diesen Initialen verbarg sich möglicherweise, wie Vol'man annimmt, Evgraf Smagin, der in den 1760er Jahren in der Französischen Abteilung der Moskauer Universität lehrte und, nach einigen Details seiner Ubersetzung musikalischer Termini zu urteilen, Geige spielte. 16 Uber den Ubersetzer der Clavier-Schule Löhleins, Fedor Hablitz (im russischen Verlagswesen des 18. Jh. wurden zahlreiche fremdsprachige Werke von Studenten ins Russische übersetzt), ist bislang nur wenig bekannt. Jedoch kann vermutet werden, daß er ein Sohn oder naher Verwandter von Johann Wenzel Hablitz war, der als Mitarbeiter Wewers in der Universitätsdruckerei arbeitete. Der ältere Hablitz hatte 1758 unter ungewöhnlichen Umständen den Dienst an der Moskauer Universität aufgenommen: er war aus dem während 12 13 14 15

16

Vol'man (wie Anm. 9), S. 55. Ebd., S. 56 Dokumenty (wie Anm. 7), Bd. 1: 1756-1764, Moskau 1960, S. 386. Metodiceskij opyt, kakim obrazom mozno vyucit' detej, citat' muzyku stol' ze legko i obyknovennoe pismo. Aus dem Französischen ins Russische übersetzt von E. S. auf Kosten von Christian Ludwig Wewer, Universität Moskau 1773. Vol'man (wie Anm. 9), S. 58.

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des Krieges gegen Preußen okkupierten Königsberg nach Rußland eingeladen worden, und zwar auf Empfehlung des dortigen Oberkommandierenden der russischen Armee, General Villim Vilümovic Fermor, der einer Bitte des ersten Kurators der Moskauer Universität, Ivan Ivanovic Suvalov, nachkam, einen erfahrenen Meister des Buchdruckes für die Universität ausfindig zu machen.17 Die Söhne von Hablitz studierten an der Moskauer Universität. Einer von ihnen, Karl, wurde zu einem bekannten Naturforscher; Heinrich und Friedrich werden im Protokoll der Professorenkonferenz vom 18. Mai 1762 als „exmatrikulierte" Studenten erwähnt.18 Wahrscheinlich war Fedor Hablitz, der auf dem Titelblatt der von Wewer 1773 herausgegebenen Clavier-Schule Löhleins „Student" genannt wird, ebenfalls ein Sohn des .Buchdruckermeisters. Nach der Qualität seiner Ubersetzung zu urteilen, beherrschte er die russische Sprache ebenso gut wie das Deutsche. In der italienischen Sprache hingegen war er weniger bewandert: einige italienische Bezeichnungen für Genres, Tempi und Charakter wurden überhaupt nicht übersetzt, andere teilweise richtig, teilweise falsch ins Russische übertragen (so wurde ζ. B. „allgro furioso" als „sehr fröhlich" übersetzt; der in der 2. Hälfte des 18. Jh. eingebürgerte übertragene Sinn des Terminus „allegro = lebhaft" war dem Ubersetzer offenbar nicht voll gewärtig).19 Fedor Hablitz verstand wahrscheinlich die Schwierigkeit der vor ihm stehenden Aufgabe sehr gut. Mußte er doch die Clavier-Schule Löhleins nicht nur aus einer Sprache in die andere übersetzen, sondern faktisch im Russischen eine entsprechende neue musikwissenschaftliche Terminologie schaffen. Vorläufer besaß er in dieser Sphäre nicht, und Hablitz mußte so nach eigenem Ermessen handeln, was er jedoch mit der größtmöglichen Sorgfalt und Vorsicht tat. Er strebte danach, den Text für den russischen Leser maximal verständlich zu machen und mied daher in seiner Ubersetzung Häufungen fremdsprachlicher Termini und komplizierte syntaktische Konstruktionen. Ganz offensichtlich wird dabei sein Bemühen um Russifizierung der Terminologie. Eindeutigen Lösungen geht er darum bewußt aus dem Weg. Der Gebrauch verschiedener Varianten ein- und desselben Terminus durch den Ubersetzer scheint auf den ersten Blick eine Inkonsequenz zu sein, doch zeigt sich bei aufmerksamer Lektüre hierbei eine bestimmte Gesetzmäßigkeit. Hablitz führt die neue Terminologie gleich auf drei verschiedenen Ebenen ein: 1. den Terminus in seiner originalen Form in lateinischer, italienischer oder französischer Sprache - ζ. B. „intervallo", „scala", „modus durus / mollis" etc. 2. die kyrillische Transkription des gleichen Terminus: „ H H T e p B a j i " , „cicajia", „ayp", „MOJIb"

3. die Übersetzung des Terminus in die russische Sprache, gewöhnlich in der Methode der Lehnübersetzung: „Intervall" = promezutok, promeska; „skala" = lesnica; „Dur" = krepkij ton; „Moll" =.mjagkoj ton. Die deutschen Termini entlehnt Hablitz vollständig, d. h. er transkribiert sie nicht kyrillisch und sucht auch keine analogen Wörter in der vorhandenen russischen Lexik: „Absatz" = otstavka (wird heute in Abhängigkeit vom Kontext als „koleno", „period", „predlozenie" übersetzt; diese Termini wurden auch in der russischen Rhetorik des 18. Jh. gebraucht); „Ausweichung" = ustupka (entsprechend heute „otklonenie", „moduljacija"); „Tonarten" = sposoby tonov (entsprechend „lady" oder „tonal'nosti", in Übereinstimmung mit dem musikalischen Kontext); „Versetzung" = perestavka („perestanovka golosov" oder „obrascenie akkorda"); „Vorschlag" = predudarenie („forslag"). Das heißt, in der Folge 17 18 19

D o k u m e n t y (wie Anm. 7), Bd. 2, S. 323. Ebd., Bd. 1, S. 248. G . S. Lelejn (Georg Simon Löhlein), Klavirkordnaja skola, ili kratkoe osnovatel'noe pokazanie k soglasiju i melodii, Teil 1, Moskau 1773, S. 66.

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haben sich die von Hablitz vorgeschlagenen Termini (Lehnübersetzungen) in der russischen musikalischen Terminologie nicht eingebürgert. Als produktiver erwies sich der von Hablitz begangene zweite Weg: die Transkription und Russifizierung der Termini griechischer, lateinischer, italienischer oder französischer Herkunft (solcher wie „akkord", „gamma", „interval", „mazor", „minor", „transpozicija", „uvertjura", „chromatizm", „garmonizm" und weitere). Deutsche Termini kommen in der gegenwärtigen russischen Sprache deutlich weniger vor, und gewöhnlich bezeichnen sie pezifischere Begriffe als die lateinischen oder italienischen Termini: „forslag" und „nachslag" (Arten melodischer Verzierungen), „valtorna" (Waldhorn), „generalbas" (Generalbass), „minnezinger" (Minnesänger), „mundstuk" (Mundstück). Zur Bezeichnung eines musikalischen Werkes bedient sich Hablitz des schon seit langem, dem 17. Jh. ossifizierten Wortes „stuka" (Stück), das jedoch im weiteren aus der musikalischen Lexik verschwand und durch das französische Synonym „p'esa" {piece) und die russische Analogie „socinenie", „proizvedenie" ersetzt wurde. Heute kann ein Musiker in der Umgangssprache ein Werk „vesc'" (Sache, Ding), aber nicht „stuka" (Stück) nennen. Das Wort „stuka" kann nur noch als Synonym der Begriffe „einzelner Gegenstand" bzw. „Einheit von irgend-etwas" gebraucht werden (Ja vyzubril stuk desjat' etjudov = Ich habe an die zehn Stück Etüden auswendig gelernt). Nicht zufällig aber erscheint in der Ubersetzung bei Hablitz das Wort „stuka" dort, wo im deutschen Text „Stück" steht, und wird darum auch nicht zufällig später durch die andere Entlehnung „p'esa" (piece) verdrängt, weil ein genaues russisches Synonym weder im 18. Jh. existierte noch heute existiert. Hier nähern wir uns nun unmittelbar dem Problem, welches am Beginn des Beitrags erwähnt wurde: dem Wechsel im musikalischen Denken, der sich im Rußland des 18. Jh. unter dem Einfluß der westlichen Kultur vollzog. Als nach Rußland nicht nur die westeuropäische Musik eindrang, sondern auch deren Theorie und Terminologie, entstand die Notwendigkeit, eine Reihe fundamentaler Begriffe zu bestimmen und in der russischen Sprache auszudrücken, eben solcher, die ganz natürlich und elementar für einen in der europäischen Tradition erzogenen Menschen sind, in der vorangehenden russischen Musikkultur aber fehlten. Das betrifft auch den Terminus „stuka" (p'esa), d. i. ein einzelnes, abgeschlossenes, nicht allzu großes Werk, das von einem einzelnen Autor geschaffen wurde, damit es jeder, der es wünscht, spielen könne, wann immer er will. Weder in der russischen Kirchenmusik noch in der Folklore gab es etwas diesem Begriff Adäquates. Im Unterschied zur Folklore war in der Kirchenmusik die Vorstellung von ,Autorenschaft' und ,Werk' im 17. Jh. allerdings schon vorhanden, aber das ,Werk' (wenn man darunter nicht ein spezielles Genre verstand) hieß damals „pesnja" (Lied) oder „tvorenie" (Schöpfung), der Autor - „tvorec" (Schöpfer). In dem vorwärtsweisenden, vom Erneuerungscharakter durchdrungenen Traktat von N. Dileckij wird diese Terminologie konsequent beibehalten. 20 Wenn er von der technischen Seite der musikalischen Kunst spricht, nutzt Dileckij ungezwungen entlehnte Termini („dispozicija", „konkordancija", „koncert"), hält aber an der Tradition fest, sobald die Rede vom Komponisten und vom Werk ist. „Tvorenie" und „tvorec" sind nicht nur einfach hohe, erhabene Termini, sondern auch sakral angereichert, die die vorgenannten Termini ablösenden Begriffe „proizvedenie" (Werk) und „kompozitor" (Komponist) dagegen weitaus prosaischer. In dem Begriff „tvorec" erscheint der Musiker Gott selbst ähnlich, von welchem er seine Begabung erhalten hat und dem er in seinen „Schöpfungen" (tvorenija) Lob und Dank abstatten muß. „Kompozi-

20

Dileckij (wie Anm. 1), S. 66, 71, 195.

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tor" - das ist dagegen nur ein „socinitel'" (ein ,Komponist', der etwas ausdenkt, zusammenstellt); auf ihm lasten nicht so hohe Verpflichtungen, dafür aber kann er freier über sich verfügen, und seine Werke brauchen nicht „Schöpfungen", sondern können einfach „stuki" (Stücke) sein. So etwa verhielt es sich auch mit den anderen Begriffen, ζ. B. dem Terminus „takt". Er war im 17. Jh. in der russischen Kirchenmusik heimisch geworden, als auf russischem Boden unter dem Einfluß der ukrainischen und polnischen Tradition der prunkvolle Stil des Partesgesanges zur Blüte gelangte. Die Zahl der Partes erreichte in diesen Kompositionen bis zu 48, und selbstverständlich entstand dabei die Notwendigkeit der metrischen Koordination der gesamten Vertikale der Töne. Mit ähnlichen Problemen sahen sich schon die westeuropäischen Musiker des 15. und 16. Jh. konfrontiert. In der 2. Hälfte des 17. Jh. entstand aber in Europa das klassische Takt-System: alle Musik wird gedanklich in gleichgroße Zeitabschnitte eingeteilt, die eine bestimmte Zahl ausgewählter metrischer Einheiten und ein entsprechendes System von Akzenten enthalten. Die Ausprägung der Metrik der Takte wurde nicht nur durch die Entwicklung der Poliphonie, sondern auch die weite Verbreitung von Tanz- und Gesangsformen mit ihre strengen Periodik und Symetrie gefördert. Aber eben das besaß die russische Musik (und auch die Poesie) bis zur Mitte des 18. Jh. nicht. Wie der einstimmige Kirchengesang, zeichnete sich auch das Volkslied (besonders das langsame, getragene, „langgezogene" - „protjaznaja pesnja") durch das Fehlen des regulären Metrums, rhythmische Freiheit, fehlende Symmetrie des musikalischen Aufbaus und Veränderlichkeit der Akzente aus. Und selbst in der barocken Chormusik den 17. und beginnenden 18. Jh. „darf man", wie V. N. Cholopova bemerkt, „noch nicht das klassische Taktsystem erblicken, sondern nur das frühe, das noch nicht ausgereift ist und noch die Züge des Ubergangs trägt". 21 Der Begriff vom Takt war schon vorhanden, aber die Beachtung der Taktstriche galt noch nicht als obligatorisch, und dort, wo man Taktstriche gesetzt hatte, trennten sie nicht immer gleiche Abschnitte der Musik oder stimmten mit dem rhythmischen Hauptzeitwert überein. Der strenge Takt und das reguläre Metrum kamen in die russische Musikkultur zusammen mit den Menuetten, Polonaisen, Märschen und weiteren weltlichen Genres, die in der petrinischen Zeit aus Westeuropa übernommen wurden. Erst danach verstanden die russischen Musiker die Bedeutung von Takt und Metrum und eigneten sich an, was in Westeuropa als Axiom galt: „Totius Musicae anima Tactus est" (f. G. Walther, 1708) 22 . „Der Tact macht die Melodie: folglich ist er die Seele der Musik. Er belebt nicht nur allein dieselbe, sondern er erhält auch alle Glieder derselben in ihrer Ordnung." (Mozart, 1756) 23 . Im 19. und 20. Jh. erhielt sich in der russischen professionellen Musik die nationale Eigenart des Metrums und des Rhythmus (in der Vorliebe für die „musikalische Prosa" bei solchen Komponisten wie Alexander Sergeevic Dargomyzskij, Modest Petrovic Musorgskij, Dmitrij Dmitrievic Sostakovic; in der Hinwendung verschiedener Musiker von Michail Ivanovic Glinka bis Sergej Sergeevic Prokof ev zum fünfsenkigen Metrum mit fünf unbetonten Zählzeiten, die für die Volkspoesie und -musik charakteristisch ist (ebenso in der asymmetrischen, in ihren Akzenten ungleichmäßigen Rhythmik Igor Fedorovic Stravinskijs, die ebenfalls auf die Tradition der Folklore zurückgeht). Jedoch ohne die Aufnahme der westeuropäischen Begriffe vom musikalischen Metrum durch die russische 21 22

23

V. N . Cholopova, Russkaja muzykal'naja ritmika, Moskau 1983, S. 94. Johann Gottfried Walter, Praecepta der musikalischen Komposition (1708), Hg. P. Benary, Leipzig 1955, S. 33. Leopold Mozart, Gründliche Violinschule (1756), Augsburg 2 1769, S. 27.

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Musik hätten schwerlich die großen Formen der Oper, schwerlich sinfonische Formen entstehen können, deren Aufbau sich auf die Prinzipien des Gleichmaßes und der Wiederholung stützt. Im übrigen vollzogen sich analoge Veränderungen im 18. Jh. auch im russischen Versbau, welcher seit den Zeiten Michail Vasil'evic Lomonosovs syllabotonisch wurde und sich auf Strophen mit einer bestimmten Metrik und systematischen Rhythmisierung stützt. Es läßt sich daher sagen, daß sich in der Mitte des 18. Jh. in Rußland das musikalisch-poetische „Gehör" der Nation veränderte, was die weitere Entwicklung der russischen Kultur entscheidend bestimmt hat. Indem wir nun zur Ubersetzung der Clavier-Schule Löhleins zurückkehren, verweilen wir noch etwas bei einem wichtigen Begriffspaar: bei Dur und Moll. Wie auch der Begriff des Taktes waren sie weder der Kirchenmusik noch der russischen Volksmusik eigen. Im Kirchengesang herrschte das alte System der „Glasy" (,Stimmen' = authentische Tonarten der abendländischen Kirche), die aus der byzantinischen Tradition hervorgingen und sich sogar von den mittelalterlichen westeuropäischen Kirchentonarten stark unterschieden. Die Volksmusik wiederum hatte ihre eigenen Tonarten, die manchmal an die europäischen Töne (Modi) erinnerten, aber mit ihnen nicht identisch waren. Dileckij benutzte in seinem Traktat die Termini „veselaja muzyka" (fröhliche Musik), „veseloe penie" (fröhlicher Gesang) und „pecal'naja muzyka" (traurige Musik), „pecal'noe penie" (trauriger Gesang), die sich in der Bedeutung den Begriffen Dur und Moll nähern; eine volle Ubereinstimmung gibt es hier jedoch nicht, denn: erstens, verweisen Dileckijs Termini auf den gewünschten Ausdruck bzw. die gewünschte Ausdruckstonalität der Melodie, nicht aber auf ihre Tonleiter; zweitens, gibt es neben dem „fröhlichen" und dem „traurigen" in der Theorie Dileckijs auch noch das „smesanoe penie" („gemischter Gesang"), d. i. die Vereinigung bzw. Vermischung von Dur und Moll in einer Melodie.24 Endlich teilte Dileckij den „veselyj ton" (fröhlichen Ton) noch einmal in zwei Varianten - den „mirskoj ton" (weltlich-fröhlichen Ton), der den Körper erfreut, und den fröhlichen Ton „dlja dusi" („für die Seele"), der dem Kirchengesang zugeordnet wird. 25 Folglich entspricht Dileckijs System mehr dem russischen als dem westeuropäischen tonalen Denken. Denn gerade für die russische Musik ist im besonderen der „gemischte Gesang" charakteristisch, für den sich später der Begriff „peremennyj lad" (variable Tonalität) durchsetzte. Diese Besonderheit bemerkten viele Europäer, als sie russische Lieder kennenlernten: „ . . . ist dies eigene in ihren Volksgesängen, daß sie fast alle in Dur beginnen und in Moll enden. - Man kann eben nicht sagen, daß es eine schlimme Wirkung tut, zumal wenn der Gesang richtig vorgetragen wird, indes ist es doch der Natur der Melodik nicht immer angemessen". 26 Diese letzten Worte aus dem Urteil von Daniel Friedrich Schubart hätten beinahe von jedem westeuropäischen Musiker der 2. Hälfte des 18. Jh. gesagt sein können, jener Zeit, als sich in Theorie und Praxis der Vorrang des „harten" Tongeschlechts (Dur) gegenüber dem „weichen" (Moll) durchsetzte. Deshalb wird auch in der Clavier-Schule von Löhlein, deren 1. Ausgabe im Jahre 1765 erschien27, den Musiklehrern folgender Rat gegeben: die Schüler am Unterrichtsbeginn nicht nur mit Stücken „aus Durtönen" bekanntzumachen, sondern auch mit Stücken in Moll, damit ihr Gehör sich sogleich an eine gewisse Unvoll-

24 25 26

27

Dileckij (wie Anm. 1), S. 38, 169. Ebd., S. 208. Christian Friedrich Daniel Schubart, Ideen zu einer Aesthetik der Tonkunst (1784), Hg. J. Mainka, Leipzig 1977, S. 193. Georg Simon Löhlein, Clavier-Schule, oder Kurze und gründliche Anweisung zur Melodik und Harmonie, Leipzig / Züllichau 1765.

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kommenheit der letzteren gewöhne. In der Übersetzung von Hablitz werden ja, wie bereits gesagt, Worte lateinischer Herkunft (im Unterschied zu den deutschen) nicht lehnübersetzt, sondern transkribiert oder so reproduziert, wie sie im Original gedruckt sind. Darum finden wir für „Dur- und Molltöne" folgende Varianten: «yp und MOJib (Transkription), modus durus vel maior, modus mollis vel minor (textuale Ausführung); „krepkij ton" (harter Ton), „mjagkij ton" (weicher Ton) (Übersetzung).28 Aus irgendeinem Grunde bevorzugten auch andere Übersetzer ausländischer Lehrwerke zur Musik, nach Hablitz, die Variante der Transkription „nyp" und „ M O J i b " , obwohl sie, aus der Sicht des heutigen wie des damaligen Lesers, nicht besonders günstig ist. Heute sind diese Termini weit verbreitet, werden aber im allgemeinen lateinisch wiedergegeben (C-Dur, Α-Moll etc.), in russischer Schreibweise sind „mazor" und „minor" in Gebrauch. Grund dafür ist, daß die Worte „flyp" und „ M O J i b " (in Kyrillica geschrieben und dekliniert wie Substantive oder Adjektive) notgedrungen zweideutig klingen. Das Wort „dur" (kyrill.) sieht wie ein Genitivus pluralis des Schimpfwortes „dura" („Närrin", „dumme Gans") aus, und „mol'" (kyrill.) wie der Nominativ von „mol'" („Motte"). Deshalb klingen die in Hablitz' Übersetzung vorkommenden Ausdrücke „tony iz dury" und „tony iz moli" im Russischen reichlich komisch. „Veselaja" und „pecal'naja muzyka" (fröhliche und traurige Musik) scheinen Dileckij weit natürlichere und ausdrucksstärkere Kennzeichnungen zu sein als die Begriffe Dur und Moll; doch sie haben sich aus unterschiedlichen Gründen in der russischen musikalischen Terminologie nicht behauptet. Die Veröffentlichung der Clavier-Schule von Löhlein hatte große Bedeutung für die Entwicklung des professionellen und laienhaften Musikschaffens in Rußland. Bis zum Beginn des 19. Jh. blieb diese Schule das einzige Lehrbuch für das Klavierspiel in russischer Sprache. Wie Vol'man feststellte, war sie wahrscheinlich in einer beträchtlichen Auflagenhöhe erschienen, weil sie noch im Jahre 1803 in St. Petersburg mit Preisnachlaß verkauft wurde.29 Im übrigen wäre denkbar, daß ein anderer Grund dafür nicht nur die umfangreiche Auflage und der hohe Preis (10 Rubel) der ersten Ausgabe war, sondern auch die große Zahl guter ausländischer Musiklehrer in der russischen Hauptstadt, die möglicherweise aus dem Ausland andere Lehrmaterialien mitbrachten oder einfach mündlich unterrichteten. So war die Schule Löhleins ungeachtet ihrer Popularität und Unikalität am Ende des 18. Jh. keineswegs die einzige Quelle theoretischer Kenntnisse über Musik für die russischen Leser. Wer Fremdsprachen beherrschte, konnte auch originale Abhandlungen nutzen; und auch in der russischen Sprache wuchs in den 1780 / 90er Jahren das Angebot an vielfältiger Literatur über Musik deutlich an. Es ist für uns heute schwierig zu beurteilen, aus welchen Gründen man damals für die Übersetzung ins Russische das eine oder andere Werk ausgewählt hat. Im allgemeinen jedoch ist uns die Logik, von der sich die Verleger leiten ließen, durchaus verständlich. Aus einem sehr großen Kreis zur Verfügung stehender Traktate wurden ausgewählt: Erstens, die bereits verbreiteten, anerkannten sowie von den Musikern geschätzten Arbeiten; zweitens, solche, die den Charakter von Kompendien, also gedrängten Darstellungen gründlicher und ausführlicher Lehrwerke trugen. Ein solches Kompendium war die Schule von Löhlein, in welcher in populärer Form die Gedanken von Carl Philipp Emanuel Bach aus dem „Versuch über die wahre Art, das Klavier zu spielen" (1753 und 1762) und Georg Andreas Sorges „Compendium harmonicum" (1760) zur Darstellung gelangten. Ahnlich verhielt es sich offensichtlich auch mit der Entscheidung, David Kellners „Treulichen Unterricht im General-Bass" (Hamburg 1738) zu übersetzen. Diese Abhandlung 28 29

Lelejn (wie Anm. 19), S. 20, 82, 172. Vol'man (wie Anm. 9), S. 59.

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brachte ihrem Verfasser europäische Anerkennung und wurde im 18. Jh. wiederholt aufgelegt, obwohl sie nicht absolut originell war. Kellner selbst verheimlichte nicht, daß er sich auf Johann David Heinichens „Der General-Bass in der Composition" (1728) stützte. Nach Kellner erschienen in deutscher Sprache dann noch andere Arbeiten zum GeneralBass, doch hatte man ihn offensichtlich ausgewählt, weil sein Werk die solideste und bewährteste Quelle war. Das Titelblatt der russischen Ausgabe des Kellnerschen Werkes lautet: „Zuverlässige Belehrung in der Ausführung des General-Basses, wobei unter Vermeidung alles Uberflüssigen und Umschweifigen alle neuen Verfahren klar und ausführlich dargestellt werden, mit deren Hilfe jeder in kurzer Zeit alles zu dieser Wissenschaft gehörige mit Erfolg verstehen kann, zum Nutzen und zur Anwendung nicht nur für die sich im General-Bass übenden, sondern die Spieler aller Instrumente, welche die Gesangskunst und gründliche Kenntnis der Musik erwerben wollen. Verfaßt von Herrn D. Kellner. Ubersetzt aus dem Deutschen ins Russische von N. Zubrilov. Moskau. In der Universitätsdruckerei bei V. Okorokov, 1791". Der Architekt Vasilij Ivanovic Okorokov war Wewer als Pächter der Druckerei der Moskauer Universität nachgefolgt und hatte von ihm die Notenschrift übernommen, die es ermöglichte, musikalische Ausgaben zu drucken. Vom Ubersetzer des Kellnerschen Traktats kann man sagen, daß er insgesamt den gleichen Grundsätzen wie Hablitz folgte. Seine Ubersetzung ist gewissenhaft und sauber ausgeführt, ebenso wie bei Hablitz werden deutsche Termini übersetzt, lateinische und italienische entweder transkribiert oder wie im Original wiedergegeben. Im Unterschied aber zum rührenden Bemühen Hablitz', alles zu russifizieren, offenbart Zubrilov im Hinblick auf die russische Sprache eine größere Freiheit und gleichzeitig eine geringere Nachdenklichkeit. Zwei Grundmängel dieser Übersetzung werden beim aufmerksamen Lesen und Vergleich mit anderer in russischer Sprache herausgegebener musikwissenschaftlicher Literatur vom Ende des 18. Jh. erkennbar: Erstens, der Eindruck, daß der Übersetzer sich in Fremdsprachen, außer dem Deutschen, nicht sehr gut auskennt, und zweitens, daß er mit der musikalischen Praxis nicht so vertraut ist, um aus mehreren möglichen Varianten den jeweils gebräuchlichsten und dem Wesen der Sache am besten entsprechenden Terminus auszuwählen. So finden wir ζ. B. im § 24 folgenden Satz: „Rezitative kommen in Kante, Soliloquien, Serenaden, Oratorien, Schäferliedern und Opern zur Anwendung."30 Dabei verwechselt der Übersetzer offensichtlich „Kantate" und „Kant" (ein dreistimmiges Strophenlied). Wenn jedoch in Kantaten Rezitative wirklich zur Anwendung gelangen, so kommen sie in Chorliedern vom Typ des Cantus eben nicht vor. Verwunderung können beim Leser auch die Rezitative in „Schäferliedern" hervorrufen - gemeint ist dabei aber das spezielle musikalisch-dramatische Genre der Pastorale. Neben dem „Generalbassisten" und dem „Vokalisten" kommt in der Übersetzung Zubrilovs auch der „Kompanist" („Komponist") vor. Es ist natürlich einzusehen, daß die russische Sprache anstelle des alten „tvorec" („Schöpfer") einen entsprechenden neuen Terminus benötigte, doch die von Zubrilov vorgeschlagene Variante ist offensichtlich unbefriedigend, weil sie mehr an „akkompanirovat'" (jem. auf dem Instrument begleiten) und „kompanija" („Gesellschaft") erinnert als an „kompozicija" („Komposition", obwohl auch dieses Wort bei Zubrilov vorkommt). Eine eigenartige Inkonsequenz erkennen wir auch in der Übersetzung der Bezeichnungen der Dur- und Molltöne. Einerseits folgt Zubrilov dem Beispiel Hablitz', wenn er „dur" und „mol'" wie Substantive dekliniert („ton dura i molja" - „ein Ton in Dur,

D. Keiner [David Kellner], Vernoe nastavlenie ν socinenii general-basa, Moskau 1791, S. 23.

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ein Ton in Moll") und den komischen Klang solcher Ausdrücke wie „dvenadcat* dur i dvenadcat' moP tonov", wörtl.: die zwölf Närrinnen / dummen Gänse und zwölf Molltöne nicht bemerkt. Andererseits beläßt Zubrilov bei der Aufzählung dieser 24 Töne die wörtlichen Bezeichnungen in lateinischer Schreibweise, schreibt „Dur" und „Moll" aber in Kyrillisch: C-flyp, D-MOJII> usw. (s. Abb. Quintenzirkel, Illustr. Nr. 2). Natürlicher wäre es gewesen, eines von beiden vorzuziehen: also entweder C-Dur, D-Moll oder „ßo Maacop", „pe MHHop" (Do maggiore, Re minore). Die Worte „mazor" (maggiore, Dur) und „minor" (minore, Moll) und auch die Silbenbezeichnungen der Noten waren zu diesem Zeitpunkt in russischer Sprache schon bekannt (außer der Note „do" (Do), die im 18. Jh. ungebräuchlich war; stattdessen schrieb und sprach man „ut" - in Ubereinstimmung mit der westeuropäisch-mittelalterlichen Tradition.) Ungeachtet einiger Schwächen der Ubersetzung von N. Zubrilov bedeutete die Herausgabe des Werkes von Kellner in russischer Sprache einen weiteren Schritt auf dem Wege der musikalisch-theoretischen Bildung Rußlands, wurden doch in diesem Buch nicht nur die Grundlagen des musiktheoretischen Wissens, sondern auch einige Regeln der Komposition dargestellt. Der Traktat Kellners selbst, der sich auf die musikalische Praxis des ersten Drittels des 18. Jh. stützte, veraltete gegen Ende des Jahrhunderts offensichtlich, und der Begriff vom General-Bass verlor allmählich seine Bedeutung. Gegen Ende des 18. Jh. veränderte sich die Situation Rußlands im Hinblick auf die Verbreitung unterschiedlicher musikalischer Ausgaben im Vergleich zu den 70er Jahren in beträchtlichem Maße. Es wurden jetzt in bemerkenswerter Zahl Noten gedruckt (im wesentlichen Lieder- und Romanzensammlungen in russischer Sprache, aber auch Instrumentalstücke für Liebhaber); in Zeitschriften und Almanachen erschienen unterhaltsame Aufsätze über Musik, ebenso die ersten, von Russen geschriebenen Lehrbücher für den Musikunterricht, so die „Geigenschule" von Ivan Astachov (1784) und „Die Belehrung für Knaben zum Erlernen des Singens nach Noten" von Dem'jan Petrun'kevic (1793). Selbst ein kurzer Uberblick über das, was damals in russischer Sprache erschienen ist, würde uns weit vom Thema unserer kurzen Skizze entfernen. Lediglich eine - und nicht einmal die wichtigste - Publikation wollen wir anführen, weil sie zu unserem Thema eine direkte Beziehung hat. Im Jahre 1792 kam der Musikverleger Johann Daniel Gerstenberg (1758-1841) aus Kiev nach St. Petersburg. Ihm war es gelungen, sein Unternehmen auf eine breite Basis zu stellen und mit Energie zu betreiben. Unter den zahlreichen Titeln Gerstenbergs befand sich auch der erste russische speziell musikalische Almanach „Handbüchlein für Musikliebhaber" (zwei Folgen, für das Jahr 1795 und das Jahr 1796). Die erste Folge dieses Almanachs ist dadurch bemerkenswert, daß in ihr kurze Lebensbeschreibungen „berühmter Musiker" erschienen, so von Johann Sebastian Bach, Carl Philipp Emanuel Bach, Wolfgang Amadeus Mozart, Ignaz Pleyel und Josef Haydn. Wir wissen nicht, wer der Autor / die Autoren dieser Artikel waren - wie alle weiteren Materialien in beiden Almanachen Gerstenbergers sind sie nicht namentlich gekennzeichnet. Doch scheinen auf jeden Fall zwei Schlußfolgerungen möglich. Erstens, legt schon die Auswahl der Namen, die dem russischen Leser nahegebracht werden, Zeugnis ab vom anspruchsvollen Geschmack des Autors (vielleicht ging hier die Initiative tatsächlich von Gerstenberg aus, der eine breite und gründliche musikalische Bildung besaß). Mehr als das, obwohl in der Uberschrift alle genannten Komponisten gleichermaßen als „sehr berühmt" bezeichnet werden, gibt es zwischen ihnen offensichtlich keine volle Gleichheit. Wenn Johann Sebastian Bach ζ. B. „ein großer Komponist" genannt wird, so heißt es von Pleyel lediglich, daß er „vom größeren Teil des Musikpublikums" geliebt werde. Die Beziehung zu Carl Philip Emanuel Bach ist achtungsvoll, aber nicht übersteigert. Dafür werden Mozart und Haydn wiederholt „große

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Männer" genannt (besonders über Mozart wird gesagt: „dieser große Mann und meisterhafte Künstler"; über Haydn, daß „man ihn unter die größten Männer unserer Zeit einreihen könne".) 31 Zweitens, ist zu vermerken, daß der Autor zwar seine persönlichen Sympathien nicht verheimlicht, sich aber gleichwohl nicht von den mehr oder minder zutreffenden Quellen entfernt. Die „Lebensbeschreibungen" Gerstenbergs waren in bedeutendem Maße Übersetzungen. So wird zweifellos jeder Bachkenner, der mit den Papieren des Komponistenlebens Vertraut ist, im Text der Almanach-Biographie Fragmente aus dem Nekrolog auf J. S. Bach erkennen, den C. Ph. E. Bach und I. F. Agricola geschrieben und 1754 in L. Mizlers „Musikalischer Bibliothek" veröffentlicht haben. Hier ζ. B. der Text des Nekrologs: „Hat jemals ein Componist die Vollstimmigkeit in ihrer größten Stärke gezeiget; so war es gewiss unser seeliger Bach. H a t jemals ein Tonkünstler die verstecktesten Geheimnisse der Harmonie in die künstlichste Ausübung gebracht; so war es gewiss unser Bach. Keiner hat bey diesen sonst trocken scheinenden Kunststücken so viele Erfindungsvolle und fremde Gedanken angebracht, als eben er. E r durfte nur irgend einen Hauptsatz gehöret haben, um fast alles, was nur künstliches darüber hervor gebracht werden konnte gleichsam im Augenblicke gegenwärtig zu haben. Seine Melodien waren zwar sonderbar; doch immer verschieden, Empfindungsreich, und keinem andern Componisten ähnlich. Sein ernsthaftes Temperament zog ihn zwar vornehmlich zur arbeitsamen, ernsthaften, und tiefsinnigen Musik; doch konnte er auch, wenn es nöthig schien, sich, besonders im Spielen, zu einer leichten und schertzhaften Denkart bequemen. 3 2 Im Vergleich dazu der Text des „Almanachs": „Dieser Mann trug alle Qualitäten und Vollkommenheit vieler großer Musiker in sich. E r konnte die Vollstimmigkeit in ihrer größten Stärke hervorbringen. Die verstecktesten Geheimnisse der Harmonie brachte er in der künstlichsten Ausübung hervor. Es genügte ihm, ein beliebiges musikalische Thema oder ein kleines Stück einer Musik zu hören; das war für ihn ausreichend, alles das zu überschauen, was man darin an künstlichem hervorbringen konnte. Seine Melodien sind sehr sonderbar, aber immer originell und verschieden. Der ernsthafte Charakter dieses Mannes verband ihn mit einer arbeitsamen, männlichen und tiefsinnigen Musik, doch hat er auch Fähigkeiten für eine leichte und scherzhafte Musik besessen." 3 3

Der Vergleich der beiden Texte kann den Anschein erwecken, daß die russische Ubersetzung manchmal ungenau ist, doch tragen alle Abweichungen vom Original einen durchdachten und keineswegs zufälligen Charakter. Der Verfasser des russischen Textes reproduziert keineswegs den Stil des Nekrologs mechanisch nach, sondern schafft auf seiner Grundlage ein anderes Genre, adressiert an einen anderen Leser, in dessen Vorstellung das Bild des „angeeigneten J. S. Bach" - „unseres Bach" - noch nicht existierte. Im letzten Satz des angeführten Zitats ist der Ubersetzer nicht einfach genau, sondern peinlich genau: er korrigiert sogar den stilistischen Mangel des Originals, in dem er das doppelt vorkommende Wort „ernsthaft" mit zwei verschiedenen Adjektiven - „ernsthaften Charakter", aber „männliche Musik" - wiedergibt. In den Lebensbeschreibungen der Komponisten im Almanach Gerstenbergs verbinden sich verschiedene Prinzipien der Auswahl und Bearbeitung des Materials miteinander: die exakte Ubersetzung der einschlägigen Passagen, die freie Wiedergabe oder gar Nacherzählung anderer Texte; schließlich Kompilation und Hinzufügung eigener Bewertungen und Urteile. Wir können nicht immer genau bestimmen, woher welche Materialien übernommen wurden. Der russische Text der Lebensbeschreibungen ist jedenfalls so leicht und

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Karmannaja kniga dlja Ijubitelej muzyki na 1795 god, St. Petersburg 1795, S. 10, 18, 21. Johann Sebastian Bach, Leben und Werk in Dokumenten, Hg. H.-J. Schulze, Leipzig 2 1975, S. 193. Karmannaja kniga (wie Anm. 31), S. 5.

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glatt, daß die „Nähte" einfach nicht feststellbar sind. Nur das erfahrene Auge des Musikwissenschaftlers könnte wohl sofort die Stücke sehr bekannter Stellen erkennen, die in den Stoff des einen oder anderen Artikels „eingewebt' wurden (neben dem schon zitierten Fragment aus dem Nekrolog J. S. Bachs ist das ζ. B. ein Abschnitt aus einer autobiographischen Notiz von Haydn, veröffentlicht 1778 im Lexikon „Das gelehrte Oesterreich", die im 18. Jh., soweit uns bekannt, nicht wieder herausgegeben wurde)34. Hinweise auf die Quellen werden in diesem Falle nirgendwo gegeben, obwohl sie, wie man sich leicht überzeugen kann, sehr sorgfältig gelesen und ausgewählt wurden. Im „Handbüchlein für die Liebhaber der Musik auf das Jahr 1796" war die Galerie der Porträts herausragender Komponisten durch die Biographien von Antonio Lolli, Johann Franz Xaver Sterkel, Leopold Kozeluch und Christoph Willibald Gluck ergänzt worden. Die erste und umfangreichste Lebensbeschreibung aber war der Sängerin Elisabeth Mara gewidmet. Deshalb ist es wohl kaum eine Ubertreibung zu behaupten, daß in den beiden Folgen des Gerstenbergschen Almanachs der erste Versuch unternommen wurde, in russischer Sprache eine persönliche Vorstellung der berühmtesten Musiker des 18. Jh. vorzulegen eine Art Geschichte der neuen europäischen Musik von Johann Sebastian Bach bis zu dem noch lebenden und schaffenden Joseph Haydn. In demselben Almanach auf das Jahr 1796 erschien auch die „Einführung aus einer kurzen Schule des Spiels auf dem Klavichord" - ohne Hinweis auf den Autor oder den Namen des Ubersetzers, doch mit feinsinnigen und vielversprechenden Anmerkungen der Herausgeber, in denen angedeutet wurde, daß der dem Leserurteil anempfohlene Abschnitt aus einem „ganzen Buch" genommen sei, dessen Verfasser „von allen Ausländern als ein in Theorie und Praxis großer Künstler anerkannt" sei. Die Redaktion des Almanachs begründete ihre Publikationsabsicht folgendermaßen: „Bis heute gibt es in dieser Art kein gutes Buch in russischer Sprache. Die Klavichord-Schule von Löhlein ist alt; die Musik hat sich seit der Herausgabe dieses Buches weiter entwickelt - Figuren und Zeichen sind in ihr mehr geworden, und darüber hinaus ist dieses Buch für einen größeren Teil des Publikums nutzlos, weil alle Beispiele im Diskant-Schlüssel geschrieben wurden." 35 Von russischen Musikwissenschaftlern wurde schon seit langem festgestellt, daß das von Gerstenberg so geheimnisvoll vorgelegte Fragment eine Ubersetzung einzelner Paragraphen aus der „Einführung" zu Daniel Gottlob Türks Klavierschule von 1789 war.36 Diese Schule war wohl tatsächlich eine der besten Anleitungen zum Klavierspiel aus dem Ende des 18. Jh. und ihr Autor als Komponist ebenso bekannt wie als Musiktheoretiker. Eine vollständige Übersetzung der Klavierschule Türks am Ausgang des Jahrhunderts wäre zweifellos eine Sensation gewesen. Doch eine solche kam nicht zustande. Möglicherweise gelang es aus einem sehr einfachen Grunde nicht, das Interesse der Leser für die Klavierschule Türks zu wecken: die Ubersetzung der Auszüge, die im Almanach Gerstenbergs erschienen waren, vermittelten einen völlig verkehrten Eindruck vom Original. Der anonyme Ubersetzer unterbreitete dem Leser nämlich nicht den Text des Originals (wie das Hablitz und Zubrilov gewissenhaft getan hatten), sondern sein eigenes, thesenhaftes Konspekt von Türks Text. Augenscheinlich aber waren die Absichten, von denen sich der Ubersetzer leiten ließ, aber die allerbesten, nämlich, die Darstellung möglichst leichtverständlich und populär zu

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Joseph Haydn, Gesammelte Briefe und Aufzeichnungen, Hg. D. Bartha, Budapest 1965, S. 78 f. Karmannja knizka dlja ljubitelej muzyki na 1796 god, St. Petersburg 1796, S. 20. Vol'man (wie Anm. 9), S. 105.

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gestalten (da der Almanach von einer größeren Zahl musikinteressierter Damen, Fräuleins und sogar Kindern gelesen wurde). Doch das Resultat konnte nicht überzeugen: der Reichtum an historischem und faktologischem Material, die theoretische Fundierung jeder These und die angebliche Gründlichkeit, die den Text der Türkschen Schule charakterisierten, gingen im Ergebnis der konspektiven „Übersetzung" verloren, und in der reduzierten Fassung unterschieden sich die Ideen Türks nicht allzu wesentlich von den „veralteten" Ideen Löhleins. Türk selbst hatte freilich mit Einschränkung betont, daß sein Text sich an drei Hauptgruppen von Lesern richte: das Großgeschriebene - an alle, einschließlich der Schüler; die Anmerkungen - überwiegend an die Musiklehrer; das Kleingeschriebene und die Randnotizen (gekennzeichnet mit * oder **) aber seien Details, „welche dem forschenden Musiker Stoff zum weiteren Nackdenken über diesen oder jenen Gegenstand geben können". 37 Im russischen Text der „Einführung" waren alle vorgeblich „überflüssigen" Stellen des Originaltextes weggelassen, weshalb dann auch der vorgelegte Text wie einer aus einem völlig anderen Buch anmutete, das nicht im Stile einer wissenschaftlichen Abhandlung, sondern im Ton eines leichten mondänen Geplauders abgefaßt war. In der „Einführung" waren der § 1 und der § 2 völlig weggelassen, in denen die Arten der Tasteninstrumente aufgezählt und beschrieben waren; der § 3, der sich eigentlich auf das Klavier bezog, war in der Ubersetzung auf zwei Sätze gekürzt worden. Auch der weitere Text hatte Kürzungen und Umstellungen erfahren. Dieser seltsame „Versuch" hätte wahrscheinlich keinerlei besondere Aufmerksamkeit geweckt, wenn hinter ihm nicht eine besondere Position erkennbar geworden wäre. Diese bestand darin, daß es der Aneignung der deutschen Musikkultur zuliebe darauf ankam, deutsche Texte nicht einfach ins Russische zu übersetzen, sondern sie vollends zu,eigenen', (Unverwechselbar russischen' Mustern zu machen, die von russischer Zeitschriften- oder didaktischer Prosa nicht mehr zu unterscheiden waren. In beiden Folgen des Almanachs von Gerstenberg scheint diese Tendenz vorzuliegen; d. h., der mit den Primärquellen nicht vertraute Leser konnte und sollte nicht auf die Idee kommen, daß er eine Ubersetzung oder Kompilation in der Hand hält. Auch zu diesem Zweck waren alle Materialien anonym gehalten, wodurch das gesamte Werk das Aussehen einer Sammlung ,allgemeingültiger' Meinungen über die Geschichte und Theorie der Musik erhält. Der letzte Traktat, der hier betrachtet werden soll, ist Leopold Mozarts „Gründliche Violinschule". Die Übersetzung dieses bedeutenden Werkes wollte schon Ch. L. Wewer in den 1770er Jahren veröffentlichen; die wißbegierigsten und gebildetsten Musiker aber machten sich mit der Schule Mozarts zweifellos auch im Original vertraut.38 Die russische Ausgabe erschien unmittelbar zu Beginn des 19. Jh. u. d. T. „Gründliche Violinschule des H(errn) Mozart. Mit drei Figuren/Abbildungen und einer Tabelle. Übersetzt aus dem

37 38

Daniel Gottlob Türk, Klavierschule, Leipzig-Halle 1789, S. 1. In der Abteilung Rara der Bibliothek des Moskauer Konservatoriums findet sich ein Exemplar von Leopold Mozarts „Violinschule" (Augsburg 1769). Die Schicksale dieses Werkes kann man zum Teil aus den Bemerkungen erschließen, die die einstmaligen Besitzer auf dem Umschlagdeckel angebracht haben. Sie lauten: „Witebskij 3 May 1829 (Johan Vogel)"; „Riga am 5. November 1853 Κ. H . Weber". D e m Titel wurde dann in russischer Sprache die Erklärung angefügt, die in deutscher Ubersetzung lautet: Diese Violinschule Leopold Mozarts wurde der Bibliothek des Moskauer Konservatoriums als Zeichen der Verbundenheit und Hochachtung als Geschenk überreicht von dem ehemaligen Lehrer am Moskauer Konservatorium ( 1 8 6 6 - 1 8 7 0 ) , Musikinspektor am Marien-Institut in Moskau ( 1 8 6 7 - 1 8 7 7 ) , Direktor der Saratover Abteilung an der Kaiserlich Russischen Musikalischen Gesellschaft und der ihr angeschlossenen musikalischen Klassen ( 1 8 7 7 - 1 8 8 1 ) , dem heutigen Musiklehrer am Tambover Alexander-Institut für adlige T ö c h t e r (seit 1881), dem Kollegienassesor und Kavalier K. Ju. Weber. Tambov, 8. Februar 1 8 9 6 " .

Russische Übersetzungen deutschen Musikschrifttums

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Deutschen nach der letzten Ausgabe von Pavel Torson. Gedruckt mit Genehmigung des St. Petersburger H(errn) Zivil-Gouverneurs. In St. Petersburg an der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, 1801." Leider ist es uns nicht gelungen, irgendwelche Hinweise auf die Person des Ubersetzers Pavel Torson ausfindig zu machen. Was seine Arbeitsgrundsätze betrifft, so sind sie häufig denen ähnlich, die am Beispiel des Textes des Almanachs von Gerstenberg aufgezeigt wurden. Weder auf dem Titelblatt noch in einem Vorwort oder einer speziellen Anmerkung wurde darauf hingewiesen, daß bei der Ubersetzung am Text des Originals Kürzungen oder Veränderungen vorgenommen wurden - aber gerade das wurde getan. Uns wird daher in erster Linie der Charakter dieser Kürzungen und Veränderungen interessieren. Das Werk Leopold Mozarts, das am Ausgang der Barockepoche und unmittelbar am Beginn der klassischen Epoche entstand, trägt deutliche Zuge eines „gelehrten" Traktats über die Musik, und sein Autor ist offensichtlich stolz nicht nur auf seine musikalische Erudition, sondern auch auf seine philosophisch-philologische Bildung (wir erinnern daran, daß L. Mozart Universitätsbildung und den Grad eines Bakkalaureus der Philosophie besaß). In der russischen Ubersetzung gewinnt der Traktat die Form eines einfachen Lehrbuchs, einer Anleitung zum Violinspiel; sein „gelehrter" Charakter wird dabei als überflüssig und für den die Musik praktisch Ausübenden unnütz beiseite gelassen. Das Buch verliert somit die Ähnlichkeit mit sich selbst, und dem russischen Leser wird eigentlich nicht der Text von Mozarts Werk, sondern der eines anderen Traktats vorgelegt. In der Petersburger Ausgabe von 1801 vermissen wir auch und ganz besonders die schöne Gravüre auf dem Frontispiz, die den Autor der Arbeit selbst mit der Geige in der Hand darstellt und die programmatische, wenn nicht gar symbolische Bedeutung besitzt: rechts von L. Mozart ist ein Bündel musikalischer Werke des „hohen" Stils zu sehen, die in Kirchen oder im Theater zur Aufführung gelangten („Sinfonia, Offertorium /, Fuge, Trio, Pastorella di Leop. Mozart"); links - Werke unterhaltenden Charakters („Divertimento, „Marsch"). Diese Hierarchie der musikalischen Stile und Genres, die in der westeuropäischen Musik bis zum Ende des 18. Jh. Gültigkeit besaß, sagte dem russischen Leser nichts, und schwerlich konnte einer beim Betrachten der Gravüre sagen, warum die eine Gruppe von Werken rechts, die andere links angeordnet war. Unter dem Porträt befindet sich, von einer Vignette umgeben, ein Epigraph - Zitat aus Pseudo-Ciceros „Rhetorica ad Heren-

nium" (Convenit igitur in gestu rtec venustatem conspicuam, nec twrpitudinem esse, ne out

histriones, out operarii videamur esse; Lib. 3, XV) (Übersetzung: Es ist also angemessen, in der Haltung nicht Eitelkeit noch Qual auszudrücken, damit wir nicht den Eindruck von Schauspielern oder Tagelöhnern erwecken). Dazu ist es interessant anzumerken, daß die 1774 in Moskau bei Ch. L. Wewer herausgegebene „Kurze Darstellung aller Wissenschaften, zum Gebrauch für die Jugend" (Text parallel in Französisch und Russisch) ebenfalls mit zwei Epigraphen aus Cicero ausgestattet war, deren zweites (ein Fragment aus der Rede „Pro Archia poeta", 7: „Haec studia adolescentiam alunt", etc.) in die russische Literatur in der glänzenden Übertragung Μ. V. Lomonosovs (Ode auf Kaiserin Elizaveta Petrovna 1747, Strophe 23, Verse 221-230) Eingang gefunden hat: „Nauki junosej pitajut . . (Übers.: „Die Wissenschaften nähren (bilden) die jungen Männer (Jugend)..."). Da für L. Mozart die Musik noch „Wissenschaft" und sehr nahe Verwandte der Rhetorik blieb, wirkte das Zitat aus der „Rhetorica ad Herennium" in seinem Lehrbuch völlig natürlich. Aber in Rußland war die Situation der Musik eine andere. Die von Wewer herausgegebene „Kurze Darstellung der Wissenschaften" ist ein allgemeinbildendes Lehrbuch, das zunächst keine musikwissenschaftlichen Darlegungen enthielt: diese wurden erst in die 2. Auflage des Werkes eingefügt, und auch da mußte man noch beweisen, daß es für junge

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Adlige und Höhergestellte „angemessen und zudem nützlich sei"39, Kenntnisse über Musik zu erwerben. Folglich fiel es an der Schwelle vom 18. zum 19. Jh. niemandem ein, beim Unterricht in Violinspiel an die Autorität Ciceros zu appellieren. Rhetorik und Musik befanden sich auf verschiedenen „Ebenen" der Kultur. In der Ubersetzung Torsons waren auch das Vorwort des Autors weggelassen, der Text der „Einführung" und teilweise der nachfolgenden Kapitel verändert und gekürzt worden. Besonders hatte sich der Ubersetzer mit der „Redigierung" der Paragraphen der „Einführung" abgemüht, in denen die Ansichten der Alten über die Herkunft der Musik, deren Geschichte, die Musiktheorie vergangener Jahrhunderte und die Beschaffenheit der Saiteninstrumente der Antike abgehandelt wurden. Freilich hatte L. Mozart am Beginn seines historischen Exkurses selbst gewarnt, daß man „hier in der That mehr fabelhaftes als wahrscheinliches finde", doch hielt er es, als er die Etymologie des Wortes „Musik" erklärte und die Geschichte der Erfindung der Geige durch den Gott Hermes darstellte, für dringend geboten, sich auf griechische und lateinische Schriftsteller und solide wissenschaftliche Quellen zu stützen. Diese ganze „Weisheit" wurde in der russischen Übersetzung gestrichen (man vergleiche das Ende der §§ 6 und 7 im Original und in der Übersetzung; Illustrationen 3 und 4). Im Ergebnis entstand beim Leser der Übersetzung der Eindruck, daß Mozart in seinem eigenen Namen naive Legenden erzähle - was jedoch in Wirklichkeit nicht der Fall war. In § 5 der zweiten Abteilung der ,Einführung" spricht Mozart über die herausragenden Theoretiker der Musik: „Boetius, Guido von Arezzo, Johan von der Mauer (= Jean de Murs), Glarean, Zarlin, Bontemps, Zacconi, Galilei, Gaffur, Berard, Donius, Bonnet, Tevo, Kircher, Froschius, Artusi, Kepler, Vogt, Neidhardt, Euler, Scheibe, Prinz, Werkmeister, Fux, Mattheson, Mizler, Spies, Marpurg, Quanz, Riepel und andere mehr, die ich oder nicht kenne, oder die mir itzt nicht gleich beyfallen, sind lauter Männer, die sich durch ihre Schriften um die Musik bey der gelehrten Welt ungemein verdient gemacht haben"40. In der Übersetzung von Torson sieht diese Passage so aus: „Boecij, Gudo von Arezzo, Jean de Murs = Ivan von Maver, Glarean, Zarlin, Zacconi, Berard, Donius, Bonnet, Tevo, Kircher, Kepler, Vogt, Euler Scheibe, Spies und andere - all das sind Männer, die sich mit ihren Werken in der Musik sehr ausgezeichnet haben".41 Schon bei oberflächlichem Vergleich beider Texte kann man unschwer erkennen, daß die Reihe der „ausgezeichneten Männer" in der russischen Übersetzung deutlich verkürzt wurde, wobei es unklar bleibt, aus welchem Grunde. In der Aufstellung verblieben die italienischen Musiktheoretiker des 16. und 17. Jh., deren Namen mit Sicherheit dem russischen Leser nicht viel sagten (G. Zarlino, V. Galilei, G. B. Doni und andere), dafür waren aber die Namen der einflußreichen Musiker des 18. Jh. weggelassen, auf deren Theorie sich L. Mozart in vieler Hinsicht stützte (J. J. Fux, J. Mattheson, F. W. Marpurg, J. Quentz, J. Riepel) und deren Werke in Rußland gewiß wenigstens dem Namen nach bekannt waren. Man muß den Eindruck gewinnen, daß die Aufstellung vom Übersetzer willkürlich gekürzt wurde und daß er sich selbst in den Gegenständen, von denen die Rede war, nicht besonders gut auskannte. Überhaupt kann man der Übersetzung von P. Torson entnehmen, daß ihr Autor ein Mensch ohne breiten geisteswissenschaftlichen und musikalischen Horizont war: alles, was in der Violinschule Mozarts über den Rahmen des praktischen Violinunterrichts hinausging, interessierte den Übersetzer nicht allzu sehr. Latein und Italienisch kannte er

39 40 41

Abrege de toutes Les Sciences ä l'usage des jeunes Gens, 2. Auflage Moskau 1774, S. 110-111. Mozart (wie Anm. 23), S. 16 f. L. Mozart, Osnovatel'noe skrypicnoe ucilisce, St. Petersburg 1801, S. 9.

Russische Übersetzungen deutschen Musikschrifttums

269

offensichtlich nicht oder nur schlecht (anderenfalls hätte sich „Guido" nicht in „Gudo" verwandelt); griechische Worte vermied er am liebsten. Sogar die russische rhetorische Terminologie beherrschte er nicht, wie auch selbst die deutsche (deshalb ist auch das deutsche „Abschnitte" als „perechody" („Ubergänge") und „Einschnitte" als „vchody ili prorezy" („Eingänge oder Schnitte") übersetzt.42 Nach solchen übersetzerischen Fehlleistungen ruft es ein Lächeln hervor, Mozarts Hinweis auf die Notwendigkeit von Rhetorikkenntnissen für den gebildeten Musiker zu lesen. Reichlich holprig klingt selbst die russische Sprache dieser Ubersetzung. Wenn im Almanach Gerstenbergs, bei aller Freiheit des Umgangs mit dem Quellenmaterial, die russische Sprache Leichtigkeit und Eleganz anstrebte, so kann man bei Torson auf völlig unverständliche Sätze stoßen, die der Leser nicht verstehen wird, der sich nicht an das Original wendet. So finden wir ζ. B. im Kap. 3, § 4, die folgende Erklärung für ein Notenbeispiel: „Vysetojascie durtonovy peremezki lezzat ν skale s dur uze natural'no, a nischodjascie peremezki ili intervally slabogo golosa nachodjatsja ν dijatoniceskoj a mol'", usw. (Zum Vergleich der Text des Originals: „Die obenstehenden Intervallen eines Durtones liegen in der Tonleiter schon natürlich; und die abgestiegenen Intervallen der weichen Tonart findet man in der diatonischen Scale des A-Moll", usw.) Es begegnen auch noch echte Kuriositäten: so wurden die Worte „Solo" und „Passage" mit dem Wort „vychodka" („Streich", „Ausschreitung") übersetzt.43 Wüßte man nicht von vornherein das Erscheinungsjahr der Violinschule L. Mozarts, fiele es schwer zu glauben, daß die Ubersetzung nicht in den 70er Jahren des 18. Jh, sondern an der Schwelle zum 19. Jh. angefertigt wurde, zu einer Zeit, da, erstens, sich die russische Literatursprache schon vollends herausgebildet hatte (die Sprache N. A. Karamzins, I. A. Krylovs, G. R. Derzavins), und, zweitens, in dieser Sprache schon sehr viel über Musik gesagt und geschrieben wurde. Die Veröffentlichung der Ubersetzung von Torson zeugt davon, daß der Bedarf an guten ausländischen musikalischen Lehrwerken und Abhandlungen nicht geringer geworden war; die Qualität dieser Ubersetzung jedoch war schwerlich geeignet, die adäquate Aneignung der Lehren Leopold Mozarts durch russische Geiger zu fördern. Infolge des festgelegten Umfangs der vorliegenden Abhandlung und der bewußten Begrenzung unseres Themas konnten wir das hier interessierende Problem der Herausbildung der russischen musikwissenschaftlichen Terminologie nur flüchtig berühren (mit diesem Thema beschäftigen sich erfolgreich andere russische Musikwissenschaftler, insbesondere L. Ju. Malinina)44. Und selbst das Problem der Wechselbeziehungen russischer und westeuropäischer Musikkultur reduziert sich keineswegs auf die Erscheinungen, zu denen wir uns geäußert haben. Möglicherweise waren die Ubersetzungen deutschen Musikschrifttums nicht der wichtigste Faktor in der geistigen Aneignung der universalen Begriffe der europäischen klassischen Musik durch die russischen Musiker. Aber am Beispiel dessen, was übersetzt wurde, wie und warum es so übersetzt wurde, wollten wir einige Stadien dieses Aneignungsprozesses sichtbar machen. Die dabei von den Ubersetzern erzielten Ergebnisse sollten sich bereits zu Beginn des 19. Jh. zeigen.

42 43 44

Ebd., S. 75. Ebd., S. 77, 82. L. Ju. Malinina, Ο fundamental'nych ponjatijach i terminach rossijskogo muzykoznanija XVIII - nacala X I X veka (k istorii ucenija ο garmonii). Iz istorii muzykal'noj zizni Rossii (XVIII-XIX w.), Moskau 1990, S. 5-19.

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Klavichord-Schule oder Kurze und gründliche Einführung in Harmonie und Melodie mit praktischen Beispielen erklärt, verfaßt von Herrn G. S. Löhlein, aus dem Deutschen in die russische Sprache übersetzt vom Studenten der Kaiserlichen Moskauer Universität Fedor Hablitz Gedruckt an der Kaiserlichen Moskauer Universität auf Kosten des Buchverlegers Christian Ludwig Wewer, 1773

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271

Russische Übersetzungen deutschen Musikschrifttums

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ohne # und ohne b C-Dur Α-Moll

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vier # E-Dur Cis-Moll

6

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7

sechs # oder sechs b Fis-Dur Dis-Moll

8

fünf b Cis-Dur B-Moll

9

vier b Gis-Dur F-Moll

11

zwei b B-Dur G-Moll

12

ein b F-Dur D-Moll

10

drei b Dis-Dur C-Moll

Abbildung 2: D. Kellners „Treulicher Unterricht"..., S. 63 von N. Zubrilovs Übersetzung 3

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Klaus Bochmann

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Leipzig und die Anfange der rumänischen Journalistik

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Klaus Bochmann

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PETER KUNZE, BAUTZEN

Der Akademische Verein für lausitzische Geschichte und Sprache in Breslau

Am 20. Januar 1838 wandte sich der Student der Philosophie Adolf Rosier, ein geborener Görlitzer, in einem Aufruf an zwölf in Breslau studierende deutsche und sorbische Kommilitonen aus der Lausitz und sprach den Wunsch aus, „die freundschaftliche Verbindung, welche die meisten von ihnen schon zu Hause und resp. auf den Gymnasien gegenseitig vereinigte, auch durch trauliches Zusammenhalten auf der Universität zu festigen". 1 Er appellierte an das regionale Bewußtsein der Lausitzer, der bisherigen „freundschaftlichen Bande" einen noch „nationaleren Charakter" zu geben und die innere Einheit, das Gefühl der Zugehörigkeit zur Lausitz, weiter zu festigen, zumal gegenwärtig die Gefahr bestehe, daß die Lausitz ihre „äußere Einheit" f ü r immer verlieren könne. Diesem „allgemeinen Nationalgefühl" stehe ein „Stammgefühl" löblich und nützlich zur Seite, nämlich „daß wir Deutsche (und resp. auch Wenden) mit allen Gefühlen sein können, ohne zu vergessen, daß wir Lausitzer sind". 2 Er schlug vor, einen Verein zu gründen, in dem das Studium der lausitzischen Geschichte, Literatur, Geographie und Sprache gepflegt wird. Dieser Aufruf ist in vielerlei Hinsicht bemerkenswert. In ihm zeigt sich das Bestreben der studierenden Jugend nach organisatorischem Zusammenschluß. Bereits 1716 hatten sorbische Studenten in Leipzig die Wendische (Lausitzer) Predigergesellschaft gegründet, der später auch deutsche Studenten beitreten konnten. Nach dem Beispiel der Leipziger Vereinigung entstand 1746 die Wittenberger Predigergesellschaft, die bis zur Auflösung der dortigen Universität im Jahre 1813 bestand. Leipzig und Wittenberg waren im 18. Jh. auch die Hauptausbildungsstätten der jungen Lausitzer. Der katholische sorbische und deutsche theologische Nachwuchs wurde seit 1706, dem Gründungsjahr des Wendischen Seminars, hauptsächlich in Prag ausgebildet. Zu einem bedeutsamen Aufschwung studentischer Vereinigungen kam es dann zu Beginn des 19. Jh., als an den Universitäten ganz Deutschlands Burschenschaften entstanden, die im Gegensatz zu den Regionalismus pflegenden Landsmannschaften die patriotische Gesinnung förderten und sich für die Einheit des deutschen Volkes einsetzten. Das Gedankengut der Burschenschaften fand auch an der Breslauer Universität Eingang. Diese war eine N e u g r ü n d u n g des 19. Jh. Sie war 1811 durch die Zusammenlegung der Frankfurter Viadrina und der Breslauer Leopoldina entstanden. Bereits 1828 zählte sie neben Berlin, München, Leipzig, Halle, Jena und Göttingen zu den großen Universitäten mit über 1 000 Studenten. In den dreißiger und vierziger Jahren sank die Zahl der Studierenden auf durchschnittlich 600 bis 700 pro Semester. Die überwiegende Mehrheit, nahezu drei Viertel, kam aus der Provinz Schlesien, zu der bekanntlich nach 1815 auch größere Teile der Oberlausitz um Görlitz, Hoyerswerda und Muskau gehörten. Die Breslauer Universität sollte zu einem Stützpunkt preußischer Staatsideologie für die schlesischen Territorien werden, so wie Bonn f ü r das Rheinland, Königsberg für Ostpreußen, Berlin f ü r Brandenburg und Halle für die südlichen und mittleren Gebiete Preußens.

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Zit. nach Geschichte des akademischen Vereins für lausitzische Geschichte und Sprache zu Breslau, Beil. I, in: Neues Lausitzisches Magazin, Bd. 29 (1852) S. 165. Ebd., S. 166.

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In Breslau entstand zunächst eine auf landsmannschaftlichen Prinzipien basierende Studentenvereinigung, die „Silesia et Marchia coniuncta", in der sich deutsche und polnische Kommilitonen zusammenfanden und die bis 1816 / 1 7 wirkte. Dem Gedankengut der Burschenschaften verpflichtet fühlten sich die nach 1815 gegründeten Vereinigungen „Teutonia" und „Armina", in denen deutsche Studenten wirkten, und „Polonia" als Vereinigung der polnischen Studierenden. 3 Letztere arbeitete eng mit der „Armina" zusammen und wurde in die Reihen der „Allgemeinen Deutschen Burschenschaft" aufgenommen. Die Karlsbader Beschlüsse führten zum Verbot der studentischen Korporationen. Auch an der Breslauer Universität setzte nach 1819 eine breite Verhaftungswelle ein, die polnische und deutsche Studenten gleichermaßen traf. Die Studentenvereinigungen bestanden nach ihrem Verbot zwar noch einige Zeit illegal weiter, lösten sich dann aber in den zwanziger Jahren auf. Erst 1835 genehmigte die preußische Regierung wieder die Gründung von Studentenorganisationen, denen allerdings jegliche politische Betätigung untersagt war. Von dieser Möglichkeit machten die Breslauer polnischen Studenten 1836 Gebrauch. Sie gründeten einen privaten Literarisch-slawischen Verein (Towarzystwo Literacko-Slowianskie), in dem sie das Studium der Literaturen slawischer Völker betreiben wollten. 4 Nach 1836 nahm die Zahl der Lausitzer Studenten in Breslau sichtbar zu. In jenem Jahr nämlich verbot der preußische Staat seinen Bürgern ein Studium an einer ausländischen Universität. Damit erreichte die zweite Welle der Demagogenverfolgung, die etwa 1830 eingesetzt hatte und sich gegen die Verfechter bürgerlichen Gedankengutes richtete, ihren Höhepunkt. Zu ihren Opfern zählten nicht nur Studenten, sondern auch angesehene und anerkannte Persönlichkeiten wie Ernst Moritz Arndt, der seine Professur verlor, der Jenaer Professor Jakob Friedrich Fries, der Lehrverbot für Philosophie erhielt, Turnvater Friedrich Ludwig Jahn und nicht zuletzt Wilhelm von Humboldt, der seines Ministeramtes enthoben wurde. Eine besonders unrühmliche Rolle spielte die bereits 1832 vom Preußenkönig Friedrich Wilhelm III. eingesetzte Ministerialkommission, der die Leitung der politischen Untersuchung und die Überwachung der Bevölkerung oblag. Uber jeden Pfarrer oder Lehrer, der die Universität nach 1827 verlassen hatte und sich um eine Anstellung in Preußen bemühte, zog sie Erkundigungen ein, ob er sich an der Burschenschaftsbewegung beteiligt hatte oder anderweitig politisch tätig gewesen war. Allen, denen eine Teilnahme an „verbotenen Verbindungen irgendeiner Art" nachgewiesen werden konnte, wurde eine Anstellung verweigert. 5 Das rigorose Vorgehen führte zu mancherlei Schwierigkeiten bei der Besetzung von Pfarrstellen im preußischen Teil der Lausitz und zerriß für Jahre die traditionellen Bande Lausitzer Studenten zur sächsischen Universitätsstadt Leipzig. Dieser Zustand änderte sich erst 1844 nach Aufhebung des Studienverbots preußischer Untertanen an einer ausländischen Universität. Nun zog es die jungen Leute aus der Lausitz traditionsgemäß wieder nach Leipzig, die Breslauer Universität verlor mehr und mehr ihre Bedeutung für die Lausitzer Studenten. Der Aufruf manifestiert zugleich die bisherige Sonderstellung der Oberlausitz. Diese war bis 1835, als sie in den sächsischen Staat eingegliedert wurde, niemals ein straff geleitetes und zentral verwaltetes Territorium, sondern ein Land, in dem die Stände die oberste Verwaltungsfunktion ausübten und eigene Gesetze erließen. Ihnen war es gelungen, sich über Jahrhunderte erfolgreich allen zentralistischen Versuchen zu widersetzen. 3 4

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Vgl. Mieczyslaw Pater, Uniwersytet Wroclawski i jego polska przeszlosc, Wroclaw 1986, S. 33. Vgl. Elzbieta Achremowicz, Tadeusz Zabski, Towarzystwo Literacko-Slowianskie we Wroclawiu 18361886, Wroclaw/Warszawa/Krakow/Gdansk 1973. Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Rep. 77, tit. 17, Nr. 50, Bd. 2, Bl. 233.

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Die Sonderstellung wurde im Traditionsrezeß von 1635, durch den die Oberlausitz von Böhmen an Sachsen überging, voll respektiert. Nach wie vor galten erbländische Gesetze hier erst dann, wenn die Stände ihnen ausdrücklich zustimmten. Das bewirkte, daß der einheimische Adel mehr als anderswo schalten und walten und seine Positionen festigen konnte, was zu einer verschärften Unterdrückung der bäuerlichen Bevölkerung führte. Die Erbuntertänigkeit erreichte gerade in der Oberlausitz eine besonders intensive Ausprägung. Doch die Sonderverfassung der Oberlausitz begünstigte die Erhaltung des sorbischen Ethnikums, das - von einzelnen Ausnahmen in den Standesherrschaften Muskau und Königsbrück abgesehen - nicht im Zuge staatlicher Maßnahmen zur Zentralisierung der öffentlichen Gewalt zurückgedrängt wurde. Im Gegenteil, die dezentralisierte Regierungsweise führte zu einer Förderung des Sorbischen und garantierte das Nebeneinander von deutscher und sorbischer Kultur. Auf diesen Umstand haben bereits sorbische Forscher, die zu ergründen suchten, warum sich das sorbische Ethnikum trotz massiver deutscher Einflüsse gerade in der Oberlausitz derart stabilisieren konnte, aufmerksam gemacht. So bemerkte Jan Arnos t Smoler: „Wegen des Landadels, der zwischen der Obrigkeit und dem Volk stand, konnte die oberste deutsche Regierung nicht so mit den Sorben umgehen wie anderswo, wo ihrer selbstherrlichen Herrschaft nichts entgegenstand und wo das Sorbentum durch grausame Verbote der sorbischen Sprache bald ausgerottet war." 6 Daraus resultierte sowohl beim deutschen als auch beim sorbischen Bildungsbürgertum ein ausgesprochen regionales Bewußtsein, ein territorial auf die Lausitz orientierter Patriotismus. Der Verlust der „äußeren Einheit" infolge der Beschlüsse des Wiener Kongresses von 1815 und die 1835 mit der Eingliederung der sächsischen Restoberlausitz in das sächsische Staatsgefüge beseitigten Sonderrechte und Privilegien einschließlich der traditionellen eigenen Verfassung sollten durch die verstärkte Festigung der „inneren Einheit" des „Nationalgefühls" - kompensiert werden. Noch Jahrzehnte nach der erzwungenen Abtretung eines Teiles der Oberlausitz an Preußen und seiner Zuordnung zur Provinz Schlesien fand sich die Bevölkerung nicht mit diesem Zustand ab. Der Oberlausitzer Bauer wollte auf keinen Fall mit dem schlesischen auf eine Stufe gestellt werden, der Handwerker fühlte sich mehr nach Sachsen denn nach Schlesien hingezogen und vermied es, seine Söhne nach Schlesien auf Wanderschaft zu schicken. Ähnliches galt für die Studenten, die lieber in Leipzig als in Breslau studierten. Das alles unterstreicht die in Jahrhunderten gewachsene Sonderstellung der Oberlausitz. Schließlich fiel der Aufruf zur Gründung eines Lausitzer Vereins in Breslau in eine Zeit, als sich bei den ca. 90 000 Oberlausitzer Sorben 7 eine nationale Bewegung herauszubilden begann. Bei ihnen hatte sich bereits seit einigen Jahrzehnten ein Ubergang von der territorialen zur sprachbestimmten nationalen Identität vollzogen, wobei das eine das andere nicht ausschloß; ein Bekenntnis zur Lausitz war nicht unvereinbar mit dem Bekenntnis zum Sorbentum. Die charakteristischen Merkmale der nationalen Bewegung waren bewußte Hinwendung zur Muttersprache, Verbreitung der sorbischen Sprache im Elementarschulwesen, Bestrebungen zur Pflege und Erhaltung der nationalen Kultur durch Schaffung einer eigenen bürgerlichen Literatur, einer zeitgenössischen Literatursprache, Entfaltung der nationalen Presse, Sammlung der Schätze der Volkskultur, Besinnen auf eigene historische Traditionen, Widerstand gegen Germanisierung und nationale Unterjochung sowie Bemühungen zur institutionalisierten Pflege der nationalen Geschichte, Sprache und Kultur. Dazu gehörten die Gründung von Gymnasiasten- und Studentenvereinen. 6 7

Serboslaw, Wroctawske serbske towarstwo, in: Jutnicka, 16. 4. 1842, S. 65. Leopold Haupt/Johann Ernst Schmaler, Volkslieder der Sorben in der Ober- und Niederlausitz, Teil 2, Berlin 2 1953, S. 285.

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Bereits 1832 hatte Smoler am Bautzener Gymnasium begonnen, seine Mitschüler in der sorbischen Sprache zu unterweisen. Als er 1836 in Breslau sein Theologiestudium aufnahm, setzte er mit den dort studierenden Sorben seine in Bautzen erfolgreich durchgeführten Sprachübungen fort. Viele der Breslauer Kommilitonen, die aus der Lausitz stammten, kannte er aus der gemeinsamen Zeit am Gymnasium: Seit 1834 studierten in Breslau Karl Awgust Böl aus Groß Särchen, Herman Awgust Janka aus Groß Radisch, Jan Hendrych Ledzbor aus Wittichenau und Jan Krescan Karas aus Trattendorf, seit 1835 Jurij Arnost Rjeda aus Förstgen und Ernst Gühler aus Kreba, ein Jahr später bezogen gemeinsam mit Smoler seine Bautzener Mitschüler Julius Eduard Wjelan aus Schleife, Awgust Bulang, Franc Schneider und Klemens Warnac, alle drei aus Wittichenau stammend, die schlesische Universitätsstadt. 8 Die sorbischen Studenten trafen sich seit Ostern 1836 zweimal wöchentlich, um durch gemeinsames Üben ihre Kenntnisse in der Muttersprache zu vertiefen. Bald erkannten sie, daß eine feste Vereinigung notwendig war, um auf längere Dauer erfolgreich zu sein. Es wurde beschlossen, den akademischen Senat zu ersuchen, die Gründung einer Sorbischen Vereinigung (Serbske towarstwo) zu genehmigen. 9 Doch einige Studenten äußerten Zweifel, ob infolge der relativ geringen Zahl von Sorben eine erfolgreiche, längerfristige Arbeit möglich sei. Schließlich entstand Weihnachten 1837 die Idee, einen Verein zu gründen, dem Deutsche und Sorben aus der Lausitz angehören sollten. Hier trafen sich die Vorstellungen der sorbischen Studenten um Smoler und der deutschen um Rosier. Es war ein glücklicher Umstand, daß Adolf Rosier im Herbst 1837 nach Breslau kam, um nach einem zweijährigen Studium in Berlin hier seine Ausbildung abzuschließen. Ihm wurden ein ausgeprägter regionaler Patriotismus und ein großer Einfluß auf die Lausitzer Kommilitonen nachgesagt, von denen er einen Teil aus der gemeinsamen Zeit am Görlitzer Gymnasium kannte. Röslers Aufruf fiel auf fruchtbaren Boden. Bereits nach zwei Tagen, am 22. Januar 1838, ersuchten sieben deutsche und fünf sorbische Studenten den akademischen Senat und das Kuratorium der Universität um die Genehmigung zur Gründung einer Vereinigung, „deren Zweck außer der allgemeinen Bildung die wissenschaftliche Ausbildung in den Gegenständen sein soll, welche dem oberlausitzischen Gelehrten- und Beamtenstande insbesondere nötig und nützlich sind". 1 0 Das waren ihrer Meinung nach die „oberlausitzische Geschichte und die wendische Sprache", da die Hilfsmittel zu beiden Studien selten und nicht leicht zugänglich sind und „die Notwendigkeit der wendischen Sprachkenntnis für einen großen Teil der Lausitz" erforderlich ist. 11 Der Kurator der Universität, der Geheime Oberregierungsrat und Breslauer Polizeipräsident Ferdinand Wilhelm Heinke, ließ jeden der 12 Unterzeichner des Gesuches polizeilich überprüfen. Erst nachdem feststand, daß sich „unter den Bittstellern niemand befand, der Neigung zu verbotenem Verbindungswesen gezeigt hätte" 12 , forderte er die Einreichung des Statutenentwurfs 13 und leitete das Gesuch befürwortend an Kultusminister Altenstein weiter. Dieser genehmigte die Bildung

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Vgl. Verzeichnis der Behörden, Lehrer, Beamten und sämtlicher Studierender auf der königlichen Universität Breslau. Bei letzteren noch die Anzeige der Zeit ihrer Ankunft, Geburtsort und Studium, Breslau 1836. Sorbisches Kulturarchiv, MS XLI-1A, Brief Smolers vom 14. 4. 1841. Geschichte des akademischen Vereins (wie Anm. 1), S. 168. Ebd., S. 169. Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Rep. 76 Va, Sekt. 4, tit. X I V , N r . 5, Schreiben vom 17. 6. 1838. Geschichte des akademischen Vereins (wie Anm. 1), S. 170.

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des Vereins mittels Reskript vom 9. Juli 1838.14 Nach geringfügiger Überarbeitung des Statuts hatten auch die Breslauer Behörden keine Einwände mehr, so daß der Rektor der Universität, der Jurist Julius Friedrich Heinrich Abegg, den Studenten aus der preußischen Lausitz am 8. August 1838 die frohe Mitteilung machen konnte, „daß die von uns geprüften und revidierten Statuten des Vereins mit der Bemerkung remittiert sind, daß auch höchsten Ortes nichts dagegen zu erinnern sei und der Verein hiernach ins Leben treten könne". Er wünschte aufrichtig, „daß die guten Bestrebungen, von welchen dieser Verein ausgeht, reichliche Früchte tragen und seinen Mitgliedern wie der Universität zur Ehre gereichen mögen". 1 5 Bestätigt wurde auch die vorgeschlagene Leitung: Rosier als Vorsitzender, Smoler als Sekretär und Julius Knothe aus Görlitz, Student der evangelischen Theologie, als Rechnungsführer. Das Protektorat über den Akademischen Verein für lausitzische Geschichte und Sprache übernahm der Historiker Gustav Adolf Stenzel 16 , dessen Aufgabe darin bestand, den Verein beim Kuratorium und beim Akademischen Senat zu vertreten sowie die Tätigkeit zu beaufsichtigen. Daß gerade Stenzel für diese Funktion vorgeschlagen wurde, kam nicht von ungefähr. Sein Interesse für slawische Geschichte und für die Geschichte der Lausitz war allgemein bekannt. Bereits als Student in Leipzig hatte er eine Preisaufgabe der Fürstlich Jablonowskischen Gesellschaft zum Thema „Uber den Einfluß der Deutschen auf die polnische Kultur von Einführung des Christentums bis zum Tode des Wladislaus Jagello" bearbeitet, später gab er mehrere Urkundenbände zur Geschichte des Bistums Breslau, des Ursprungs der Städte und der Einführung und Verbreitung deutscher Kolonisten in Schlesien und in der Oberlausitz heraus. Seit 1820 war er außerordentlicher und seit 1827 ordentlicher Professor für Geschichte an der Breslauer Universität. In seinen Vorlesungen behandelte er fast alle Abschnitte der Weltgeschichte, er las über die Geschichte Preußens und Schlesiens und hielt Vorträge über Ethnographie und allgemeine Statistik. 17 Seit 1827 versammelte er interessierte Studenten wöchentlich einmal bei sich und führte mit ihnen historisch-kritische Übungen durch. Sicher verbarg sich hinter der Übernahme des Protektorats auch Eigennutz, denn er regte die sorbischen Vereinsmitglieder an, Polnisch und Tschechisch zu lernen, um ihm später einmal, sozusagen als Gegenleistung, die in schlesischen Archiven befindlichen tschechischen und polnischen Urkunden zu übersetzen. 18 Politisch vertrat Stenzel wie viele der damaligen Breslauer Universitätsprofessoren einen liberalen Standpunkt. Später dann wurde er in Anerkennung seiner Verdienste als korrespondierendes Mitglied der Berliner Akademie der Wissenschaften geehrt. Der Verein zählte bei seiner Konstituierung 20 Mitglieder, 13 Deutsche und sieben Sorben. Davon studierten 12 evangelische und drei katholische Theologie, drei Philosophie und zwei Jura. Das Statut, ausgearbeitet nach dem Beispiel „schon bestehender und anerkannter akademischer Vereine", 19 umfaßte 70 Paragraphen. 20 Es umriß als Ziel das Stu-

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Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Rep. 76 Va, Sekt. 4, tit. XIV, N r . 5. Geschichte des akademischen Vereins (wie Anm. 1), S. 173. 16 Slawistik in Deutschland von den Anfängen bis 1945, Bautzen 1993, S. 388. 17 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Rep. 76 Va, Sekt. 4, tit. XIII, N r . 1, Vol. VIII. 18 Aus J. E. Schmalers eigener Biographie, in: Heinrich Imisch, Deutsche Antwort eines sächsischen Wenden. Der Panslawismus unter den sächsischen Wenden mit russischem Gelde betrieben und zu den Wenden in Preußen hinübergetragen, Leipzig 1884, S. 138. " Geschichte des akademischen Vereins (wie Anm. 1), S. 171. 20 Ebd., S. 174-199; Alojzy Stanislaw Matyniak, Polsko-luzyckie stosunki kulturalne do wiosny ludöw, Wroclaw/Warszawa/Kraköw 1970, S. 139-142. 15

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dium der lausitzischen Geschichte, Altertümer, des Rechts, der Geographie, Statistik, Naturgeschichte sowie der Literatur, Sprache, Kultur und des Volkstums der deutschen und der sorbischen Lausitz. Mitglied konnte jeder Student aus der Lausitz oder aber derjenige werden, der „vermöge langen Aufenthalts in der Provinz die gleiche Fähigkeit und das Interesse hat, für den Zweck des Vereins zu arbeiten". 21 Jedes Mitglied mußte im Laufe des Semesters auf einer der wöchentlich stattfindenden Zusammenkünfte wenigstens einen Aufsatz einreichen bzw. einen Vortrag halten, der von anderen Mitgliedern kritisch begutachtet wurde. Die Gebühren bestanden in einem Eintrittsgeld von 10 sowie in monatlichen Zahlungen von 5 Silbergroschen, des weiteren wurden bei Nichteinhaltung des Statuts Strafgelder erhoben. Der Verein legte Sammlungen von Büchern, Zeitschriften, Karten, Kunstgegenständen, Altertümern und Naturalien an. Im Falle seiner Auflösung sollten das Vermögen und die Sammlungen der Oberlausitzischen Gesellschaft der Wissenschaften in Görlitz zufallen, mit der der Verein von Anfang an enge und freundschaftliche Kontakte unterhielt. Er betrachtete sich sozusagen als „Vorschule" für eine spätere Mitarbeit der Mitglieder in der Görlitzer Wissenschaftsgesellschaft. Im Vordergrund standen weniger eigene wissenschaftliche Forschungen, sondern die Aneignung vorhandener Erkenntnisse, um dann, darauf aufbauend, selbständige Forschungsarbeiten durchführen zu können. Letztlich bestand das Ziel der Vereinigung darin, „die vaterländische Gesinnung" wieder zu beheben und zu verhindern, daß in der jüngeren Generation „wegen der äußeren Teilung (der Oberlausitz - P. K.) und der Unbekanntschaft mit dem Vaterlande die Teilnahme an dessen Interessen ersterben" könne. 2 2 Der Bitte des Vereins nach materieller und ideeller Unterstützung kam die Oberlausitzische Gesellschaft der Wissenschaften gern nach, indem sie ihm in seinen „so lobens- und nachahmenswerten Bestrebungen" nicht nur „das fröhlichste Gedeihen und den besten Fortgang" wünschte, sondern auch versprach, „in jeder Weise nach Kräften zur Erreichung Ihrer schönen Zwecke Ihnen behilflich zu sein". 2 3 So gewährte sie den Vereinsmitgliedern für längere Zeit die Ausleihe von Büchern, schenkte dem Verein ihre eigenen Schriften und Dubletten von Lusatica, veröffentlichte einzelne Tätigkeitsberichte und regte ihre Mitglieder zur Korrespondenz mit dem Verein an. Auf diese Weise half sie mit, den Verein in der Lausitz bekannt und zukünftige Studenten auf ihn aufmerksam zu machen. Diese Unterstützung wußten die Breslauer Studenten wohl zu schätzen, und sie versprachen, sich ihrer würdig zu erweisen: „Die einstige Teilnahme an Ihren vaterländischen Bestrebungen und Arbeiten, welche uns als Ziel und Hoffnung vorschwebt, wird uns dann hoffentlich Gelegenheit geben, zu zeigen, daß auch in den Jüngeren die Vaterlandsliebe nicht erloschen ist und daß Ihr edles Beispiel nicht ohne Anregung und Wirkung geblieben ist." 2 4 Im weiteren soll gefragt werden, ob es gelungen ist, dieses hehre Versprechen zu erfüllen. N o c h im Juli 1838, vor der offiziellen Konstituierung, erfolgte eine weitreichende Veränderung der Statuten. Zur besseren Erreichung des Zwecks der Vereinigung wurde beschlossen, Sektionen zu bilden. Jedes Mitglied verpflichtete sich, im Laufe eines Semesters in einer oder aber in mehreren der vier Sektionen, der historischen, geographischen, deutschen und wendischen, mitzuarbeiten, und, ebenso wie in den allgemeinen Sitzungen, eine schriftliche Arbeit einzureichen oder einen Vortrag zu halten. Drei Jahre später, nachdem die ersten Erfahrungen gesammelt worden waren, wurden die Statuten erneut überarbeitet und Maßnahmen zu einer größeren Wirksamkeit und 21 22 23 24

Geschichte des akademischen Städtische Kunstsammlungen Geschichte des akademischen Städtische Kunstsammlungen

Vereins Görlitz, Vereins Görlitz,

(wie Anm. 1), S. 175. Sekt. VII, 4, Vol. III, Bl. 1. (wie Anm. 1), S. 180. Sekt. VII, 4, Vol. III, Bl. 5.

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Ausstrahlung über Breslau hinaus festgelegt. Zunächst umriß man noch einmal klar und deutlich die Wissensgebiete, mit denen man sich näher beschäftigen wollte. Das waren lausitzische Geschichte und Altertümer, lausitzische Verfassung und Rechtskunde, Geographie, Statistik und Naturgeschichte der Lausitz, deutsche Sprache, Literatur, Kultur und Volkstum in der Lausitz sowie wendische und allgemeine slawische Literatur und Sprache. Weiter wurde im Gegensatz zu früher beschlossen, mit anderen wissenschaftlichen Gesellschaften, mit Einzelpersönlichkeiten sowie mit den vornehmsten Städten der Lausitz in Briefverkehr zu treten, um „interessante Nachrichten schnell zu erhalten", 25 und mit ehemaligen Mitgliedern, die den Status von Ehren- oder korrespondierenden Mitgliedern erhalten konnten, in engerer Verbindung zu bleiben. Das Stiftungsfest fand am 13. August 1838 in Gegenwart des Rektors Abegg und des Vereins-Protektors Stenzel statt. Jan Arnost Smoler hielt „als Probe der wissenschaftlichen Leistungen" einen Vortrag über das sorbische Volkslied, eine Thematik, die ihn schon längere Zeit fesselte. Er trug einige Lieder im Original und in deutscher Ubersetzung vor. Der Vortrag wurde von den Anwesenden zustimmend aufgenommen und hatte „allgemeines Interesse" erregt, „wie Herr Prof. Dr. Stenzel beim Abschiede selbst durch einen herzlichen Händedruck bezeigte". 26 Der historische Tag endete abends mit einem heiteren Fest. Ein weiterer Vortrag von Herman Janka zum Thema „Würdigung der Lausitz", der allgemeinen Beifall erntete, stimmte die Anwesenden auf ihre zukünftige Vereinstätigkeit ein. Über diese sind wir recht gut unterrichtet. Die ersten vier Jahresberichte (1838-1842), der 8. Tätigkeitsbericht für das Studienjahr 1845/46 sowie eine zusammenfassende Darstellung wurden im „Neuen Lausitzischen Magazin" veröffentlicht, 27 die Akten des Vereins mit den Sitzungsprotokollen (bis auf einzelne Ausnahmen freilich nur bis zum Jahre 1845), mit der Korrespondenz, mit Ein- und Austrittserklärungen und mit Rezensionen zu einzelnen Arbeiten sowie einer Auswahl von schriftlich eingereichten Vorträgen der Mitarbeiter befinden sich im Archiv der Städtischen Kunstsammlungen Görlitz. 28 Dabei fällt allerdings auf, daß die Informationen für die Jahre ab 1845 sehr lückenhaft und spärlich sind, ein Indiz dafür, daß seit dieser Zeit die Begeisterung für den Verein nachließ. Doch 1838 war der Enthusiasmus ungebrochen. Im ersten Jahr des Bestehens fanden 20 allgemeine Zusammenkünfte statt. Neben der bereits erwähnten Arbeit über das sorbische Volkslied wurden Vorträge über Flüsse und Gewässer der Lausitz, über die Geschichte und Topographie des Dorfes Nieda, über den Bürgermeister Emmerich aus Görlitz, über Orographie und Hypsographie der Lausitz und über das Lausitzer Zunftwesen gehalten. Darüber hinaus legten die Vereinsmitglieder „zur Anregung der poetischen und stilistischen Tätigkeit" ein handschriftliches Wochenblatt an, in das neben Gedichten und Aufsätzen auch „vaterländische" Nachrichten und Anekdoten Eingang fanden. 29 Es wurde am Schluß jeder Sitzung verlesen und fand bei den Mitgliedern regen Anklang. Bis 1846 sind 25 26 27

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Ebd., Vol. II, o. D. Ebd., Vol. III, Bl. 18. Der akademische Verein für lausitzische Geschichte und Sprache, in: Neues Lausitzisches Magazin, Bd. 17 (1839), Nachrichten, S. 16-27; Zweiter Jahresbericht des akademischen Vereins für lausitzische Geschichte und Sprache zu Breslau, ebd., Bd. 18 (1840), Nachrichten, S. 87-99; Dritter Jahresbericht des Vereins für lausitzische Geschichte und Sprache zu Breslau, ebd., Bd. 19 (1841), Nachrichten, S. 78-88; Vierter Jahresbericht des Vereins für lausitzische Geschichte und Sprache zu Breslau, ebd., Bd. 20 (1842), Nachrichten, S. 133-144; Akademischer Verein für lausitzische Geschichte und Sprache zu Breslau, ebd., Bd. 23 (1846), Nachrichten, S. 34-41; Geschichte des akademischen Vereins . . . (wie Anm. 1). Städtische Kunstsammlungen Görlitz, Sekt. VII, 4, Vol. I—III; Sekt. VII, 8.1.-8.21. Der akademische Verein (wie Anm. 27), S. 20.

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so sechs Bände entstanden, die allerdings als verschollen angesehen werden müssen. Nach Meinung der Görlitzer Wissenschaftsgesellschaft aus dem Jahre 1839 hat der Verein „bis jetzt seinem Zweck vollkommen entsprochen und in der kurzen Zeit seines Bestehens eine lebendige Tätigkeit entwickelt". 3 0 Im darauffolgenden Sommersemester 1839 setzten die Mitglieder ihre Vorträge zu beliebig ausgewählten Themen fort, wobei sie sich bemühten, möglichst allgemein interessierende Themen aufzugreifen, etwa über die Etymologie einiger sorbischer Ortsnamen, den Charakter des weiblichen Geschlechts in den Kleinstädten oder die Gaue der Lausitz. Doch bald schon wurde offenkundig, daß die freie Themenwahl mehr Schwierigkeiten als Vorteile mit sich brachte. Für die Vereinsmitglieder, die die Vorträge neben ihren eigentlichen Studienaufgaben anfertigen mußten, war es nicht immer leicht, sich einen entsprechenden Stoff auszusuchen, der auch die Aufmerksamkeit der Zuhörer fand. So nahmen sie lieber die Zahlung des geringen Strafgeldes in Kauf, statt in langwieriger und mühseliger Arbeit einen Vortrag auszuarbeiten (deshalb auch die geringe Zahl von 10 Vorträgen in den ersten drei Semestern). Um dem Abhilfe zu schaffen, wurde seit dem Wintersemester 1839/40 nach fest umrissenen Plänen verfahren. Zunächst wurde die Geschichte der Lausitz in 15 Veranstaltungen behandelt, um den Mitgliedern einen Uberblick über die „vaterländische" Geschichte und die entsprechende Sekundärliteratur zu vermitteln und sie zum Selbststudium anzuregen und zu befähigen. Nach diesem Grundsatz wurde auch die nächsten Jahre bis etwa 1844 verfahren. Thematische Schwerpunkte waren dabei die Geschichte einzelner Städte (Görlitz, Zittau, Sorau, Cottbus), die Biographien von berühmten Lausitzern oder Personen, die großen Einfluß auf die Lausitzen ausgeübt hatten (Markgrafen Gero und Diezmann, Johannes von Böhmen, Georg von Podiebrad, Karl IV., Lessing, Johann von Görlitz, Bartholomaeus Scultetus, Jacob Böhme, Graf von Zinzendorf), ausgewählte kulturgeschichtliche Themen (kirchliches Leben vor der Reformation, über die Herrnhuter, Geschichte der Poesie, der Reformation, der ober- und niederlausitzischen Klöster), Recht und Verfassung der Lausitz sowie eine Spezialgeschichte der Niederlausitz. Hervorhebenswert ist die Tatsache, daß sowohl deutsche als auch sorbische Vereinsmitglieder der sorbischen Problematik ihre Aufmerksamkeit widmeten, so in Vorträgen über die Kriege der Slawen mit den Deutschen bis zur Unterjochung der Daleminzer, Milzener und Lusizer und über die Germanisierung der slawischen Länder. Ein Großteil dieser Arbeiten, in der Regel im Umfang zwischen 10 und 20 Seiten, wurde im Archiv der Gesellschaft aufbewahrt und ist heute Interessenten zugänglich. Ihr Wert liegt weniger in der Wissenschaftlichkeit des behandelten Themas, sondern vielmehr darin, daß die Arbeiten einen Einblick in die Gedankenwelt der Verfasser ermöglichen und erkennen lassen, womit sich die Studenten vor über 150 Jahren neben ihrer eigentlichen Ausbildung beschäftigt haben. Es wird deutlich, daß man sich zumeist ernsthaft bemüht hat, den übernommenen Aufgaben gewissenhaft nachzukommen, das vorgegebene Thema anhand der zugänglichen Literatur verständlich darzulegen und so Wissenswertes über die Heimat zu vermitteln. Gerade darin bestand ja der eigentliche Zweck der Vereinigung. - Später dann, etwa seit 1845, erfolgte in den allgemeinen Sitzungen ein Rückgriff auf frühere Themen, jedoch sind Vortragsmanuskripte nicht mehr erhalten. Neben den Zusammenkünften in den allgemeinen Sitzungen spielte die Arbeit in den Sektionen eine bedeutsame Rolle. Vieles, was hier zunächst im kleinen Kreis erörtert wurde, gelangte dann - überarbeitet und verbessert - ins Plenum. Bedeutsam für die Bewußtseinsbildung der jungen Lausitzer war die Arbeit in der historischen Sektion. Neben der Aneignung von Geschichtskenntnissen wurden die Mit30

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glieder dank der Unterstützung angesehener Universitätsprofessoren angeregt, selbständige Studien zur slawischen und deutschen Geschichte anzustellen, um eine Grundlage für die lausitzische Geschichte zu schaffen. Die Sektion konstituierte sich bereits am 12. Juli 1838, also noch vor der offiziellen Genehmigung zur Vereinsgründung, und zählte bis 1841 zur aktivsten und erfolgreichsten. In dieser Zeit hatte sie durchschnittlich 5 bis 8 Mitglieder. Von Anfang an arbeitete sie nach einem festen Plan. Zunächst sollten die Mitglieder die Literatur zu einzelnen thematischen Schwerpunkten, beispielsweise zu den Komplexen Geographie, Statistik und Naturgeschichte, Recht und Verfassung, deutsche Sprache, Kultur, Literatur und Volkstum sowie wendische Sprache, Kultur, Literatur und Volkstum zusammenstellen, zugleich aber auch Vorträge vorbereiten. Dabei spielte, wie schon im Plenum, auch hier die sorbische Problematik eine bemerkenswerte Rolle: Smoler sprach über die Urgeschichte der Slawen mit besonderer Rücksicht auf die Lausitzen, Rosier über die Einwanderung der Slawen in Deutschland und über die Geschichte der Kriege mit den Deutschen, später dann fanden Vorträge über die Anfänge der lausitzischen Geschichte, über Sitten und Gebräuche der Ureinwohner der Lausitz bis zur Einführung des Christentums, über die Geschichte der Slawen in Deutschland und in der Lausitz und über den Ursprung der Städte und die Germanisierung der Lausitz statt. Um eine fundiertere Grundlage für die Beschäftigung mit Lausitzer Geschichte zu erreichen, bemühte man sich von Anfang an, einen kompetenten Fachmann zur Betreuung der Sektion zu gewinnen. Das gelang bereits im Herbst 1838, als sich der Privatdozent Dr. Bruno Hildebrand 31 bereit erklärte, Vorlesungen zur lausitzischen Geschichte zu halten und mit den Sektionsmitgliedern historisch-kritische Übungen sowie Disputationen durchzuführen. Das tat er sorgfältig und mit Akribie bis zu seinem Weggang aus Breslau 1841. Nicht wenige Studenten wurden so in die Geheimnisse der Geschichtswissenschaft eingeweiht, für dieses Fach begeistert und zu selbständiger Forschungsarbeit angeregt. Für mehrere Jahre hat er das Profil der historischen Sektion maßgebend geprägt und sich in vielfältiger Weise für die Belange des Vereins eingesetzt. Hildebrand hatte es nicht leicht, an der Breslauer Universität Fuß zu fassen. Als ehemaliger Leipziger Burschenschaftler war er nach seinem Studium Verfolgungen und Diskriminierungen durch die preußischen Behörden ausgesetzt, die ihn gar einige Jahre inhaftierten und somit seine Anstellung an der Universität hinauszögerten. Erst 1836 erhielt er eine Privatdozentur, und im Wintersemester 1839/40 wurde er zum außerordentlichen Professor berufen. Er las über alle Abschnitte der deutschen und der Weltgeschichte, sein besonderes Interesse galt aber der slawischen und der lausitzischen Geschichte. 32 Bereits im Sommersemester 1837 hielt er eine Vorlesung über die Quellen der slawischen Geschichte, und in seinem Kolleg „Historisch-kritische Übungen in der lausitzischen Geschichte" beschäftigte er sich mit dem Geschichtsschreiber Johann von Guben, regte die Bearbeitung des Zustandes der Lausitz unter Karl IV. an und unternahm mit den Studenten Vorarbeiten zu einer Geschichte der Stadtrechte und der städtischen Verfassung in der Lausitz. Dazu wurden Regesten zur Geschichte der Städte Bautzen, Görlitz, Zittau, Kamenz, Muskau, Löbau und Lauban angefertigt. Zum besseren Verständnis hielt Hildebrand gratis einleitende Vorträge zur Geschichte des deutschen Rechts und der Verfassung. Ihrem Geschichtsprofessor zollten die Vereinsmitglieder Dank und Anerkennung. Im ersten Jahresbericht von 1839 drückten sie es so aus: „Und außerdem hat Herr Dr. Hildebrand die historische Sektion und den Verein, wie die einzelnen Mitglieder, mit Rat und 31 32

Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 12, Leipzig 1880, S. 399-402. Verzeichnis der auf der Breslauer Universität zu haltenden Vorlesungen, Breslau 1837 bis 1841.

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Tat und mit eigner Aufopferung auf das kräftigste unterstützt." 33 Ein Jahr später teilten sie der Öffentlichkeit mit: „Überhaupt ist die höchst uneigennützige und aufopferungsvolle Unterstützung in Rat und Tat, welche dem Vereine durch Herrn Prof. Hildebrand zuteil geworden ist, höchst rühmenswert, und der Verein und alle seine Mitglieder fühlen sich demselben zur größten Hochachtung und zum innigsten Danke verpflichtet." 34 Es mußte sie hart treffen, als sie im Sommer 1841 von seinem beabsichtigten Weggang nach Marburg erfuhren. Um ihren Dank öffentlich darzutun, beschlossen sie, ihm die Abhandlung „Die Vereinigung der Oberlausitz unter böhmischer Herrschaft im 14. Jahrhundert", verfaßt von A. Rosier und gedruckt auf Vereinskosten, zu überreichen. Das war in der Vereinsgeschichte einmalig und zeugt einmal mehr von der hohen Wertschätzung, die Hildebrand entgegengebracht wurde. Demgegenüber nimmt sich das Engagement des Protektors Stenzel, ebenfalls Historiker, recht bescheiden aus. Er räumte den historisch Interessierten die Möglichkeit ein, an seinen privatissime gehaltenen historisch-kritischen Übungen gratis teilzunehmen. Davon machten in den ersten drei Semestern vier und im Wintersemester 1 8 3 9 / 4 0 zwei Studenten Gebrauch. In den beiden Semestern 1 8 4 0 / 4 1 nahm jeweils ein Student daran teil. Nach einem Eklat im Frühjahr 1841, auf den noch näher eingegangen wird, legte Stenzel seine Funktion nieder und zog sich vom Verein gänzlich zurück. Der Weggang Hildebrands und die Demission Stenzeis bedeuteten für die historische Sektion einen herben Verlust. Zunächst wurde das unter Hildebrand Begonnene fortgesetzt. Man übte sich im praktischen Urkundenlesen und studierte die Geschichte der Lausitz bis Karl IV. Infolge ständig sinkender Mitgliederzahlen sah man sich 1842 gezwungen, mit der geographischen Sektion zu fusionieren. Künftig beschäftigten sich die 3 bis 5 Mitglieder beider Sektionen mit vaterländischer Geschichte unter Berücksichtigung der geographischen Verhältnisse. Seit 1844 war die nun vereinte Sektion wiederholt geschlossen. Die geographische Sektion begann ihre Tätigkeit am 14. Juli 1838. Zur konstituierenden Sitzung fanden sich 7 Studenten ein, die sich in ihren Statuten weitgefächerte Aufgaben stellten. Sie wollten sich mit physikalischer Geographie (Gebirgs- und Flußsystem, klimatische Verhältnisse und Beschaffenheit des Bodens), politisch-statistischer Geographie (innere Einteilung wie Kreise, Diözesen, Kirchspiele, statistische Verhältnisse nach Stammes- und Religionsverschiedenheit, nach Gewerbe und Handel, Sprache und Sitten) und historischer Geographie (Veränderungen der Grenzen) beschäftigen, um auf diese Weise die örtlichen Verhältnisse der Lausitz in Vergangenheit und Gegenwart kennenzulernen. Auch sie verfuhren nach einem fest umrissenen Plan mit thematischen Schwerpunkten für jedes Semester. Anfangs standen allgemeine Vorträge über Größe, Bevölkerung, Flüsse, Gebirge, Bodenschätze und Klima auf dem Programm, wobei auch hier mehrere Referenten auf die speziellen deutsch-sorbischen Verhältnisse in der Lausitz eingingen, so beispielsweise in Vorträgen über die Grenzen der Wenden, über Flächeninhalt und Seelenzahl, über sorbische Kirchspiele, Volkssitten, Trachten und Bräuche, über das Verhältnis von wendischer und deutscher sowie evangelischer und katholischer Bevölkerung und über das gegenwärtige Siedlungsgebiet der Wenden. Später dann beschäftigte man sich mit der historischen Geographie vor und nach der Völkerwanderung, den Grenzen der einzelnen Stämme (Lusizer, Selpoli, Zara, Nice, Zagost), mit dem Kirchenwesen, der Topographie und behandelte einzelne Gebirge, Flüsse, Seen und Kreise. Da ständig neue Mitglieder in die Sektion eintraten, wiederholten sich etwa seit 1 8 4 2 / 4 3 die Themen, wobei nach dem 33 34

Der akademische Verein (wie A n m . 27), S. 22. Zweiter Jahresbericht (wie Anm. 27), S. 95f.

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Zusammenschluß mit der historischen Sektion auch Geschichtliches behandelt wurde. Die letzten Protokolle stammen aus dem Sommersemester 1848, als drei Mitglieder an bewährte Traditionen der ersten Jahre anknüpfen wollten. Doch ihr Versuch scheiterte schon nach der dritten Zusammenkunft Ende Juni 1848, weil die Interessen der Studenten mehr den politischen Zeitereignissen als wissenschaftlichen Vorträgen galten. Die zahlenmäßig stärkste Sektion war die deutsche, die ebenfalls im Juli 1838 ihre Arbeit anfnahm. Ihr gehörten in den ersten sechs Jahren, für die Protokolle vorliegen, pro Semester 7 bis 11 Mitglieder an. Entsprechend breit war auch ihre Zielstellung. Sie wollte sich mit dem Volkstum in der Lausitz beschäftigen, die Beziehungen der Lausitz zu Deutschland und der lausitzischen Kultur zu benachbarten Kulturen untersuchen, Volkslieder und Sagen sammeln, Sitten und Gebräuche aufzeichnen und sich mit der lausitzischen Sprache, Kultur, Literatur und Kunstgeschichte bekanntmachen, um auf diese Weise Kenntnisse über die Stellung der Lausitz innerhalb Deutschlands zu erwerben. Von Anfang an arbeitete die Sektion nach einem systematischen Plan, wobei für jedes Semester ein spezielles Thema festgelegt wurde. So finden wir Vorträge zur Kulturgeschichte (Geschichte der Brüdergemeine, religiöse Verhältnisse und Aberglauben, Zustand der Volksschulen, der höheren Bürgerschulen und Gymnasien, Ackerbau und Gewerbe), zur Reformationsgeschichte in der Ober- und Niederlausitz, zum Verlauf der Zivilisation mit besonderer Berücksichtigung der Stadtgeschichte (Ursprung der Städte, erste Stadtbewohner, älteste Städteverwaltungen), zur Literatur- und Kunstgeschichte (Buchdruckerkunst, deutsche Musik, Baukunst), zur Historiographie (Vorträge über Johann von Guben, Manlius, Grosser, Carpzow, Käuffer, Limmer, Worbs, Stenzel, Pescheck und andere Lausitzer Historiker) und über Kirchengeschichte (kirchliche Verfassung, Klöster der Lausitz, kirchliches Leben bis zur Reformation und danach). Auch in dieser Sektion nahm die Beschäftigung mit den Sorben und ihrem Verhältnis zu den Deutschen einen wichtigen Platz ein. Davon zeugen solche Vorträge wie über Sitten und Gebräuche der lausitzischen Wenden, über den Charakter der deutschen und wendischen Volkslieder, über Wendenschanzen und über wendisches Heidentum und christliche Bekehrung. Etwas anders gestaltete sich die Arbeit der wendischen Sektion. Auch sie begann ihre Tätigkeit bereits im Sommersemester 1838. Die sechs sorbischen und zwei deutschen Gründungsmitglieder stellten sich die Erforschung der sorbischen Sprache, Literatur und Nationalität als Ziel. Dieser Zweck sollte erreicht werden durch grammatikalische Übungen, durch Sprechen und Lesen, durch Predigen in sorbischer Sprache, durch das Studium der sorbischen und allgemeinen slawischen Literaturgeschichte und durch das Sammeln von sorbischen Volksliedern, Sagen, Märchen, Sprichwörtern, Redensarten sowie durch die Darstellung der Sitten und Gebräuche. Darüber hinaus verpflichteten sie sich, in den Ferien „besondere Gewohnheiten der Sorbenwenden" zu erkunden, über die bisherige Literatur der Sorben zu forschen, neu erschienene Schriften aufzuzeichnen, die sprachlichen Verschiedenheiten zu vergleichen und überhaupt „auf alles, was das Streben von anderen Völkern, besonders von den deutschen auszeichnet, ein aufmerksames Auge und O h r zu haben". 3 5 Einmal wöchentlich trafen sich die Mitglieder für zwei Stunden in der Wohnung eines Kommilitonen. In der ersten Stunde wurden Sprachübungen durchgeführt, die zweite Stunde war Übersetzungen aus dem Deutschen ins Sorbische und umgekehrt vorbehalten. Bald erkannten die Mitglieder, daß Sprachübungen allein nicht genügten. Sie schufen sich eine handschriftliche Zeitung, die „Sserska Nowina", in die sowohl in sorbischer Sprache als auch in deutscher Übersetzung sorbische Sagen, Volkslieder, Sprichwörter, Redensar35

Städtische Kunstsammlungen Görlitz, Sekt. VII, 4, Vol. II, Statuten vom 5. 7. 1838.

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ten und Gedichte aufgenommen wurden. Nach einem reichlichen Jahr umfaßte die Zeitung, die als verschollen angesehen werden muß, 18 Nummern mit insgesamt 60 Seiten.36 Aufnahme fanden auch Originalgedichte von Handrij Zejler, der als Begründer der sorbischen Nationalliteratur gilt. Mit ihm unterhielt Smoler steten Kontakt und informierte ihn in den Semesterferien über die Aktivitäten der sorbischen Studenten in Breslau. In vielerlei Hinsicht bedeutsam für die Tätigkeit der Vereinigung, insbesondere ihrer sorbischen Mitglieder, sollte sich die Bekanntschaft mit dem Mediziner Jan Evangelista Purkyne 37 erweisen. Der öffentliche Vortrag Smolers am 13. August 1838 hatte die Aufmerksamkeit des tschechischen Gelehrten auf den jungen Sorben gelenkt. Purkyne galt in Breslau als Spezialist für Slavica, sein Interesse und seine Anteilnahme an slawischen Belangen waren allgemein bekannt. Bereits seit 1825 fanden in seinem Haus Zusammenkünfte slawischer Studenten statt, mit denen er über literarische Probleme und über aktuelle Fragen der nationalen und kulturellen Entwicklung diskutierte. Er unterhielt Kontakte zu Vertretern fast aller slawischen Völker, seine Breslauer Wohnung wurde zum Anlauf- und Treffpunkt slawischer Wissenschaftler und Gelehrter, die die schlesische Universitätsstadt besuchten. Purkyne lud die jungen Sorben bald nach Smolers vielbeachtetem Vortrag zu einem Gespräch in seine Wohnung ein und informierte sich über die Sorben, über deren Sprache, Geschichte und Kultur. Diesem ersten Zusammentreffen schlossen sich bald weitere an. Durch Purkyne erhielten die sorbischen Vereinsmitglieder die Möglichkeit, die sprachliche und kulturelle Situation bei anderen slawischen Völkern kennenzulernen. Daraus zogen sie Schlußfolgerungen für ihre eigene national-kulturelle Tätigkeit. Historischen Charakter hatte die 24. Zusammenkunft der wendischen Sektion am 13. Juni 1839. Hier stellte Smoler seine neue Orthographie vor, durch die die Anarchie in der Rechtschreibung überwunden werden sollte. Bisher hatte jeder nach seinem Gutdünken geschrieben. Ein und derselbe Buchstabe wurde auf unterschiedliche Art wiedergegeben, bei den katholischen Sorben anders als bei den evangelischen. Smoler begründete die Notwendigkeit einer Reform damit, daß die bisherige Orthographie „sowohl den Ansprüchen auf Korrektheit nicht genüge als auch überhaupt den Slawen anderer Dialekte das Verständnis der wendischen Sprache erschwere". 38 Sein neues Alphabet lehnte sich eng an das tschechische bzw. polnische an. Es hatte lateinische Buchstaben, in begründeten Fällen wurden diakritische Zeichen verwendet. Auf Smolers Vorschlag hin verpflichteten sich die Anwesenden, „für die ferneren Arbeiten der Sektion die panslawische (analoge - P. K.) Orthographie mit einigen durch den eigentümlichen Charakter der wendischen Sprache bedingten Modifikationen" anzunehmen. 39 Die Arbeit der wendischen Sektion nahm in der Folgezeit einen gedeihlichen Fortgang, obwohl die Mitgliederzahl stets gering blieb. Im Sommersemester 1839 wurde, angeregt durch Purkyne, damit begonnen, die tschechische Zeitschrift „Kvety" zu lesen. Im Wintersemester 1839/40 arbeiteten nur zwei Sorben in der Sektion. Beide kamen wöchentlich zweimal zusammen, um sich durch Sprach- und Stilübungen in ihrer Muttersprache zu vervollkommnen. Des weiteren erörterten sie die Situation in der Lausitz, besprachen „den Nationalcharakter der Wenden" und berieten über die „Mittel zu einer besseren Erziehung der wendischen Jugend sowie zu einer angemesssenen Bildung des wendischen Volkes überhaupt". 40 Durch den Beitritt zweier weiterer Sorben im Mai 1840 erhöhte sich die 36 37 38 39 40

Der akademische Verein (wie Anm. 27), S. 26. Slawistik in Deutschland (wie Anm. 16), S. 314-315. Zweiter Jahresbericht (wie Anm. 27), S. 97. Ebd. Städtische Kunstsammlungen Görlitz, Sekt. VII, 4, Vol. III, Bericht vom 1. 4.1840.

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Mitgliederzahl im Studienjahr 1 8 4 0 / 4 1 auf vier. Im Sommersemester fertigten sie der Reihe nach Übersetzungen aus dem Deutschen ins Sorbische an, die sie dann gemeinsam analysierten, und legten selbstverfaßte Gedichte und Aufsätze vor. In Vorbereitung auf eine sorbische Literaturgeschichte begannen sie mit der Sichtung der vorhandenen Bücher und erörterten kritisch Aufsätze über die sorbische Sprache und Kultur. Die Bereitschaft von Purkyne, den Mitgliedern der sorbischen Sektion ab November 1840 wöchentlich zwei Stunden Unterricht in tschechischer Sprache zu erteilen und ihnen die Benutzung seiner umfangreichen Bibliothek, die auch zahlreiche Slavica enthielt, zu gestatten, bedeutete einen großen Gewinn für sie. Sie hatten von nun an die Möglichkeit, an den sonntäglichen Zusammenkünften in Purkyne s Wohnung teilzunehmen, an denen sich auch slawistisch interessierte Polen beteiligten. Auf Anregung Purkynes widmeten sich die sorbischen Studenten seit 1841 verstärkt dem Studium weiterer slawischer Sprachen, so dem Altslawischen, Polnischen und Serbischen. Daneben sahen sie ihre Hauptaufgabe darin, sich in der Muttersprache weiter zu vervollkommnen, das sorbische Predigen zu üben und sich die Schätze der sorbischen Volkskultur anzueignen. Zu diesem Zweck diskutierten sie über die neue Orthographie, lasen in der niedersorbischen Bibel, um auch diese Sprache kennenzulernen, und verpflichteten sich, zu jeder Zusammenkunft ein neues Lied aus Smolers Volksliedersammlung zu lernen, das sie dann unter Leitung ihres „Kantors" Korla Sigismund Rjeda gemeinsam sangen. Aber nicht nur das. Die Mitglieder legten ihre selbstverfaßten Gedichte und Erzählungen vor und stellten sich mit ihren wissenschaftlichen Abhandlungen der Diskussion, beispielsweise über die allgemeine Geographie und über den Ursprung der alten Slawen, über die Mittagsgöttin bei den Sorben, über die sorbische Orthographie und über ein „wendisches Lexikon". Und, was besonders wichtig war, sie unterhielten sich über die Situation in der Heimat, suchten nach Wegen eines geistigen und kulturellen Aufschwungs. Sie selbst gingen ja mit gutem Beispiel voran. Richtungweisend waren in dieser Beziehung die Ausführungen von Adolf Rosier, der sich an der Zusammenkunft am 8. November 1842 beteiligte und dort seine Gedanken zur sorbischen nationalen Wiedergeburt darlegte. Im Protokoll heißt es, daß er einen Vortrag „über gegenwärtige Bedürfnisse der Wenden" hielt und dabei den Wunsch „einer engeren Vereinigung aller wendischen Geistlichen, Schullehrer und Studenten zu einer großen, gemeinsam wirkenden Gesellschaft" aussprach. Des weiteren versuchte er aufzuzeigen, „wie durch die Gründung eines wendischen Schullehrerseminars und durch die Anlegung einer wendischen Volks- und Zeitschrift am zweckmäßigsten die weitere Ausbildung des wendischen Volkes erstrebt werden könnte". 4 1 Das waren Aufgaben, die im Vormärz vor der sorbischen nationalen Bewegung standen. Seine Ausführungen verdeutlichen den Geist, der im Verein herrschte. Sie zeigen, daß auch deutsche Intellektuelle bereit waren, die Sorben in ihrem Ringen um einen Aufschwung des geistig-kulturellen Lebens und im Kampf gegen nationale Unterdrückung und Germanisierung zu unterstützen. Eine ähnliche Diskussion erfolgte am 7. Februar 1842, als sich die Sektionsmitglieder „längere Zeit von den Bedürfnissen der Wenden und der bestmöglichen Abhilfe derselben" unterhalten hatten. Bei seinem Weggang aus Breslau hatte Julius Wjelan „einige herzliche, zum Eifer im Studium des Wendischen und zu stetem Festhalten aneinander mahnende Worte zurückgelassen". Diese zielstrebige Tätigkeit wurde in den folgenden vier Semestern fortgesetzt. Nach wie vor betrieben die Mitglieder slawische Sprachstudien. Neben den erwähnten Slawinen erlernten sie seit 1843 auch das Russische. Dieses intensive Beschäftigen mit allgemeinsla41

Ebd., Vol. II, Protokolle der wendischen Sektion; vgl. auch Jan C y z , Wröclawske akademiske towarstwo za stawizny a rec, in: Rozhlad 18 (1968) 2, S. 5 4 - 5 9 .

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wischen und sorbischen Problemen und das Studium der slawischen Sprachen führte zu einer spürbaren Festigung des sorbischen nationalen Bewußtseins und des Bewußtseins der Zugehörigkeit zur großen slawischen Völkerfamilie im Sinne der Kollärschen Idee der slawischen Wechselseitigkeit. So verwundert es auch nicht, daß mehrere ehemalige Mitglieder der wendischen Sektion nach Abschluß ihres Studiums eine bedeutsame Rolle im sorbischen Kulturleben gespielt haben. Fördernd auf die Tätigkeit der sorbischen Studenten sollte sich die Errichtung des Lehrstuhls für Slawistik an der Universität im Jahre 1842 auswirken. 42 Jan Arnos t Smoler, der führende Kopf der Breslauer Sorben, besuchte als Stipendiat des preußischen Königs fünf Semester die Lehrveranstaltungen des Tschechen Frantisek Ladislav Celakovsky. Ihm gleich taten es die beiden Theologiestudenten Jan Awgust Warko und Jan Symank. 43 Doch der zunehmende Mangel an sorbischen Studenten, die ebenso wie andere Lausitzer nach Aufhebung des Studienverbots seit 1844 wieder die sächsische Universität Leipzig besuchten, verhinderte eine größere Ausstrahlung der Slawistik-Vorlesungen und schränkte die Tätigkeit der wendischen Sektion immer mehr ein. Diese bestand im Sommersemester 1844 lediglich aus vier deutschen Studenten, denen Smoler die sorbische Sprache beibrachte. Seit dem Sommersemester 1846 zerfiel die Sektion dann in zwei Abteilungen. In der ersten beschäftigten sich erneut vier Deutsche unter Leitung von Symank mit sorbischen Sprachstudien, in der zweiten vertieften die zwei sorbischen Mitglieder ihre Kenntnisse in der Muttersprache und lernten Polnisch. Mit Beginn des Wintersemesters 1 8 4 6 / 4 7 stellte die Sektion ihre Tätigkeit ein. Was sich in den Sektionen seit der zweiten Hälfte der vierziger Jahre anzudeuten begann, spiegelte sich auch in der allgemeinen Vereinstätigkeit wider: Das Interesse am Verein erlosch mehr und mehr, das Zusammengehörigkeitsgefühl nahm von Jahr zu Jahr ab. Obwohl die Mitgliederstärke bis 1847 etwa konstant blieb (1839: 20; 1838/39: 18; 1839/ 40: 16; 1840/41: 11; 1841/42: 14; 1842/43: 12, 1843/44: 15; 1844/45: 12; 1845/46: 11; 1846/47: 13) und erst danach spürbar abnahm (1847/48: 8, 1848/49: 8; 1849/50: 7), ließ das Interesse an der Vereinstätigkeit merklich nach. Viele begnügten sich mit einer formellen Mitgliedschaft. An den Veranstaltungen nahmen sie nur unregelmäßig oder aber überhaupt nicht teil. Später, während der Revolution von 1848/49, wurden ihre Interessen in eine andere Richtung gelenkt. Sie Wandten sich verstärkt den politischen Zeitereignissen zu und besuchten lieber Volksversammlungen und Zusammenkünfte der Studentenschaft, als sich der Wissenschaft zu widmen. Zudem zog es die Lausitzer mehr in die Landsmannschaft „Lusatia", weil sie hier ihre Interessen besser vertreten sahen. Auch fehlten solche Enthusiasten wie Adolf Rosier, Jan Arnos t Smoler, Herman Janka, August Heinrich, Bozidar Warnac, Awgust Warko und Karl Prätorius. Sie hatten in den ersten Jahren die Geschicke des Vereins mit Umsicht geleitet und die Mitglieder für eine regelmäßige Mitarbeit begeistern können. Obwohl sich der Verein im Wintersemester 1849/50 erneut konstituierte und die sieben Mitglieder versprachen, „nach einem längeren Winterschlaf ein frisch grünendes literarisches Leben über unseren Verein zu verbreiten" 44 , war der endgültige Niedergang schon vorgezeichnet. Im Sommersemester 1850 schieden alle Mitglieder aus, der Verein hatte sich „in sich selbst aufgelöst". 45

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Vgl. hierzu Hubert Rösel, Dokumente zur Geschichte der Slawistik in Deutschland, Bd. 1, Berlin 1957. Tadeusz Zabski, F. L. Celakovsky na katedrze slawistyki we Wroclawiu, in: Prace literackie, 6 (1964), S. 158-195. Städtische Kunstsammlungen Görlitz, Sekt. VII, 4, Vol. I, Brief Nr. 121 (o. D.). Ebd., Vol. III, Bl. 70.

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Die umfangreiche Bibliothek kam 1850 als Pfand in den Besitz eines Vermieters, nachdem sich niemand mehr für sie zuständig fühlte. Schließlich löste die Oberlausitzische Gesellschaft der Wissenschaften gemäß der Vereinsstatuten 1851 die Bibliothek ein, ließ sie neben den Vereinsakten auf eigene Kosten nach Görlitz transportieren und im Archiv der Gesellschaft deponieren, wo sie sich noch heute befindet. 1851 umfaßte sie 140 Positionen, darunter zahlreiche Slavica, 26 in sorbischer, sechs in tschechischer und zwei in polnischer Sprache, aber auch deutsch- und lateinischsprachige slawische Grammatiken. Raritäten stellten die erste gedruckte obersorbische Grammatik von J. X. Ticin aus dem Jahre 1679, Knauthes wendische Kirchengeschichte von 1767 sowie mehrere in lateinischer Sprache verfaßte Schriften aus dem 16. und 17. Jahrhundert dar. 46 Das war jedoch nur der letzte Rest der ehemaligen Bibliothek. Vieles ist durch den häufigen Umzug in die Wohnung des jeweiligen Bibliothekars oder aber durch Ausleihe verlorengegangen, so Hauptmanns niedersorbische Grammatik von 1761, die obersorbische Grammatik von Matej aus dem Jahre 1721, Originalmanuskripte von Christian Knauthe und mehrere Schriften von Purkyne. Dubletten wurden nicht mit übernommen. Diese aber machten einen Großteil der ehemaligen Bibliothek aus, die - so zeigen die gedruckten Protokolle - vor allem durch Geschenke von Mitgliedern der Görlitzer Wissenschaftsgesellschaft ständig vermehrt worden war. 1842 umfaßte sie 176 Bücher, 387 Broschüren, Programme und kleinere Drucke sowie 30 Karten. In den folgenden Jahren wuchs sie ständig an. Die größten Verdienste um die Bibliothek hatten sich neben der Oberlausitzischen Gesellschaft der Wissenschaften deren Mitglieder Karl Benjamin Preusker aus Großenhain, Wilhelm Justus Vetter aus Luckau, Gottlob Hirche aus Cunnersdorf, Polizeirat Gustav Köhler aus Görlitz, Christian Adolf Pescheck aus Zittau sowie die Breslauer Professoren Stenzel und Purkyne erworben. In den 12 Jahren seines Bestehens hatte der Verein Höhen und Tiefen erlebt. Von Anfang an hatte er Schwierigkeiten zu bewältigen, die eine kontinuierliche Arbeit behinderten. Eine davon war die geringe Mitgliederzahl. Hier wurden die Erwartungen der Initiatoren zweifellos am meisten enttäuscht, denn die Zahl 20 vom Gründungsjahr 1838 wurde in der Folgezeit nie mehr erreicht. Schon 1839 regte Rosier an, neue Mitglieder, vor allem ehemalige Schüler aus der Niederlausitz (Gymnasien Sorau und Luckau) und aus dem Laubaner Gymnasium zu werben, denn die bisherigen Mitglieder rekrutierten sich fast ausnahmslos aus Schülern der Gymnasien Görlitz und Bautzen. 47 Aus diesem Grunde wandte sich der Verein an den Subrektor des Luckauer Gymnasiums W. J. Vetter und an den Konrektor des Sorauer Gymnasiums A. Lennius, beides historisch interessierte Lehrer, mit der Bitte, die künftigen Breslauer Studenten über den Verein zu informieren und sie für einen Beitritt zu interessieren. 48 Diese Appelle blieben aber offensichtlich ohne größeren Erfolg. Der schwache Mitgliederstand erklärt die mitunter sporadische Arbeit der Sektionen. O f t wirkten einzelne Studenten in mehreren Sektionen mit, was für sie - bedingt durch die wöchentliche Zusammenkunft jeder Sektion - zu einer nicht unerheblichen Belastung führte. Im Gründungsjahr beispielsweise war Rosier Mitglied aller vier Sektionen, je vier weitere Studenten gehörten drei bzw. zwei Sektionen an. Später war es ähnlich. Diese Tätigkeit übten sie „nebenbei" aus, neben ihrem eigentlichen Studium. Schon der Ausfall eines oder mehrerer aktiver Mitglieder durch Krankheit, Militärdienst oder durch Studienbelastung hatte für den Verein weitreichende Folgen. Wenn er in den ersten sechs Jahren 46 47 48

N e u e s Lausitzisches Magazin, Bd. 29 (1852), N a c h r i c h t e n , S. 141-148. Städtische K u n s t s a m m l u n g e n Görlitz, Sekt. VII, 4, Vol. II, Brief vom 29. 6. 1839. Ebd., Vol. I, Briefe vom 25. 6. 1841 und 14. 2. 1842.

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seiner Existenz trotzdem eine erfolgreiche und stetige Arbeit zu leisten vermochte, dann zeugt das von der Einsatzbereitschaft seiner deutschen und sorbischen Mitglieder, die nicht hoch genug gewürdigt werden kann. Bald schon wurde klar, daß sowohl das preußische Kultusministerium als auch die Universitätsleitung trotz gegenteiliger Zusicherungen nicht gewillt waren, den Verein wirkungsvoll zu unterstützen. N o c h 1840 äußerte sich der damalige Universitätsrektor, der Theologieprofessor August Hahn, lobend über die Vereinstätigkeit. Aus dem ihm zugesandten Bericht habe er ersehen, „mit welcher Lust und Liebe Sie an das Werk gehen und welch schöne Resultate Sie bereits gewonnen haben", und er versprach, „Ihrem Streben, auf dem erwählten Felde möglichst erfolgreich zu arbeiten, volle Anerkennung angedeihen zu lassen". 4 9 D o c h bereits ein Jahr später war die Existenz des Vereins ernsthaft bedroht. Im Mai 1841 hatte der bisherige Protektor Stenzel seine Funktion plötzlich und unerwartet niedergelegt. Was war geschehen? O h n e dessen Wissen hatte der Vereinsvorstand im März 1841 den Kurator Heinke um eine jährliche finanzielle Unterstützung von 20 bis 30 Talern zum Ankauf von Büchern und um die Eintragung des Vereinsvorstandes in die allgemeinen Studentenverzeichnisse gebeten, um die Neuimmatrikulierten vom Bestehen des Vereins in Kenntnis zu setzen und als Mitglieder zu gewinnen. In seiner Begründung berief er sich auf die „vorzügliche Teilnahme und Leitung der Herren Professoren Hildebrand und Purkyne", ohne dabei den Protektor Stenzel zu erwähnen. 5 0 Wenig später richtete der Verein ein Schreiben an den Kultusminister mit der Bitte um einen Zuschuß von 50 bis 60 Talern - ebenfalls zum Erwerb von Büchern - und um die Genehmigung, „daß von nun an jährlich ein Kollegium über lausitzische Geschichte von hiesiger Universität (vielleicht von Herrn Professor Hildebrand) gelesen würde". 5 1 Stenzel, der über beide Briefe vorab nicht informiert worden war, fühlte sich übergangen und nahm diesen Vorfall zum Anlaß, seine Funktion niederzulegen, da er angeblich nicht mehr das Vertrauen der Mitglieder besäße. D o c h das war nur ein Vorwand. Die wirklichen Ursachen für seinen Rücktritt lagen tiefer. Er fühlte sich gegenüber Hildebrand und Purkyne, die - so im Schreiben an das Kultusministerium „die wissenschaftliche Leitung führen, . . . ersterer in der historischen, letzterer in der wendischen Sektion", zurückgesetzt und merkte, daß ihm die Leitung langsam aus den Händen glitt. Sicher war er auch über den dritten Jahresbericht wenig erfreut, in dem er zwar kurz erwähnt wurde, aber das meiste Lob wiederum andere, nämlich Hildebrand und Purkyne, erhielten. 5 2 Hinzu kam, daß Stenzel gerade in dieser Zeit mit einem Übelstand zu kämpfen hatte, der ihn sehr bedrückte. Seine Vorlesungen, die früher regen Zuspruch gefunden hatten, wurden jetzt schlecht besucht und mußten sogar wegen fehlender Zuhö-

49

Ebd., Vol. II, Brief vom 18. 7. 1840.

50

Ebd., Vol. I, Brief vom 26. 3. 1841.

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Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Rep. 76 Va, Sekt. 4, tit. X I V , N r . 5, Schreiben vom 2 4 . 4 . 1841.

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Dritter Jahresbericht (wie Anm. 27), S. 78f: „Vorzüglich aber war es die aufopfernde und liebevolle Leitung und Unterstützung des Vereins und seiner einzelnen Mitglieder durch Rat und Tat von Seiten des Herrn Prof. Dr. Hildebrand, welche dem Vereine zum höchsten Nutzen gereichte, und allein ihm möglich machte, bei Verfolgung seiner Studien auch höhere Resultate zu gewinnen. Ebenso hatte H e r r Prof. Dr. Purkyne die Güte, sich der wendischen Sektion anzunehmen und sie zu den panslawischen Studien durch Unterricht und Unterstützung herüberzuleiten. Diesen beiden verehrten Männern sowie den wohlwollenden Behörden und allen anderen geehrten Gönnern und Freunden sei dafür unser herzlicher D a n k und die Bitte um ihr ferneres Wohlwollen öffentlich ausgesprochen."

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rer ausfallen. D a f ü r erfreuten sich die Lehrveranstaltungen seiner Kollegen Hildebrand und Roeppel fortdauernder Beliebtheit. 53 Stenzeis Haltung zum Verein fiel n u n m e h r eindeutig negativ aus. Eine demütige Entschuldigung nahm er ebensowenig an wie die Bitte, „uns die Ehre Ihres Schutzes auch ferner noch zu gönnen". 5 4 Auch die Einladung zum 3. Stiftungsfest ignorierte er. D o c h seine Meinung war maßgebend für die Erledigung beider Gesuche. Auf seine Veranlassung hin führte der Senat „triftige G r ü n d e " an, um die A u f n a h m e in das Personalverzeichnis zu verweigern. Auch das Kultusministerium hat sich für „nicht bewogen gefunden", der Bitte der Lausitzer Studenten nachzukommen. Auch hier war Stenzeis Gutachten ausschlaggebend, in dem er sich „nicht nur gegen die Gewährung der erbetenen Unterstützung zu Prämien und Bücherankäufen, sondern auch gegen die H a l t u n g von jährlichen Vorlesungen über lausitzische Geschichte und gegen letztere wohl nicht mit unhaltbaren G r ü n d e n " aussprach. 55 Gänzlich anders äußerten sich die ebenfalls in dieser Angelegenheit befragten Professoren Purkyne und Hildebrand, die „nicht nur der Wirksamkeit des Vereins das beste Zeugnis gaben, sondern auch dringend die Unterstützung desselben durch einen jährlichen Zuschuß zu Bücherankäufen und Prämien befürworteten". 5 6 Selbst der H i n weis, d a ß der Verein „manchen jungen Studierenden seiner Provinz, welcher eben die akademische Laufbahn betreten hatte, vor zerstörender und geisttötender Umgebung abgehalten hatte", konnte das Kultusministerium nicht umstimmen. 5 7 In dieser kritischen Situation half Purkyne, indem er ohne zu zögern das Protektorat übernahm und somit ein Fortbestehen der Studentenvereinigung ermöglichte. Im N a m e n aller Vereinsmitglieder bedankte sich der Vorstand „ f ü r die Bereitwilligkeit, mit der Sie unserer Bitte, Protektor unseres Vereins zu werden, entgegengekommen sind, als auch f ü r die Unterstützung, die Sie uns, besonders den Mitgliedern der wendischen Sektion, haben angedeihen lassen. Mögen Sie uns auch fernerhin Ihr Vertrauen und Ihre wohlwollende Gesinnung erhalten. Dies ist unser aller Wunsch und Bitte, deren Gewährung uns zum weiteren Fortschritt auf der Bahn der Wissenschaft anfeuern wird." 5 8 Mit seinem Eintreten für den Verein und die Sicherung seines Fortbestehens erwarb sich Purkyne die Sympathien der sorbischen wie der deutschen Mitglieder. Gewissermaßen als Ausgleich für die Ablehnung der beiden Gesuche vom 26. März und 1. April 1841 überließ der Akademische Senat dem Verein auf dessen Bitte „zur Abhaltung der allgemeinen Sitzungen wie auch zur Ü b u n g der wendischen Sektion im wendischen 53

Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Rep. 76 Va, Sekt. 4, tit. XIII, Vol. VIII und IX. Während Stenzeis Lehrveranstaltungen früher gut besucht wurden, so 1838 / 39 seine Vorlesung zur Geschichte von 1813 bis 1815 von 144 Personen, 1839 zur Geschichte Preußens von 53 und 1840/41 zur Schlesischen Geschichte von 113 Zuhörern, kam es seit dem Sommersemester 1841 zu einem kontinuierlichen Absinken der Hörerzahlen: 1841 Allgemeine Geschichte von 1789 39 Zuhörer, 1841 / 4 2 Geschichte des Mittelalters 28 Zuhörer, 1842 Geschichte der Französischen Revolution 22 Zuhörer. Einige Vorlesungen fielen gar infolge fehlender Interessenten aus, so 1841 die geplante Vorlesung zur preußischen Geschichte, 1842/43 die zur allgemeinen Statistik und 1843 die zur Geschichte Schlesiens und zur deutschen Geschichte. Als Grund dafür wurden die „äußerst gediegenen und in einem würdigen Ton gehaltenen Vorlesungen" des Historikers Richard Roepell, der sich besonders bei den polnischen Studenten großer Beliebtheit erfreute, angesehen.

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Städtische Kunstsammlungen Görlitz, Sekt. VII, 4, Vol. I, Brief vom 4. 6. 1841. Ebd., Schreiben vom 7. 8. 1841; Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Rep. 76 Va, Sekt. 4, tit. XIV, Nr. 5, Schreiben vom 31. 7. 1841. Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Rep. 76 Va, Sekt. 4, tit. XIV, N r . 5, Schreiben vom 16.6.1841. p Städtische Kunstsammlungen Görlitz, Sekt. VII, 4, Vol. I, Schreiben vom 1.4. 1841. Ebd., Schreiben vom 7. 11. 1842.

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Predigen" ein Auditorium im Universitätsgebäude wöchentlich zweimal zur kostenlosen Nutzung. 5 9 D o c h mehr auch nicht. Sowohl ein neuerliches Gesuch um finanzielle Unterstützung zum Ankauf von Büchern vom Juli 1843 als auch zwei Gesuche zur Aufstellung eines besonderen Bibliotheksschranks in dem als Versammlungszimmer dienenden Auditorium für die inzwischen auf über 300 Bände angewachsene Büchersammlung vom April 1845 und letztmalig vom Juli 1848 wurden ohne Angabe von Gründen abgelehnt. 6 0 So mußte die wertvolle Bibliothek ständig in der Wohnung des jeweiligen Bibliothekars untergebracht werden, was infolge häufiger Umlagerung zu den schon erwähnten Bücherverlusten geführt hat. Höhepunkte im Vereinsleben waren die jährlich stattfindenden Stiftungsfeste. Erwähnt werden soll das dritte Fest am 7. Juni 1841. In Gegenwart des Rektors der Universität, des Rechtsgelehrten Ernst Theodor Gaupp, der sowohl 1830 als auch zehn Jahre später eine bedeutsame Vermittlerrolle bei der Besetzung des Lehrstuhls für Slawistik in Breslau gespielt hatte 61 , sowie der Professoren Abegg, Purkyne und Hildebrand und des Lizentiaten der evangelischen Theologie Räbiger wurde eine von den anwesenden Hochschullehrern anerkennend aufgenommene wissenschaftliche Veranstaltung durchgeführt. Nach einer Rede des Vorsitzenden August Heinrich, stud. phil. aus Sagan, über Entstehung, Ziel und bisherige Tätigkeit des Vereins trug Louis Stock, stud, theol. ev. aus Görlitz, seine Abhandlung „Über die Überreste der heidnischen Befestigungen, Opfer- und Begräbnisplätze in der Lausitz" vor. Den Festtag beschloß „ein heiteres Mahl, durchflochten vom Gesang eigens dazu gedichteter Lieder". 6 2 Die weiteren Stiftungsfeste wurden dann weniger aufwendig im engen Kreis der Vereinsmitglieder gefeiert. Oftmals nahmen auch frühere Mitglieder teil, die dadurch ihre Verbundenheit zur Vereinigung zum Ausdruck bringen wollten. Von Anfang an pflegte der Verein mit Lausitzer Gelehrten und anderen Vereinen eine rege Korrespondenz. So erhielt er Anregungen für seine Tätigkeit, und manche aufmunternde Worte halfen in kritischen Situationen, Resignation und Niedergeschlagenheit zu überwinden. Zu den wichtigsten Briefpartnern zählte der Großenhainer Rentamtmann Karl Benjamin Preusker, ein um die Erforschung der lausitzischen Geschichte und Altertumskunde verdienter Mann. 6 3 Preusker übersandte dem Verein seine Publikationen, interessierte sich lebhaft für die Forschungsergebnisse der Vereinsmitglieder, über die er sich mehrfach lobend äußerte, und sparte nicht mit gutgemeinten Ratschlägen. „Fahren Sie rastlos fort, geehrte Herren, in Ihrem lobenswerten Bestreben. Es wird Ihnen noch in spätem Alter hohe Freude bringen und die beruhigende Überzeugung, die akademischen Jahre auch hinsichtlich der Mußestunden so nutzreich verwendet zu haben", schrieb er 1841. Und 1846, als die Anzeichen der Stagnation unübersehbar waren, munterte er die Vereinsmitglieder auf: „Möchte der so nützliche und einflußreiche Verein ferner grünen und blühen und rechte Früchte tragen." 6 5 Auch Adolf Rosier, der Vereinsgründer, dem eine langfristige segensreiche Tätigkeit am Herzen lag, richtete die Mitglieder immer wieder auf: „Möge das eifrige Streben vaterländischer Gesinnung nie erlöschen und fort-

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Ebd., Schreiben vom 7. 11. 1841. Ebd., Vol. II, Schreiben vom 17. 7. 1843; 19. 5. 1845 und 5. 8. 1848. Rösel, Dokumente (wie Anm. 42), S. 8-14 Vierter Jahresbericht (wie Anm. 27), S. 135. Slawistik in Deutschland (wie Anm. 15), S. 312. Städtische Kunstsammlungen Görlitz, Sekt. VII, 4, Vol. II, Brief vom 16. 3. 1841. Ebd., Brief vom 12. 1. 1846.

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fahren, so schöne Früchte zu tragen und so vielfältige Anerkennung finden wie bisher" (1839); „Möge das nun beginnende siebente Vereinsjahr nicht minder friedlich, freundlich und fruchtbar verlaufen als die meisten seiner Vorgänger" (1844). In ähnlichem Sinne ermunterten auch die beiden Sekretäre der Oberlausitzischen Gesellschaft der Wissenschaften, Leopold Haupt und Ernst Tillich. Gleich Preusker bat auch der Leipziger Universitätslektor Jan Petr Jordan um die Übersendung der besten Vereinsarbeiten, die er entweder in seinen ,Jahrbüchern für slawische Literatur, Kunst und Wissenschaft" oder aber in der sorbischen Zeitung ,Jutnicka" veröffentlichen wollte. Insgesamt führte er 20 Arbeiten an, für die er sich interessierte, hauptsächlich solche, die deutsch-sorbische Beziehungen behandelten oder sich mit speziellen sorbischen Problemen befaßten. Da die gewünschten Arbeiten unter den Mitgliedern kursierten, verzögerte sich die Ubersendung nach Leipzig. Zu einer Veröffentlichung ist es nie gekommen; wahrscheinlich entsprach die Qualität nicht Jordans Erwartungen. Weitere Korrespondenz unterhielt der Verein mit dem polnischen Literarisch-slawischen Verein in Breslau, mit dem 1841 in Leipzig gegründeten Akademischen Slawenverein, mit der Lausitzer Predigergesellschaft in Leipzig und mit dem Verein der Bautzener sorbischen Gymnasiasten Societas Slavica Budissinensis. Hier standen gegenseitige Informationen über die Vereinstätigkeit im Mittelpunkt. Obwohl der Breslauer Verein nur ein reichliches Jahrzehnt bestanden hat, muß man ihm - zumindest für die ersten Jahre - eine schöpferische wissenschaftliche Tätigkeit und eine bewußtseinsbildende Funktion bescheinigen. Insgesamt gehörten ihm 71 Mitglieder an. Einige wirkten nur wenige Monate mit, andere mehrere Jahre. Das gemeinsame Tätigsein von deutschen und sorbischen Studenten, die Teilnahme einiger Deutscher an den Sitzungen der wendischen Sektion und die Mitarbeit von Sorben in den anderen Sektionen sowie die Bearbeitung von Themen aus der deutschen und sorbischen Geschichte und Kulturgeschichte förderten das gegenseitige Verständnis für spezifische nationale Belange. Deutsche und tschechische Universitätsprofessoren unterstützten die nationalen, kulturellen und wissenschaftlichen Bestrebungen der lausitzischen Studenten und leisteten damit einen Beitrag zur Herausbildung von Wesensmerkmalen wie nationale Toleranz und Achtung vor den kulturellen Leistungen anderer Völker. Andererseits weitete sich der Gesichtskreis der Studenten durch die Bekanntschaft mit slawischen und deutschen Gelehrten und Kommilitonen über den engen lausitzischen Rahmen hinaus. Aus dem Verein gingen deutsche und sorbische Persönlichkeiten hervor, die später im Geistesleben oder im politischen Alltag ihrer Völker zu Bedeutung gelangten. Für viele andere mögen deutscherseits stehen: Leo Adrian, Gymnasiallehrer in Groß Glogau, mehrere Jahre Vorstandsmitglied der Oberlausitzischen Gesellschaft der Wissenschaften, Hermann Knothe, ein bedeutender Heimatforscher der Oberlausitz, Professor für Geschichte und Geographie an der Schule des Kadettenkorps in Dresden, Julius Knothe, Pfarrer in Friedersdorf bei Görlitz und Verfasser regionalgeschichtlicher Arbeiten, Theodor Neumann, von 1851 bis zu seinem Tode 1856 Sekretär der Görlitzer Gesellschaft und Autor von Arbeiten über den Pönfall, über Karl IV. sowie über die Magdeburger Schöppensprüche und nicht zuletzt Adolf Rosier, 1848/49 Abgeordneter der Frankfurter Nationalversammlung und später, nach seiner Emigration in die USA, Publizist in Milwaukee. Sorbischerseits verdienen der Publizist, Redakteur und Verleger Jan Arnos t Smoler, eine der markantesten Persönlichkeiten der sorbischen nationalen Bewegung im 19. Jh., Julius Eduard Wjelan, Pfarrer in Schleife, ein unermüdlicher Streiter für die Gleichberechtigung der Sorben in der preußischen Oberlausitz sowie Jan Awgust Warko und Korla Awgust Sigismund Rjeda, die beide literarisch tätig waren und sich nachdrücklich für die nationalen

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Interessen ihrer sorbischen Landsleute eingesetzt hatten, besondere Erwähnung. 66 Entscheidende Grundlagen für deren späteres Wirken wurden durch die Mitgliedschaft im Akademischen Verein für lausitzische Geschichte und Sprache gelegt.

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Vgl. hierzu Nowy biografiski slownik k stawiznam a kulturje Serbow, Budysin 1984, S. 511-513. 623625. 593-594. 478.

A N T O N SCHINDLING, T Ü B I N G E N

Aspekte des , Josephinismus" - Aufklärung und frühjosephinische Reformen in Osterreich. Ein Essay zu dem klassischen Werk Eduard Winters

Die beiden deutschen Großmächte Österreich und Preußen waren jeweils auf ihre Weise geprägt von der geistigen Bewegung der Aufklärung. Das 18. Jh., das Zeitalter der Aufklärung, war in der Geschichte beider Staaten das klassische Jh.. Die Verbindung von Staat und Aufklärung war personifiziert einerseits in der Gestalt Friedrichs II., andererseits in der Josephs II. Protestantismus und Aufklärung konnten späterhin als die geistesgeschichtlichen Haupttraditionen des preußischen Staates erscheinen. Eine analoge Symbiose von Katholizismus und Aufklärung entwickelte sich in der Habsburger Monarchie, eine Symbiose, die hier so stilbildend war, daß sich für sie auch ein Namen fand, nämlich ,Josephinismus" nach Joseph II., der als der „gekrönte Reformator" zur legendären Symbolfigur wurde. , Josephinismus" war und ist ein facettenreicher Begriff, ein Schlagwort, das eine Vielzahl von , Josephinismen" umfaßt. Die Folgen des Josephinismus und der Streit um sein Erbe machten einen Grundzug in der inneren Geschichte der Österreichisch-Ungarischen Monarchie bis zu ihrem Ende aus. Der historiographische Disput über die Bewertung Josephs II. und über den Josephinismus hielt auch nach 1918 nicht nur in Österreich und den Nachfolgestaaten der Habsburgermonarchie, sondern ebenso in Italien und Belgien an. Es soll hier weder um die Ära der Alleinregierung Kaiser Josephs II. gehen, also das Jahrzehnt der großen Reformen von 1780 bis 1790, noch um die die Zeit danach, um den Nachjosephinismus, den Spätjosephinismus und Neujosephinismus im 19. Jh. Ich möchte hier nach den Anfängen fragen. Die Geschichtsforschung ist sich einig darüber, daß die Entstehung des Josephinismus zurückreicht in die Epoche vor 1780, in die vierzigjährige Regierungszeit der Kaiserin-Königin Maria Theresia. Es gibt dafür die Begriffe Frühjosephinismus oder auch Theresianismus. Die Herkunft und das Wesen dieses sogenannten Frühjosephinismus wurden aber ähnlich kontrovers beurteilt wie das Gesamtphänomen. War Maria Theresia die Mutter des Josephinismus oder ist der Josephinismus das Werk einer allgemeinen und mehr oder weniger anonym wirkenden Zeitströmung? - um nur zwei Meinungen anzuführen. Ich will im folgenden die Problematik des sogenannten Frühjosephinismus behandeln, indem ich einige Aspekte herausgreife, die mir wesentlich erscheinen. Es geht mir dabei zunächst um den Begriff des ,Josephinismus" im Spiegel der Geschichtsschreibung, dann anschließend um Bedingungen und konkrete Formen, unter denen der Josephinismus in dem Spannungsfeld zwischen Aufklärung und absolutistischer Reformpolitik entstand. Die internationale Diskussion über den Josephinismus orientiert sich seit mehr als dreißig Jahren an den Interpretationsansätzen von drei Historikern, nämlich denen von FERDINAND MAAS, EDUARD WINTER und FRITZ VALJAVEC. Der Kirchenhistoriker FERDINAND MAAR trat mit einer großen Quellenedition zur Geschichte des Josephinismus hervor.1 Sie erschien in fünf Bänden von 1951 bis 1961, jeweils mit kommentierenden Einleitungen. Der Josephinismus war für FERDINAND MAASS ein System des Staatskirchentums,

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Ferdinand Maaß (Hg.), Der Josephinismus. Quellen zu seiner Geschichte in Österreich. 5 Bde. ( = Fontes rerum Austriacarum, 2. Abt.: Diplomataria et acta, Bde. 71-75), Wien 1951-1961.

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das Maria Theresia seit den 1760er Jahren konsequent einführte, und zwar auf Anraten und mit Hilfe des Staatskanzlers Kaunitz. Diese Staatskirchenpolitik zielte auf die fugenlose Eingliederung der katholischen Kirche in den absolutistischen Staat und auf die Instrumentalisierung der kirchlichen Aktivitäten für die Staatsinteressen. Josephinismus sei ein System der Ubergriffe des Staates in den kirchlichen Bereich gewesen, ein System der Unterwerfung, welches die Kirche in ihrem inneren Wesen beeinträchtigte und schädigte. Mit dieser negativen Beurteilung steht FERDINAND MAAR in einer älteren Tradition katholischer Kirchengeschichtsschreibung seit dem 19. Jh. Schon zu Beginn unseres Jhs. wurde diese Position allerdings in Frage gestellt durch SEBASTIAN MERKLE. Dieser forderte bereits 1909 eine positivere Würdigung der kirchlichen Aufklärung im katholischen Deutschland des 18. Jhs. Eine grundsätzlich befürwortende Sicht des Josephinismus vertrat dann EDUARD WINTER in einer Monographie, die in erster Auflage 1943 und dann noch einmal 1962 erschien.2 Für WINTER war der Josephinismus der österreichische Reformkatholizismus. Der Begriff „Reformkatholizismus" durchzieht seither die Josephinismus-Diskussion, obwohl dieser ja mehr ein Schlagwort als eine historisch präzise Bezeichnung ist. EDUARD WINTER sah in dem österreichischen Reformkatholizismus eine Bewegung, die von aufgeklärten Katholiken in Wien und in Prag seit der Mitte des 18. Jhs. eingeleitet wurde. Ein entscheidender Wegbereiter und Förderer war dabei Gerhard van Swieten, der holländische Leibarzt Maria Theresias. Die Geschichte des Josephinismus war für EDUARD WINTER vor allem die Geistesgeschichte einer reformerischen Weltanschauung aus philosophischen und theologischen Ideen, eine Abrechnung mit Rom und dem römisch geprägten Katholizismus. Zwischen den beiden konträren Positionen von FERDINAND M A A S und EDUARD WINTER ist die Interpretation von FRITZ VALJAVEC angesiedelt.3 Die Monographie von VALJAVEC erschien in zwei Auflagen 1944 und 1945. Für VALJAVEC war der Josephinismus ein Phänomen der allgemeinen Geistes- und Kulturgeschichte, eine Geistesströmung, die aus einem weltanschaulichen Kompromiß zwischen der Aufklärung und den älteren katholischen Kulturtraditionen in Österreich hervorging. Josephinisch waren Geisteshaltung, Lebensgefühl und Stimmungslage, wie sie für das Beamtentum, den Offiziersstand und den Klerus in der Habsburger Monarchie seit dem späten 18. Jh. weithin kennzeichnend waren. Es war die Mentalität eines - wie VALJAVEC formuliert - „gemäßigten Katholizismus". Die Interpretation von VALJAVEC hat zwar manche Unschärfen. So etwa die Auffassung, daß der Josephinismus als Geistesströmung gleichsam anonym entstanden sei. Aber ich meine, daß die nuancierte Sicht der josephinischen Kontinuität in dem Buch von FRITZ VALJAVEC, sein mentalitätsgeschichtliches und kulturgeschichtliches Anliegen, noch immer am ergiebigsten ist. Die Sichtweisen von FERDINAND M A A S und von EDUARD WINTER mit ihrer selektiven Einseitigkeit führen dagegen jeweils nur zu Teil-Erklärungen. Der Josephinismus war eben sowohl Staatskirchentum als auch Reformkatholizismus, wobei beide Begriffe aber an sich fragwürdig sind, denn sie bergen die Gefahr in sich, daß Denkfiguren und Beurteilungskriterien des 19. und des 20. Jhs. zurückprojiziert werden in das 18. Jh. Hier sollte man den Filter einer methodischen Begriffskritik und Modellkritik vorschalten,

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E d u a r d Winter, D e r J o s e f i n i s m u s und seine Geschichte. Beiträge zur Geistesgeschichte Österreichs 1 7 4 0 1848, Brünn-München-Wien 1943, 2. A u f l . unter dem Titel: D e r J o s e f i n i s m u s . D i e Geschichte des österreichischen R e f o r m k a t h o l i z i s m u s 1740-1848 (= Beiträge zur Geschichte des religiösen und wissenschaftlichen Denkens, Bd. 1), Berlin ( D D R ) 1962. Fritz Valjavec, D e r J o s e p h i n i s m u s . Zur geistigen E n t w i c k l u n g Österreichs im 18. und 19. Jahrhundert. Brünn-München-Wien 1944, 2. A u f l . München-Wien 1945; ders., D e r J o s e p h i n i s m u s als politische u n d weltanschauliche S t r ö m u n g . In: Fritz Valjavec, A u s g e w ä h l t e Aufsätze, hrsg. von Karl A u g u s t Fischer und Mathias Bernath (= Südosteuropäische Arbeiten, N r . 60), M ü n c h e n 1963, S. 3 0 7 - 3 2 2 .

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wenn man mißverständliche und anachronistische Zuordnungen vermeiden will. Als typologischer Begriff erscheint mir am brauchbarsten der der katholischen Aufklärung, wie ihn SEBASTIAN MERKLE und danach M A X BRAUBACH eingeführt haben. 4 Der Josephinismus sollte, so meine ich, vor allem im deutschen und im europäischen Zusammenhang als eine Ausprägung der katholischen Aufklärung gesehen werden, und er sollte andererseits mit der Regierungsform des aufgeklärten Absolutismus verbunden werden. Katholische Aufklärung und aufgeklärter Absolutismus sind die am meisten adäquaten Grundbegriffe für ein Verständnis der josephinischen Bestrebungen in ihrer Epoche. Es ist daneben noch auf die Position von RUDOLF REINHARDT hinzuweisen, der im Josephinismus vor allem ein restauratives Phänomen sieht, nämlich einen Versuch, die Kirchenherrschaft des mittelalterlichen Kaisertums zu erneuern. Dieser Versuch knüpfte an die karolingische Kaisertradition sowie an das habsburgische landesfürstliche Kirchenregiment seit dem Spätmittelalter an. RUDOLF REINHARDT hat diese Deutung zuerst 1966 in einer Monographie über die Diözese Konstanz in der frühen Neuzeit formuliert und dann in der weit verbreiteten Ökumenischen Kirchengeschichte wiederholt. 5 Bei REINHARDTS Interpretation bleibt allerdings unberücksichtigt, was an neuartigem Gedankengut in das theresianisch-josephinische Reform-Verständnis einfloß und wirksam wurde. Ich will jetzt im folgenden die komplexe Ursachenproblematik des Frühjosephinismus in einigen Hauptlinien skizzieren. Dabei habe ich drei Schwerpunkte ausgewählt, nämlich erstens das Naturrecht, zweitens den Geheimprotestantismus sowie drittens das Klosterwesen und die kirchlichen Feiertage jeweils in der Zeit der Maria Theresia. Beginnen wir mit den Exponenten der Reform. Zunächst zu der Kaiserin-Königin Maria Theresia. Das weit verbreitete Bild von der eifrig frommen und warmherzigen Landesmutter ist ebenso klischeehaft und falsch wie das Gegenbild von ihrem rationalistischen und gefühlskalten Sohn Joseph. Maria Theresia war sicherlich keine Aufklärerin, aber sie hat der Aufklärung an der Spitze des Staates doch Türen geöffnet. Sie war nur noch teilweise in dem Barockkatholizismus ihrer habsburgischen Vorfahren verwurzelt. Daneben stehen auffallende jansenistische Einflüsse. Jansenismus, das hieß nicht nur moralischer Rigorismus und Sinn für eine nüchterne Frömmigkeit, sondern Jansenismus, das bedeutete auch Distanz zu Rom, zu den Jesuiten und dem prononciert gegenreformatorischen Katholizismus. Die jansenistischen Einflüsse kamen nach Österreich aus Frankreich und aus den südlichen Niederlanden sowie aus den nördlichen Niederlanden von der jansenistischen „Kleinen Kirche von Utrecht". Der Spätjansenismus war in Wien wie auch anderswo im katholischen Europa eine Brücke zur Aufklärung. Es war nicht die Sache Maria Theresias, sich der intellektuellen Reflexion zu widmen. Sie regelte die Regierungsangelegenheiten mit praktischem Sinn und Anpassungsfähigkeit, mit Hausverstand, wie man in Österreich sagt. In religiöser Hinsicht scheint sie unter dem Einfluß ihres Gatten, Kaiser Franz' I., gestanden zu haben. Als politischer Ratgeber war in der Umgebung der Kaiserin der Staatskanzler Fürst Wenzel Anton von Kaunitz-Rietberg entscheidend. Fürst Kaunitz-Rietberg war ein Rationalist; er kannte die protestanti-

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Sebastian Merkle, D i e katholische Beurteilung des Aufklärungszeitalters, Berlin 1909. Wiederabgedruckt in: Sebastian Merkle, Ausgewählte Reden und Aufsätze, H g . von T h e o b a l d Freudenberger ( = Q u e l l e n und Forschungen zur Geschichte des B i s t u m s u n d Hochstifts Würzburg, Bd. 17), W ü r z b u r g 1965, S. 361-413.

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Rudolf Reinhardt, D i e Beziehungen von Hochstift und D i ö z e s e Konstanz zu Habsburg-Österreich in der Neuzeit. Zugleich ein Beitrag zur archivalischen Erforschung des Problems „ K i r c h e und S t a a t " ( = Beiträge zur Geschichte der Reichskirche in der Neuzeit, H e f t 2), Wiesbaden 1966; ders., D i e katholische Kirche. In: R a y m u n d Kottje und Bernd Moeller (Hgg.), Ö k u m e n i s c h e Kirchengeschichte, B d . III: N e u z e i t , 2. Aufl. Mainz-München 1979, S. 10-47.

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sehe deutsche und die französische Aufklärung, er war ein Anwalt der österreichischen Staatsräson, ein klug berechnender und abwägender Machtpolitiker. Das enge Vertrauensverhältnis zwischen Maria Theresia und Kaunitz war die Voraussetzung für die Kirchenpolitik des Frühjosephinismus. Es ist hier nicht der Platz, um alle die Persönlichkeiten vorzustellen, die in der Umgebung Maria Theresias ein Meinungsklima schufen, in dem traditionelle Katholizität und Aufklärung sich mischten. Der militant gegenreformatorische Katholizismus allerdings und seine philosophisch-theologische Vorstellungswelt waren in der engeren Umgebung der Herrscherin kaum noch präsent. Bezeichnend dafür ist der Kronprinzenunterricht für den jungen Joseph II. Die Erziehung und Ausbildung eines künftigen absoluten Monarchen war stets eine Staatsangelegenheit von größter Bedeutung. Die einem jungen Prinzen vermittelten Grundsätze sollten ja auch die Regierungsprinzipien der Zukunft werden. Der junge Erzherzog Joseph wurde in den 1750er Jahren in den Anschauungen des damals modernen aufgeklärten Naturrechts unterrichtet, so wie Samuel Pufendorf, Christian Thomasius und Christian Wolff es dargestellt hatten. Das vernünftige Naturrecht und die ihm gemäße Staats- und Sozialphilosophie formten die Ansichten Josephs. Das Naturrecht und die naturrechtlichen Lehren sind allgemein auch ein entscheidendes Tor der Aufklärung nach Osterreich gewesen. Die Naturrechtsphilosophie war im evangelischen Deutschland ausgebildet worden. Im Werk von Christian Wolff, das besonders breit rezipiert wurde, verband sie sich mit dem Denken von Leibniz. Die Leibniz-Wolff'sche Philosophie und das Naturrecht brachten neue Denkprinzipien und neue Beurteilungskriterien auf neben der konfessionellen Theologie, neben dem Römischen Recht und neben der traditionellen aristotelischen Schulphilosophie. Das säkulare Natur- und Vernunftrecht wurde dabei bewußt in Ubereinstimmung mit dem positiven, das heißt offenbarungsgläubigen Christentum vertreten. Diese Tatsache ebnete der protestantisch verwurzelten Frühaufklärung den Weg auch in das katholische Deutschland. Denn die gedankliche Kraft der Naturrechtsphilosophie, ihre Modernität und ihre Nützlichkeit wurden auch im katholischen Reich frühzeitig erkannt. Die Stagnation an den meisten katholischen Universitäten, die von dem Jesuitenorden dominiert waren, bildete hierzu den negativen Kontrast. 6 Die Unterrichtung des jungen Erzherzogs Joseph in den Lehren des Naturrechts zeigt deutlich, wie sehr man am Wiener Hof die Neuorientierung im Denken bereits mitvollzogen hatte. Das vernünftige Naturrecht war ein Kristallisationskern für die Auffassungen der Aufklärung. Als Stichworte seien hier genannt: das optimistische Menschenbild, die Toleranz, die rationale und utilitaristische Betrachtungsweise, die eudämonistische Sozialethik, das Humanitätsideal, schließlich die generelle Reformgesinnung, vor allem das Streben nach Rechts- und Bildungsreformen. Diese allgemeinen Kennzeichen der Aufklärung gelten auch für die besonderen Bestrebungen der katholischen Aufklärung. Die katholische Aufklärung war charakterisiert einmal durch ihre Herkunft aus einem konfessionellen katholischen Milieu, zum anderen dadurch, daß sie festhielt an den Glaubenslehren der katholischen Kirche. Betont wurde die ethische Seite des Christentums. Die katholische Aufklärung bekämpfte die Studienordnung der Jesuiten, sie richtete sich gegen die pomphafte und theatralische Frömmigkeit des Barock. Sie wahrte jedoch deutlich Distanz gegenüber der religionskritischen und offenbarungsfeindlichen Aufklärung, wie sie in Westeuropa heimisch war. Das naturrechtliche Denken hatte im protestantischen Deutschland auch eine eigene kirchenrechtliche Theorie hervorgebracht, welche die Kirche dem souveränen Staat unter6

Anton Schindling, Bildung und Wissenschaft 1650-1800 (= Enzyklopädie Deutscher Geschichte, Bd. 30), München 1994.

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ordnete. Das war die Lehre des Territorialismus. Der Landesherr hatte danach auf Grund seiner Souveränität unabhängig von seiner Konfession die äußere Gewalt über die Kirche in dem Staatsgebiet, und er war im Rahmen einer aufgeklärten Wohlfahrtspflege geradezu verpflichtet, auch die kirchlichen Angelegenheiten zu ordnen. Maria Theresia sorgte nun schon in den 1750er Jahren dafür, daß das Naturrecht und das naturrechtlich begründete territorialistische Kirchenrecht an den österreichischen Universitäten gelehrt wurden. Die Einführung der neuen Fächer gehörte in den Rahmen einer Studien- und Universitätsreform, für die vor allem Gerhard van Swieten, der Leibarzt aus den Niederlanden, die Impulse gab. Die Rezeption der Naturrechtslehren eröffnete eine neue Phase in der Entwicklung des monarchischen Staates in Osterreich. Wenn der aufgeklärte Absolutismus definiert wird als eine von den Ideen der Aufklärung beeinflußte absolutistische Regierungsweise, so ist hierbei an die Ideen des Naturrechts zu denken. Ich lehne mich darin an die Definition von FRITZ HÄRTUNG an. Die Kronprinzenvorträge für Joseph II. in den 1750er Jahren sind ein Markstein für die Weichenstellung hin zum aufgeklärten Absolutismus. Auf derselben Linie liegt auch die Behörden- und Verwaltungsreform, die Maria Theresia seit dem Ende des Österreichischen Erbfolgekrieges, also seit 1748, durchführte. Die theresianische Staatsreform vollzog für die Habsburger Monarchie den Übergang von einem Absolutismus älteren Typs, einem konfessionellen und höfischen Absolutismus, hin zu einem bürokratischen und aufgeklärten Absolutismus. Was wir bisher beobachten konnten, war eine Systemveränderung an der Spitze des Staates. Der traditionelle konfessionelle Absolutismus der Habsburger wurde aber auch erschüttert durch ein Problem, das am Boden des gesellschaftlichen Gefüges angesiedelt war. Es war das Problem des Geheimprotestantismus bei bäuerlichen Bevölkerungsgruppen in Teilen von Oberösterreich, Steiermark, Kärnten und Krain sowie in Böhmen und in Mähren. Trotz 100 Jahren gegenreformatorischer Kirchen- und Konfessionspolitik war der protestantische Glaube in abgelegenen Gebieten lebendig geblieben, etwa in den Alpen und in der mährischen Walachei. Von den Bauern dort wurde eine protestantische Gesinnung mit Zähigkeit bewahrt. Eine geheime Bibel- und Schriftenmission aus dem evangelischen Deutschland unterstützte diese abgesonderten Gruppen. Die katholische Konfessionalisierung stieß hier auf Barrieren. Die Existenz des Geheimprotestantismus war in Wien immer bekannt, aber es gelang nicht, ihn zu beseitigen. Als Lösung war man seit den 1730er Jahren auf die Transmigrationen gekommen. Das hieß, hartnäckig protestantische Bauern wurden aus den österreichischen Alpenländern nach Siebenbürgen zwangsumgesiedelt, wo sie ein freies evangelisches Religionsexercitium hatten und zugleich für die Landeskultur in diesem menschenarmen Land tätig sein konnten. Die Transmigrationen gingen unter Maria Theresia weiter, noch in den 1770er Jahren fanden solche Deportationen statt. Insgesamt wurden etwa 4 000 Personen zwangsumgesiedelt. Aber der Peuplierungs-Erfolg in Siebenbürgen war begrenzt, und der Geheimprotestantismus verschwand nicht. Die Notwendigkeit einer Toleranzpolitik drängte sich geradezu auf. Doch Maria Theresia weigerte sich entschieden, eine Kursänderung vorzunehmen. Sie wollte an dem Prinzip der ausschließlichen Katholizität für die österreichischen Erblande, Böhmen und Mähren festhalten. Erst am Ende ihres Lebens rang Maria Theresia sich zu einer stillschweigenden Duldung der Protestanten in Mähren durch. Das Problem machte ein Dilemma deutlich, in dem die habsburgische Politik steckte. Ein Vergleich mit dem Rivalen Preußen lehrte, wie nützlich eine tolerante Konfessionspolitik für einen Großstaat sein konnte. Der Geheimprotestantismus war in der innerlich ohnehin labilen Habsburger Monarchie ein zusätzliches Element der Destabilisierung. Der konfessionelle Absolutismus der Habsburger war an die Grenzen seiner Durchsetzbarkeit gestoßen. Maria Theresia unternahm zur Bekämpfung des Geheimprotestantismus in den

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1750er Jahren immerhin eine wichtige Reforminitiative, die bereits in die Zeit Josephs II vorauswies. Man hatte erkannt, daß das Überleben des Protestantismus zusammenhing mit einer mangelhaften seelsorglichen Betreuung der Bevölkerung. Die Sprengel der Pfarreien waren noch immer die des Mittelalters, und sie waren speziell in den Gebirgsgegenden oft viel zu weiträumig. Die Lücken, die in der katholischen Pfarrseelsorge blieben, wurden mit Erfolg ausgefüllt durch die geheime evangelische Schriftenmission. Maria Theresia wollte nun zu einer Neugründung von kleineren Pfarreien auf dem Land kommen. Die Initiative blieb jedoch wegen des Ausbruchs des Siebenjährigen Krieges stecken. Aber 30 Jahre später sollte die Pfarreien-Regulierung Josephs II. einer seiner durchschlagenden Reformerfolge werden. Maria Theresia ging in ihrem letzten Lebensjahrzehnt das Problem auch noch auf einem anderen Weg an: auf dem Weg über die Volksschule. Indem Maria Theresia das Volksschulwesen in den österreichischen und böhmischen Ländern intensiv ausbauen ließ, hoffte sie zugleich, den Katholizismus in den unteren Volksschichten fester einzuwurzeln. Bei der Volksschul-Reform verbanden sich das Bemühen um die Alphabetisierung sowie die Katechese und Reformpädagogik der katholischen Aufklärung. Die theresianische Volksschule und die josephinische Pfarreien-Regulierung blieben dann attraktive Reformleistungen von Dauer. Die Konzeption der Pfarreien-Regulierung war aus praktischen Notwendigkeiten erwachsen. Aber sie stand auch im Zusammenhang mit Gedanken der katholischen Aufklärung. Denn die katholische Aufklärung betonte nachdrücklich die Bedeutung einer geregelten Pfarr-Seelsorge. Der Pfarrer als Seelenhirt und Volkslehrer, als pastor bonus, war ein vielgenanntes ideales Leitbild. In dieses Bild flöß eine spürbare Abneigung gegen die geistlichen Orden ein, die überall im katholischen Europa neben den Pfarreien mit einem reichhaltigen religiösen Angebot konkurrierten. Geistliche Orden, so der Jesuitenorden und die verschiedenen Bettelorden, waren auch die eigentlichen Förderer und Träger der barocken katholischen Volksfrömmigkeit. Die Orden und das Klosterwesen wurden von den Aufklärern kritisiert wegen der damit verbundenen Frömmigkeitsformen, vor allem freilich aus ökonomischen Motiven. Das sogenannte Vermögen der toten Hand, so hieß es, blockiere den Kreislauf der Güter in der Volkswirtschaft, und der Zölibat der allzu vielen Mönche und Nonnen behindere die wünschenswerte Vermehrung der Bevölkerung. Maria Theresia stand einem solchen Utilitäts-Denken grundsätzlich aufgeschlossen gegenüber. Sie äußerte schon 1750 in ihrem politischen Testament, es sei hinsichtlich der Klöster und des Kirchenvermögens eine „große Remedur" erforderlich. Wir greifen hier neben dem Naturrecht und dem Geheimprotestantismus einen dritten Ursachenkomplex für die theresianische Kirchenpolitik auf. Die Kirche und vor allem die Klöster als ein Wirtschaftsfaktor waren ein störendes Element für den absolutistischen Verwaltungs- und Wirtschaftsstaat. Es war nur folgerichtig, daß Maria Theresia Maßnahmen zur zahlenmäßigen Verminderung der Ordensleute und zur Begrenzung des Vermögenszuwachses der Klöster guthieß. Der Gütererwerb der Klöster wurde durch Amortisationsgesetze eingeschränkt - wofür es bereits seit dem Spätmittelalter Vorbilder in der Klosterpolitik der habsburgischen Landesfürsten gab. Der Nachwuchs der Orden sollte gedrosselt werden, indem es untersagt wurde, daß Jugendliche bereits die Gelübde ablegten. Ein landesfürstliches Gesetz bestimmte 1770 als Profeßalter, das heißt als Mindestalter für die Ablegung der Gelübde, das 24. Lebensjahr. Außerdem wurde 1771 eine Obergrenze festgesetzt für den Vermögenswert der Mitgift, welche ein Ordenskandidat dem Kloster beim Eintritt zugute kommen lassen durfte. Den Orden wurde ferner die „Geldausschleppung" verboten, das heißt, sie durften keinerlei Geldbeträge mehr aus den habsburgischen Ländern ausführen, weder an auswärtige Provinzobere, noch an die Ordensgeneräle in Rom. Das waren Maßnahmen im Rahmen einer merkantilistischen Wirtschaftspolitik. Sie

Aufklärung und frühjosephinische Reformen in Österreich

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wurden staatlicherseits ergriffen, ohne daß der Papst ihnen zugestimmt hatte, und vom Standpunkt des kanonischen Rechts mußten sie deshalb als Ubergriffe erscheinen. Die Kritik der Aufklärer an der religiösen Mentalität des Barock galt nicht nur dem Klosterwesen. Auch die vielen kirchlichen Feiertage, die Bruderschaften und das Wallfahrtswesen wurden kritisiert, weil sie angeblich den Müßiggang beförderten, indem sie die Menschen von der Arbeit fernhielten. Die Zahl der Feiertage wurde in Österreich in zwei Stufen 1753 und 1771 durch Gesetze Maria Theresias drastisch reduziert - dies übrigens mit Einwilligung des Papstes. Die Feiertags-Reduktion war wichtig, auch weil sie die Dialektik in der Wirkung der Aufklärung zeigt. Die Reform verschärfte die Arbeitsbedingungen für die breiten Volksmassen. Denn die kirchlichen Feiertage waren ja die einzige Form von Urlaub, welche die Handwerker, Manufakturarbeiter und Bauern kannten. Die Feiertags-Reduktion war der Punkt, an dem sich zuerst ein volkstümlicher Widerstand gegen die staatliche Reformpolitik regte. Auch späterhin blieben die unteren Schichten der Bevölkerung eher abweisend gegenüber dem josephinischen „gemäßigten Katholizismus". Der Barockkatholizismus, der traditionelle religiöse Brauch und die davon geprägte Mentalität lebten im Volk vorerst weiter. Die Klostergesetzgebung und die Feiertags-Reduktion erfolgten bereits im Zusammenhang mit den neuen kirchenpolitischen Richtlinien, die der Staatskanzler Fürst KaunitzRietberg seit Ende der 1760er Jahre einführte. Kaunitz entwickelte die Konzeption einer staatskirchlichen Politik auf der Grundlage eines naturrechtlich abgeleiteten und neu interpretierten Kirchenrechts. Darüber verfaßte er grundsätzliche Denkschriften für Maria Theresia. Die Konzeption des Staatskanzlers Kaunitz fußte einerseits auf der territorialistischen kirchenrechtlichen Theorie der deutschen Protestanten. Kaunitz kannte andererseits die Theorie und Praxis des burgundisch-spanischen Staatskirchen-Rechts, so wie dieses in den österreichischen Niederlanden gehandhabt wurde. Staatskanzler Kaunitz führte auch neue Behörden ein, welche die Leitung und Beaufsichtigung des Kirchenwesens übernehmen sollten, und zwar waren das zentrale Kirchenbehörden für die Lombardei sowie für die böhmischen und österreichischen Länder. Joseph II. verfolgte in dem Jahrzehnt seiner Alleinregierung diesen Ansatz konsequent weiter. Die josephinische Reform war seitdem allerdings auch in der ständigen Gefahr einer Uberbürokratisierung, sie begünstigte eine Neigung zu kleinlicher Bevormundung. An diesem Punkt möchte ich meine Ausführungen zusammenfassen und einige Thesen formulieren, welche die erzielten Ergebnisse gewichten und in eine allgemeinere Perspektive einordnen. Der Josephinismus im Sinne eines staatskirchlichen Leitungs- und Kontrollsystems war das Werk des Fürsten Kaunitz. Aber das Staatskirchentum konnte eben doch nur ins Leben treten, weil es auch den Josephinismus im Sinne einer aufgeklärten Reformströmung - als „Reformkatholizismus" - gab. Beide Tendenzen ergänzten und stützten sich wechselseitig. Fragt man nach den Bedingungen, die eine solche Entwicklung ermöglichten, so trifft man letzten Endes immer wieder auf die Spur der Kaiserin-Königin. Ohne Maria Theresia wäre wohl die Entwicklung zu dem sogenannten Josephinismus so nicht möglich gewesen. Die Mischung von kirchlicher Frömmigkeit und Reformbereitschaft, welche für die Monarchin persönlich charakteristisch war, vererbte sich von ihr auf den Sohn Joseph und - jeweils mit Akzentverschiebungen - auch auf die nach dem Sohn benannte Geisteshaltung. Es kamen dabei die Wirkung einer starken Herrscherpersönlichkeit und strukturelle Determinanten zusammen. Der eingebürgerte Begriff des Josephinismus sollte meiner Ansicht nach zwar beibehalten werden. Aber es ist doch eindeutig: Die Anstöße, die aus der Regierungspraxis und der Reformtätigkeit Maria Theresias kamen, wiesen bereits Richtung und Ziel. Maria Theresia war die erste, die von der notwendigen „großen Remedur" in den Kirchenangelegenheiten sprach.

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Wichtig erscheint mir nun das folgende: Der Theresianismus - wenn man diesen Begriff verwenden will - war nur bedingt ein genuin österreichisches Phänomen. Die geistigen Grundlagen und die Erscheinungsformen waren überwiegend Gemeingut der katholischen Aufklärung im Reich. Im außerösterreichischen katholischen Deutschland entwickelte sich vieles ganz parallel, das heißt im Kurfürstentum Bayern und vor allem in den geistlichen Staaten. Die Reformen im Bildungswesen, die sowohl die Universitäten als auch das Volksschulwesen betrafen, die Feiertags-Reduktion und die Klosterpolitik waren hier wie dort einander entsprechende Anliegen. Es gab eine gemeinsame aufgeklärt reformerische Grundströmung in den Fürstbistümern der katholischen deutschen Reichskirche zwischen Salzburg und Konstanz, dem kurkölnischen Bonn und Münster. Spezifisch österreichisch allerdings war in Wien die Komponente der Staatsräson einer Großmacht. Die aufgeklärten Reformen in der Habsburgermonarchie waren stets auch eine Funktion der Wiener Großmachtpolitik, konzipiert im Vergleich und in der Rivalität mit Preußen. Am Wiener Hof empfand man einen Nachholbedarf gegenüber den protestantischen Ländern. Die Reformen konnten dazu dienen, die inneren Machtressourcen des Staates besser zu mobilisieren. Deutlich wurde das bei der ökonomisch motivierten Klosterpolitik und bei der Feiertags-Reduktion. Auch die theresianische Volksschule fügte sich in wirtschafts- und strukturpolitische Zielsetzungen ein. Osterreichische Sonderverhältnisse kamen zum Ausdruck in der Problematik des Geheimprotestantismus. Die österreichische Staatsräson war insgesamt für die Entstehung des Josephinismus ein wesentlicher Faktor. Es ist kein Zufall, daß gerade staatstragende Gruppen der österreichischen Monarchie, wie Beamte, Offiziere und der Klerus, sich im 19. Jh. stark an die josephinische Tradition hielten. Aus dem allgemeinen Spektrum der Aufklärung im katholischen Deutschland war eben doch eine spezifisch österreichische Richtung herausgewachsen. Diese wurde zu einer weltanschaulichen Klammer für die habsburgische Monarchie. Als eine geistige Lebensform war der josephinische Katholizismus gekennzeichnet durch seinen gemäßigten, vermittelnden und kompromißhaften Charakter. F R I T Z VALJAVEC hat das zu Recht betont. Der Frühjosephinismus in der Zeit Maria Theresias kann einerseits die Einbindung Österreichs in die gemeinsame Geistes- und Kulturgeschichte des katholischen Deutschlands zeigen. Andererseits bahnte sich mit dem Josephinismus aber auch eine österreichische Sonderentwicklung an. Das Jahrzehnt der Alleinregierung Josephs verstärkte diese Tendenz. Die Rezeption und Verarbeitung der protestantisch geprägten Aufklärung Mitteldeutschlands und Norddeutschlands stellten jeweils einen stimulierenden Faktor dar. Damit komme ich zum Schluß. Der Josephinismus gehört zu den Themen, die unter Historikern zu einer Diskussion ohne Ende führen können. Auf einen methodischen Aspekt möchte ich hier noch hinweisen. Die Josephinismusforschung ebenso wie die Aufklärungsforschung sind manchmal, so scheint mir, zu sehr nebeneinander hergelaufen. Die klassischen Josephinismus-Interpretationen von F E R D I N A N D M A A S , E D U A R D W I N T E R und F R I T Z VALJAVEC bilden da keine Ausnahme. Eine komparative Betrachtungsweise ist aber auf jeden Fall weiterführend. Die Aufklärungsbewegung im Deutschland des 18.Jhs. ist nur als ein komplexes Phänomen zu begreifen; sie trat nach Territorien und gesellschaftlichen Gruppen vielfach differenziert auf, aber doch mit gemeinsamen Anliegen. Die Problematik von Aufklärung und Reform muß entwicklungsgeschichtlich vor dem jeweiligen konfessionellen Hintergrund gesehen werden. Die Aufklärung war nicht nur der Beginn der Moderne, sie beendete auch das Zeitalter der Konfessionalisierung. Die Aufklärung brachte eine Umwandlung der konfessionell geformten deutschen Kulturtraditionen - eine Umwandlung, die prozeßhaft, produktiv und folgenreich war.

INGRID MITTENZWEI, BERNAU BEI BERLIN

Das stille Ringen um Emanzipation. Die jüdische Oberschicht Wiens vom Erlaß des Toleranzpatents 1782 bis zum Wiener Kongreß

Seit der Vertreibung der Juden aus Wien im Jahre 1670, von der u. a. Berlin profitierte 1 , gab es in der Residenz der Habsburgermonarchie nur einige wenige „tolerierte" Judenfamilien. Diskriminiert, durch das Tragen äußerer Symbole sofort als Juden kenntlich gemacht, in ihrem Alltagsleben und ihren Geschäften Einschränkungen unterworfen, befanden sie sich noch in der zweiten Hälfte des 18. J h . in einer merkwürdigen Lage: meist reich und durch ihre Finanzbeziehungen sowie ihre Handelstätigkeit mit den staatlichen Instanzen verbunden, galten sie dennoch als Fremde, deren Rechte durch Sondergesetze geregelt wurden. Das war auch unter Maria Theresia nicht anders, die, folgt man einer eigenhändigen Auslassung aus dem Jahre 1777, von Vorurteilen gegenüber den Juden durchdrungen war. Auf den Vorschlag der Hofkanzlei, allen Juden mit einem bedeutenden Handel die Erlaubnis zu erteilen, nach Wien zu kommen, verfügte sie, künftig keinem von ihnen ohne eine schriftliche Genehmigung die Ansiedlung zu gestatten. „Ich kenne keine ärgere Pest von Staatt als dise Nation, wegen Betrug, Wucher und Geldvertragen, Leüt in Bettelstand zu bringen, alle üble Handlungen ausüben . . . , mithin sie, sovill sein kan, von hier abzuhalten und zu vermindern." 2 Die Monarchin bezog sich bei ihrer Weisung auf die Judenordnung von 1764, die keinem Juden ohne eine besondere Privilegierung den Aufenthalt in der Residenz erlaubte. Bezeichnenderweise waren es die mit den Habsburgern aufs engste liierten jüdischen Heereslieferanten und Bankiers Samuel Oppenheimer und Simson Wertheimer, die nach der Vertreibung der Juden aus Wien als erste mit Schutzprivilegien ausgestattet wurden. 3 O h n e sie und ihre Finanzhilfen hätte der österreichische Staat die kriegerischen Konflikte des zu Ende gehenden 17. und beginnenden 18. J h . nicht überstehen können. In den Händen Oppenheimers lag ab 1682 das gesamte Proviantwesen des Reiches. Auch als Hoflieferant betätigte er sich. Der mit ihm verwandte Wertheimer avancierte zum Hofbankier und Finanzberater des Kaisers. Um diese „Tolerierten" bildete sich ein Kreis meist Anverwandter, die, anfangs angestellt und unter dem Schutz ihres Gönners lebend, sich allmählich von diesem lösten, ihrerseits Privilegien erhielten und nun selbst einen Kreis von Verwandten und Abhängigen um sich sammelten. Familien, deren Oberhäupter am Ende des 18. J h . zu den bedeutendsten Finanziers im Habsburgerstaat gehörten, hatten auf diese Weise F u ß gefaßt: die Arnsteiner 4 und

1

2

3 4

Vgl. Stefi Jersch-Wenzel, Juden und „Franzosen" in der Wirtschaft des Raumes Berlin/Brandenburg (Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission Berlin, Bd. 23), Berlin 1978. Vgl.Urkunden und Akten zur Geschichte der Juden in Berlin, Hg. A. F. Pribram, Bd. 1, Wien, Leipzig 1918, S. 425 f. Vgl. Max Grunwald, Samuel Oppenheimer und sein Kreis, Wien, Leipzig 1913. Vgl. Anm. 43.

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Ingrid Mittenzwei

Eskeles 5 , die in v e r w a n d t s c h a f t l i c h e n B e z i e h u n g e n z u d e n W e r t h e i m e r s t a n d e n , s o w i e die S i n z h e i m u n d L e i d e s d o r f e r 6 , die z u m K r e i s u m E m a n u e l O p p e n h e i m e r g e h ö r t e n . E r g ä n z t d u r c h H e e r e s l i e f e r a n t e n w i e A b r a h a m W e t z l a r , d e r 1 7 6 1 z u m kaiserlichen H o f f a k t o r e r n a n n t w u r d e 7 , s o w i e d e n aus K u t t e n p l a n in B ö h m e n k o m m e n d e n H o n i g s 8 o d e r d e m aus Prag s t a m m e n d e n S i m o n L ö w e l K u h , ab 1 7 6 0 H o f f a k t o r , w u c h s die Z a h l d e r m i t e i n e m S c h u t z p r i v i l e g ausgestatteten a l l m ä h l i c h an. 1 7 7 7 gab es 2 5 „tolerierte" Familien v o n insgesamt 9 7 , bestehend aus „ b e y l ä u f i g 5 0 0 K ö p f e n " . 9 1 7 8 1 , s c h o n in V o r b e r e i t u n g des Toleranzedikts, w a r v o n 3 3 „Tolerierten" die Rede. D i e gesamte J u d e n s c h a f t b e l a u f e sich auf 5 5 0 P e r s o n e n . 1 0 N a c h d e m E r l a ß des Patentes beschleunigte sich dieser P r o z e ß n o c h . .Tolerierte" Judenfamilien W i e n s 1 1 Jahr

Anzahl

1787

61

1790

7 2 (plus 18 o h n e T o l e r a n z g e b ü h r )

1804

12812

D a ß diese F a m i l i e n n i c h t m i t d e n ständig in W i e n l e b e n d e n J u d e n g l e i c h z u s e t z e n sind, e r g i b t sich aus d e m v o r h e r G e s a g t e n . N o c h i m m e r b o t d e r S c h u t z b r i e f eines F a m i l i e n o b e r h a u p t e s allen u n v e r h e i r a t e t e n A n g e h ö r i g e n , A n g e s t e l l t e n s o w i e d e m H a u s p e r s o n a l die M ö g l i c h k e i t , sich in d e r R e s i d e n z n i e d e r z u l a s s e n , j e d e n f a l l s s o l a n g e , w i e das P r i v i l e g i u m gültig blieb. 1 7 9 0 g e h ö r t e n z u d e n 7 2 F a m i l i e n 6 5 6 P e r s o n e n . R e c h n e t m a n diese S u m m e f ü r die 1 2 6 „Tolerierten" des J a h r e s 1 8 0 4 h o c h , k o m m t m a n auf 1 1 4 7 P e r s o n e n . 1 3 5

6 7

8

Allgemeines Verwaltungsarchiv Wien (AVA), Adelsakt Bernhard Eskeles, 18. 4. 1811 (E); Constant Wurzbach, Biographisches Lexikon des Kaiserthums Oestreich, Bd. 4, Wien 1858, S. 79 f.; Bernhard Wachstein, Die Inschriften des alten Judenfriedhofes in Wien, Teil 2, Wien, Leipzig 1917, S. 365 ff.; Nachlässe der Wiener Juden im 17. und 18. Jh., hg. von Isidor Taglicht, Wien, Leipzig 1917, S. 132 ff.; Hanns JägerSunstenau, Die geadelten Judenfamilien im vormärzlichen Wien, Phil. Diss. Wien 1950, Bd. 1, S. 89; Renate Komanovits, Der Wirtschaftsadel unter Franz II. (I.) von 1792-1815, Phil. Diss. Wien 1974, S. 319 ff. Über die L. vgl. Wachstein, Die Inschriften, S. 471 ff, 524 ff.; Taglicht, Nachlässse, S. 190 ff. Heinrich Schnee, Die Hoffinanz und der moderne Staat, Bd. 4, Berlin 1963, S. 306; für W. vgl. weiter, AVA, Adelsakt Carl Abraham Wetzlar, 23. 11. 1777 (R); Bernhard Wachstein, Das Testament der Baronin Eleonora Wetzlar von Plankenstein, in, Archiv für jüdische Familienforschung, Jg. 1912, H. 4, 5, 6, S. 10 ff. Über die Familie Hönig vgl. u. a., Jäger-Sunstenau, Die geadelten Judenfamilien, Bd. 1, S. 38 ff. sowie den Stammbaum der Heniksteins, Bd. 2, S. 131 ff.. Dort auch die bis dahin erschienene Literatur. Ferner Ruth Gladstein-Kestenberg, Neuere Geschichte der Juden in den böhmischen Ländern, Tübingen 1969, S. 109; Komanovits, Der Wirtschaftsadel, S. 231 ff., 351 ff.; Joseph Karniel, Die Toleranzpolitik Kaiser Joseph II., Gerlingen 1985, S. 268 ff., 509; P. G. M. Dickson, Finance and Government under Maria Theresia 17401780, vol. I, Oxford 1987, 151 f.; Ingrid Mittenzwei, Aus dem Alltagsleben des Wiener Großkaufmanns Adam Albert Hönig am Ende des 18. Jh., in, Kairos, 1992/93, S. 168 ff.

' Urkunden und Akten (wie Anm. 2), S. 427. Ebd., S. 444. 11 Ebd., S. 610, Bd. 2, S. 120 ff. 12 Die Zahl stimmt nicht mit der bei Pribram abgedruckten Liste überein, weil dort in sieben Fällen die Nummerierung fehlt. " Akos Low, Die soziale Zusammensetzung der Wiener Juden nach den Trauungs- und Geburtsmatrikeln 1784-1848, Diss. Wien 1951, kommt unter Auswertung der genannten sowie der Sterbematrikel zu viel niedrigeren Schätzungen, 1787 = 200, 1790 - 210, 1804 = 350 Personen, vgl. S. 161. Er ignoriert die von Pribram abgedruckten amtlichen Quellen. Hier wird ihnen der Vorrang eingeräumt. 10

Jüdische Oberschicht Wiens

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Die „Tolerierten" Wiens, die in etwa mit den Berliner „Schutzjuden" gleichzusetzen sind, unterschieden sich u. a. dadurch von ihren Glaubensgenossen in der preußischen Residenz, daß sich ihr Privileg auf alle im Familienverband lebenden Verwandten, Angestellten und das Gesinde erstreckte. Diese Möglichkeit diente, wie Staatsrat Kreßl 1777 kritisch vermerkte, „zum Vorwand der Vermehrung der hiesigen Juden." 1 4 Ihre N a c h k o m men jedoch mußten, wollten sie einen eigenen Hausstand gründen, ein eigenes Privileg beantragen, während die „ordentlichen Schutzjuden" Berlins das Recht besaßen, ein Kind auf ihren „Schutzbrief" anzusetzen. 1 5 Von den Wiener „Tolerierten" beschäftigten sich die meisten mit dem Handel. Die Judengesetzgebung des habsburgischen Absolutismus ließ eine andere Möglichkeit kaum zu, auch wenn sich Monarchen wie hohe Beamte allmählich mit den Juden arrangierten, ihren Nutzen vor allem für die staatlichen Finanzen erkannten, ihre Gelder in den Aufbau von Manufakturen zu lenken versuchten und ihnen deshalb Sonderrechte zubilligten. 16 Sie blieben trotzdem Beschränkungen unterworfen. Die bezogen sich auch auf die Wirtschaft, lange Zeit die einzige Sphäre, in der Juden und Christen miteinander kommunizierten. Von Zünften und Innungen waren sie in den meisten europäischen Ländern ausgeschlossen, auch in Wien. Und trotz der Tatsache, daß H o f j u d e n und jüdische Heereslieferanten Handel im großen betrieben, war ihnen bis zum Toleranzpatent Josephs II. der G r o ß h a n del untersagt. In das 1774 in Wien gegründete Gremium der Großkaufleute konnten sie nicht aufgenommen werden. Sieht man von den Hoffaktoren ab, durften sie lediglich Geldgeschäfte machen und Wechsel- und Juwelenhandel betreiben. Aus diesem G r u n d e akzeptierte selbst die Hofkanzlei eine anonyme Kritik „wegen der den Juden zu sehr versperrten Nahrungsweege." 1 7 Sie begründete die Rechtmäßigkeit dieser Einlassung mit dem Verbot, „Realitäten", also Immobilien, zu beleihen, wodurch mit Geldgeschäften nicht viel zu gewinnen sei, sowie mit dem geringen Wechselhandel in Wien. Mit dem Juwelenhandel stände es noch schlimmer, „da selbe keinen Abgang finden, die Juden solche nicht fassen dörfen und ihnen verboten sey, Jubelen auf Kredit zu geben." 1 8 Fügt man hinzu, daß ihnen selbst der Kommissions- und Speditionshandel verboten war 19 , so blieb bis zum Toleranzpatent wirklich nur die Möglichkeit, über das H o f f a k t o r e n t u m Zugang zu den großen Geschäften zu bekommen. N o c h 1785, also nach Erlaß des Patentes, weist die Liste der tolerierten Familien Wiens, die damals 72 N a m e n enthielt, 52 Personen aus, die ihren Lebensunterhalt mit Handelstätigkeit verdienten, viele noch mit dem früher erlaubten Wechsel- und Juwelenhandel, aber einige auch schon mit dem Kauf und Verkauf von Manufakturwaren: Wolle, Leder und Seide. Das Verzeichnis enthält außer einem Petschierstecher, einem für das Leben der „Gemeinde" wichtigen Fleischhacker und einem Branntweinbrenner keinen Handwerker. Auch verschiedene , Judentrateure" und „Koscherweinschenke" waren auf die Bedürfnisse der Wiener Juden ausgerichtet. Beamte finden sich unter ihnen nicht und nichtbeamtete Angehörige der Intelligenz nur in der Person des D o k t o r s der Medizin Samuel Bernhard

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Urkunden und Akten (wie Anm. 2), S. 427. Jersch-Wenzel, Juden und „Franzosen" (wie Anm. 1), S. 94. Hier ist vor allem an die Hofjuden oder Hoffaktoren gedacht. Dazu allgemein, Selma Stern, The Court Jew. A Contribution to the History of the Period of Absolutism in Central Europe, Philadelphia 1950; Schnee, Die Hoffinanz und der moderne Staat, Bd. 1-6, Berlin 1953. 17 Urkunden und Akten (wie Anm. 2), S. 453. >« Ebd. 19 Ebd. 15

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Oppenheimer und des Zahnarztes Noel Ascher, in Berufen also, die seit langem erlaubt waren. Eine gewisse Einseitigkeit in der beruflichen Struktur der „Gemeinde" ist also nicht zu übersehen. Sie war das Ergebnis der bisherigen Judenpolitik, der Preis für das Aufenthaltsrecht, das man einzelnen Auserwählten gewährte. In eine solche Existenz gedrängt, mußten sich die Juden auch in Wien die Vorurteile und Vorwürfe von Christen gefallen lassen. Die, wie Johannes Pezzl meinte, ungefähr 650 „Judenseelen Wiens" hätten einen einzigen und ewigen Beruf, „zu mauscheln und schachern, und Geldmäkeln, und zu betrügen Kristen, Türken Heiden, ja sogar sich selbst unter einander." 2 0 Moses Mendelssohn, der diese nicht nur für Wien typische Erscheinung bedauerte, verteidigte seine Glaubensgenossen mit den Worten: „Man bindet uns die Hände und macht uns zum Vorwurf, daß wir sie nicht gebrauchen." 2 1 Die Einseitigkeit aber setzte Kräfte frei. Es galt, sich in einer nicht freundlichen Umwelt zu behaupten, durch Leistungswillen und Anpassungsbereitschaft wenigstens die Spitzen der Gesellschaft für sich einzunehmen. Die europäischen Höfe, auch der Wiener, bedienten sich der Juden zu finanziellen Transaktionen und zur Belieferung der Armeen nicht zuletzt deswegen, weil sie risikobereit waren und über weitreichende Geschäftsbeziehungen verfügten. Für die Kapitalbeschaffung waren sie dank ihrer seit dem Mittelalter zwangsläufig erworbenen Fähigkeiten nicht zu ersetzen. Selma Stern zitiert eine Klage der Hofkammer aus dem Jahre 1673, also nach dem Exodus der Juden aus Wien, wonach der Handel durch die Vertreibung schwer geschädigt worden sei und das „Geldgeschäft stokke". 2 2 Und was als Restriktion gedacht war, der Ausschluß von Innungen und Zünften, erwies sich in einer Zeit, in der sich der Übergang zum Kapitalismus vollzog, als Vorteil. Die Juden konnten frei von Zwängen wirtschaften, die die Zünfte immer noch ausübten, auch wenn die beginnende Moderne ihren Tribut bereits forderte. Der Schritt vom Handel in die Produktion, der auf Grund der „Einseitigkeit" in vielen Fällen erst auf Druck des Staates erfolgte, war immer ein Schritt zur „Großproduktion", zu Verlag und Manufaktur. Auch in Wien und Umgebung ist das Anwachsen derselben im späten 18. Jh. zum Teil auf die Aktivitäten der Juden zurückzuführen. Sie spielten hier zwar keine so große Rolle wie die protestantischen Minderheiten, ihr Hauptgebiet blieben Großhandel und Bankwesen, aber ganz ohne sie vollzog sich der Übergang nicht. Zu denjenigen, die ihr im Großhandel und im Finanzgeschäft erworbenes Kapital für den Betrieb von Manufakturen einsetzten oder Handwerker verlegten, gehörten von den „tolerierten" Juden Wiens Angehörige der Familien Arnsteiner, Eskeles, Honig, der aus Fürth eingewanderte Ferdinand Arenfeld 2 3 sowie der bekannte Isaak Low Hofmann. Rechtliche und soziale Gründe sowie die besondere Situation der Juden in einer christlichen Umwelt bedingten, daß sich die jüdische Oberschicht Wiens am Ende des 18. J h . hauptsächlich aus Großhändlern und Bankiers, Manufakturunternehmern und Verlegern zusammensetzte. Ihr Einfluß auf die zum Teil von ihnen abhängigen Glaubensgenossen in der Residenz war enorm. Reichtum und wirtschaftliche Stellung erzeugten zudem ein Selbstbewußtsein, das schon vor Erlaß des Judenpatents bestehende Schranken zu durchbrechen suchte. Galt Mitte des 18. J h . der Umgang mit Christen noch als Ausnahme, als 20 21

Johann Pezzl, Skizze von Wien, Teil 5, Wien 1786, S. 647. Nach Jacob Katz, Aus dem Ghetto in die bürgerliche Gesellschaft. Jüdische Emanzipation 1 7 7 0 - 1 8 7 0 , F r a n k f u r t / M a i n 1986, S. 74.

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Selma Stern, Der preußische Staat und die Juden, Bd. 1, Tübingen 1962, S. 1, A n m . 1.

23

AVA, Adelsakt Ferdinand Arenfeld, 24. 2. 1787 (R); Stadt-und Landesarchiv Wien, Merkantil- ud Wechselgericht, Fasz. 3, A 22. Über ihn vgl. auch Schnee, Die Hoffinanz und der moderne Staat, Bd. 4, S. 119 f.; Komanovits, Wirtschaftsadel (wie A n m . 5), S. 256 f.

Jüdische Oberschicht Wiens

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das Unnormale, so äußerten sich Beamte in den siebziger Jahren schon besorgt über die allzu „vertreyliche Gemeinschaft der hiesigen Juden mit den Kristen." 24 Staatsratsmitglied Lohr sprach von „unanständigen Neuerungen". 25 Die Initiative dazu ging von Söhnen reicher Großkaufleute aus, die sich in ihre Rolle als Diasporajuden nicht mehr schicken wollten. Als der österreichische Absolutismus mit dem Regierungsantritt Josephs II. von der Diskriminierung religiöser Minderheiten abzurücken begann, da stieß er zwar noch in Teilen der Gesellschaft auf Widerstand, „Nichtkatholiken" und Juden aber hatten durch ihr wirtschaftliches Engagement, ihre Tüchtigkeit und ihr Ringen um eine rechtliche Gleichstellung den Boden für diese neue Politik längst bereitet. Das Toleranzpatent für die Juden wurde nach einer achtmonatigen Diskussion am 2. Januar 1782 verabschiedet. 26 Es war ein widersprüchliches Dokument. Was die Juden Wiens mit Freuden begrüßten, war die Abschaffung diskriminierender äußerer Merkmale, gegen die sie sich seit den siebziger Jahren zur Wehr gesetzt hatten. Von nun an brauchten sie keine Abzeichen, Trachten und Barte mehr zu tragen, durch die sie sich jedermann als Juden zu erkennen gegeben hatten. Der Besuch von öffentlichen Lokalen, Kaffeehäusern und Bällen wurde ihnen erlaubt. Man nötigte sie nicht mehr, in bestimmten J u d e n h ä u sern" zu logieren. Sie konnten „eigene Wohnungen sowohl in der Stadt als in den Vorstädten nach ihrer Willkühr" mieten. 27 Auf die Standesbedürfnisse der „Honoratioren" wurde sogar soweit Rücksicht genommen, daß man ihnen und ihren Söhnen erlaubte, Degen zu tragen. Die Festlegungen dienten wie andere Maßnahmen der Integration bzw. Assimilation der jüdischen Bevölkerung. Joseph II. wollte, wie es in dem Handschreiben vom Mai 1781 hieß, die jüdische Nation „dem Staate nützlicher" machen. 28 Ihm ging es um eine einheitliche Untertanenschaft. Deshalb der Verzicht auf ausgrenzende äußere Kennzeichen. Deshalb auch das Verbot des Hebräischen und der „hebräisch mit deutsch vermengte(n), sogenannte(n) jüdische(n) Sprache und Schrift" 29 bei allen öffentlichen, gerichtlichen und außergerichtlichen Handlungen. Letztlich war, wie das Handbillet in diesem Falle unverhüllter formuliert hatte, „die unvermeidliche Beseitigung der Nationalsprache" der Juden beabsichtigt.30 Dessen ungeachtet erleichterte die Aufhebung bisheriger Diskriminierungen der jüdischen Bevölkerung das tagtägliche Leben. Sie brachte, von der Sprache abgesehen, in gesetzliche Form, was sie sich durch zivilen Ungehorsam zu erstreiten gesucht hatte. Nicht weniger bedeutungsvoll war der Wegfall wirtschaftlicher Hemmnisse. Von nun an durften Juden alle Handwerke bei christlichen Meistern erlernen, „alle Gattungen von 24 25 26

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Urkunden und Akten (wie Anm. 2), S. 430. Ebd., S. 433. Vgl. das Handschreiben des Kaisers mit dem Entwurf des Patents in Urkunden und Akten, Bd. 1, S. 440. Der Abdruck des endgültigen Patents ebenda, S. 494-500. Auf die Toleranzpolitik insgesamt kann hier nicht eingegangen werden. Vgl. dazu Johann Gotzlirsch, Maria Theresia und die Frage der Toleranz den Protestanten gegenüber, Diss. Wien 1925; Ferdinand Maass, Der Josefinismus. Quellen zu seiner Geschichte in Österreich von 1760-1850, Bd. 2, Wien 1953; Dorothea Appelt, Die Idee der Toleranz unter Kaiser Joseph II., Diss. Wien 1959; Peter F. Barton, Toleranz und Toleranzpatente in der Donaumonarchie, in: Im Zeichen der Toleranz, hg. von Peter F. Barton, Wien 1981; Josef Karniel, Die Toleranzpolitik (wie Anm. 8). Vgl. die Paragraphen 18 und 24 des Patents in den Urkunden und Akten (wie Anm. 2), S. 498. Dazu auch die Einleitung von Pribram, Bd. 1, S. LXXV ff. sowie Ludwig Bato, Die Juden im alten Wien, Wien 1928, S. 93. Urkunden und Akten (wie Anm. 2), S. 440. Ebd., S. 498. Ebd., S. 440.

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Gewerben" ausüben, sich um die Großhandelsbefugnis unter den „nämlichen Bedingnissen und mit eben den Freyheiten", wie sie die Christen besaßen, bewerben. Das Patent ermunterte zur Anlegung von Manufakturen und erlaubte es, Grund und Boden zu beleihen. 3 1 D o c h schon hier zeigt sich die Vorsicht, mit der man zu Werke ging, der Unterschied zum Toleranzpatent für die Evangelischen. Um Mißverständnissen vorzubeugen wurde ausdrücklich darauf hingewiesen, daß man christliche Meister nicht zur Aufnahme jüdischer Lehrlinge zwingen wolle, sondern beiden nur die Freiheit einräume, sich untereinander zu einigen. Vom Bürger- und Meisterrecht blieben Juden nach wie vor ausgeschlossen. Grund und Boden durften sie zwar beleihen, seinen Wert aber nicht schätzen. Uber die Grundbesitzfähigkeit, die für die jüdische Oberschicht von besonderer Bedeutung war, wurde überhaupts nichts verlautet. Was ihnen 1764 abgesprochen worden war, erhielten sie auch 1782 nicht zurück. 3 2 Eine völlige Gleichberechtigung brachte das Patent also nicht. Der Gesetzgeber und seine Berater, integriert in die niedergehende ständische Gesellschaft, hatten Rücksichten zu nehmen: auf Adel und Städtebürger, die das Vorrecht auf Grund und Boden, Bürgerund Meisterrechte sowie auf Zunftfähigkeit gegenüber den Juden, zum Teil auch gegenüber Lutheranern und Kalvinisten, verteidigten. Grundsätzliche Unterschiede gab es bei den beiden für Protestanten und Juden bestimmten Patenten hinsichtlich der Möglichkeiten für eine Religionsausübung. Ersteren erlaubte man die Gemeindebildung, und darauf konzentrierten sich in der Anfangszeit auch die Aktivitäten von Lutheranern und Kalvinisten. Das „Judenpatent" untersagte sie. Die Wiener Juden durften „keine eigentliche Gemeinde unter einem besondern Vorsteher ihrer Nation" bilden. Ihnen war kein öffentlicher Gottesdienst, keine Synagoge gestattet. Eine Druckerei für Gebet- und andere Bücher in hebräischer Sprache durften sie nicht betreiben. 3 3 Damit hatten sich die Kräfte im Staatsapparat durchgesetzt, die den bisherigen Zustand aufrecht erhalten wollten. Zwar schlug die niederösterreichische Regierung vor, den Juden eigene Vorsteher oder Rabbiner zu genehmigen, die Hofkanzlei aber widerriet in einem für den Kaiser bestimmten Vortrag, weil sie darin ein Mittel sah, die „Vorurtheile und abergläubischen . . . Gebräuche (der Juden, I. M.) auf alle Zeit fortzupflanzen", Abneigung und H a ß gegen jene zu vergrößern, die nicht ihrer Gemeinde angehören. 3 4 Öffentliche Gottesdienste lehnte sie ab, weil die „Beschaffenheit der jüdischen Nation in Ansehung ihrer bekannten, ganz eigenen, gefährlichen Gemütsart nicht zulasse, sie ohne aller Aufsicht mit den christlichen Unterthanen zu vermengen." 3 5 Nun mag es Vorurteile bei Juden gegeben haben, die Stellungnahme der Hofkanzlei aber verrät ihrerseits Voreingenommenheit. Ein Eigenleben der Juden tolerierte die Behörde nicht. „Man muß die Juden . . . halten wie jede andere fremde Religionsgenossene und als solche müssen sie wie bisher unter der Landesstelle und O r t s o b r i g k e i t . . . stehen und nur wohl darauf gesehen wird, daß sie nicht ausschweifen, kein öffentliches Ärgernis geben und nirgends die christliche Religion beirren." 3 6 Die obrigkeitliche Aufsicht über die Wiener Juden schien ihr bei einer Gemeindebildung, wie sie den Protestanten erlaubt war, gefährdet. Neben religiösen Vorurteilen war das wohl der Hauptgrund dafür, daß in dieser Frage alles beim Alten blieb. Auch die bisherige Art der Duldung erfuhr keine Veränderungen.

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Vgl. die Ebd., S. Ebd., S. Ebd., S. Ebd., S. Ebd., S.

Paragraphen 10 und 14. Ebd., S. 497 f. 378. 494. 462. 444. 462.

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Wenn im Patent am Schluß festgestellt wird, daß die „jüdische Nation" in bezug auf ihre Nahrungswege und den Genuß der bürgerlichen und häuslichen Bequemlichkeiten anderen Religionsverwandten „beynahe" gleichgesetzt wird 3 7 , dann charakterisiert dieses Wort Bedeutung und Begrenzung des Patents. Über die nicht gewährte religiöse Gleichstellung aber verlor der Gesetzgeber im Resümee kein Wort. Im Gegensatz zu den Protestanten haben sich die Juden in die Debatte, die der Gesetzgebung vorausging, eingemischt. Das meiste davon ist jedoch im Dunkeln geblieben. Während von Prag aus, wo die größte Judengmeinde Europas lebte, direkt mit den Behörden über das weitere Schicksal der Juden in der Habsburgermonarchie verhandelt wurde 3 8 , beschritten ihre einflußreichen Wiener Glaubensgenossen einen anderen Weg. Sie spielten dem Kaiser eine anonyme Schrift zu, die leider verloren gegangen ist, deren Inhalt sich aber bruchstückhaft aus einer Stellungnahme der niederösterreichischen Regierung rekonstruieren läßt. 3 9 Folgt man diesem Bericht, dann trug die Schrift den Titel „Vorschlag zur Verbesserung des Schicksals der Juden. 4 0 Ihr Autor bzw. ihre Autoren müssen Angehörige der jüdischen Oberschicht gewesen sein. Es war keine Fremdsicht, die sie Joseph II. unterbreiteten, sondern die Sicht von Betroffenen, die unter den Verhältnissen litten, die sie beschrieben. Der Anonymus bezeichnete den „Religionshaß" als Hauptursache für alle „Bedrückungen und Einschränkungen" und kritisierte die,Judenordnung" von 1764. Die niederösterreichische Regierung hielt dem entgegen, nicht Judenhaß, sondern die Intoleranz der Judenheit sei der Grund für die Beschränkungen. Sie verlangte als Preis für die Emanzipation nicht mehr und nicht weniger als die Aufgabe jüdischer Identität. „Sie (die Juden, I. M.) müssen vorher ihre dem Staat und dem gesellschaftlichen Leben mit anderen Religionen gefährlichen Grundsätze ablegen, deren Entsagung in der That bezeigen, eine reine Sittenlehre annehmen und sodann können sie auf die allgemeine Freyheit und Gemeinschaft mit anderen Unterthanen Anspruch machen." 4 1 Die von der niederösterreichischen Regierung gemachten Einwände zeigen an, worauf sich die Kritik des Anonymus konkret bezog. „In Ansehung des ersten Satzes der anonymen Anmerkungen, nämlich wegen der den Juden zu sehr versperrten Nahrungsweege", erklärte sich die Behörde mit dem Verfasser einverstanden. Die Juden würden „bey der blos auf Geld, Wechsel und Jubelen eingestandenen Handlungsfreyheiten keinen besonderen Nahrungsweeg erhalten." 4 2 Wenn zu Beginn der Schrift gleich auf die Handelsbeschränkungen verwiesen wird, dann läßt sich daraus doch wohl schließen, daß es die Interessen jüdischer Händler waren, die der Anonymus artikulierte. Derselbe Schluß drängt sich auf, berücksichtigt man die Forderung, alle Begrenzungen aufzuheben, die für die Anstellung von Dienern und sonstigem Personal bestanden. Wer konnte sich die Beschäftigung von zahlreichen Dienern und Angestellten sonst leisten? D a ß sich Juden aus diesen Kreisen, die wirtschaftlich zu einer Macht geworden waren, gegen diskriminierende Vorschriften wehrten, die sich auf ihre Tracht, ihr Wohnen und37 38

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Ebd., S. 500. Karniel, Die Toleranzpolitik (wie Anm. 8), S. 384. Die Meinung von Katz, Aus dem Ghetto (wie Anm. 21), S. 41, derzufolge das Toleranzpatent ohne Zutun jüdischer Persönlichkeiten zustande kam, läßt sich in dieser Absolutheit wohl nicht aufrecht erhalten. Vgl. Pribram, Einleitung zu den Urkunden und Akten (wie Anm. 2), S. L X X ff; Karniel, Die Toleranzpolitik (wie Anm. 8), S. 386 f. Urkunden und Akten (wie Anm. 2), S. 463. Ebd., S. 452. Ebd., S. 453.

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Verhalten in der Öffentlichkeit bezogen, war den Behörden seit langem bekannt. Der Anonymus ging davon aus und wandte sich gegen Demütigungen, denen die wohlhabende jüdische Bevölkerung bis dahin ausgesetzt war. Es läßt sich nicht übersehen, daß Handbillet und Toleranzpatent den Juden Wiens in diesen Fragen entgegenkamen. Ihren Bitten wurde entsprochen. Ihre Einflußnahme auf die Gesetzgebung steht so außer Zweifel. Die Identität des Anonymus hat die Geschichtsschreibung seit jeher interessiert. Sie läßt sich nicht ausmachen. Soviel allerdings ist klar, daß er im Kreis der Familien Arnsteiner 43 und Eskeles zu finden ist. Wahrscheinlich war es der Vertraute des Kaisers, Kabinettssekretär Johann Valentin von Günther, der Freund und Geliebte von Eleonore Fließ, der Schwester von Bernhard Eskeles 44 , der Joseph II. die Schrift zuspielte. 45 Aber auch Fanny Arnsteiner soll mit dem Kaiser über die Lage der Juden gesprochen haben. Joseph II. begegnete der geistreichen und schönen Jüdin mit Sympathie. Zweimal besuchte er ihren Salon, der in dieser Zeit zu einem geistigen Mittelpunkt Wiens zu werden begann. Der preußische Staatsrat Stägemann, während des Wiener Kongresses häufig Gast bei Fanny Arnsteiner, berichtete 1819 von einer Begebenheit, derzufolge dieselbe den Kaiser „wie Esther den Ahasverus" um Wohlwollen für ihr Volk gebeten habe. Man agierte hinter den Kulissen, nutzte persönliche Beziehungen, um den als aufgeklärt geltenden Kaiser, der den Thron gerade erst bestiegen hatte, für sich und die Sache der Wiener Juden einzunehmen. Das Echo auf das Patent war wie bei den Protestanten zunächst überwältigend. Zustimmung äußerte sich in einer ganzen Reihe von Gelegenheitsschriften. 46 Eine von ihnen, die wieder im Zusammenhang mit den Arnsteiners zu sehen ist, nannte sich „Einige jüdische Familienscenen bey Erblickung des Patents über die Freyheiten, welche die Juden in den kaiserlichen Staaten erhalten haben". Sie erschien bei Rudolf Gräffer, und als Autor zeichnete ein „jüdischer Jüngling" namens Arenhof. Hinter dem Pseudonym verbarg sich Benedikt David Arnsteiner, damals 16 Jahre alt, ein Enkel Adam Isaaks, der im Hause seines Großvaters die Korrespondenz führte und der später in der Tat Schriftsteller wurde. 47 Die „Familienszenen" sind belanglos, die in ihnen erzählte Geschichte ist banal. Ein junger Mann, dem der Vater bisher die Heirat verweigerte, darf nach Bekanntwerden des Toleranzpatentes sein Mädchen ehelichen. Interessant ist jedoch das Vokabular, mit dem der Autor die Zeit vor und nach dem Edikt kennzeichnet. Vom „Sich-krümmen-undbücken-Müssen" ist da die Rede, von der eisernen Bande des Vorurteils, die alle Wege verschließt, der barbarischen Zeit, ja sogar von Sklaverei. Im Gegensatz dazu wird die Epoche nach dem Erlaß als „goldene Zeit" benannt, aus der die „Pest der Menschheit, das Vorurtheil verbannt" ist. 48 Was die Ära Josephs II. in der Sicht des Sechzehnjähigen 43

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Über die Arnsteiner vgl. Stadt- und Landesarchiv Wien, Merkantil- und Wechselgericht, Fasz. 3, A 19; Wachstein, Die Inschriften des alten Judenfriedhofes (wie A n m . 5), S. 4 6 2 - 6 6 ; Komanovits (wie A n m . 5), Der Wirtschaftsadel, S. 258 f. Nathan Adam Arnsteiner findet in zahlreichen weiteren Arbeiten kurze Erwähnung. Vgl. an neueren Arbeiten, Jäger Sunstenau, Die geadelten Judenfamilien (wie A n m . 5), S. 106; Karniel, Die Toleranzpolitik (wie A n m . 8), S. 2 5 5 - 5 7 , 455, 5 1 0 - 1 2 . Über E. Fließ vgl. Caroline Pichler, Denkwürdigkeiten aus meinem Leben. Mit einer Einleitung und zahlreichen Anmerkungen nach dem Erstdruck und der Urschrift hg. von Emil Karl Blümmel, Bd. 1, München 1914, S. 325 f.; Hilde Spiel, Fanny von Arnstein oder die Emanzipation. Ein Frauenleben an der Zeitenwende 1 7 5 8 - 1 8 1 8 , Frankfurt am Main 1968, S. 106 ff. Pribram, Einleitung zu den Urkunden und Akten (wie A n m . 2), A n m . 148. Ebd., L X X X ; Bato, Die Juden im alten Wien (wie A n m . 27), S. 97. S. Wininger, Jüdische National-Biographie, Bd. 1, Kraus Reprint, Nendeln/Liechtenstein 1979, S. 146. Einige jüdische Familienscenen bey Erblickung des Patents über die Freyheiten, welche die Juden in den kaiserlichen Staaten erhalten haben. Von einem jüdischen Jünglinge Namens Arenhof, Wien 1782, S. 6.

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auszeichnete, kann man aus einem Gespräch der beiden Väter schließen. Es ist symptomatisch für den im Hause eines Großkaufmanns aufgewachsenen jungen Mann, daß er dieselben sagen läßt, ihren Nachfahren ständen nun alle Wege offen, sich als „rechtschaffene brave Männer und Bürger" zu ernähren, während ihnen früher als einzige elende Quelle nur der Geldhandel übrig geblieben sei. „Und darüber mußten wir von aller Welt die bittersten oft ungerechten Vorwürfe des Wuchers dulden." 4 9 Natürlich kann man nicht in jedem Falle von einem literarischen Werk auf das Denken des Autors schließen. Doch ist nicht zu übersehen, daß es Schlüsselworte der Aufklärung waren, die der aus einer Familie von Großkaufleuten stammende junge Mann benutzte. Es war der schwer zu ertragende Schimpf, Wucher zu treiben, das „Sich-bücken-Müssen", welches er anprangerte, die Freude darüber, daß ihm nun alle „Nahrungswege" offen stehen, die er ausdrückte. Hier treffen sich die anonyme Schrift und die „Familienszenen", die offensichtlich aus dem gleichen Umfeld stammten. Religionshaß hatte auch der Anonymus gebrandmarkt, mehr „Nahrungswege" auch er gefordert, gegen Diskriminierungen war auch er angetreten. Es wäre jedoch falsch, wollte man daraus schließen, daß sich die Wünsche und Hoffnungen der Wiener Juden nun erfüllt hätten. Schon bald nach Bekanntgabe des Patentes setzte das stille Ringen um den Abbau noch bestehender Schranken ein. Den Juden der Residenz ging es hauptsächlich um die Bildung einer Gemeinde, die Grundbesitzfähigkeit und die Zulassung ihrer Glaubensgenossen zum Staatsdienst. Der Wunsch nach einer Gemeinde stand möglicherweise schon hinter der schwer zu erklärenden Ablehnung einer Normalschule für jüdische Kinder, die das Patent forderte. Ob die tonangebenden reichen Juden, wie Bato meint 50 , keinen Handlungsbedarf sahen, weil ihre Nachkommen von Hauslehrern erzogen wurden und sie nach Integration in die Gesellschaft strebten, scheint fraglich; denn trotz stärkerer Einbeziehung in das gesellschaftliche Leben Wiens gaben sie in der Folgezeit das Bemühen um eine Gemeinde nicht auf. Viel plausibler ist der Erklärungsversuch Pribrams, der die Weigerung als ein Druckmittel betrachtet, die Gemeindebildung oder wenigstens die Wahl von Vertretern doch noch zu erzwingen. 5 1 In einer von Adam Isaak Arnsteiner und Low Isaak Leidesdorfer im Namen der Wiener Juden unterzeichneten Eingabe aus dem Jahre 1782 verwiesen diese jedenfalls zuallererst darauf, daß sie keine Gemeinde bilden und deshalb auch nicht über eine Gemeindekasse zur Unterhaltung der Schule verfügen. 52 In den folgenden Jahren gab es immer wieder Gelegenheit, auf das Fehlen einer Gemeinde hinzuweisen. So 1784, als alle „Tolerierten" anläßlich der neuen Verordnung über das Führen von Trauungs- und Sterbematrikeln darauf aufmerksam machten, daß dies ohne Gemeinde schwer möglich sei. 53 Oder 1784-1788, während der Streitigkeiten um das baufällige Judenhospital, das auf Anordnung Josephs II. wieder errichtet werden sollte. Hier besonders zeigte sich das Unbefriedigende der bisherigen Situation, die alle „Tolerierten" dazu zwang, die Kosten solcher Gemeinschaftseinrichtungen zu tragen und darüber Beschlüsse zu fassen, obwohl es kein Organ gab, diese auch durchzusetzen. Im Falle des Spitals weigerten sich einige „Tolerierte", Beiträge für den Bau zu leisten, weil sie bei der Versammlung, die darüber beschloß, nicht anwesend gewesen waren. Das veranlaßte die

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Ebd., S. 16. Bato, Die Juden im alten Wien (wie Anm. 27), S. 104. Pribram, Einleitung zu den Urkunden und Akten (wie Anm. 2), S. LXXXIV. Ebenso Gerson Wolf, Geschichte der Juden in Wien (1155-1876), Wien 1876, S. 87. Urkunden und Akten (wie Anm. 2), Bd. 2, S. 86. Wolf, Juden in Wien (wie Anm. 51), S. 93.

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„tolerierte" Judenschaft 1789 zu einem erneuten Vorstoß. Sie schlug dem Kaiser eine Liste von Wahlmännern vor und bat für diese um die Vollmacht, Deputierte zur Wahrung der gemeinsamen Interessen zu wählen. Dem Vorschlag lag nicht nur die Absicht zugrunde, endlich von den Behörden anerkannt zu werden, er richtete sich auch gegen diejenigen Wiener Juden, die sich gemeinsamen Verpflichtungen entzogen, „wie es auch bishero besonders von der niederen Klaß, die die große Zahl ausmachen, geschehen." 5 4 Die finanzielle Belastung war für die nicht zur Oberschicht gehörenden Juden offenbar zu groß, während die reichen „Tolerierten" mit der Übernahme solcher Leistungen zugleich die Führung der künftigen Gemeinde anstrebten. Unter den vorgeschlagenen 14 Wahlmännern befanden sich zehn Angehörige von Großhändlerfamilien: zwei Arnsteiner, vier Wertheimer, zwei Leidesdorfer sowie Samuel Herz und Maximilian Hönig. Unter Joseph II. scheiterten alle entsprechenden Vorstöße. Erst 1 7 9 0 / 9 1 , schon unter Leopold II. bzw. Franz II., waren die Bitten von Erfolg gekrönt. Anlaß war ein neues Zirkular, das sich gegen den illegalen Aufenthalt von Juden in Wien richtete. Sieben der angesehensten „Tolerierten", und zwar Nathan Adam und David Arnsteiner, Salomon Herz, David, Samson und Joseph Wertheimer sowie Joachim Leidesdorfer, rieten im Dezember 1790 vom Druck besagten Zirkulars ab, weil es den Anschein erwecke, „als wolle der Kaiser von dem Toleranzpatente von 1782 abweichen und die Juden in den vorigen Zustand der Unterdrückung, Unwissenheit und Verschmähung zurückversetzen, welchem Irrwahn unvermeidlich die frühere Verachtung, Schimpf, Spott und Schande folgen" würden. 5 5 Die Verhandlungen offenbarten zugleich, daß Behörden und „Tolerierte" im Falle der Zuwanderer gleiche Interessen hatten. Die angesehensten und gesittetsten Wiener Juden, so hieß es, „wollten nicht mit den ankommenden niedrigsten in eine Klasse gesetzt werden." 5 6 Um ihre privilegierte Stellung zu verteidigen, erklärten sie sich sogar bereit, einen der ihren zu benennen und zu besolden, der Erkundigungen über die fremden Juden, ihre Geschäfte in Wien, ihr Vermögen und ihren „sittlichen Charactere" einzog. Da diesem „geheimen Kundschafter" aber sicher hin und wieder Zweifel kämen, gab Salomon Herz kund, „sich der Leitung zu unterziehen und nicht allein durch seine Kanäle die wahren Umständ . . . zu erheben, sondern auch auf höheres Ermessen noch besondere Ausspäher . . . zu bestellen." 5 7 Den erneut vorgetragenen Antrag, einen Ausschuß wählen zu dürfen, begrüßte Stadthauptmann Franz Graf von Sarau denn auch „auf s freudigste". „Was sollte willkommener seyn? All diese Leute sind so viele Gehilfen für die Polizey, die selbst nichts kosten und die ihr, weil ihr eigenes Interesse mit verflochten ist, eifriger als jede andere dienen und nützlicher seyn werden." 5 8 Wenn Sarau auch das Eigeninteresse der Verhandlungspartner unterschätzte, daß einige von ihnen, darunter Familien reicher Großhändler, bereit waren, auch gegen Glaubensgenossen zu agieren, steht außer Zweifel. 1792 wurde den Wiener Juden gestattet, Vertreter zu wählen. 1793 übten David Wertheimer, Salomon Herz und Aron Leidesdorfer dieses Amt aus. Ihnen wurden vier Ausschußmänner beigesellt. Es waren dies Nathan Adam Arnsteiner, Bernhard Eskeles, Joachim Leidesdorfer und der Arzt Joel, mit Ausnahme des letzteren also allesamt Großhändler und Bankiers. Auch in den folgenden Jahren tauchen als Vertreter 5 9 lediglich Angehörige

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Urkunden und Akten (wie Anm. 2), S. 593.

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Ebd., S. 643.

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Ebd.

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Ebd., S. 644.

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Ebd., S. 645.

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' Diese mußten jährlich neu gewählt werden.

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der großen Firmen und Familiendynastien auf. 60 Sie dominierten nicht nur im Wirtschaftsleben, sondern bildeten auch die Brücke, über die sich die Beziehungen der „Tolerierten" zur Staatsmacht regelten. Trotzdem verfügten sie über keine Rechte. Sie hatten bloß Weisungen der Behörden durchzusetzen. Als sie 1796 um eine Instruktion für ihre Tätigkeit einkamen, da hieß es barsch, daß eine solche nicht erteilt werden könne, weil „sie keine Vorsteher seyen und die Nazion hier keine besondere Gemeinde" ausmache. 61 Zur Gemeindebildung, schon von Joseph II. abgelehnt, kam es auch bei Franz II. nicht, unter dem für die Juden Wiens ohnehin ein rauherer Wind wehte. Das hinderte die Vertreter aber nicht daran, aktiv zu werden. In Eingaben und persönlichen Aussprachen trugen sie allgemeine Forderungen der Wiener Juden vor. Durch sie besaßen die „Tolerierten" eine Stimme, die sich Gehör verschaffen konnte. Eine Forderung, die sie immer wieder erhoben, betraf die Grundbesitzfähigkeit. Das 1764 erlassene, 1782 stillschweigend übernommene und in den folgenden Jahren des öfteren bestätigte Verbot 62 , Grund und Boden zu erwerben, beeinträchtigte Wiens Juden sehr. Auf dreierlei Art und Weise versuchten sie dagegen anzugehen: mittels Eingaben, die sich auf eine Aufhebung des Verbots bezogen, mittels Bitten um eine Ausnahmegenehmigung und mittels Praktiken, die darauf zielten, das Gesetz zu umgehen. Kompromißbereit zeigten sich die Behörden unter Joseph II. noch, wenn es um das Eigentum des Staates ging. Schon 1785 schlug die Hofkanzlei vor, bei der Versteigerung öffentlicher Gebäude auch Juden zuzulassen, allerdings unter der Bedingung, dort Manufakturen anzulegen. Der Kaiser genehmigte den Vorschlag, setzte in jedem Falle aber seine vorhergehende Bestätigung voraus. 63 Am 2. Oktober 1789 wurde durch ein Zirkular bekannt gemacht, daß „wohlbemittelten Juden der Ankauf der Staatsgüter bey einer öffentlichen Versteigerung" erlaubt wird. 64 Diesem Beschluß war ein Antrag Israel Honigs vorausgegangen. Am 4. August hatte derselbe um seine Erhebung in den Adelsstand gebeten. Hönig wollte das Gut Velm kaufen. Dazu glaubte er den Adelstitel nötig zu haben. In seiner Bittschrift berief er sich auf die Verhältnisse in Galizien, wo Juden „Gütter und andere derley Qualitäten" käuflich erwerben könnten. 6 5 Der Jude Hönig forderte wenn auch nicht Gleichheit, so doch Gleichbehandlung. Dem Kaiser schmeichelte er, indem er auf die zum Vorteil des Staates angenommenen Duldungsgrundsätze sowie die diesen entsprechende „Behandlung aller dero unterthanen ohn unterschied" verwies. Daß diese „Gleichförmigkeit" nicht bestand, wußte Hönig. Schon sein Hinweis auf die Verhältnisse in Galizien widersprach ihr. Aber er Schloß aus seiner Schmeichelei, daß der Kaiser nicht abgeneigt sein werde, „dieße Besitzungs-Fähigkeit auch der Judenschaft in den übrigen Provinzen . . . zu verleihen." 66 Obwohl in der Stellungnahme zum Gesuch darauf verwiesen wurde, daß sich lt. niederösterreichischer Verfassung Juden nur in der Residenz niederlassen dürfen, verfügte Joseph II., dem Supplikanten „sowohl als jedem andern wohl bemittelten Juden den Ankauf der Staatsgüter bei einer öffentlichen Lizitazion (zu) gestatten." 6 7 Bis in die Begriffswahl stimmte diese Entscheidung mit dem späteren Zirkular überein. Im Falle Honigs hatte eine persönliche, geschickt vorgetragene, an den Zeitgeist

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Wolf, Juden in Wien (wie Anm. 51), S. 98. Urkunden und Akten (wie Anm. 2), Bd. 2, S. 63. Pribram, Einleitung zu den Urkunden und Akten, Bd. 1 (wie Anm. 2), S. CXI. Urkunden und Akten, Bd. 1, S. 552 f. Ebd., S. 553. AVA, Adelsakten Israel Hönig von Hönigsberg, 2.10.1789 (E), fol. 8. Ebd. Ebd., fol. 19.

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anknüpfende Bitte positive Folgen für die Juden insgesamt. Das aber war nur bei Joseph II. möglich. Ein Aufruf zu „gleichförmiger Behandlung" hätte bei Franz II. nichts genützt. 1793, als Gerüchte über eine in Arbeit befindliche Judenordnung die „Tolerierten" Wiens beunruhigten, baten diese, darin ihre schon 1 7 9 1 / 9 2 vorgetragenen Wünsche zu berücksichtigen. Im vierten Punkt ihres Forderungskatalogs sprachen sie die Bitte aus, des Besitzes aller unbeweglichen Güter „gleich den übrigen Unterthanen für fähig" erklärt zu werden. 68 Die Hofkanzlei hatte auf entsprechende Wünsche schon 1792 negativ reagiert. Sie seien gegen die Landesverfassung gerichtet. 6 9 Dabei blieb es. 1796 begründete man die Ablehnung damit, daß Leopold II. den niederösterreichischen Ständen ihre Privilegien wieder eingeräumt habe, „durch welche die Juden von dem Besitze der Realitäten in den östreichischen Landen ausgeschlossen seyen und auf dem flachen Lande sich gar nicht aufhalten" dürften. 70 D a ß die reichen Juden Wiens unter diesen Umständen nach Auswegen suchten, kann nicht verwundern. Einige von ihnen nutzten die schwierigen Jahre der Napoleonischen Kriege, während der sie den Habsburgern mit ihrem Können und ihren Kapital zur Seite standen, für eine persönliche Lösung. 1801 beantragten Nathan Adam Arnsteiner, Bernhard Eskeles und Salomon Herz die Grundbesitzfähigkeit. Im Gesuch war zum ersten Mal von „Naturalisation" die Rede. 71 In der durch die Französische Revolution und die Gleichstellung der Juden in den französisch besetzten Gebieten geprägten Situation ging es den Antragstellern nicht mehr nur um Einzelforderungen. Sie wollten die bürgerliche Gleichheit. Die um ein Gutachten gebetene Finanzhofkommission erkannte diese Tendenz sofort. Die Juden besäßen selbst in Ländern, wo ihre Verfassung „viel ausgebreiteter" sei, keine bürgerlichen Rechte und kein „Ankaufrecht von kristlichen Häusern und Realitäten." 7 2 Warum sollte man in Wien damit beginnen? Beispiele dieser Art würden die „sehr vermögenden" Wiener Juden veranlassen, bald ähnliche Anträge zu stellen. Die Folge wäre, so die Befürchtung der Kommission, daß sich in wenigen Jahren „ein großer Theil der Stadt W i e n " in den Händen der Juden befinde. 73 Der Kaiser entschied, nur Nathan Adam Arnsteiner den Kauf von bürgerlichen und Rustikalrealitäten zu gestatten. Man wird das als D a n k für die Dienste betrachten müssen, die der Bankier den Habsburgern während des ersten Koalitionskrieges mit Frankreich geleistet hatte. Die übrigen Gesuche wurden abgelehnt. Trotzdem wirkte die Genehmigung für Arnsteiner wie eine Bresche. 1808 dehnte Franz II. die Grundbesitzfähigkeit auf Arnsteiners Schwiegersohn Pereira und dessen Nachkommen aus. 1810 erhielt sie Bernhard Eskeles. Im gleichen Jahr reichte Salomon Herz eine Bittschrift ein, die vom Kaiser jedoch abschlägig beschieden wurde. Dasselbe geschah mit den Anträgen von Markus Leidesdorfer, Maximilian Trebitsch und Lazar Biedermann. Alle hatten sie Verdienste geltend gemacht, während der Kriege und innerhalb der ,Judengemeinde". Die beiden letzteren übten im Jahr der Antragstellung sogar das Vorsteheramt aus. Aber Monarch wie Behörden taten sich noch immer schwer, selbst Ausnahmen zu genehmigen. D o c h gab es unter der hohen Beamtenschaft bereits Männer, die, von der durch die Französische Revolution verursachten Krise beeinflußt, größere Zugeständnisse für angemessen hielten.

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AVA, Hofkanzlei, Karton 1535 IV. T. 2., N . Ö . Urkunden und Akten (wie Anm. 2), S. 657. Ebd., Bd. 2, S. 62. AVA, Hofkanzlei, Karton 1535, IV. T. 2, N . Ö . Ebd. Ebd.

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Sie waren in der niederösterreichischen Regierung und der Hofkammer, der Justizstelle und im Staatsrat anzutreffen. 74 Da der Bitte um eine Ausnahmeregelung, wie das Beispiel des Salomon Herz zeigt, nur in den seltensten Fällen entsprochen wurde, machte sich die Tendenz breit, das Gesetz zu umgehen. Das war in der preußischen Residenz Berlin nicht anders, wo ein ähnliches Verbot die jüdische Bevölkerung am Hauskauf hinderte. Auch hier versuchten einzelne Juden mit Unterstützung von Christen die Regelung zu unterlaufen. 75 In Wien hatten sich, seit den Juden erlaubt war, Grund und Boden zu beleihen, bestimmte illegale Praktiken zu deren Erwerb herausgebildet. So kam es vor, daß Juden Darlehen gaben, die dem Wert des Grundstücks entsprachen und sich so de facto in den Besitz desselben setzten. Oder sie schickten einen zum Hauskauf Berechtigten vor und traten selbst mandatario nomine in Erscheinung. Wenn sie dann die angebliche Verwaltung des Hauses übernahmen, konnten sie über ihr Eigentum auch verfügen. 76 Uber einige solcher Fälle wurde dem Kaiser 1814 berichtet. Langwierige Untersuchungen folgten. Man bezichtigte Salomon Herz, Markus Leidesdorfer, Michael Biedermann und Moises Carkenbacher, das Gesetz übertreten zu haben. Da Herz, Leidesdorfer und Biedermann auf legalem Wege nichts hatten erreichen können, waren sie offenbar mit Hilfe oben beschriebener Praktiken in den Besitz von Häusern gelangt. Zu einer Zeit, als sich die Juden in den französisch besetzten Gebieten schon ihrer „Naturalisation" erfreuten, mußten die zu Reichtum gelangten Wiener Juden noch Tricks anwenden, um unter Bedingungen, wie sie ihre christlichen Konkurrenten besaßen, leben und arbeiten zu können. Einem Großkaufmann diente ein Haus nicht nur als Wohnstätte. In ihm befanden sich auch sein Kontor und, wie in Wien allgemein üblich, Läden, Warenlager sowie für den Fuhrbetrieb notwendige Stallungen und Remisen. 77 Ein solches Haus mußte Platz für viele Menschen bieten. Die Mieten aber waren in Wien allgemein hoch und für Juden noch höher, da die Vermieter deren Zwangslage kannten. Doch Abhilfe war nicht in Sicht. Noch 1814 erließ der Kaiser ein Zirkular, das Scheinverträge verhindern sollte. 78 Bei Jäger-Sunstenau findet sich eine Liste der jüdischen Hausbesitzer aus dem Jahre 1829. 79 Sie enthält allerdings auch die Namen von Konvertiten, für die es kein Problem war, Grund und Boden zu erwerben. Danach scheint sich die Lage in den zwanziger Jahren des 19. Jh. etwas entspannt zu haben. Trotzdem läßt sich nicht übersehen, daß das Verbot in Niederösterreich bis ins 19. Jh. hinein rigoros gehandhabt wurde. In Berlin durften nach der Judenordnung von 1750 immerhin 40 Familien Häuser besitzen, nach dem Siebenjährigen Krieg sogar 70. 80 Auch diese Festlegung schränkte die wirtschaftlichen Möglichkeiten jüdischer Fabrikanten und Händler ein, beeinträchtigte ihr Sozialprestige. Aber sie war „liberaler" als in Wien, wo selbst bedeutenden Bankiers und Großhändlern der Besitz von Grund und Boden verweigert wurde. Die Forderung nach Zulassung zum Staatsdienst zielte auf die politische Integration der Wiener „Tolerierten" in den absolutistischen Staat. Obwohl unter Franz II. noch weniger

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Pribram, Einleitung zu den Urkunden und Akten (wie Anm. 2), S. CXII ff. Jersch-Wenzel, Juden und „Franzosen" (wie Anm. 1), S. 102. Pribram, Einleitung zu den Urkunden und Akten (wie Anm. 2), S. CXI; vgl. auch AVA, Hofkanzlei, Karton 1535, IV, T. 2, N. Ö. Pezzl, Skizze von Wien, 4. Aufl., Wien 1803, S. 128. Pribram, Einleitung zu den Urkunden und Akten (wie Anm. 2), S. CXI ff. Allerdings vermerkt er seinem Thema entsprechend nur geadelte Judenfamilien. Vgl. Jäger-Sunstenau, Die geadelten Judenfamilien (wie Anm. 5), Bd. 1, S. 97. Jersch-Wenzel, Juden und „Franzosen" (wie Anm. 1), S. 101.

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Ingrid Mittenzwei

erfüllbar als der Wunsch nach Grundbesitzfähigkeit, wurde sie immer wieder erhoben. Die vielfältigen Kontakte zwischen jüdischen Großhändlern und Beamten ließen offenbar den Gedanken aufkommen, Familienangehörige auf einflußreiche Posten zu bringen. 1792 wurden die Antragsteller „platterdings" abgewiesen. Zwei Jahre später nannte die niederösterreichische Regierung als Antwort auf eine erneute Eingabe die Gründe für ihre rigorose Ablehnung. „Vorzügliche Talente, ernste Verwendung zu nützlichen Staatsgeschäften, ausgezeichnete Moralität und Losreißung von dem allgemeinen Leben und Streben ihrer Glaubensgenossenschaft werden ihnen (den Söhnen der „Tolerierten", I. M.) immer den Zutritt zu öffentlichen Ämtern und Bedienungen in einzelnen Fällen öffnen, ohne daß der gesamten Nazion ein Recht zur öffentlichen allgemeinen Bewerbung eingeräumt werden darf." 8 1 Die Antwort ist in vielerlei Hinicht interessant. Nicht nur, daß in ihr von einem Juden, der die Beamtenlaufbahn einschlagen wollte, die Aufgabe seiner Identität verlangt wurde, sie formulierte auch das Selbstverständnis der josephinischen Beamtenschaft, die sich als eine Berufsgruppe von „ausgezeichneter Moralität" sah, ausgestattet mit „vorzüglichen Talenten". 8 2 Solche Tugenden setzte sie bei den Juden nicht als selbstverständlich voraus. Vor allem aber bekannten sich diese nicht zur „richtigen" Religion. Der österreichische Absolutismus war streng katholisch fundiert. Auf die Bürokratie bezogen, so schlußfolgert Waltraud Heindl, bedeutete das, daß Nichtchristen vom Staatsdienst ausgeschlossen waren. Nur ausnahmsweise finden sich konvertierte Juden als Beamte. Und auch sie waren nicht gern gesehen. 83 Aus diesem Grunde war auch in der Folgezeit kein Jude in einflußreichen Amtern zu finden. Durch die kleinen Zugeständnisse, die die „Tolerierten" erreichten, wurde ihre rechtliche Lage nicht grundsätzlich verändert. Zwar dachte man in der jüdischen Oberschicht unter dem Einfluß der Französischen Revolution schon an „Naturalisation". Doch war diese in der Habsburgermonarchie nicht durchzusetzen, solange man lediglich Eingaben schrieb, Verhandlungen führte, den einen oder anderen Beamten bestach, um Ausnahmen für Bessergestellte bat und im übrigen mit der Staatsmacht gemeinsame Sache machte, wenn es um zuwandernde arme Juden ging, auf die sich die Duldung nicht einmal erstreckte. Der Wiener Kongreß bot vor der Revolution von 1848 noch einmal eine Chance, die bürgerliche Gleichberechtigung der Juden durchzusetzen. Antisemitische Autoren in Deutschland hatten schon vor dem Sturz Napoleons zu beweisen versucht, daß die , J u d e n des Bürgerrechts nicht fähig" seien. 84 Nun benutzten Herrscher und Stadtgewaltige die Niederlage des Franzosen, um die alten Zustände wiederherzustellen. Zurück ins Ghetto, lautete die Devise. Der R u f wurde zuerst in Frankfurt am Main erhoben. Bremen, Lübeck und Hamburg folgten. In Hannover und Braunschweig hatte man die alten Judenordnungen schon wieder eingeführt. Das war der Grund dafür, daß Judengemeinden ihre Vertreter bzw. Rechtsbeistände nach Wien schickten, um dort eine Lösung ihres Problems durchzusetzen. 8 5 Die norddeutschen Gemeinden forderten das uneingeschränkte Bürgerrecht. Die Frankfurter Judengemeinde hatte eine Bittschrift verfaßt und zwei Deputierte nach Wien entsandt, die dort die Beibehaltung der 1811 gewährten bürgerlichen Gleichberechtigung forderten, die die neue Verfassung der Stadt faktisch zur Disposition stellte. 81 82

Urkunden und Akten (wie Anm. 2), S. 683. Allgemein hierzu Waltraud Heindl, Gehorsame Rebellen. Bürokratie und Beamte in Österreich 1 7 8 0 1848, Wien 1991.

83

Ebd., S. 65, 159.

84

Vgl. Christian Ludwig Paalzow, Ueber das Bürgerrecht der Juden, Berlin 1803, S. 164.

85

Ü b e r die jüdische Frage auf dem Wiener Kongreß vgl. Salo Baron, Die Judenfrage auf dem Wiener Kongreß, Wien, Berlin 1920; August Fournier, Die Geheimpolizei auf dem Wiener Kongreß, Wien 1913; Hellmut Andics, Die Juden in Wien, Wien 1988, Kap. 12, S. 219 ff.

Jüdische Oberschicht Wiens

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„Die Frage auf die es ankömmt", so hieß es in der Bittschrift, ist, ob „3000 jüdische Einwohner, 3000 gebohrne Ternsche, welche den Bürgereid geleistet und alle Bürgerpflichten redlich erfüllt, deren Söhne für die Errettung Teutschlands mitgefochten und die in dem Krieg mehr als jede andere Gemeinde gelitten haben, da ihnen über 300 Häuser eingeäschert wurden, ob diese in dem Besitze und Genüsse des vertragsmäßig so feierlich erworbenen Bürgerrechts zu Frankfurt geschützt werden sollen, oder ob man sie wieder in den vorigen Zustand der Unterdrückung zurückwerfen, und dadurch dem Elende und Spott Preis geben will?" 86 Unter dem Eindruck solcher Aktivitäten meldeten sich am 11.4. 1815 auch Vertreter der Wiener „Tolerierten" zu Wort. Sie überreichten eine Petition, die von Arnsteiner, Eskeles, Herz und im Namen der böhmischen Juden von Simon Lämel 87 sowie im Auftrage der mährischen von Lazar Auspiz unterschrieben worden war. In der Form devot, die längst erprobten „weisen Grundsätze" Franz II. preisend, erinnerten sie an ein 1797 für die böhmischen Juden erlassenes Edikt, dessen Zweck es gewesen sei, die unterschiedliche Gesetzgebung für Christen und Juden aufzuheben. „Die israelitischen Glaubensgenossen", so die fünf Großhändler, „haben Ew. Majestät Erwartungen Genüge geleistet. Ihre Fähigkeit zu allen nützlichen Gewerben ist durch Thatsachen erwiesen, die zahlreichen Werkstätten ihres Fleisses in mehreren Provinzen der Monarchie, ihre ausgebreiteten Fabriksanlagen, der Umfang ihrer auswärtigen Handels-Verbindungen, lassen über den Gebrauch, den sie unter liberalen und gleichförmigen Gesetzen von ihren Kräften und Capitalien machen würden, keinen Zweifel übrig." 88 Auch an Vaterlandsliebe und treuer Anhänglichkeit an den „geliebten Monarchen" hätten sie es den christlischen Mitbürgern gleich getan. Die sich verschlechternden Aussichten für eine allgemeine Lösung der Judenfrage auf dem Wiener Kongreß richtig einschätzend, baten sie den Kaiser, die „erhobene Verheißung" von 1797 in Erfüllung gehen zu lassen, die Israeliten allen übrigen Glaubensgenossen „in Rücksicht auf Erwerbs-, Gewerbs- und Besitz-Rechte gesetzlich" gleichzustellen. Baron kritisiert zu Recht die weitgehende Mäßigung der fünf Großhändler, die nur die privatbürgerliche Gleichstellung, nicht aber die staatsbürgerliche verlangten und die ihre Möglichkeiten zu einer Einflußnahme nicht voll ausschöpften. Als es wichtig gewesen wäre, auf Kongreßteilnehmer einzuwirken, hätten sich Arnsteiner und Eskeles mit ihren Familien auf ihre „Sommerresidenzen" in Baden und Hietzing zurückgezogen. 89 Doch ob ihre Anwesenheit von Nutzen gewesen wäre, ist mehr als fraglich. Auf dem Kongreß setzten sich die Kräfte durch, die die alten Zustände wiederherstellen wollten. Damit war auch der Vorstoß der österreichischen, böhmischen und mährischen Juden gescheitert. Aber er hatte die Richtung für die künftige Emanzipation der „israelitischen Glaubensgenossen" gewiesen. Nicht einzelne Zugeständnisse brachten eine Lösung, sondern die volle staatsbürgerliche Gleichheit aller Juden. Vorerst jedoch blieben die alten Verhältnisse. Privilegien für einige wenige „Tolerierte", entwürdigende Repressalien für die große Masse - diese Doppelgesichtigkeit prägte die Existenz des österreichischen Judentums bis 1848.90 86

Acten des Wiener Congresses in den Jahren 1814 und 1815, hg. von Johann Ludwig Klüber, Erlangen 1816, S. 401. 87 Lämel, der lt. Baron, S. 141, die treibende Kraft gewesen sein soll, verfügte damals schon über die Wiener Großhandelsfreiheit. Vgl. ausführlicher, Baron, Die Judenfrage auf dem Wiener Kongreß, S. 141 f., 174 ff. 88 Nach Baron, Die Judenfrage auf dem Wiener Kongreß (wie Anm. 85), S. 141. 89 Ebd., S. 145. ** Wolfgang Häusler, Toleranz, Emanzipation, Antisemitismus. Das österreichische Judentum des bürgerlichen Zeitalters (1782-1918), in, Das österreichische Judentum, Wien, München 1974, S. 89.

BRUNO BERNARD, BRÜSSEL

Belgien im Zeitalter der Aufklärung

Belgien ist ein Bundesstaat, der aus drei autonomen Regionen - der Brüsseler, Flämischen und Wallonischen Region - und drei kulturellen Gemeinschaften - der flämisch-, französisch- und deutschsprachigen Gemeinschaft - besteht, deren administrative Zuständigkeiten sich überschneiden. Das heutige Belgien, in dem 1988 Reformen durchgeführt wurden, kann zweifelsohne auf eine reiche und inhaltserfüllte Geschichte zurückblicken. Die Vereinigung der mittelalterlichen belgischen Fürstentümer wurde im 16. J h . unter der Herrschaft der burgundischen Herzöge vollzogen, ohne daß die angestammten Territorien jedoch auf ihre administrativen Eigenheiten verzichten mußten. Diese konnten sie vielmehr während der gesamten Periode des Ancien Regime, sei es unter der spanischen (1516-1700) oder der nachfolgenden österreichischen Herrschaft (1713-1794), beibehalten. Dieser Partikularismus, der das politische und soziale Leben Belgiens charakterisiert, bildet noch heute die wesentliche kulturelle Grundlage des „pluralistischen" Landes, das die Historiker lange Zeit mit dem bewußt gewählten ungenauen Begriff „unsere Regionen" bezeichneten. Alle in diesem Land unternommenen Zentralisierungsversuche - vom spanischen König Philipp II. bis zum holländischen König Wilhelm I. über Kaiser Joseph II. und sogar Napoleon - scheinen am Willen der verschiedenen Gemeinschaften gescheitert zu sein. Selbst der 1830 von vorwiegend katholischen und französischsprachigen Eliten gegründete Belgische Staat traf bald auf den zunehmenden Widerstand einer weltlichen und betont antiklerikalen Bewegung, zu der sich ursprünglich vor allem die französischsprachigen Belgier bekannten, und, seit 1860, auch die flämische Bevölkerung mit ihren kulturellen Ansprüchen. Gleichzeitig führte hier wie in anderen europäischen Ländern die Auseinandersetzung zwischen dem industriellen Großbürgertum und einer zunehmend proletarisierten Arbeiterklasse zur Entstehung zahlreicher Arbeiterorganisationen. Die drei erwähnten Antagonismen zwischen Verweltlichung und Katholizismus, flämischer und französischer Sprache sowie Sozialismus und Liberalismus bestimmen seit mehr als 150 Jahren die Urteile der belgischen Geschichtsschreibung. Bis 1970 wurde Geschichtsforschung nur an den vier wichtigsten Landesuniversitäten betrieben, so an der Katholischen Universität Löwen, der Freien Universität Brüssel (gegründet 1834) und den Staatlichen Universitäten Gent und Lüttich, die unter der holländischen Herrschaft eingerichtet worden waren. Ihre Entwicklung wurde jedoch durch die 1 9 7 0 / 7 1 erfolgte sprachliche Trennung der Universitäten Brüssel und Löwen stark beeinflußt. In der Historiographie, in der bisher die französische Sprache vorherrschte, wurde der Anteil der in Niederländisch verfaßten wissenschaftlichen Werke immer größer. Die wichtigste Folge dieser Trennung war jedoch die Herausbildung eines zwiegesichtigen, nahezu unvereinbaren „Geschichtsbewußtseins" beider Volksgruppen. So erwies es sich als fast unmöglich, eine „Belgische Gesellschaft zur Erforschung des 18. Jahrhunderts" ins Leben zu rufen. Noch heute werden die französischsprachigen Forscher in der Regel Mitglieder der „Societe francaise d'Etude du X V I I I e siecle", während ihre niederländischsprachigen Kollegen der „Werkgroep achttiende eeuw" beitreten, deren Sitz Nimwegen ist. D a die akademischen und administrativen Bereiche seit 1988 vollkommen getrennt sind - in Belgien existieren daher zwei Kultusministerien und zwei „nationale" Einrichtungen zur Unterstützung der wissenschaftlichen Forschung („Fonds Nationaux de la Recherche scientifique") - , werden die Gelegenheiten zur Zusammenarbeit immer seltener wahrgenommen

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und beruhen fast auschließlich auf persönlichen Freundschaften und gelegentlicher Zusammenarbeit. Aus diesem Grunde wurden die in Belgien in letzter Zeit veröffentlichten geschichtlichen Hauptwerke 1 von sprachlich homogenen Arbeitsgruppen verfaßt. Was die Zahl derjenigen Forscher angeht, die sich mit Fragen der Aufklärung und der Geschichte des 18. Jh. beschäftigen, so ist diese sehr gering. 2

1. Von den spanischen zu den österreichischen Habsburgern Im 18. Jh. war das heutige Belgien in vier Herrschaftsgebiete geteilt. Im Westen befanden sich die Österreichischen Niederlande (mit Brüssel als Hauptstadt), die das heutige Großherzogtum Luxemburg und einen Teil der Eifel umfaßten. Sie wurden quer durch das Fürstbistum Lüttich 3 geteilt, das die Gebiete zwischen dem heutigen niederländischen Limburg bis zum französischen Thierache in sich vereinigte. In den Ardennen, südöstlich von Lüttich, befand sich das Abt-Fürstentum Stavelot-Malmedy, ein ländliches Gebiet, das ebenso unabhängig wie das Herzogtum Bouillon war, das mehr im Süden lag und seit 1679 der französischen Familie La Tour d'Auvergne unterstand. Am Anfang des Jahrhunderts lebten in den genannten Gebieten insgesamt mehr als 3 Millionen Menschen (darunter an die 2 Millionen in den Österreichischen Niederlanden). Brüssel und Lüttich zählten etwas weniger als 100 000 Einwohner, Antwerpen und Gent nicht ganz 50 000, Brügge 30 000. Zwei große schiffbare Flüsse (die Maas und die Scheide) und wenige Hauptstraßen (vor allem zwischen Brüssel und Brügge, Antwerpen, Lüttich, N a m u r und Bergen) bildeten die wichtigsten Verkehrsverbindungen. Das Herzogtum Luxemburg, das aus der heutigen belgischen Provinz Luxemburg und dem Großherzogtum Luxemburg (das erst 1839 davon getrennt wurde) bestand, blieb sehr isoliert, da sich seine einzige Verbindung zu den Niederlanden südlich von Dinant an der Maas befand und von Lüttich energisch beansprucht wurde. Die Regierung Lüttichs machte von ihrem Zollrecht regen Gebrauch und

1

In französischer Sprache: La Belgique autrichienne 1713-1794. Les Pays-Bas meridionaux sous les Habsbourg d'Autriche, Hg. H. Hasquin, Brüssel 1987. Zehn der vierzehn Autoren sind französischsprachig. Eine Übersetzung dieses Werkes ist auch unter dem Titel Oostenrijks-Belgie 1713-1794. De Zuidelijke Nederlanden onder de Oostenrijkse Habsburgers, Brüssel 1987, erschienen. In niederländischer Sprache: Algemene geschiedenis der Nederlanden, Haarlem 1980. Dieses Werk behandelt das Gebiet des heutigen Benelux („de Groote Nederlanden': die Niederlande im weiten Sinne des Wortes, dessen Einheit von einigen politischen Bewegungen Flanderns und Hollands behauptet worden ist). Alle Autoren sind niederländischsprachig. Eine französische Übersetzung existiert nicht. Die Bände 5 bis 9 behandeln das 16., 17. und 18. Jh. Was die Wallonie betrifft, so ist soeben ein grundlegendes Werk erschienen: La Wallonie. Le Pays et les Hommes. Histoire, Hg. H. Hasquin, Brüssel 1975. Sämtliche Autoren sind französischsprachig. Davon gibt es keine niederländische Fassung. Ein kurzer Überblick der Hauptakteure und Ereignisse findet sich in: Dictionnaire d'histoire de Belgique. Vingt siecles d e s t i t u t i o n s . Les hommes, les faits, Hg. H. Hasquin, Brüssel 1988. Neun der zehn Autoren sind französischsprachig. Von diesem Werk gibt es ebenfalls keine niederländische Ausgabe. Für den deutschsprachigen Leser seien folgende Darstellungen genannt: O. Benedikt, Als Belgien österreichisch war, Wien-München 1965; E. Koväcs, Die südlichen Niederlande innerhalb der österreichischen Monarchie des 18. Jahrhunderts, in: Etudes sur le XVIIIe siecle, Band 15 (Unite et diversite de l'Empire des Habsbourg i la fin du XVIIIe siecle), Brüssel 1988, S. 25-39. In allen diesen Werken finden sich zahlreiche bibliographische Angaben neueren Datums.

2

Zu dem kleinen Kreis der belgischen Spezialisten für 18. Jh. vgl. siehe B. Bernard, L'historiographie des Lumieres en Belgique (XIXe et XXe siecles): tendances et grands enjeux ideologiques, in: Cahiers de Clio, Universite de Liege, Nr. 124, Winter 1995, S. 49-60 Siehe: Le siecle des Lumieres dans la Principaute de Liege. Catalogue d'exposition. Musee de l'Art wallon. Liege, octobre-decembre 1980, Lüttich 1980.

3

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besteuerte alle Import- und Transitwaren mit 60 % ihres Wertes („le soixantieme"), was von einer sehr aggressiven Wirtschaftspolitik zeugte. Das Fürstbistum Lüttich unterhielt traditionell wirtschaftliche Kontakte vorwiegend zu den Vereinigten Provinzen, den benachbarten deutschen Staaten und Frankreich. In Lüttich blühte die Waffenindustrie, deren Aufschwung die seit langem übliche Förderung von Steinkohle und die damit verbundene Metallindustrie ermöglicht hat. Verviers war ein bedeutendes und bekanntes Zentrum der Wollindustrie, und in Lüttich betätigten sich zahlreiche berühmte Verleger, so Bassompiere, Desoer und Plomteux, die von den Fürstbischöfen protegiert wurden. Ebenso sollte Bouillon, dessen wirtschaftliche Schwerpunkte über Jahrhunderte hindurch das Gerben und die Forstindustrie waren, nach der 1759 erfolgten Übersiedlung des Toulouser Journalisten Pierre Rousseau, des Herausgebers des , Journal encyclopedique", zu einem Zentrum der europäischen Aufklärung werden. Die Niederlande dagegen, die seit dem Mittelalter ein Mittelpunkt von Industrie und Kultur bildeten, erlebten zu Beginn der österreichischen Herrschaft einen gewissen Rückgang. Seit 1648 war die Scheide als einziger Zugang Antwerpens zum Meer zugunsten der Vereinigten Provinzen gesperrt, und der Spanische Erbfolgekrieg (1700-1713) hatte die westlichen Provinzen, die reichsten des Landes, verwüstet. Hinzu kam, daß die traditionellen Waren der flämischen Industrie (Tuch- und Wandteppichindustrie) im Ausland einer allmählich stärker werdenden Konkurrenz ausgesetzt waren. Nach dem Sieg Marlboroughs bei Ramillies (Brabant) am 23. Mai 1706, der der sechsjährigen Herrschaft durch das „regime anjouin" oder „angevin", d. h. der Besetzung durch Truppen Philipps V. von Spanien, des Herzogs von Anjou und Enkels Ludwigs XIV., ein Ende setzte, entstand ein anglo-österreichisches „Kondominium", von dem das Land bis zur Machtübergabe an den österreichischen Bevollmächtigten Minister Lothar Graf Königsegg im Februar 1716 verwaltet wurde. Das Kondominium übte die Zollpolitik aus und begünstigte die wirtschaftlichen Bestrebungen in gleichem Maße, wie es der lokalen Wirtschaft schadete, und den österreichischen Herrschern gelang es nur dank erneuter Bemühungen, das Kondominium um die Mitte des Jahrhunderts abzuschaffen. Die Engländer und Holländer hatten es vermocht, aus dieser Sachlage Nutzen zu ziehen und den Österreichern eine bereits 1709 beschlossene militärische Barriere an der französischen Grenze aufzuzwingen. Laut „Barriere-Vertrag", der am 15. November 1709 in Antwerpen unterzeichnet worden war, wurden die Festungen Namur, Tournai, Menin, Furnes, Ypern und Warneton von holländischen Truppen besetzt, deren Unterhalt die Niederlande übernehmen sollten. Diese Garnisonen sollten wiederholt Anlaß für Streitigkeiten zwischen den Belgo-Osterreichern und den Holländern werden, bis es Joseph II. 1782 gelang, die holländischen Truppen von dort zu vertreiben. Ein Grund für diese Maßnahme mag wohl deren Unfähigkeit gewesen sein, im Jahre 1745 den französischen Eroberern unter dem Marschall und Kurfürsten Moritz von Sachsen Paroli zu bieten. Seit dieser Zeit ließ man die holländischen Truppen ohne Sold. Die konkreten Bedingungen, unter denen sich der Machtwechsel zwischen Spaniern und Österreichern vollzog, waren somit äußerst vielgestaltig. Von Anfang an scheint die neue Regierung die Geisel ihrer englischen und holländischen Verbündeten gewesen zu sein, denen - vor allem den ersteren - eine bedeutende Rolle bei dem erfolgreichen Versuch Kaiser Karls VI., Nachfolger Karls II. von Spanien zu werden, zukam. Karl II. von Spanien, der kinderlos geblieben war, hatte vor seinem Tod am 1. November 1700 Philipp Herzog von Anjou zum Thronfolger erklärt. Auf Anfrage Ludwigs XIV. ließ der spanische Statthalter Maximilian Emanuel Kurfürst von Bayern die französischen Truppen im Namen Philipps V. die Niederlande besetzen. Am 7. September 1701 vereinigten sich um den habsburgischen Kronprätendenten die Engländer, Holländer und deutsche Fürsten in der Haager Allianz. Die Kriegserklärung erfolgte im Frühjahr 1702, um zwar zu einem Zeit-

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punkt, als die Franzosen in Brüssel eine Verwaltung nach dem zentralistischen Modell Ludwigs X I V . aufbauten, die von Jean Graf de Bergeyck geleitet werden sollte. Ein solches System verletzte jedoch die traditionellen Vorrechte der Provinzen, und ein Großteil der Bevölkerung lehnte es daher ab. Die militärischen Siege Marlboroughs taten ihr übriges, und die französischen Truppen verließen Brüssel im Frühjahr 1706. In Brabant bestätigten die Sieger sofort die Privilegien der Provinzen - die ,Joyeuse Entree", auf flämisch „Blijde Inkomst", vor allem das steuerliche Vorrecht, und es wurde ein Staatsrat, bestehend aus hohen belgischen Würdenträgern, gebildet. In Wirklichkeit aber war es die „Conference des Puissances", in der englische und holländische Generäle tagten, die dafür sorgte, daß die Macht in den Händen des Kondominiums verblieb. In Lüttich durfte der Fürstbischof Klemens Joseph von Bayern, der dort seit 1694 regierte, trotz der Hilfe, die er der Partei Philipps von Anjou und seinem Verwandten Maximilian Emanuel geleistet hatte, wieder das Regiment führen. Abgesehen von seinen Aufgaben in Lüttich war Klemens Joseph auch Fürstbischof von Köln, wo er am 12. November 1723 starb. Seine Herrschaft war von den Untertanen des Fürstbischofs nicht gerade als Beispiel christlicher Tugenden empfunden worden, ging es unter ihm doch „typisch barock" zu, wie prunkvolle Feste, Musik und Freuden der Liebe bezeugten, denen er mit Vorliebe frönte. Ganz anders führte sich der neue Herrscher der Niederlande auf. Der Bruder Kaiser Josephs I., Karl Erzherzog von Osterreich, wurde 1711 als Kaiser Karl VI. sein Nachfolger. Ihm gelang es, eine glanzvolle Herrschaft zu entfalten, deren sich die österreichische Monarchie und das Reich fast zwei Jahrhunderte lang rühmen sollten. Die Siege Prinz Eugens von Savoyen sowohl in Belgien als auch an den Grenzen des Ottomanischen Reiches, die, wenn auch mühsam errungene Bestätigung der Pragmatischen Sanktion von 1 7 1 2 / 1 7 1 3 , durch die Karl VI. seiner Tochter Maria Theresia den Thron sicherte, waren Höhepunkte seiner Herrschaft. In den Niederlanden verstand es Karl VI. ebenfalls, zwischen 1716 und 1740 das Fundament zu einer Zeit zu legen, die allgemein als glücklich und lebensfroh empfunden wurde : die Regierungsjahre der „guten und weisen Maria Theresia", nach der sich die Untertanen Josephs II. rückblickend sehnen sollten.

Die Herrschaft Karls VI. und Maria Theresias: die Kunst des Kompromisses Schon im Juni 1716 ernannte der neue Kaiser Karl VI. Prinz Eugen von Savoyen zum Statthalter der Niederlande. Seit Karl V. war es Tradition geworden, diesen Posten einem mit der kaiserlichen Familie verbundenen Fürsten anzuvertrauen. Es stellte sich jedoch rasch heraus, daß die militärischen Aufgaben des Prinzen es diesem nicht erlaubten, sich in Brüssel niederzulassen. Im November 1716 wurde ihm demzufolge Henri de TurinettiErcole, Marquis de Prie (1658-1726), als Stellvertreter und Bevollmächtigter Minister beigegeben. Dieser Posten sollte ebenso wie der des Statthalters während der gesamten österreichischen Herrschaft in den Niederlanden bestehen bleiben. In beiden Fällen waren es jedoch immer Landesfremde, die die genannten Funktionen ausübten. Prie genoß das volle Vertrauen der Wiener Regierung, und auf seiner Person ruhte der größte Teil der Geschäfte, da der Statthalter - vor allem nach der Ankunft Herzog Karls von Lothringen in Brüssel 1744 - hauptsächlich den Kaiser vor Ort zu vertreten und häufig als Vermittler zwischen der österreichischen Macht und der niederländischen Bevölkerung zu fungieren hatte. Jede politische Frage, die die Niederlande betraf, wurde den Würdenträgern vorgelegt, und diese waren verpflichtet, dem Kaiser darüber zu berichten. Während der Abwesenheit Prinz Eugens verfügte Prie jedoch über eine weitgehende Entscheidungsfreiheit. Bei der Bevölkerung wurde der Minister jedoch wegen seiner herrischen Art rasch

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unbeliebt, und dies um so mehr, als die Österreicher entgegen allen früheren Beteuerungen immer wieder versuchten, die traditionellen Landesrechte abzuschaffen. So wurden die drei traditionellen „Kollateralräte", d. h. die Räte für Staats-, Geheimund Finanzsachen, die bereits unter Philipp V. von Anjou zusammengelegt worden waren, erneut vereint und sollten es bis 1725 bleiben. Diese Maßnahme wurden von den Beamten freilich nie wirklich befolgt, und die Ämter arbeiteten weiterhin voneinander getrennt. Ebenso focht die Regierung die traditionellen Vorrechte der Brüsseler Zünfte an: 1719 verursachte die Hinrichtung eines der Vorsteher der Stuhlmacherzunft, Francois Anneessens, der jedoch nur eine unbedeutende Rolle bei den Brüssel erschütternden Unruhen gespielt hatte, große Aufregung, und der Gewaltakt galt im Kollektivbewußtsein des Volkes als Ausdruck der Greueltaten und Willkür seitens der Zentralmacht: Noch heute führt eine U-Bahnstation in Brüssel den Namen Frangois Anneessens! Die Einrichtung des Hohen Rates der Niederlande („Conseil supreme de Pays-Bas") am 1. April 1717 (eine Wiederbelebung des 1702 aufgehobenen Madrider „Consejo de Flandes"), dessen Mitglieder, bis auf den Präsidenten, hauptsächlich niederländischer Herkunft waren, empfand man damals als eine Art Ausgleich, würden die belgischen Provinzen sich doch nunmehr direkt in Wien äußern können. In der Tat konnte der Hohe Rat dem kaiserlichen Staatskanzler nach den aus den Niederlanden kommenden Akten unmittelbar Bericht erstatten, und es gelang ihm unter der Amtsführung des Brüssel wohlgesinnten portugiesischen Herzogs Sylva Tarouca sogar manchmal, Einfluß auf die Entscheidungen des Kaisers zunehmen. Als Wenzel Anton Fürst von Kaunitz-Rietberg, der seit 1753 das Staatskanzleramt bekleidete, im März 1757 die Auflösung des „Conseil supreme" bewirkte, wurde ein wichtiger Schritt im Prozeß der Zentralisierung getan, der letzte vor den radikalen Maßnahmen Josephs II. Der korrumpierte, verschuldete und von der Bevölkerung gehaßte Prie wurde 1724 nach Wien zurückgerufen und Erzherzogin Marie-Elisabeth, die Schwester Karls VI., 1725 als Nachfolgerin Eugens bestellt. Ihr Obersthofmeister Giulio Visconti (Ende des 17. Jh.-1750) begleitete sie als Bevollmächtigter Minister nach Brüssel. Die sehr fromme, den Jansenismus scharf ablehnende Erzherzogin und ihr Aufenthalt in Brüssel trugen dazu bei, aus ihrer Herrschaft (1725-1740) eine Epoche zu machen, in der die niederländische Regierung sittlich strengere Maßstäbe befolgte. Das Hofleben war unter ihr auf das Minimalste reduziert. Die offizielle Wiederherstellung der Kollateralräte bezeugte symbolisch die Anpassung der österreichischen Macht an die lokalen politischen Verhältnisse. Der Staatsrat, der aus den höchsten militärischen Würdenträgern des Landes - Vertretern der größten Adelsfamilien, so dem Fürsten de Ligne, dem Herzog von Arenberg, dem Fürsten von Merode und höheren geadelten Beamten bestand - besaß wieder (wenn auch nur für einige Zeit, denn unter Maria Theresia bekleideten seine Mitglieder nur noch Ehrenämter) die gleichen Kompetenzen wie unter dem spanischen Regime: Er beriet die Regentin der Niederlande in wichtigen politischen und militärischen Angelegenheiten. Der Geheime Rat, dessen Rolle nach 1740 im Vergleich zum Staatsrat immer bedeutender wurde, konnte sich wieder mit Problemen der inneren Verwaltung, der Justiz und der Religion befassen, während der Rat für Finanzen, dem eine Rechnungskammer zur Kontrolle der staatlichen Einnahmen und Ausgaben unterstellt war, sich um die wirtschaftlichen Angelegenheiten kümmerte. Ein Staats- und Kriegssekretär übte eine Vermittlerfunktion zwischen den einzelnen Räten, dem Minister, dem Statthalter und der Wiener Regierung aus. In der Regierungszeit Marie-Elisabeths wurde die Gleichschaltung der Universität Löwen vollzogen, die bis dahin ein Hort des Jansenismus gewesen war: der Kanonist ZegerBernard Van Espen (1646-1728), der Verfasser des scharf antiultramontan akzentuierten

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Werkes , J u s ecclesiasticum universum" (1700) und Führer des politischen Jansenismus an der Universität, wurde im Februar 1728 von dort vertrieben und mußte in die Vereinigten Provinzen flüchten. Mit der ideologischen Gleichschaltung, die Voltaire schockierte, als er 1739 und 1742 mit Madame du Chätelet durch die Niederlande reiste, und die die Niederlande daran hinderte, sich auch anderen geistigen Entwicklungen bzw. philosophischen Strömungen zu öffnen, war jedoch zum Glück ein aufkeimender wirtschaftlicher Aufschwung verbunden. Die Landwirtschaft Flanderns, damals zusammen mit der englischen eine der leistungsstärsten Europas, erlangte innerhalb weniger Jahrzehnte ihre wirtschaftliche Unabhängigkeit, wodurch das Schreckgespenst der Hungersnot für lange Zeit der Vergangenheit angehörte. In der zweiten Hälfte des 18. Jh. konnten die Niederlande nunmehr sogar Getreide exportieren, vor allem nach Frankreich. Eine intensive Nutzung des Bodens, die aktive Rolle der kleinen privaten Bauernhöfe besonders in Westflandern, die Intensivierung der Rinderzucht, der Anbau neuer Pflanzensorten wie Kartoffeln, Futter-, Öl- und Tabakpflanzen, die Anstrengungen der adligen, sowohl weltlichen als auch geistlichen Grundbesitzer, die Wirtschaftlichkeit ihrer Güter zu erhöhen, bildeten die Grundlage sowohl für die Anhäufung des für die Finanzierung des industriellen Aufschwungs notwendigen Kapitals als auch für das Bevölkerungswachstum. Auch die Regierung hatte Anteil an dieser Entwicklung: Schon 1722 - um die Nachteile auszugleichen, die aus der Schließung der Scheidemündung entstanden waren - wurde eine Schiffahrtsgesellschaft gegründet: die „Compagnie d'Ostende pour le commerce des Indes Orientales et de l'Afrique". Trotz großen Erfolgs mußte die Gesellschaft ihre Tätigkeit jedoch bereits 1727 wieder einstellen ; 1731 wurde sie offiziell aufgelöst. Tee, Seiden- und Porzellanwaren überfluteten einige Jahre lang von Ostende aus den europäischen Markt (48 % der Teeimporte in den Jahren 1725 und 1726 erfolgte über Ostende). Es waren die einheimischen Bürger und die Adelsfamilien Belgiens, die sich von den neuen Moden angezogen fühlten. Die Engländer und die Holländer jedoch, die sich von der neuen Konkurrenz bedroht fühlten, wurden angesichts dessen in Wien vorstellig. Der Kaiser, gänzlich darauf bedacht, seiner Tochter Maria Theresia den Thron zu sichern, nahm zu diesem Zeitpunkt davon Abstand, sich ihren Wünschen zu widersetzen. Österreich zog sich vielmehr nach Triest zurück, wo einige Belgier in eine neue Schiffahrtsgesellschaft beträchtliche Mittel investierten. Trotz ihrer Niederlage bei der beabsichtigten Ausweitung ihres Handelsverkehrs blieb die Brüsseler Regierung fest entschlossen, sich für den weiteren wirtschaftlichen und vor allem industriellen Aufschwung einzusetzen. Sie begann, ideenreichen und risikobereiten Unternehmern exklusive Produktionsvorrechte einzuräumen, Betreibern von Papierfabriken in Brüssel und Luxemburg, Glasfabriken in Charleroi und Namur, der Fayenceindustrie in Tournai sowie den Inhabern von Zechen im Hennegau und in Namur. In den sechziger Jahren gestand man solche Vorrechte auch den neuen Unternehmern chemischer Fabriken zu. Viscontis Nachfolger wurde 1732 Friedrich Graf von Harrach (1696-1749), dessen Wirksamkeit sich im Einvernehmen mit der Statthalterin vollzog. Obwohl Diplomat, war sich Harrach der Bedeutung der wirtschaftlichen Fragen im Rahmen des ihm anvertrauten Amtes vollauf bewußt. Er war der erste, der alle Industrie- und Handelsunternehmen der Niederlande erfassen ließ. Eine systematischere Eintragung wurde später, 1764, auf Anregung des Ministers Johann Karl Graf Cobenzl durchgeführt. Von Harrach blieb nach dem Ableben Marie-Elisabeths im Jahre 1741 Statthalter ad interim, bat aber bereits zwei Jahre später um seine Rückversetzung nach Wien. Als neue Statthalterin traf Erzherzogin Maria Anna von Österreich, die Schwester Maria Theresias, im März 1744 in Brüssel ein. In Abwesenheit ihres Gemahls Karl von Lothringen, des Bruders Karls VI., Kommandeur des in Böhmen stationierten kaiserlichen Heeres, übernahm Maria Anna für einige Monate die

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Regierung der Niederlande, wobei sie von mehreren Bevollmächtigten Ministern unterstützt wurde: zunächst von Karl Ferdinand Graf von Königsegg-Erps, danach von Kaunitz. Sie starb unerwartet am 16. Dezember 1744 bei einer Geburt. Danach führte Kaunitz die Regierungsgeschäfte wiederum ad interim. Ihm gelang es, den Vormarsch der französischen Truppen unter Moritz von Sachsen, der nach seinem Sieg in Fontenoy (11. Mai 1745) im Namen Ludwigs X V . ins Land eingedrungen war, zu stoppen. Die Regierung der Niederlande zog sich vorerst nach Antwerpen und dann in den Osten des Landes, in die Provinz Limburg, zurück. Ihr unterstanden nur noch diese Teile des Landes sowie die Provinz Luxemburg. Nach dem Rücktritt von Kaunitz 1746 trat Feldmarschall Karl Graf von Batthyäni, der Oberbefehlshaber der österreichischen Truppen in den Niederlanden, seine Nachfolge an. Die Regierung, der Willkür des Krieges ausgesetzt, folgte der Armee und bezog 1748 Quartier in Aachen, wo auch die ersten Friedensgespräche begannen. Frankreich gab die Niederlande an Österreich zurück. Der Friede, der 40 Jahre anhalten sollte, nahm seinen Anfang. In den ersten Nachkriegsjahren ( 1 7 4 9 - 1 7 5 3 ) widmete sich die vom Marquis A n t o niotto Botta d'Adorno ( 1 6 8 9 - 1 7 7 4 ) geleitete Regierung insbesondere dem Wiederaufbau des Landes. Unter dem Vorwand, der holländische Barriere-Vertrag sei gescheitert, beschloß man jedoch ohne Erfolg, die Aktivität des Antwerpener Hafens wieder zu beleben und zwischen G e n t und Brügge einen Kanal zu bauen. In Wien verlor der „Conseil supreme" der Niederlande sein bisheriges hohes Ansehen. D e r Kaiser ließ in Brüssel nunmehr jüngere Beamte einsetzen, die nicht der Zusammenarbeit mit den französischen Besatzern verdächtig waren. 1752 begannen die Verhandlungen mit Osterreich und den „Seemächten" (den Vereinigten Provinzen und England) mit dem Ziel, einen Handelsvertrag abzuschließen, der die ungerechten Zolltarife aus der Zeit des „ K o n d o m i n i u m s " ausgleichen sollte (Als G e g e n m a ß n a h m e waren die im BarriereVertrag vorgesehenen Beisteuerzahlungen bereits 1748 eingestellt worden). D i e Verhandlungen blieben jedoch ohne Ergebnis, und die verbündeten M ä c h t e zeigten sich unnachgiebig. Unter diesen Umständen war nur eine allmähliche Aufhebung der Z o l l tarife möglich. 1753 übernahm Johann Karl Graf Cobenzl (1712-1770), ein hoher österreichischer Beamter, den Posten Botta d'Adornos. Seine Regierungszeit in den Niederlanden stellte sicherlich den Höhepunkt der Herrschaft Maria Theresias dar. Graf Cobenzl war ein gebildeter Mann, der an der Aufklärungsbewegung regen Anteil nahm und sich als ein Befürworter des Fortschritts erwies. Er führte - in enger Zusammenarbeit mit Kaunitz und insbesondere mit Karl Prinz von Lothringen - zahlreiche Reformen durch. Bleibende Verdienste erwarb sich in diesem Zusammenhang auch Patrice-Francois de Neny (1716— 1784), Präsident des Geheimen Rates zwischen 1757 und 1783 und königlicher Kommissar der Universität Löwen. So seien nur die Gründung einer Akademie für wissenschaftliche und juristische Studien im Jahre 1772 erwähnt, weiterhin die Einführung wissenschaftlicher Studiengänge an der Universität Löwen (für Chemie, Astronomie, Experimentalphysik); die Aufteilung der Gemeindegüter in Namur - die erste bedeutende Agrarreform in Belgien - oder auch die zahlreichen Edikte, die auf die Errichtung einer „Belgischen Kirche" abzielten, was den Versuch bedeutete, eine kaiserliche, antiultramontane Politik zu betreiben, die auf eine Stärkung der zivilrechtlichen Macht gegenüber der geistlichen gerichtet war. Trotz des Widerstands von Teilen des Brüsseler Regierungsapparats setzten Kaunitz und Cobenzl die Stärkung der kaiserlichen Zentralgewalt fort. Die Staatsfinanzen als wichtige Geldquelle für die Kriegsführung des Kaisers wurden neu geordnet und eine kaiserlich-königliche Lotterie gegründet. Die von Cobenzl angestrebte Gründung einer „philosophischen" Zeitschrift fand freilich nicht die Zustimmung der Wiener Regierung.

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Pierre Rousseau, der wie viele andere französische fortschrittliche Journalisten von C o benzl protegiert wurde, mußte sich in Lüttich niederlassen. Nachfolger Cobenzls wurde 1770 Georg Adam Graf von Starhemberg (1724-1807), ein Diplomat, der mit den politischen Verhältnissen in den Niederlanden wenig vertraut war und die Brüsseler Regierung erst nach 1775 wirklich leitete. Während seiner Amtszeit mußte wegen der Auflösung des Jesuitenordens der Versuch unternommen werden, ein öffentliches höheres Schulwesen einzurichten, wobei Starhembergs Bestrebungen sich als wenig erfolgreich erwiesen. Während des Amerikanischen Unabhängigkeitskrieges konnte die niederländische Wirtschaft jedoch dank Ostende, nunmehr „Freihafen", für mehrere Jahre wiederbelebt werden. 1780 starb Karl Prinz von Lothringen, nach ihm im selben Jahr auch Maria Theresia. Eine Zeit begann, die trotz aller politischer Kontinuität von zahlreichen politischen Erschütterungen gekennzeichnet war. Durch sie geriet die österreichische Herrschaft in den Niederlanden alsbald und unausweichlich in den Strudel der Französischen Revolution.

Das Fürstentum Lüttich: ein zerbrechliches Glück Das Fürstentum Lüttich wurde lange Zeit hindurch gänzlich nach althergebrachten Gepflogenheiten regiert: Das Domkapitel von Saint-Lambert, bestehend aus 60 adligen D o m herren, war an der Regierung beteiligt. Aus seinem Kreis wurde der Kanzler gewählt, der an der Spitze des Geheimen Rates des Fürstbischofs stand; der Friede von Fexhe („Paix de Fexhe", 1316) garantierte die Exterritorialität und die Unabhängigkeit der Rechtsprechung; die Abgesandten der 23 „guten Städte" bildeten den Dritten Stand. Das Fürstentum unterhielt nur wenige, meist konfliktreiche Beziehungen zu Brüssel. Geographisch betrachtet, erstreckte sich das Gebiet des Fürstentums von Norden nach Süden längs der Maas, die eine wichtige Verkehrsachse zwischen Frankreich und den rheinischen Gebieten darstellte. Lüttich, das im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation zum Kreis Westfalen gehörte, erwählte sich häufig seine Herrscher aus der Reihe der deutschen Fürsten hoher Abkunft und unterhielt zu Preußen, das an seiner Grenze die Territorien von Kleve und Jülich besaß, gute Beziehungen. 1724 wurde Georges-Louis de Berghes (1662-1743) Nachfolger von Joseph Clemens Herzog von Bayern. Als frommer und rechtschaffener Mann, Feind der Jansenisten und um soziale Gerechtigkeit besorgt, blieb Berghes bei der Lütticher Bevölkerung in guter Erinnerung. Zwar gab es unter seiner Herrschaft im Jahre 1740 die letzte schlimme Hungersnot, aber er unternahm alles in seiner Macht stehende, um ihre Folgen zu lindern. Die Wahl seines Nachfolgers entsprach mehr der Tradition: jede große Macht hatte ihren eigenen Kandidaten. Johann Theodor Herzog von Bayern (1703-1763), Sohn Maximilian Emanuels, der auch von Frankreich unterstützt wurde, erhielt die meisten Stimmen. Seine Herrschaft war freilich von frivolsten Erscheinungen gekennzeichnet: von Tanz, Jagd und stürmischer Liebe. In allen Bereichen war sein Vorbild Frankreich! Das Fürstentum blieb von der Eroberung der Niederlande durch die Franzosen nicht verschont, wurden doch die Schlachten von Rocourt 1746 und Laafelt 1747 auf seinem Territorium ausgetragen. Der Fürstbischof zog es nicht selten vor, sich in Bayern oder in Paris aufzuhalten. Während seiner Abwesenheit überließ er seinen Günstlingen die Ausübung der Regierung, die diese eifrig mißbrauchten. Bald bildete sich eine „Dritte Partei („tiers-parti"), die antifranzösisch orientiert war und gegen die Regelung von 1684 protestierte, durch die die Vorrechte der Stadt Lüttich beschnitten worden waren. Die Gleichgültigkeit Johann Theodors begünstigte die Verbreitung philosophischer Lehren und die Entstehung von Freimaurerlogen, die in der Stadt bald von sich reden machten. In Lüttich lebte ab 1755 auch Pierre

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Rousseau, bis ihn die Universität Löwen zwang, sich in Bouillon niederzulassen. 1763 erwählten sich die Lütticher, ihres Herrschers überdrüssig, den Vertreter einer alten Lütticher Familie, Charles-Nicolas d'Oultremont (1716-1771), zum Regenten ihres Fürstentums. Wie sein Vorgänger de Berghes war dieser seit 1737 Domherr des Domkapitels von Saint-Lambert: Im Unterschied zu den Kandidaten ausländischer Mächte galt er bei seinen Wählern als „Patriot". Als frommer Mensch bekämpfte d'Oultermont die jansenistische Bewegung, die von Justinius Febronius geführt wurde. Unter seiner Herrschaft gab es zahlreiche Konflikte zwischen Lüttich und Brüssel, die sowohl die Eigentumsrechte auf zahlreiche zerstreute Gebiete betrafen als auch die Gerichtsbarkeit der Abtei von SaintHubert in den Ardennen, wo es Brüssel gelungen war, „ihrem" Kandidaten die Amtswürde zu verschaffen. Dieser, D o m Nicolas Spirlet, war ein verschwenderischer Abt und jedweden industriellen Unternehmungen (insbesondere in der Metallurgie) und Handelsgeschäften zugeneigt. Der Bau einer Straße zwischen Namur und Luxemburg, den die Regierung der Osterreichischen Niederlande beschlossen hatte, gab in den Jahren 1760— 1770 mancherlei Anlaß zu heftigen Streitigkeiten zwischen den zwei Regierungen, manchmal sogar vor Ort. Währenddessen ließ Lüttich einen „neuen Weg" („chemin neuf") errichten, der über Saint-Hubert Frankreich und Givet verbinden sollte. Zur gleichen Zeit erlebte die Metallurgie einen bedeutenden Aufschwung, und der Kurort Spa avancierte zum wichtigsten Freizeitort der europäischen Aristokratie. Nachdem Francois-Charles de Velbrück (1719-1784) den bischöflichen Thron bestiegen hatte, erreichte das Fürstbistum seinen Höhepunkt. Velbrück, ein Adliger aus Westfalen, der ursprünglich eine militärische Laufbahn einschlagen wollte, hatte an französischen Universitäten studiert und war seit 1736 Domherr von Lüttich. Er hatte bei der Wahl Johann Theodors von Bayern 1744 eine entscheidende Rolle gespielt. Seit 1759 Premierminister, war er jedoch von d'Oultremont seines Postens enthoben worden. Erneut auf den Bischofsstuhl gelangt, setzte Velbrück die Politik seines Mentors fort, mit dem er auch die Vorliebe für Frauen und Luxus teilte. Am 24. Mai 1772 unterzeichnete er einen Handelsvertrag mit Frankreich. Durch seine Schlichterfähigkeiten konnte er auch die Beziehungen des Fürstbistums zu Brüssel verbessern: 1780 wurde zwischen beiden Seiten ein Vertrag abgeschlossen, der die Grenzen zwischen den zwei Staaten festlegte. Velbrück war ein aufgeklärter und gebildeter Mann. Als Freimaurer versuchte er Bettelei, Landstreicherei und Arbeitslosigkeit durch Einrichtung von Arbeitshäusern und eine Politik umfangreicher öffentlicher Bauarbeiten einzudämmen. Ebenso trat er für Erziehung und Bildung der Jugend durch kostenlosen Grundschulunterricht ein, förderte das literarische Leben durch Schaffung einer „Societe d'Emulation", einer Art Literaturakademie, sowie einer Akademie der Schönen Künste, der „Academie de peinture, de sculpture et de gravure". Mathematik und Geburtshilfe waren zu dieser Zeit - wie in den Niederlanden auch - öffentliches Unterrichtsfach. Wie Johann Theodor von Bayern ermutigte Velbrück Spa, Spielsalons zu eröffnen, wobei ein Teil des Einkommens dem Souverän zufloß. Die Lütticher Möbelindustrie, ein unbestrittenes Erbe der Barockzeit, erlebte ihre Blüte. Zweifelsohne erlebte das Land zu diesem Zeitpunkt einen sichtbaren Aufschwung. Jedoch bildeten die geographische Lage der Region und die Unstetigkeit einer Regierung, die sich von den Charaktereigenschaften eines unter dem Druck zahlreicher fremder Mächte ernannten Herrschers als abhängig erwies, eine beständige Gefahr für dieses zerbrechliche Glück. 4 4

Zum kulturellen Aspekt im allgemeinen siehe: Les Lumieres dans les Pays-Bas autrichiens et la principaute de Liege. Exposition du 27 juillet au 20 aoüt 1983. Bibliotheque Royale Bruxelles, Brüssel 1983; La vie culturelle dans nos provinces (Pays-Bas autrichiens, principaute de Liege et duche de Bouillon) au X V I I I e siecle, H g . H . Hasquin, Brüssel 1983. Beide Werke liegen auch in Niederländisch vor.

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Die Brabanter und die Lütticher Revolution 5 Der Regierungsantritt Josephs II. im November 1780 bedeutete für die Niederlande wie für die gesamten habsburgischen Länder den Beginn zahlreicher Veränderungen. Im Laufe des Sommers 1781 bereiste Joseph II. inkognito unter dem Namen „Graf von Falkenstein" seine Belgischen Provinzen. Sicherlich bewunderte er deren Reichtum, gelangte aber wohl auch zu der Überzeugung, daß eine Reform der dortigen, seiner Meinung nach mittelalterlichen und überholten Institutionen unabdingbar war. So vermied er es geschickt, die Verfassungen der Provinzen zu bestätigen, wobei er mehrere Wochen in Holland untertauchte. Statt seiner leisteten die neuen Statthalter, Josephs Schwester Erzherzogin Maria Christina und ihr Gemahl Herzog Albert von Sachsen-Teschen, den Eid auf die Landesverfassungen. Wie seine beiden Vorgänger auf dem Kaiserstuhl fragte sich auch Joseph II., ob die Niederlande, trotz des Geldes, das sie einbrachten, nicht gegen Bayern eingetauscht werden könnten, da dieses geographisch näher und der österreichischen Mentalität verwandter war. Diese Absicht wurde jedoch nicht verwirklicht, und so setzten bald die von Joseph II. beschlossenen Reformen mit aller Wuchte in Belgien ein. Am 13. Oktober 1781 proklamierte der Kaiser durch sein „Toleranzpatent" die Gleichheit von Protestanten und Katholiken; am 17. März 1783 wurden die für „unnütz" gehaltenen Klöster, d. h. ungefähr zwei Drittel von ihnen, aufgelöst; 1784 ließ Joseph II. die zivilrechtliche Ehe einführen und kirchliche Begräbnisse aus sanitären Gründen untersagen. In der geistlichen Hierarchie machte sich mehr und mehr Mißmut breit, und der Erzbischof von Mecheln, Johann Heinrich Graf von Franckenberg (1726-1804), erhob offiziell Einspruch gegen die kaiserlichen Anordnungen. Am 9. Februar 1784 rief die Regierung durch einen Erlaß unter den Kleinbürgern und Handwerkern Empörung hervor, da sie die Einstellung von Arbeitskräften ohne Hinzuziehung der Zünfte erlaubte. Aus historischer Sicht jedoch können Josephs Maßnahmen insgesamt als fortschrittlich bezeichnet werden, wurden durch sie doch zahlreiche seit dem Mittelalter tradierte, nicht mehr zeitgemäße Rechte beseitigt. Die kaiserlichen Erlasse stießen aber gleichzeitig auf erheblichen Widerstand. Im Mai 1783 zog sich N e n y aus Altersgründen von seinem Amt zurück, während Starhemberg auf eigenen Wunsch nach Wien zurückgerufen wurde. Sein Nachfolger wurde Ludwig Karl Graf Barbiano di Belgiojoso (1728-1801), ein Mailander Diplomat und entschiedener Befürworter von Josephs Reformen, die daher von ihm fortgesetzt wurden. Ab Januar 1786 unterstanden die geistlichen Predigten der Zensur, was ein Beweis dafür war, daß der Staat die Kirche unter seine Kontrolle zu bringen suchte. Die im Mai 1786 eingeleitete Zählung und Registrierung der Kirchengüter, die Schließung der bischöflichen Seminare und die Einrichtung zweier staatlicher Seminare in Löwen und Luxemburg im Oktober des gleichen Jahres sorgten nicht nur für Aufregung in den Reihen des Klerus, sondern führten auch zu ersten Unruhen. Am 1. Januar 1787 trat eine neue Gerichtsverfassung in Kraft, die die seit Jahrhunderten überlieferten Rechtsnormen beseitigte. Es wurde jetzt ein Rat des Generalgouvernements („Conseil de gouvernement general") eingerichtet, der sich die bisherigen Kollateralräte („conseils collateraux") einverleibte. Durch solche einschneidende Maßnahmen verlor Joseph II. freilich wichtige Stützen seiner Reformen: Von den zahlreichen Beamten, die seine Politik billigten, hielten ihm daher nur noch wenige die Treue. Am 23. April 1787 wurde auf einer Versammlung der Stände des Herzogtums Brabant, 5

Siehe S. Tassier, Les democrates beiges de 1789, Brüssel 1930 (Neuauflage 1989, H g . J. Vercruysse, mit neuesten bibliographischen Angaben); La revolution liegeoise de 1789, verantwortl. H g . G . Hansotte, Brüssel 1989. Hierbei handelt es sich um den Katalog einer Ausstellung in Lüttich (28. April-25. Juni 1989) und Vizille (Frankreich vom 6. Juli—25. August 1989).

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einer repräsentativen Zusammenkunft von Vertretern der Provinz, die Erhebung von Steuern abgelehnt. Einer der Führer der Opposition, Henri van der N o o t (1731-1827), verlas ein Schriftstück über die Rechte des brabantischen Volkes, betitelt „Memoire sur les droits du peuple brabangon", in dem er an die alten Vorrechte erinnerte und zum Widerstand gegen die Neuerungen aufrief. Angesichts der starken Unterstützung seitens der Brüsseler Handwerker, die zu den wichtigsten Akteuren in der politischen Arena gehörten, und aus Furcht vor einem allgemeinen und unkontrollierbaren Volksaufruhr beschlossen die Statthalter am 30. Mai 1787, die Edikte vom 1. Januar zurückzunehmen. Joseph II., aufs höchste entzürnt, rief daraufhin die Statthalter und den Minister Belgiojoso nach Wien zurück. Letzterer wurde sofort entlassen und durch Ferdinand Graf von Trautmannsdorff (1749— 1827) ersetzt, während die Statthalter einen geharrnischten Tadel über sich ergehen lassen mußten und in Wien jegliches politisches Ansehen verloren. Trautmannsdorff kam im Oktober 1787 in Brüssel an. Er versuchte zunächst, die Stände zur Anerkennung der kaiserlichen Maßnahmen zu bewegen, jedoch ohne Erfolg. Joseph II. hatte zwar wohl Kompromißbereitschaft zu erkennen gegeben, als er im Juli eine Abordnung der Provinzstände der Niederlande empfing, jedoch er verlangte die vollständige Unterwerfung seiner Untertanen unter den kaiserlichen Machtspruch. Daher blieben sämtliche Unterredungen ohne Ergebnis. Im Januar 1788 fanden erste Auseinandersetzungen mit der von General d'Alton befehligten Armee statt. Van der Noot, der seine Festnahme befürchtete, floh im August ins Ausland, wo er um Hilfe gegen den „Tyrannen" bat: von den Preußen, Engländern und Holländern erhielt er freilich nur vage Versprechungen. In den Niederlanden kam es zwar an der Grenze zwischen Flandern und dem Hennegau im Oktober zu Bauernerhebungen gegen die Grundherren und zu Aktionen zugunsten der Politik Josephs II., unter dem von den Edikten Josephs II. bedrohten privilegierten Bevölkerungsteil jedoch wuchs gleichzeitig die Empörung gegen den Kaiser. Im November verweigerten die Stände im Hennegau und danach auch in Brabant die Erhebung von Steuern. Damit war der Bruch mit Wien vollzogen: Im Januar 1789 erklärte sich Kaiser Joseph II. von den Verpflichtungen der in seinem Namen geleisteten Eide zugunsten der Privilegien der Provinzen befreit und befahl, eine neue, moderne und allgemeingültige Verfassung für die Niederlande auszuarbeiten. Dabei ging es vor allem um die Beseitigung alter Vorrechte bei der politischen Vertretung des Landes, die den Zünften der Großstädte zustanden. Die Mehrheit der Bevölkerung selbst schenkte den Absichten Josephs II. jedoch nur wenig Beachtung. Schon seit April hatten sich unter der Leitung des Rechtsanwalts Jean-Frangois Vonck (1743-1792) und einiger seiner Freunde (Verlooy, Daubremez, Doutrepont) geheime Gesellschaften gebildet, die den Aufstand gegen die Zentralmacht vorbereiteten. Im Unterschied zu van der N o o t rechneten die „Patrioten" dabei nicht mit ausländischer Hilfeleistung, und anders als die Befürworter einer Rückkehr zum politischen System wie es unter Maria Theresia bestand - wie es von van der N o o t vertreten wurde - verlangten die „Demokraten" Reformen und forderten vom Kaiser eine engere Zusammenarbeit mit dem Volk. Am 16. und 18. Juni 1789 jedoch löste Joseph II. den Rat und die Stände von Brabant, d. h. das Gericht und die Versammlung der Provinzen, auf, womit er seine Ablehnung jedweder Verhandlungen mit den widerspenstigen Provinzen bekundete. D a ß die Pariser Ereignisse vom Juli und August 1789 Einfluß auf den Ausbruch des Brabanter Aufstands ausübten, ist nicht zu bezweifeln. Im Laufe des Sommers einigten sich die Anhänger Voncks und van der Noots - die „Vonckisten" und „Statisten", d. h. die Vertreter der Brabanter Stände - darauf, aus Freiwilligen gebildete Truppen im Fürstbistum Lüttich und im Süden der Vereinigten Provinzen zu versammeln. Oberst Van der Mersch übernahm das Kommando und begann am 27. Oktober 1789 mit der Eroberung von Turnhout unweit Antwerpens, wodurch die Brabanter Revolution ausgelöst wurde. Die

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Wiener Regierung sah sich daraufhin genötigt, Brüssel am 12. Dezember von österreichischen Truppen zu räumen. Am Ende des Jahres 1789 beherrschten die Habsburger nur noch das Herzogtum Luxemburg. Nach und nach erklärten alle Fürstentümer der Niederlande, so die Grafschaften Hennegau, Namur und Flandern, das Herzogtum Brabant, die Gutsherrschaft Mecheln u. a., ihre Unabhängigkeit. Im Grunde genommen verfügte jedes einzelne Territorium über eigene Institutionen, war Joseph II. doch nie „König der Niederlande" gewesen, sondern lediglich Beherrscher einzelner Provinzen, denen die dortigen Vertreter jeweils gesonderte Treueide geleistet hatten. Am 10. Januar 1790 sprachen sich die erstmals seit 1725 einberufenen Generalstände nach amerikanischem Vorbild für die Bildung der „Belgischen Vereinigten Staaten" aus, deren Verfassung eine Konföderation vorsah. Van der Noot wurde zum „Minister" und sein Stellvertreter, der Domherr van Eupen, zum „Staatssekretär" ernannt. Dies war kaum erreicht, als auch schon der seit geraumer Zeit schwelende ideologische Konflikt zwischen „Vonckisten" und „Statisten" ausbrach, der mit der Flucht der ersteren im April 1790 endete, hatten diese sich doch ihres Lebens nicht mehr sicher gefühlt. Sie wanderten nach Frankreich aus, wo sie für lange Zeit im Exil lebten. Van der Noot hingegen triumphierte und mit ihm seine Verbündeten: der Klerus, das aufgestachelte Volk, die Handwerker und Kleinbürger. Die Intellektuellen und die fortschrittlich gesinnte Aristokratie, vor allem die Familie von Ürsel, hatte man zum Schweigen gebracht. Durch das Land ergossen sich jetzt beständig Prozessionen, die Joseph II. und die „Vonckisten" als Gehilfen des Satans anprangerten. Im Februar 1790 starb Kaiser Joseph II. Die Nachfolgeschaft trat sein Bruder als Leopold II. an. Dieser hatte sich als Großherzog der Toskana unter dem Namen PietroLeopoldo als fortschrittlicher Regent gezeigt. Dennoch erwies er sich nicht als energischer Verteidiger der Reformen seines Vorgängers. Auf Anraten des Staatskanzlers Kaunitz zog er eine gemäßigte Politik vor. Dank der militärischen Unfähigkeit der „Patrioten" und der Streitereien in ihren Reihen konnte Leopold II. bis Ende 1790 die gesamten Niederlande zurückerobern. Danach bemühte sich der neue Kaiser über den aus Lüttich stammenden Florimund Graf Mercy-Argenteau (1727-1794) um eine Einigung mit den „Vonckisten". Das frühere Vertrauensverhältnis ließ sich jedoch nicht mehr herstellen, und Franz Georg Graf von Metternich-Winneburg (1746-1818), der Vater des nachmals berühmten Staatsmanns, wurde im Juli 1791 sein Nachfolger. Metternich-Winneburg unterstand dem neuen Statthalter, dem erzkonservativen Erzherzog Karl Ludwig von Osterreich, und setzte den Verhandlungen ein Ende. Währenddessen war auch Lüttich Schauplatz zahlreicher Ereignisse geworden. Constantin Graf von Hoensbroeck (1724-1792) hatte im Juli 1784 die Nachfolgeschaft von Velbrück angetreten. Hoensbroeck, ein gebürtiger Lütticher, ehemaliger Kanzler des Fürstbischofs d'Oultremont, hatte in Trier, Löwen und Heidelberg Theologie studiert. Von Velbrück zwar in den Hintergrund gedrängt, wurde er jedoch dank der Unterstützung durch die „Lütticher Partei" („parti liegeois"), die sich den fremden Mächten widersetzte, ins Statthalteramt gewählt. Seine Frömmigkeit und die Kälte seiner Gemütsart machten ihn zum Gegenbild seines Vorgängers. Umgeben von zahlreichen Ratgebern (ζ. B. dem Grafen de Mean, Etienne-Joseph de Wasseige), die sich Österreich verpflichtet fühlten, beging Hoensbrooeck jedoch einen gravierenden Fehler in einer ursprünglich unbedeutenden Angelegenheit, deren politische Folgen sich als schwerwiegend erweisen sollten. Hierbei handelte es sich um die sogenannte Spielkasino-Affäre von Spa. In der Absicht, das Monopol der Besitzer der Spielsäle „Redoute" und „Wauxhall" zu beseitigen, eröffnete Noel-Joseph Levoz am Stadtausgang ein drittes Spielkasino, den „Klub", den man bald den „Salon Levoz" nannte. Ein Prozeß wurde angestrengt, und der Fürstbischof, überzeugt, im

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Recht zu sein, bestand darauf, sein Anspruchsmonopol zu behaupten. Dabei griff er sogar auf die Unterstützung durch die Armee zurück. So ließ er zwei Kanonen vor dem „Salon Levoz" aufstellen, um Levoz Respekt einzuflößen. Die damit erzeugte Unruhe in Spa und Theux nahm zu und verbreitete sich auch in den wichtigsten Städten der Markgrafschaft Franchimont, dem zugleich reichsten Teil des Fürstentums mit der Hauptstadt Verviers. Seit 1785 wurde in zahlreichen Pamphleten die „Willkürherrschaft" des Fürstbischofs angeprangert. Vor allem in Lüttich hielt man die Spielkasino-Affäre lediglich für einen Vorwand, um erneut alte Forderungen gegen das Reglement von 1684 vorzubringen. Jean-Nicolas Bassenge (1758-1811), der Autor des 1781 veröffentlichten Werkes „Die Nymphe von Spa", das er dem dort im Exil lebenden Abt Raynal gewidmet hatte, betätigte sich im Verein mit dem Bürger Jacques-Hyacinthe Fabry (1758-1851) und dem Maler Leonard Defrance (1735-1805) als Führer dieser Bewegung. Im April 1787 wurde in Lüttich die „Patriotische Gesellschaft" gegründet, in der man Feiern zu Ehren Mirabeaus veranstaltete. Am 1. August ließ man die Feinde des Fürstbischofs für vogelfrei erklären. Den meisten von ihnen jedoch gelang es, ins Ausland zu fliehen. Preußen, das seit langem versuchte, im Fürstbistum Fuß zu fassen, unterstützte insgeheim die aufrührerischen Pamphletisten. Im August 1788 schlug Hoensbroeck mehrere Reformen sowie die Einberufung der Generalstände nach dem Beispiel Frankreichs vor. Aber am 18. August 1789 wurden das Lütticher Rathaus besetzt und die zwei Bürgermeister, die der Fürstbischof seit 1684 selbst ernannte, abgesetzt und an deren Stelle Fabry und Jean-Remi de Chestret (1739— 1809) zu Bürgermeistern ernannt. Die Zitadelle der Stadt fiel in die Hände «der Aufständischen. Den Fürstbischof, der in seinem Schloß Seraing Zuflucht gesucht hatte, zwang man, nach Lüttich zurückzukehren, die rotgelbe Kokarde anzustecken und das Reglement von 1684 aufzuheben. Die „glückliche Revolution" von Lüttich war nach dem Modell der Pariser Revolution, (jedoch ohne dieselben Gewalttätigkeiten!) vor sich gegangen: Wie Ludwig X V I . war Hoensbroeck nunmehr wieder der „Vater des Vaterlandes". Wie dieser unterstützte er jedoch keineswegs ernsthaft die Bemühungen um Reformen und sollte sich sich alsbald als ein entschlossener Feind jeglicher fortschrittlichen Entwicklung entpuppen. Am 27. August 1789 verließ er Lüttich und floh nach Trier. Ende August forderte der Lütticher Dritte Stand eine Steuerreform und die Einberufung einer der französischen Nationalversammlung ähnlichen Vertretung. Der Aufstand selbst nahm immer radikalere Formen an, da sich auch das kleine Volk von Lüttich empörte und eine vorübergehende Aufhebung der städtischen Steuer erkämpfte. Hinzu kam die Einberufung des „Kongresses" von Polleur (Dorf nahe von Theux, gelegen in der Markgrafschaft Franchimont), der am 16. September 1789 eine überfortschrittliche Erklärung der Menschenrechte erließ. Der Kreis Westfalen verurteilte die Lütticher Revolution. Preußen hingegen unterstützte die Stadt und entsandte zu ihrem Schutz 4 000 preußische Soldaten. Die nachfolgende Konvention von Reichenbach vom 27. Juli 1790 zwischen Preußen und Österreich bedeutete faktisch das Ende der Lütticher Revolution: Trotz einiger militärischer Siege nördlich von Lüttich im Dezember 1790 mußten die Lütticher Patrioten nun zusehen, wie die Vorhut der österreichischen Armee am 12. Februar 1791 in ihre Stadt eindrang. Obwohl die Österreicher Hoensbroeck rieten, mit Vorsicht zu agieren, entschied dieser sich unmittelbar danach für eine Politik der Unterdrückung: Zahllose „Patrioten" wurden verbannt. Die Mehrzahl von ihnen hatte sich aber schon nach Frankreich begeben, wo sie mit den ehemaligen brabantischen Vonckisten erste Kontakte aufnahm.

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Auf dem Weg zum Anschluß an Frankreich^ Die Zeit zwischen 1791 und 1795 war durch chaotische Zustände auf dem Territorium des künftigen Belgien gekennzeichnet. In Lüttich und ebenso in Brüssel folgte der erste Einfall der Franzosen vom November 1792 (Sieg bei Valmy und Jemappes). Bis März 1793 (Schlacht von Neerwinden) besetzten französische Truppen unter General CharlesFrangois Dumouriez das Land, in dem erbitterte Kämpfe gegen die Koalitionsmächte geführt wurden. Der Rückzug der Franzosen und der Verrat von Dumouriez führten zu einer zweiten Restauration der alten politischen Ordnung. Unterdessen war Kaiser FranzIi. dem im März 1792 verstorbenen Leopold II. gefolgt und Hoensbroeck im August 1792 in Lüttich von Frangois-Antoine de Mean (1756-1831) abgelöst worden, der sich jedoch nur knapp ein Jahr halten konnte. Im Juli 1794, nach ihrem Sieg bei Fleurus, überfielen französische Truppen erneut die belgischen Provinzen, die sie diesmal für längere Zeit besetzten und durch das Konventsdekret vom 1. Oktober 1795 Frankreich schließlich eingliederten. Die interessanteste Erscheinung in der Zeit des Umbruchs, die für die Zukunft des späteren Belgien von größter Bedeutung werden sollte, war die am 20. Januar 1792 in Paris erfolgte Bildung eines „Revolutionären Komitees der vereinigten Belgier und Lütticher" („Comite revolutionnaire des Beiges et Liegeois unis"). Die wichtigsten Führer der „Vonkkisten" lebten seit Frühjahr 1790 im Pariser Exil. Der kranke Vonck hingegen, der an den Exzessen der Französischen Revolution Anstoß nahm, hatte es vorgezogen, in Lille zu bleiben. Zu den Vonckisten stießen Anfang 1791 die von der restaurativen Politik Hoenbroecks vertriebenen Lütticher Patrioten. In der französischen Hauptstadt veröffentlichten die Mitglieder des Revolutionären Komitees im April 1792 in direkter Anlehnung an die französischen Ereignisse das „Manifest der vereinigten Belgier und Lütticher" („Manifeste des Beiges et Liegeois unis"). Darin wurde für die Zeit nach dem französischen Sieg die Errichtung eines republikanischen parlamentarischen Zweikammersystems in Belgien sowie die Einführung des Allgemeinen Wahlrechts und die Teilnahme an der Volksabstimmung als „Schutz gegen die Tyrannei" gefordert. Gleichzeitig wurden in Givet und Lille „Legionen" belgischer Freiwilliger aufgestellt, die in der Folge unter Dumouriez an den französischen Eroberungsfeldzügen teilnahmen. Aber bereits zwei Jahre später, nach der Schlacht von Fleurus, flaute die revolutionäre Begeisterung ab: Die Schreckenszeit („Terreur"), der Belgien nur knapp entging, und die wenig vertrauenerweckenden Vorkommnisse der ersten Besatzung sollten die Reihen der Anhänger der „französischen Freiheit" lichten. Während der zwanzigjährigen Franzosenherrschaft leisteten die meisten Bewohner des nachmaligen Belgien passiven Widerstand gegen das Besatzungsregime und widersetzten sich vor allem der antireligiösen jakobinischen Politik sowie dem obligatorischen Militärdienst unter Napoleon. Heute würde es wohl kein Historiker mehr wagen, die Äußerungen zu wiederholen, die sich in Henri Pirennes berühmter „Histoire de Belgique" vom Jahre 1930 finden. In seinem Werk hatte dieser behauptet, daß Lüttich und Brüssel Opfer einer künstlichen Trennung („une Separation artificielle") gewesen seien und das „Revolutionäre Komitee der vereinigten Belgier und Lütticher" das Symbol eines einheitlich gewordenen Volkes („un seul peuple") verkörpert habe. Ebensowenig glaubt man gegenwärtig noch, daß das Belgien,

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Siehe: La Belgique frangaise 1792-1815, Hg. H. Hasquin, Brüssel 1992 (19 der 20 Autoren sind wohlgemerkt französischsprachig!)

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das den Mitgliedern des Revolutionären Komitees vorschwebte, bereits „das moderne Belgien, wie es aus der Revolution von 1830 entstehen wird", gewesen sei. Die Zeiten haben sich verändert! Das „Belgien Papas", wie man nicht selten das einheitliche Belgien der Jahre 1830 bis 1970 nennt, existiert nicht mehr. Im Vordergrund stehen gegenwärtig die Belange der verschiedenen Regionen und Gemeinschaften sowie deren unterschiedliche Gepflogenheiten. Selbst die nationalen und regionalen „Mythen" Belgiens bleiben vor Angriffen nicht verschont. 7 Die Geschichtsschreibung, wie die Geschichte selbst, entwickelt sich weiter - ohne Unterlaß.

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Siehe: Les grands mythes de l'histoire de Belgique, de Flandres et de Wallonie, verantwortl. Hg. A. Morelli, Brüssel 1995. Eine niederländische Fassung befindet sich im Druck.

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DANIEL MINARY, BESANCON

Altes und Neues im religionskritischen rationalistischen Denken der deutschen Spätaufklärung

Im Zeitalter der Spätaufklärung entwickelte sich der Rationalismus in Deutschland trotz eines vielseitigen starren Konservatismus zu einigen mehr oder weniger radikal religionskritischen Richtungen, die in der Geschichtsschreibung meistens kaum beachtet wurden. Nach eingehender Untersuchung1 lassen sich diese Tendenzen in drei Gruppen einteilen, die sich zunehmend radikalisierten: Relativ kritisch waren Positionen, die bis hin zur Verwerfung jeglicher fideistischen Theologie bzw. Religion reichten und deshalb als irreligiös bezeichnet werden können. Solche Positionen bezogen vor allem: - der Bayer Johann Pezzl (1756-1823), der nach Zürich fliehen mußte, wo sein Roman Faustin oder das philosophische Jahrhundert 1783 anonym erschien; - der Offizier und Schriftsteller französischer Abstammung Jakob Mauvillon (1743-1794); - der Zeitschriftenverleger Wilhelm Ludwig Wekhrlin (1739-1792); - der Hamburger Kaufmann Franz Heinrich Ziegenhagen (1743-1805); - Carl Wilhelm Frölich, der höherer Beamter in Berlin wurde (1759-1828); - der preußische Pfarrer Johann Heinrich Schulz (1739-1823), den König Friedrich II. 1782-1783 durch den Minister von Zedlitz von der Verfolgung des Berliner Konsistoriums beschützte; - der junge, in Preußen und Sachsen tätige Reformpädagoge Karl Spazier (1761-1805); - der hessische Arzt Melchior Adam Weikard (1742-1803), der eine Zeitlang Leibarzt der russischen Kaiserin Katharina II. war; - der Professor für Philosophie zu Göttingen, Michael Hißmann (1752-1784); - Leitfiguren des bayerischen Illuminatenordens, wie der Rechtsprofessor Adam Weishaupt (1748-1830), der Schriftsteller und Baron Adolf von Knigge (1752-1796) und der Münchner Regierungsrat Xaver von Zwack (1755-1843). Radikaler waren Positionen, die grundsätzlich jegliche fideistische oder rationalistische („natürliche") Theologie bzw. Religion ablehnten und die also antireligiös genannt werden können. Zu dieser Richtung gehörten -

der Historiker Thomas Abbt (1738-1766); der reisende Wissenschaftler und Jakobiner Johann Georg Forster (1754-1794); der König und Philosoph Friedrich II. von Preußen (1712-1786); der ehemalige Offizier Karl Ludwig von Knebel (1744-1834), - Freund Goethes und Herders -; - der Professor der Physik zu Göttingen Georg Christian Lichtenberg (1742-1799); - und auch vorübergehend der junge Heinrich Friedrich von Diez (1751-1817), - der damals als Beamter in Magdeburg tätig war -, sowie der Philosoph Johann Gottlieb Fichte (1762-1817) als Urheber des „Atheismusstreites" (1798).

1

Siehe D. Minary, Le probleme de l'atheisme en Allemagne ä la fin du „siecle des Lumieres", in: Annales litteraires de l'Universite de Besancon N ° 506. Les Beiles Lettres, Paris 1993.

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Wirklich atheistisch waren Positionen, die eher versuchten, den Begriff von Gott an und für sich aus den menschlichen Denkmöglichkeiten zu verbannen als die Nichtexistenz irgendeiner Gottheit zu beweisen. So weit kamen jedoch nur - Johann August von Einsiedel (1754-1837), der aus thüringischem Kleinadel stammte und ein abenteuerliches Leben führte; - ein anderer Angehöriger des Adels, Karl von Knoblauch (1756-1794), dessen hessische Familie verarmt war und der Justizrat in Dillenburg wurde; - der Gymnasialdirektor Friedrich Karl Forberg (1770-1848), der mit Fichte zur Auslösung des „Atheismusstreites" beitrug; - einer der beiden Briefeschreiber in Professor Karl Heinrich Heydenreichs fiktiven Briefen über den Atheismus (Leipzig, 1796). Über alle Differenzierungen hinaus waren solche religionskritische Tendenzen im Grunde genommen modern orientiert, obwohl sie gleichzeitig unter manchen Aspekten traditionsgebunden blieben. Zuallererst ist hervorzuheben, daß die Vertreter dieser Denkweisen unter dem starken Druck der althergebrachten Repressionseinrichtungen (Zensur, polizeiliche und gerichtliche Verfahren, Berufsverbote - ) standen, die seit Jahrhunderten alle aufrührerischen Geister, sowohl in Religion als in Politik, bekämpften. Darum mußten sie ihr riskantes Denken meistens mit großer Behutsamkeit ausdrücken. Viele von ihren Veröffentlichungen verschanzten sich mit wechselndem Erfolg hinter dem Anonymat und gaben gegebenenfalls weder Ort noch Herausgeber an. Aber es kam auch vor, daß radikale Rationalisten sich nicht einmal maskiert vorwagten: dann äußerten sie ihre Ideen nur im Schutz ihres kleinen intimen Kreises, vor allem im Briefwechsel, oder sie trugen ihre Ansichten in geheimgehaltene Notizbücher ein, die erst nach ihrem Tod an die Öffentlichkeit drangen. Aber ihr Denken stand nicht nur unter dem gewaltigen Einfluß des kulturellen Erbes. Sie schlossen sich selbst an unterschiedlich zurückgreifende, bedeutende Denkarten an, da manche von ihnen sich sogar Grundzüge der christlichen Tradition aneigneten und fast alle vom hundertjährigen rationalistischen Aufklärungsgeist durchdrungen waren. Bezüge zum christlichen Gedankengut zeigten sich in Weltanschauung und Moralvorstellung. Als optimistische Aufklärer gingen Ziegenhagen 2 , Frölich 3 und Schulz 4 von einer grundsätzlich positiven Weltanschauung aus, worauf sie erneut das physikotheologische Argument begründeten. So bekannten sie sich zu einer bewundernswerten Weltordnung, die der Weisheit des Schöpfers zu verdanken wäre. Damit verbunden war eine teleologische Richtung, die das Dasein überhaupt zur glücklichen Entwicklung bestimmte und die auch

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4

Lehre vom richtigen Verhältnisse zu den Schöpfungswerken, und die durch öffentliche Einführung derselben allein zu bewirkende allgemein Menschenbeglückung, Hamburg 1792. Siehe ζ. B. Ausgabe von 1799, S. 6 - 7 ; 24, 43; 61-73; 187; 211-217; 341-342. Über den Menschen und seine Verhältnisse, Berlin 1792. Hg. v. G. Steiner, Berlin 1960, S. 12-14; 17-20; 36-39; 48-49; 68-79; 93-94; 105-107. Versuch einer Anleitung zur Sittenlehre für alle Menschen ohne Unterschied der Religion nebst einem Anhange von den Todesstrafen, Berlin 1783. Band I, S. 167; 170-173; 180-181; 186-187; 191-193; 212-217; 220-222; 232-233. Philosophische Betrachtung über Theologie und Religion überhaupt und über die jüdische insonderheit, Frankfurt a. Main und Leipzig 1784; in M. v.Geismar (= E. Bauer), Bibliothek der deutschen Aufklärer des achtzehnten Jahrhunderts, Leipzig 1846-1847, Band 3, S. 4; 67. (Neudruck: Darmstadt 1963). Beurtheilung der vertrauten Briefe die Religion betreffend. Etwas zur frommen Erbauung für Gläubige und ungläubige Seelen. Amsterdam, 1786, S. 49-51; 88.

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Weishaupt5, Knebel6, Einsiedel7 sowie - jedoch mit viel weniger eudämonistischer Überzeugung - Friedrich II.8 anerkannten. Mit Ausnahme des letztgenannten vertraten alle diese Denker einen ihrem positiven Weltbild entsprechenden Moralbegriff, nach dem der Mensch von Natur aus zur Tugend berufen werden würde. Eine solche natürliche Moral wurde aber im radikalen rationalistischen Milieu nicht immer auf den allgemeinen Weltlauf zurückgeführt. Forster9 hielt sie für eine eigene Vollendung des Menschen, während Fichte10, Forberg11 und der Briefeschreiber R* in Heydenreichs Briefe über den Atheismus12 sie mit Kants kategorischem Imperativ untermauerten. Möglich war die Anknüpfung an christliche moralische Werte auch bloß aufgrund des individuellen und sozialen Pragmatismus, wonach die Tugend einfach als vernunftmäßige Notwendigkeit für das Wohlergehen aller Menschen gerechtfertigt wurde. So verband Friedrich II. die „Selbstliebe" mit der Moral Christi13, und auf dem ähnlichen Standpunkt standen ebenfalls Schulz14, Weikard15, Hißmann16, Weishaupt17 und Abbt18. In allen Fällen wurde also versucht, die christliche Moral zu säkularisieren. Vor allem prägte aber das rationalistische Erbe der Aufklärungsbewegung das religionskritische Denken aus, insofern als das letztere sich weitgehend auf die Natur des Menschen und der Dinge, auf das unmittelbar Gegebene und auf die vielfältigen Errungenschaften der Vernunft als Grundlage der Wahrheit berief. Sensualismus, Determinismus und überhaupt Empirismus waren von großer Bedeutung. Aus dieser Orientierung ergab sich

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Anrede an die neu aufzunehmenden Illuminati dirigentes (1782); in: Einige Originalschriften des Illuminaten Ordens, welche bey dem gewesenen Regierungsrath Zwack durch vorgenommene Hausvisitation zu Landshut den 11. und 12. Oct(ober) 1786 vorgefunden worden. Auf höchsten Befehl Seiner Churfürstlichen Durchlaucht zum Druck befördert, München 1787, S. 52-54; 78-97; 118-120.

K. L. von Knebels literarischer Nachlaß und Briefwechsel, Hgg. Κ. A. Varnhagen von Ense und T. Mündt, Leipzig 1840, Bd. 1, S. 11. Bd. II, S. 199; 208; 228-229; 291; 337-338; 350; 355; 414. 7 Ideen. Hg. W. Dobbek, Berlin 1957, N° 37-43, S. 71-72; N° 55, S. 75-79; N" 57-58, S. 79-80; N° 63, S. 81. 8 Ζ. B. Essai sur l'amour propre envisage comme principe de morale (1770); in: J. R. Armogathe & D. Bourel, Frederic II de Prusse, oeuvres philosophiques, Paris 1985, S. 336. ' Vgl. Georg Forsters Werke. Bearbeitet von B. Leuschner, G. Steiner, S.Scheibe e t c . . . Berlin, 1963ff., Bd. 14, S. 149; 310; 578. 1 0 Über den Grund unseres Glaubens an eine göttliche Weltregierung. (1798); z. B. in: W. R ö h r , Appellation an das Publikum... Dokumente zum Atheismusstreit um Fichte, Forberg und Niethammer, Jena 1 7 9 8 / 99. Leipzig 1987, S. 15-22. Appellation an das Publikum über die durch ein Kurfürstlich Sächsisches Konfiskationsreskript ihm beigemessenen atheistischen Äußerungen (1799); ζ. B. in: Röhr (wie Anm. 10), S. 92-103; 109-115. Fichtes Verantwortungsschrift (1799); ζ. B. in: Ebd., S. 209-210. 6

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Entwickelung des Begriffs der Religion. (1798); z . B . in: Ebd., S. 23 ff. Friedrich Carl Forbergs der Philosophie Doktors des Lyzeums zu Saalfeld Rektors Apologie seines angeblichen Atheismus, 1799; in: Ebd., S. 272 ff. Ebd., S. 19-21; 4 4 ^ 8 . Siehe vor allem: Essai sur l'amour propre envisage comme principe de morale (wie Anm. 8). Versuch einer Anleitung zur Sittenlehre für alle Menschen (wie Anm. 4), Bd. 1, S. 60-61; 68 ff.; 142; 167, 193. Bd. 2, S. 22; 30-31; 41. Philosophische Betrachtung über Theologie und Religion überhaupt (wie Anm. 4), S. 22-23; 70-71. Beurtheilung der vertrauten Briefe die Religion betreffend., (wie Anm. 4), S. 27-29; 72-73; 82-84; 108; 130-131. Der philosophische Arzt, Frankfurt am Main 1790 (1. Aufl.: 1775-1777), 1. Bd., S. 152; 198. Psychologische Versuche, ein Beitrag zur esoterischen Logik, Frankfurt und Leipzig 1777, S. 14. Anrede an die neu aufzunehmenden Illuminati dirigentes, (wie Anm. 5), S. 83; 116-119. Siehe Briefe an M. Mendelssohn von 1762 bis 1765, in: Vermischte Schriften, Frankfurt am Main und Leipzig 1783, und Briefe, die neueste Literatur betreffend, 19. Teil, Brief 287.

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grundsätzlich ein individualistischer und humanistischer Anspruch bzw. ein starkes Streben nach Autonomie, Emanzipation und glücklicher Förderung des Menschen, deren Voraussetzung hier der Kampf gegen Theologie und Religion war. So wurde die Auseinandersetzung der Aufklärung mit Unwissenheit, Irrtum, Furcht, Aberglauben, Fanatismus, Betrug und Despotismus zur Sicherung der Wahrheit und des menschlichen Fortschritts radikal fortgesetzt. Eine solche Geisteshaltung wurde immer noch von Universalismus getragen, - auch wenn Materialismus hineinspielte, denn es ging hier im wesentlichen um metaphysischen Materialismus, d. h. um Denkweisen, die keine andere Basis für die Wahrheit anerkannten als das ewige materielle Wesen der Welt und vor allem des Menschen. Von diesem allgemeinen Standpunkt aus beanspruchten die meisten radikalen rationalistischen Spätaufklärer an erster Stelle die geistige Revolution im irreligiösen, antireligiösen oder atheistischen Sinne, um das Menschenleben zu verbessern. Ihre sozial-politische Kritik erfolgte lediglich aus ihrer Offensive gegen die Machtstellung der Religion und deren obskurantistischen Auswirkungen auf die Gesellschaftsverhältnisse. Die religionsfeindliche Position konnte sich behaupten, ohne die bestehende Ordnung grundsätzlich in Frage zu stellen, und unterstützte sogar den „aufgeklärten Despotismus", wie ζ. B. bei Pezzl 19 , Friedrich II. und seinem Protege Schulz. Insofern Schloß sie an liberale Aufklärung und politische Tradition an. Gleichzeitig verbanden sich alle diese Traditionskomponenten aber mit neuorientierten Denkweisen, deren Modernität nicht nur in der deutschen, sondern auch in der europäischen Ideen- und Kulturgeschichte beachtenswert war. Unverkennbar ist die bahnbrechende Rolle dieser radikalen Aufklärungsgeister in der modernen Auseinandersetzung mit Mensch und Welt. Sie kamen zu Denkprozessen, die manche neue ergiebige Entwicklunsperspektive eröffneten, und zwar sowohl im Felde des triumphierenden Rationalismus als auch im Felde der regressiven Revision des Rationalismus. Der Minimalkonsens und der gemeinsame moderne Grundzug dieses Denkens lagen bei der Ablehnung der fideistischen Theologien und Religionen, vor allem des seit vielen Jahrhunderten herrschenden Christentums, dessen Verteidiger alle Freigeister rücksichtslos des Atheismus beschuldigten. So verschärfte sich das Streben nach Verweltlichung und religiöser Entmythologisierung auch in einzelnen deutschen spätaufklärerischen Tendenzen. Prägnantes Beispiel dafür war Weikards Äußerung zur frommen Andacht: einer berühmten Formel von Karl Marx vorwegnehmend bezeichnete er die Andacht als „Opium für die Seele" 20 . Zudem ging die Modernität dieser Tendenzen aus ihrer unterschiedlichen Begründung hervor. In seiner starken Ausrichtung zeitigte der radikale rationalistische Geist eine revolutionierende Denkmethode mit dem Primat der Erfahrung, insbesondere mit deren streng wissenschaftlichem Verständnis wie beim Arzt Weikard und beim Physiker Lichtenberg. Aus einer solchen wesentlich empiristischen Begründung des Denkens entwickelte sich eine erneuerte Wahrheit im modernen Sinne des Materialismus sowie der strukturellen Gesellschaftskritik. Vor allem wurde der Mensch vom materialistischen Standpunkt aus betrachtet. Weitgehend von englischen (Hartley, Priestley) und französischen (Helvetius, Diderot) freigeistigen Aufklärern beeinflußt, vertraten die meisten deutschen radikalen Rationalisten den " Faustin oder das philosophische Jahrhundert (oben, S. 1). Neudruck, in: Texte zum literarischen Leben um 1800, Hg. E. Weber, Hildesheim 1982, S. 3 6 6 - 3 6 7 ; 3 7 9 - 3 8 1 . 2 0 Denkwürdigkeiten aus der Lebensgeschichte des Kaiserlich-Russischen Etatsrat M. Weikard, Frankfurt und Leipzig 1802, S. 52.

Altes und N e u e s im religionskritischen rationalistischen Denken

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anthropologischen Materialismus. So sahen Mauvillon21, Ziegenhagen22, Spazier23,

For-

s t e r 2 4 , F r i e d r i c h I I 2 5 , u n d d e r B r i e f e s c h r e i b e r R * in H e y d e n r e i c h s S c h r i f t 2 6 d e n M e n s c h e n als b l o ß e M a t e r i e an u n d hielten d e n T o d f ü r e n d g ü l t i g . Soweit k a m e n a u c h Lichtenberg28 und Diez29 aufgrund des psychologischen Materialismus, den

Schulz27, Weikard30,

H i ß m a n n 3 1 , Knebel32, Einsiedel33 und Knoblauch34 mechanistisch entwickelten. Alle bestritten, d a ß die Seele eine einfache, geistige, z u m ü b e r n a t ü r l i c h e n F o r t l e b e n S u b s t a n z sei. D a n n w u r d e d i e M o r a l b e i S c h u l z u n d W e i k a r d e i n f a c h v o m geregelt35, bei M a u v i l l o n 3 6 u n d vor allem bei E i n s i e d e l 3 7 s o g a r s t a r k

bestimmte

Utilitarismus

individualistisch

orientiert. A b e r der Materialismus setzte auch schon z u r objektiven E r w e i t e r u n g an, i n d e m er v o n F o r s t e r 3 8 , H e y d e n r e i c h s B r i e f e s c h r e i b e r R * 3 9 u n d in s t ä r k e r e m M a ß e v o n K n e b e l 4 0 ,

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Vgl. J . Hoffmann, Jacob Mauvillon. Ein Offizier und Schriftsteller im Zeitalter der bürgerlichen Emanzipation, in: Historische Forschungen, Bd. 20, Berlin 1981, S. 168-169. Lehre vom richtigen Verhältnisse zu den Schöpfungswerken, (wie Anm. 2), S. 212-217; 321-329. Antiphädon oder Prüfung einiger Hauptbeweise für die Einfachheit und Unsterblichkeit der menschlichen Seele, Leipzig 1785 (Neudruck : Berlin 1961, H g . v. W. Krauss). Vgl. G e o r g Forsters Werke., (wie Anm. 9), Bd. 14, S. 319; 577. A la divine Emilie; in: J. D . E. Preuß, Oeuvres de Frederic le Grand, Berlin 1846-1857, Bd. X I X , S. 28. Sur les vaines terreurs de la mort et sur les frayeurs d'une autre vie; in: Ε. Benz, Der Philosoph von Sans-Souci im Urteil der Theologie und der Philosphie seiner Zeit, Mainz 1971, S. 37-38. B. Taureck, Friedrich der Große und die Philosophie. Texte und Dokumente, Stuttgart 1986, S. 67-69. E. Zeller, Friedrich der Große als Philosoph, Berlin 1886, S. 55-58 Briefe über den Atheismus, (oben, S. 724), S. 12-13; 50-54. Versuch einer Anleitung zur Sittenlehre für alle Menschen, (wie Anm. 4), S. 60-61; 68 ff.; 142. G. C . Lichtenbergs Aphorismen, nach den Handschriften herausgegeben von A. Leitzmann; in : Deutsche Literaturdenkmale des 18. und 19. Jahrhunderts, H g . v. A. Sauer, Berlin 1902-1908, 3. Heft: Ε 31, 468, F 346, 422; 4. Heft: J 66, 549; 5. Heft: L 710. Siehe Briefe an J . Mauvillon von 1773-1774; in: Mauvillons Briefwechsel oder Briefe von verschiedenen Gelehrten an in den Herzogl. Braunschweigischen Diensten verstorbenen Obristleutnant Mauvillon , gesammelt und herausgegeben von seinem Sohn F. Mauvillon, Hauptmann in dem Holländischen Artillerie-Corps, Teutschland 1801, S. 79; 82-85; 89-92. Der philosophische Arzt (wie Anm. 15). Geschichte der Lehre von der Assoziation der Ideen nebst einem Anhang vom Unterschiede unter assoziierten und zusammengesetzten Begriffen und den Ideenreihen, Göttingen 1777. Psychologische Versuche (wie Anm. 16). Vgl. K. L. von Knebels literarischer Nachlaß und Briefwechsel (wie Anm. 6), S. 29; 192-194; 199; 206; 214; 252-253; 291-299; 317-318; 323; 325; 330; 339-340; 343-344; 354-356; 410-415; 431. Ideen, (wie Anm. 71), S. 61: N ° 2 b); S. 62: N ° 4; S. 64: N ° 9: S. 74: N " 52; S. 116: N ° 129 & 131; S. 117: N ° 134; S. 119: N ° 1 3 7 ; S . 1 2 2 : N ° 1 4 3 ; S . 115: N ° 1 2 7 ; S . 122: N ° 1 4 5 ; S. 123: N ° 146 & 147; S. 126-127: N ° 1 5 3 ; S. 137: N " 170. Die Nachtwachen des Einsiedlers zu Athos, Nürnberg 1790; in: M . von Geismar (= E. Bauer), Bibliothek der deutschen Aufklärer des achtzehnten Jahrhunderts, Leipzig 1846-1847, 5. Bd, S. 259-262. Siehe oben 14. & 15. Das einzige wahre System der christlichen religion, Berlin 1787, S. 110 ff. Ideen (wie Anm. 71), S. 71: N ° 36; S. 77: N ° 55; S. 106: N ° 108; S. 107: N ° 112; S. 109: N ° 116; S. 132-133: N ° 163-164; S. 170: N ° 226-224; S. 171: N " 227; S. 188: N ° 263; S. 200: N ° 293; S. 201: N " 294; S. 208: N ° 306; S. 221-222: N ° 330-331-332; S. 224-225: N ° 337-338-339; S. 226: N ° 340. Leitfaden zu einer künftigen Geschichte der Menschheit (1789); in: G e o r g Forsters Werke (wie A n m . 9), Bd. 8. Ü b e r lokale und allgemeine Bildung (1791); in: Ebd., Bd. 7. Briefe über den Atheismus (oben, S. 724), S. 9-12. K. L. von Knebels literarischer Nachlaß und Briefwechsel (wie A n m . 6), S. 87; 207; 215-216; 227; 296-297; 447.

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Lichtenberg 41 und Knoblauch 42 auf die Welt überhaupt ausgedehnt wurde. Zugleich kam der Materialismus über die mechanistische Konzeption hinaus bis zum Entwurf moderner wisenschaftlicher Thesen hin. So bahnten sich Big-Bang-Theorie und organizistischevolutionistisches Weltbild bei Knebel 43 an, während Lichtenberg 44 die Entwicklungs-und Anpassungslehre im Lamarckschen Sinne andeutete. Zu den materialistischen Ansätzen dieser radikalen rationalistischen Strömung gehörte auch die strukturelle Gesellschaftskritik. Diesen Standpunkt vertraten Weishaupt 45 , - der mit der Abschaffung der fürstlichen und geistlichen Regierung dem Despotismus ein Ende machen wollte - , und vor allem Ziegenhagen 46 und Frölich 47 , die als Bahnbrecher des sogenannten utopischen Sozialismus das Unglück der Menschen auf das Privateigentum zurückführten. In seiner regressiven Ausrichtung war der radikale rationalistische Geist gleichzeitig durch andere Modernitätszüge gekennzeichnet. Hier wurde versucht, die Kritik an der Idee von Gott und an der Religion auf der Infragestellung der menschlichen Erkenntnis zu begründen: auf diese Weise behauptete sich das neue Bewußtsein von den der Erkenntnis innewohnenden Einschränkungen und Bestimmungen. So wurde auf Subjektivismus und folglich auf Relativismus und Agnostizismus hingewiesen, und zwar einerseits aus materialistischen Gründen wie den sinnlichen, physiologischen und quantitativen Einschränkungen der Erkenntnis (so Schulz48, Forster 49 , Friedrich II. 50 , Knebel 51 , Diez 52 , Einsiedel 53 und Knoblauch 54 ), andererseits aus idealistischen Gründen wie der eigenen Beschaffenheit des

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Brief an J. D. Ramberg 3. 6. 1786; in: Lichtenbergs Briefe, Hg. A. Leitzmann & C. Schüddekopf, Leipzig 1901, Bd. 2, S. 282. G. C. Lichtenbergs Aphorismen (wie Anm. 28), 1. Heft: A 24; 3. Heft: F 159. Die Nachtwachen des Einsiedlers zu Athos (wie Anm. 34), S. 262. Euclides anti-thaumaturgicus, oder demonstrativer Beweis von Unmöglichkeit hyperphysischer Begebenheiten nebst Anwendung dieses Beweises auf ein besonderes Mirakel, Germanien 1791; in: M. von Geismar (= E. Bauer), Bibliothek der deutschen Aufklärer des achtzehnten Jahrhunderts (wie Anm. 34), S. 264 ff. K. L. von Knebels literarischer Nachlaß und Briefwechsel (wie Anm. 6), S. 87; 191-192; 205-207; 214-216; 219-220; 235; 295; 355; 410; 431. G. C. Lichtenbergs Aphorismen (wie Anm. 28), 1. Heft: A 24. Anrede an die neu aufzunehmenden Illuminati dirigentes (wie Anm. 5). Lehre vom richtigen Verhältnisse zu den Schöpfungswerken (wie Anm. 2). Über den Menschen und seine Verhältnisse , Hg. G. Steiner, Berlin 1960. Versuch einer Anleitung zur Sittenlehre (wie Anm. 4), II, S. 12-13; 20-26. Philosophische Betrachtung über Theologie und Religion überhaupt (wie Anm. 4), S. 22-32; 38-39; 45-48. Georg Forsters Werke (wie Anm. 9), Bd. 14, S. 119; Bd. 15, S. 233, 246-248, 262, 269. Au marechal Keith; in: J. D. E. Preuß, Oeuvres de Frederic le Grand (wie Anm. 25)., Bd. XII, S. 95. Unde? Ubi? Quo?; in: B. Taureck, Friedrich der Große und die Philosophie (wie Anm. 25), S. 78. Examen de l'essai sur les prejuges (1770); in: J. R. Armogathe & D. Bourel, Frederic II de Prusse, oeuvres philosophiques (wie Anm. 25), S. 362. K. L. von Knebels literarischer Nachlaß und Briefwechsel (wie Anm. 6), S. 214-215; 293; 345-347; 410414; 442. Briefe an Mauvillon vom 16.10. 1773, in: Mauvillons Briefwechsel (wie Anm. 29), S. 77; vom 5. 6. 1774, in: Ebd., S. 116-117. Ideen (wie Anm. 7), S. 116: N° 129. Briefe an Mauvillon vom 19. 2. 1792, Mauvillons Briefwechsel (wie Anm. 29), S. 208; vom 1.10.1792, in: Ebd., S. 221

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menschlichen Geistes, insbesondere im Anschluß an Kants revolutionierende Kritik der reinen Vernunft (so Spazier55, Heydenreichs Briefeschreiber R* 56 und vor allem Lichtenberg57, Fichte 58 und Forberg 59 ). Das religionskritische rationalistische Denken der deutschen Spätaufklärung erweist sich also als Paradigma für die Entwicklung der Aufklärungsbewegung von Tradition zu Modernität. Aber dieses relevante Übergangsdenken setzte meistens nur noch im Untergrund zur Herausbildung einer modernen, durch einen grundsätzlichen Säkularisierungsversuch gekennzeichneten Menschen- und Weltanschauung an, die anschließend im Verlauf des 19. Jh. in Deutschland von D. F. Strauß, L. Feuerbach, B. Bauer, K. Marx, F. Engels und F. Nietzsche unterschiedlich bekräftigt werden sollte.

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Antiphädon (wie Anm. 23), S. 114-115. Briefe über den Atheismus (wie S. 724), S. 15-17; 38-44; G. Lichtenbergs Aphorismen (wie Anm. 28), 1. Heft: A 121; 4. Heft: J 1074, 1346. Schreiben an Herrn Werner in Glessen, die Newtonische Theorie vom Lichte betreffend; in: G. C. Lichtenbergs vermischte Schriften, Hgg. L. Ch. Lichtenberg Sc F. Kries, Göttingen 1800 bis 1806, Bd. IV, S. 423. 58 Über den Grund unseres Glaubens an eine göttliche Weltregierung (1798); ζ. B. in: Röhr (wie Anm. 11). 5 ' Entwickelung des Begriffs der Religion (wie Anm. 9). 56

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H O L G E R BÖNING, BREMEN

Populäre politische Aufklärung während der Helvetischen Republik

Mit der Helvetischen Revolution der Jahre 1797/98 und der Konstituierung der Helvetischen Republik am 12. April 1798 in Aarau begann die mehr als fünf Jahrzehnte dauernde Umwälzung der Alten Eidgenossenschaft zu einer bürgerlich-demokratischen Ordnung. Mit ihr wurden nicht nur die alten gesellschaftlichen Verhältnisse und Institutionen radikal in Frage gestellt, sondern zugleich auch das Gesellschaftsbild der großen Mehrzahl der schweizerischen Aufklärer. Vorstellungen von der grundsätzlich vorhandenen Interessengleichkeit aller Stände, die in den Bestrebungen für das „gemeine Wohl" ihren Ausdruck fanden, von der allmählichen Verbesserbarkeit und Vervollkommnung der alten Gesellschaft durch Reformen wurden in den Konfrontationen zwischen den Vertretern der alten Ordnung und den Anhängern einer bürgerlichen Republik obsolet. Uberaus interessante Auseinandersetzungen, in denen die Aufklärer der Schweiz ihren Standort suchen mußten, kennzeichnen die ersten Jahre der Helvetik. Die Geschichte der Helvetischen Republik kann und soll hier nicht im einzelnen dargestellt und nachvollzogen werden. 1 Im folgenden ist aber danach zu fragen, welche Bedeutung und welche Wirkungen die gesellschaftlichen Umwälzungen für die schweizerische Volksaufklärung hatten. Der Zwang zu neuen Orientierungen, zur Auseinandersetzung mit der bisherigen gesellschaftlichen Tätigkeit, der sich durch die Revolution für die Aufklärer in der Schweiz ergab, ist für die Beurteilung der Volksaufklärung im deutschsprachigen Raum insgesamt interessant und aufschlußreich. Mit dem Beginn der Helvetischen Revolution und verzeinzelt auch schon zuvor in den Auseinandersetzungen der neunziger Jahre entstanden zahlreiche Flug- und Kleinschriften, die zwar als politische Volksaufklärung bezeichnet werden können und die vor allem auch deshalb von größter Bedeutung sind, weil durch sie das „Volk" in die politische Auseinandersetzung einbezogen wurde, die sich aber als politisches Tagesschrifttum deutlich von allen volksaufklärerischen Schriften unterscheiden, die vor und nach der Helvetischen Republik erschienen. Zu Recht ist von einer „politischen Nationalliteratur" der Schweiz gesprochen worden, die in den Jahren der Helvetik entstand. 2

Populäre Aufklärung in der Alten Eidgenossenschaft Nirgendwo sonst im deutschsprachigen Raum finden sich so früh intensive Bemühungen zur Aufklärung der bäuerlichen Bevölkerung wie in der Alten Eidgenossenschaft. N o c h dachte kaum jemand daran, die Kenntnisse der Gelehrten den arbeitenden Ständen zur praktischen Nutzung zu vermitteln, da schrieb der Fischenthaler Pfarrer Johann Caspar

1

Siehe als erste Einführung Holger Böning, Revolution in der Schweiz. D a s Ende der Alten Eidgenossenschaft und die Helvetische Republik 1798-1803. Bern, Frankfurt am Main und N e w York 1985 (dort die weitere Forschungsliteratur zur Helvetik) sowie Alfred Rufer, Helvetische Republik. In: Historisch-biographisches Lexikon der Schweiz. Neuenburg 1921-1934. Eine vorzüglich Einfuhrung in die vorrevolutionären Verhältnisse bietet Rudolf Braun, D a s ausgehende Ancien Regime in der Schweiz. Aufriß einer Sozialund Wirtschaftsgeschichte. Göttingen und Zürich 1984.

2

Vgl. dazu W. Spinner, Die Flugschriftenliteratur zur Zeit der Helvetik. In: Centrai-Blatt der Zofingia, 16. Jahrgang, 1876, N r . 8-10, S. 277-303; 317-342; 358-393, hier S. 393.

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Nägeli im Jahre 1738 für den „Lehrnsbegierigen Landmann" einen „getreuen Wegweiser", der eine neue Art des Pflanzenbaues popularisieren und damit die Armut in den ländlichen Gebieten der Schweiz dämpfen sollte. 3 Nägeli ist ein frühes Beispiel für jenen Wandel, den Gustav Freytag in seinen „Bildern aus der deutschen Vergangenheit" einfühlsam für Deutschland beschrieben hat und der in der Schweiz ebenso zu beobachten ist: Es „drangen die ersten Strahlen neuen Lichtes aus den Arbeitsstuben der Gelehrten, welche die fremdartigste und dem Landvolk unverständliche Wissenschaft verkündigten, das, was man damals Philosophie nannte. Seit die Lehre von Leibniz und Wolf in einem größeren Kreise der Gebildeten Schüler findet, änderte sich fast plötzlich auch das Urteil über den Bauern und sein Schicksal. Überall beginnt humane Auffassung der irdischen Dinge den Kampf gegen den orthodoxen Wahn. Wieder kommte etwas von dem Eifer der Apostel zu lehren, zu bessern, zu befreien in die Schüler und Verkünder der neuen Weltweisheit." So auch bei dem schweizerischen Pfarrer Nägeli, der die Schriften Christian Wolffs von der „wunderbaren Vermehrung des Getreides" studiert hat und sein bei dem praktischen Philosophen gewonnenes Wissen nun an die Bauern weitergeben will. 4 Nägeli ist 1738 noch ein Einzelgänger, der mit seiner ersten volksaufklärerischen Schrift in deutscher Sprache ohne größeren Widerhall bleibt. Seit der Jahrhundertmitte nimmt das Interesse an einer praktischen Naturwissenschaft, an den Bauern und der Landwirtschaft jedoch auch bei der aufgeklärten schweizerischen Intelligenz zu. Insbesondere die gemeinnützigen und ökonomischen Gesellschaften machen sich die Kenntnisse der aufblühenden Naturwissenschaften zu eigen und beginnen eigenständig, sie zur Erforschung besserer Methoden der Bodenbearbeitung, der Düngung und Bewässerung zu nutzen. Die Gesetze des Pflanzenbaues und der Pflanzenernährung werden erforscht, und empirisch erkundete man die Probleme des Kunstfutter-, Wiesen- und Pflanzenbaues. Auch in der Schweiz nahm das wissenschaftliche Jahrhundert sich desjenigen Zweiges der Volkswirtschaft an, in dem besonders ausgeprägt nach jahrhundertelanger Uberlieferung gewirtschaftet wurde: es entsteht, was als „ökonomischer Patriotismus" die schweizerische Spätaufklärung prägt. 5 Die beiden wichtigsten gemeinnützigen Gesellschaften in der Schweiz, deren Tätigkeit zugleich den Beginn der Volksaufklärung in der Eidgenossenschaft markiert, bestanden in Zürich und Bern. Schon im Jahre 1746 hatte Johannes Gessner in Zürich die Physikalische Gesellschaft gegründet, die sich zunächst der wissenschaftlichen Naturforschung widmete und seit den sechziger Jahren unter dem Einfluß Hans Caspar Hirzeis und einer landwirtschaftlichen Kommission ihr Interesse landwirtschaftlichen Fragen zuwandte. Zur Gründung einer Ökonomischen Gesellschaft in Bern rief 1758 Johann Rudolf Tschiffeli alle an landwirtschaftlichen Neuerungen Interessierten auf; schnell entstanden zahlreiche Zweig-

3

Joh[ann] Caspar Nägeli, Des Lehrnsbegierigen und Andächtigen Landmanns Getreuer Wegweiser. Zürich, Heidegger und Compagnie 1738. [Böning/Siegert, Bd. 1, Titel-Nr. 118]; Neudruck hsg. von Holger Böning und Reinhart Siegert Stuttgart, frommann-holzboog 1992. Aus Platzgründen werden die Titel der benutzten Quellen nur in Kurzform genannt, soweit sie sich finden bei Holger Böning und Reinhart Siegert, Volksaufklärung. Biobibliographisches Handbuch zur Popularisierung aufklärerischen Gedankengutes im deutschen Sprachraum. Bd 1 - 4 , Stuttgart: F r o m m a n n - H o l z b o o g 1990. Hingewiesen wird auf diese Titel durch [Böning/Siegert, Bd. lf.].

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Ebenda. Zur Beschäftigung Christian Wolffs mit Fragen der Landwirtschaft siehe Günter Mühlpfordt, Die organischen Naturwissenschaften in Wolffs empiriorationalistischer Enzyklopädistik. In: il cannocchiale rivista di studi filosofici n. 2 - 3 - maggio-dicembre 1990. Neapel: Edizioni Scientifiche Italiane 1990, S. 7 7 106.

5

Der Begriff „Ökonomischer Patriotismus" ist geprägt worden von Georg C . L. Schmidt, Der Schweizer Bauer im Zeitalter des Frühkapitalismus. Die Wandlung der Schweizer Bauernwirtschaft im achtzehnten Jahrhundert. Bd. 1, Bern 1932, Bd. 2, Bern und Leipzig 1932.

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gesellschaften auf dem Lande und in den bernischen Landstädten. Tschiffelis Gründungsaktivitäten sind charakteristisch für Vorgehen und Selbstverständnis der ökonomischen Patrioten in den fünfziger Jahren. Sein Aufruf zur Gründung einer ökonomischen Gesellschaft erschien im Berner Wochenblatt und richtete sich an alle „patrioten überhaupt und an alle freunde der landwirthschaft ins besonders". 6 Erstes Ziel des Aufrufes war es, „eine summ zusammenzulegen, und daraus die beste auflösung einer zur Verbesserung des landbaues abzwekenden aufgabe mit einer preismünze zu belohnen". 7 Gemeinsam mit sechs patrizischen Freunden, die den Aufruf unterzeichnet hatten, legte Tschiffeli das Thema der Preisfrage fest, die von der „vorzüglichen Nothwendigkeit des Getreidebaus in der Schweiz" handeln sollte. Das wichtigste Thema der schweizerischen ökonomischen Gesellschaften, nämlich die Entwicklung und Verbesserung der Landwirtschaft, war damit benannt. Auch wie dies geschehen sollte, dafür geben die frühen Diskussionen in Bern Aufschluß. Uber Preisfragen, Diskussionen in der Gesellschaft und praktische Versuche sollten sich zunächst die gebildeten Mitglieder der Gesellschaft Aufschluß über praktikable Reformprojekte verschaffen. Über diese gebildeten Mitglieder insbesondere auch in den Zweiggesellschaften auf dem Lande waren dann entsprechende Vorschläge und Projekte an die bäuerliche Bevölkerung zu vermitteln. „Die Wohlfahrt eines Volkes", so wußte man standesbewußt, „fodert nicht, daß alle Menschen Pflänzer werden, man darf nur diejenigen unterrichten und beschützen, welche es sind." 8 Schnell entwickelt sich die Unterweisung der „klasse von landwirthen", die man als kleine oder mittlere landbesitzende Bauern bisher stets vernachlässigt sah, zu einer der Hauptaufgaben der ökonomischen Gesellschaften in der Schweiz; sie erkannte man als von „unendlicher Wichtigkeit für die aufnahm des landbaues und für den allgemeinen vortheil der menschlichen gesellschaft" 9 . Bei allem Einfluß, den der Physiokratismus in der Schweiz gewann, liegt in dieser Wahl der Adressaten eine wesentliche eigenständige Modifizierung des physiokratischen Programms, die den schweizerischen Agrarstrukturen geschuldet war. Für die französischen Physiokraten galt als wichtigster Ansprechpartner nicht der einfache, selbst arbeitende Bauer, sondern sie setzten ihre Hoffnungen vorrangig auf die Großpächter, auf die entweder bereits nach agrarkapitalistischen Prinzipien arbeitenden oder danach strebenden fermiers. Auf schweizerische Verhältnisse war dies nur bedingt übertragbar; hier mußte das Hauptaugenmerk auf die kleinen und mittleren Bauern gelegt werden, von denen die landwirtschaftliche Produktion im wesentlichen getragen wurde; von ihnen sprach man so auch hauptsächlich, wenn die subjektiven Hindernisse diskutiert wurden, die man für den schlechten Zustand der Landwirtschaft verantwortlich machte. Wohl wollte man auch auf diejenigen einwirken, „die ihre güter nicht mit eigenen händen bauen, sondern selbige entweder durch taglöhner bearbeiten lassen, oder durch pächter, die zu belohnung ihrer arbeit an dem abtrag des landes ihren antheil haben", doch Unterricht und Unterstützung der „begüterten eigenthümer" hielt man für entbehrlicher, da man bei diesen durch Erziehung und materielle Potenzen die Voraussetzungen gelegt sah, die bei entsprechender Aufmunterung zur Verbesserung der Landwirtschaft führen würden.10

Abhandlungen und Beobachtungen der ökonomischen Gesellschaft zu Bern [Böning/Siegert, Bd. 1, Titel-Nr. 395], 1. St., 1762, Vorrede, S. XXIX f. 7 Geseze der Ökonomischen Gesellschaft zu Bern, ebenda, S. XLIII-XLVIII 8 Betrachtungen über den Landbau, ebenda, 1. St., 1760, S. VIII f. ' Ebenda. 1 0 Vorrede, ebenda, 1772, 2. Stück, S. I-XVI, hier S. VII ff. 6

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Dieser Orientierung der ökonomischen Gesellschaften in der Schweiz auf die unmittelbar in der Landwirtschaft Arbeitenden ist es geschuldet, daß ihre Tätigkeit von Anfang an, das heißt seit den fünfziger Jahren des 18. Jh., zumindest in Ansätzen volksaufklärerische Züge trug und daß sich solche Elemente im Laufe der Jahre verstärkten. Zunächst überwog zwar das Bemühen, die städtischen Bürger, die Gebildeten und die Regierungen über die Notwendigkeit größerer Sorge für die Landwirtschaft aufzuklären und zu praktischen Maßnahmen aufzufordern, doch in kaum einer Publikation der Gesellschaften fehlten Gedanken darüber, wie auf die ländliche Bevölkerung selbst eingewirkt werden könne. Schon in der ersten Publikation der bernischen Gesellschaft stellte man fest, das „vornehmste Hinderniß" für die Verbesserung des Landbaues rühre „unstreitig von dem gänzlichen Unvermögen des Landmanns" her, für das man im wesentlichen gesellschaftliche Verhältnisse verantwortlich sah: „Er hat in seiner Armuth oder unter der Last der Auflagen weder das Vermögen noch den Willen, die Ausgaben für ein Stück Land zu machen, die er im Uberfluß zurück bekommen würde. Seine im Elend versunkene Seele tritt nicht aus dem kleinen Kreise seiner täglichen Bedürfnisse heraus; er wandelt gedankenlos mit hangenden Ohren, wie ein überladenes Thier in den Wegen seiner Voreltern." 11 Wenn auch mit einer etwas anderen Akzentuierung, sahen die Züricher Aufklärer für den schlechten Zustand der Landwirtschaft die bäuerliche Bevölkerung verantwortlich. Eine verbesserte Ökonomie, so könnte pointiert das Denken der Züricher Physikalischen Gesellschaft beschrieben werden, hat Bauern zur Voraussetzung, die in gleicher Weise wie der „Philosophische Bauer" Kleinjogg Arbeitsamkeit, Umsicht und Neuerungsbereitschaft verkörpern. 12 Neben solchen Gemeinsamkeiten, die sich bei den Trägern der Volksaufklärung in der Schweiz finden lassen, gibt es - beispielhaft zu zeigen an den Berner und Züricher Aufklärern - auch wichtige Unterschiede, die für die praktische Tätigkeit Konsequenzen hatten. Besaßen die Berner Familien, aus denen die Mitglieder der ökonomischen Gesellschaft zumeist stammten, auf dem Lande häufig eigene Güter oder waren sie dort als Landvögte tätig, so fehlte den Züricher Aufklärern diese traditionelle Verbindung zur Landwirtschaft. So sind es insbesondere die Ökonomischen Patrioten Zürichs, die sich intensiv um genauere Kenntnis des bäuerlichen Lebens, Denkens und Wirtschaftens bemühen. Ein berühmtes Beispiel für die Entdeckungen, die dabei gemacht wurden, ist der „Philosophische Bauer" Hans Caspar Hirzeis. Durch Beobachtungen, Besuche, Gespräche und Beschreibungen versuchten die Züricher, einen relativ fremden Lebenskreis kennenzulernen. 13 „Landwirtschaftliche Reisen", wie sie von den Zürichern unternommen wurden, konnten die Berner sich wohl ebenso ersparen wie die Einladungen und Abordnungen einzelner Bauerndörfer zu Diskussionen und Aussprachen, die als Bauerngespräche in ganz Europa berühmt wurden und in denen die Männer um Hirzel ihre Kenntnisse der Bauernwirtschaft vervollständigten. Über solche Gespräche und Diskussionen in Zürich oder über den unmittelbaren Kontakt zur bäuerlichen Bevölkerung wie in Bern wollte man eine Erneuerung und Reform der Landwirtschaft, neue Anbaumethoden und ein neues Wirtschaftsverhalten der ländlichen Bevölkerung durchsetzen. Geschehen sollte dies insbesondere über die Landgeistlichen, die den engsten Kontakt zu den in der Landwirtschaft Tätigen hatten. Besonders deutlich entwickelte sich dabei auf der Züricher Landschaft ein interessanter Prozeß, in dem die 11 12 13

Betrachtungen über den Landbau, ebenda, 1. St., 1760, S. 39 f. Siehe zu Hirzel und seinem „Philosophischen Bauern" [Böning/Siegert, Bd. 1, Titel-Nr. 414] Siehe dazu: L o b der Tüchtigkeit. Kleinjogg und die Züricher Landwirtschaft am Vorabend des Industriezeitalters. Zum zweihundertsten Todestag Kleinjogg Gujers (1716-1785). Zürich, Staatsarchiv 1985.

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Belehrung der Bauern keine bloße Einbahnstraße war, sondern auch die Aufklärer bereit waren, auf bäuerliche Argumente zu hören und zumindest von einzelnen Bauern zu lernen. Ein Beispiel dafür ist ein Brief des Pfäffiker Pfarrers Heinrich Escher aus dem Jahre 1765, der die Lektüre des „Philosophischen Bauern" zum Anlaß nimmt, auf einen anderen, ihm bekannten Bauern hinzuweisen: „In meiner Gemeinde wohnt ein Bauer, der hat vor ungefähr 24 Jahren auf dem Berg an einem abgelegenen und einsamen O r t einige Jucharten meistenteils unbenutzte Weiden um ein geringes Geld angekauft; von hieraus hat er ein Haus dahin transportieren lassen und mit seinem Weib angefangen, diese rauhe Landstükke zu bearbeiten. Durch unermüdete Arbeit und Nachdenken auf die dienlichsten Mittel, sein Land zu bezwingen, in welchen Stücken er dem Klyjogg nichts nachgibt, hat er es so weit gebracht, dass er die reichsten Eroberungen darauf gemacht und diese Wüstenei in einen fruchtbaren Bauernhof verwandelt hat. Ich möchte wünschen, dass die edlen Bemühungen und die Landwirtschaft dieses Helden einen ebenso innehmenden Lobredner finden als Kly-Jogg. Nicht nur dürfte man hoffen, dass sein Exempel und sein belohnter Fleiss viele encouragieren wurde, aus den Dörfern, in welchen die Menge der Einwohner bisweilen einander zur Last sind, herauszuziehen und noch so viel unbenutzte Stücke Landes zu bearbeiten, sondern man wurde hier zugleich die sichersten und auf Erfahrung gegründeten Mittel zur Äufnung und Verbesserung des Landbaus entdecken. An dieses dachte ich, als ich nochmal die Landoeconomie des von Herrn D o c t o r Hirzel verschönerten Kly-Jogg läse." 1 4 Insgesamt zeichnet die Volksaufklärung in der Schweiz sich durch ein hohes Maß an Praxisbezogenheit aus. Die ökonomischen und landwirtschaftlichen Gesellschaften suchen eher den unmittelbaren Kontakt zur bäuerlichen Bevölkerung als daß sie sich literarischer Mittel bedienen. Zwar gingen von den schweizerischen Aufklärern, denkt man nur an die erste volksaufklärerische Schrift in deutscher Sprache Johann Caspar Nägelis, an die frühe aufklärerische Dorfutopie Johannes Toblers 15 , an den Philosophischen Bauer Hans Caspar Hirzeis oder an den ersten Roman „für das Volk" aus der Feder Heinrich Pestalozzis 16 , immer wieder Impulse für den ganzen deutschsprachigen Raum aus, doch ist es merkwürdig, wie wenige Volksschriften schweizerischer Autoren entstanden. Während des Zeitraumes von 1780 bis 1800 sind es kaum mehr als zwanzig Titel, die genannt werden könnten. Ganz offensichtlich maß man literarischen Mitteln bei der praktisch-populären Aufklärung nur geringe Bedeutung bei, wenngleich natürlich bedacht sein muß, daß in Deutschland entstandene Volksschriften auch in der Schweiz vertrieben und gelesen wurden. Ein weiteres wichtiges Merkmal der schweizerischen Volksaufklärung ist die enge Bindung ihrer Träger an die Obrigkeiten der einzelnen Kantone. Auch die Aufklärer in der Schweiz gingen bis in die neunziger Jahre von der Reformierbarkeit des Ancien Regime aus, glaubten sich in ihren Aktivitäten einig mit dem wohlverstandenen Interesse aller Stände der alten Gesellschaft. Eine gute „Policey" war ein Hauptziel der Ökonomischen Patrioten, durch sie sah man auch die Interessen der regierenden Stände am besten gesichert. In Zürich stammten die meisten Mitglieder der Physikalischen Gesellschaft aus gut regimentsfähigen Familien, einzelne von ihnen rückten in höchste politische Ämter auf. Ein patriarchalisches Staatsverständnis, das die Aufgabe der Regierenden in der Fürsorge

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Staatsarchiv Zürich B I X 28, Nr. 11, S. 39-41. Zit. nach Hans Ulrich Pfister, Kleinjogg Gujer, eine Leitfigur. In: Lob der Tüchtigkeit, S. 7-24, hier S. 18. (Johannes Tobler], Idee von einem Christlichen Dorfe. Zürich 1766 [Böning/Siegert, Bd. 1, TitelNr. 632], [Heinrich Pestalozzi], Lienhard und Gertrud. Ein Buch für das Volk. [Ab Th. 2, Ein Buch für's Volk], Th. l ^ t . Berlin und Leipzig [ab Th. 2, Frankfurt und Leipzig] 1781-1787.

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für die Regierten sah, einigte die Züricher Obrigkeit und die Mitglieder der Physikalischen Gesellschaft. Fast noch stärker ausgeprägt war dies in Bern, wo die Satzung der ökonomischen Gesellschaft den staatlichen Strukturen nachgebildet war. Auch hier setzte sich die Mitgliedschaft zu einem großen Teil aus der Berner Regierung eng verbundenen Männern zusammen. Angehörige des Großen und des Täglichen Rates, ehemalige und amtierende Landvögte, Behörden- oder Gerichtsschreiber bildeten die Mehrzahl der Muttergesellschaft in Bern, während sich an den Zweiggesellschaften etwas stärker Pfarrer, Handwerker und auch Wirte beteiligten. Bauern gehörten - wie in Zürich und in allen ökonomischen Gesellschaften des 18. Jahrhunderts - zu den Raritäten unter den Mitgliedern. Man wird sich jedoch vor allzu schnellen Schlüssen aus den Organisations- und Mitgliederstrukturen hüten müssen. Zwar standen die Ökonomischen Patrioten durch ihre Herkunft und durch ihre berufliche Tätigkeit ihren jeweiligen Regierungen recht nahe, doch bei ihren Gesellschaften handelte es sich um keine von den Obrigkeiten initiierte Unternehmen, sondern es waren Initiativen von zumeist aufklärerisch engagierten Bürgern. Instinktiv erkannten die absolutistischen Denkweisen verhafteten Regierungen, daß von den Gesellschaften ein Verhältnis zur ländlichen Bevölkerung angestrebt wurde, das mit ihrem Regierungsstil unvereinbar war. Argwohn erregte bei den Obrigkeiten immer wieder, daß sich hier Bürger aus eigener Initiative und ohne Mandat um Dinge bekümmerten, die traditionell allein Sache der Regierungen waren. Mehrfach gibt es Ermahungen an die Gesellschaften, sich nicht mit Materien zu befassen, die „Staatsdeliberationen berühren, auf die Regierung influieren, oder mit derselben Eine Verbindung haben". 1 7 Es ist damit das eigentlich Brisante der ökonomischen und gemeinnützigen Gesellschaften angesprochen: Bürger, ländliche Untertanen und zunächst allerdings nur einige wenige Bauern begannen sich selbständig um Angelegenheiten zu bekümmern, zu denen sie nicht per Regierungsamt beauftragt waren. In den Diskussionen über Feudalabgaben und über gesellschaftliche Hindernisse für Verbesserungen in der Landwirtschaft waren Privilegien der Oberschichten und bestehende Gesellschaftsstrukturen - auch wenn die bestehende Ordnung in ihren Grundlagen nicht in Frage gestellt wurde - durchaus nicht sakrosankt. In der Mahnung an die Obrigkeiten, sie mögen ihre Pflichten gegenüber den ländlichen Untertanen ernst nehmen, wurde durch die ökonomischen Gesellschaften erste, oft noch verhaltene Kritik an den aristokratischen Regierungen laut. Massenarmut und Elend, wovon etwa in Zürich bis zu zwei Dritteln der Bevölkerung betroffen waren, hatte seit der Mitte des 18. Jh. zu einem sich schnell verbreiternden volksaufklärerischen Engagement und zu einem verstärkten Drängen auf Reformen der landwirtschaftlichen Strukturen geführt, doch spätestens in den neunziger Jahren wurde in den öffentlichen Diskussionen deutlich, daß durch die Volksaufklärung wohl auf die bäuerliche Bevölkerung und auf deren Denken Einfluß genommen werden konnte, die Strukturen der bestehenden Ornung aber nur sehr bedingt reformierbar waren. 18

Das Ende der Volksaufklärung durch die Ökonomischen Patrioten Die neunziger Jahre des achtzehnten Jahrhunderts waren für die Schweiz eine Zeit des Umbruchs und der Unruhen. Nicht nur in den französischsprachigen Gebieten hatte man Vgl. dazu Georg C. L. Schmidt, Schweizer Bauer, Bd. 2, S. 63 (wie Anm. 5). " Vgl. zur Einführung in die vorrevolutionären Verhältnisse in der Schweiz, Geschichte der Schweiz - und der Schweizer, Bd. 2, Basel 1983, wo sich auch die wichtigste Forschungsliteratur befindet, sowie Ulrich Im Hof, Mythos Schweiz. Identität - Nation - Geschichte, 1291-1991. Zürich 1991. 17

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die Nachricht von der Großen Revolution, von der Befreiung der Bauern im Nachbarland vernommen. Häufig mußte nun auch in den Abhandlungen der ökonomischen Gesellschaften von stürmischen Zeiten und allgemeiner Unruhe gespochen werden, die unter dem Eindruck der französischen Ereignisse die bäuerliche Bevölkerung erfaßte. Aufstände der bäuerlichen Bevölkerung, Widersetzlichkeiten der Untertanen gegen die städtischen Herren, die unerwarteten politischen Aktivitäten der unteren Volksschichten: alles dies zwang die Ökonomischen Patrioten zum Überdenken ihres Selbstverständnisses. Bei allen Konflikten zwischen den ökonomischen Gesellschaften und ihren jeweiligen Regierungen, bei allem Mißtrauen, mit dem die Obrigkeiten den Versuch verfolgten, ein neues Verhältnis zwischen Bürgern und Bauern zu finden, bei aller Ehrlichkeit des Engagements der Ökonomischen Patrioten und bei allen Unterschieden zwischen den einzelnen Gesellschaften war, wie bereits gesagt, die Mehrzahl ihrer Mitglieder eng mit der alten Ordnung verbunden. Sie betonten die Verantwortung der Regierungen gegen ihre Untertanen, waren der Auffassung, die Obrigkeit habe sich durch ihr Wirken für das Gemeinwohl zu legitimieren und gestanden der bäuerlichen Bevölkerung bestimmte Rechte zu. D o c h die Staatsverfassung zu ändern, hielten sie zur Verwirklichung ihrer Ziele und Vorstellungen nicht für nötig. Ihre patriarchalische Staatsauffassung ließ sie an dem überkommenen Verhältnis, soweit die politischen Rechte der verschiedenen Stände betroffen waren, nicht zweifeln. Seinen positiven Ausdruck fand dieses Staatsideal in der Tätigkeit der ökonomischen Gesellschaften. Sie ist als Initiative der städtischen bürgerlichen Schichten zu verstehen, den proklamierten obrigkeitlichen Pflichten mit größerem Nachdruck nachzukommen. Dem in den neunziger Jahren laut werdenden Verlangen nach politischer Gleichheit konnten viele der Ökonomischen Patrioten nicht zustimmen. Häufig drückte sich die Furcht des aufgeklärten Bürgers vor der ungebildeten Masse aus, vor dem „aus Unverstand schreienden grösseren Haufen", dem „allzuvieles G e h ö r " zu geben nur gefährlich sein konnte. 1 9 Dies ist die Kehrseite volksaufklärerischen Engagements, das sich - nicht zuletzt aufgrund der Erfahrung bäuerlichen Widerstandes gegen „vernünftige" Vorschläge - einer politischen Mitsprache der unteren Volksschichten widersetzte. Bei allem aufrichtigen Bemühen um die Hebung der bäuerlichen Bildung schien es doch einfacher, die Prinzipien der Vernunft über die landesväterliche Regierung, von oben nach unten, durchzusetzen. „Sein letztes Ziel", so schreibt Georg L. Schmidt, „hat der Ökonomische Patriotismus offensichtlich nicht erreicht. Es ist ihm nicht gelungen, mit Hilfe der vernunftgerechten Umgestaltung der Bauernwirtschaft und des Dorfhaushaltes den landesväterlichen Polizeistaat zu erneuern. Die wirtschaftliche Entwicklung, die er auszulösen geholfen hatte, bedurfte, um sich voll auswirken zu können, einer neuen politischen Ordnung, des demokratischen Rechtsstaates, und einer neuen sozialen Theorie, des Liberalismus." 2 0 So ist es nicht verwunderlich, daß die ökonomischen Gesellschaften während und nach der Helvetischen Republik ihren Einfluß auf die Bauernschaft weitgehend verloren. Zwar machte nicht jedes ihrer Mitglieder eine Entwicklung mit, die den ehemaligen Sekretär der Berner Gesellschaft Carl Ludwig von Haller zum wichtigsten Kopf der Gegenrevolution werden ließ 2 1 , doch nur wenige engagierten sich für die republikanische Ordnung so wie Heinrich Pestalozzi, der während der Helvetik die Bauern für das Neue zu gewinnen suchte und für die unentgeltliche Aufhebung der Feudallasten eintrat. Er tat dies, so noch einmal Georg L.

" Abhandlungen von der ökonomischen Gesellschaft in Basel herausgegeben. Bd. 1, 1.-3. St. Basel 17961797, hier 2. Stück, S. 20. 2 0 Georg C. L. Schmidt, Schweizer Bauer (wie Anm. 5), Bd. 1, S. 179. 2 1 Vgl. dazu Christoph Pfister, Die Publizistik Karl Ludwig von Hallers in der Frühzeit 1791-1815. Bern und Frankfurt am Main 1975.

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Schmidt, nicht mehr als Ökonomischer Patriot, sondern als Parteigänger und Ehrenbürger des revolutionären Frankreich. 2 2 Schon in den Jahren vor der Helvetischen Revolution zeigte sich, daß nun neue Anforderungen an die Bauernaufklärung gestellt waren. Wo allseits das politische Interesse erwachte, wo die bäuerliche Bevölkerung eine vorher nicht gekannte Diskussionsbereitschaft zeigte, da konnte es nicht genügen, sich ausschließlich auf landwirtschaftliche Themen zu beschränken. Nun erst erhielten publizistische und literarische Mittel große Bedeutung. In Flugschriften und kleinen Broschüren begann man sich über die politischen Ereignisse auseinanderzusetzen, bemühten sich Freund und Feind, auf die ländliche Bevölkerung Einfluß zu nehmen. Der um Verständlichkeit und Volksnähe bemühten revolutionären Propaganda standen konservative Schriften gegenüber, die häufig mit ähnlichen Mitteln vom Unwert der neuen Ordnung überzeugen wollten. Erst jetzt entdeckte man in der Schweiz, die bis dahin nur wenig Pressevielfalt und Pressefreiheit kannte, vollends die Bedeutung der Druckerpresse für die Beeinflussung der öffentlichen Meinung. Die traditionelle Volksaufklärung mit ihrer weitgehenden Beschränkung auf die Erörterung ökonomischer und medizinischer Themen sowie auf die sittlich-moralische Erziehung ging in der Schweiz mit der Alten Eidgenossenschaft vorerst zu Ende. Fast ebenso ausschließlich standen während der folgenden Jahre der Helvetischen Republik politische Themen im Vordergund.

Politische Aufklärung während der Helvetischen Republik Die politische Aufklärung, die Gewinnung der bäuerlichen Bevölkerung für die neue Ordnung war von Beginn an eine der Hauptüberlebensfragen der Helvetischen Republik. Zwar verfügte sie über Rückhalt bei der bürgerlichen Intelligenz und den wohlhabenden Bauern, doch war die junge Republik trotz des revolutionären Sturmes, in dem die Bevölkerungen zahlreicher Kantone innerhalb weniger Monate ihre alten Regierungen hinweggefegt hatten, mit dem Makel behaftet, unter dem Schild der französischen Armee entstanden zu sein. 23 Große Teile der bäuerlichen Bevölkerung verhielten sich abwartend gegenüber der neuen Ordnung, in den innerschweizerischen Landkantonen herrschte sogar Feindseligkeit vor. Zur politischen Beeinflussung und Aufklärung der bäuerlichen und ländlichen Bevölkerung ging man zunächst Wege, die an die Erfahrungen anknüpften, die von den Volksaufklärern seit der Mitte des 18. Jh. in der Schweiz gemacht worden waren. Von ihnen war, wie gezeigt, früh die Frage gestellt worden, mit welchen Mitteln am wirksamsten auf bäuerliches Denken und Handeln Einfluß genommen werden könne. Auch darauf, daß dabei das gedruckte Wort nur eine untergeordnete Rolle spielte, ist bereits hingewiesen worden; lieber vertraute man der persönlichen Einflußnahme, dem praktischen Beispiel oder der meinungsprägenden Kraft, die von bestimmten Personen im D o r f ausging. Bei allen graduellen Unterschieden und einzelnen Ausnahmen galt, was ein Statthalter am 17. September 1798 dem Minister der Wissenschaften und des öffentlichen Unterrichts, Philipp Albrecht Stapfer, mitteilte: „Unser Canton hat nur wenige Dörfer, wo die Leetüre Mode wäre; der größere Teil desselben besteht aus Landbauren, die einen schweren rauhen

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Georg C. L. Schmidt, Schweizer Bauer (wie Anm. 5), Bd. 1, S. 179. Siehe zum Verhältnis der revolutionären Bewegungen in der Schweiz zum Eingreifen Frankreichs in die schweizerischen Verhältnisse Holger Böning, Revolution in der Schweiz (wie Anm. 1).

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Boden zu bearbeiten haben, welcher ihnen zu jener wenig Zeit überig lässt." 24 Mit anderen Worten: Sollte auf die bäuerliche Bevölkerung gewirkt werden, dann mußte das nicht zuletzt auch durch ein Eindringen in die Kommunikationsprozesse geschehen, die auf dem Lande maßgebend waren. Dabei war weiter zu beachten, daß wesentliche Grundmuster bäuerlichen Denkens und Handelns ohnehin durch kurzfristige Beeinflussungen gleich welcher Art kaum verändert werden konnten, sondern daß es dazu langfristiger, im praktischen Leben spürbarer Anstöße bedurfte. Nicht in erster Linie neue Ideen, sondern sinnlich erfahrbare Maßnahmen und Änderungen waren geeignet, bäuerliche Grundüberzeugungen ins Wanken zu bringen und zur Meinungsänderung beizutragen. Für das Verhältnis der Landbevölkerung zu der neuen republikanischen Regierung heißt das, daß keine schöne Rede, kein feuriges Flugblatt, keine noch so gut redigierte Zeitung Verbesserungen ersetzen konnte, die in den Dörfern unmittelbar erfahrbar waren. Mit der Aufhebung aller an der Person haftenden Feudalabgaben, dem Wegfall von Brückenzöllen oder der Abzugsrechte innerhalb Helvetiens wurde eine Reihe von Maßnahmen eingeleitet, die der Landbevölkerung zugute kamen, doch so manches, was den aufgeklärten Gebildeten an der neuen Ordnung besonders wohltätig erschien, war dem Bauern „Teufelswerk" von gottlosen Ketzern. Priester denunzierten die langersehnte Glaubens- und Gewissensfreiheit gegenüber der Landbevölkerung erfolgreich als frivole Aufforderung zum Atheismus, und in den katholischen Kantonen herrschte ehrliche Sorge um den weiteren Bestand der „heiligen Religion". In solchen Fragen oder bei der Erklärung der neuen Staatsgrundsätze mußten Versuche der politischen Volksaufklärung nicht von vornherein zur Erfolglosigkeit verurteilt sein, sondern konnten durchaus zur Beruhigung der Gemüter beitragen. Die ersten Bemühungen, mittels politischer Volksaufklärung zur Festigung der neuen Ordnung beizutragen, gingen unmittelbar von der Helvetischen Regierung aus. Bereits am 13. Mai 1798 äußerte das Direktorium den Wunsch, „das Volk durch Schriften, welche seiner Fassungskraft angemessen sind, über seine neuen rechtlichen Verhältnisse zu belehren, die irrigen Begriffe und sein Vorurtheil gegen alles Neue und Ungewohnte, welche so regsam von Priestern und Anhängern der alten Ordnung der Dinge genährt werden, durch helle Einsichten zu verdrängen". 25 Doch sogleich wurde durch den Justizminister eingeschränkt, eine solche Maßnahme sei allein nicht hinreichend, notwendig sei ein mündlicher Unterricht: „Die Sache ist noch so neu, unbegreiflich dem Landmann, der sie mit nichts Bekanntem vergleichen kann. Unwissenheit und Arglist verwirren noch mehr die Begriffe, und falsche Gerüchte veranlassen Unruhe und Aufstand." 2 6 Da in den meisten Kantonen die Distrikeinteilungen noch nicht vorgenommen waren und so keine DorfAgenten ernannt werden konnten, denen bei der Aufklärung der Landbevölkerung eine wichtige Rolle zugedacht war, entstand der Vorschlag, „Freunde der Freiheit und des Vaterlandes auf Schweizerreisen" auszuschicken, die „neue Lehre durch Missionarien verbreiten zu lassen und annehmen zu machen". „Eigenschaften der Redlichkeit, warmen Eifer für die Sache, Popularität, Kenntnisse und Klugkeit", dies alles waren Tugenden, die man durch die „Missionare" in Sachen politischer Volksaufklärung verkörpert sehen wollte. Die Idee erscheint nicht sehr erfolgversprechend, denn in das Dorf kommende Fremde konnten zwar als Überbringer sonst unzugänglicher Nachrichten subversive und

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Schreiben des Statthalters Maurer an Stapfer vom 17. 9.1798. In: Amtliche Sammlung der Akten aus der Zeit der helvetischen Republik (1798-1803), bearbeitet von Johannes Strickler und Alfred Rufer. Bd. 1-11, Bern 1886-1911, Bd. 12-16, Freiburg i. Ue. 1940-1960 (im folgenden: ASHR), Bd. 3, S. 288-289, hier S. 288. Das Direktorium an Usteri und Fischer. In: ASHR, (wie Anm. 24), Bd. 1, S. 1126. Ebenda, S. 1127.

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aufklärende Wirkung haben, aber ob sie auch als Agitatoren für die neue Ordnung willkommen geheißen worden wären, darf bezweifelt werden. Immerhin ist der Plan des Justizministers aufschlußreich, da er in seiner Praxisferne anschaulich zeigt, wie groß der Abstand zwischen vielen Trägern der Helvetik und dem „Volk" war. Ausführlich wird beschrieben, wie von den „Missionarien" vorzugehen sei: „Sie reisen zu Fuß, ohne ostensible Sendung. Sie haben in ihren Säcken viele Flugschriften; sie setzen sich in den Dörfern in ein Wirtshaus, unterreden sich mit denen, so sich allda befinden, erforschen die Gegenstände ihrer Klagen oder dessen, so ihnen dunkel ist, erkundigen sich bei diesen, ob andere im Dorf auch noch so denken, ersuchen die Gegenwärtigen, sie zu rufen, bilden so um sich einen Zirkel, den sie belehren, aufmuntern, stärken, mit der Ordnung der Dinge aussöhnen [und] befriedigen. Sie theilen ihre Schriften aus, und Dank und Segnungen begleiten den Reisenden zum nächsten Dorf, wo schon ein Bote ihm vorkam, der durch Erzählung dessen, was im letzten Dorf vorging, ihm die Gemüther des zu betretenden günstig macht. Alles steht bei seiner Ankunft schon auf der Straße." 27 Der Plan des eifrigen Justizministers fand die grundsätzliche Genehmigung des Direktoriums und wurde in einer „Verpflichtung der Statthalter und Unterstatthalter zur Bereisung ihrer Cantone und Districte, behufs mündlicher Aufklärung des Volkes" vom 29. Januar 1799 als Gesetz wirksam. Zwar kam es nicht in der Form zur Ausführung, daß tatsächlich regelrechte „Missionare" auf Reisen geschickt worden wären, doch wurden solche Reisen von einzelnen Regierungsstatthaltern unternommen. Zahlreiche Berichte davon zeigen, daß zuweilen schon allein das den Bauern durch Besuche vermittelte Gefühl, die Regierung sorge sich um ihre Probleme und Nöte, positive, die Unzufriedenheit dämpfende Wirkung hatte. Bemerkenswert an dem Projekt ist, welch niedriger Bildungsstand der ländlichen Bevölkerung dabei angenommen wurde, denn die mündliche Unterweisung dürfte wohl als niedrigste Stufe des Unterrichts anzusehen sein. „Wie im Kindesalter der Cultur", so äußerte sich entsprechend der Generalsekretär des Direktoriums, Johann Rudolf Steck, „der mündliche Unterricht der einzige war, dessen sich die Weisen und Lehrer bedienen konnten, so ist auch jetzt den ungebildeten oder halbgebildeten Menschenclassen nur durch unmittelbare Mittheilung beyzukommen." 2 8 Insbesondere der Minister der Wissenschaften und Künste, Philipp Albrecht Stapfer, suchte nach Wegen, im direkten Kontakt zur Landbevölkerung auf die vielerorts der republikanischen Ordnung ungünstige Stimmung Einfluß zu nehmen. Von Beginn der Republik an lag ein Schwerpunkt des Bemühens darauf, die Geistlichen zu gewinnen, „nach Jesu Beispiel Gehorsam gegen die Gesetze, Vertrauen gegen Vorsehung und allgemeine Bruderliebe" zu predigen. 29 Doch sowohl die Indienstnahme des einzigen funktionierenden Kommunikationssystems, das die Kirchen mit ihren Geistlichen in den Dörfern besaßen, als auch der Aufbau eines Beamtenapparates, der diese Aufgaben zumindest teilweise hätte übernehmen können, kam nur schleppend voran. So gerieten zwangsläufig andere, literarische und publizistische Mittel der politischen Volksaufklärung stärker in das Blickfeld. Der Vorschlag des Justizministers zur mündlichen Volksaufklärung ist ausführlich behandelt, weil er für die weiteren von der helvetischen Regierung in Angriff genommenen Projekte von Bedeutung ist. Denn ein wesentliches Ergebnis der um diesen Vorschlag geführten Diskussion lag in der Einsicht, daß jede Form der politischen Volksaufklärung so gestaltet sein mußte, daß auf die auf dem Lande existierenden Kommunikationsformen und -kanäle eingewirkt werden konnte, und daß insbesondere literarische und publizisti27 28 29

Ebenda. Johann Rudolf Steck in: Helvetische Monatsschrift, Jg. 1799, 1. Heft, S. 48. ASHR, (wie Anm. 24), Bd. 2, S. 1181.

Populäre politische Aufklärung während der Helvetischen Republik

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sehe Mittel so zu konzipieren waren, daß sie dem Charakter der Mündlichkeit nahekamen und traditionelle Lesegewohnheiten berücksichtigt wurden. Im folgenden soll anhand einiger Beispiele auf solche Schriften der Helvetik eingegangen werden, die zur politischen Volksaufklärung genutzt wurden. Ihr wichtigstes Merkmal liegt darin, daß bei ihrer Gestaltung auf Vorbilder der traditionellen Volksaufklärung zurückgegriffen wurde. Diese Schriften dokumentieren somit trotz völlig neuer Aufgaben, die sich der politischen Volksaufklärung in der Schweiz nun stellten, die Kontinuität zur ökonomischen, medizinischen, religiösen und sittlich-moralischen Volksaufklärung seit der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts. Unter den literarischen und publizistischen Mitteln, die während der Helvetik zur politischen Volksaufklärung genutzt wurden, sind die Zeitungen für die bäuerliche Bevölkerung als wichtigste eigenständige Leistung zu nennen. Angeknüpft werden konnte hier an deutsche Traditionen und Erfahrungen, die seit den achtziger Jahren mit jener eigenartigen Mischung von Zeitung und Zeitschrift gesammelt wurden, wie sie von den Aufklärern mit Blick auf die Lesebdedürfnisse der ländlichen Bevölkerung entwickelt wurde und sich fast nur in der volksaufklärerischen Literatur findet. 30 An erster Stelle ist hier „Das räsonnirende Dorfkonvent" 31 zu nennen, ein Blatt, das erstmals regelmäßig Zeitungsnachrichten für das „Volk" brachte, sodann die berühmte, in Wolfenbüttel erscheinende „Rothe Zeitung" 32 , Salzmanns „Bote aus Thüringen" 33 oder die „Aufrichtig-Deutsche Volks-Zeitung" 34 Von vielen Aufklärern wurde eine periodisch erscheinende Schrift, die sich das seit langem vorhandene Interesse breiter Bevölkerungskreise an der Zeitungslektüre zunutze machte und neben den aktuellen Meldungen vom Weltgeschehen auch volksaufklärerische Beiträge enthielt, als das effektivste literarische Mittel der Volksaufklärung angesehen. Am 22. Juni 1798 beriet das Direktorium erstmals über ein „Volksblatt" und beauftragte noch am selben Tage Stapfer, „einen neuen und umständlichen Vorschlag" sowohl zu einem offiziellen Tageblatt, das die aktuellen Gesetze enthalten sollte, als auch zu einer Zeitung für das „Volk" zu erarbeiten. Am 20. Juli kam es im Großen Rat zur Beratung, in der sich die fast grenzenlose Zuversicht der Volksrepräsentanten zeigte, die ländliche Bevölkerung würde jeden Widerstand gegen die neue Ordnung aus Einsicht aufgeben, habe man nur erst in ausreichendem Maße Unterricht erteilt. Hätte „das Volk schon die nöthige Aufklärung erhalten, so würden die Feinde eine ,Nase' bekommen haben, indem das Volk gewußt hätte, dass es von denselben betrogen wird", so lautete einer der typischen Sätze.35 Einig war man sich darüber, daß das „Volk" der Aufklärung bedürfe und, wenn diese Ziel verfolgt werden solle, auch für es gesondert geschrieben werden müsse. Der Großrat Escher befand die Aufklärung des Volkes „für die Ruhe Helvetiens unentbehrlich" und forderte, das Blatt müsse eine „natürliche und einfache" Erklärung der Gesetze

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Siehe dazu Holger Böning, Zeitungen für das „Volk". Ein Beitrag zur Entstehung einer periodischen Presse für die unteren Stände und zur Politisierung der deutschen Öffentlichkeit nach der Französischen Revolution. In: Ders. (Hrsg.), Französische Revolution und deutsche Öffentlichkeit. Wandlungen in Presse und Alltagskultur am Ende des achtzehnten Jahrhunderts. München: Saur 1992, S. 467-526. Das räsonnirende Dorfkonvent. Erfurt 1786-1788 [Böning/Siegert, Bd. 2]. [Hermann Werner Dietrich Braess], Zeitung für Städte, Flecken und Dörfer, insonderheit für die lieben Landleute alt und jung. Wolfenbüttel 1786 ff. [Böning/Siegert, Bd. 2] [Christian Gotthilf Salzmann (ab 1811, Johann Wilhelm Ausfeld)], Der Bote aus Thüringen. Schnepfenthal 1788-1816 [Böning/Siegert, Bd. 2]