Gruppieren, Interferieren, Zirkulieren: Zur Ökologie künstlerischer Praktiken in Medienkulturen der Gegenwart 9783839432419

In the arts, digital media cultures have led to the formation of novel configurations that can essentially be identified

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Gruppieren, Interferieren, Zirkulieren: Zur Ökologie künstlerischer Praktiken in Medienkulturen der Gegenwart
 9783839432419

Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Kooperative Übertragungen
Zustände ohne Zuständigkeit
Von/Vom Spinnen
Abstrakte Relationierungen
„Woolworth Choir of 1979“ von Elisabeth Price
Alltägliche Abstraktionen
Neuverteilungen dokumentarischer Praktiken
Die Aufteilung des Unsichtbaren
Verfahren des Sich-Aussetzens
Choreographische Anordnungen
Verfahren der (De-)Produktion bei Tino Sehgal und Ragnar Kjartansson
Zur Materialität der Praxis von Tanz im Ausstellungskontext
Autorinnen und Autoren

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Maximilian Linsenmeier, Sven Seibel (Hg.) Gruppieren, Interferieren, Zirkulieren

Medienkulturanalyse  | Band 8

Die Reihe wird herausgegeben von Reinhold Görling.

Maximilian Linsenmeier, Sven Seibel (Hg.)

Gruppieren, Interferieren, Zirkulieren Zur Ökologie künstlerischer Praktiken in Medienkulturen der Gegenwart

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Anton-Betz-Stiftung der Rheinischen Post e.V. und des Instituts für Medien und Kulturwissenschaften der Heinrich Heine Universität Düsseldorf.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2019 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: Die Verwendung der Umschlagabbildung geschieht mit freundlicher Genehmigung durch das theatercombinat und Robert Pufleb. theatercombinat/claudia bosse: catastrophic paradise, Botschaft am Worringer Platz 4, Düsseldorf September 2014; Foto: Robert Pufleb Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-3241-5 PDF-ISBN 978-3-8394-3241-9 https://doi.org/10.14361/9783839432419 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Einleitung. Gruppieren, Interferieren, Zirkulieren

Maximilian Linsenmeier und Sven Seibel | 7

KOOPERATIVE Ü BERTRAGUNGEN Zustände ohne Zuständigkeit. Synchronisierung, Kooperation, kollektiver rhythmos bei Koki Tanaka

Kai van Eikels | 37 Von/Vom Spinnen. Zur transversalen Praxis von Tomás Saraceno

Maximilian Linsenmeier | 69

ABSTRAKTE RELATIONIERUNGEN „Woolworth Choir of 1979“ von Elisabeth Price. Shifter, Serien und die Semantik von Äußerungen

Reinhold Görling | 91 Alltägliche Abstraktionen. Immediation und die Kräfte der Choreographie

Gerko Egert | 123

NEUVERTEILUNGEN DOKUMENTARISCHER P RAKTIKEN Die Aufteilung des Unsichtbaren. Zu Aspekten des Politischen in aktuellen Protestfilmen

Florian Krautkrämer | 145

Verfahren des Sich-Aussetzens. Zur dokumentarischen (Neu-)Anordnung des Interviews

Sven Seibel | 165

CHOREOGRAPHISCHE ANORDNUNGEN Verfahren der (De-)Produktion bei Tino Sehgal und Ragnar Kjartansson

Maren Butte | 211 Zur Materialität der Praxis von Tanz im Ausstellungskontext

Kirsten Maar | 237 Autorinnen und Autoren | 263

Einleitung Gruppieren, Interferieren, Zirkulieren M AXIMILIAN L INSENMEIER UND S VEN S EIBEL

B EGEGNUNGEN Es ist die Provokation einer Begegnung, wie Gilles Deleuze bemerkte 1, die als wirksame, das heißt, als störende und nötigende Kraft das Denken anstößt. Solcherart Begegnungen, die in ihrer irritierenden Kraft auf die Probleme und Fragestellungen dieses Bandes und seiner Beiträge verweisen, lassen sich beispielhaft in den Arbeiten des französischen Künstlers Pierre Huyghe erfahren. A Journey that wasn’t (2005) erzählt die Geschichte einer Gruppe von Forscher*innen, die, den dystopischen Veränderungen des Klimas nachspürend, in ihrer Suche nach einer „namenlosen Insel“ ein antarktisches Areal erkunden. Huyghe dokumentiert die einsame Landschaft dieser von einer Kolonie Pinguine bevölkerten terra incognita und übersetzt sie in eine Art audiovisuelle Textur: ein multimodal erfahrbares Territorium interferierender Intensitäten, akustischer und luminöser Reize im Wechselspiel.2 Eine

1

Vgl. Deleuze, Gilles: Differenz und Wiederholung, München: Wilhelm Fink 2007, S. 182.

2

Der Philosoph Tristan Garcia stellt im Dialog mit den Arbeiten Pierre Huyghes die Frage: „Was bedeutet intensiv sein?“ Intensität markiert für Garcia das Ideal und die Existenzweise eines „zeitgenössischen Geistes“; sie gilt dem französischen Philosophen gleichzeitig als Modus einer grundlegenden Transformation und „Abwandlung“ von Dingen in einer Welt, die sich nicht mehr länger über

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Szenerie, die er im New Yorker Central Park von Neuem entstehen lässt. Eis schmilzt, verdampft und bildet auf der Plattform im Park vorübergehend ein neues meteorologisches Milieu. Ein immer größeres Publikum ist von den illuminierenden Scheinwerfern und atonalen Klängen angezogen. Der Film fungiert hier als Medium der Aufzeichnung dieser 2005 stattgefundenen Performance. Er ist aber zugleich auch das Medium einer synästhetischen Expedition und Verschränkung zweier Orte, zweier Wirklichkeiten, deren Landschaften und Atmosphären sich über die Grenzen des filmischen Off in den Ausstellungsraum ausdehnen. Das Farbspektrum des Lichtkegels nimmt im dichten Qualm eine Viskosität an, die sich langsam in den angrenzenden Raum der Projektion fortträgt. In L’Expédition Scintillante, Acte 2, Untitled (Light Box) (2002) materialisieren, verdoppeln und verschieben sich diese und andere Wahrnehmungsqualitäten durch eine installative Bühne en miniature; Diesigkeit wandert vom Bild in die feuchte und alles durchdringende Atmosphäre des Ausstellungsraums, die in

die Aufteilung in „Essenzen“ oder „Substanzen“ bestimmen lässt (S. 20f.). In Abgrenzung zu Deleuze‘ und Guattaris in Tausend Plateaus entwickeltem Verständnis von Intensität, versteht Garcia hierunter kein Differenzkonzept, sondern eines der Identität: „Die Intensität ist die Formel für die Identität in einer Welt ohne Substanzen, in der keine Sache sich selbst gleich sein kann“ (S. 23). Zu klären wäre es, ob dieses Verständnis tatsächlich eine Erweiterung oder Alternative zu Deleuze‘ und Guattaris – bereits in Nähe zu medienästhetischen und materiellen Phänomenen wie Tonalität, Chromatik, Variation, Textur, Haptik – entwickeltem Denken von Intensität als Resonanz und Effekt der Spannung einer De- und Reterritorialisierungsbewegung eine Alternative bietet. In Hinblick auf die im Folgenden zu entwickelnden medienästhetischen Überlegungen, wird ein Konzept von Intensität zugrunde gelegt werden, das an Deleuze‘ und Guattaris Denken in nomadischen Intensitätszentren orientiert ist und das sich in Begriffen wie Intensitätsschwelle, Intensitätsfelder, Intensitätskontinuen, Intensitätsströme oder intensiven Materien entfaltet. Garcia, Tristan: „Was bedeutet intensiv sein?“, in: Emma Lavigne (Hg.), Pierre Huyghe, Ausstellungskatalog/Insert, Centre Pompidou, München: Firmer 2014, S. 20-27, hier S. 21 u. S. 23. Zu Deleuzes/Guattaris Verständnis von Intensität als Spannung einer De- und Reterritorialisierungsbewegung siehe bspw. die Kapitel „Einleitung: Rhizom“ oder „1837 – Zum Ritornell“ in Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie, Berlin: Merve 1992.

E INLEITUNG

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L’Expédition Scintillante, Acte 1, Untitled (Ice Boat) (2002) durch das Schmelzen künstlich angehäufter Eisberge entsteht.3 Es ist dem Spielraum des Zufalls anheimgegeben, ob dann auch der mittlerweile so prominente hagere Windhund mit dem rosa gefärbten Bein an den Besucher*innen vorbeistreift.4 Folgt man diesem unwirklich wirkenden Wesen durch die Ausstellung, mag man auf ein Video stoßen, in dem eine animierte Figur scheinbar verloren durch eine abstrakte, in ihrer Kargheit und Kantigkeit an das Panorama der Antarktis erinnernde digitale Landschaft streift. Man begegnet Ann Lee, jener japanischen Animefigur, deren Copyright von Huyghe und dem Künstler Philippe Pareno bereits im Jahr 2002 im Rahmen eines Kollaborationsprojekts erworben wurde.5 Als urheberrechtlich geschützte Figur stellt Ann Lee nicht alleine eine Referenz auf gegenwärtige rechtlich-ökonomische Rahmen eines internationalen Warenwirtschaftssystems dar, die die Zirkulation von Dingen reglementieren. Die häufig melancholisch gezeichnete Anime-Figur zirkuliert selbst in unterschiedlichen Künstlerprojekten und reflektiert dabei Momente moderner Formen der Ausbeutung, deutet aber auch Fluchtlinien an, die erst in der Vielfalt ihrer Verkörperungen und Interpretationen erkennbar werden.6 Man kann die hier beschriebenen Begegnungen und die sich in dem Ausstellungsparcours entfaltenden Beziehungen nur schwerlich über eine Beschreibung einzelner Arbeiten und Exponate einholen. Zu den wesentlichen ästhetischen Erfahrungen in dieser Ausstellung gehört es, dass viele

3

Beide Arbeiten sind Teil der Installation L’Expédition Scintillante. A Musical, Act 1, Act 2, Act 3 (2002).

4

Diese Bekanntheit verdankt sich vor allem Huyghes Beitrag zur Documenta 13; als Teil der Arbeit Untilled (12) wurde der die Karlsaue durchstreifende Hund mit rosafarbenem Bein eine zentrale Referenz in der Berichterstattung zur Ausstellung (Vgl. z.B. Maak, Niklas: „Ein Hund mit rosafarbenem Bein“, in: Zeit Online, 08.06.2012, http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/kunst/documenta-13/ documenta-13-ein-hund-mit-rosafarbenem-bein-11778178.html vom 12.02.2018).

5

Vgl. hierzu bspw. die Internetseite zur Ausstellung „No Ghost Just a Shell“, die 2002 in der Kunsthalle Zürich zu sehen war: http://kunsthallezurich.ch/de /node/1630.

6

‚Leibhaftig‘ manifestiert sich Ann Lee u.a. auch in mehreren PerformanceArbeiten von Tino Sehgal. Vgl. hierzu den Beitrag von Maren Butte in diesem Band.

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dieser aleatorisch scheinenden Momente gerade aus den Übergängen und Interferenzzonen unterschiedlicher Orte, Praktiken und Medien entstehen. Bei den vielfältigen Überlagerungen und Transpositionen von Formen, Zeichen, Dingen, Prozessen, Wesen und Figuren handelt es nicht nur um einen einfachen Positionswechsel, der sich vollzieht, wenn zum Beispiel der Hund mit der rosa angestrichenen Pfote in einem Winkel der Ausstellung auftaucht oder eine Eiskunstläuferin plötzlich zu Brian Enos Music for Airpots ihre routinierten und repetitiven Bewegungsbahnen abläuft. Es sind stattdessen Transformationen und Spuren, die diese Zirkulationsbewegungen in dem Gesamt eines Gefüges hinterlassen, dessen bewegliche Koordinaten unsere Wahrnehmung anhält, sich fortlaufend zu differenzieren. Was sich in diesen, auf Ausstellungsbesuchen im Pariser Centre Pompidou (2013/2014) sowie im Kölner Museum Ludwig (2014) beruhenden Beobachtungen und Beschreibungen in exemplarischer Weise verdeutlicht, ist eine Gestaltungs- und Aktualisierungsweise gegenwärtiger künstlerischer Praxis, die jenseits objekthafter und medienspezifischer Abgeschlossenheit hergebrachte Demarkationen zwischen Ausstellung und Aufführung, Objekt und Prozess, Werk und Praxis unterläuft. Die Dimension, die darüber gerade in den Vordergrund eines medienästhetischen Nachdenkens rückt und in je unterschiedlicher Weise in den Beiträgen des vorliegenden Bandes adressiert und analysiert wird, ist die der Relationalität. Was als theoretisches Problem aus den grundlegenden Veränderungen der Bedingungen, Verfahrensweisen und Qualitäten ästhetischer Praxis in ihren entwerkten, multiplen Manifestationen und Modalitäten erscheint, ist das Problem eines nicht mehr im Gegenständlichen gebundenen Relationalen. Wie sich dieses theoretisch einholen lässt, soll im Folgenden mit Bezug auf verschiedene kunst- und medienwissenschaftliche Theorieangebote und im exemplarischen Rückbezug auf die skizzierte Ausstellung Huyghes dargestellt und diskutiert werden.

D IE F RAGE

DES R ELATIONALEN ZEITGENÖSSISCHER ÄSTHETISCHER P RAXIS Dass zeitgenössische ästhetische Praxis vielfach nicht mehr über die Kategorie des Werks als dem Endprodukt und Endzweck einer erfüllten poiesis still- und feststellbar ist und eine der Medienspezifik der Arbeiten ver-

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pflichtete Beschreibung und Analyse gegenüber einer radikal heterogenen und verstreuten Manifestation des künstlerischen Tuns defizitär verbleiben muss, wurde innerhalb der Kunstwissenschaften und der ästhetischen Theorie vielfach bemerkt.7 So hat der Kurator und Kunsttheoretiker Nicolas Bourriaud Ende der 1990er Jahre ausgehend von den Arbeiten von Künstlern wie u.a. Rikrit Tiravanija, Philippe Pareno, Carsten Höller und eben auch Pierre Huyghe im Begriff der Relationalen Ästhetik Relationalität als zentrales Problem und Konzept einer gegenwärtigen ästhetischen Theoriebildung adressiert. Wenn bspw. Rikrit Tiravanija im Haus eines Sammlers oder einer Galerie ein gemeinsames Essen organisiert sowie die Zutaten und Utensilien dazu zur Verfügung stellt oder Pierre Huyghe eine Casting Session für einen Pasolini-Film in einer Galerie abhält, so zielen diese künstlerischen Praktiken nicht mehr nur auf die Komposition einer materiellen Form (konkretisiert als sinnliches und autonomes Objekt) ab. Relationale Kunst bezeichnet vielmehr „an art taking as its theoretical horizon the realm of human interactions and its social context“. 8 Scheint Bourriaud an manchen Stellen das Relationale allzu reduktiv als bloßes Substitut für ein von allen medien-technologischen Vermittlungen und ihren (nach Bourriaud) mechanisierenden, entfremdenden Wirkungen bereinigtes Soziales zu setzen9, verweisen vor allem seine Beschreibungen der spezifischen Form jener relationalen Ästhetik auf eine Plausibilität des Begriffs des Relationalen, welche seine simplifizierende Modellie-

7

Vgl. z.B. Rebentisch, Juliane: Theorien der Gegenwartskunst, Hamburg: Junius Verlag 2013, dessen Zentrum die theoretische wie deskriptive Einholung der problematischen Form des offenen Kunstwerks einnimmt.

8

Bourriaud, Nicholas: Relational Aesthetics, Dijon: Les presses du réel 2002, S. 14.

9

Vgl. Ebd., S. 17. So zerstören Maschinen wie der Geldautomat, nach Bourriaud, ehemals gegebene Möglichkeiten sozialer Interaktionen (vgl. S. 17); den „gesichtslosen“, inhumanen, homogenisierenden Loops und Strömen einer Informationsökonomie setzt Bourriaud die inter-subjektiven, menschlichen, sinnhaften Formen entgegen (S. 22f.).

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rung als bloße Umschreibung eines substantiell gefassten Sozialen übersteigt.10 „The setting is widening; after the isolated object, it now can embrace the whole scene: the form of Gordon Matta-Clark or Dan Graham’s work can not be reduced to the ,things‘ those two artists ,produce‘; it is not the simple secondary effects of a composition, as the formalistic aesthetic would like to advance, but the principle acting as a trajectory evolving through signs, objects, forms, gestures…The contemporary artwork’s form is spreading out from its material form: it is a linking element, a principle of dynamic agglutination. An artwork is a dot on a line.“11

Die Metapher der Linie verweist auf eine potentiell unendliche, erweiterbare ‚Flugbahn‘ des Kunstwerks, das im Punkt als aktualisierte Manifestation nicht aufgeht, sondern diese punktuelle Manifestation als virtuelle Trajek-

10 So wäre darüber hinaus über eine genaue Re-Lektüre der „Relationalen Ästhetik“ Bourriauds Konzeption des Verhältnisses von Kunst und Politik einer Neubewertung zu unterziehen, die vor allem auch dessen Auseinandersetzung mit dem ökosophischen Denken Félix Guattaris berücksichtigt. In diesen Kontext fallen bspw. auch die von Jacques Rancière und Claire Bishop vorgebrachten kritischen Einwende gegenüber den theoretischen Grundlagen und Konsequenzen relationaler Kunstformen. Rancière sieht in Bourriauds Konzeption des Relationalen ein diesem innewohnendes Modell kausaler Wirksamkeit am Werk, das den genauen Ausgang – die Schaffung einer sozialen Situation – bereits in der Konzeption und Umsetzung der künstlerischen Arbeit vorwegnimmt (Vgl. Rancière, Jacques: Der Emanzipierte Zuschauer, Wien: Passagen Verlag 2009, S. 85ff.). Claire Bishop wiederum wirft Bourriaud einen naiven Utopismus des Sozialen als Sphäre harmonischer Gemeinschaft vor, dem sie eine an Chantal Mouffe orientierte Politik des Dissens entgegenhält (Vgl. Bishop, Claire: „Antagonism and Relational Aesthetics“, in: October 110 (2004), S. 51–79). Beide Kritiken beruhen allerdings auf einer verkürzenden Darstellung der Bourriaudschen Argumentation, welche die im Kapitel zur „Policy of Forms“ über Konzepte von Guattari – der Subjektivierung, der existentiellen Territorien und des transversalen Produktionsprozesses – entwickelte Beschreibung des komplexen Verhältnisses von ästhetischem, politischem und ökonomischem Prozess nahezu vollkommen ignoriert. 11 N. Bourriaud: Relational Aesthetics, S. 20.

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torie bzw. Verknüpfungsprinzip übersteigt. Das Prinzip als eine, von der Konkretion in einer spezifischen materiellen Form abstrahierende Kraft der Verbindung, geht nicht auf in einer definitiven Form oder einer privilegierten Position, wohnt doch dieser Linie anders als dem isolierten Punkt die Potentialität einer Durchquerung, Kreuzung und Verwicklung mit anderen „Linien“-Dispositiven inne. Nicht mehr das ästhetische Objekt als in sich geschlossene Einheit von Produktions- und Rezeptionsprozess bildet die utima ratio und den letzten Zweck ästhetischer Praxis. Vielmehr verlagert sich die Praxis, folgt man Bourriaud, hinein in eine Ebene der dynamis, die sich als Bewegung der Spreizung und Streuung aber auch der Verbindung und Verschmelzung aufspannt, weshalb Bourriaud auch anmerkt, dass es angemessener wäre, von „formations“ statt von „forms“ zu sprechen.12 Mehr als isoliertes Objekt ist das Kunstwerk selbst Verkettung, Durchquerung und Verwicklung, ist Praxis, die sich nicht einfach lokalisieren lässt. Die materielle Form des Kunstwerks, in ihrer zeitgenössischen Ausprägung, formiert sich als relationaler Prozess und Prozess der Relationierung – sie ist ein „operator of junctions“13. Das Relationale wird primär, sowohl als Sujet wie auch in den Vollzugs- und Verfahrensweisen künstlerischer Praxis. Von den Relationen auszugehen bedeutet, eine veränderte Perspektive einzunehmen, die nicht mehr über eine substantielle Verankerung im Objekt zentriert wird, sondern vielmehr den mannigfachen Beziehungen, Operationen und Aktivitäten in ihren Dynamiken folgt.

12 Vgl. ebd., S. 21. Mit dem Philosophen Alfred North Whitehead könnte man auch von einer Prozeßform sprechen. Wogegen Whitehead im Rahmen seiner Prozessphilosophie argumentiert ist jene „fallacy of misplaced concreteness“ die beispielsweise einer Physik der Körper unterliegt, wenn diese die Zeit als konstitutive Dimension der Existenzweisen unberücksichtigt lässt und eine Abstraktion als Wirklichkeit ausgibt. Unter einer radikal verzeitlichten Perspektive besitzen individualisierte, realisierte Entitäten eine „Unendlichkeit von Beziehungen“, die in ihren Formationsprozess einfließen. Mit dem Begriff der Prozeßform verweist Whitehead also auf eine temporale Dimension der Formierung oder Formation, die eine Dynamik der Übergänge und Veränderungsweisen ist (vgl. Whitehead, Alfred North: Denkweisen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001, S. 123ff.). 13 Vgl. N. Bourriaud: Relational Aesthetics, S. 99.

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Dass dieser Veränderung der Existenzweise des Kunstwerks nicht allein ein strukturell-formelles Moment innewohnt, sondern diese Transformation ihre Möglichkeitsbedingung und ihren Sinnhorizont in einer bestimmten historischen Konstellation findet14, hat neben anderen Peter Osborne in seiner Studie zur Philosophie zeitgenössischer Kunst aufgezeigt und analysiert.15 Wie Osborne in theoretischer Nähe zu Bourriaud darlegt, führte die „critical destruction of medium as an ontological category“ 16, die er als entscheidenden, kollektiven Akt der künstlerischen Praxis seit den 1960er Jahren fasst, zu einem Wechsel von einer „craft-based ontology of mediums“ zu einer „postconceptual and transcategorical ontology of materializations“17. Beispielhaft für diesen veränderten ontologischen Status des Kunstwerks stünde nach Osborne die Arbeit Spiral Jetty von Robert Smithson: „In this case, Spiral Jetty includes both the film and the configuration of mud, precipitated salt crystals and rocks that form a coil, 1,500 feet long and 15 feet wide, jutting out in the water at Rozel Point, in the Great Salt Lake in Utah; as well as the essay of the same name, which includes script from the film; and a variety of related paraphernalia.“ 18

Jenseits klarer, medienspezifisch organisierter Kategorisierungen, realisiert sich eine Praxis solcherart nicht alleine in multiplen Materialisierungen und durchquert dabei ganz andere Räume als jene klaren Territorien von Kate-

14 Weitere Analysen des Wechselverhältnisses von künstlerischer Praxis und historischen, sozio-ökonomischen Entwicklungen sowie der damit zusammenhängenden Problematisierung des Objekts und des Produktionsbegriffs finden sich u. a. bei Buchmann, Sabeth: Denken gegen das Denken. Produktion, Technologie, Subjektivität bei Sol LeWitt, Yvonne Rainer und Helio Oiticia, Berlin: b-books 2007. 15 Osborne, Peter: Anywhere or not at all. Philosophy of Contemporary Art, London/New York: Verso 2013. 16 Ebd., S. 99. 17 Ebd., S. 28. 18 Vgl. ebd., S. 110.

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gorie und Disziplin.19 Vielmehr steht diese Formation für Osborne als multiple Manifestation in konstitutivem Verhältnis zu fundamentaleren ökonomischen und kommunikativen Veränderungen und den durch diese geschaffenen heterogenen, vernetzten Räumen der globalisierten Welt. 20 Der historische Möglichkeitsraum zeitgenössischer ästhetischer Praxis existiert für Osborne genau in der Konvergenz und gegenseitigen Bedingung eines sich doppelt artikulierenden Transformationsprozesses, dessen gemeinsame negative Form die einer ‚Ent-Grenzung‘ ist: Einerseits die Entgrenzung der Form hin zu vielfältigen Aktualisierungsweisen, andererseits die Entgrenzung der nationalen und sozialen Räume. 21 Diesseits dieser Grenzen ist der Raum zeitgenössischer Kunst ein „space of presentation of possibilities within a historically rapidly shifting matrix of places, nonplaces and flows, their combinatory articulations and effects.“22

19 Symptom für diese veränderte Ontologie des Kunstwerks ist für Osborne, Robert Smithson zitierend, eine „interminable avalanche of categories“ (Ebd., S. 103), also die potentiell unabschließbare Vervielfältigung der Attribuierungskategorien innerhalb des Kunstdiskurses. 20 Ebd., S. 28. 21 Ebd. 22 Ebd., S. 175. Eine nahezu paradigmatische Realisierung bzw. reflexive Markierung dieses multiplen, ent-grenzten Möglichkeitsraumes zeitgenössischer Kunst findet sich im kuratorischen Konzept der 56. Biennale von Venedig von 2015. So beschreibt ihr Kurator Okwui Enwezor diese in seiner Einleitung folgendermaßen: „[...] the 56th International Art Exhibition will delve into the contemporary global reality as one of constant realignment, adjustment, recalibration, motility, and shape-shifting. The presentations, performances, and discussions of All the World’s Futures will play host to what could be described as a ,Parliament of Forms‘ whose orchestration and episodic unfolding will be broadly global in scope. At the core of the project is the notion of the exhibition as stage, where historical and counterhistorical projects will be explored.“ (56th International Art Exhibition All the World’s Futures. Short Guide, Venedig: Marsillio Editori 2015, S. 18f.) Enwezor konstruiert so den Ort der (zeitgenössischen) Kunst als einen prozessualen Nexus von Formen und Bewegung, Relationalität und Transformativität und deren Manifestationen im Rahmen ihres Aufeinandertreffens. Weder sind hier die Bühne vom Ausstellungsraum (d.h. die Praktiken von Ausstellen und Aufführen) sauber zu trennen, noch die Ebe-

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Diese kunstphilosophischen Befunde werfen auf die eingangs gestellte Frage nach dem Status eines nicht mehr im Gegenständlichen gebunden Relationalen zurück und es deutet sich in den vorgestellten Argumentationen von Bourriaud und Osborne an, dass ein Nachdenken über eine genuin relationale Dimension ästhetischer Praxis zugleich die Frage ihrer medialen Form aufwirft und problematisiert. Ansätze, die es nun unternehmen, eine beobachtete Loslösung künstlerischer Praxis von einer klassischen Medienspezifik theoretisch einzuholen, ohne dabei die Kategorie des Mediums bzw. des Medialen aufzukündigen oder zurückzulassen, finden sich bereits in einigen kunst- und medientheoretischen Analysen, die im folgenden Kapitel besprochen werden sollen. Gefragt wird dabei, welche methodischen Ansätze und welche Analyseebenen es erlauben, eine ästhetische Praxis in den Blick zu nehmen, die in und ausgehend von jenem Möglichkeitsraum der Übergänge, Konnexionen, Verteilungen – kurzum, aus einer komplexen Relationalität – heraus operiert. Wie also lässt sich dieser Konnex von Formation, Mediation und Erfahrung neu beschreiben und welche Konzepte des Medialen wären hierfür in Anschlag zu bringen?

M EDIENÄSTHETIK UND M ATERIALITÄT

DES

F ORMATS

Die Einsicht, dass sich medienästhetische Praktiken ebenso wie ihre Erfahrung nicht ausschließlich über die spezifischen Ausformungen oder materiellen Bedingungen eines künstlerischen Mediums nachvollziehen lassen, findet sich in den späten 1990er Jahren in Rosalind Krauss’ vielbeachteten Aufsatz zu den Arbeiten des belgischen Konzeptkünstlers Marcel Broodthaers ausformuliert. Mit der Kategorie des Postmedialen („PostMedium Condition“ im Orig.) fordert Krauss jene Vorstellungen künstlerischer Medien heraus, die sich in den kunsttheoretischen Diskursen des 20. Jahrhunderts wesentlich über das Stichwort einer Medienspezifik etabliert haben.23 Dabei vollzieht Krauss Argumentation ein doppeltes Manöver,

nen des Ästhetischen, des Ökonomischen, des Historischen, des Politischen, des Alltäglichen als vorgängige und geschiedene Existenzsphären anzunehmen. 23 Vgl. Krauss, Rosalind: „A Voyage on the North Sea“: Art in the Age of the Post-Medium Condition, London: Thames and Hudson 1999. Im Folgenden zi-

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indem sie zum einen die Reduktion des Medienbegriffs auf seine „manifesten physischen Eigenschaften“ verabschiedet, doch zugleich den Raum bereitet, um ein neues, dynamisches Denken der Beteiligung von Medien und Medialität an künstlerischen Prozessen in Gang zu setzen.24 Nach wie vor aktuell lässt sich mit Krauss’ Aufsatz die Frage nach den Bedingungen ästhetischer Praxis über den Wandel der Kategorie des Mediums adressieren. Auf ganz andere Weise als die von Krauss analysierte konzeptuelle Praxis von Marcel Broodthaers konfrontiert Huyghes Arbeit mit der Frage künstlerischer Formen und Medien und verlagert sie im Fall der oben beschriebenen Ausstellung auf den gesamten Ausstellungsraum. Wie lässt sich hier das dynamische Zusammenspiel von mitunter heterogenen Praktiken und Anordnung hinsichtlich ihres Verhältnisses von Medialität und Materialität beschreiben? Welchen Stellenwert nimmt in dem interferierenden Zusammenspiel von Huyghes Arbeiten noch die Kategorie des Mediums ein? Das offene Ineinandergreifen ästhetischer Prozesse scheint nun auch bei Huyghe zunächst postmedial inszeniert zu sein, ohne dass dabei jedoch eine ästhetische Erfahrungsdimension preisgegeben wird. Viel eher scheint sich jedwede Orientierung und Reflexion in den Räumen und Atmosphären aus einer sensorisch dichten Umgebung und damit letzten Endes auch von einer medienästhetischen Erfahrungsqualität her zu erschließen. Wie lässt sich nun diese medienästhetische Erfahrung im Prozess mit Praktiken beschreiben, die auf Interferenzen von Intensitäten und nicht auf traditionellen künstlerischen Medien oder Formen beruhen? Und wie ließe sich an einem Verständnis medienästhetischer Praxis jenseits der im Modernismus gereiften Vorstellung von Medienspezifik festhalten? Hilfreich ist hier der Blick auf jene Debatten, die sich in den letzten Jahren innerhalb der Filmwissenschaft um den Befund eines Endes des Kinos oder der postkinematographischen Bedingung ranken.25 Vor dem

tiert aus der deutschen Übersetzung, dies.: „A Voyage on the North Sea“: Broodthaers, das Postmediale, Berlin-Zürich: diaphanes 2008. 24 Ebd., S. 9. 25 Vgl. hierzu exemplarisch: Rodowick, David N.: The Virtual Life of Film, Cambridge/Massachusetts: Harvard University Press 2007; Shaviro, Steven: Post Cinematic Affect, New York: Zero Books 2010. Für einen aktuellen Überblick der breiten medien- und filmwissenschaftlichen Rezeption, die sich um den Diskurs

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Hintergrund der fortlaufenden digitalen Transformation der Medialität (Ästhetik, Produktion, Zirkulation, Rezeption) des Films sowie der Öffentlichkeit des Kinos und ihres sich ebenfalls abzeichnenden Bedeutungswandels in den Medienkulturen der Gegenwart, entwirft der Filmtheoretiker Francesco Casetti das Konzept der „Relocation“. Unter Relokalisierung fasst Casetti den breiteren kulturellen Prozess der Remediatisierung und Neuverortung des Films bzw. filmischer Formate und Rezeptionssituationen. Casetti entwirft dabei zugleich ein medientheoretisches Konzept der Transformation, dass den digitalen Wandel des Kinos nicht von seinem vermeintlichen Ende her – und damit als Verlustgeschichte – liest, sondern eben als Wandel und Hervorbringung neuer Existenzweisen eines Kinos des 21. Jahrhundert begreift.26 Zentral wird für Casetti daher die Frage nach dem Verhältnis von Kontinuität und Transformation des Kinos und des Films: „For cinema to remain itself, however, is not a simple enterprise. In relocating, cinema continually risks losing itself. It remains for us to recognize its presence in situations that are in many cases ambiguous and which can be understood in different ways. For the most part, we end up identifying our experience as ‚cinematic‘ because, due to habit or the strength of memory, we find in it the reemergence of several typical and already well-established elements.“27

Casettis Medienbegriff geht deutlich über die Vorstellung von Medien als devices, diskreten Formationen, Apparaten oder materiellen Trägern hinaus und kommt am deutlichsten in seiner Bestimmung als „kultureller Form“ oder als „Umwelt“ („environment“ im Orig.) einer spezifischen Erfahrung

Post-Cinema rankt und über Fragen technologischen Wandels hinaus auch medienkulturelle, politische und ökonomische Entwicklungen berührt siehe insbesondere die Aufsatzsammlung: Denson, Shane/Leyda, Julia (Hg.): Post-Cinema: Theorizing 21st-Century Film, Sussex: Reframe Books 2016, online abrufbar: http://reframe.sussex.ac.uk/reframebooks/archive2016/post-cinema-denson-leyda/ vom 12.02.2018. 26 Casetti, Francesco: The Lumière Galaxy: Seven Key Words for the Cinema to Come, New York: Columbia University Press 2015, zum Konzept der „Relocation“ insb. S. 1-42. 27 Ebd., S. 9.

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zum Ausdruck.28 Denn als Erfahrungstyp markiere das Kino eher die spezifische kulturelle Artikulation und Weitergabe eines „expressiven Feldes“29 und einer bestimmten Erfahrungsebene und weniger die Spezifik eines Geräts oder Dispositivs. Das Spezifische des Kinos als je besonderer Erfahrungsform – darin liegt die Pointe in Casettis Argumentation – vermag sich jenseits seines angestammten Terrains, d.h. in anderen Medien und Umwelten neu zu entfalten.30 Relokalisierung umfasst damit eben eine emergente Bewegung der Herausbildung neuer medialer Umwelten, durch die eine kulturelle Erfahrungsform gleichzeitig persistiert. Eben hier lassen sich Casettis medien- und erfahrungstheoretische Überlegungen zur Persistenz und Wandel des Kinos aufgreifen und für ein Verständnis medienästhetischer Praxis wenden. Medienästhetische Verfahren entstehen und operieren stets unter materiellen und physischen Voraussetzung und innerhalb von Formationen und Umgebungen, doch sind diese Bedingungen keineswegs konsistent. Auch für sie lässt sich das Konzept der Relokalisierung produktiv machen. Denn ästhetische und künstlerische Verfahren verhandeln ihre eigenen Bedingungen neu, wenn sie in sich verändernden Umgebungen und Kontexten auftauchen. Für das sich im Wandel begriffene Kino konstatiert Casetti einen Aushandlungs- und Adaptionsprozess („process of negotiation“31), in dem neue Elemente u.a. durch Praktiken von Zuschauer*innen rekursiv in die Medialität des Kinos integriert werden können.32

28 Ebd., S. 19. Casetti bezieht sich auf den Umweltbegriff von Jakob Johann von Uexküll ohne dabei jedoch das Konzept „environment“ bzw. Umwelt aus einer historisierenden Position medientheoretisch anzuschließen (vgl. ebd., S. 247, Fn. 25). 29 Ebd., S. 27. 30 Der von Casetti vorausgesetzte Erfahrungsbegriff geht von einer spezifischen Art und Weise aus, über die uns Medien erlauben mit der Welt und der Realität in Beziehung zu treten: „By experience, I mean a confrontation with reality (to experience something), the re-elaboration of this reality into knowledge (to gain experience), and the capacity to manage this and similar relations with reality (to have experience).“ Ebd., S. 19f. 31 Ebd., S. 87. 32 Um diese Medialität des Kinos zwischen Wandel und Persistenz zu beschreiben, greift Casetti ferner auf Deleuze und Guattaris Konzept der Assemblage

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Doch in welcher Beziehung stehen nun die medienästhetischen Operationen der Arbeiten Huyghes sowie die dichten sensorischen Erfahrungswelten seiner Ausstellungsanordnungen zu diesen beiden medientheoretischen Modellen von Krauss und Casetti? Die in Huyghes Arbeiten entstehenden Räume und „Situationen“ lassen Prozesse der Relokalisierung medienästhetischer Praktiken und Prozesse erfahren und werfen dabei in der ästhetischen Erfahrung selbst Fragen nach dem Verhältnis von konstitutiver Offenheit und Bindung ihrer Elemente auf; sie fragen nach Interferenzen sich überlagernder heterogener Traditionen, Materialitäten und Verfahren und einem sie verbindenden „generative[n] Prinzip“.33

(„agencement“ im franz. Orig.) zurück. Unter dem Stichwort „AssemblageCinema“ findet sich schließlich Casettis Versuch wieder, den rekursiven Aushandlungsprozess von Umwelten, Tönen und Bildern, Orten, Diskursen, den Zuschauer*innen-Praktiken sowie weiteren neuen ‚Komponenten‘ über ein Theoriekonzept einzuholen. Allerdings bleibt er dabei hinter den offenen Dynamiken des Assemblagebegriffs zurück, wenn er der Zuschauer*in eine herausgehobene Schlüsselrolle in diesem Aushandlungsprozess zukommen lässt. Vgl. ebd., S. 81-87. Zum Konzept des agencement vgl. G. Deleuze/F. Guattari: Tausend Plateaus, S. 11-42. 33 Im Kontext der seriellen Anordnungen von Sol LeWitt konstatiert Krauss das Wirken eines „generative principle“, das sich, wie die ‚Geschwätzigkeit‘ („loquaciousness“ im Orig.) einer kindlichen Erzählung nicht für ein darzustellendes Ganzes, sondern lediglich für die Kombination und Ergänzung immer neuer Details durch das Wörtchen „und“ interessiere (Krauss, Rosalind: „LeWitt in Progress“, in: October 6 (1978), S. 55). Dieses generative Prinzip und sein sich aus der Variation und Wiederholung entfaltendes Spiel – der schöpferischen Konnektivität von Elementen –, welches Krauss in der Konzeptkunst oder den seriellen Formationen der Minimal-Art verwirklicht sah, scheint für die Kunstkritikerin in diesem Text von 1976 noch jenseits der Frage des künstlerischen Mediums oder den konkreten Medien seiner Entfaltung zu liegen. Und doch könnte sich die Frage nach der Medialität in LeWitts Arbeit nicht konkreter artikulieren als in dem Bild jener ‚zentrumslosen Welt‘, in das Krauss ihre Erfahrung und ihren Eindruck dieses „system of compulsion“ kleidet: „To get inside the systems of this work, whether LeWitt's or Judd's or Morris's, is precisely to enter a world without a center, a world of substitutions and transpositions nowhere legitimated by the revelations of a transcendental subject.“ (Ebd., S. 55

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Die Ausstellung fungiert hier als ein Milieu der Aktualisierung, das die Arbeiten in Interferenz versetzt und Resonanzen hervortreten lässt. Die so entstehenden Konstellationen bilden jedoch kein synthetisiertes, intermediales Ganzes.34 Es ist kein Gesamtkunstwerk und keine organische Totalität, die sich hier formiert. Es ist weder die Erfahrung einer Synthese noch die einer Auflösung oder reinen Entgrenzung. Denn mit diesen beiden Dynamiken, die in gewisser Weise beide mit einem Verlust an Differenzierung und ästhetischer Resonanz einhergehen, wird eine medienästhetische Erfahrung jenseits von Medienspezifik häufig allzu voreilig kurzgeschlossen. Bei Huyghe hat man es jedoch nicht mit einem Verlust, sondern mit einer Steigerung und Neubildung von Intensitäten und „Intensitätszonen“35 zu tun, eben mit der verräumlichten Erfahrung eines Prozesses der Differenzierung, der sich zwischen den Arbeiten entfaltet. Über diesen spezifischen, als Milieu der Erfahrung von ästhetischen und nicht-ästhetischen Prozessen der Medialisierung gefassten Ausstellungszusammenhang exemplarisch nachzudenken – und dies über die bis hierher erwähnten Künstler*innen und Arbeiten hinaus voranzutreiben –, könnte für medienästhetische Fragestellungen und Methoden die Konsequenz haben, den in gegenwärtigen Medientheorien vollzogenen Schritt von distinkt unterschiedenen Medien hin zu einer neuen Konzeption der Mediation für das Terrain ästhetischer Praxis produktiv zu machen. 36

u. S. 60). Krauss’ Analyse des generativen Prinzips als Operator richtungsoffener, zyklischer Transpositionen in den Werken der Konzeptkunst deutet vielleicht eine Form des Medialen an, die sie später im Aufsatz zur postmedialen Bedingung als jene differenzielle Spezifik der Ausstellungs-Anordnungen von Marcel Broodthaers kennzeichnen wird. Von der ästhetischen Praxis her bestimmt, ist diese Form der Medialität zugleich auf eine multiple materielle Manifestation verwiesen, ohne diese Materialität in einfacher Weise zu einer Voraussetzung zu erklären. 34 Vielmehr könnte man – vielleicht allzu schnell abstrahierend – davon sprechen, dass in dieser Ausstellung eine fundamental relationale Dimension von Erfahrung selbst erfahrbar wird. 35 G. Deleuze/F. Guattari: Tausend Plateaus, S. 37. 36 Die Verschiebung des medientheoretischen Fokus weg vom konstituierten Objekt hin zu netzwerkartigeren, relationaleren Formen und Konzepten medialer Prozesse findet sich z.B. in der Reflexion auf das „Umweltlich-Werden“ der

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Der Kunsttheoretiker David Joselit beschreitet in seinen jüngeren Texten einen Schritt in eine ähnliche Richtung, wenn er vorschlägt, das Konzept des Formats an die Stelle des künstlerischen Mediums treten zu lassen. Joselits Ausgangspunkt trifft sich mit der von Krauss Jahre zuvor vorgebrachten Kritik. Der Kunsttheoretiker erachtet ein modernes Verständnis künstlerischer Medien als Objekte, in denen sich „materielles Substrat“ und „ästhetische Traditionen“ überkreuzen, als nicht mehr adäquat, angesichts eines durch die Logik digitaler Netzwerke durchdrungenen Kunstfeldes in der Gegenwart.37 In theoretischer Nähe zu Bruno Latours Versammlungskonzept setzt Joselit an die Stelle von Medien, das Konzept der Formate, verstanden als „dynamische Mechanismen zur Aggregation von Inhalten“: „Formate sind ihrem Wesen nach verknüpfte Netze und differenzielle Felder, die ein unberechenbares Gemisch von ephemeren Strömen und Ladungen mit sich tragen. Es handelt sich um Beziehungsgefüge von Kräften und nicht um diskrete Objekte. Kurz, Formate erzeugen Muster von Verbindungen oder Links.“ 38

Mit dem Formatbegriff holt Joselit den performativen Charakter medienästhetischer Praktiken und ihre fundamentale Relationalität ein.39 Dennoch

Medien bei Mark B.N. Hansen (Hansen, Mark B.N.: „Medien des 21. Jahrhunderts, technisches Empfinden und unsere originäre Umweltbedingung“, in: Erich Hörl (Hg.), Die technologische Bedingung. Beiträge zur Beschreibung der technischen Welt, Berlin: Suhrkamp 2011, S. 365–409.) oder in der Entwicklung einer Theorie der „radical mediation“ bei Richard Grusin, die er als Prozess fasst, „[...] that generates or provides the conditions for the emergence [...] of entities within the world.“, Grusin, Richard: „Radical Mediation“, in: Critical Inquiry 42/1 (2015), S. 124–148, hier S. 129. 37 Joselit, David: Nach Kunst, Berlin: August Verlag 2016, S. 73. 38 Ebd. 39 Produktiv an Joselits diskursstrategischem Schwenk auf den Formatbegriff könnte für Kunsttheorie und Medienästhetik dabei nicht nur die konzeptuelle Einholung der Praxis und Performativität künstlerischer Verfahren sein. Über das Format lassen sich auch disparate und heterogene künstlerische Strategien und Verfahren adressieren, die sich aufgrund ihrer hybriden oder situativen Ver-

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bleibt die Vorstellung des Formats, zumindest so wie sie hier konzipiert ist, hinter der Möglichkeit einer medienästhetischen Theorie der Mediation zurück. Künstlerische Formate stellen eigene Konfigurationen von Bildern her, wofür eben gerade die Arbeiten Huyghes, so Joselit, das beste Beispiel lieferten.40 Seine Kontur gewinnt der Formatbegriff bei ihm aber eben nur anhand einer schematischen Lesart von Medien als Repräsentationen, die noch ganz entlang der Dichotomien von Inhalt und Form und Materie und Bild gezeichnet ist. Deutlich wird dies in einem kurzen Text, in dem Joselit unter dem Titel „Gegen Repräsentation“41 eine Lesart von Huyghes ortsspezifischer Documenta-Arbeit Untilled (2011-2012) entfaltet, die er als eine Art Antidot der Bildökonomie und marktkonformen „Ideologie“ von Medien gegenüberstellt: „In ideologischer Hinsicht etablieren Medien – einschließlich der beschriebenen säkularen Form – eine Äquivalenz zwischen Träger und Bild und schaffen hiermit die Möglichkeit zur Repräsentation.“42 Formate wie eben jene die Pierre Huyghe in seiner Arbeit Untilled geschaffen habe, unterbrechen durch neue Bildanordnungen dieses Äquivalenzprinzip: „Die Situation bzw. Ökonomie, die hier geschaffen wird, unterbricht eine reibungslose Produktion von Bilderströmen.“43 Die repräsentations- bzw. ideologiekritische Konzeption des Formatbegriffs, wie es Joselit vorzuschlagen scheint, läuft nun auf die keineswegs neue kunsttheoretische Vereinnahmung des Kunstwerks als Unterbrechung von Bedeutung hinaus. Vor dem Hintergrund der gegenwärtigen künstlerischen Verhandlungen medialer Anordnungen, wie sie eben mit Blick auf Arbeiten wie Untilled zu beobachten sind, gilt es, die Kategorie der Medialität nicht vorschnell zu verabschieden, sondern vielmehr Konzeptionen künstlerischer Formate in ihrer medienästhetischen Prozessualität zu beschreiben. Wenn Huyghes Arbeit als Assemblage von Tieren, Insekten, Pflanzen und Besucher*innen dynamische Prozesse zwischen menschlicher und nicht-menschlicher

fasstheit nicht über hergebrachte Traditionen oder Medienbegriffe adressieren lassen. 40 Vgl. das Kapitel „Bildexplosion“, ebd., S. 19-41. 41 Joselit, David: „Gegen Repräsentation“, in: Texte zur Kunst 24 (2014), S. 93103. 42 Ebd., S. 99. 43 Ebd.

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Wahrnehmung hervorbringt, dann lässt sich dieses Gefüge nicht allein durch die repräsentationskritische Figur der Unterbrechung von (Bild-) Ökonomien beschreiben. Gerade das Zusammenspiel von ästhetischer Praxis, Materialität und Medialität ist es, dass in den Arbeiten Huyghes und vielen weiteren experimentellen Formaten zwischen Gegenwartskunst und Medienkultur herausfordert. Eine Orientierung in dem Vorhaben Materialität und Medialität jenseits fest umrissener Medienbegriffe zusammenzudenken lässt sich momentan außerhalb der engeren kunst- oder medienwissenschaftlichen Diskurse auffinden. Ebenfalls in Anlehnung und Weiterführung der jüngeren Arbeiten Latours hat Arjun Appadurai jüngst das Programm einer mediant assembly theory (MAT) vorgeschlagen.44 In methodischer Nähe zum New Materialism und der Akteur-Netzwerk-Theorie sowie dem von Gilles Deleuze und Félix Guattari geprägten Konzept der Assemblage entwirft Appadurai eine Theorie der Mediation, die in einem konstitutiven Wechselverhältnis zu Materialität gedacht ist. Medien, verstanden als „specific historical technology [...] such as print, telegraph, cinema, and so forth“45 sind in Appadurais Konzeption eben nur die spezifischen Technologien eines viel grundlegenderen Prozesses der Mediation, den er als einen Modus der Materialisierung fasst: „[...] mediation and materiality cannot be usefully defined except in relationship to each other. Mediation, as an operation or embodied practice, produces materiality as the effect of its operations. Materiality is the site of what mediation — as an embodied practice — reveals.“46

Appadurai verdeutlicht diese Konzeption von Medialität anhand indischer Behausungen, die im Zuge seiner Analyse von einer gegenständlichen Einheit zu einer multiplen Assemblage von Konstruktions- und Finanzialisierungspraktiken, von Werten und Gesetzen, kinematographischen Begehrensbildern und den Finanzmarktprodukten der Derivate wird. Mediation in diesem Sinne meint dementsprechend nicht einfach nur die Herstellung von

44 Appadurai, Arjun: „Mediants, Materiality, Normativity“, in: Public Culture 27/2 (2015), S. 221–237. 45 Ebd., S. 233. 46 A. Appadurai: Mediants, Materiality, Normativity, S. 224.

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Verbindungen,47 sondern ist ein Modus der Materialisierung 48, ein aktiver Prozess der Modulierung, Übersetzung und Transformation. Weder ist nach Appadurai Mediation ohne Materialität und deren Transformation denkbar, noch ist Materialität unvermittelte Substanz; vielmehr hat man es nun mit einem konstitutiven Wechselverhältnis zu tun, das als eine operative Dynamik bzw. Praxis wirksam wird und in Erscheinung tritt. Appadurais Konzeption von Mediation hat den Vorteil, diesen als Prozess zu denken, der nicht reduzibel auf bestimmte technische und dispositive Rahmenbedingungen ist, sondern eine autonome Dimension von Operationen, Praktiken und Verfahren in den Blick geraten lässt. Von Mediationen als konstitutiven Prozessen der Modulierung, Konstellierung und Materialisierung auszugehen – und diese relationale Ausgangslage ist das konzeptuelle Zentrum eines hier dargelegten Begriffs von Mediation – scheint der skizzierten heterogenen, entgrenzten Situation zeitgenössischer ästhetischer Praxis adäquater zu sein als der Fokus auf Medienobjekte. Zur Bezeichnung dieses relationalen Milieus, in dem und von dem aus sich ästhetische Praxis in ihren offenen Prozessformen vollzieht, schlägt der Band den Begriff der Ökologie vor und fragt danach, wie jene als operationale Prozesse verstandenen Mediationen, die vermitteln, indem sie kreative und somit umformende Relationen bedingen und herstellen, beschreibbar sind.

Z U EINER Ö KOLOGIE

ÄSTHETISCHER

P RAXIS

Seine gegenwärtige Proliferation in unterschiedlichsten theoretischen und disziplinären Zusammenhängen verdankt der Begriff der Ökologie einem theoretischen Paradigmenwechsel, den man als den Wechsel von einer Logik der Substanz hin zu einer Logik der Relation fassen kann 49. So mar-

47 Vgl. hierzu auch R. Grusin: Radical Mediation, S. 138. 48 Vgl. A. Appadurai: Mediants, Materiality, Normativity, S. 233. 49 So diagnostiziert bspw. Erich Hörl, dass das Ökologische als epistemologische Figur und begriffspolitischer Einsatzpunkt zu einem Leitbegriff einer neuen historischen Semantik geworden sei, der auf einen grundlegenden sinnkulturellen Wandel verweise, in dem sich ein neu zu bedenkendes Primat des Relationalen zeige. Vgl. Hörl, Erich: „Tausend Ökologien. Der Prozess der Kybernetisierung

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kierte bereits der biologische Begriff der Ökologie, wie er zum ersten Mal bei Ernst Haeckel in den 1870er Jahren auftauchte eine veränderte Denkweise innerhalb der Wissenschaft vom Leben selbst. Hatte die klassische Naturgeschichte des 17. und 18. Jahrhunderts noch einen „taxonomischen Raum der Sichtbarkeiten“50 als ihre epistemologische Grundlage, in dessen klassifikatorischen Rastern die strukturierte Ordnung der Lebewesen und ihrer definierten Positionen darin errichtet wurde, so galt das forschende Augenmerk der von der Evolutionstheorie informierten Ökologie den „Beziehungen des Organismus zur umgebenden Aussenwelt“.51 Weder identitätsförmiges Lebewesen noch taxonomische Struktur sind Grundlage einer ökologischen Perspektive, sondern die Beziehungen selbst. Es wird ersichtlich, weshalb der Begriff der Ökologie in den vergangenen Jahren, abstrahiert von seinem disziplinär-semantischen Herkunftsfeld der Biologie, quer zu unterschiedlichsten Fachdisziplinen, theoretischen Positionen und Beobachtungszusammenhängen eine analytische wie konzeptuelle Relevanz und Prominenz erlangte. 52 Seine Plausibilität und Be-

und die allgemeine Ökologie“, in: Dietrich Diederichsen/Anselm Franke (Hg.), The Whole Earth: Kalifornien und das Verschwinden des Außen, SternbergPress 2013, S. 121–130. So schreibt Hörl: „Der Satz ‚Sein ist Relation‘, den Didier Debaise zu Recht als Schlüsselsatz unseres zeitgenössischen Denkens und als Ausdruck unserer gegenwärtig aufklaffenden ontologischen Verfasstheit begreift, formuliert das allgemein-ökologische Grundprinzip. Mit anderen Worten: In der Insistenz und Virulenz der Frage der Relationalität offenbart sich der Kern unserer Ökotechnizität.“ (ebd., S. 122) Vgl. hierzu ebenfalls Morton, Timothy: The Ecological Thought, Cambridge/London: Harvard University Press 2010, der darin das Ökologische als das Denken der Verbundenheit bzw. Vernetzung (interconnectedness) fasst. 50 Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1974, insb. S. 165-210, hier S. 179. 51 Haeckel, Ernst: Generelle Morphologie der Organismen. Allgemeine Grundzüge der organischen Formen-Wissenschaft, mechanisch begründet durch die von Charles Darwin reformirte Descendenz-Theorie, Berlin, 1866; Bd. 2, S. 286. 52 Verwiesen sei hier lediglich auf eine kurze, selektive Liste von Publikationen, die verschiedentlich das Ökologische als zentrale Denkfigur produktiv machen: Zentrale Referenzen vieler Autor*innen sind Gregory Batesons „Steps to an Ecology of Mind“ (1972) und die durch diesen inspirierten Schriften von Félix

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deutung erlangt der Begriff der Ökologie gerade dort, wo einer konstitutiv relationalen Dynamik gegenüber einer substantiellen Logik des Objekts der methodische und konzeptuelle Vorrang gegeben wird und so dynamische Wechselverhältnisse in den Blick geraten, in denen Elemente zum einen vielfältig verbunden sind, zum anderen aber gerade erst durch diese Verbindungen entstehen, existieren und handeln. So ist bspw. für den Medientheoretiker Matthew Fuller Ökologie einer der prägnantesten Begriffe „to indicate the massive and dynamic interrelation of processes and objects, beings and things, patterns and matter.“ 53 Von einer Ökologie ästhetischer Praktiken zu sprechen meint daher, das Augenmerk auf eben diese differentiellen Austausch-, Kombinations- und Assoziations-Prozesse, auf die Wechselverhältnisse von Milieu und Element, von Potentialitäten und Aktualisierungsweisen zu legen, innerhalb derer gegenwärtige ästhetische Praxis ihre konstitutiven Bedingungen findet, sich operativ und gestaltend vollzieht, ihre spezifische Ausdrucks-

Guattari, vornehmlich „Die drei Ökologien“ (im franz. Original: 1985); generell: Morton, Timothy: Ecology without Nature, Cambridge: Harvard University Press 2007 und ders.: The Ecological Thought, Cambridge: Harvard University Press 2010; innerhalb der politischen Theorie: Bennett, Jane: Vibrant Matter. A political ecology of things, Durham: Duke University Press 2010; für die Ethnologie und Anthropologie: Descola, Philippe: Die Ökologie der Anderen, Berlin: Matthes & Seitz 2014 sowie Ingold, Tim: The Perception of the environment, London/New York: Routledge 2000; für die Filmwissenschaft: Ivakhiv, Adrian: Ecologies of the moving image, Waterloo: Wilfried Laurier University Press 2013; für die Theaterwissenschaft: Kershaw, Baz: Theatre ecology, New York: Cambridge University Press 2007; für die Medienwissenschaft: Fuller, Matthew: Media Ecologies: Materialist Energies in Art and Technoculture, Cambridge: The MIT Press 2005; sowie: Stengers, Isabell: „Introductory notes on an ecology of practices“, in: Cultural Studies Review 11/1 (2005), S. 183– 196. 53 M. Fuller: Media Ecologies, S. 2. Fuller verortet sich dabei kritisch gegenüber der theoretischen Position einer, an Marshall McLuhan und Neil Postman anschließenden Medienökologie, die, Ökologie als „environment“ umkodierend, das Ökologisch als System harmonischer Gleichgewichte missverstehen würde (Vgl. ebd., S. 4).

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formen annimmt und darüber eine Erfahrbarkeit dieser Relationalität erst ermöglicht. Gruppieren, Interferieren, Zirkulieren – dies sind allgemeine Modi des dynamischen Sich-Beziehens wie gleichermaßen Gestaltungsprinzipien. Sie lassen sich generell als Formations- und Mediationsprinzipien ökologischer Zusammenhänge verstehen und verweisen als solche auf jene Ebene und Logik künstlerischer Praxis, die in diesem Band analytisch wie methodisch aufgesucht wird.

Z U DEN B EITRÄGEN Der vorliegende Band verdankt sich einer Reihe von Workshops, die im Rahmen eines Lehr- und Forschungsprojekts an der Heinrich-HeineUniversität Düsseldorf in 2012/2013 stattfanden. Deren Ziel war es, einen produktiven Dialog über verschiedene Einzeldisziplinen hinweg mit der Frage herzustellen, wie es sich konzeptuell wie methodisch in den eingangs skizzierten relationalen Zusammenhängen und Ökologien ästhetischer Praxis bewegen und navigieren lässt. Die Beiträge dieses Bandes entstammen diesem „queren“ Milieu und reflektieren – einfachen territorialen Ansprüchen von Gattungen und Disziplinen sich entziehend – je spezifische Formen von Medialität in ästhetischen Praktiken. Zunächst gehen die Beiträge von Kai van Eikels und Maximilian Linsenmeier der praktischen Komplexität kooperativer Prozesse nach. Kai van Eikels denkt in seinem Beitrag dem Zusammen des kooperativen Tuns in seiner notwendigen Materialität nach und zeigt in praxistheoretischen Übertragungen zwischen Feldern der Sozio-Ökonomie, der Ästhetik und dem Alltäglichen auf, inwiefern das Gelingen bzw. die Bewerkstelligung dieses Zusammens gerade von einem ermöglichenden raumzeitlichen Abstand herrührt. Künstlerische Praxis, so van Eikels, könne dabei eine „erkennende Anerkennung“ jener meist allzu unmerklich verbleibenden medialen Bedingungen des Zusammen-Lebens und -Handelns bewirken. Dies wird ersichtlich in der Auseinandersetzung mit den At Once-Arbeiten des japanischen Künstlers Koki Tanaka, der darin Praktiker verschiedener Provenienzen (u.a. Friseure und Pianisten) mit Settings konfrontiert, die anerkannte Einteilungen und entschiedene Zuteilungen innerhalb des Pro-

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duktionsprozesses suspendieren und die Organisation des Gemeinsamen als Problem eröffnen. Dem Spinnen als ästhetischem Verfahren der Netzbildung geht Maximilian Linsenmeier in seinem Beitrag anhand der Arbeit des argentinischen Künstlers Tomás Saraceno nach. Nicht das Netz als gegenständliches Zeichen für Konnektivität und ästhetisches Objekt steht hierbei im Zentrum, vielmehr sucht der Beitrag Saracenos „Netze“ von ihrer praxeologischen Dimension her zu beschreiben. Dies bedeutet für Linsenmeier auch, von der konkreten Praxis Saracenos ausgehend die Funktion des Medialen im künstlerischen Prozess anders als über die objektgebundene Medienspezifik zu fassen. Er folgt dabei mannigfachen Formen der Mediation, die in multipler und differentieller Weise Milieus des Wissens, der Technik, des Raumes und der Wahrnehmung in operationale und produktive Bezüge zueinander bringen. Ästhetische Praxis erscheint dabei als ein transversal sich vollziehender Modus experimenteller Relationierungen. Wie die beiden darauffolgenden Beiträge von Reinhold Görling und Gerko Egert zeigen, ist es vor allem die Qualität und Kraft der Abstraktion die es vermag, eine transversale Kontinuität und produktive Relation zwischen differenten Ereignissen und Milieus herzustellen. Gegen ein Denken, dass Form allzu schematisch und in dichotomer Weise gegen das Stoffliche setzt, entwickelt Reinhold Görling im Bezug u.a. auf die Prozessphilosophie Alfred North Whiteheads und seines Begriffs des eternal objects ein prozessuales, verzeitlichtes Verständnis von Formation als Mediation. Eternal Objects in ihrer abstrakten Qualität seien mit Whitehead nicht als außerzeitliche platonische Formen zu begreifen, sondern vielmehr als das den individuellen Ereignissen innewohnende Potential zur Herstellung von Kontinuität und Beziehung selbst und als solches medial und ästhetisch zu denken. Diese medienästhetische Dimension von Abstraktionen in ihrem Vermögen zur Relationierung von Ereignissen sucht Görling in der Arbeit The Woolworth Choir of 1979 der britischen Künstlerin Elizabeth Price auf. Er folgt dabei den abstrakten Qualitäten von Farbe, Rhythmus, Geste und Ornament und zeichnet so die komplexen Faltungen von Ereignisebenen, Bild-Ton-Gefügen und der Beziehung zwischen ästhetischem Objekt und Betrachter*in nach. Was in der Arbeit von Price verschiedentlich erscheint, so eine zentrale These des Beitrags, ist eine deiktische Geste, die auf kein bestimmbares bezeichnetes

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Objekt mehr verweist, sondern vielmehr auf das Hier und Jetzt einer zeitlichen Differentialität in ihrer medialen Bedingtheit. Gerko Egert entwickelt in seinem Beitrag eine Konzeptualisierung von Choreographie als transversalem Verfahren und abstraktem Prozess. In Anlehnung an Gilles Deleuze und im Bezug zur choreographischen Praxis von Pina Bausch und Yvonne Rainer untersucht Egert zunächst die Technik des Fragens, die, bedingt durch die spezifische Modalität der Frage als einer ermöglichenden Öffnung, differentielle Felder von Kräften entstehen lässt und zu Intensivierungen und Dramatisierungen von alltäglichen Erfahrungen führt. Fragen sind dabei nicht alleine als sprachliche Äußerungen zu begreifen, sie drücken sich vielmehr auch in Bewegungen und Gesten aus, wie dies der Beitrag am Beispiel einer prozessualen Choreographie des Kochens zeigt, die Materialitäten, Zeiten und Handlungen durchquert. Was diese transversalen Bewegungen ermöglicht, so Egert, ist gerade die „immediale Kraft der Abstraktion“. Über die beiden Begriffe der Abstraktion und der Immediation in ihrem spannungshaften Wechselverhältnis artikuliert der Beitrag so eine Theorie der Choreographie als mannigfaltige Relationierung von Kräften, die nicht in der Anordnung aktualer Bewegungen aufgeht. Die Beiträge von Florian Krautkrämer und Sven Seibel untersuchen künstlerische Formen, die auf Veränderungen im Bereich des Dokumentarischen und den sich hieraus ergebenden politischen und ethischen Konsequenzen reagieren. Florian Krautkrämer untersucht in seinem Beitrag die neuen medialen Dimensionen politischer Öffentlichkeiten, in die sich eine dokumentarische Praxis seitdem sog. Arabischen Frühling verstrickt sieht. Mit Judith Butler und Jacques Rancière geht der Beitrag zunächst von der These aus, dass sich mit den Möglichkeiten neuer portabler Techniken der Aufzeichnung und anschließenden Zirkulation von Videoclips (z.B. über online Plattformen wie Youtube) auch neue Beziehungen zwischen den virtuellen und konkreten Orten und Plätzen des Protests und des Widerstands etablieren. Die künstlerischen Filme und Projekte von Birgit Hein, Peter Snowdon und Rabih Mroué, die Krautkrämer im Anschluss untersucht, lassen sich auf diese Beziehungen und Neuaushandlungen zwischen dem Sichtbaren und Unsichtbaren unterschiedlich ein. Ein Herausforderung, der „politische Kunst“ gegenübersteht, so lautet ein zentrales und wichtiges Argument des Textes, besteht darin, offene ästhetische Prozesse zu entwickeln, die neuen

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Unsichtbarkeiten Rechnung tragen, ohne sie zwangläufig in Bilder zu überführen. Sven Seibel widmet sich mit dem audiovisuellen Interview einem Verfahren, das seit den 1990er Jahren in „experimentellen Dokumentationen“ im Bereich der Gegenwartskunst wiederentdeckt und neubefragt wird. Der Beitrag verhandelt diese Entwicklung im Zusammenhang jener Repräsentationskritik, die das Interview als ästhetische und dokumentarische Form seit den 1960er begleitet hat. Gegenwärtige, die Grenzen zwischen Fiktion und Nichtfiktion befragende künstlerische Experimente mit Interviews zielen, so die Grundannahme des Beitrags, auf ein dokumentarisches Moment, das sich nicht mehr allein über die Darstellung oder Bildlichkeit, sondern über die Relationalität der dokumentarischen Anordnung entfaltet. Diesen Wandel untersucht Seibel in der Analyse der audiovisuellen und räumlichen Inszenierung von drei Interviewsituationen in Künstler*innenfilmen und Installationen (Omer Fast, Hito Steyerl, Salomé Lamas). In Analogie zu Marilyn Stratherns Überlegungen zur Anordnung der Feldforschung erweist sich das Interview dabei nicht mehr länger als epistemologische Technik der Dokumentation oder Herstellung von Evidenz, sondern als Verfahren, sich der Realität von Beziehungen auszusetzen. Die beiden Beiträge von Maren Butte und Kirsten Maar zeigen abschließend auf, wie choreographische Praxis es in ihren prozessualen Verfahrensweisen vermag, komplexe Verhältnisse von Körpern einerseits und Produktions- und Präsentationsdispositiven andererseits herzustellen und zu befragen. Maren Butte sucht in ihrem Beitrag die Produktionsverfahren der Übertragung und der Wiederholung in den Arbeiten von Tino Sehgal und Ragnar Kjartansson als Strategien und Formen einer Deproduktion auf. Verfahrensformen versteht Butte dabei als konzeptuell wie historisch spezifische Modi einer veränderten Logik ästhetischer Produktion, die vom materiellen Objekt absehend neue Konfigurationen zwischen den Künsten und NichtKünsten bewirken. Die prozessualen Formen der Deproduktion des Kunstwerks, die bei Sehgal als Reauratisierung einer ins Präsens gesetzten und erfahrenen Situation erscheinen, zeigen sich medientechnologisch vermittelt in Kjartassons Performance-Videos als melancholische Wiederholungen, welche die Produktion rekursiv leerlaufen lassen. Beide Arbeiten hinterfragen, so Butte, ein Paradigma performativer Produktivität und

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durchqueren in ihren Verfahren die Bereiche von Kunst und Alltag, Ausstellung und Aufführung. Wie durch choreographische Verfahren Verschiebungen im Gefüge zwischen Ausstellung und Aufführung hervorgebracht werden untersucht Kirsten Maar in ihrem Beitrag und fragt nach der Position und Rolle des ausgestellten Körpers innerhalb einer immateriellen Ökonomie kapitalistischer Produktion. Die durch ästhetische Strategien bewirkten Überlappungen musealer und theatraler Dispositive sowie ihrer jeweiligen Praktiken und Formen des Präsentierens bieten, so Maar, die Möglichkeit einer NeuKonstellation und Verhandlung des Verhältnisses von Wissen, Macht und Körpern, von Sichtbarkeit und Erfahrbarkeit im Sinne einer Politik des Präsentierens. Diese Überlagerungen zeichnet Maar in Bezug auf Boris Charmatz Musée de la danse nach, das sich als komplexe historische Konstellationen von Tanz- und Körpertechniken, Diskursen und Erfahrungsweisen über die Körper herstellt. Der Tanzkörper in seiner Materialität stellt für Maar dabei den Ort einer (ökonomischen) Unverfügbarkeit dar, ein unabgeschlossenes Kontinuum zwischen Subjekt(ivität) und Umgebung, das sich als Intervall zwischen determinierender Vor-schrift und einer Freiheit der Ausführung zeigt.

L ITERATUR 56th International Art Exhibition All the World’s Futures. Short Guide, Venedig: Marsillio Editori 2015. Appadurai, Arjun: „Mediants, Materiality, Normativity“, in: Public Culture 27/2 (2015), S. 221–237. Bennett, Jane: Vibrant Matter. A political ecology of things, Durham: Duke University Press 2010. Bishop, Claire: „Antagonism and Relational Aesthetics“, in: October 110 (2004), S. 51–79. Bourriaud, Nicholas: Relational Aesthetics, Dijon: Les presses du réel 2002. Buchmann, Sabeth: Denken gegen das Denken. Produktion, Technologie, Subjektivität bei Sol LeWitt, Yvonne Rainer und Helio Oiticia, Berlin: b-books 2007.

E INLEITUNG

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Kooperative Übertragungen

Zustände ohne Zuständigkeit Synchronisierung, Kooperation, kollektiver rhythmos bei Koki Tanaka K AI VAN E IKELS

Abbildung 1: Experiment beim Vortrag „Die Kunst des Kollektiven“ in der Deutsche Bank Kunsthalle Berlin am 11. Mai 2015. Fotograf: Mathias Schormann

Vorab ein Experiment: Sechs Personen stellen sich je zu dritt einander gegenüber auf, strecken ihre beiden Zeigefinger aus und bewegen sich aufeinander zu, bis sämtliche Finger eine einzige Reihe ergeben. Auf diese Schiene aus Fingern lege ich einen Holzstab von Länge und Durchmesser

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eines üblichen Besenstils. Ich bitte die Sechs darum, zusammen den Stab abzusenken und auf dem Boden abzulegen, jedoch während der gesamten Bewegung durchgehend mit beiden Fingern das Holz zu berühren. Es kommt bald zu Komplikationen. Statt weiter nach unten wandert der Stab plötzlich aufwärts, und da niemand den Kontakt abreißen lassen darf, müssen alle Finger folgen, was ihn noch weiter nach oben treibt. Zwischenzeitlich schaffen es die Teilnehmenden, die Bewegung zu stoppen und sich wieder auf das Senken zu orientieren, aber das Problem tritt wiederholt auf, und einmal ist der Aufwärtstrend so stark, dass alle auf die Zehenspitzen müssen. Selbst kurz vor Erreichen des Bodens ereignet sich noch eine Umkehrung der Bewegung, ehe das Ablegen nach ca. zehn Minuten schließlich gelingt.1

1. D IES

IST

Z USAMMEN

Das Experiment ist ein Beispiel für das, was ökonomische Theorie simple cooperation nennt im Unterschied zu complex cooperation, die auf Arbeitsteilung basiert, bei der jeder Beteiligte etwas anderes tut und nach Abschluss seiner Tätigkeit das Produkt an einen anderen weiterreicht, als ein Stufenprodukt, mit dem der Empfänger dann weiterarbeitet. Bei simple cooperation arbeiten alle zugleich am Selben. Edward Wakefield führte 1835 in seinem Kommentar zu Adam Smith die terminologische Unter-

1

Dieser Text geht zurück auf einen Vortrag, gehalten am 11. Mai 2015 in der Deutschen Bank Kunsthalle Berlin, die Koki Tanaka zum Künstler des Jahres gekürt hatte und ihm eine umfassende Ausstellung mit dem Titel Koki Tanaka: A Vulnerable Narrator widmete. Der Vortrag begann mit dem beschriebenen Experiment und nahm Bezug auf einige Arbeiten Tanakas, die in der Ausstellung zu sehen waren (vgl. den Katalog Precarious Practice, Berlin 2015). Die Verweise auf das Experiment mit dem Stab wurden in der vorliegenden Textfassung beibehalten. Es ist leicht zu wiederholen. Die Anregung zu dem Experiment bekam ich von Dominik Hallerbach im Seminar zum Thema „Synchronisierung: Die Materialität des Kollektiven“ am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft der Justus Liebig Universität Gießen im Wintersemester 2014/15, dem ich dafür herzlich danke.

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scheidung ein.2 Gut zehn Jahre danach stellte John Stuart Mill in seinen Principles of Political Economy in Reaktion auf Wakefield bereits fest, in einer entwickelten modernen Volkswirtschaft durchziehe die komplexe, arbeitsteilige Kooperation sämtliche Bereiche des Produzierens von Gütern.3 Seither scheint das gemeinsame Handanlegen für Ökonomen irrelevant: Mag sein, dass hier und da Arbeiter im Lager oder in der Fabrik sperrige Gegenstände zu Mehreren transportieren oder dass jemand im Büro die gerade anwesenden Kollegen hinzubittet, um den Kopierer ein Stück nach rechts zu rücken. Aber das verweist dann entweder auf die Notwendigkeit, den Arbeitsprozess mithilfe von Technologie oder durch optimierte Betriebsabläufe umzuorganisieren, damit er weniger personalintensiv ist, oder es handelt sich um Marginalien. In einer von complex cooperation geprägten Kultur des Zusammenarbeitens stellt simple cooperation entweder ein Relikt dar, ein Überbleibsel des Primitiven; oder sie gilt für so simpel, dass es nicht lohnt, darüber Gedanken zu verlieren. In dem Experiment mit dem gemeinsamen Absenken und -legen des Holzstabs mutet die simple cooperation jedoch alles andere als einfach an, bzw. das Einfache und das Leichte treten dabei auseinander. Die Regeln sind rasch verstanden. Das Schema der Bewegung, das sich in der Handlungsanweisung abzeichnet, dürfte intuitiv eingängig sein (wobei die Partizipierenden unter Umständen erst herausfinden müssen, dass sie besser in die Knie gehen als den Oberkörper vorzubeugen). Die physischen Ansprüche halten sich im Bereich dessen, was ein zu körperlicher Arbeit Tauglicher ohne Mühe vollbringt. Tatsächlich reichte bei dem geringen Gewicht des Stabes ein Einziger, um die Aufgabe binnen Sekunden zu erledigen, und phasenweise entsteht eine Schwierigkeit aus dem Zuviel an kinetischer Energie. Das Management des Energieüberschusses gehört jedoch zu einem umfassenderen Problem. Man könnte es damit umschreiben, dass die sechs Agierenden in dieser konzertierten Aktion zu sehr zusammen sind – zum Zusammen verdammt, sozusagen. Die Übung eignet sich deshalb, um zu untersuchen, was „zusammen“ heißt. Sie stattet das Zusammen mit einem symbolon aus. Der Stab wird

2

Vgl. Wakefield, Edward: Notes to A. Smith „An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations“, London: Knight 1835, S. 29.

3

Vgl. Mill, John Stuart: The Principles of Political Economy, http://ebooks.ade laide.edu.au/m/mill/john_stuart/m645p/book1.8.html.

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durch die Anweisung, ihn abzusenken und währenddessen durchgehend zu berühren, sowohl zu einer materiellen Verbindung zwischen den sechs Körpern als auch zu einem Zeichen des Verbundenseins. Im Unterschied zum Tonring, der dem Symbol seinen Namen gab, lässt dieses Material sich nicht brechen. Der Stab symbolisiert gerade das Unverbrüchliche des Zusammen: Das Holz ist fest, eben elastisch genug, um auch feinere Bewegungsimpulse vom einen zum anderen Ende zu leiten, aber die Finger, die den Stab greifen, vermögen ihn weder zu teilen noch in seiner Gestalt zu verändern. Die Gestalt der ca. 135 cm langen Stange mit einem Durchmesser von 2 cm präsentiert das Material zudem in der kompakten Form eines sinnlich gut erfassbaren Gegenstandes. Wir Menschen neigen dazu, Materialität eher zu bemerken, wenn sie unseren Körperbewegungen einen Widerstand entgegenbringt; und wir tun uns schwer damit, Materie überhaupt zu erkennen, wo ihr das Gegenständliche abgeht und sie uns beispielsweise wie die Luft als Milieu umgibt oder als Medium vom eigenen Körper ausgelöste Bewegungen überträgt, die andere Körper als Informationen verarbeiten.4 Der amerikanische Autor David Foster Wallace begann seinen legendären Vortrag This Is Water mit der Geschichte zweier junger Fische, denen ein älterer Fisch entgegen geschwommen kommt und freundlich grüßt mit den Worten „Morgen, Jungs, wie ist das Wasser?“ – woraufhin der eine Jungfisch seinen Nachbarn nach einer Weile schweigenden Weiterschwimmens fragt: „Was zur Hölle ist Wasser?“5 Foster Wallace leitete aus dieser Ahnungslosigkeit um das, worin wir schwimmen, einen Auftrag ab, das so selbstverständliche Leben und Zusammenleben unserer Wertschätzung zu empfehlen. Bereits das Leben jedes Einzelnen stellt den hochgradig unwahrscheinlichen Effekt vieler glücklich ineinandergreifender Prozesse dar, und dass es uns gelingt, in den unterschiedlichsten Formen mehr oder weniger zusammenzuleben, ringt dem Zufall ein noch unwahrscheinlicheres Maß von Organisation ab. Leben und Zusammenleben verdienen Beachtung, Achtung, ja Bewunderung wie das Wasser für seine intrikate

4

Vgl. Ingold, Tim: The Life of Lines, London/New York: Routledge 2015, S. 6972.

5

Vgl. Foster Wallace, David: This Is Water, Video: https://www.youtube.com/ watch?v=8CrOL-ydFMI; Text: http://www.metastatic.org/text/This%20is%20 Water.pdf.

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Mischung von Elementen und seine erstaunlichen Eigenschaften. Anerkennung setzt aber ein Erkennen voraus, und Kunst kann etwas dafür tun, ein solches erkennendes Anerkennen von Leben ins Leben zu rufen. Mitunter wird sie es zurückrufen müssen, wo die Ambitionen einer Kultur so sehr auf das Mehr-als-Leben drängen, dass diese den Begebenheiten, in denen Leben sich verlebt, keinen rechten Wert mehr zu geben versteht. Auch für die Agenda des aus Japan stammenden Künstlers Koki Tanaka wäre das keine schlechte Beschreibung: Respekt für das organisieren, was Menschen im Leben tun und gelegentlich zusammen tun, ohne dabei heldenhaft den Horizont ihres alltäglichen Dahinlebens zu überschreiten. Erkennendes Anerkennen etwa für die Komplexität von simple cooperation, wenn er neun Friseure auffordert, einer einzigen Kundin zusammen die Haare zu schneiden, fünf Dichter, zusammen ein Gedicht („a poem about sharing an event with others“) zu verfassen, fünf Töpfer, ein Gefäß zu formen, und fünf Pianisten, an einem einzigen Klavier einen „soundtrack for collective engagement“ einzuspielen. Während die Arbeitenden sich der Aufgabe widmen, hält Tanaka sich am Rand des Sets und lässt ein Filmteam den Prozess dokumentieren, der sich jeweils über mehrere Stunden eines einzigen Tages erstreckt. Die aus dem Material zusammengeschnittenen Videos präsentiert er, wechselnd ausgewählt, kombiniert und kontextualisiert, anlässlich von Ausstellungen. Außerdem sind sie auf Vimeo online anzuschauen.6 Für viele seiner Arbeiten wählt Tanaka parallel mehrere distributive Strategien – solche, die eher auf eine ästhetische Erfahrung und Reflexion hinauslaufen, und solche, die dazu anregen, die Arbeit als Vorlage oder Vorschlag für eigene Experimente zu nehmen. Diese Versuche mit ungewohnter Kooperation verschaffen ein This Is Water-Erlebnis in Bezug auf das Zusammen. So wie der Stab im Experiment die Materialität des Zusammenhandelns vergegenständlicht, holen Tanakas simple cooperation-Aktionen Milieus, Medien, Instrumente aus ihrer eingespielten Unmerklichkeit heraus. Beim Betrachten der Videos registriere ich, wie konkrete materielle Bedingungen die Raumzeitlichkeit eines Zusammen bestimmen, die mir üblicherweise kaum auffallen. Und vermutlich geht es den Akteuren ähnlich: Wo neun Friseure ihre Hände nach einem einzigen Kopf ausstrecken, zeigt sich, wie klein und endlich die Schädeloberfläche trotz ihres dichten Bewuchses mit um die 100.000 Haa-

6

https://vimeo.com/kktnk/videos.

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ren doch ist. Selbst in den Phasen simultanen Arbeitens finden nie mehr als drei Frisierende ein Betätigungsfeld, und wenn all diejenigen, die gerade nicht schneiden, kämmen, zupfen oder gelen, zuschauen und kommentieren wollen, müssen sie sich in einem weiten Kreis um den Frisierstuhl gruppieren mit fast schon theaterhafter Distanz zum Ort des Geschehens. Die Töpferscheibe gibt einen so engen Kreis vor, dass es erst schwerfällt sich vorzustellen, wie fünf Paar Arme (einer der Töpfer hat Oberarme so dick wie die Schenkel eines Gewichthebers) dort Platz haben sollen. Anders als die Haar-Stylisten, die zuvor im Warteraum den natürlichen Wuchs, den bisherigen, halb rausgewachsenen Schnitt und den Charakter der Kundin analysieren, formen die Töpfer eine hyle, im aristotelischen Sinne: ein selbst Gestaltloses, bloß Zugrundeliegendes, eine nackte Substanz. Doch sobald wer den Lehmklumpen auf die Scheibe klatscht, geht allen auf, dass das da von nun an das materielle Zwischen bilden wird, durch das ihre Körper kommunizieren. Und damit hat es auf einmal eine Form, teilt in seiner Größe, seiner Klumpigkeit, dem Schimmern seiner Oberfläche eine Reihe von Optionen und wahrscheinlichen Problemen für Zusammenarbeit mit. Auch Lyrik bringen Körper mit Körpern zur Welt: Obwohl die Instruktion für das Gedicht, das die fünf Dichter schreiben, keine Länge vorgibt, übt die runde Tischplatte zwischen ihnen mit einem Durchmesser von ca. 2 m ebenso einen Einfluss auf den Arbeitsprozess aus wie die A4Papierseiten, die A5-Notizhefte, das Tablet, das sie zum Notieren benutzen. „Alles, was wir tun, ist, einen Kreis zu bilden“, lautet ein Vers aus einem Werk, das entsteht, indem reihum jeder eine Zeile beisteuert. Ein anderes Gedicht, das sie zum Schluss aus Elementen ihrer ersten Entwürfe kompilieren, wird strahlenförmig ins Reine geschrieben und dann verteilt laut gelesen, während alle im Uhrzeigersinn um den Tisch herumgehen. Die fünf Klavierstudenten hingegen müssen sich von der einzigen Frau in ihrem Cast davon überzeugen lassen, ihre Diskussionen darüber, was und wie sie spielen wollen, nicht am Tisch, sondern zusammengedrängt vor der Tastatur des Flügels zu führen. Diese Anordnung auf der Bank, die den Kreis und die damit kulturell assoziierten Gemeinschaftsimaginationen verunmöglicht, ähnelt der am Stab am stärksten, und während die anderen Gruppen durch das sonderbare Zusammen die materiellen und formalen Aspekte ihres Metiers anfangs mit gemächlichem, heiterem oder skeptischem Befremden zur Kenntnis nehmen, wirken die jungen Musiker, als hätten sie sich am Wasser verschluckt.

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Auf den bis zu 97 Tasten eines großen Konzertflügels spielen im Musikbetrieb mitunter zwei Pianisten im Duett, mit einer Arbeitsteilung zwischen tief und hoch und seltenen Übergriffen in den Zuständigkeitsbereich des Partners (zumeist in virtuosen Passagen, die dann Höhepunkte der musikalischen Dramaturgie sind, eben weil sie Überschreitung zeigen). Zu fünft erschwert die Anzahl der Hände diese tradierte Form von complex cooperation jedoch so sehr, dass die Versammlung eingangs beschließt, nur jeweils eine Hand zu verwenden; erst nach der Mittagspause reicht der Mut für alle fünfzig Finger. Die Frage, wie ein derartiges Aufgebot die Tastatur gemeinsam nutzen kann, ent-setzt das Klavier: Unter den zweifelnden Blicken und zaghaften Tastenberührungen rückt es ab von der vertrauten Zuhandenheit und den vertrauten Widerspenstigkeiten, verliert auch seine ökonomische Disposition des in ein Instrument befohlenen, einem Subjekt zur Expression dienstbar gemachten Orchesters. Mit diesem Überfluss an Spielern geht es weder um die Verstärkung des Menschen durch den Apparat noch um den Kampf Mensch gegen Apparat (hart trainierend die Finger weiter und weiter spreizen, bis ich die Oktave greifen kann, usw.). Das technologische Wunderwerk, dessen Beherrschung des Klanguniversums von piano bis forte ein metaphysisches Projekt vollendet, regrediert zu einem Kasten. Als sei es der Geschichte abspenstig, in ihrer Zeit des unentwegten Werdens ausgeflockt, erscheint das Klavier plötzlich nicht mehr als Virtualität des Schöpferischen, als Aggregat unendlicher Möglichkeiten, sondern es ist ein endlicher Körper, der mit anderen endlichen Körpern hier und jetzt in konkrete Wechselwirkungen tritt. So die erste Lektion: Wo Körper kooperieren, ist das Dazwischen und Drumherum ebenso materiell wie die Körper. Was so ausgesprochen banal klingt, gerät doch ständig in Vergessenheit, denn je glatter Zusammenarbeit läuft, desto stärker tendieren Beteiligte und Beobachter für gewöhnlich dazu, diese Materialität zu ignorieren. Die Ignoranz ist ein Effekt der Vorherrschaft von complex cooperation. Arbeitsteilung gewöhnt daran, Interaktionen zwischen Arbeitenden wie abstrakte Beziehungen aufzufassen, die sich dann nach Plan oder ad hoc unter irgendwelchen Bedingungen aktualisieren. Was die Menschen tun, mit anderen Menschen und mit Dingen, verkörpert dann lediglich einen ideellen, symbolisch-imaginär konstruierten Zusammenhang – und in dem Maße, wie die körperlichen Handlungen der Verkörperung dienen, hinkt ihr Interagieren dem Ideal stets hinterher. Flexibilisierung könnte aus den Erfahrungen der Arbeitenden mit der Mate-

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rialität ihres Kommunizierens kommen, aus der Elastizität jener Stoffe und der Wandelbarkeit jener Formen hervorgehen, die Kooperieren körperlich vermitteln. Doch die Forderung danach, wie Arbeitgeber sie notorisch erheben, artikuliert eine Haltung, der jedes Interesse an der materiellen Konkretheit von Kooperation abgeht. „Flexibilität“ steht im zeitgenössischen Jargon dafür, dass die Körper restlos aufgehen in der Implementierung eines perfekten Miteinanders, das sich ein Visionär aus dem Management für sie ausgedacht hat (oder ein Mediator sie zwingt, nach Zielvorgaben selber zu entwerfen). Die einzige Chance, noch vorzukommen im Regime dieser diktierten Flexibilität, finden die Körper im destruktiven Widerstand: gegen das Zusammen (Mobbing), gegen die funktionale Fitness (psychosomatische Störungen, Süchte), gegen das soziale Selbst (Burnout/Depression). Was wir für die Zusammenarbeit, auch die komplexe, von der simple cooperation lernen könnten, wäre die Wiederentdeckung der Körper diesseits der Verkörperung.

2. ANSTELLE

VON

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Arbeitsteilung ordnet sich nach Zuständigkeiten bzw. profiliert diese. Wo Klarheit herrscht, wer wofür zuständig ist, sinken die Anforderungen, die complex cooperation an die Ausführenden stellt, manchmal sogar unter das Level von simple cooperation. Sobald institutionelle Strukturen das Miteinander regeln, können die Arbeitenden ihr Verhältnis zum Arbeitsprozess auf den ihnen zukommenden Teil beschränken; sie brauchen lediglich für die Kommunikation mit den Bezugspersonen Sorge zu tragen, deren Zuständigkeitssegmente direkt an ihres anschließen. Zuständigkeit bündelt zahlreiche ethische, juridische, ökonomische und politische Annahmen und Werte, von denen einige prägnanter hervortreten, wenn man für das deutsche Wort „zuständig“ nach bspw. englischen Übersetzungen sucht. Ich begreife mich dann als „responsible“, trage die Verantwortung, indem ich die Rolle desjenigen einnehme, der antwortet, wenn etwas geschieht, das Reagieren verlangt. Oder ich bin „authorized“, von meinen Mitmenschen (bzw. einer Instanz, die welche von ihnen repräsentiert) mit der Macht ausgestattet, etwas zu unternehmen, und ggf. auch autorisiert, andere entweder zur Mitwirkung aufzufordern oder ihnen den Zugriff zu untersagen. Ich kann „in charge“ sein, was andeutet, dass man mich der Unterlassung

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beschuldigen und mit einer Strafe belegen wird für den Fall, dass ich bei Handlungsbedarf nichts unternehme. Oder für „competent“ gelten, anerkanntermaßen über das Wissen und Können verfügen, um mich einer Sache anzunehmen. Quality Management kennt sogar die Formulierung „to own a process“, wobei der Zuständige den Prozess besitzt wie ein Haus, um das er sich kümmern muss. Explizite Festlegung reduziert Komplexität bezüglich all dieser heiklen Aspekte, so dass die Arbeitenden sich in ihren Positionen einigermaßen sicher fühlen. In der Organisation von beruflicher Arbeit zeichnet sich allerdings schon seit den 70er Jahren ein Trend ab, feste Ordnungen von Zuständigkeiten durch ein dynamischeres Teamwork zu ersetzen, bei dem die Mitglieder eines Teams je nach Projekt untereinander aushandeln, wer wofür zuständig sein soll. Dieser Shift von ‚vertikaler‘ zu ‚horizontaler‘ Koordination zählt zu den wichtigsten Merkmalen des sog. Postfordismus. 7 Ohne ein Schema, dem gemäß jeder Mitarbeiter genau seine paar Verrichtungen zu erledigen hat, organisiert das Kollektiv sich situationsabhängig selbst. Die organisatorischen Entscheidungen, die so getroffen werden, basieren auf den jeweiligen Fremd- und Selbsteinschätzungen, was jemand besonders gut, womöglich besser als andere kann; auf dem Prestige, das eine/r unter den Kolleg/innen genießt, und dem Status, den sie oder er innehat oder sich erarbeitet; auf dem ‚Miteinander-Können‘, d.h. den Faktoren, die bewirken, dass manche Menschen gut zusammenarbeiten, andere schlecht, wieder andere ganz okay, sofern es nicht zu eng ist, usw. Arbeitsteilung wird mit dem Übergang vom Fordismus zum Postfordismus also wirklich complex. Zwar verlangt der Betrieb nach wie vor fachliche Spezialisierung, aber das Zusammenarbeiten stellt die verbrieften Qualifikationen immer wieder neu zur Disposition, und in der laufenden Ermittlung von Zuständigkeiten kommen soziale Kriterien (also auch sehr subjektive Urteile, Vorlieben und Abneigungen) ebenso zum Tragen wie ökonomische, ja geht das Soziale mit dem Ökonomischen kaum aufzuschlüsselnde Verbindungen ein. Wann und wo das Verhandeln von Arbeitsteilung stattfindet, lässt postfordistisches Workflow-Design kalkuliert offen. Erfahrungen zeigen, dass spontane Selbstorganisation von Kollektivität ein günstiges Milieu in den Randzonen des Institutionellen findet. Die

7

Vgl. Netzwerk Kunst und Arbeit: Art works – Ästhetik des Postfordismus, Berlin: bbooks 2015, S. 11-25, bes. S. 14-17.

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Business-Binsenweisheit, die wichtigsten Entschlüsse würden an der Espressomaschine gefasst (was einige Architekten von Bürobauten dazu motiviert hat, die Pausenecken zu Kommunikationszonen umzugestalten8), berührt eine Wahrheit der gegenwärtigen Realität von Arbeitsteilung: Arbeiten muss ein inneres Außerhalb seiner selbst generieren und kultivieren, ein Daneben, in dem die abhängig Arbeitenden einander wie frei begegnen – als Freie und freiwillig in der Begegnung, damit das eingerichtete Zusammen die Zeichen einer Gleichheit trägt, die arbeitsteilige Arbeit anders nicht zu bewahrheiten wüsste. Arbeitsteilung verstärkt Ungleichheiten des Könnens und Wissens.9 Eine bürgerliche Gesellschaft, die ihre hoch differenzierte kapitalistische Ökonomie mit dem demokratischen Gleichheitsanspruch zu vereinbaren sucht, verfällt in eine Logik, die Foucault einmal mit dem Satz pointierte, die Ungleichheit sei für alle dieselbe.10 Kooperation erhält in postfordistischen Arbeitskulturen die Aufgabe, genau das evident zu machen. Die Settings von Tanakas At Once-Aktionen sabotieren jene Techniken des flüssigen Auseinanderdividierens und Zuteilens von Arbeit, die mittlerweile zur professionellen Routine gehören. Sie bringen den Teilnehmenden als Manager seiner selbst und seines Teams in die Bredouille. Ausgeliefert an ein vages, dennoch gnadenlos scharf umrissenes DasselbeMachen, wäre es womöglich darum zu tun, eine andere Differenzierung des Selben zu entdecken, ein Zusammen zu organisieren, das nicht die Logik von Arbeitsteilung unter ungünstigen Umständen reproduziert, son-

8

Schön zu sehen in dem Dokumentarfilm Work Hard, Play Hard (Regie: Carmen Losmann, 2011).

9

Seit Platon (vgl. Politeia, 370b) rechtfertigen ihre Verfechter die Arbeitsteilung mit dem Argument, sie berücksichtige die natürlichen Unterschiede bei Fähigkeiten und Neigungen. Doch schon Adam Smith ging auf, dass diese Unterschiede keineswegs so natürlich sind, sondern in hohem Maße der Effekt des Aufwachsens in einer arbeitsteilig strukturierten Gesellschaft (vgl. Smith, Adam: An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, hg. von Sálvio M. Soares, Amsterdam u.a.: MetaLibri 2007, http://www.ibiblio.org/ ml/libri/s/SmithA_WealthNations_p.pdf, S. 17).

10 Vgl. dazu Lemke, Thomas: „Die Ungleichheit ist für alle gleich – Michel Foucaults Analyse der neoliberalen Gouvernementalität“, in: 1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts, 16:2 (2001), S. 99-115.

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dern ein performatives common ausbildet. Eben das fällt allen vier Gruppen jedoch äußerst schwer. Die Videos erzählen hauptsächlich vom Kampf um die Rückeroberung jener Souveränität, die im arbeitsteiligen Kooperieren genießt, wer sich auf die gelenkt-lenkende Beherrschung des Workflow versteht. Die Strategien und Manöver dieser Kämpfe sind indes aufschlussreich, und zwar sowohl in ihrem Scheitern als auch in ihren Erfolgen, denn sie verraten etwas über die Beschaffenheit von Freiheit – eines Wertes, den politische wie ökonomische Konzepte meist als Versprechen und Anspruch behandeln, selten aber bis in die Materialität aktuellen, körperlichen Interagierens verfolgen. Tanakas Ansatz, Partizipierende in ein kompaktes Zusammen zu rufen, hysterisiert die Kompetenzsubjekte; er stößt sie auf ihre Körper in einem Zustand, da diese aus einer radikalen Unzuständigkeit heraus einander neu bestimmen müssen, und die erhellendsten Szenen der Filme werfen ein Schlaglicht auf konkretes Entstehen oder Nichtentstehen dessen, was unsere gängigen Begriffe von Freiheit immer schon aus einem Allgemeinen hernehmen und auf den speziellen Fall applizieren. So Konkretes lässt ahnen, wie wenig das Entstehende prädisponiert ist, diese Liberalität oder diese souveräne Ermächtigung zu inkorporieren – welchen organisatorischen Spielraum Menschen hätten, wären sie geübter darin, mit ihren Körpern herauszufinden, was Freiheit heißt und welcher Gebrauch der Freiheit welcher Kollektivität taugt. Das ist die zweite Lektion. Die neun US-amerikanischen Friseure retten noch am meisten von ihren spezielleren Zuständigkeiten aus den Salons, wo sie sonst arbeiten, in die simple cooperation hinüber. Ein Mitglied der Gruppe empfiehlt sich als besonders versiert für den Grundschnitt, ein anderes für die Spitzen, zwei weitere übernehmen das Modellieren mit Spray und Gel. Gehen sie zunächst nacheinander zu Werke, um den eingangs in ausführlicher Beratung gefassten Plan in die Tat umzusetzen, verändert eine Krise die Dynamik: Als die Frisur fertig sein soll, schaut das Resultat scheußlich aus. „Are we satisfied with this?“ sagt eine im Tonfall einer rhetorischen Frage. So beginnt eine zweite Phase, in der nun Einige aus der Gruppe improvisieren. Dabei machen sie sich simultan zu zweit oder dritt am Modell zu schaffen, und da andere bereits Wein trinken, teilt sich das Kollektiv in die SchonFeiernden und die Noch-Arbeitenden – eine Ungleichzeitigkeit in der Gegenwart, zwischen deren Seiten man auch hin und her wechseln kann und die das Zusammen auflockert. Das Miteinander swingt streckenweise. Improvisation und Alkohol aktivieren ein know-how-to-move-together in

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den Körpern, das lustvoll tänzerisch wirkt. Während die Frisierte gequält lächelt (das aufwändig überholte Styling ähnelt dem davor dann letztlich sehr), haben die Frisierenden Spaß.11

Abbildung 2: Koki Tanaka, A Haircut by Nine Hairdressers at Once (Second Attempt), 2010; Kollaboration, Videodokumentation (28 min). Ort: Zindagi Salon, San Francisco. Kurator: Julio Cesar Morales. In Auftrag gegeben durch das Yerba Buena Center for the Arts, San Francisco. Produktionsfotografie: Tomo Saito. Teilnehmer*innen: Victor A. Camarillo, Kristie Hansen, Nikki Mirsaeid, Olga Mybovalova, Sandra Osorio, Anthony Pullen, Brian Vu, Nicole Korth, Erik Webb, Karen Yee.

Tanzen im Club und auf Partys mag zur Vorbereitung dieser groovebasierten Selbstorganisation tatsächlich ebenso beigetragen haben wie Teamsport oder Spiele.12 Doch obwohl die Fähigkeiten in den Körpern schlummern, muss die festgelegte Aufteilung nach Zuständigkeiten erst kollabieren, damit sie erwachen. Der Ursprung des kollektiven Improvisierens in einer Krisensituation gehört zu den zentralen Topoi von Diskursen

11 Kameraarbeit und Videoschnitt unterstreichen das – möglicherweise (das bleibt Spekulation) ebenfalls von der Dynamik affiziert. 12 Vgl. Matthias, Sebastian: Gefühlter Groove: Kollektivität zwischen Dancefloor und Bühne, Bielefeld: transcript 2018.

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zu Improvisation.13 Manche Taktiken setzen für den Durchbruch zu besserer Kollektivität auf den Effekt eines katastrophalen Ereignisses, das von der Bindung der Gegenwart durch Sorge um die Zukunft befreit: Mit der Erleichterung eines „Jetzt ist es eh passiert, jetzt ist alles egal…“ treten die Menschen aus der Formation einer Herde, die Ängste zusammenhalten, in ein gelasseneres Beieinander hinaus. Die Schlusssequenz von A Haircut By Nine Hairdressers At Once (Second Attempt) atmet – durchs Unscheinbare eines Malheurs, wie es beim Friseur öfter vorkommt, hier aber ein Regime von Zuständigkeiten, eine furchtsam bewahrte Arbeitsteilung vernichtet – solch ein postapokalyptisches Laisser-faire. Die japanischen Dichter in A Poem Written By Five Poets At Once (First Attempt) scheinen am freiesten ausgesetzt im Selben der simple cooperation. Zugleich schirmt Tradition sie gegen deren Konsequenzen ab. Die Geschichte der japanischen Lyrik kennt kollektive Formen des Dichtens, z.B. renga, ein bei Hof beliebtes Kettengedicht, bei dem jeder reihum ein tanka hinzufügt. Zwar verorten die drei Männer und zwei Frauen ihre Tätigkeit im Kontext einer subjektiven Lyrik, wo ein Ich für sich und aus seinen Erfahrungen heraus spricht (wie immer gebrochen und indirekt); und in den tastenden Erörterungen zu Beginn drängt eine SubjektivitätsProblematik sich schnell an die Stelle der Frage nach Kompetenzen: Wenn jedes Ich in unvergleichlicher Weise für sich selbst zuständig ist, wie organisiert man dann das kollektive Schreiben eines Textes auf der Basis eines Unvergleichlichen? Das Gespräch hangelt sich entlang der Paradoxien, die in dieser Frage angelegt sind. Aber nachdem sie zuerst individuell geschriebene Fragmente zusammenzufügen versuchen, greifen die Fünf im zweiten Anlauf dann doch das Verfahren des Kettengedichts auf – gegen den ausdrücklichen Wunsch Tanakas, der vor Start der Filmaufzeichnung darum gebeten hatte, kein renga zu dichten. Keijiro Suga, das älteste Mitglied des Dichter-Teams, übernimmt in dieser Phase die Führung. Der in Japan immer noch stark etablierte Respekt vor der Autorität des Alters kommt zum Tragen, als der 1958 Geborene sich zum Sprachrohr der Tradition macht; und die andern folgen ihm vielleicht auch deshalb, weil er dem

13 Vgl. Bormann, Hans-Friedrich: „‚Improv is still rubbish.‘ Strategien und Aporien der Improvisation“, in: in: Gabriele Brandstetter/Bettina Brandl-Risi/Kai van Eikels (Hg.), Schwarm(E)Motion: Bewegung zwischen Affekt und Masse, Freiburg i.B.: Rombach Verlag 2007, S. 125-146.

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deutlich jüngeren Künstler den Gehorsam verweigert, der schweigend abseits sitzt und doch, wie die Partizipierenden mindestens ahnen, Autorschaft für das Geschehen dieses Tages zugesprochen bekommen wird.

Abbildung 3: Koki Tanaka, A Poem Written by Five Poets at Once (First Attempt), 2013; Kollaboration, Videodokumentation (68 min 30 sec). Ort: Japan Foundation, Tokyo. Kuratorin: Mika Kuraya. In Auftrag gegeben durch The Japan Foundation. Teilnehmer*innen: Mari Kashiwagi, Mizuki Misumi, Rin Saito, Keijiro Suga, Jo Tachibana.

In den Kreis der Kreativarbeiter, die Tanakas Arrangement zu Performern herabstuft (ich interessiere mich beim Betrachten des Videos für ihr Agieren weit mehr als für die produzierten Gedichte, nehme die poiesis nur als Moment der praxis wahr), zitiert das höfische Gesellschaftsspiel allerdings auch eine unzeitgemäße Gleichheit: Kultur bei Hof ist ausgelegt für die Kommunikation zwischen Angehörigen einer Aristokratie, die einander innerhalb dieses eng begrenzten Raumes als Gleiche gegenübertreten. 14 Der elitäre Egalitarismus, der in Europa hintergründig zu jenen Entwicklungen beitrug, die in die Französische Revolution mündeten, inspirierte noch Nietzsche zu seinem Begriff des „Vornehmen“. Reaktionär, wenn an eine 14 Vgl. Norbert Elias’ Analyse des europäischen „Verhöfischungsprozesses“ in Elias, Norbert: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1976.

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herrschende Klasse gebunden, kann die aristokratische Haltung im Fließgewebe des sozialen Kapitalismus zu einer differenziellen Größe werden. Geht auszuhandelndes Kooperieren mit einem Wettbewerb um verknappte Anerkennung einher, der die beteuerte Gleichheit der Parteien flugs wieder Lügen straft, so hilft mitunter der Bezug zu einer anderen, ferneren Gleichheit, um die Dynamik von Vorenthalt, Kränkung und Vergeltung dafür zu unterbrechen – der Egalität derjenigen, die nicht arbeiteten (auch die politische Versammlung der demokratischen Polis im antiken Athen setzte sich aus Bürgern zusammen, die frei waren von der Notwendigkeit zu arbeiten, da wahre Gleichheit ohne diese Freiheit undenkbar schien). Der Erfolg Sugas setzt die Wiederkehr einer lyrischen Form durch, die sämtlichen Beiträgen einen heute alles andere als sicheren Respekt gewährt, indem sie die Beiträger gleichsam perspektivisch adelt. Die Intervention vergangener Größe in das kleinliche Feilschen unter Anwohnern der Gegenwart hat indes ihren Preis: die Patronisierung des Kollektivs durch dessen graue Eminenz. Ein hoher Preis.

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Abbildung 4: Koki Tanaka, A Pottery Produced by Five Potters at Once (Silent Attempt), 2013; Kollaboration, Videodokumentation (75 min). Ort: Studio of Wang Feng and Han Qing, Beijing. Kurator*innen: Hu Fang und Mika Kuraya. In Auftrag gegeben durch The Japan Foundation; in Zusammenarbeit mit Vitamin Creative Space, Guangzhou, und The Pavilion, Beijing. Teilnehmer*innen: Wang Feng, Yuan Liang, Han Qing, Duan Ran, and Tan Hongyu.

Abbildung 5: Koki Tanaka, A Piano Played by 5 Pianists at Once (First Attempt), 2012; Kollaboration, Videodokumentation (57 min). Ort: The University Art Galleries, University of California, Irvine. Kuratorin: Juli Carson. In Auftrag gegeben durch The University Art Galleries, University of California, Irvine. Teilnehmer*innen: Adrian Foy, Kelly Moran, Devin Norris, Ben Papendrea, Desmond Sheehan.

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Die Töpferkunst in China blickt ebenfalls auf eine lange Tradition zurück, allerdings eine des arbeitsteiligen Produzierens. Jahrhunderte vor Anbruch des Industriezeitalters differenzierten dort die Töpfer ihre Fähigkeiten so spezifisch aus, dass der Herstellungsprozess eher dem einer modernen Fabrik glich als den westlichen Handwerksbetrieben der Zeit. „Wenn wir es kreisen lassen, ist es wie am Fließband“, sagt eine der chinesischen Töpferinnen in A Pottery Produced By Five Potters At Once (Silent Attempt): Alle individuellen Spuren würden verwischt. Doch weder rotiert die Töpferscheibe so gleichmäßig und gleichgültig gegen die Eigenrhythmen der Arbeitenden, wie das Band läuft, noch entspricht ein Zusammenfügen von individuell beigesteuerten Teilen zu einem Ganzen, in dem das Kollektiv sich wiedererkennt, der Sequenzialität fordistischer Montage. Zwar verzichten sie auf Drehpresstechnik, bei der das Gefäß aus einem einzigen Stück Masse hochgezogen wird (und damit auch auf ein für große Vasen bis heute gebräuchliches Verfahren des Töpferns zu zweit oder dritt, bei dem ein Arbeitender die Arme des andern an den Handgelenken greift und dessen Körper wie ein Glied des eigenen bewegt15). Doch auch das Aufeinanderlegen von Tonwülsten, durch das die Gruppe eine weite Schale, eine hohe Vase, eine Art Dose und eine Obstplatte herstellt, ist kein Montieren. Fordistische Fertigung durchtrennt die Beziehung des Teilarbeitsschrittes zum Endprodukt; jeder Arbeiter verrichtet die zugewiesene Aufgabe, ohne sich um den Rest scheren zu müssen. Dass diese Entfremdung auch eine Freiheit birgt, spiegelt sich in den Schwierigkeiten der drei Männer und zwei Frauen, eine Haltung zu dem zu entwickeln, was sie teils mit-, teils gegeneinander unternehmen. Das handwerklich hergestellte Tongefäß als Ziel verhängt über das Projekt eine Ganzheit, die Fabrikarbeiter los waren, ehe Postfordismus sie in die Verantwortung für den Produktionsprozess zurückbeorderte. Die metaphysische Gewalt dieses Ganzen erinnert an Kleists Zerbrochnen Krug: Es fordert ein Zusammen, das substanzieller ist als Geflecht (der Vorschlag eines Gruppenmitglieds, alle parallel korbartiges Flechtwerk zu wirken, wird sofort abgewiegelt) und dessen Verfugung trotz Sichtbarkeit der Teile über Addieren und Festdrücken hinausgeht. An diesem Anspruch zerbricht das Team.

15 Siehe bspw. https://www.youtube.com/watch?v=uevW3rlAI7o oder https:// www.youtube.com/watch?v=uevW3rlAI7o.

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Statt ‚zusammenzuwachsen‘, fügen die Fünf sich durch ihre Interventionen am Objekt und ihre Kommentare im Verlauf der gemeinsam verbrachten Stunden immer tiefere und existenziellere Kränkungen zu. Die Zeit arbeitet gegen sie, verschärft die Konflikte, die in der Gruppierung angelegt sind. Tanaka hat nicht nur Männer mit Frauen, sondern Profis mit Amateuren und Traditionalisten mit experimentierfreudigen Erneuerern kombiniert, wobei die Geschlechterdifferenz rasch die anderen Gegensätze auf sich vereidigt. Halb unterdrückte Erotik (eine der Frauen macht dem schweigenden Koloss der Runde für seine Pranke das Kompliment, er habe „schöne Hände“, was allseits nervöses Kichern auslöst) steht ebenso im Raum wie schlecht überspielter Machismus. Die Frauen bringen Erfahrungswissen in die Diskussion über Kooperation ein, das aus dem familiären Bereich stammt und vor allem dem älteren, am Verlust seiner MeisterAutorität laborierenden Profi-Handwerker missfällt. Wenn der eine sich immer kümmere, gewöhne der andere sich daran, versorgt zu werden, stellt die Ältere mit traurigem Unterton fest. Das Vor-Zurück, das in der Bewegungsabstimmung am Arbeitsplatz perfekte Responsivität ausmacht, verfestigt im Haushalt eine Ungleichverteilung, die zu den hartnäckigsten Widerständen gegen die Emanzipation der Frauen gehört. Die andere Töpferin überlegt später, als die Stimmung schon knistert vor Feindseligkeit, ob sie besser zusammenarbeiten würden, wenn sie fünf Kinder im Kindergartenalter wären oder eine Familie. So sehr die aktuelle Lage Chinas sich von der in Staaten mit bürgerlichkapitalistischer Geschichte unterscheidet, rühren solche Fragen an Verschiebungen, die global das Verhältnis von Zusammenarbeit und Zusammenleben betreffen. Die Erschütterungen treten in liberalen Gesellschaften offener zutage; in der chinesischen Runde schlagen sie, halb unterdrückt, umso heftiger durch.16 Einer der frühesten theoretischen Texte über Arbeitsteilung, Xenophons Oikonomikos, zählt die Aufteilung der Zuständigkeiten zwischen Mann und Frau zu den fundamentalen Strukturen der

16 Da ein Mitglied der Gruppe zu Tanaka sagte, sie müssten eigentlich schweigend arbeiten, sich selbst und einander vergessen, um wirklich ein Gemeinsames zu vollbringen, gab dieser der Aktion den Arbeitstitel „Silent Attempt“ und behielt ihn für das Video auch bei. Obwohl Drei der Vier durchgehend reden, bleibt der Eindruck, dass viel verschwiegen wird.

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ökonomischen Ordnung.17 Diese blieb Jahrtausende unhinterfragt, selbst in klassischen utopischen Gesellschaftsentwürfen. Sobald aber die Freiheit und Geworfenheit des Aushandelns von Arbeitsteilung auf die Strukturen übergreift, in denen die evolutionäre Ausdifferenzierung von Berufen und deren Organisation fest eingebettet war, verfliegt die Illusion eines Fundamentes. Es verlangen dann alle arbeitsförmigen Tätigkeiten zurecht Einlass in das Zusammen des Zusammenarbeitens, auch die Hausarbeit, die Kindererziehung, die vielen informellen Varianten von affective labor. Und wie der alte Meister in Tanakas Miniaturgesellschaft verweigern gerade die Helden der alten arbeitsteiligen Ordnung zeternd und schmollend diese inklusivere Kooperation. Er wolle seine Gefühle zum Ausdruck bringen, es komme ihm nicht auf Verständigung an, kündigt dieser schließlich den kommunikativen Pakt, den selbst hitzige Debatten noch einhalten. „Lasst uns eine Pause machen“, entgegnet die Frau, die er damit zurückweist – daraufhin beendet ein Fade-out die Dokumentation. Den Abspann des Videos unterlegt eine Bilderfolge mit Rauch aus dem Schlot, gestapelten Holzscheiten, Feuer im Ofen und den vier Produkten der Gruppe, fertig gebrannt. Verbrannt schauen sie aus.18 Noch verzweifelter kämpfen die Musiker um die Arbeitsteilung. Eingesperrt in die hierarchische Architektur der klassischen und romantischen europäischen Musik, die sie an ihrem amerikanischen College studieren, fassen sie anfangs den Plan, dass nur einer von ihnen, nämlich der in der Mitte, für die Melodie zuständig sein soll, ein weiterer, am linken Ende, für Harmonien, während die drei Übrigen „textures“ ergänzen. Das Misslingen des ersten Versuchs (öde reguläre chord progressions, die bald unter der Menge des Hinzugefügten verklumpen) führt vor, wie mit der räumlichen Enge auch die zeitliche Gedrängtheit des Zusammen die Übersetzung der kollektiven Anwesenheit in eine Ordnung von Zuständigkeiten behindert. Die vielen Finger auf der Klaviatur finden keine Zeit, um Übergänge von der einen Hand zur andern zu timen – also, workflow-technisch gesprochen, den eigenen Bewegungsrhythmus mit dem der Kooperierenden so zu moderieren, dass jeder sein Bewegungs- und Klangprodukt in genau dem Moment abgabebereit hat, da der jeweilige Partner es braucht. Niemand

17 Vgl. Xenophon, Oikonomikos, 7, 18-22. 18 Die letzte Einstellung zeigt eine Katze, die im Hof auf Holzpaletten döst, mit der Einblendung „Project by Koki Tanaka 2013“.

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schafft es aus einer mit Fleisch und Klang vollgestopften Gegenwart genügend weit heraus, um sein Reagieren vom Reflex zu emanzipieren. „Collective engagement … means that we’re all constantly present“, interpretiert Kelly Moran, die Frau unter den Fünf, die gestellte Aufgabe (nachdem ihre vier Kommilitonen sie auffordern, eine Erklärung zu geben, mit der Begründung, sie habe die meiste Erfahrung bei Wettbewerben). Einer der Jungs klagt wenig später, es sei einfach „too much at a time“. Das At Once in den Titeln, die Tanaka den Aktionen gibt, bedeutet sowohl „gleichzeitig“ als auch „auf einmal“ oder „unverzüglich“, „sofort“. Potenziert durch die Schwierigkeit, im Spielen zu komponieren, zwängt das Arrangement in eine Situation, die weder räumliche Zerstreuung toleriert noch von sich aus jenes Mindestmaß an zeitlicher Zerstreuung einräumt, das nötig ist, um einander wechselseitig so zu beeinflussen, dass alle Beteiligten den Eindruck haben, die Kooperation mit steuern zu können. Es gilt daher, wie den Fünf nach und nach aufgeht, dem Zusammen die Zerstreuung abzulisten. Lockert den Friseuren Alkohol die Glieder, hilft den Musikern Jazz. Nach der Mittagspause aktivieren sie ihre Erfahrungen mit improv (mindestens einer von ihnen ist jazz major), bis im letzten Versuch dann so etwas wie looseness Einzug in das Zusammenspiel hält. Zwar unterhält die Jazzwelt ein ausgeprägtes Spezialistentum. Prestige unter Jazzern erringt jedoch nur, wer immer wieder eine Souveränität als Performer unter Beweis zu stellen vermag, die fachliches Können am eigenen Instrument und Fachwissen zu Geschichte, Personen, Stilen usw. mit einer Offenheit für das Aktuelle verbindet: das Unvorhergesehene einer LiveSituation, das Stolpern, das drohende Durcheinander („We paint ourselves in and out of corners all the time“, lautet ein bekanntes Bonmot des Saxofonisten Jeff Clayton). Das Spielen in wechselnden Zusammensetzungen hat ein Repertoire von Techniken hervorgebracht, um bei laufender Performance zwischen den Rollen des band member und des eigensinnigen Solisten hin und her zu wechseln. Genüssliche Rücksichtslosigkeit durchlöchert das Achten auf das, was die anderen spielen; der Einzelne kehrt seine Verantwortung für das Team durch kleine Unverschämtheiten um in Herausforderungen an die Mitspieler, prescht vor, bleibt lasziv träge auf einer Note hängen, lässt provokant etwas aus, das die überlieferte Struktur, wie alle sie kennen, verlangt. Das kann schief gehen, geht es mitunter auch; daran stirbt niemand. Jazz-Zeit ist keine Zeit zum Werk, in die der Künstler oder das Kunstkollektiv sich zur Gänze investiert, sondern Lebenszeit,

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Zusammenlebenszeit, die für jeden mit dem eigenen Tod endet und bis dahin nach jedem Scheitern Gelegenheit zu weiteren Sessions gibt: win some, lose some. Bar der Hoffnung auf Erlösung durch das Werk, lehrt Jazz, sich Freiheit hier und jetzt, währenddessen, herauszunehmen. Die Mitglieder einer Combo müssen sich ein gewisses Maß an Gleichgültigkeit gegen das Ganze leisten, wenn das Resultat nicht nach Angst klingen soll. Gebremst von Schüchternheit, enthemmt von Überdruss und Erschöpfung, übertragen die jungen Musiker diese Lehre auf ihre Problematik, mit zu vielen Fingern im Vergehen undehnbarer Sekunden zu stecken. Es gelingt ihnen damit, trotz eingezogener Schultern und einer bis zum Schluss niemals völlig gelösten Verspannung, die Zeit als etwas wiederzugewinnen, das Handlungen trennt und die Handelnden voneinander entfernt hält. Romantik propagiert Verschmelzung, Aufhebung des Individuums in einem universalen Klangkörper. Ein Tag, an dem sie sich mit räumlicher und zeitlicher Distanzlosigkeit herumschlagen, lässt die Mitglieder von Tanakas Klavierteam hingegen mit einer Ahnung davon zurück, wie sehr Kollektivaktionen ohne Partitur davon abhängen, dass die Art der Kommunikation den Kommunizierenden gestattet, auf Abstand zu bleiben: Die Distanz hindert nicht am Zusammenwirken; sie macht im Gegenteil die Basis eines Aufeinander-Reagierens aus. Erst wo ein Intervall klafft zwischen dem, was einer tut, und dem, was ein anderer tut, können die materiellen Prozesse der Synchronisierung ein Geben und Nehmen betreiben. Allerdings bereitet das give and take auch die Szene für den Auftritt des Souveräns – bzw. dessen Rückkehr: Devin Norris, der schon zu Beginn versucht, die Gruppe zu dominieren, damit zunächst scheitert und in den kritischen Phasen, als Frust um sich greift, am deutlichsten von allen seine Aggressionen spüren lässt, avanciert im letzten Durchgang zum Impulsgeber. Nach der organisatorischen Umorientierung kommt seine Aggressivität mit einem zuversichtlichen Nicken daher und erlangt die Wirkung von Mut. Gäbe jemand ihm Kontra, träte in Konkurrenz, zöge seine souveräne Stellung in Zweifel und nötigte ihn, sie zu behaupten, das zarte Tändeln mit der afroamerikanischen Musikkultur (von der Diedrich Diederichsen schreibt, sie erziehe dazu, Gejagter und Jäger zugleich zu sein 19) wüchse

19 Vgl. Diederichsen, Diederich: Über Pop-Musik, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2014, S. 181-224. Diederichsen rückt Adornos Vergleich des oft hektischen Jazz-Rhythmus mit dem Pogrom in einen kolonial-postkolonialen Kontext.

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sich wahrscheinlich zu einem jener ko-kompetitiven Langstreckensprints aus, mit denen Jazz das Versprechen neoklassischer Ökonomen einlöst, liberaler Wettbewerb mache Aggression produktiv.20 Die Produktivitätsexplosion durch Stärkung des Konkurrierens im Kooperieren findet indes nicht statt. Die andern verbleiben in ihrer privilegierten weißen Teenagersensibilität, höflich, grinsend, von Ironie vor allzu direkten Konfrontationen behütet. Und man kann überlegen, ob nicht eben dies Verzärtelte, bis

20 Das lateinische concurrere, vom dem das Wort Konkurrenz abstammt, vereint ein zeitliches Zusammen („von zwei oder mehr Seiten zusammentreffen, sich zugleich einfinden“) mit einem räumlichen, wobei das sowohl ein aggregierendes Versammeln meinen kann (mit der Nuance des Eiligen) als auch ein Zusammenstoßen, eine Kollision beim Versuch, denselben Ort mit der eigenen Präsenz zu besetzen (vgl. Empell, Michel: „Vom Recht zur Ökonomie. ‚Konkurrenz‘ im römischen Recht, in der Schule von Salamanca und bei den französischen Physiokraten“, in: Thomas Kirchhoff (Hg.), Konkurrenz. Historische, strukturelle und normative Perspektiven, Bielefeld: transcript 2015, S. 37-62, hier S. 38). Beides ist im modernen Begriff der Konkurrenz auf einem Markt im Rahmen staatlich institutionalisierter bürgerlicher Gesellschaft verschwunden. Die Konkurrierenden laufen nebeneinander her, organisieren mit ihrem Rennen ein unentwegtes Ausweichen. Und obwohl das Monopol ein Ziel ausmachen mag, das alle verfolgen, tun sie dies im Wissen, dass sie es niemals erreichen dürfen. Die modernen Märkte definieren sich als Sphären der Koexistenz, wo Verdrängung nur im Ausnahmefall, als Unfall, zur Vernichtung des Unterlegenen führen darf. Die Normalität muss darin bestehen können, dass der an einem Ort verdrängte Konkurrent mit reellen Chancen versuchen kann, andere Orte zu erobern, um irgendwann aus dem konsolidierten Daneben wieder anzugreifen. Wir beziehen unser kommunikatives Know-how zur Kooperation überwiegend aus Erfahrungen mit einer Situation, da diese immer schon mit Konkurrenz verflochten ist; und diese Verflechtung ist möglich, weil Konkurrieren kein concurrere mehr ist: Wir laufen nicht zusammen. Deshalb drängt sich kokompetitives Performen wie beim Jazz in der Tat als ‚Lösung‘ des von Tanaka angeordneten Zusammen auf, das mit einem concurrere beginnt. Vgl. zu Übertragungen zwischen Jazz und Konkurrenz-Ökonomie: van Eikels, Kai: Die Kunst des Kollektiven. Performance zwischen Theater, Politik und SozioÖkonomie, Paderborn: Fink 2013, S. 305-349.

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ins Gewagte hinein ungemein Scheue die Freiheit, die das Loslassen im Team erspielt, davor bewahrt, kapitalisierbar zu werden.

3. S YNCHRONISIERUNG DER F REIHEIT

UND DAS

E RSCHEINEN

Reflex oder Reaktion: Physiologisch handelt es sich bei beidem um die Verknüpfung eines sensorischen Inputs mit einem motorischen Output. Selbstbewusstsein, Reflexion, die von Kant Spontaneität genannte Freiheit des Handelns, willkürlich in Kausalitäten zu intervenieren 21 – also all das, was aus dem Menschen je nach Werturteil den Luftsprung der Evolution oder das gescheiterte Tier macht – verdanken sich der Länge und Komplexität jenes neuronalen Geflechts, das zwischen die afferenten und efferenten Nerven geschaltet ist. More is different, und an dieser Differenz eines vermehrten, sowohl größeren als auch volleren Abstands dessen, was wir tun, von dem, was wir wahrnehmen, hängen die elementaren Bestimmungen des Ethischen und Politischen. Erst dort, wo der Zusammenhang eines Handelns mit einem anderen kein notwendiger ist, wo das spätere Handeln dem früheren nicht zwanghaft entspricht, sondern antwortet, gibt es die Option, Verantwortung zu übernehmen – und unter geeigneten Umständen die Option, Formen eines kollektiven Verantwortens zu finden, die es ermöglichen, das Zusammenleben zu Vielen in seinem Wie so zu verändern, dass Viele der Zusammenlebenden in der Veränderung etwas Gutes, Richtiges oder Schlechtes, zu Bekämpfendes erkennen. Eben weil sie nur in einem Umweg durch das innere Labyrinth der Nervenbahnen beruht, bedarf die Differenz von Reflex und Reaktion einer äußeren Anerkennung in den Praktiken des Kommunizierens, damit ihre ethische und politische Valenz zur Geltung kommt. Sollen Menschen von ihrer Freiheit im Kollektiven Gebrauch machen, so muss das NichtNotwendige des Zusammenhängens dessen, was sie tun, unter ihnen, zwischen ihnen auftauchen. Freiheit trägt sich körperlich zu in den Rückwirkungen einer interaktiven Unterstellung auf die physischen Prozesse in den Organismen, die in der Zusage dieser Unterstellung interagieren: Wenn die Situation mich anhält, etwas, das mein Körper vollführt, für einen Reflex 21 Vgl. Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft, B 472ff.

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zu halten, sehe und verhalte ich mich unfrei. Legt die Situation es hingegen nahe, in den Bewegungen meiner Glieder, meiner Gesichtszüge, meiner Stimmbänder und meines Kehlkopfes ein Reagieren zu erfahren, das so ausfällt, aber auch anders ausfallen könnte, so erhält mein Ich die Chance, sich als Subjekt eines Willens oder Unwillens, einer Präferenz oder Abneigung ins Geschehene und Weitere einzuschalten. Keine Gegenwart ist ausschließlich von Reflexen oder von Reaktionen bestimmt. Wo Menschen in Mehrzahl anwesend sind, stimmen immerzu viele körperliche Prozesse sich aufeinander ab. In dem Gefühl, frei zu handeln, Spielraum für Entscheidungen zu haben, willentlich oder wunschgemäß etwas beeinflussen zu können, präsentiert ein Körper eine Interpretation seiner selbst, in die immense Mengen von Informationen aus diesen Abstimmungen eingehen. Für die Interpretation spielt es offenbar eine Rolle, inwieweit die raumzeitliche Differenz dessen, was mein Körper sich selbst zurechnet, und dessen, was er anderen Körpern zurechnet, im Zusammen vorkommt. Der menschliche Organismus unterhält mehrere Instrumente zur Zeitmessung, die unterschiedlich skaliert und voneinander unabhängig operieren (indirekt miteinander kommunizierend, aber nicht vereinheitlicht, von keiner übergeordneten Instanz kontrolliert). Körpereigene Zeitbestimmung ist genuin polychron; sie ermittelt das, was ‚die Zeit‘ gewesen sein wird, quasi multiperspektivisch. Experimente haben außerdem gezeigt, dass motorische Vorgänge, die ein sensorischer Input auslöst, bis zu einer halben Sekunde früher einsetzen, als das Wahrgenommene bewusst wird – die ‚Entscheidung‘ also längst getroffen ist, wenn die Reflexion stattfindet, die sie ‚begründet‘.22 Im Schatten dieser Verspätung kann ein Mensch ‚dieselbe‘ Zeitspanne als länger oder kürzer erfahren: als hinreichend, um mit einer Antwort aufzuwarten, die seinen Anspruch auf spontane Mitgestaltung eines Tuns zu Mehreren befriedigt, oder als unzulänglich, so dass er sich überrollt fühlt, von der Kollektivdynamik mitgeschleift gegen oder ohne seinen Willen. Zu welcher Einschätzung jemand gelangt, hängt nicht von objektivierbaren Werten ab, sondern von seiner jeweiligen körperlichen Disposition und dem, was die Umgebung den körpereigenen Zeitbestimmungsverfah-

22 Vgl. Massumi, Brian: Parables for the Virtual. Movement, Affect, Sensation, Durham NC: Duke University Press 2002, S. 28ff., der daraus die ‚Autonomie des Affekts‘ folgert.

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ren an Kopplungsoptionen bietet. Zu den wichtigsten Aufgaben für die Einrichtung und organisatorische Betreuung kollektiver Prozesse gehört es deshalb, die Freiheit des Reagierens – das Lose, Spontane, dem Belieben Fügliche des Zusammenhängens von Efferenzen (von Regungen, Handlungen) – zu stimulieren mittels der Form, die wir, die Beteiligten, aus den Kommunikationen unter uns herausholen. Neurophysiologisch mag Freiheit eine Illusion sein, der Effekt einer Zeitverwischung innerhalb des Organismus, die eine halbe Sekunde vertuscht. Es ist indes eine wirksame Illusion, und die Fähigkeit unserer Körper, sie zu erzeugen, bedeutet für die Praxis, dass die Frage, wie viel Freiheit eine kollektive Situation gewährt, Körpertechniken beantworten: Techniken, eine Form zu finden, die den gegebenen Raumzeit-Verhältnissen genug Abstand zwischen den Anwesenden eingibt, um Verwicklung ins Geschehen als ein Reagieren zu erfahren und auszuüben. Techniken, im Beisammensein eine Umgebung zu formieren, ein Zwischen/Außen, dessen rhythmos der körpereigenen Chronometrie (oder Chronopoiesis) hilft, die Unterstellung des Freien aufrechtzuerhalten und Konsequenzen aus ihr zu ziehen.23 Anders als im Sport, wo man die Körper isoliert gegen eine feindselige Objektivität antreten lässt, damit Trainer dann sekundär „Mannschaften formen“, betreffen die hier gemeinten Körpertechniken diejenige Wirklichkeit des Zusammenlebens, in der kollektive rhythmoi aus den Wechselwirkungen des Kommunizierens heraus entstehen. Zu lernen gilt es nicht, den eigenen Körper fit zu machen, sondern mit seiner Hilfe (und dabei: als er, denn kein Subjekt stiehlt sich längerfristig aus dem Körper-Sein weg) ein Milieu auszubilden, dessen raumzeitliche Form Spontaneität, Freiheit des Reagierens, zu unterstellen gestattet – und so den Wirkungen dieser Unterstellung gestattet, lokal und temporär eine kollektive Wirklichkeit zu ergeben. Freiheit im Kollektiven braucht einen ihr günstigen rhythmos. Es kommt darauf an, dass eine kommunikative Form unter den Beteiligten aus

23 In Anlehnung an Benveniste verstehe ich rhythmos im Sinne von raumzeitlicher Form, nicht schon als taxis (Ordnung), die sich durch Abstrahierbarkeit von Regeln für die Wiederholung von Ereignissen (Metrum) auszeichnet. Vgl. Benveniste, Émile: Probleme der allgemeinen Sprachwissenschaft, München: List 1974, S. 366ff. Vgl. dazu auch Brandstetter, Gabriele/Brandl-Risi, Bettina/van Eikels, Kai: „Übertragungen. Eine Einleitung“, in: dies. (Hg.), Schwarm (E)Motion (2007), S. 7-61, bes. S. 22-25.

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den Synchronisierungsprozessen, die so oder so ablaufen, Szenen des Sooder-anders-Reagierens aufschlägt und für eine Weile offen hält. Dies ist die dritte Lektion. Koki Tanakas strategische Manipulation der Kooperationsbedingungen in seinen At Once-Versuchsanordnungen entstellt diese rhythmische Dimension zur Kenntlichkeit. Je nachdem, welche Gegenstände und Substanzen Verwendung finden, welches Können und Wissen die Körper der Arbeitenden einbringen, wie die Wahl des venue und der Filmdreh die körperliche Begegnung mitprägen, kommt es zu kollektiven rhythmoi, die den Körpern ihre Unfreiheit oder ihre Freiheit mitteilen. Zusammen ist hier stets merklich materiell, entsteht durch Übertragungen; doch ob die Übertragungen für oder gegen das Spontane sprechen, hängt von den raumzeitlichen Formen ab, die Interaktion den materiellen Verhältnissen abgewinnt. Die vier Videos liefern reichhaltiges Material für Analysen jener Faktoren, die einen kollektiven rhythmos ausformulieren: Stoffe und Dinge zählen dazu, als Übertragungsmedien, die Signale mit Informationswert zwischen den Körpern der Beteiligten hin und her übertragen; Gruppierungen, im Sinne der Auswahl und Kombination von Partizipierenden und im Sinne ihrer körperlichen Konstellation; sensomotorische Vorbildung der Körper (durch professionelles Training, aber ebenso durch jede Art von Handlungs- und Bewegungspraxis, die horizontal ein körperliches Miteinander organisiert); performative und poietische Formate, die sowohl konkrete Verfahren der Verknüpfung von Einzelbeiträgen kodifizieren als auch bestimmte Verteilungen von Anerkennung und Wertschätzung; Vorstellungen, Bilder des attraktiven und unattraktiven Zusammen, in denen die Beteiligten das aktuelle Geschehen identifizieren oder reflektieren (mitsamt den kulturellen, historischen Entwicklungen, die diese Bilder hervorbringen, modifizieren, bewerten und umwerten). Schließlich fallen beim Vergleich der Videos dramaturgische Muster auf, die dem Verlauf der Zusammenarbeit gewisse Wendungen geben. Diese Muster erhalten wohl vor allem über das Imaginäre Zugriff auf die Kollektivdynamik; aber ihr Einfluss dürfte kaum darauf reduzierbar sein, er involviert alle genannten Faktoren. Ein solches Muster ist die Krise in ihrer Steigerung ins Katastrophale, dem Sichüberschlagen des Prozesses auf einen Moment hin, in dem es zu spät ist, um so weiterzumachen wie bisher gewollt, geplant, versucht. Die Katastrophe bringt eine Anerkennung dieses Zu-Spät, einer Zäsur, die das Gegenwärtige vom Hoffen abschneidet. Man könnte sie dadurch definieren: Im Katastrophalen setzt das Warten auf eine

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Zukunft aus, bricht die Einrichtung des Zusammenlebens und -handelns mittels dieses Wartens zusammen. So ein Kollaps kann dem kollektiven rhythmos Befreiung bescheren, wenn die Anerkennung des Zu-Spät die Differenz von Reaktion und Reflex unter den Beteiligten in Erscheinung treten lässt. So geschieht es, wie beschrieben, bei den Friseuren; so auch bei den Pianisten (wo die kritische Zäsur, durch die Mittagspause moderiert und den Videoschnitt unterstützt, ohne klare Peripetie, in Etappen vor sich geht). Die Töpfer andererseits peinigen einander, ohne dass ihr Versäumen von Chancen auf gute Zusammenarbeit jemals eine katastrophale Qualität annimmt. Die Dichter finden Zuflucht in der Vergangenheit, was es ihnen erspart, die Zukunftsbindung zu sprengen. Die Katastrophe kann eine angespannte Situation lösen, eine Gleichgültigkeit einführen, die den zeitweilig von Ängsten und Hoffnungen Befreiten mit der Gelassenheit Gleichheit schenkt.24 Obschon wir diesen Effekt in unscheinbaren, einem Aufatmen oder Lächeln innewohnenden Nanoversionen alltäglich erleben, steht das prominente Bild der Katastrophe im Zeichen dramatischer Zuspitzung. Je stärker sie als Ereignis hereinbricht, desto eher scheint die Wirkung einer Steigerung ins Katastrophale darin zu bestehen, denjenigen, die ihr ausgesetzt sind, eine Nähe aufzuzwingen. Von dieser Nähe wiederum wissen wir, dass sie in manchen Fällen das Helfende, Rettende an die Oberfläche der Gegenwart treibt, in anderen Verletzung und Vernichtung provoziert. Rebecca Solnit schildert in A Paradise Built in Hell die gute Seite der erzwungenen Nähe.25 Naturkatastrophen oder eskalierende Kriege zerstören nicht nur Infrastruktur, sie reißen auch die psychosozialen Trennwände zwischen den Menschen ein, die Leben im Nationalstaat hochzieht (Staatsbürger sein bedeutet ja, als Subjekt primär in einer

24 Davon erzählt die berühmte Passage in Kleists Das Erdbeben in Chili, wo der Zerstörung der alten Ordnung durch die Naturkatastrophe eine Zeitlang gelassenes, zerstreutes und in seiner lockeren, an Gelegenheiten orientierten Fügung wie selbstverständlich egalitäres Durch- und Nebeneinander folgt, ehe die Menschen ins Zentrum der Stadt zurückdrängen und sich dort in eine aggressive Panikmasse verwandeln. Vgl. van Eikels, Kai: „Politik der starken Abhängigkeiten. Kleists Stumpfheitslehre“, in: Kleist-Jahrbuch 2011, Stuttgart: Metzler, S. 110-133, bes. S. 130f. 25 Vgl. Solnit, Rebecca: A Paradise Built in Hell. The Extraordinary Communities That Arise In Disaster, London u.a.: Penguin 2010.

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Beziehung zur souveränen Obrigkeit zu stehen und erst indirekt, durch diese vermittelt, zu den übrigen Bürgern). Die Situation einer allseits sichtbaren, hinter keiner Mauer mehr versteckten Not aktiviert eventuell jenes selbstverständliche Einander-Helfen, das der Anthropologe und OccupyMitinitiator David Graeber „baseline communism“ genannt hat. 26 Da mit den Gebäuden, Transportsystemen, Schalt- und Überwachungszentralen auch das Gestell der Arbeitsteilung fällt, können die Menschen nicht länger in ihren Zuständigkeiten verharren, so dass ein elementares ethisches Moment des Verantwortung-Übernehmens auf die Szene des Sozialen zurückkehrt: Da ist jemand, der Hilfe braucht, und ich helfe halt, so gut ich kann, egal ob jemand anderes das von seinen Fähigkeiten, seiner Ausrüstung oder gesellschaftlichen Position her vielleicht besser könnte.27 Woanders wiederum kommt es zu Gewalteskalationen, sobald architektonische Abstandhalter wanken, Staatsmacht schwächelt. Menschen (journalistische Rhetorik spricht von „Horden“) fallen übereinander her, werfen Fenster ein, plündern Geschäfte, zünden Fahrzeuge an. So wild die Bewegungen sind und so frei die Wütenden sich fühlen mögen, geschieht, was geschieht, zwanghaft, wie in einem schematischen, aus Schablonen durchgepausten Rausch, und keiner sieht sich nachher imstande, Verantwortung für das eigene Handeln oder gar das der Menge zu übernehmen: Im kollektiven rhythmos war der Raum der Vielen, die durch ganze Viertel tobten, durchgehend eng, die Zeit atemlos, alternativlos. In noch anderen Situationen führt eine körperliche Nähe, die schützende Distanz und Bewegungsfreiheit zerdrückt, erst zur Katastrophe wie bei der Massenpanik, wo die Menschenmenge, mit den Worten Canettis, zu einem Feuer wird, das sich selbst austritt.28 Was macht den Unterschied aus? Wann hilft das Zusammen des Katastrophalen der Kooperation, wann blockiert es sie, verkehrt sie in Gewalt

26 Vgl. Graeber, David: Debt. The First 5.000 Years, New York: Melville House 2011, S. 97ff. 27 Bemerkenswerter Weise entwickeln die kulturphilosophischen Rechtfertigungen von Arbeitsteilung, bspw. Platon, diese ebenfalls aus der Vorstellung eines solchen Einander-Helfens. Vgl. van Eikels, Kai: „Sich entbehrlich machen: Subjektivität und Arbeitsteilung“, in: Andreas Gelhard/ Thomas Alkemeyer/Norbert Ricken (Hg.), Techniken der Subjektivierung, Paderborn: Fink 2013, S. 229246, bes. S. 232f. 28 Vgl. Canetti, Elias: Masse und Macht, Hildesheim: Claassen 1992 (1960), S. 26.

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gegen die Ordnung des verwalteten Zusammenlebens oder Gewalt gegen Leib und Leben? Mehrere andere Arbeiten Tanakas befassen sich mit Naturkatastrophen wie dem Erdbeben und Tsunami in Tohoku im März 2011 oder mit sogenannten riots wie im August desselben Jahres in London und weiteren britischen Städten. Dabei greift er in seinen Einlassungen die Katastrophe nicht in ihren Repräsentationen als spektakuläres Ereignis auf, wie wir sie als Publikum von Zeitungs- und Fernsehberichten vorgesetzt bekommen oder sie uns selber online aus Handyvideos zusammenbasteln. Auch diesbezüglich geht es ihm um die konkrete körperliche Wirklichkeit aus den Perspektiven der Betroffenen. In Tokyo, das vom Beben im Norden nur die Ausläufer mitbekam, wo aber mehrere Tage kaum Bahnen fuhren, erreichten einige Gestrandete auf langen Wanderungen durch die Stadt ihr Zuhause; viele übernachteten in Bürogebäuden und den Foyers von Hotels, ein erzwungenes Beisammensein, dem Tanaka in einem Reenactment auf die Spur zu kommen suchte. Das Geschehen in London erforschte eine Videoaktion von dem Moment her, da die Leute, die für Polizei und offizielle Berichterstattung die gewalttätige Masse ergaben, sich wieder zerstreuten. Tanaka bat Londoner, ihren Heimweg am Abend des 6. Augusts zu rekonstruieren, und ließ einen Kameramann diesen Weg mitgehen und filmen. Die etablierte, von den ‚Massenmedien‘ bislang stets zuverlässig bediente Vorstellung von einer Dramaturgie der Katastrophe fokussiert uns auf die Phase, während der eine Menge von Menschen die größte räumliche und zeitliche Dichte erreicht. Der conventional wisdom macht weis, dass wir da, wo wir uns am engsten beieinander bewegen, auch am meisten kollektiv sind, und diese Annahme liefert Argumente, um durch das Brennglas des Ausnahmezustands eine essenzielle Wahrheit des Menschen zu erblicken: Der Mensch ist in Wahrheit ein herzensgutes hilfsbereites, solidarisches Wesen; der Mensch ist in Wahrheit ein wildes Tier, das, von Ordnungsmacht knapp abgehalten, darauf lauert, seinen Artgenossen an die Kehle zu springen. Tanaka entzieht sich diesen Generalisierungen, wenn er an Katastrophen dieselben Fragen heranträgt wie an Zusammenarbeit. Die naturbedingte oder sozial erzeugte Verengung des Katastrophenzustands korrespondiert in seiner Art, das Thema zu behandeln, sehr direkt der kalkulierten Verengung des Zusammen bei der simple cooperation zu (zu) Vielen. Die Aufstellung der Monitore in A Vulnerable Narrator erlaubte, vom selben Sofa aus Videos beider Serien zu betrachten. Wer das tat, er-

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fuhr etwas über die kleinen, manchmal entscheidenden Weitungen, die Interagieren der Enge entwindet. „Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Rettende auch“, heißt es bei Hölderlin. Wo aber Enge herrscht, finden Körper den Raum und die Zeit ihrer Freiheit, ließe sich aus der Erfahrung mit Koki Tanakas Arbeiten weiterdichten. Die nächste Strophe müsste dann klären, wie die Körper darin besser werden.

Abbildung 6: Koki Tanaka, Precarious Tasks #8: Going home could not be daily routine, June 2014; Kollektive Handlungen, Videodokumentation (25 min, 20 sec; 9 min, 22 sec; 27 min, 46 sec; 46 min, 35 sec; 7 min, 22 sec). Ort: The suburbs of London. Kurator: Matt Williams. In Auftrag gegeben durch das Institute of Contemporary Arts, London. Teilnehmer*innen: Dominique Dunne, Mala Naiker, Shona Phillips, and Steven Cummings.

L ITERATUR Benveniste, Émile: Probleme der allgemeinen Sprachwissenschaft, München: List 1974. Bormann, Hans-Friedrich: „‚Improv is still rubbish.‘ Strategien und Aporien der Improvisation“, in: in: Gabriele Brandstetter/Bettina Brandl-

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Risi/Kai van Eikels (Hg.), Schwarm(E)Motion: Bewegung zwischen Affekt und Masse, Freiburg i.B.: Rombach Verlag 2007, S. 125-146. Brandstetter, Gabriele/Brandl-Risi, Bettina/van Eikels, Kai (Hg.): Schwarm(E)Motion. Bewegung zwischen Affekt und Masse, Freiburg i.B.: Rombach 2007. Brandstetter, Gabriele/Brandl-Risi, Bettina/Eikels, Kai van: „Übertragungen. Eine Einleitung“, in: dies. (Hg.), Schwarm(E)Motion (2007), S. 761. Canetti, Elias: Masse und Macht, Hildesheim: Claassen 1992 (1960). Diederichsen, Diederich: Über Pop-Musik, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2014. van Eikels, Kai: „Politik der starken Abhängigkeiten. Kleists Stumpfheitslehre“, in: Kleist-Jahrbuch 2011, Stuttgart: Metzler, S. 110-133. van Eikels, Kai: Die Kunst des Kollektiven. Performance zwischen Theater, Politik und Sozio-Ökonomie, Paderborn: Fink 2013. van Eikels, Kai: „Sich entbehrlich machen: Subjektivität und Arbeitsteilung“, in: Andreas Gelhard/Thomas Alkemeyer/ Norbert Ricken (Hg.), Techniken der Subjektivierung, Paderborn: Fink 2013, S. 229-246. Elias, Norbert: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1976. Empell, Michel: „Vom Recht zur Ökonomie. ‚Konkurrenz‘ im römischen Recht, in der Schule von Salamanca und bei den französischen Physiokraten“, in: Thomas Kirchhoff (Hg.), Konkurrenz. Historische, strukturelle und normative Perspektiven, Bielefeld: transcript 2015, S. 37-62. Graeber, David: Debt. The First 5.000 Years, New York: Melville House 2011. Ingold, Tim: The Life of Lines, London/New York: Routledge 2015. Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft. Lemke, Thomas: „Die Ungleichheit ist für alle gleich – Michel Foucaults Analyse der neoliberalen Gouvernementalität“, in: 1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts, 16:2 (2001), S. 99-115. Matthias, Sebastian: Gefühlter Groove: Kollektivität zwischen Dancefloor und Bühne, Bielefeld: transcript 2018. Massumi, Brian: Parables for the Virtual. Movement, Affect, Sensation, Durham NC: Duke University Press 2002. Mill, John Stuart: The Principles of Political Economy, http://ebooks.ade laide.edu.au/m/mill/john_stuart/m645p/book1.8.html.

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Von/Vom Spinnen Zur transversalen Praxis von Tomás Saraceno M AXIMILIAN L INSENMEIER

Es beginnt mit dem Spinnen1. Im Hier dieses zur Beziehung begabten Körpers entsteht die Möglichkeit einer Passage zum unbestimmten, ungewussten Noch-Nicht eines Dort. Synthesen bilden gefaserte Bündel, stoffliche Mittel einer eröffnenden Exposition. Der Faden, die sich materialisierende Fort-Setzung und Sekretion des Körpers, sendet sich aus, überantwortet diese neu gewonnene Sensibilität den willkürlichen Differentialen eines luftigen Mediums. In der sensorischen Matrix des Fadens verfangen sich Intensitäten als Vibrationen, bilden Frequenzmuster und Empfindungseindrücke: ein ganzes Signal-Universum. An einem bestimmten Punkt und über ihn verändert sich der Rhythmus der Schwingungen und eine beständige Spannung tritt an die Stelle des allzu Variablen. Auf Dauer gesetzt vermittelt das Muster der Vibration den hergestellten Kontakt, das erste Ankommen eines bestimmteren Dort im Hier. Die Fragilität der einfachen ersten Linie vom Hier zum Dort wird zur Brücke einer sich verzwei1

Die einleitenden Passagen basieren auf der spezifischen Netzbau-Praxis etlicher Spinnenarten (z.B. der Radnetzspinne), die zu Beginn einen Flugfaden aussenden, der, sobald er in Kontakt mit der Oberfläche bspw. eines Astes tritt, zum Brückenfaden ausgebaut wird und als Basis der weiteren Konstruktion des Netzes dient (vgl. https://conservation.unibas.ch/team/zschokke/webconstruction. php?lang=de vom 19.02.2018). Dieser Prozess der Netzherstellung findet sich als serielle Skizze auch in Ackermann, Marion/Birnbaum, Daniel/Kittelmann, Udo/Obrist, Hans-Ulrich (Hg.), Cloud Cities: Tomás Saraceno, Berlin: Distanz Verlag 2011, S. 104f.

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genden komplexen Struktur. Das Weiter-Spinnen erfordert die Bewegung des Körpers und ihr differenzierendes Differieren: Zug um Zug vervielfachen sich die Querungen und Knoten, die Anknüpfungspunkte und Pfade. Ununterscheidbar in ihrer gegenseitigen Voraussetzung lassen das bewegte Spinnen und die spinnende Bewegung, die sich verzweigende relationale Topologie eines existentiellen Milieus erstehen. Das Produzieren des Netzes produziert im gleichen Zuge den Produzierenden und den Prozess der Produktion. „I am my walking, and my walking walks me.“ 2 Das Netz gibt es nur als distribuiertes, verzeitlichtes Gefüge. Seine kompositorische Realität ist geformt durch jene relationale Dynamik von Prozess und Operation, in der sich intrikate Verbindungen von Materialität, Sensibilität, Kräften und Potentialen ereignen. Entlang der Trajektorien des Netzes formen sich die Welten. Spinnen: eine Praxis des Welten-Machens.

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Die schwarzen Linien, sie scheinen im Weiß des Ausstellungsraums zu schweben, es zu durchschneiden und aufzuteilen. Vom Boden, von den Wänden, von der Decke spannen sich die Geraden der Fäden, durchkreuzen sich, verknüpfen sich und bilden in ihren Interferenzen Knotenpunkte, die sich zu sphären- oder zellenartigen Formen verdichten. Was der argentinische Künstler und Architekt Tomás Saraceno mit Galaxies Forming along Filaments, like Droplets along the Strands of a Spider’s Web – so der Titel der Installation, die u. a. 2009 im Rahmen der 53. Biennale von Venedig (Making Worlds) zu sehen war – präsentiert, ist ein puristisches NetzWerk, gesponnen und aufgespannt aus elastischen Schnüren und Verbindungselementen. Man könnte es auch eine relationale Form nennen, besteht seine strukturelle Integrität doch in nichts weiter als der spannungshaften

2

Ingold, Tim: The Life of Lines, New York: Routledge 2015, S. 141. Diese performative Dynamik von Produktion, Transformation und Selbst-Konstitution, von Tun und Werden, bezeichnet Karl Marx als den Prozess der Arbeit (vgl. Marx, Karl: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie – Erster Band, Berlin: Dietz Verlag 1962, S. 192). Den Spinnen, wie allen anderen Tieren, wollte Marx den Status des Arbeiters jedoch selbst nicht zugestehen (Vgl. ebd., S. 193).

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Wechselwirkung von vektorialen Kräften und Spannungstensoren, die – vermittelt über die elastischen Fäden – als ein Gefüge von Beziehungen einen metastabilen Zustand ermöglichen. Was sich so zu vergegenständlichen scheint, ist das raumgreifende Bild eines Netzes. In einem kurzen Aufsatz3 widmet sich Bruno Latour eben dieser Netzstruktur von Galaxies Forming Along Filaments und sieht darin – wenig überraschend – die zum Perzept4 gewordenen konzeptuellen Prämissen jener Akteur-Netzwerk-Theorie, deren mitverantwortlicher Ko-konstrukteur er ist. Was die Installation als ästhetische Form expliziert, so Latour, sind „the material and artificial conditions for existence.“5 Wie für die ANT die mannigfachen Beziehungen, die Konnexionen, Assoziationen und Übersetzungen gegenüber jeglicher fixen Institution oder objektivierten Gegebenheit – bspw. dem Sozialen als Identitätskategorie – absolut primär sind6, das Relationale der Substanz also ontologisch vorhergeht und das Kollektiv erst noch zusammengesetzt werden muss, so sind auch die vernetzten Kraftlinien der Installation Bedingung der Existenz der sphärischen Formen. Was in der Installation erscheint und ästhetisch vermittelt denkbar wird, so Latour, ist die Möglichkeit, differente Dimensionen – z.B. das Lokale gegen das Globale, Mikro gegen Makro, die „anämische“7 strukturelle Teil-Verbindung gegen das komplexe ausgeprägte Ökosystem – nicht

3

Latour, Bruno: „Some Experiments in Art and Politics“, in: Marion Ackermann/ Daniel Birnbaum/Udo Kittelmann/Hans Ulrich Obrist (Hg.), Cloud Cities: Tomás Saraceno, Berlin: Distanz Verlag 2011, S. 229-233.

4

Mit dem Begriff des Perzepts verweist Latour auf jenes von Gilles Deleuze und Félix Guattari entwickelte Verständnis des Kunstwerks als einem durch Perzepte und

Affekte zusammengesetzten Empfindungsblock (vgl.

Deleuze,

Gilles/Guattari, Félix: Was ist Philosophie?, Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag 1996, S. 191ff.). 5

B. Latour: „Some Experiments in Art and Politics“, S. 229.

6

Zur theoretischen Grundlage der Akteur-Netzwerk-Theorie s. Latour, Bruno: Wir sind nie modern gewesen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008 und Latour, Bruno: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2010, sowie in methodischer Hinsicht auch Law, John: After Method: Mess in Social Science Research, London/New York: Routledge 2004.

7

Vgl. B. Latour: „Some Experiments in Art and Politics“, S. 229.

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als absolut unterschiedliche Gegensätze zu konzeptualisieren, sondern als graduelle, kontinuierliche, immanente Übergänge. „What Saraceno’s work of art and engineering reveals is that multiplying the connections and assembling them closely enough will shift slowly from a network [...] to a sphere [...].“8

Wie plausibel und legitim diese Auslegung der Arbeit ist, ist hier weniger von Belang, die Art und Weise der Beziehung zu ihr, die sich in dieser Lektüre ausdrückt, jedoch sehr wohl. Denn, so ließe sich sagen, was Latour hier gerade entgegen jenem beschreibenden, explorativen Ethos der ANT eben nicht unternimmt, ist den Akteuren zu folgen. 9 Nicht, weil sie in irgendeiner Weise falsch ist, sondern weil sie allzu schnell ans Ende gelangt und darüber „die Netze kappt“, ist diese theoretische Rückvergewisserung im Ästhetischen im Bezug zur Praxis von Saraceno ungenügend. Zumal Latours Deutung auch zumindest in Teilen – und eben entgegen jener ANT-Konzeption, die in Netzen gerade nicht „ein Ding da draußen, das im groben die Gestalt miteinander verbundener Punkte hätte, wie etwa ein Telefon-, Autobahn- oder Kanalisationsnetz“10 sieht – einer solchen Vorstellung von Netzen als verallgemeinertem Strukturbild von Relationalität folgt. Zwar spielt die Struktur des Netzes in Saracenos Arbeiten eine wichtige Rolle. So hat Michael Lüthy aufgezeigt 11, dass die Figur des Netzes

8

Ebd.

9

„Den Akteuren zu folgen“ ist der Ratschlag, den Latour einen professoralen Stellvertreter in sokratischer Manier einem Studenten geben lässt: „Das beste, was ANT für Sie tun kann, ist, daß Sie sich beispielsweise sagen: ‚Wenn meine Informanten in einem einzigen Satz Organisation, Hardware, Psychologie und Politik mischen, gehe nicht hin und brich es erst einmal herunter in klare kleine Pakete; versuche der Verbindung zu folgen, die die Akteure zwischen diesen Elementen herstellen, auch wenn sie dir vollkommen inkommensurabel erschienen wäre, wenn du dich an die üblichen Verfahren gehalten hättest.‘“ (B. Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft, S. 245).

10 Ebd., S. 224. 11 Vgl. Lüthy, Michael: „Paradigmenwechsel wohin? Artistic Research bei Tomás Saraceno und Robert Smithson“, in: Andrea Sakoparnig/Jürgen Bohm/Andreas

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eine operative Bildhaftigkeit in Bewegung versetzt. Dem Netz als präsente, ausgestellte Form wohne das Vermögen inne, „unter einer bestimmten Perspektive zum Bild von etwas anderem zu werden.“12 So mag das Netz zugleich z. B. als Ausdruck der sozialen Relationalität des Menschen, als Form ökologischer Systeme oder der Struktur des Universums erscheinen. 13 Oder eben auch als ästhetisches Modell einer Theorie des Sozialen, wie in Latours Interpretation der Installation, denn Saracenos Netz-Werk sei eben das: „[A] great [...] metaphor for social theory“. 14 Auf die problematische Seite einer solchen „pervasive mimesis“15 des Netzes als Bild struktureller Konnektivität aber hat Anna Munster in ihrer Studie An Aesthesia of Networks hingewiesen. Denn der gegenwärtig ubiquitär eingesetzten Fähigkeit des Netz-Bildes, Heterogenes wie Terror-Organisationen, Finanzmarktprozesse oder neuronale Beziehungen zugleich darzustellen, unterliegt ein uniformes und homogenisierendes Modell von Relationalität, welches das Relationale zu einer Idee allgemeiner und unbegrenzter Kommensurabilität in Form einer Link-Knoten-Struktur vergegenständlicht.16 Eine Repräsentation von Konnektivität als metrischer Raum ersetzt das heterogene Wirken des Relationalen. Für Munster resultiert aus dieser Analyse ein notwendig veränderter theoretischer wie methodischer Bezug zu Netzen, der seinen Ausgang nicht in ihrer formellen Qualität findet, sondern von dieser absieht:

Wolfsteiner (Hg.), Paradigmenwechsel. Wandel in den Künsten und Wissenschaften, Berlin: De Gruyter 2014, S. 223-245. 12 Ebd., S. 231. 13 Vgl. ebd., S. 230. 14 B. Latour: „Some Experiments in Art and Politics“, S. 229. 15 Munster, Anna: An Aesthesia of Networks: Conjunctive Experience in Art and Technology, Cambridge: The MIT Press 2013, S. 3. Sicherlich besitzen diese Netz-Bilder eine eigene performative Repräsentationalität, schaffen sie doch ein Bild von Intelligibilität, welches die Unübersichtlichkeit der raum-zeitlichen Genese in die synchrone Ordnung einer Darstellung überführt. Oder anders: Was die Netz-Bilder versprechen ist die Darstellbarkeit einer Welt, die in ihrer Unübersichtlichkeit als Bedrohung erscheint. 16 So schreibt Munster: „The very sameness of this rendering, operating across all and any network, creates the idea of the network as infinitely transposable, in spite of what might be specifically visualized.“ (ebd., S. 2).

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„Instead of simply seeing networks everywhere, perhaps we should look, think, and sense more thoroughly the patchiness of the network field. We need to immerse ourselves in the particularities of network forces and the ways in which these give rise to the form and deformation of conjunctions – the closures and openings of relations to one another.“17

Die über strukturelle Ähnlichkeitsverhältnisse gewirkten Netze sind sicherlich eine Weise, in der sich Saracenos Praxis manifestiert. Auch weitere, im Folgenden beschriebene Arbeiten wie 14 Billions oder In Orbit mögen wie Netze aussehen, Saracenos ästhetische Praxis ist aber nicht auf ihre formelle Gestaltung zu reduzieren. Sie besitzt eine eigene netzartige Modalität, wie die Kuratorin Sara Arrhenius herausstellt: „His working process is not amenable to being described in individual works, but more as a mobile cluster of ideas that permits itself to be materialized point by point in sculptures, installations, photographs, films, encounters, dialogues and collaborations.“18

Schnell multipliziert sich das Netz aus Galaxies Forming Along Filaments zu einem Ensemble aus konzeptuellen und diskursiven Formen, Materialund Konstruktionsstudien und kollaborativen Arrangements. Die Fasern dieses kompositorischen Netzes der Praxis sind gebildet aus Übertragungen, Übersetzungen und Verdichtungen, einem dichten Gewebe aus Mediationen und Materialisierungen, die ein sehr heterogenes Ensemble aus Akteuren, Techniken, Wissensformen und Konzepten, aus Menschlichem und Nicht-Menschlichem zusammenführen und an einer komplexen Ökologie von Praktiken und Milieus partizipieren. Ästhetische Praxis erweist sich dabei als eine vielgestaltige ko-kompositorische Praxis, die weder ausschließlich mit dem Sinnlichen und dessen Gestaltung zusammenfällt noch in einem konkreten Objekt fixiert werden kann. Die „Rückführung“ des Objekts auf sein ontogenetisches Feld der Herstellung erlaubt, den Prozess einer komplexen Realisierung und Vermittlung als heterogene Mediation und Mediation des Heterogenen zu erfassen. Diesem Prozess zu

17 Ebd., S. 3. 18 Sara Arrhenius zitiert nach: http://tomassaraceno.com/projects/14-billions/ vom 19.02.2018.

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folgen, lässt auch jene nicht-menschlichen Wesen und ihren kokonstitutiven Anteil an der Praxis berücksichtigen, die im gefügten Wahrnehmungsobjekt des Netzes selbst unwahrnehmbar sind und auch Latour entgehen: die Spinnen. Sie sind zentral für Saracenos ästhetische Praxis. Weder sind sie bloßes Objekt der Darstellung oder motivisches Zeichen – vielmehr ließen sich Spinnen als Saracenos „Fürsprecher“ bezeichnen. Mit diesem Namen belegt Gilles Deleuze all jene Personen, Dinge und Ideen, die es vermögen, einen schöpfenden Prozess als Etablierung einer „Serie von Operationen“19 zu initiieren. Ein Fürsprecher ist somit strukturelle Bedingung der Ausdrucksbewegung, die erst in dieser Beziehung möglich wird. Denn ohne die Serie sei man verloren, so Deleuze. Worauf dieser mit dem Konzept des Fürsprechers verweist, ist die notwendige Multiplizität als Grund des Prozesses der Hervorbringung. „Man arbeitet immer zu mehreren, auch wenn das nicht sichtbar ist.“20 Als Möglichkeitsbedingung der kreativen Hervorbringung ist der Fürsprecher Mediator 21. Es sind die Spinnen und ihr Spinnen, die/das als Mediatoren die Serien an Operationen und das transversale Feld der ko-kompositorischen Praxis von Saraceno mit hervorbringen.22

19 Deleuze, Gilles: Unterhandlungen 1972 – 1990, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1993, S. 182f. 20 Ebd., S. 181. 21 Anders als die deutsche, wortgetreue Übersetzung des französischen ‚intercesseur‘, entscheidet sich die englische Übersetzung für eine semantische Rekodierung, indem sie ‚intercesseur‘ mit ‚mediator‘ wiedergibt (vgl. Deleuze, Gilles: „Mediators“, in: ders., Negotiations: 1972-1990, New York: Columbia University Press 1995. S. 121-134). 22 Man kann den transversalen Charakter dieser Praxis auch in einen kunstgeschichtlichen Zusammenhang bringen, der auch Saracenos architektonischen Hintergrund in einem neuen Licht erscheinen lässt. Im Zuge seiner Analyse der raum-zeitlichen Bedingungen und Konfigurationen zeitgenössischer Kunst, stellt Peter Osborne die Frage, über welche „mediating practices“ sich neue Formen sozialer Räume in das Feld zeitgenössischer Kunst eingeschrieben und darüber zu neuen Artikulationsmöglichkeiten der Kunst selbst geführt haben (vgl. Osborne, Peter: Anywhere or not at all. Philosophy of Contemporary Art, London/New York: Verso 2013, S. 134). Neben der Textualisierung und der Transnationalisierung bestimmt Osborne die Architekturalisierung (architectur-

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S ELEKTIEREN , B EIWOHNEN , P ROZESSIEREN , Ü BERTRAGEN . D AS S PINNEN DER P RAXIS Wer und was wird wie mobilisiert, um die Frage zu beantworten, wie ein Spinnennetz zu rekonstruieren ist? Diese Frage beantwortet sich in einer dichten Beschreibung und nachvollziehenden Sichtbarmachung jener Kette an Vermittlungsoperationen, die in ihrer Verschränkung den rekonstruktiven Prozess einer Arbeit Saracenos ermöglichen. Für die Biennale von Venedig wollte Saraceno ein Spinnennetz in seiner proportionalen Gänze detailgetreu nachbauen und reskaliert in den Ausstellungsraum einpassen. Nicht eine einfache strukturelle Ähnlichkeit – ein einfaches Aussehen wie ein Spinnennetz – ist die ästhetische Prämisse des Projekts, sondern eine absolute Entsprechung hinsichtlich der formellen Beschaffenheit des zu rekonstruierenden Netzes. Als „enabling constraint“ informiert diese Setzung den weiteren kompositorischen Prozess der Hervorbringung; nicht über eine determinierende Geste, die zu Beginn schon weiß, was sie am Ende finden wird, sondern als formative Modulation der

alization) als denjenigen experimentellen Übersetzungsmodus, der in seiner Aneignung von Architektur in ihrer praktischen wie konzeptuellen Form als Modell der Kunst zu einer Transformation und Expansion ihres Produktionsund Aktualisierungsraums führte: „It is to be found, I think, in the way in which their respective experimental relations to architecture led to a fluid multiplicity of forms of materializations of works that produces a form of artistic spatiality beyond, yet nonetheless still tied to, ‚objects‘: a spatiality defined by relations between practices, materials and forms – an ‚ideal‘ space in relation to which the multiplication of materializations of an individual art-idea is in principle unlimited.“ (Ebd., S. 142f.). Architekturalisierung meint dementsprechend nicht einfach eine Aufnahme einer neuen räumlich verfassten Formensprache in bereits bestehende Praktiken, sondern sie markiert einen wesentlichen Moment in der Veränderung der Ontologie des Kunstwerks bzw. der ästhetischen Praxis. Architektur, innerhalb künstlerischer Praktiken und Diskurse seit den 1960er Jahren, funktioniert als Mittel der Problematisierung des Status und des Ortes der Kunst selbst, die ihre Autonomie für eine Partizipation an einer umfassenderen Sphäre sozialer Produktion eintauscht (Vgl. ebd., S. 141).

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Bedingungen des Prozesses selbst.23 Denn was so in dieser Forderung nach einem „genau wie“ der Rekonstruktion an den Anfang gestellt wird, ist das konstituierende Problem der Übersetzung: von Skalen, Materialitäten, Techniken und Wissensformen, von Räume in andere Räume, Relationen in andere Relationen. Welche Spinne spinnt ein Netz, das das dreidimensionale Volumen genügend auszufüllen vermag, also dem ideellen Bild der zu verwirklichenden Arbeit am besten entspricht? Wer weiß etwas darüber? Wie die strukturelle Komplexität dieses Netzes erfassen? Welche technischen Abtastungsdispositive hierfür benutzen? Das Netz der Praxis entsteht als problematische Struktur. Eine erste Linie führt zum Feld der Arachnologie und Peter Jäger als einem ihrer Vertreter, mit dem Saraceno zu Beginn des Projekts in Kontakt tritt. Jäger – Leiter und Kurator der am Senckenberg Museum in Frankfurt beheimateten größten arachnologischen Sammlung Deutschlands – und mit ihm der durch eine klassifikatorische Systematik gebildete „taxinomische Raum der Sichtbarkeit“24 der Arachnologie erst ermöglicht die kriteriengeleitete Operation einer Aussonderung. Jagende Spinnen scheiden aus, da sie kein Fangnetz produzieren, ebenso all jene Spinnen, die nur zweidimensionale Netze bauen. Es sind die Schwarze Witwe, eine Große Zitterspinne und eine Baldachinspinne, welche aus den weltweit bekannten 43.000 Spinnenarten auf Grund der Beschaffenheit ihrer Netze – eine komplexe dreidimensionale Form mit starken Fäden – ausgewählt werden.25 Platziert im artifiziellen Habitat eines mit Löchern versehenen, aus Acrylglas bestehenden Miniatur-Modells des Ausstellungsraums sollen die

23 Zu enabling constraints als techniques of existence s. Massumi, Brian: Semblance and event: activist philosophy and the occurent arts, Cambridge/London: The MIT Press 2011, insb. S. 102 und S. 149. 24 Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1974, insb. S. 165-210, hier S. 179. 25 In einem gemeinsamen Artikel beschreiben Tomás Saraceno und Peter Jäger den kooperativen Prozess der Realisierung des Projekts. Auf diesen wird für die Beschreibungen Bezug genommen. Vgl. Saraceno, Tomás/Jäger, Peter: „Unser Kosmos ist (fast) wie ein Spinnennetz“, in: Senckenberg – natur – forschung – museum 142:5/6 (2012), S. 220-227. Vgl. hierzu auch Saracenos Äußerungen in Malone, Meredith/Marjanovic, Igor (Hg.), Tomás Saraceno: Cloud Specific, St. Louis: Mildred Lane Kemper Art Museum 2014, S. 126.

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Vertreter*innen ihrer Arten nun Netze wirken. Die Konfrontation mit dieser kartesischen Abstraktion eines Raumes als Box quittieren die Spinnen zunächst durch Inaktivität. Nach einer Woche haben sie immer noch nicht mit dem Netzbau begonnen.26 Nichts von ihrer „grundlegenden“ Rolle innerhalb eines kompositorischen Prozesses wissend, ist ihre Inaktivität doch zugleich Ausdruck einer nicht-menschlichen Handlungsmacht, die sich hier in der negativen Form einer Unproduktivität geltend macht und eben jenen Prozess als Problem differenziert. Was ist zu tun, welche Parameter sind wie zu modifizieren, um die Spinnen zum Bau zu bewegen? Es ist dies ein entscheidender Moment innerhalb des kompositorischen Prozesses, insofern die Spinnen durch ihre „aktive“ Passivität einen Wechsel in der, dem Setting zugrundeliegenden Beziehungsmodalität bewirkt. Waren die Spinnen zuvor sozusagen als objektivierter Produktionsmechanismus begriffen, dessen Funktion das Spinnen ist, so erscheinen sie nun als Wesen, deren Sein und Tun zumindest kurzfristig jede Selbstverständlichkeit verloren hat. In ihrem Nicht-Kooperieren lassen sie eine Ignoranz erkennbar werden, die ein (nicht-)relationales Element der ästhetischen Praxis darstellte und diese informierte; eine Ignoranz gegenüber den spezifischen affektiven und perzeptiven Weisen des In-der-Welt-Seins und Welten-Machens der Spinnen. Die Spinnen transformieren darin zugleich die Voraussetzungen der Praxis, insofern sie ein Interesse und eine Sensibilität für ihre arachnoide Welt einfordert. Was benötigt eine Baldachinspinne oder eine Schwarze Witwe für die Entfaltung ihrer existentiellen Kreativität, was an den gegebenen Bedingungen unterbindet diese? Die Antworten auf diese Fragen mögen sich als relativ einfache Veränderungen der Umweltbedingungen darstellen, schlussendlich führte die Modifikation der Wandbeschaffenheit durch Sprühkleber und die Versorgung mit lebenden Fliegen dazu, dass die Spinnen mit der Netzproduktion begannen. Diese Antworten, die aus der Situation in experimenteller Weise gewonnen wurden, mögen bedeutsam sein, insofern sie zu dem zu rekonstruierenden Vorbild des Netzes führen, die Fragen an sich sind jedoch mindestens ebenso entscheidend, markieren sie doch eine Form der Aufmerksamkeit, die zugleich Bedingung und Ergebnis dieser Begegnung mit den Spinnen ist. Anders formuliert bringt die ästhetische Praxis hier nicht alleine ein

26 Vgl. T. Saraceno/P. Jäger: „Unser Kosmos ist (fast) wie ein Spinnennetz“, S. 223.

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Netz hervor, sondern zugleich eine neue Sensitivität gegenüber nichtmenschlichen Anderen, die auch das Verständnis von ästhetischer Produktion selbst verändert. Wie Tim Ingold formuliert: „Production, in such an ecology of correspondence, is about attending to the trajectories of these non-human lives.“27 Die Idee einer Ökologie der Korrespondenz wird im Bezug zu einer anderen Arbeit von Saraceno (In Orbit) abermals aufgegriffen, zuvor sollen jedoch weitere Schritte in der Rekonstruktion des Netzes dargestellt werden. Die materielle Beschaffenheit der entstandenen Spinnennetze mit ihren teilweise nur 0,0004 Millimeter dicken Fäden moduliert den ProblemRaum des Netzes der Praxis erneut, indem sie die Frage nach dem technischen Wie der Vermittlung stellen. Welche apparative Vorrichtung vermag die feinen, zwischen aufblitzender Sichtbarkeit und reflexloser Unsichtbarkeit gespannten topologischen Kreuzungen zu erfassen und die Proteinfasern als Daten-Artefakt zu rematerialisieren? Das bildgebende Verfahren der Photogrammetrie scheint als einziges geeignet zu sein. Diese entstand gleichzeitig mit dem Aufkommen der Photographie Mitte des 19. Jahrhunderts.28 Das auf fotografischen Aufnahmen beruhende Verfahren zur Messung und Abbildung der Eigenschaften, Formen und Lagen von Objekten wird bspw. zur Herstellung topographischer Karten eingesetzt. Dabei werden die Ortskoordinaten von Objektpunkten im dreidimensionalen Raum in Bildkoordinaten übertragen bzw. umgewandelt, d.h. durch Prozesse der Abstimmung, Ausrichtung, Koordination und Berechnung von Objekt, Kamera, Maßstäben hergestellt und ein Objekt in ein geometrisches Verhältnis übersetzt. Eingespannt in eine Apparatur aus Kameras, Rechnern, aus präzisen Abständen, Maßstäben und Ausrichtungen29 wird das Netz durch Laserlicht beleuchtet, die punktuellen Reflexionen als Konfiguration von Ortskoordinaten von Objektpunkten im dreidimensionalen Raum erfasst und als geometrisches Bildkoordinatenverhältnis rekodiert. Mathematische Extrapolationen vervollständigen rechnend die nicht erfassten Punkte

27 T. Ingold: The Life Of Lines, S. 155. 28 Ihr Namensgeber war der deutsche Architekt Albrecht Meydenbauer, der 1885 die Königlich Preußische Messbild-Anstalt gründete (vgl. http://www.spektrum. de/lexikon/geowissenschaften/photogrammetrie/12220 vom 19.02.2018). 29 Zum genauen Aufbau und Verfahren vgl. http://tomassaraceno.com/projects/3dspider-web-scan/ und http://tomassaraceno.com/projects/14-billions/.

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und Abstände. Dies bedeutet nun nicht einfach eine Reduktion lebendiger Beziehungen auf die tote Abstraktion zähl- und berechenbarer Metrik und auch nicht die Tatsache einer einfachen Abbildung. Vielmehr wird das Netz (abermals) als artefaktizistische30 Tat-Sache rekonstruiert und ermöglicht in seinem transformierten Modus wiederum eine Fortführung des Spinnens. In einer sogenannten orthographischen Projektion wird das dreidimensionale, digitalisierte Netz auf die zweidimensionalen Flächen von Boden, Wänden und Decke eines Modells des Ausstellungsraums projiziert, Befestigungs- und Knotenpunkte bestimmt und darüber schwarze Polyesterschnüre in zeitintensiver31 Arbeit gezogen, um schließlich als 14 Billions in der Bonniers Konsthall in Stockholm ausgestellt zu werden. 32 In dieser vergegenständlichten Netzform verweist es doch zugleich auf jenen netzartigen experimentellen Problem-Raum, innerhalb dessen und von dem aus sich die synthetisierenden, prozessierenden, handwerklichen, technischen und epistemischen Mediationen und (Re-)Materialisierungen als eine experimentelle „Ökologie der Praktiken“33 verspinnen. Für die Philosophin Isabelle Stengers, die dieses Konzept gerade als widerspenstige Reaktion auf die nivellierenden Zerstörungen des globalen Kapitalismus entwickelte, die sich gleichermaßen auf die terrestrische Biodiversität wie auf die Vielfalt an Praktiken als Bezugswelten der Zugehörigkeit, des Tuns und des Wissens erstrecken, bedeutet Ökologie der Praktiken ein Nachdenken über die Existenzgrundlagen und -milieus von Praktiken in ihrer Beziehungshaftigkeit. Wie zugleich die unhintergehbare Singularität einer

30 Zum Konzept des Artefaktizismus s. Haraway, Donna: „Monströse Versprechen. Eine Erneuerungspolitik für un/an/geeignete Andere“, in: dies., Monströse Versprechen. Die Gender- und Technologie-Essays, Hamburg: Argument Verlag 1995, S. 11-80, S. 11ff. 31 Peter Jäger bemerkt hierzu: „Was die Spinne in einer Nacht geschafft hat, daran haben 40 Menschen in unterschiedlichen Bereichen über einen Zeitraum von zwei Jahren arbeiten müssen.“ (T. Saraceno,/P. Jäger: „Unser Kosmos ist (fast) wie ein Spinnennetz“, S. 226). 32 Der komplexe Rekonstruktionsprozess führte dazu, dass die Arbeit nicht wie ursprünglich geplant im Rahmen der Biennale von Venedig gezeigt werden konnte. 33 Vgl. Stengers, Isabelle: „Introductory notes on an ecology of practices“, in: Cultural Studies Review 11/1 (2005), S. 183–196.

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jeglichen Praxis anerkennen ohne zugleich in einem konservativen und konservierenden Gestus eine unzeitliche Identität zu proklamieren; wie eine Verbindung von divergenten Praktiken herstellen, ohne die eine auf die andere zu reduzieren oder beiden eine transzendente, externe Allgemeinheit überstülpen? Für Stengers sind dies pragmatische Fragen der Zugehörigkeit wie des Förderns und Nährens (fostering): „The problem for each practice is how to foster its own force, make present what causes practitioners to think and feel and act. But it is a problem which may also produce an experimental togetherness among practices, a dynamic of pragmatic learning of what works and how. This is the kind of active, fostering ,milieu‘ that practices need in order to be able to answer challenges and experiment changes, that is, to unfold their own force.“34

Es ist die ko-kompositorische Verbindung zu Spinnen und ihren netzartigen Lebensräumen, die sich durch das mimetische Begehren und pragmatische Problem der Rekonstruktion herstellt, die eine solche „experimental togetherness among practices“ hervorbringt; die Spinnen und ihre Netze sind keine bloßen Metaphern oder Bilder einer Relationalität, sondern konstitutive Mediatoren dieser heterogenen Komposition von u. a. Kunst, Technologie, Organischem und Digitalem. Als solche ermöglichen sie auch noch weitere Verbindungen im Netz der Praxis. So stellte Saraceno mit verschiedenen Wissenschaftler*innen einen Antrag bei der NASA zur Erforschung der Netzbauaktivität von Spinnen in der Schwerelosigkeit. 35 Der dokumentierte Antrag war – zusammen mit einigen Spinnen und ihrer gesponnenen Netze – im Kontext der im Museum K21 in Düsseldorf gezeigten Arbeit In Orbit zu sehen.

34 Ebd., S. 195. 35 Der Antrag wurde zwar nicht genehmigt, die Experimente in einem anderen Setting jedoch tatsächlich durchgeführt. Vgl. http://www.nasa.gov/mission_ pages/station/research/news/space_spiders_live.html vom 19.02.2018.

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I N O RBIT – Z WISCHENMILIEUS ÖKOLOGISCHE M EDIALITÄT

UND

Anders als Galaxies Forming Along Filaments und 14 Billions bietet In Orbit den Besucher*innen einen Beziehungsmodus an, der das installative Netz nicht alleine als optische Form, sondern als begehbares Feld erfahrbar macht. Aufgespannt unter der Glaskuppel des K21 36 in einer Höhe von ca. 25 Metern über dem Eingangsbereich, erstreckt sich das aus Stahlseilen konstruierte Netz in drei ineinander gefalteten Ebenen. Es ist strukturell einem hybriden Netz nachempfunden, welches als kooperative „Komposition“ eines zeltdachähnlichen Netzes einer Opuntienspinne und eines dichteren, mehrlagigen Netzes einer Winkelspinne in einem Modell des K21 entstand.37 Die Arbeit erinnert an jene utopischen Modelle einer schwebenden Stadt der Zukunft, die Saraceno unter dem Titel Air-Port-City oder auch Cloud Cities38 in Installationen, Skizzen, Gesprächen und Texten fortlaufend entwirft.39 Losgelöst von bindender Schwerkraft und begrenzender Territorialität manifestiert sich diese Stadt als Ensemble schwebender, transparenter Sphären in den Wolken, in denen sich isoliert wirkende Figuren platziert finden.40 In dieser puristischen Vision einer zukünftigen Urbanität mag man schnell die Manifestation einer spezifisch modernen Phantasie eingeebneter räumlicher Grenzenlosigkeit 41 und das Begehren nach einer technologisch geschaffenen Autonomie des Menschen gegenüber den Zwängen terrestrischer Abhängigkeiten erkennen. Es finden sich hier durchaus Verbindungslinien zwischen Saracenos Praxis und dem Ima36 Die Installation ist seit Juni 2013 im K21 zu sehen. Ich habe sie am 9. Mai 2014 besucht. 37 M. Ackermann et al. (Hg.): Cloud Cities: Tomás Saraceno, S. 36. 38 Vgl. hierzu den Band von M. Ackermann et al. (Hg.): Cloud Cities: Tomás Saraceno. 39 Sie erinnern zudem an die ästhetische Praxis eines Buckminster Fuller und des britischen Kollektivs Archigram. 40 Vgl. ebd. 41 Zur Analyse des kolonialisierten, eingeebneten Terrains als räumliche Basis der Moderne s. Lepecki, André: „Einführung. Die politische Ontologie der Bewegung.“, in: ders., Option Tanz: Performance und Politik der Bewegung, Berlin: Theater der Zeit 2006, S. 8-34, insb. S. 25.

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ginären der Moderne, allerdings eröffnet sich beim Betreten der elastischen, feinmaschigen Oberfläche von In Orbit zugleich ein ganz anderer Denkhorizont. Der Aufenthalt in der Installation gleicht einer Herausforderung jener erfahrungsmäßigen Gewöhnungen an die widerständige Stabilität eines planen Normalbodens, auf dem man sich zumeist bewegt. Man torkelt, krabbelt, schwingt, klettert; man ängstigt sich fasziniert vor dem sich auftuenden Abgrund; es ist nicht alleine eine räumliche, sondern auch eine affektive Landschaft, durch die man sich bewegt. Vor allem aber bemerkt man auch die Bewegung der anderen Besucher*innen in ihrer Wechselseitigkeit mit der eigenen. Je nachdem, wie viele Personen sich in welcher Geschwindigkeit und Intensitität auf dem Netz bewegen, schwingt es mal mehr und mal weniger und an verschiedenen Stellen. Es ist diese kinetische Interdependenz, die einige Autor*innen die Installation als symbolische „Veranschaulichung der sozialen Relationalität der Menschen überhaupt“ 42 lesen lassen. Ich möchte nun nicht dieser anthropozentrischen Verallgemeinerung folgen, sondern vielmehr argumentieren, dass durch die Arbeit und einer bestimmten, durch sie aktualisierten Relation zur arachniden Erfahrungwelt eine ökologische Idee von Medialität denk- und erfahrbar wird. Im Anschluss an Donna Haraway ließe sich diese bestimmte Relation zur Welt der Spinnen zunächst als eine Diffraktion fassen: „Diffraction does not produce ,the same‘ displaced, as reflection and refraction do. Diffraction is a mapping of interference, not of replication, reflection, or reproduction.“43

Anders als die ebenfalls optische Trope der Reflexion, der eine Logik der Identität und der Ähnlichkeit eignet, denkt das Konzept der Diffraktion Relationalität als eine gegenseitige Differenzierung von Differentem. Dies würde dann bezogen auf In Orbit bedeuten, dass man in der Installation nicht lernt, sich wie eine Spinne zu bewegen oder das Vibrationen erfassende mechano-rezeptive Empfindungsvermögen tatsächlich nachempfin-

42 M. Lüthy: „Paradigmenwechsel wohin?“, S. 231. 43 Haraway, Donna J.: „The Promises of Monsters: A Regenerative Politics for Inappropriate/d Others“, in: Lawrence Grossberg/Cary Nelson/Treichler, Paula A. (Hg.), Cultural Studies, New York: Routledge 1992, S. 295–337, S. 300.

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den könnte, mit dem sich Spinnen primär in Beziehung zu ihrem Milieu setzen44, sondern dass durch die Modulation der relationalen Qualitäten „unseres“ gewohnten Bewegungs- und erfahrungsmilieus durch einige Aspekte einer arachnoiden Umweltlichkeit – insbesondere die Oberflächenbeschaffenheit und räumliche Disposition des Bewegungsmilieus – eine Interferenz entsteht, durch die eine neue bzw. andere Wahrnehmungsweise möglich wird. Mit Gilles Deleuze und Félix Guattari könnte man auch von einer Transcodierung45 sprechen, in der ein Übergang oder Zwischenmilieu zwischen dem Milieu der Spinne und dem menschlichen Milieu gebildet wird. Aufgrund der beständigen Schwankungen, der flexiblen Nachgiebigkeit des Grundes, der überraschenden Biegungen der Flächen in andere Flächen und der ausgesetzten Positionalität in alle Richtungen wird die Bewegung in ihrer kinästhetischen Relations- und Empfindungsweise gegenüber den anderen Sinnesmodalitäten intensiviert. So wird das Netz – befindet man sich darin und blickt nicht von außen darauf – auch weniger als eine visuelle Struktur erfahren, es konstituiert sich vielmehr als eine dynamische, raumzeitliche Topologie von Bewegungen und wird als eine solche zu einem mit dem Körper der Besucher*in verschränkten Medium der Wahrnehmung. Genauer gefasst, besteht auf dieser Ebene keine absolute Trennung zwischen Medium, Umwelt und Körper mehr. Im installativen Milieu ist der Körper nicht gegeben, sondern setzt sich aus Bewegungen und deren Empfindung in einer intensiven Formation zusammen. Und es ist auch nicht so sehr eine Umwelt im Sinne einer umgebenden, vom eigenen Körper abgegrenzten Sphäre, in er man sich wiederfindet, sondern eine „vibrational landscape“46, ein Milieu dynamischer Potentiale, das aus Perzeptionen, Energien, Bewegungen und Informationen entsteht; anders formuliert bilden diese Potentiale die immanente Ebene einer medialen Ökologie korrespondierender Resonanzen. Die Intensität einer Schwan-

44 Zum Wahrnehmungsvermögen von Spinnen s. Barth, Friedrich G.: „Spider senses – technical perfection and biology“, in: Zoology (Jena, Germany), 105/4 (2002), S. 271–285. 45 Vgl. Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie II, Berlin: Merve Verlag 1992, S. 427f. 46 Mortimer, Beth et al.: „The Speed of Sound in Silk: Linking Material Performance to Biological Function“, in: Advanced Materials 26/30 (2014), S. 5179– 5183, hier S. 5179.

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kung, die man wahrnimmt, informiert den Körper über die ereignishafte Veränderung und Variation in den Differentialverhältnissen des Milieus, wie jener die Verhältnisse zugleich durch seine Bewegung differenziert. Bewegung ist Mediation einer transversalen Komposition von Milieu und Körper, äußerer Landschaft und innerer Empfindung, dem Eigenen und dem Anderen. Es ist diese perzeptiv-affektive Erfahrung einer relationalen Konstitutionsbewegung der Saraceno selbst ein ethisch-politisches Moment beimisst: „Dort, in dieser unstabilen, sozialen, mentalen, physischen Umgebung, wird ein gemeinsames Muster erkennbar. Wir beginnen Verantwortung zu übernehmen, weil wir beobachten, wie das Verhalten des einen das der anderen beeinflusst. Wie dieses Netzwerk aus Beziehungen, aus einem individuellen Faden, ein ganzes Netzwerk an Fäden erzeugt und das Netz bildet, auf dem wir uns bewegen…“ 47

Es ist schwierig in dieser Interpretation nicht eine über die spezifische Situation der Installation hinausgehende Verallgemeinerung zu lesen und dies unter anderem auch auf Grund einer diskursiven Rahmung, welche In Orbit begleitete. Wenn die Arbeit – wie das Großprojekt Air-Port-City, zu dem In Orbit zählt –, wie der Ausstellungstext mitteilt, für Saraceno eine Antwort „auf die dramatischen ökologischen Probleme“ darstellt 48, dann ist klar, dass die zitierten Überlegungen eine universellere Geltung beanspruchen. Verallgemeinert man aber die Erfahrung in der Installation derart, zeigt sich relativ schnell ein Problem, denn nichts garantiert, dass alleine die Wahrnehmung jener konstitutiven Wechselwirklichkeit, welche den differentiellen Grund der geteilten Existenzmöglichkeiten bildet, zu einem verantwortlichen Verhalten führt. Keine Zwangsläufigkeit führt bspw. von der Einsicht in die desaströsen Konsequenzen anthropozäner Produktions-

47 Saraceno zitiert nach M. Ackermann et al. (Hg.): Cloud Cities: Tomás Saraceno, S. 35. 48 So erläutert der kuratorische Programmtext zu IN ORBIT: „Die Wolkenstadt [das Großprojekt AIR-PORT-CITY, zu dem IN ORBIT gezählt wird] versteht der Künstler als Verwirklichung eines sozial-utopischen Traums und als Antwort auf die zunehmende Unbewohnbarkeit der Erde, das weltweite Bevölkerungswachstum und die dramatischen ökologischen Probleme“. (Ich zitiere den Text nach meinen Aufzeichnungen beim Besuch der Installation).

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weisen zu einer verantwortungsvollen Veränderung ihrer Prämissen und Vollzüge. Dies folgt auch deshalb, da einerseits das Netzwerk von Beziehungen grundsätzlich auch durch Machtrelationen mitgeformt wird – das „wir“ der Verantwortung besitzt folglich selbst keine Einheitlichkeit – und es andererseits auch kein globales Feld der Wahrnehmung gibt, in dem die Beeinflussungen durch eine klar erkennbare kausale Linie verbunden wären. Allerdings – so ließe sich Saracenos Gedanke variieren –, wenn Verantwortung gerade erst dann entstehen kann, wenn die ökologischen Zusammenhänge des Eigenen mit dem Anderen, des Menschlichen mit dem Nicht-Menschlichen, des Milieus mit den Verkörperungen wahrgenommen werden, wenn Verantwortung also Wahrnehmbarkeit als bedingende Voraussetzung hat, dann läge eine politisch-ästhetische Aufgabe gerade darin, Verantwortung dadurch möglich zu machen, dass Wahrnehmungsgelegenheiten geschaffen werden, in der diese Verstrickungen erfahrbar werden. Dies aber ist wiederum nicht im Allgemeinen, sondern nur in partikularen Zusammenhängen möglich.

L ITERATUR Ackermann, Marion/Birnbaum, Daniel/Kittelmann, Udo/Obrist, Hans Ulrich (Hg.). Cloud Cities: Tomás Saraceno, Berlin: Distanz Verlag 2011. Barth, Friedrich G.: „Spider senses – technical perfection and biology“, in: Zoology (Jena, Germany), 105/4 (2002), S. 271–285. Bennett, Jill: Practical Aesthetics: Events, Affects and Art after 9/11, New York: I.B.Tauris 2012. Böhme, Hartmut: „Netzwerke. Zur Theorie und Geschichte einer Konstruktion“, in: Jürgen Barkhoff/Hartmut Böhme/Jeanne Riou (Hg.), Netzwerke. Eine Kulturtechnik der Moderne, Köln: Böhlau 2004, S. 17-36. Bourriaud, Nicolas: Relational Aesthetics, Les presses du réel 2002. Deleuze, Gilles: Unterhandlungen 1972 – 1990, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993. Deleuze, Gilles: Logik des Sinns, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993. Deleuze, Gilles: „Mediators“, in: ders., Negotiations: 1972-1990, New York: Columbia University Press 1995. S. 121-134. Deleuze, Gilles: Differenz und Wiederholung, München: Fink Verlag 2007.

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Abstrakte Relationierungen

„Woolworth Choir of 1979“ von Elisabeth Price Shifter, Serien und die Semantik von Äußerungen R EINHOLD G ÖRLING

E TERNAL O BJECTS Ungeachtet dessen, dass im Zuge der Diskussionen über einen new materialism der Dualismus Idee/Materie doch weitgehend überwunden sein sollte, hält sich der von ihm letztlich abgeleitete Dualismus Form/Inhalt hartnäckig in vielen Diskussionen über Kunst, ja sogar explizit über Künste, die, wie der Tanz, die Darstellung von Bewegung zum Zentrum haben. Formenlehre und Formgeschichte, Gattungslehre und Genretheorie werden wie selbstverständlich in den Grundkursen über Kunst, Literatur, Film und Fernsehen oder Theater und Tanz gelehrt. Und selbst der Begriff der Zeit wird weiterhin in aktuellen ästhetischen Diskussionen mit dem Begriff der Form verknüpft. Für Martin Seel etwa, um nur ein prominentes und differenziert argumentierendes Beispiel zu nennen, gilt: „Der Sinn der Form ist die Zeit.“1 Auch wenn bei Seel in einzelnen Formulierungen das „Zeit Geben“ der Kunst anklingt, wie es Jacques Derrida am Spiel der Unent-

1

Seel, Martin: „Form als eine Organisation der Zeit“, in: Josef Früchtl/Maria Moog-Grünewald (Hg.), Ästhetik in metaphysikkritischen Zeiten – 100 Jahre ,Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaftʻ, Sonderheft 8, Hamburg: Felix Meiner Verlag 2007, S. 33-44, hier S. 34.

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scheidbarkeit der Bedeutung von Markierungen im Diskurs entfaltet2, letztlich muss ein Argument, das „Form als eine Organisation der Zeit“ versteht, Zeit als eine Art Rohstoff oder Materie behandeln, die vom Menschen bearbeitet und gestaltet wird. Nun soll hier nicht vorgeschlagen werden, den Begriff der Form durch Begriffe wie Gestalt oder Schema zu ersetzen. Das würde den alten Dualismus nur überschreiben. Es geht um Vorstellungen, die die Veränderung von Vorhandenem oder der Entstehung von Neuem nicht mehr als einen Prozess denken, in dem Statik und Variabilität, Passivität und Aktivität, Materie und Geist, Objekt und Produktion aufeinandertreffen. Grenzen dieser Gegenüberstellungen wurden etwa schon von Johann Wolfgang Goethe in seiner „Morphologie“ ausgelotet, die sich vorgenommen hatte, „an den Gegenständen die Mannigfaltigkeit des Seins und des Werdens“ nachzuzeichnen.3 Ein anderer Begriff ist der der Plastizität. Während ursprünglich damit ja vor allem die Eigenschaft bestimmter Materialien wie des Tons bezeichnet wurde, sich durch äußere Krafteinwirkung in ihrer Form zu verändern, ohne ihre anderen Eigenschaften zu verlieren, ist Plastizität zunehmend zu einem Begriff geworden, der die Selbstveränderung und Selbstformung von Dingen aus ihrer eigenen Prozesshaftigkeit heraus beschreibt.4 Am deutlichsten etwa im Begriff der neuronalen Plastizität, der sowohl die Fähigkeit von Neuronen oder Synapsen meint, ihre eigenen Parameter zu verändern, wie auch den gesamten Prozess der ständigen Selbstveränderung des Hirns. Cathérine Malabou hat in den vergangenen Jahren daraus ein komplexes philosophisches Konzept entwickelt, das von

2

Vgl. Derrida, Jacques: Falschgeld. Zeit geben I, München: Wilhelm Fink Verlag 1993.

3

Goethe, Johann Wolfgang von: „Morphologie“, in: ders., Naturwissenschaftliche Schriften 1 (Hamburger Ausgabe), München: C.H. Beck 1988, S. 53-250, hier S. 55; sowie Geulen, Eva: „Funktionen von Reihenbildung in Goethes Morphologie“, in: Bettine Menke/Thomas Glaser (Hg.), Experimentalanordnungen der Bildung. Exteriorität – Theatralität ‒ Literarizität, Paderborn: Wilhelm Fink 2014, S. 209-222.

4

Vgl. Görling, Reinhold: „Abstraktion und gelebte Zeit. Plastizität und Rhythmus bei Élie Faure, Jean Epstein und Gilles Deleuze“, in: Micheal Gamper/Eva Geulen (Hg.), Zeiten der Form, Formen der Zeit, Hannover: Wehrhahn 2016, S. 213-239.

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Jacques Derridas Begriff der Spur seinen Ausgang nimmt und u. a. die Frage der Plastizität in Freuds Schriften diskutiert. 5 Schon in den 1960er Jahren hatte Derrida in „Freud und der Schauplatz der Schrift“ ja auf diese Idee eines Prozesses der fortlaufenden psychischen Selbstumschrift bei Sigmund Freud und auf dessen „Projekt für eine Psychologie“ von 1895 verwiesen, das vieles von dem, was heute in der Neurowissenschaft als erwiesen gilt, vorweggenommen hat.6 Die Selbstveränderung der mentalen Prozesse ist aber gerade kein Garant einer Identität. Immer kann es zu einer Bifurkation kommen, durch die das Subjekt seine Selbstähnlichkeit verliert.7 Während in der gemeinsamen Philosophie von Gilles Deleuze und Félix Guattari oft mit Doppelbegriffen wie Deterritorialisierung und Reterritorialisierung oder gekerbter und glatter Raum gearbeitet wird, um den überkommenen Dualismus dadurch zu überwinden, dass beide bezeichneten Zustände als aufeinander bezogene Stadien eines Prozesses gedacht werden, der doch immer noch viel von der Vorstellung des Wechsels von Starre und Fluss und damit Form und Materie mit sich führt, hat Alfred North Whitehead in seiner Prozessphilosophie den Weg gesucht, mit einem schon fast paradoxen Begriff diesen das abendländische Denken prägenden Dualismus zu überschreiten. Während seine Prozessphilosophie wohl als einer der konsequentesten Versuche gelten kann, Zeit als etwas zu verstehen, das in den Prozessen selbst liegt und nicht unabhängig davon bestimmt werden kann, prägt er den Begriff des eternal object. In Process and Reality führt er diesen explizit als eine Möglichkeit ein, Plastizität zu denken, ohne die „irreführenden Assoziationen aufkommen“ zu lassen, die mit dem platonischen Formbegriff verbunden seien.8 Die „alte These“, dass es nicht möglich sei, zweimal in denselben Fluss zu steigen, müsse erweitert werden: „Kein Denker denkt zweimal; und, um es noch allgemeiner zu

5

Vgl. Malabou, Cathérine: „Plasticity and Elasticity in Freud’s ‚Beyond the Pleasure Principle‘“, in: Diacritics 37/4 (2007), S. 78-85.

6

Vgl. Derrida, Jacques: „Freud und der Schauplatz der Schrift“, in: ders., Die Schrift und die Differenz, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1972, S. 302-350.

7

Vgl. Malabou, Cathérine: Ontologie des Akzidentiellen. Über die zerstörerische Plastizität des Gehirns, Berlin: Merve 2011.

8

Vgl. Whitehead, Alfred North: Prozess und Realität, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1979, S. 99f.

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fassen, kein Subjekt erfährt zweimal.“ 9 Es kann „keine Kontinuität des Werdens“ geben10, jedes Ereignis entsteht neu. Und doch muss etwas angenommen werden, das zugleich Abgrenzung wie Permanenz ermöglicht. Ereignisse sind für Whitehead extensiv, aber begrenzt, intensiv, prehendierend oder individuierend und schließlich über sich selbst hinausweisend: Die eternal objects sind ewig oder permanent, weil sie, obwohl einzigartig oder abgegrenzt, als „transzendente Einzelwesen“11, „trancendent entities“12, gegenüber der Aktualisierung im Ereignis unabhängig bleiben. Das Beispiel, das Whitehead in Science and the Modern World hier benutzt, ist ein bestimmter Rot-Ton, der in einem unmittelbaren Ereignis etwa mit einer Kugelförmigkeit einhergehen könne. „Es zeigt sich aber, dass dieser Rot-Ton und diese Kugelform darin über das Ereignis hinausgehen, dass beide noch andere Beziehungen zu anderen Ereignissen haben. Und abgesehen von dem wirklichen Vorkommen derselben Dinge in anderen Ereignissen, steht jedes wirkliche Ereignis auch innerhalb einer Sphäre von anderen miteinander verbundenen Einzelwesen.“13

9

A.N. Whitehead: Prozess und Realität, S. 76. – „The ancient doctrine that no one crosses the same river twice' is extended. No thinker thinks twice; and, to put the matter more generally, no subject experiences twice.“ (Whitehead, Alfred North: Process and Reality. An Essay in Cosmology, New York: The Free Press 1978, S. 29).

10 A.N. Whitehead: Prozess und Realität, S. 87. 11 Whitehead, Alfred North: Wissenschaft und moderne Welt, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1984, S. 185. 12 Whitehead, Alfred North: Science and the Modern World, New York: Pelican Mentor Books 1948, S. 159. 13 A.N. Whitehead: Wissenschaft und moderne Welt, S. 185 – „For example a definite shade of red may, in the immediate occasion, be implicated with the shape of sphericity in some definite way. But that shade of red, and that spherical shape, exhibit themselves as transcending that occasion, in that either of them has other relationships to other occasions. Also, apart from the actual occurrence of the same things in other occasions, every actual occasion is set within a realm of alternative interconnected entities.“ (A.N. Whitehead: Science and the Modern World, S. 158).

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Whitehead denkt von einzelnen Ereignissen her, aber es ist zugleich doch so, dass diese so etwas wie Reihen bilden. In jedem Ereignis muss es eine Potentialität geben: „Diese Potentialität sind die ,zeitlosen Gegenstände‘.“14 Um diese Potentialität oder dieses Überschreiten zu verstehen, ist es hilfreich, sich zu erinnern, dass Whitehead die Begriffe Objekt und Subjekt in einer nicht der dialektischen Tradition folgenden Weise verwendet. Subjekt ist für Whitehead immer mit dem Ereignis des Erfassens oder der Wahrnehmung verbunden, das im Sinne seiner Kosmologie auch nicht auf die belebte Natur oder gar den Menschen beschränkt ist, Objekt ist das, was von diesem Ereignis apprehendiert wird und in dieses Ereignis eingeht. Und das, was Subjekt ist, wird von einem nächsten Ereignis aufgegriffen und damit Objekt. Die Begriffe Subjekt und Objekt meinen damit aber auch keine Einheiten oder Substanzen, sie sind nicht auf Identitäten bezogen, sondern auf einen Prozess. Wenn Whitehead nun gerade an dieser Stelle von einem Objekt spricht, dem er die Eigenschaft eternal zuspricht, bedeutet es sicher nicht, dass das Objekt außerhalb der Prozesse der Veränderung stünde. Aber wenn etwas über das Ereignis selbst hinausweist, muss es auch „begrifflich erkannt werden [können], ohne dass hierzu ein Rückgriff auf irgendwelche wirklichen Ereignisse der zeitlichen Welt erforderlich wäre“.15 Vielleicht kann man auch sagen, dass das, was über das Ereignis hinausweist und damit ein neues Ereignis provoziert, sein Aufforderungscharakter oder seine Medialität ist: Dieser Rot-Ton und diese Kugelform „exhibit themselves“, stellen sich selbst als das Ereignis Überschreitende aus. Man könnte – etwas quer zu Whiteheads Argumentation – sagen, dass die eternal objects eine intensive ästhetische Dimension jeden Ereignisses bezeichnen. Ewig ist das Ereignis nicht deshalb, weil es außerhalb der Zeit stünde, sondern deshalb, weil es in seinem Aufforderungscharakter Prozessualität ermöglicht oder herausfordert. „Im Wesen jedes zeitlosen Gegenstandes liegt eine Unbestimmtheit, die seine unbeirrbare Geduld mit jeder Eintrittsweise in ein wirkliches Ereignis zum Ausdruck bringt.“ 16 Ewige Objekte sind deshalb nicht losgelöst vom Ereignis, sondern seine ihm eigene mediale und ästhetische Qualität. Whitehead charakterisiert sie als abstrakt, weil sie eben nicht an das einzelne Ereignis gebunden sind,

14 A.N. Whitehead: Prozess und Realität, S. 102. 15 Ebd., S. 99f. 16 A.N. Whitehead: Wissenschaft und moderne Welt, S. 201.

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sondern eher so etwas wie die Beziehung zwischen den Ereignissen stützen. Sie sind, wenn man so will, Beziehungsqualitäten, Übertragungsweisen, das, was Serien oder Resonanzen ermöglicht: Ein zeitloser Gegenstand ist deshalb abstrakt, weil er „ohne Bezug auf ein besonderes Erfahrungsereignis verständlich ist. Abstrakt zu sein bedeutet, besondere konkrete Ereignisse des wirklichen Geschehens zu transzendieren. Aber ein wirkliches Ereignis zu transzendieren, bedeutet nicht, von ihm getrennt zu sein. Ich behaupte im Gegenteil, dass jeder zeitlose Gegenstand seine enge Verbindung zu jedem Ereignis hat, die ich als seine Weise des Eintretens in dieses Ereignis bezeichne.“17 Der Begriff der Form (oder auch der des Mediums der Übertragung) ist nicht dadurch zu ersetzen, dass so etwas wie eine temporäre Verdickung im Fluss der Kontinuität angenommen wird, wie man es sich im Anschluss an Karen Barad denken könnte, die Welt als „ongoing intra-active engagement, […] an endless reconfiguration of boundaries and properties, including those of spacetime“18 versteht. Wohl ist bei Barad intra-activity nicht als ein Fluss gedacht, da sie diese letztlich auf die quantum leaps bezieht, also den beobachtbaren Vorgang, dass Elektronen ihre Lage im Atom nicht in der Weise kontinuierlich verändern, dass ein zurückgelegter, wenn auch kleinster Weg zwischen den Orten angenommen werden kann.19 Doch entlastet dieser Diskurs auf die „fundamental discontinuity of quantum physic“20 von der Frage nach der Medialität des Werdens. Im Begriff der intra-activity ist die Kontinuität als Unterbrechung immer schon einge-

17 A.N. Whitehead: Wissenschaft und moderne Welt, S. 186 – „By ,abstract‘ I mean that what an eternal object is in itself – that is to say, its essence – is comprehensible without reference to some one particular occasion of experience. To be abstract is to transcend particular concrete occasions of actual happening. But to transcend an actual occasion does not mean being disconnected from it. On the contrary, I hold that each eternal object has its own proper connection with each other such occasion, which I term its mode of ingression into that occasion.“ (A.N. Whitehead: Science and the Modern World, S. 159). 18 Barad, Karen: Meeting the Universe Halfway. Quantum Physics and the Entanglement of Matter and Meaning, Durham/London: Duke University Press 2007, S. 376. 19 Vgl. ebd., S. 162 und 182. 20 Ebd., S. 236.

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schlossen. Ein Bruch dessen, was Barad „the world’s ongoing intra-active becoming and not-becoming“21 nennt, scheint ausgeschlossen. Für Whitehead jedoch ist Kontinuität in keiner Weise vorausgesetzt, sie muss selbst als eine spezifische Relation der Ereignisse verstanden werden. Der Übergang muss als etwas gesehen werden, das ganz unterschiedliche Subjekte oder Ereignisse zueinander in Bezug setzt. Es ist kein Drittes, doch ist es das, was es ermöglicht, dass ein Ereignis dem anderen in einer Beziehung der Ausstellung gegenübersteht. Nehmen wir einen Stoffwechsel, wie ihn die Biochemie heute versteht: Ein Wechsel von chemischen und elektrischen Ereignissen, der zugleich einen ständigen Übergang von Materiellem in Information und von Information in Materielles bedeutet. Hier allein die Intraaktivität ins Zentrum zu stellen, umginge die Frage, wie ein solcher Übersetzungsprozess möglich ist. Meine folgenden Überlegungen können den Begriff der eternal objects nicht weiter als philosophisches Konzept entfalten, zumal sie sich weitgehend auf den Bereich der menschlichen Erfahrung beschränken werden. Sie suchen aber nach Möglichkeiten, jenes Moment der ästhetischen Überschreitung in der Auseinandersetzung mit einem künstlerischen Werk als ein Ereignis der Äußerung nachzuzeichnen.

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Ich verstehe die Arbeiten der 1966 geborenen englischen Künstlerin Elizabeth Price als konsequente Forschungen über die Abstraktionen, die Reihen von Ereignissen ermöglichen. Sie sind ihrer Natur nach ästhetisch. Price weist in ihren Videoarbeiten und Installationen Beziehungen zwischen Ereignissen auf: zwischen Materialien, Oberflächen, Geschehnissen, sozialen Performanzen, Farben, Bildern und narrativen Gattungen oder Fragmenten medialer und kollektiver Gedächtnisse.22 Die Zusammenhänge,

21 Barad, Karen: „Quantum Entanglements and Hauntological Relations of Inheritance: Dis/continuities, SpaceTime Enfoldings, and Justice-to-Come“, in: Derrida Today 3/2 (2010), S. 240–268, hier S. 265. 22 Ich beziehe mich hierbei neben dem noch näher besprochenen Woolworth Choir vor allem auf die Arbeiten At the House of Mister X (2007) und The Tent

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welche die Videos damit erzählen, sind abstrakt in eben dem Sinne, wie ihn Whitehead ausführt. Sie werden durch die Narration nicht zu einem Ereignis zusammengeführt, die Narration selbst ist das, was der Zusammenhang ist: eine Serie, ein Diskurs, eine Serie von Serien. Das schließt auch die Installation in einem Ausstellungsraum ein, in der ja auch die Besucher sich diskursiv zu den Objekten verhalten. Ich möchte das nun näher an der wohl bekanntesten Arbeit von Price ausführen, ihrem 2012 mit dem Turner Price ausgezeichneten The Woolworth Choir of 1979. Das Datum ist im sozialen Gedächtnis Englands noch sehr präsent: Im Zentrum von Manchester brannte am 8. Mai 1979 der zweite Stock eines Warenhauses der Woolworth-Kette aus, 10 Menschen kamen ums Leben. Price’ Arbeit besteht im Wesentlichen aus Bild-, Ton- und Textmaterial aus drei verschiedenen Raumzeiten: Fotografien und Seiten aus Büchern, die den choir, das Chorgestühl behandeln, wie es sich vornehmlich in gotischen Kirchen findet; dem Lied Out in the Streets des US-amerikanischen Pop-Quartetts The Shangri-Las aus dem Jahre 1965, das damals in einer Fernsehaufzeichnung präsentiert wurde, die wiederum heute auf YouTube zu finden ist und von Price wohl bei der Wiedergabe am Monitor abgefilmt und mit weiterem bei YouTube gefundenen Material in das Video aufgenommen worden ist; und Filmmaterial aus den Archiven der BBC, das den Kaufhausbrand und seine Ursachenforschung dokumentiert. Die Arbeit fokussiert nacheinander das Chorgestühl, die Gesangsgruppe und den Kaufhausbrand, sie besteht also grob gesagt aus drei Teilen. Tatsächlich aber eröffnet der Film seine Montage mit einer kurzen, zwischen Schwarzfilm eingeschnittenen Szene, in der zu einem rhythmischen Doppelklatschen die bewegten Hände und das Gesicht einer Frau zu sehen sind, und zwar in einem Splitscreen-Bild, das ein verdoppeltes, hochkontrastiges, nur Schwarz-Weiß-Töne aufweisendes Filmfragment zeigt. Später wird dieses Bild wie auch das Klatschen der Gesangsgruppe zugeordnet werden können, in diesem Augenblick aber wirken Ton und Bild nach der relativ langen Phase des Schwarzbildes wie ein Schock. Auch bei mehrmaligem Sehen lässt sich der Einsatz nicht wirklich vorhersehen und wiederholt sich der Schrecken. Die Nichtbeherrschbarkeit des Bildes bricht die antizipie-

(2012), die in der Werkausstellung von Elizabeth Price in der Julia Stoschek Collection (Düsseldorf) im Winter 2014/15 zu sehen waren.

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rende Konstruktion der Objektivierung des Bildes durch den Zuschauer von der ersten Sekunde an. Wohl entsteht ein komplexer Rhythmus, der auch das Auge einschließt, das dem Rhythmus der Schnitte und der immer wieder eingeblendeten Schriftzüge folgt, dieser aber ist nicht optisch im Sinne einer Gegenstandserfassung, sondern eher taktil wie das Klatschen oder wie das Umblättern eines Buches – eine Handlung, die später im Video auch einmal direkt gezeigt wird. Keines der Bilder bleibt in diesem Sinne für sich, sie gehen eine ornamentale Verflochtenheit ein, die abstrakt ist: abstrakt zunächst im Sinne einer Sinnlichkeit, die etwas Amodales hat oder zumindest die Weisen der Wahrnehmung zwischen den Sinnen überträgt. In einem zweiten Schritt sind sie abstrakt, weil sie im Sinne Whiteheads das einzelne aktuelle Geschehen immer schon in einem anderen Geschehen darstellen oder mit ihm eine Resonanz bilden bzw. damit eine Bewegung der Übertragung herausfordern. Einige Sekunden nach dem erwähnten Klatschen folgt dem Schwarzbild zu einem einzelnen Klatschen ein kaum wahrnehmbar kurzes Bild eines Chorgestühls, hinter das eine zweite, nur einen Teil des Bildes ausfüllende Fotografie desselben Gestühls aus einer etwas anderen Perspektive geschnitten ist: „this is the choir“ wird neben das Bild geschrieben. Eine zweite, mit einer Archivnummer versehene Fotografie des Gestühls folgt. Doch die deiktische Rede des Verweises auf das, was man gerade sieht, löst scheinbar paradox eben jene Singularität des Gezeigten auf und stellt einen weiteren Übertragungszusammenhang her, eben den des Übertragens und Verbindens selbst. Nach weiteren Wechseln der Bilder gibt die Narration die Informationen: „also known as quire.“

C HOR Immer weiter führt der Film den Betrachter in die Abstraktion einer Bezogenheit und Gemeinschaftsbildung und damit des Chores selbst. Er fügt Dinge zusammen wie das quire, das aus vier Bögen bestehende Heft, dessen Bindung in einer elektronischen Animation etwas später gezeigt wird. Es fügt aber auch Dinge zusammen, die sich in ihren Bewegungen, ihrer Aufstellung, ihrer Rhythmik, ihrer Gestik und ihrer Ornamentik gegenseitig zu zitieren scheinen. Im Zentrum steht dabei eine Handbewegung, die in den Skulpturen auf Grabmalen, in den Kirchen, in den Tanzbewegungen

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der Popgruppen und Ballette, in den Erzählungen der Augenzeugen des Brandunglücks und schließlich sogar in Aufnahmen der durch Fenstergitter nach außen gestreckten Arme von im brennenden Warenhaus Eingeschlossenen aufgefunden wird: Eine Bewegung, die von unten nach oben, von oben nach unten oder auch zur Seite gehen kann und in der Arm und Handgelenk gedreht werden. [we know] the greatest expression confined to a conspicuous twist [we know] to a twist [we know] of the right wrist yet it is difficult to discern what the gesture means the point of inflection lies in the curvature and we shall trace it in the ornamental foliations [here they are] of the trefoil and follow it in the arcs [we know] of the flowing ogee flames and all the four folds [we know] of the quatrefoil it is expressive it is expressive above all of this assembly we are trefoil we are quatrefoil we are cisquefoil we are fivefold cisquefoil we are threefold

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we are fivefold we are quire we are chorus Diese Passage hindurch wird auditiv von dem Lied Out in the Streets der Shangri-Las getragen, von nur wenigen Übersteuerungen gestört. Nach dem we are quire / we are chorus jedoch reißt das Lied für einige Sekunden ganz ab und es ist nur noch eine von einem Pfeifton geprägte Atmo zu hören. Meine hier gegebene Transkription der Einblendungen ist in mehrerer Hinsicht unvollständig. Sie gibt nicht die verschiedenen Schriftbilder und Intervalle wieder, auch nicht das Entstehen und Verschwinden der Schrift aus einem elektronischen Zittern der Zeichen, das wie ein durchlaufendes Bild eines analogen Fernsehgerätes erscheint und damit zusätzlich ein mediales Gedächtnis aufruft. Die in eckigen Klammer angegebenen Einschübe des we know sind weit häufiger als hier angedeutet und manchmal so kurz, dass sie am Rande der Wahrnehmungsschwelle liegen. Oft sind sie über ein monochromes, zunächst rotes, dann auch blaues und schwarzes Bild gelegt, das aber bisweilen auch ohne Schrift erscheint. An der Stelle, an der zwei Mal here they are eingeblendet wird, sehen wir aber tanzende Körperbewegungen und eine – von der Tonspur unterstützte – Aufnahme von einer Frau mit klatschenden Händen, die mit dem ersten Bild, das nach dem Schwarzbild zu Beginn des Videos erscheint, identisch ist oder zumindest stark daran erinnert. Die deiktische Geste, ich komme noch darauf zurück, steht damit praktisch ohne Objekt oder jedenfalls ohne eindeutig bestimmbares Objekt im Diskurs, wenn man sie als eine zeitlich verschobene Wiederaufnahme der Einblendungen versteht, die im ersten Drittel des Videos zu sehen waren. Der Chor der Shangri-Las, der der Leadsängerin antwortet, die Einblendungen des we know und here they are, die Schnitte zwischen den verschiedenen Video-Clips, zwischen Einzelund Gruppenaufnahmen, zwischen Tanzenden und Frauen, die in das Wasser springen, zwischen Ein- und wieder Auftauchenden aus dem Wasser: das selbst sind Faltungen, Reihen, die sich Antwort geben, die einen Resonanzraum schaffen, der selbst als Chor verstanden werden kann. Der Text spricht es explizit aus: Die Geste der drehenden Hand „is expressive above all of this assembly“. Und direkt daran anschließend reiht sich die Videoarbeit selbst in den Chor ein, indem sie die Faltungen, von denen der Betrachter zuvor in Bezug auf Säulenformen erfahren hatte, nun auf ein we

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bezieht – auf einen shifter im Diskurs, wie ich später noch näher erläutern werde. Wenn das Video dann selbst für sich das we are quire/we are chorus reklamiert, ist auch das eher als ein Twist oder eine Faltung denn als eine Metaebene zu verstehen, es ist nichts, was über der Äußerung stünde, sondern eine Faltung oder Resonanz der eigenen Reihe. Nach der mehrere Sekunden dauernden Unterbrechung nimmt die Tonspur das Lied wieder auf, es treibt nun aber auf eine weitere Reihe zu: and we will show you how it all went up it went up it all went up right here Sieht man das Video das erste Mal, weiß man noch nicht, dass dieses „how it all went up“ bald im Kontext der Narration des Kaufhausbrandes wiederaufgegriffen wird und damit ins Deutsche etwa mit „wie alles in Flammen aufging“ zu übersetzen wäre. Bildlich, sprachlich, rhythmisch und schließlich auch narrativ verbinden sich diese drehenden und windenden Bewegungen in den Händen und Armen, den Ornamenten aus Blättern und flammenförmig geschwungenen Leisten, schließlich im Prinzip des Aufbaus des Chorgestühls und der Säulen und Bögen der Kirche selbst. Wie am Beispiel der Faltung der Papierbögen zu einem Heft ganz direkt gezeigt, verbindet das Video Bewegungen der Faltung, Bewegungen also, aus denen eine Verbindung und dadurch ein Zusammenhang entsteht. In der Faltung bezieht sich etwas auf sich selbst, ohne dass zuvor schon etwas anderes vorhanden gewesen sein muss als eine Bewegung oder gar nur die Möglichkeit einer Bewegung. In den animierten Computerzeichnungen, welche den komplexen Aufbau des Chorgestühls rekonstruieren, wird es beispielhaft vorgeführt, wie aus der Faltung einer Linie ein Raum und damit eine Differenz zwischen einem Innen und einem Außen entsteht. Das Chorgestühl schafft einen vom öffentlichen Teil der Kirche getrennten Raum für den Klerus, der in dieser Faltungsbewegung aber dem Raum im Zentrum der zweiten Etage des Warenhauses ähnelt, in dem Möbel gelagert wurden und in dem, wie im dritten Teil des Films erläutert und auch experimentell rekonstruiert wird, der Brand ausbrach.

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in a matter of minutes it all went up it all went up in a matter of minutes it all went up and we saw the smoke we saw the smoke right here in a matter of minutes it all went up and we saw the smoke right here we went down but it was full of smoke we just couldn’t see right here smoke was in our eyes in a matter of minutes it was everywhere smoke was in our eyes so we just so we just we just came down we just came straight down we just came straight down to the ground out here we just came down and we came out at the bottom and we saw all the flames coming up we saw all the flames from the windows and we saw all the flames it all went up we saw all the flames coming up from the windows and all the girls throwing the cups down

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down to the ground out here they were throwing everything down and i kept hearing the sound they were breaking all the glass and throwing the cups down throwing everything out of the windows they were throwing everything down throwing the cups down they just kept breaking and i kept hearing the sound down to the ground out here all the girls throwing the cups down they just kept breaking and i kept hearing the sound throwing everything down to the ground out here Die als Schrift eingeblendeten Äußerungen, sowie die Gesten und Bilder werden vom Video zu einem mehrstimmigen Chor geschnitten, der mit seinem Rhythmus und seinen Refrains in Resonanz zum Chor der ShangriLas steht, der zuvor zu sehen war. Er geht am Ende in ein Graubild über, durch das sich kaum noch sichtbare Muster des Rauches ziehen, während ein Übersteuerungspfeifen zu hören ist. Überlebende und Augenzeugen berichten, wie das, was einen Raum bot, zur tödlichen Bedrohung wird, wie es in den Flammen seine eigene Begrenzung übertritt, und wie die Menschen selbst dieser Übertretung einer Grenze folgen, wie sie die Faltung gleichsam auflösen, in ihrer Flucht oder auch in diesem wohl kaum noch einem bewussten Handlungsinteresse folgenden Hinaus- und Hinunterwerfen von Tassen und Gläsern. Die in dieser Schilderung sich ausdrückende Suche nach Aufmerksamkeit und Hilfe korrespondiert mit den kreisenden und sich windenden, faltenden Bewegung des Armes, den eine Frau durch das vergitterte Fenster des qualmenden Gebäudes streckt – eine Szene, die mehrfach in den Lauf des Videos eingeschnitten ist. Wenn die Hand dann verschwindet, fürchtet man, dass die Person, die ihn bewegt hat, nicht mehr hat gerettet werden können. Später gibt es eine Einstellung, die ein aufgebogenes Fenstergitter zeigt und die sich mit diesem Bild in der Erinnerung verbindet.

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Auch in diesen dritten Teil des Videos sind Aufnahmen von Popgruppen aus den 1960er Jahren geschnitten, Bilder aus der Frühgeschichte des Musikvideos. Weil die Erzählungen durch in die Bilder eingeblendete Schrift vermittelt werden, kann das Gestische der Bewegungen, vor allem der Hände, wie in einem Stummfilm intensiver wahrgenommen werden. Es wird auch bildlich weiter verknüpft, so ist etwa an der Stelle, an der „and we saw all the flames coming up from the window“ eingeblendet wird, die Bewegung einer Tänzerin montiert, die an die Bewegung einer Flamme erinnert und den Flammentanz zitiert, wie er gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Varietés beliebt war und als eines der ersten Motive des Films gelten kann.23 Auch dieses Bild ist farblich bearbeitet. Und immer wieder sind kurze monochrome Zwischenbilder eingeschnitten. Die Wahrnehmung der Farbe selbst ist relational wie das Rot, von dem Whitehead in seinem zitierten Beispiel für ein eternal object spricht. Und auch die Faltungsbewegung, die ein Innen und ein Außen schafft, stellt keine stabilen Räume her, ihre Auflösung wird aber selbst wieder durch eine Faltungsbewegung gehalten und erneuert.

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IN THE

S TREETS “

Das gilt für Räumliches ebenso wie für Rhythmisches, das gilt für Visuelles ebenso wie für Akustisches. Das Lied, das wir schon im ersten Klatschen zu Beginn des Films zitiert finden und das immer wieder aus einem Lärm der elektronischen Übersteuerung oder des Rauschens heraus hörbar wird und wieder in diesen zurückfällt, trägt den Titel Out in the Streets und wird von den Shangri-Las gesungen. Es erzählt aus der Perspektive eines Mädchens, das sich in einen Jungen verliebt hat, der zuvor „out in the streets“ war. Sie spürt, dass sich in ihm etwas verändert, dass er die Wildheit verliert, dass etwas in ihm stirbt. Es geht um das Wissen, dass sie ihn gehen lassen muss, „out in the streets“, um die Faszination, die sie offensichtlich an ihm findet, nicht zu verlieren“. Ein kaum lösbarer Konflikt, der

23 Vgl. Görling, Reinhold: „Screaming Red: Colour, Affect, and Cinema“, in: Victoria Bogushevskaya/Elisabetta Colla (Hg.), Thinking Colours. Perception, Translation and Representation, Cambridge: Cambridge Scholars Publishing 2015, S. 147-161.

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aber in der Musik und auch in den Gesten so ausgedrückt wird, dass das Faszinierende, die Erotik, auch für das Mädchen, draußen in der Straße ist. Der Chor übernimmt diese Stimme der Faszination am Draußen, ihm fällt es wiederholt zu, dieses „out in the streets“ in einer Weise zu singen, die eher jubilatorisch und genießend ist, jedenfalls nicht traurig. Man könnte auch sagen, der Chor ist in seinem Out in the Streets selbst eine Stimme des Außen, antwortet oder spricht von dort, faltet aber eben durch dieses letztlich rein deiktische Sprechen das eigentlich bezeichnete Außen in das Innen der Gemeinschaft oder der Kommunikation. Ist damit zunächst nichts anderes ausgesagt, als dass das Objekt des Begehrens nicht dort ist, wo es gefunden werden, wo man ihm begegnen könnte, so sind die Singenden doch selbst in diese Bewegung des Begehrens eingefaltet. (Send him back) Heʼs gotta be (Out in the streets) His heart is out in the streets Das Quartett der Shangri-Las existierte von 1963 bis 1968. Die vier jungen Frauen stammten aus dem damals rauen New Yorker Stadtteil Queens. Sie traten in Shows zusammen mit den Rolling Stones und den Beatles auf und galten einigen späteren Künstlerinnen und Gruppen, wie etwa Blondie, die Mitte der 1970er als Sängerin einer Punkband begann, als Referenz. Dieses erotische Begehren „out in the streets“ in der puritanischen USamerikanischen Öffentlichkeit überhaupt zu formulieren, und zwar als weiße junge Frau, war eine deutliche Provokation. 1964, ein Jahr vor Out in the Streets, war Leader of the Pack erschienen, ein Lied, das begeistert einen jugendlichen Vorstadtstraßenhelden besingt. Die Szenen, die Price dem alten Video entnimmt, sind durchweg extrem kontrastreich, wodurch die Bewegungen selbst verstärkt sichtbar werden. Bisweilen sind sie auch monochrom eingefärbt. Die Bewegungen wiederholen, ein ums andere Mal, die Windung und Überschreitung, das Ein- und das Ausfalten. Und wenn sie doch auf den ersten Blick keine Beziehung zum Lied der ShangriLas zu haben scheinen, so wird mit jeder Wiederholung deutlicher, dass ja auch das Lied selbst nichts anderes thematisiert als das Ein- und Ausfalten der Bewegung des Begehrens.

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F ALTE Insbesondere in seinen Büchern über Michel Foucault und dann über Leibniz entwickelt Deleuze seine Theorie der Falte. Gegenüber dem zuvor erwähnten Konzept der Doppelbegriffe, wie sie sich dann vor allem in seinen zusammen mit Félix Guattari geschriebenen Arbeiten finden, knüpft die Theorie der Falte an Deleuze’ Konzept einer selbst differenzierenden Differenz an, wie sie in seiner 1968 publizierten Habilitationsschrift Différence et répetition entwickelt wurde. Sicher ist auch die Falte von einem Wechsel von Ein- und Ausschluss oder Markierung und Demarkierung bestimmt, der Begriff der Faltung hat aber gegenüber den Doppelbegriffen den Vorteil, die gleichwertige Folge von Bewegungen zu bezeichnen, ohne dabei zugleich eine Kontinuität zu unterstellen. In der Faltung weist jedes Ereignis über sich hinaus und macht es zum Teil des Prozesses. Die Faltung ist mithin auch eine Figur der Abstraktion, die wie ein eternal object das einzelne Ereignis transzendiert. Deshalb kann Deleuze in seinem Buch über Leibniz auch in Bezug auf diesen Begriff Whiteheads sagen, dass „die ewigen Gegenstände reine Möglichkeiten (sind), die sich fließend realisieren, jedoch auch reine Virtualitäten, die sich in den Prehensionen realisieren.“24 Faltungen sind nicht kontinuierlich oder linear, sie sind immer wieder neue Individuierungen oder Ereignisse, die aber von einem neuen Ereignis, einer neuen Prehension aufgenommen werden. Diese Ingression in das Ereignis vollziehen die eternal objects. Zu ihnen gehören die Farben und die Rhythmen, die Gesten und Ornamente, die in den Vorgriffen und Wiederholungen miteinander korrespondieren. Faltungen halten sich selbst, sie umschließen nichts, das schon da wäre, und sie liegen nicht außerhalb von Zeit oder Veränderung. Anders gesagt: Faltungen sind prozessual und diskret, sie sind plastisch und abstrakt, sie sind die generischen Formen von architektonischen Räumen ebenso wie von Körperbewegungen, von Bildern ebenso wie von Konzepten, sie finden sich im Ereignis, in dem die Grenze zur Auflösung und zur Katastrophe überschritten wird ebenso wie in Planung und Erinnerung. Wenn im letzten Teil des Filmes Feuerwehrmänner dabei gezeigt werden, wie sie sich Notizen machen oder die Was-

24 Deleuze, Gilles: Die Falte. Leibniz und der Barock, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1995, S. 132.

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serschläuche am Boden wieder einrollen, geht es um eben solche Faltungen wie wenn zu Beginn des Films das Chorgestühl und die Säulenformen näher beschrieben werden. Dabei finden Bewegungen der Übertragung statt, die selbst als Faltungen zu verstehen sind. Sie haben oft etwas Mimetisches in Walter Benjamins Sinne. Jede Übertragung ist eine Abstraktion. Dabei spielt es keine Rolle, ob sie gegenständlichen Charakter haben oder nicht. Ausführlich geht der Film auf ein solches figürliches Beispiel ein. Die hinteren Stühle des Chores sind mit klappbaren Sitzflächen ausgelegt, da ja ein großer Teil der Gottesdienste im Stehen zu leisten war. Die Sitzflächen haben nun auf ihrer Unterseite kleine misericord (Misericordie) genannte Leisten, an denen ein Stehender eine leichte Stütze finden konnte. Sie sind oft mit figürlichen Schnitzereien verziert, die groteske, sexuelle und gewaltsame Szenen oder Fabelwesen zeigen, in denen bisweilen auch die Differenz zwischen Menschen und Tieren sich aufzulösen beginnt. Der animierte Text des Videos spiegelt oder faltet die Bilder: on the subordinate part of the choir on the bench ends on the lecterns and under the seats there are other kinds of carved images there are human and supernatural heads here they are and there are seated or reclining figures of animals and fantastic creatures here they are the carving located under the seats are called misericords they feature profane absurd and violent imagery Die zweimalige deiktische Geste des here they are hebt sich in Bezug auf ihre Intentionalität des Zeigens auf, wird selbst zu einem Twist der Herausstellung der Übertragung, die der Zuschauer ja seinerseits längst vollzogen hat. Sie problematisiert damit eben das Übertragungsverhältnis von Schrift und Bild, nicht unbedingt, um es aufzulösen, aber um es als eine Übertragungsbewegung selbst analytisch begreifbar zu machen. Dabei überträgt

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die Geste ja nicht einen Wortsinn auf ein Bild, sondern sie korreliert zwei Narrationen, synchronisiert sie gewissermaßen, faltet sie. Die Misericordia wiederum stellen nun einen eigentümlichen Einbruch des Außen in die innere Welt der Andacht da, sie sind wie ein karnevalesker Exzess im Kontrast zur Disziplin der mönchischen Dienste. Viele dieser Körper sind auch in einer Drehung oder Wendung befangen, sie falten sich zu sich selbst, einer fügt Kopf und Anus aneinander, andere sind mit dem Einnehmen und Ausscheiden von Flüssigkeiten beschäftigt, oder sie kämpfen in mehr oder weniger obszöner Weise miteinander. Der spätmittelalterliche Weg der Religiosität ließ es offensichtlich zu, eine Gemeinschaft zu bilden, in der das Außen in der Faltung sichtbar wurde. Der Exzess und das Heilige scheinen sich hier zu berühren. Man könnte auch sagen: Die Misericordia gibt genau die Schwelle zwischen der profanen und der heiligen Welt an. In diesem Sinne dürfte sie auch von Price verstanden worden sein, denn wenig später wird mit den in Bewegung fixierten Statuen auf den Grabsteinen der Kirche eine weitere Übergangszone aufgerufen: die zwischen Leben und Tod.

D EIXIS Die Bewegung der Verdrehung der Hand erinnert sehr früh im Film schon an Gesten der religiösen Predigt und des Gesangs. Wenn die Shangri-Las zu ihrem Out in the Streets die sich windende Bewegung von Arm und Hand ausführen, dürften sie sich selbst, ob bewusst oder nicht, in religiöse Traditionen stellen, von denen das Gospel sicher das räumlich und zeitlich nächste Beispiel darstellt. Aber eben auch die Überlebenden und Zeugen des Kaufhausbrandes (re)produzieren diese Geste. Die Aufnahmen machen den Eindruck, als seien sie von Fernsehreportern noch am Unglücksort gemacht worden. it all went up right here it all went up in a matter of minutes and we saw the smoke right here

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in a matter of minutes it all went up Gesten werden oft unmittelbar der deiktischen Dimension der Kommunikation zugesprochen. Die gestische Explikation „erschließt die Dimension eines Kommunikationsraumes, vollzieht sich rhythmisch, d.h. temporal, und baut affektive Differenzen auf mit Wirkungsfolgen gegenüber den Adressaten.“25 Für seine „kleine Phänomenologie der Gebärdung“ führt Gottfried Boehm darüber hinaus die Befähigung „zu einer nachahmenden (‹malenden›) Darstellung [….]; zum vorausgreifenden Entwurf, der Unbekanntem und noch Unsichtbarem Präsenz verschafft; zur reflektierenden, stillstellenden Erhellung […]; zur affektiven Tönung differenter Intensitäten“26 an. Alle diese Beschreibungen treffen für die Geste der Körper, die deiktischen Wendungen der Sprache, den Rhythmus der Musik und vor allem des Schnitts selbst zu. Und nicht minder betreffen sie die Darstellung des Videos selbst, das vom ersten Klatschen und kurzem Bild an, das zu Beginn des Films aus dem Schwarzbild auftaucht, ebenso etwas zeigt wie es das Zeigen selbst ausstellt. Boehm stützt sich in seiner Theorie der Deixis auf die 1934 erschienene Sprachtheorie von Karl Bühler. Danach würden alle deiktischen Ausdrücke einen Bezug auf ein Origo haben, also auf einen Ursprungspunkt, wie ihn ein kartesisches Koordinatensystem kennt. Aus ihm leitet Bühler dann ein „Zeigefeld“ ab. Für Bühler ist dieses Origo das „ich“ des Sprechers, Boehm erweitert dies in Hinblick auf ein Orientiertsein des Körpers. Mit der Doppelung der Augen, Ohren, Arme und Hände bilde dieser „gleichsam de(n) somatische(n) Kompass, der auf das Energiefeld der Gebärdung reagiert.“27 Dabei versteht Boehm den gebärdenden Körper als eine „Matrix […], die gleichermaßen generiert wie begründet.“28 Die Geste des Körpers bringe „eine somatische Differenz“ ins Spiel.29 Der generierte Sinn verschwinde mit der Situation und werde „al-

25 Boehm, Gottfried: „Das zeigen der Bilder“, in: Gottfried Boehm/Sebastian Egenhofer/Christian Spies (Hg.), Zeigen. Die Rhetorik des Sichtbaren, München: Wilhelm Fink 2010, S. 19-54, hier S. 36. 26 Ebd. 27 Ebd., S. 45. 28 Ebd., S. 37. 29 Ebd.

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lein vom evidenten Selbstbezug des Körpers getragen.“ 30 Boehm versteht nun das Bild als ein „Zeigefeld“31 im Bühlerschen Sinne. „Seine Logik ist die der Kontraste und der sich in ihnen mobilisierenden Energien“ 32, fährt Boehm fort und exemplifiziert am Beispiel des Stillleben mit Büchern und Kerze von Sebastian Stroskopff, wie ein Rhythmus von detaillierter Darstellung und schattenhafter Verborgenheit den somatischen Kompass erweitert. Das Bild mache so eine „Ökonomie des Zeigens“ deutlich, „hier und jetzt“33. Mit dieser raumzeitlichen Bestimmung ließe sich allerdings die Differenz des in Erscheinung Bringens doch weitgehend von der somatischen Differenz des Körpers lösen und die Geste des Zeigens, des Hier und Jetzt, als Differenz des Medialen oder des Diskurses verstehen. Das Hier und Jetzt ist ein Mitteilbares nicht, weil es durch einen Körper des Sprechers garantiert würde, sondern weil es sich auf ein Äußerungssystem selbst bezieht und es performiert, auf Sprache, Bild, Rhythmus, Geste. Das Deiktische ist gewissermaßen eine unmittelbare Dramatisierung, wie Gilles Deleuze mit Bezug auf die mouvements aberrants der Helden in Filmen der nouvelle vague sagt.34 Doch ist es kein Zeigen auf etwas, das außerhalb des Äußerungsaktes oder Medialen selber läge, es ist ein Zeigen, das sich nur im Medialen selbst situieren kann. Das wird vielleicht nirgends so deutlich wie bei den Berichten der Zeugenschaft: Denn das, worüber Zeugnis abgelegt wird von den Überlebenden und Beobachtern des Kaufhausbrandes ist nicht etwas, das schon eine Form von Objektivität oder Intersubjektivität hätte. „It all went up“: Was ist das, das dort nach oben geht? Was man sieht und dann im Video auch zeitversetzt gezeigt wird, das ist der Rauch, aber das, was nach oben geht, ist mehr. Dieses it kann mithin gar nicht gegenständlich werden, und doch erlaubt es die Sprache und erlauben es die Gesten, von etwas zu zeugen, das in der Vergangenheit geschehen ist. Die axiale Ausrichtung oder das Origo läge mithin nicht oder nicht ausschließlich im „ich“ oder im Körper, sondern zunächst einmal in einer Zeitlichkeit,

30 Ebd., S. 38. 31 Ebd., S. 45. 32 Ebd. 33 Ebd., S. 49. 34 Vgl. Deleuze, Gilles: Das Zeit-Bild. Kino II, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991, S. 251.

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die durch die Möglichkeit der Präsenz gegeben wird, weil sich durch sie eine Vergangenheit und eine Gegenwart unterscheiden. Es muss deshalb ebenso wie es ein „ich“, einen Körper oder ein Zeigen gibt, eine Reihe geben, in die dies Handeln aufgenommen ist, die ihm einen Platz und eben eine Gegenwart gibt. Die Präsenz stellt sich also nicht durch die mediale Differenz des Zeigens ein, sie ist die Basis der Kommunikation vor aller Bestimmung eines Gegenstandes. „Ce présent est réinventé chaque fois qu’un homme parle parce que c’est, à la lettre, un moment neuf, non encore vécu.“35 Dieser Gedanke des französischen Linguisten Émile Benveniste lässt sich für ein Verständnis der Medialität und der Ereignishaftigkeit des Subjekts fruchtbar machen. Die Geste schafft kein Objekt, keinen Gegenstand, sie schafft aber eine Differenz zwischen der Gegenwart der Geste und dem, was durch diese mediale Achse zeitlich getrennt wird. Der Akt der Äußerung selbst ist etwas Deiktisches, weil er in der zeitlichen Differenz ein Ereignis, ein Subjekt ist. Diese zeitliche Differenz ist stärker oder basaler als die räumliche Differenz zwischen einem hier und dort, zwischen einem out in the streets und einem Innen. Ohne sie gäbe es kein Überleben, sie ermöglicht es, ein Leben zu leben, das vom Tod nur durch die zeitliche Differenz geschieden ist, die Differenz des Jetzt. Die Windung der Hand, die Windung der Arme falten Zeit ein und schaffen sie damit, sie sind ein Akt der Behauptung einer Gegenwärtigkeit. Das „hier ist es“ behauptet mit der Gegenwärtigkeit eines Objektes die Gegenwärtigkeit eines Subjektes. Es ist letztlich nichts anderes als jene Differenz im Laut des Klatschens, mit dem das Video beginnt und das sich in einer komplexen Rhythmik durch die ganze Arbeit zieht. „Existiert nicht eine gestische Abstraktion?“36 fragt Gottfried Boehm. Vielleicht muss man diese Frage weiter prononcieren: Ist nicht die Geste selbst Abstraktion? Abstraktion in dem Sinne, wie wir es bei Whitehead entwickelt finden: Abstraktion, weil sie nichts als die mediale Differenz ins Spiel bringt, zwischen dem, das etwas war und dem, das etwas noch kommen wird. Letztlich geht es um nichts anderes als um die Frage, ob die Verschränkung von Vergangenheit und Gegenwart oder von Innen und Außen unab-

35 Benveniste, Emile: Problèmes de linguistique générale, Paris: Gallimard 1974, S. 74. 36 G. Boehm: „Das zeigen der Bilder“, S. 28.

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hängig von einer Medialität zu denken ist, in der sie sich vollzieht. Die Überkreuzung von Ich und Welt war auch von Maurice Merleau-Ponty prominent formuliert worden.37 Man könnte vom Körper sprechen, der als Medium ein in der Welt Sein ermöglicht, ein Sein, das ebenso ein Sehen wie ein Gesehenwerden bedeutet, eine unmittelbare Dramatisierung. Und doch bleibt die Frage der Medialität dabei kaum beantwortet, denn wenn es Gegenwart nur gibt, weil sich dadurch Gegenwart und Vergangenheit konstituieren, muss es ein Medium geben, in dem etwas festgehalten wird, ein Archiv, das Einschreibungen aufnimmt, ein eternal object, das über das Ereignis hinausweist. Und auch wenn man den Körper als ein solches Gedächtnis oder Archiv verstehen kann, bleibt die Frage, wie sich dies mitteilen kann und wie die Kommunikation möglich ist. Wenn Price in Woolworth Choir schreibt, here you see it, dann ist dieses here explizit eine zeitliche Bezugnahme auf etwas, das sie zuvor schon gezeigt hat. Die Präsenz ist ein Einschnitt in etwas, das es als eine durée nicht schon gibt, sondern mit dem Einschnitt selbst entsteht. Zeit ist eben nichts, was es außerhalb des Prozesses gäbe. Etwas zugespitzt formuliert: Jedes hier, jede Deixis ist ein Verweis auf die Affizierung durch etwas, das schon gewesen ist, anders gesagt, auf die gegenwärtige Affizierbarkeit durch Vergangenheit. Deixis ist mithin alles andere als unmittelbare Präsenz. Sie ist Mitteilbarkeit des Vergangenen, die aber eben ein Medium, eine Mitte voraussetzt. Rhythmus als zeitliches Gedächtnis, Geste als körperliches Bewegungs- und Raumgedächtnis, Ornament als visuelles Mustergedächtnis der Bewegung, Farbe als visuelles Mustergedächtnis der Intensität: das sind neben dem Chor selbst die vier medialen Formen, die Price in ihrer Arbeit als eternal objects vorschlägt. Alle sind abstrakt in dem Sinne, dass sie Muster sind, welche sich der Gegenwart eines Ereignisses anbieten und so etwas wie Wahrnehmung ermöglichen.

S EMANTIK Sind Muster nicht auch Formen? So könnte man nachfragen. Wenn man den Dualismus Form/Inhalt wirklich beiseitelegt und den Begriff der Form

37 Vgl. Merleau-Ponty, Maurice: Das Sichtbare und das Unsichtbare, München: Fink 1994, S. 173-203.

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als das versteht, was im Ereignis über das Ereignis hinausweist, scheinen die Begriffe sich anzunähern. Aber ein Muster ist eigentlich nicht etwas, nach dem etwas geformt ist, es ist stärker eine Weise, in der sich etwas zu einem Bild organisiert, wie man mit Henri Bergson sagen könnte 38, einem Bild, das eben für ein anderes Ereignis wahrnehmbar wird. Unter dem Gesichtspunkt der Deixis erscheinen ich, hier, dort, jetzt oder eben auch die Gestik als verschiedene Formen der Indexikalität. Nun ist schon die Drehbewegung, die Price in ihrer Videoarbeit so herausstellt, kaum in Bühlers „Gesichtsfeld“ einzutragen, da sie als Faltungsbewegung der Richtung entbehrt. Sie zeigt nicht, sie hat allenfalls mimetische Qualität. Aber sie stellt sich selbst aus, macht sich wahrnehmbar. In einer anderen, vom russischen Formalismus herkommenden sprachwissenschaftlichen Tradition, der von Roman Jakobson, werden diese Sprachelemente shifter genannt. Jakobson stellt dabei explizit Bühlers Zurechnung dieser Sprachelemente zum Index infrage, denn sie können auch einen symbolischen Charakter haben. In Erweiterung der dreigliedrigen Unterscheidung von Charles Sanders Pierce zwischen Ikon, Index und Symbol spricht Jakobson deshalb von indexical symbols39. Die Bedeutung der shifter kann nur aus dem Gesamt der Sprechsituation heraus bestimmt werden. Jacques Lacan hat diese Doppelung aufgegriffen und in ihr eine Erläuterung für die grundsätzliche Spaltung des Subjekts in ein je und ein moi gesehen. Das Subjekt der Aussage ist wohl ein bezeichnendes, aber kein bedeutendes.40 Es ist nicht dort, von wo aus es spricht. Das trifft aber auch für das zu, was von ihm bezeichnet wird, wenn es, wie in Price’ Videoarbeit, ein it ist, etwas, auf das verwiesen, das aber nicht symbolisch gefasst wird. Sicher scheint die Bedeutung des it aus dem Zusammenhang erschließbar, aber die Unbestimmtheit wird bei jeder Wiederholung größer und im Zusammenhang mit der Geste der windenden Hand, die sich ja in mehreren Zusammenhängen

38 Vgl. Bergson, Henri: Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist, Hamburg: Felix Meiner 1991. 39 Vgl. Jakobson, Roman: „Shifters, Verbal Categories, and the Russian Verb“, in: ders., Selected Writings II: Word and Language, The Hague/Paris : Mouton 1971, S. 130-147, hier S. 132. 40 Vgl. Lacan, Jacques: „Subversion des Subjekts und Dialektik des Begehrens im Freudschen Unbewussten“, in: ders., Schriften II, Olten: Walter Verlag 1991, S. 165-204, hier S. 174.

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wiederfindet, überflutet sie jede Bedeutungsbestimmung. Das Subjekt hat keinen Ort, es wird aber dort gewesen sein. Der schon zitierte Émile Benveniste stellt die shifter in einen sprachlichen Zusammenhang, den er von der Semiotik klar unterscheidet. Während die Semiotik die Weise der Bedeutung meint, die durch das Zeichen gegeben wird, ist die Semantik auf die Bedeutungsgebung durch den Diskurs bezogen. Das Zeichen „doit être reconnu; le sémantique (le discours) doit être compris.“41 Es ginge dabei um zwei unterschiedliche Vermögen des Geistes: das, eine Identität zwischen dem Vergangenen und dem Gegenwärtigen, und das, die Bedeutung einer neuen Äußerung wahrzunehmen. Beide Vermögen seien getrennt: „Du signe à la phrase il n’y a pas transition, ni par syntagmation ni autrement. Un hiatus les sépare.“42 Für Benveniste ist dies eine Besonderheit der Sprache, kein anderes Bedeutungssystem artikuliere sich zugleich in zwei ganz getrennten Dimensionen. Wiederholung und Wiedererkennung als Vermögen des Umgangs mit Zeichen, Differenz und Zeitlichkeit als Vermögen der Äußerung im Diskurs erlauben, gerade weil ein Hiatus sie trennt, eine vielleicht unbeschränkte Komplexität. Dabei sind Farbe, Rhythmus, Geste und Ornament weitgehend semantische Äußerungen, auch wenn sie semiotische Anteile aufnehmen und damit spielen mögen. Sie sind Ausdruck der Affizierbarkeit, zugleich weisen sie aber auch über sich hinaus, da sie sich nicht selbst an ihrem Ort befinden. Sie haben Sinn und Bedeutung nur als Teil eines Diskurses, als eines Prozesses der Artikulation. Selbstverständlich ist es ein Sprung, dies wiederum in eine Analogie zu Whiteheads Idee der eternal objects zu stellen. Wenn man nun aber der radikalen Trennung zwischen Semiotik und Semantik folgt, wie sie Benveniste fordert, dann wäre das Spezifische der Sprache ja, dass sie beide Systeme miteinander verbindet, das Semiotische und das Semantische als einzelne Phänomene einer eindimensionalen Bedeutungsgebung ließen sich aber für viele andere Systeme bestimmen. „La couleur, ce matériau, comporte une variété illimitée de nuances gradables, dont aucune ne trouvera d’équivalence avec un ‚signe‘ linguistique.“43 In der Folge kann für Benveniste ein künstlerischer Ausdruck ganz ohne Semiotisches auskommen und nur semantisch bedeuten

41 E. Benveniste: Problèmes de linguistique générale, S. 64. 42 Ebd., S. 65. 43 Ebd., S. 58f.

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oder sinnhaft sein. Es ließen sich hier eine Vielzahl an Beispielen der Malerei anführen, und nicht wenige Künstler einer stark gegenstandslosen oder abstrakten Malerei verstehen ihre Bilder explizit als etwas Zeitliches, so etwa Robert und Sonia Delaunay, die ihren Gemälden oft nur den Titel „Rhythmus“ gegeben haben.44 Das rhythmische Spiel der Farben, durch Einblendung monochromer Zwischenbilder intensiviert, zieht sich durch die ganze Videoarbeit von Price, es ist aber im mittleren Teil, der Mitschnitte oder abgefilmte Passagen aus Musikvideos der 1960er Jahre zeigt, prägend. Die Montage nimmt auch weitere Bilder auf, deren Zuordnung zu Musikvideos keineswegs selbstverständlich ist, wie den Sprung einer Frau von einem Sprungbrett und später ihr Auftauchen aus dem Wasser. Auch das Hörbild kennt neben einer an eine Übersteuerung erinnernden Geräuschebene noch eine Art Echo an Stimmen, das sich aber nicht auf das Lied der Shangri-Las beziehen lässt. So zieht die Montage das Semiotische und das Semantische immer weiter auseinander und stellt damit eine Spannung her, in die hinein dann die Handbewegungen der Zeugen und Überlebenden und das eingeblendete „right here“ eine Präsenz erzeugen, eine Anwesenheit, die, jedenfalls beim ersten Sehen des Videos, durch keinen Verweis auf ein Bezeichnetes noch hergestellt oder gestützt wäre. Farbe, Rhythmus, Geste und Ornament gehören ganz dem Semantischen der Kommunikation an, auch wenn sie natürlich selbst wieder als Zeichen verstanden werden können. Sie bilden die diskursive und mediale Dimension der Kommunikation, sie adressieren und sind selbst Intensitäten oder Affekte. Sie sind diskursiv auch in dem Sinne, dass sie laufend oder seriell sind. Sie bilden Reihen oder Rhythmen, die mit anderen Reihen oder Rhythmen eine Resonanz bilden. Das out in the streets ist ein Ritornell, wie es von Gilles Deleuze und Félix Guattari in Milles Plateaux beschrieben wird45 – ein Begriff, der das Konzept der Serie, die Deleuze in Logik des Sinns entlang Lewis Carrolls Alice in Wonderland oder seinem Handbuchartikel Was ist der Strukturalismus ein gutes Jahrzehnt zuvor entfaltet hatte,

44 Delaunay, Sonia: On the Occasion of the Exhibition Sonia Delaunay, London: Tate Modern 2015. 45 Vgl. Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie, Berlin: Merve Verlag 1997, S. 423-480.

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wieder aufnimmt.46 Zeit, um einen Bogen zum Beginn der Überlegungen zu ziehen, kann also als Resonanz von Reihen beschrieben werden, wobei die Reihen selbst wieder Resonanzen von Einzelereignissen sind, wie etwa dem Klatschen, mit dem Price’ Videoarbeit beginnt, das natürlich selbst wieder als ein Ereignis der Resonanz beschrieben werden kann. Zeugen und Überlebende sind in ein Ereignis eingebunden, das sie im Sinne einer Semantik betrifft, sie können es aber deswegen nicht schon benennen, zu einem Objekt machen, das benannt und wiedererkannt werden kann. Ein Trauma im engeren Sinne wiederholt sich, aber es wiederholt sich im Sinne eines zwanghaften Agierens, in dem es gerade nicht wiedererkannt wird, in dem es keine Zeichenhaftigkeit bekommen hat. Zwischen der semantischen Reihe und der Reihe der Zeichen besteht ein Hiatus, und doch ist alles Sprechen nur möglich, weil beide Reihen eine ResonanzBeziehung eingehen können. Allerdings gilt auch: „Dans les formes pathologiques du langage, les deux facultés sont frequentement dissociées.“47 Psychologisch gesehen kann das auch zu blockierten Verknüpfungen oder Faltungen führen. Im Wiederholungszwang verkürzt sich die Resonanz der Reihen, so dass an die Stelle des Subjekts im Diskurs ein Zeichen tritt, eine Wiederholung, die sich gegen ihren aktuellen Zusammenhang isoliert. In einem psychotischen Sprechen tritt ein aus dem Zusammenhang des Diskurses gelöstes „ich“ oder „hier“ in eine Kette von Zeichen ein. In diesem Sinne könnte man über Price’ Videoarbeit auch sagen, dass sie eine Suche nach der Resonanz darstellt, im aktiven wie im passiven Sinne. Sie zeigt die Suche des Sprechens in der Artikulation des hier und jetzt des Diskurses, des dort und dann der Narration und ist selbst Resonanzraum von Reihen, in den auch der Diskurs des Besuchers der Installation aufgenommen ist. In seinen Reflexionen zur Zeugenschaft beruft sich Giorgio Agamben auf Benvenistes Unterscheidung zwischen den Systemen der Sprache. Er erwähnt dabei nicht, dass der Hiatus zwischen Semantik und Semiotik die Komplexität des Sprechens sprunghaft erhöht, sondern vertieft nur das

46 Vgl. Deleuze, Gilles: Logik des Sinns, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993 und ders.: „Woran erkennt man den Strukturalismus?“, in: François Châtelet (Hg.), Geschichte der Philosophie VIII, Frankfurt am Main/Berlin/Wien: Verlag Ullstein 1975, S. 269-302. 47 E. Benveniste: Problèmes de linguistique générale, S. 65.

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Moment der Desubjektivierung im Akt der Äußerung, wie es schon Lacan beschrieben hatte. „How can a subject give an account of its own ruin?“48 Es gäbe immer ein „fragment of memory that is always forgotten in the act of saying ‹I›.“49 Damit aber bekäme jeder sprachliche Akt etwas Unvollkommenes, in jedem sprachlichen Akt sei auch ein Verweis auf das NichtGesagte oder Nicht-Sagbare und damit auf die Kontingenz des Sprechens. Eben an dieser Stelle sieht Agamben dann die Möglichkeit der Zeugenschaft oder die Potentialität, über die Erfahrung der Desubjektivierung zu sprechen. Es gibt in Price’ Video eine Reihe von Bildern, die eine solches Argument plausibel erscheinen lassen. Ist das it all went up nicht an der Schwelle zwischen dem Innen und dem Außen der Sprache? Das ist sicher richtig, aber warum? Bei Benveniste bedeutet der Hiatus zwischen Semantik und Semiotik ja gar nicht primär, dass der shifter mit einer Desubjektivierungserfahrung verbunden ist. Er stellt einen zeitlichen Einschnitt dar und ermöglicht so überhaupt erst, dass Neues in die Welt kommt und das System der Semiotik vor einer Abschließung bewahrt wird. Der shifter gibt dem Subjekt keinen Ort im Symbolischen, aber er markiert gleichwohl seine Präsenz in der Relationalität des Diskurses oder der Sozialität. Der Bereich, der mit der Semantik beschrieben wird, ist ja, bevor sie in der Entwicklungsgeschichte der Sprache des Individuums mit dem System der Zeichen verbunden wird, Möglichkeit erfüllter Augenblicke der Kommunikation oder Relationalität. Denn längst bevor das Kind in die Sprache des Symbolischen eingeführt wird, ist es in einer intensiven Kommunikation mit seiner Umwelt, den Menschen, Tieren, Dingen, Phänomenen: einer Kommunikation der Rhythmik, der Gesten, der Farben, der akustischen, visuellen, olfaktorischen und taktilen Muster. Daniel Sterns epochales Buch The Interpersonal World of the Infant von 1985 entfaltet dies auf der Basis einer breiten Säuglingsforschung.50 Und wenn man nicht mehr von einer Ichzentrierung des Kindes ausgeht, sondern von einer Relationalität des subjektiven Vermögens der Erkennung und interpersonellen Aufnahme von Mustern, erweist sich da nicht gerade dieser scheinbar unbestimmte

48 Agamben, Giorgio: Remnants of Auschwitz: the witness and the archive, New York: Zone Books 1999, S. 142. 49 Ebd., S. 144. 50 Vgl. Stern, Daniel N.: The interpersonal world of the infant: a view from psychoanalysis and developmental psychology, New York: Basic Books 1985.

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Augenblick der nicht-semiotischen oder vorsymbolischen Interaktion als Möglichkeit und als Verpflichtung der Zeugenschaft – als Möglichkeit auch dann, wenn das Ereignis bedrohlich war, weil im deiktischen Sprechen eine zeitliche Differenz möglich wird, als Verpflichtung, weil so erst eine erlittene Desubjektivierung in einer Relationalität des Sozialen relativiert werden und damit letztlich auch das Soziale lebendig gehalten werden kann? Wenige Bilder bringen das so nahe wie die Gesten der sich windenden Hand in Price’ Videoarbeit. Die letzten Sequenzen der Videoarbeit zeigen das Experiment des Nachvollzugs der Entstehung des Feuers. In a matter of minutes dringt aus der nachgebauten Kammer mit Möbeln zunächst dunkler Rauch, dann schlagen hohe Flammen heraus. Zwei große Scheinwerfer beleuchten das Geschehen, Messgeräte sind zu erkennen. Das Bild wird als Splitscreen in das Video montiert, wobei das linke Bild ein Farb-, das rechte SchwarzWeiß-Bild ist. In die Bildfolge geschnitten sehen wir eine Hand, die auf einem Blatt Papier zunächst das Schema einer Kammer und dann, mit einer kreisenden Bewegung, eine Schlange zeichnet, die den entstehenden und dann austretenden Rauch symbolisiert. Auch jetzt noch adressiert mich als Betrachter das Spiel der Verweisungen, bindet mich selbst in den Äußerungsakt ein. Und ich merke, wie in den letzten vielleicht 20 Sekunden, in denen der eingeblendete Pfeifton immer schwächer wird, einmal mehr die drehende Bewegung der Flammen eine Faszination auf mich ausübt, bis erneut unvorhersehbar ein Klatschen und zeitgleich der Schnitt auf ein graues Bild mit gerade noch erkennbaren sich verändernden Mustern des Rauches erfolgt, das an das Bild am Ende der Schilderungen über den Brand anschließt und in das nach einigen Sekunden dann der Name der Autorin eingeblendet wird. Wir sind einen Weg von einem religiösen über ein alltagskulturelles zu einem wissenschaftlichen Wissen gegangen, das allerdings von Beginn an durch die Montage zur Serie verknüpft war. Sie ist verknüpft in dem, was sich als Semantik der Faltung, der Geste, des Ornaments und des Rhythmus in ihr findet und mich als Betrachter zum Teil des Ereignisses der Kommunikation werden lässt.

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L ITERATUR Agamben, Giorgio: Remnants of Auschwitz: the witness and the archive, New York: Zone Books 1999. Barad, Karen: Meeting the Universe Halfway. Quantum Physics and the Entanglement of Matter and Meaning, Durham/London: Duke University Press 2007. Barad, Karen: „Quantum Entanglements and Hauntological Relations of Inheritance: Dis/continuities, SpaceTime Enfoldings, and Justice-toCome“, in: Derrida Today 3/2 (2010), S. 240–268. Benveniste, Emile: Problèmes de linguistique générale, Paris: Gallimard 1974. Bergson, Henri : Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist, Hamburg: Felix Meiner 1991. Boehm, Gottfried: „Das zeigen der Bilder“, in: Gottfried Boehm/Sebastian Egenhofer/Christian Spies (Hg.), Zeigen. Die Rhetorik des Sichtbaren, München: Wilhelm Fink 2010, S. 19-54. Delaunay, Sonia: On the Occasion of the Exhibition Sonia Delaunay, London: Tate Modern 2015. Deleuze, Gilles: „Woran erkennt man den Strukturalismus?“, in: François Châtelet (Hg.), Geschichte der Philosophie VIII, Frankfurt am Main/Berlin/Wien: Verlag Ullstein 1975, S. 269-302. Deleuze, Gilles: Das Zeit-Bild. Kino II, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991. Deleuze, Gilles: Logik des Sinns, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993. Deleuze, Gilles: Die Falte. Leibniz und der Barock, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1995. Deleuze, Gilles: Differenz und Wiederholung, München: Wilhelm Fink 1997. Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie, Berlin: Merve Verlag 1997. Derrida, Jacques: „Freud und der Schauplatz der Schrift“, in: ders., Die Schrift und die Differenz, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1972, S. 302-350. Derrida, Jacques: Falschgeld. Zeit geben I, München: Wilhelm Fink Verlag 1993. Geulen, Eva: „Funktionen von Reihenbildung in Goethes Morphologie“, in: Bettine Menke/Thomas Glaser (Hg.), Experimentalanordnungen der

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Bildung. Exteriorität – Theatralität ‒ Literarizität, Paderborn: Wilhelm Fink 2014, S. 209-222. Goethe, Johann Wolfgang von: „Morphologie“, in: ders., Naturwissenschaftliche Schriften 1 (Hamburger Ausgabe), München: C.H. Beck 1988, S. 53-250. Görling, Reinhold: „Screaming Red: Colour, Affect, and Cinema“, in: Victoira Bogushevskaya/Elisabetta Colla (Hg.), Thinking Colours. Perception, Translation and Representation, Cambridge: Cambridge Scholars Publishing 2015, S. 147-161. Görling, Reinhold: „Abstraktion und gelebte Zeit. Plastizität und Rhythmus bei Élie Faure, Jean Epstein und Gilles Deleuze“, in: Michael Gamper/Eva Geulen (Hg.), Zeiten der Form, Formen der Zeit, Hannover: Wehrhahn 2016, S. 213-239. Jakobson, Roman: „Shifters, Verbal Categories, and the Russian Verb“, in: ders., Selected Writings II: Word and Language, The Hague/Paris : Mouton 1971, S. 130-147. Lacan, Jacques: „Subversion des Subjekts und Dialektik des Begehrens im Freudschen Unbewussten“, in: ders., Schriften II, Olten: Walter Verlag 1991, S. 165-204. Malabou, Cathérine: „Plasticity and Elasticity in Freud’s ,Beyond the Pleasure Principle‘“, in: Diacritics 37/4 (2007), S. 78-85. Malabou, Cathérine: Ontologie des Akzidentiellen. Über die zerstörerische Plastizität des Gehirns, Berlin: Merve 2011. Merleau-Ponty, Maurice: Das Sichtbare und das Unsichtbare, München: Fink 1994. Seel, Martin: „Form als eine Organisation der Zeit“, in: Josef Früchtl/Maria Moog-Grünewald (Hg.), Ästhetik in metaphysikkritischen Zeiten – 100 Jahre ›Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft‹, Sonderheft 8, Hamburg: Felix Meiner Verlag 2007, S. 33-44. Stern, Daniel N.: The interpersonal world of the infant: a view from psychoanalysis and developmental psychology, New York: Basic Books 1985. Whitehead, Alfred North: Science and the Modern World, New York: Pelican Mentor Books 1948. Whitehead, Alfred North: Process and Reality. An Essay in Cosmology, New York: The Free Press 1978.

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Whitehead, Alfred North: Prozess und Realität, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1979. Whitehead, Alfred North: Wissenschaft und moderne Welt, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1984.

Alltägliche Abstraktionen Immediation und die Kräfte der Choreographie G ERKO E GERT

D IE

TRANSVERSALEN

K RÄFTE

DES

F RAGENS

Bewegungen sind voller Fragen. Bewegungen stellen Fragen, sie reagieren auf Fragen, sie wiederholen Fragen und sie erhalten die Fragen aufrecht. Lediglich das Beantworten von Fragen wird meist vermieden. Choreographie lenkt mit und durch Fragen, indem sie die immanente Kraft der Bewegung – ihre fragende Dynamik, ihr Wie, Wo und Wer – moduliert. Durch die Artikulation von Fragen produziert die Choreographie vielfältige Bewegungen und Relationen. Dabei verläuft die Technik des Fragens transversal durch die Bewegungen. Choreographie lässt die Probleme eines Ereignisses ins nächste strömen. Dies ist die ihre immediale Kraft.1

1

Diese Arbeit entstand innerhalb des DFG-Forschungsprojekts Choreographien des Politischen. Ökologien von Bewegung und Macht in Tanz, Kollektivität und Wahrnehmung (GZ: EG 377/1-1). Zum Konzept der Immediation siehe auch die Arbeiten des Forschungsprojekts Immediations. Art, Media, Event (Leitung: Erin Manning). Das Netzwerkprojekt geht davon aus, dass kulturelle oder technische Objekte nicht von den Weisen getrennt werden, wie sie die Umgebung (deren Teil sie sind) beeinflussen und wie sie von dieser verändert werden. In diesem komplexen Zusammenkommen entsteht eine Ökologie erlebter Erfahrungen, die vor allem in Begriffen des Ereignisses und Prozesses zu fassen sind. Das Konzept der Immediation ist somit im weitest möglichen Sinne des Wortes ökologisch zu verstehen und nicht auf menschliche Wahrnehmungen zu be-

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Die Choreographin Pina Bausch kannte die Kraft der Fragen und verwendete sie als choreographische Technik. So fragt sie in den Probenprozessen zu Walzer (1982) ihre Tänzerinnen und Tänzer: „Wie haltet ihr Euch an jemandem fest, wenn ihr Angst habt? Wie ein Tier in die Falle geht? Welches Körperteil bewegt ihr am liebsten? Wie öffnet ihr euer Frühstücksei? Wisst ihr wie Indianer robben?“ Diese Fragen wurden von Bausch in den Raum geworfen, sie waren Aufforderungen Bewegungen zu kreieren bzw. gerade geprobte Szenen zu verändern und zu modellieren. Teilweise waren es sogar nur Satzfragmente, verbale Vorschläge, die die Prozesse umlenken und neue Szenen und Ereignisse erzeugten: „Eine Falle stellen / eine Pyramide bauen / eine Zigarette halten / wenn man weint / gute Reise“. Diese Fragen zielen nicht auf die Verifikation oder Falsifikation von bestehendem Wissen, sie lassen sich weder mit „Ja“ noch mit „Nein“ beantworten, auch nicht mit einer „richtigen“ oder „falschen“ Bewegung, diese Fragen kennen ihre Antworten nicht. Die Fragen, die Bausch hier stellt, sind Eröffnungen von Möglichkeiten durch die Intensivierung des Bestehenden. Sie führen zu neuen Materialien, anderen Requisiten, Bewegungen, Liedern und erneut zu Fragen. Drei Männer stehen nebeneinander im Studio. Zwei weitere klettern auf ihre Schenkel, eine Frau balanciert an der Spitze. Unmittelbar stellen sich eine ganze Reihe von Fragen: Wo den anderen halten, damit sie oder er nicht stürzt? Wie viel Spannung brauchen die Beine, damit sie die anderen Körper halten können? Wo muss das Gewicht platziert werden, damit die Pyramide nicht zusammenbricht? In welche Richtung kann ich fallen? Wo ist es sicher? Wie komme ich zurück auf den Boden? 2

schränken. Immediation steht dem Unmittelbaren (immediate) und den Prozessen des Medialen (mediation) nahe, geht aber in keinem der beiden auf. Vgl. auch den Sammelband „Immediations. Art, Media, Event“, in dessen Kontext der vorliegende Text erstanden ist, Manning, Erin/Munster, Anna/Stavning Thomsen, Bodil-Marie (Hg.), Immediations. Art, Media, Event, London: Open Humanities Press (im Erscheinen). sowie die Ausführungen von Murphie, Andrew: „Making sense: the transformation of documentary by digital and networked media“, in: Studies in Documentary Film, 8.3 (2014), S. 188–204. 2

Die Beschreibungen dieses Texts basieren auf der Dokumentation Walzer – 41 Minuten aus den Proben. Pina Bausch und das Wuppertaler Tanztheater April – Mai ‘82 (1986, Bayrischer Rundfunk Deutschland). Die Fragen und Fragmente

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Als choreographisches Verfahren erwarten die Fragen keine endgültige Beantwortung, im Gegenteil, Bauschs Fragetechniken lassen sich vielmehr mit jenen Ausführungen Gilles Deleuzes beschreiben, der die Frage in der Kunst wie in der Philosophie als diejenige benennt, die allein „über eine Öffnung verfügt, die koextensiv zu dem ist, was ihr antworten soll und ihr nur antworten kann, indem es sie aufrechterhält, von neuem stellt und wiederholt“.3 Die Kraft der Frage liegt nicht in der Möglichkeit, ungesichertes in gesichertes Wissen oder Probleme in Aussagen zu transformieren. In den Proben bei Bausch entstehen keine künstlerischen Lösungen gesellschaftlicher, psychischer oder alltäglicher Probleme. Im Studio aktiviert die Kraft der Frage vielmehr Bewegungen und szenische Ereignisse, die die Frage selbst aufnehmen, wiederholen und damit als Frage und als Öffnung aufrechterhalten und erneut stellen. Jede Bewegung, jede Handlung, jedes Wort und jeder Gegenstand stellen die Fragen aufs Neue – und doch anders. Wie ein Tier in die Falle gehen? Wie geht ein Tier in die Falle? Wer geht in die Falle? Wie vermeiden, in die Falle zu gehen? Wo ist die Falle? Achtung! Die Kräfte der Fragen sind stark und vielfältig: Zu stark, um aus ihnen eine unveränderliche Technik zu machen und zu stark, als dass sie durch die Choreographin einfach anzuwenden wären. Im Akt des Fragens beginnt sich jene inter-individuelle, oftmals hierarchisch organisierte Dichotomie von Fragendem und Antwortendem, Choreographin und Tänzer_in aufzulösen. Denn die Frage, so Deleuze, besitzt nicht nur die Kraft neue Fragen zu produzieren, sie verfügt insgesamt über drei Kräfte. Die erste Kraft der Frage ist ihre „Macht des Absurden“, mit ihr „bringt die Frage all die empirischen Antworten, durch die sie beseitigt werden soll, zum Schweigen, um die einzige Antwort zu ‚erzwingen‘, die die Frage aufrechterhält und stets von Neuem aufgreift“.4 Die zweite Kraft ist die „Macht des Rätsels“, sie bringt „den Fragenden ebenso ins Spiel […] wie das, wonach er fragt, und

aus den Proben von Walzer sind Raimund Hoghes Probennotizen entnommen: Hoghe, Raimund. „‚Walzer‘. Fragen, Themen, Stichpunkte aus den Proben“, in: Ders. (Hg.): Pina Bausch. Theatergeschichten von Raimund Hoghe, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1986. S. 84–89. 3

Deleuze, Gilles: Differenz und Wiederholung, München: Fink 1992, S. 248.

4

Ebd.

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[stellt] sich selbst in frage“.5 Die dritte Kraft ist ihre „Macht der philosophischen Odyssee“: „[D]ie Offenbarung des Seins als Entsprechung zur Frage, das sich nicht auf das Befragte und nicht auf den Fragenden reduzieren läßt, sondern sie in der Artikulation seiner eigenen Differenz vereint“. 6 Im Prozess des kollektiven Experimentierens werden Raum und Körper zu einem differenziellen Feld des Fragens. In den Proben zu Walzer stellen die Tänzer_innen wie die Choreographin, das Bühnenbild wie den Bühnenbildner, die Requisiten wie die Techniker_innen „in Frage“ (s. zweite Kraft): Wie tanzt eine Pyramide? ist keine Frage, die lediglich von der Choreographin aus einer stabilen Position heraus gestellt wird. Das Balancieren, das Abstimmen der Bewegungen, der Kräfte und der anderen Körper wird nicht von den Subjekten der Tänzer_innen ausgeführt, das Fragen wird vielmehr selbst zu einem Prozess der Individuation.7 Choreographie wird zu einer immanenten Bearbeitung und Produktion von Differenzen: Keine Choreographie individueller Körper, sondern eine Choreographie differenzieller Bewegungen und Spannungen. Die choreographische Methode Fragen zu stellen, produziert eine zugleich „unpersönliche“ und „autonome“ Kraft. Diese Kraft liegt jedoch weniger in dem Inhalt der Frage als vielmehr in der Weise, wie die Fragen gefragt werden. Obwohl die choreographischen Techniken nicht ohne Subjekte operieren, gehen sie nicht von diesen aus. Die Subjekte des Fra-

5

Ebd.

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Ebd.

7

Mit dem Begriff der Individuation beschreibt Gilbert Simondon den Prozess der Ontogenese. Dieser geht dabei weder vom Individuum aus, noch endet er bei diesem. Es geht vielmehr darum, „das Individuum durch die Individuation hindurch zu erkennen. […] Das Individuum würde dann als eine bedingte Wirklichkeit erfaßt, als eine bestimmte Phase des Seins, die eine vorindividuelle Wirklichkeit voraussetzt und die, selbst nach der Individuation, nicht unabhängig existiert. Denn einerseits schöpft die Individuation die Potentiale der vorindividuellen Wirklichkeit nicht mit einem Mal aus, und andererseits läßt die Individuation nicht nur das Individuum auftauchen, sondern das Paar IndividuumMilieu.“ (Simondon, Gilbert: „Das Individuum und seine Genese. Einleitung“, in: Claudia Blümle/Armin Schäfer (Hg.), Struktur, Figur, Kontur. Abstraktion in Kunst und Lebenswissenschaften, Berlin u. Zürich: Diaphanes 2007, S. 29–45, hier S. 31).

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gens sind „larvenhaft“, „eher Leidende als Handelnde“.8 Nur sie sind „imstande, den Druck einer inneren Resonanz oder die Amplitude einer erzwungenen Bewegung zu ertragen“.9 Der larvenhafte oder bewegte Körper entfaltet sich in den Choreographien des Fragens und nimmt dabei die Dynamiken des „wann und wo“, „wie und wieviel“ auf.10 In der Spannung von absolut Persönlich-Intimem und beliebiger Allgemeinheit – Wie öffnet ihr eurer Frühstücksei? – wird ein Frageraum eröffnet, der weder den individuellen Ausdruck, noch die bloßen technischen Fertigkeiten der Tänzer_innen anspricht. Die Frage zieht sich als choreographische Kraft transversal durch die Körper. Im Akt des Öffnens entsteht das Wie der Bewegung zwischen Ei und Tänzer_in. Weder Ei noch Tänzer_in waren zuerst da. Das Wie der Bewegung, ihre Fragekraft, vereint Frage und Fragenden in ihrer „eigenen Differenz“. Mittels der Frage wird eine autonome Autorschaft durchbrochen und eine spannungsvolle Situation geschaffen. Die aktivierten Bewegungen öffnen neue Fragen und neue Differenzen, die sich quer durch das Studio, die Proben, quer durch Bausch und die Tänzer_innen, quer durch die Aufzeichnungen und die Requisiten und quer durch die Aufführungen und das Publikum und quer durch diesen Text ziehen. Diese Choreographie ist weder durch eine Choreograph_in erschaffen, noch durch eine Tänzer_in aufgeführt, diese Choreographie ist vielmehr dem Ereignis immanent.11 Vielfältige Bewegungen kommen zusammen und produzieren einen Raum intensiver Beziehungen. Hier existieren keine bereits bestehenden Körper, die im Raum angeordnet werden könnten, hier interferieren Bewegungen mit Bewegungen. Im Prozess des Fragens entsteht ein differenzielles Gefüge von Bewegungen, in dem die Körper Knotenpunkte bilden.

8

Deleuze, Gilles: „Die Methode der Dramatisierung“, in: ders., Die einsame

9

Ebd.

Insel, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003, S. 139–170, hier S. 144. 10 Ebd., S. 145. 11 Manning, Erin: Always More than One. Individuation’s Dance, Durham: Duke UP 2013, S. 76.

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C HOREOGRAPHIEN DER S PANNUNG Bauschs Choreographien entstehen im Milieu der alltäglichen Bewegungen und Handlungen der Tänzer_innen. Mittels der Technik des Fragens strömen die gelebten Erfahrungen des Alltags in den choreographischen Prozess und die Proben. Es sind Fragen nach Geschlechterverhältnissen, nach gesellschaftlichen Gewalt- und Machtstrukturen eines konservativ geprägten Westdeutschlands der 80er-Jahre, die das Material für Walzer liefern. Ausgehend von diesen gelebten Erfahrungen eröffnet jede Frage einen spekulativen Prozess, sie wird zum Auslöser experimenteller Bewegungen. Diese von Bausch und anderen Mitgliedern der Kompanie körperlich gelebten Erfahrungen und Spannungen wurden mittels der beschriebenen Fragen-Technik in den Proben und auf der Bühne intensiviert. Mit jeder Bewegung, jeder Geste und Szene faltet sich so die Kraft der Fragen in die Konkretheit tänzerischer Erfahrungen.12 Die so entstehenden „FallGeschichten“13, eröffnen die Möglichkeiten einer anderen Geschichte: Geschichten der Körper, der Bewegungen, der Affekte und Spannungen.

12 Der Probenprozess und die Bewegungsexperimente lassen sich als spekulativ (Whitehead) oder spekulative pragmatische (Manning and Massumi) Handlungen verstehen. In Bezug auf sein spekulatives Denken schreibt Whitehead: „Die wahre Forschungsmethode gleicht einer Flugbahn. Sie hebt ab von der Grundlage einzelner Beobachtungen, schwebt durch die dünne Luft phantasievoller Verallgemeinerung und versenkt sich dann wieder in neue Beobachtungen, die durch rationale Interpretation geschärft sind.“ (Whitehead, Alfred North: Prozess und Realität. Entwurf einer Kosmologie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1987, S. 34). Wie die Philosophie bewegen sich auch die Probenprozesse konstant zwischen den Grundlagen einzelner Beobachtungen und der dünnen Luft phantasievoller Verallgemeinerung. Zur Beschreibung spekulativ-pragmatischer Techniken vgl. Massumi, Brian: Semblance and Event. Activist Philosophy and the Occurent Arts, Cambridge: MIT 2011, S. 85 und Manning, Erin, Massumi, Brian: Thought in the Act, Passages in the Ecology of Experience, Durham: Duke UP 2014. S. 89–90. 13 Brandstetter, Gabriele: „Tanztheater als ‚Chronik der Gefühle‘. FallGeschichten von Pina Bausch und Christoph Marthaler“, in: Margrit Bischof, Claudia Fest und Claudia Rosiny (Hg.), e_motion, Hamburg: LIT 2006, S. 17– 34.

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Bausch geht es weder um ein reines Abbild der bestehenden Verhältnisse, noch um die Kreation einer anderen, utopischen Welt. Ihre Choreographien intensivieren vielmehr die gelebten Erfahrungen. Diese sind dabei keineswegs frei von Konflikten, vielmehr nehmen die Choreographien die bestehenden Fragen auf, wiederholen diese und kreieren neue Spannungen und neue Differenzen. Dieses „Theater des Fragens“ strebt nicht zu einer Aufführung als abschließender Antwort, es fordert eine Erwiderung, die – wie Deleuze schreibt – den Riß niemals auffüllt,14 sondern die differenzierende Kraft der Fragen aufrechterhält und mit ihnen eine Choreographie der Spannungen entstehen lässt.15 Wie der Tanz ist auch der Alltag voller Bewegungen, voller choreographischer Kräfte und somit voller Differenzen und Spannungen. So zum Beispiel die alltäglichen Bewegungen des Kochens: Gemüse schneiden, Wasser erhitzen, würzen. Mitten in den Vorbereitungen klingelt das Telefon. Eine Freundin übernimmt das Kochen. Hineingezogen in diesen differenziellen Prozess des Kochens ergeben sich zahlreiche Fragen: Wie lange muss der Reis kochen? Wie werden die Kräuter mit dem Rest des Essens schmecken? Wie mache ich mit der Zubereitung des Gemüses weiter? Die einzige Frage, die sie sofort aufgeben wird ist: Was soll gekocht werden? Was war der ursprüngliche Plan, das ursprüngliche Rezept? Keine dieser Fragen wird die Situation lösen und das ursprüngliche Rezept (wenn es denn überhaupt eines gab) erfüllen. All diese Fragen nehmen die Prozesse des Kochens auf differenzielle Weise auf, modulieren sie und – wie Deleuze sagen würde – „dramatisieren“ das Kochen.16

14 G. Deleuze: Differenz und Wiederholung, S. 248. 15 Ähnlich dem Konzept der „Choreographie der Spannungen“ schreibt Susanne Langer von „dance tensions“. „[Dance is the] interplay of virtual forces of ,Space tension‘ and ,body tensions‘ and even less specific ,dance tensions‘ created by music, lights, décor, poetic suggestion, and what not“. Langer, Susanne K.: Feeling and Form. A Theory of Art developed from Philosophy in a New Key, London: Routledge and Kegan Paul Limited 1953, S. 186. 16 2013 hat eine Gruppe des SenseLabs mit diesen Fragen experimentiert. Das SenseLab – a laboratory for thought in motion ist ein internationales Netzwerk von Künstler_innen, Wissenschaftler_innen und Aktivist_innen, die gemeinsam zu Fragen der Erfahrung, Bewegung und Kollektivität arbeiten. Während eines mehrtätigen Treffens mit dem Titel Enter Bioscleave waren die Teilneh-

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Deleuze entwickelt ausgehend von seinen Ausführungen zu den Kräften des Fragens das Konzept der Dramatisierung als eine Auseinandersetzung mit der Frage der Spannung. Dramatisierung ist dabei eine Methode des Denkens, aber auch des Denkens des Theaters und der Kunst, sogar allgemein eine Beschreibung der Prozesse der Aktualisierung. Sie ist, so Deleuze, immer mit einer „bestimmten Weise“ der Fragen verbunden: Anstelle zu fragen „was ist das“, fordert er die Fragen „Wer? Wie? Wie viel? Wo und wann? In welchem Fall?“ Diese Fragen führen nicht zu einer Festschreibung des Bestehenden im Sinne eines „Was ist das?“, in der Dramatisierung werden Differenzen aufgenommen und in ihrer Aktualisierung erneut differenziert. Die Fragen nehmen einen spannungsvollen Prozess (bspw. die Handlungen der Essenszubereitung) auf, eliminieren jedoch nicht die Differenzen (durch das Abstellen des Herdes und das Warten bis das Telefonat beendet wird), vielmehr differenzieren sie den Prozess erneut.17 Hier dramatisiert sich nicht etwas, hier wird die Differenz selbst dramatisiert. Das Kochen zieht sich transversal durch die Zutaten, den Herd, die Löffel und die Kochenden; jedoch folgt es keiner vorgegebenen Struktur. Hier wird keine Kochbuch-Dramaturgie ausgeführt, hier wird mittels des Kochens differenziert. In dem Prozess der Dramatisierung entstehen neue spannungsvolle Gefüge. Kein Drama bildet die vorgegebene Struktur der Beziehungen, es gibt keinen linearen Spannungsbogen. Kochen ist nicht die Antwort auf Wie lässt sich dies essen?, Kochen dramati-

mer_innen in mehreren, nah beieinanderliegenden Blockhütten untergebracht, jede einzelne mit einer eigenen Küche ausgestattet. Die Aufgabe war: 1.) Gehe in eine Küche und bringe eine Zutat mit. 2.) Koche 7 Minuten lang. 3.) Unterbreche deine Tätigkeit nach exakt 7 Minuten und wechsle die Küche im Uhrzeigersinn. 4.) Nimm den Prozess des Kochens in der neuen Küche auf. 5.) Beginne erneut mit 2.). Diese choreographische Technik wird „Anarchist Touski“ genannt. 17 Deleuze unterscheidet zwischen der Differentiation und der Differenzierung. Er definiert ihren Unterschied wie folgt: „Differentiation nennen wir die Bestimmung des virtuellen Inhalts der Idee; Differenzierung nennen wir die Aktualisierung dieser Virtualität in Arten und in unterschiedlichen Teilen.“ (G. Deleuze: Differenz und Wiederholung, S. 262) In Bezug auf die Methode der Dramatisierung schlussfolgert er: „Kurz, die Dramatisierung ist die Differenzierung der Differenzierung, qualitativ und quantitativ zugleich“ (ebd., S. 275).

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siert das Essen. Indem das Kochen neue Fragen artikuliert, entfaltet sich das Essen als ein raum-zeitliches Ereignis. Wie das Essen sind auch die choreographischen Techniken in den Proben zu Walzer Dramatisierungen von Spannungen. In Bauschs „Theater der Mannigfaltigkeiten“18 aktualisieren die Bewegungen die vielfältigen Probleme und Spannungen des Alltags sowie der Macht- und Ohnmachtsverhältnisse. In beiden Szenarien ist das menschliche Subjekt keinesfalls zentral: Die Musik, das Licht, die Requisiten und der Raum auf der einen Seite, sowie das Wasser, die Hitze und die Schärfe der Messer auf der anderen, dramatisieren den choreographischen Prozess. „Die Dramatisierungsmethode überschreitet allseits den Menschen. […] Ein Ding, ein Tier, ein Gott sind nicht minder dramatisierbar als ein Mensch oder als menschliche Bestimmungen.“19 Indem die ökologische Prozessualität der Choreographie (des Kochens, des Tanzes) hervorgehoben wird, zeigt sich, dass die Spannungen keineswegs auf den menschlichen Körper, seine Bewegungen oder seine Handlungen zu reduzieren sind. Dramatisierung ist immer „mehr als menschlich“.20 Kochen und Tanzen sind Dramatisierungen der Ökologie und des Milieus.

C HOREOGRAPHISCHE M ATERIALITÄTEN So wie die Methode der Dramatisierung nicht auf den Menschen zu beschränken ist, so lassen sich auch die Fragen nicht auf den Bereich der Sprache reduzieren. Als in den 1960er Jahren in New York der Alltag Einzug in die Choreographie erhielt, lauteten die Fragen: Wie kann man das machen? Wohin bewegen? Der bestehende Fokus auf das Was der

18 G. Deleuze: Differenz und Wiederholung, S. 244. In Bezug auf das Theater Antonin Artauds und Carmelo Benes schreibt Deleuze von einem „Theater der Mannigfaltigkeiten“: Dieses ist „ein Theater von stets offenen Problemen und Fragen, das den Zuschauer, die Bühne und die Figuren in der realen Bewegung eines Lernprozesses des ganzen Unbewussten mit sich reißt, dessen äußerste Elemente wiederum die Probleme sind“ (Ebd., S. 244f.). 19 Deleuze, Gilles: Nietzsche und die Philosopie, Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 1991, S. 87. 20 E. Manning: Always More than One, S. 81.

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Bewegung wurde durch die Fragen des Wie der Handlungen abgelöst. Wie auch Bausch, galt das Interesse von Choreographinnen wie Yvonne Rainer oder Trisha Brown den Alltagsbewegungen. Mit ihren choreographischen Techniken fragten sie: Wie lassen sich pragmatische Bewegungen auf der Bühne erzeugen? Mit ihren choreographischen Aufgaben veränderten sie die Fragen vom Was ist zum Wohin der Bewegungen. Die Notation von Rainers Parts of Some Sextets, eine Choreographie für zehn Personen und zwölf Matratzen, ist voller Fragen, auch wenn diese zunächst in Aufgaben gebündelt sind: „One vertical mattress moving back and forth on single layer“21 oder „Move pile to other side“22. Diese Aufgaben artikulieren ihre Fragen nicht nur auf verbale Art: Wohin bewegen? fragt die Notation. Wer bewegt? und Wie bewegen? fragen die Matratze, die Beschaffenheit des Materials, die Schwerkraft und der Boden. Diese Choreographie besteht aus mehr als nur verbalen Fragen. Die Matratze, der elastische Schaumstoff, die fehlenden Griffe an der Seite, sie alle artikulieren die Kraft materieller Fragen. Wie die verbalen, werden auch die materiellen Fragen von den Tänzer_innen aufgenommen; sie werden wiederholt, moduliert und durch die Bewegungen dramatisiert. Die Höhe des Matratzenstapels fragt nach dem Wohin im Ausstrecken des Arms. Rainers Notation und die Matratze stellen nicht einfach eine Frage, vielmehr artikuliert das Gefüge aus Gewicht, Weichheit, Anatomie, Schwerkraft, etc. ein Bündel mannigfaltiger, miteinander interferierender Fragen. In ihrer Vielfältigkeit differenzieren und dramatisieren sie das Tragen. Objekte bleiben hier nicht einfach Objekte – im Prozess des Fragens werden sie selbst choreographisch. „Choreographic Objects“ sind – wie William Forsythe schreibt – „an alternative site for the understandig of potential instigation and organization of action to reside.“ 23 Mit dem „potentiellen Antrieb“ des Objekts strömt der

21 Rainer, Yvonne: „Some Retrospective Notes on a Dance for 10 People and 12 Mattresses Called ‚Parts of Some Sextets,‘ Performed at the Wadsworth Atheneum, Hartford, Connecticut, and Judson Memorial Church, New York, in March, 1965“, in: The Tulane Drama Review, 10.2 (1965), S. 168–178, hier S. 174. 22 Ebd., S. 175. 23 Forsythe, William. Choreographic Objects. http://www.williamforsythe.de/ess ay.html. In ihrer Behandlung von Forsythes „Choreographic Objects“ bezieht Manning diese auf Deleuzes Konzept des „Objektils“: „They extend beyond

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Alltag in den choreographischen Prozess. In der unmittelbaren Übertragung von alltäglichen Bewegungen wird das Objekt selbst zu einem immedialen Prozess. Dies ist keine Übertragung einer abgeschlossenen und klar bestimmbaren Frage, Handlung oder Bewegung; in der Übertragung dramatisiert die Kraft der Materialität die alltäglichen Spannungen und produziert so neue Differenzen.24 Die ausgeführten Handlungen – Tragen, Heben, Balancieren – sind den Gegenständen und Aufgaben immanent. Die choreographische Kraft des Objekts moduliert dabei die Bewegung von innen heraus: Das Gewicht der Matratze, ihre Instabilität und ihre Größe produzieren die Unsicherheit der Bewegungen. Die Aufgabe „move pile to other side“ interferiert mit der Propriozeption der Tänzer_innen und steuert so die räumliche Orientierung der Bewegung. All diese choreographischen Kräfte sind den Bewegungen immanent. Sie sind in die Bewegung gefaltet. Keine von ihnen legt den Verlauf der Bewegung fest, vielmehr treiben sie mit ihren vielfältigen Fragen die Bewegungen über jedes Ziel hinaus. Auf welche Weise nimmt die Bewegung die choreographischen Kräfte auf? Wo eröffnen sich neue Fragen? Wo entstehen andere Differenzen?

their objectness to become ecologies for complex environments that propose dynamic constellations of space, time, and movement. These ‚objects‘ are in fact propositions co-constituted by the environments they make possible. They urge participation. Through the objects, spacetime takes on a resonance, a singularity: it becomes bouncy, it floats, it shadows. The object becomes a missile for experience that inflects a given spacetime with a spirit of experimentation. We could call these objects ‚choreographic objectiles‘ to bring to them the sense of incipient movement their dynamic participation within the relational environment calls forth.“ (E. Manning: Always More than One, S. 82), vgl. auch Deleuze zum Objektil Deleuze, Gilles: Die Falte. Leibniz und der Barock, Frankfurt am Main.: Suhrkamp 2000, S. 35. 24 Das Objekt ist hier keineswegs eine ontologische oder gegebene Einheit. Das Objekt ist vielmehr ein operationaler „Status“. Es ist das Ergebnis eines Ereignisses, sein „Datum“, wie Whitehead schreibt. Als Datum wird das Ereignis von einem anderen Ereignis aufgenommen. „Der Erlebensvorgang [occasion] entsteht aus den für ihn relevanten Objekten und vergeht, d. h. geht in den Status eines Objekts für andere Erlebensvorgänge über.“ Whitehead, Alfred North: Abenteuer der Ideen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2000, S. 327.

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ABSTRAKTION Wenn Kräfte auf Kräfte wirken, entsteht ein Feld voller Spannungen. In ihrem Zusammenspiel kreieren sie ein choreographisches Diagramm, das die Bewegungen umlenkt, beschleunigt, verlangsamt, ihre Richtungen und Dynamiken verändert. Hier wirkt nicht eine Kraft auf eine Bewegung, vielmehr produziert und verändert das Kräftediagramm vielfältige Verbindungen zwischen den zahlreichen Bewegungen der Szenen des Tanzes und des Alltags.25 Auf abstrakte Weise ziehen sich die Kräfte durch die Bewegungen hindurch und kreieren so eine metastabile Choreographie. Tanz lediglich als permanenten Fluss oder kontinuierliches Sprudeln von Bewegungen zu verstehen, würde die choreographischen Spannungen verkennen aus denen dieses Feld besteht. Andersherum würde aber auch die Vorstellung einer Choreographie als vorgegebene Struktur die Prozesse der Veränderung und die Kräfte der Bewegung negieren. Letztere würde sich völlig im Aktuellen erschöpfen. Spannung – wie sie hier verstanden werden soll – ist mehr als bloß ein Gleichgewicht von Kräften: In ihrer Virtualität drängt Spannung immer zur Veränderung. Eine spannungsvolle Choreographie ist mehr als nur ein stabiles Gleichgewicht – sie ist metastabil.26 Indem sich die Kräfte der Choreographie durch die Ökologie der Bewegungen ziehen, kreieren sie den abstrakten Bogen einer Handlung: Das Tragen einer Matratze, das Öffnen eines Eis, in eine Falle gehen. Dies ist kein Spannungsbogen, wie man ihn aus dem klassischen Drama kennt, dies ist vielmehr die nicht-lineare Spannung der Dramatisierung. Mitten in den konkreten Bewegungen operiert die Handlung abstrakt. „Real and abstract“ wie Massumi schreibt: „The actual form and the abstract dynamic are two sides of the same experimental coin. They are inseparable“.27 Es gibt keine Handlung ohne Bewegung und doch geht die Handlung zugleich über die

25 In seinen Auseinandersetzungen mit Foucault beschreibt Deleuze das Diagramm als eine „Karte der Kräftebeziehungen“ (Deleuze 1992: 55). Das Diagramm wirkt „als eine immanente, nicht vereinheitlichende Ursache, die dem gesamten sozialen Feld koextensiv ist […].“ (56) Als „abstrakte Maschine“ ist das Diagramm von dem Dispositiv als „konkreter Maschine“ (59) unterschieden. 26 Vgl. G. Simondon: Individuum und seine Genese, S. 33. 27 B. Massumi: Semblance and Event, S. 41.

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Form der Bewegung hinaus. Abstraktion ist mitten in der Bewegung, sie ist „embodied thought“28. Lediglich im Nachhinein oder auf spekulative Weise ist die Kausalität, die den Verlauf der Handlung bestimmt ‚bekannt‘. Nur dann können die „sinnvollen“ Bewegungen von den anderen getrennt und abstrahiert werden. Doch bereits im Ereignis der Handlung entstehen Effekte der Abstraktion, die neue Möglichkeiten eröffnen. Abstraktion fügt dem Feld der Bewegung neue Verbindungen, neue Bewegungen und neue Linien hinzu. In diesem Sinne kreiert jede Frage, jede Aufgabe, jedes Objekt, neue Handlungslinien und neue Bögen der Abstraktion.29 Alltägliche Handlungen bewegen sich nie nur mit und in dem Bereich des Aktuellen: Das Herunterbücken zum Boden antizipiert bereits das Heben der Matratze und die Erinnerung ihres Gewichts. Das Heben antizipiert das Tragen, die Erfahrung des letzten Umzugs und die Unhandlichkeit des Materials. Das Tragen antizipiert die Müdigkeit des Körpers und die Vorstellung im Bett zu liegen und zu schlafen. Handlungen führen zu Handlungen führen zu Handlungen. Doch sie folgen keiner linearen Ord-

28 Massumi, Brian: What Animals Teach Us about Politics, Durham: Duke UP 2014, S. 7. 29 Das Konzept der Handlung (action), wie es hier verwendet wird, steht dem Konzept der „Aktivität“ (activity), wie Massumi es in seiner „activist philosophy“ (B. Massumi: Semblance and Event, S. 1) entwickelt, sehr nahe, ist jedoch nicht deckungsgleich. Beide Konzepte – Handlung und Aktivität – sind eng miteinander verbunden und bedingen sich gegenseitig. Bewegung, wie der Begriff hier verwendet wird, befindet sich dabei eher auf der Seite der Aktivität, Handlung hingegen beschreibt den Bogen, der verschiedene Bewegungen verbindet, moduliert sowie eine Spannung und Kontinuität aufbaut. Anliegen dieses Textes ist es, eine nicht-subjektive, nicht willensgeleitete Perspektive der Handlung vorzuschlagen, und diese ausgehend von dem Feld „reiner Aktivität“ (ebd., S. 2, meine Übersetzung) und der Bewegung zu entwickeln. In seinen Ausführungen zur Abstraktion im Bereich des Spiels beschreibt Massumi in What Animals Teach Us about Politics den „Stil“ einer Handlung im Spannungsfeld zwischen ihrer „Ausführung“ und ihrer „Dramatisierung“. Dabei schließen sich „Ausführung“ und „Dramatisierung“ keineswegs gegenseitig aus, sondern sind im Ereignis „mutual included“ (B. Massumi: What Animals Teach, S. 11). „Stil“ wird im Kontext dieses Textes vor allem als die „Weise“ bzw. als „Typus“ der Fragen (G. Deleuze: Dramatisierung, S. 140) beschrieben.

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nung. Wenn man irgendwann im Bett liegt, wird man den Verlauf der Handlungen kennen. Retrospektiv. Abstrakt. In der Bewegung kann man nur spekulieren. Virtuell. Auch abstrakt. Doch wie sicher kann man sich eines guten Schlafes sein? Das Tragen hat Rückenschmerzen verursacht und nun liegt man wach in der neuen Wohnung auf der alten Matratze mit ihren Mulden und Beulen. Andere Handlungen (höchstwahrscheinlich das viele Heben und Tragen des Tages, der letzten Tage, der letzten Umzüge, der letzten Jahre) haben die Bögen der Handlung beeinflusst (haben Rückenschmerzen verursacht, haben einen krumm gehen lassen) und zu spüren ist nun vielmehr das Wie als das Wo des Tragens. Tragen ist nicht einfach eine Bewegung: Der Gegenstand (die Matratze), die Aufgabe (die Matratze an einen anderen Orten bringen), die Frage (Wie lässt sich eine Matratze bewegen?), erzeugen zusammen eine Choreographie vielfältiger Bewegungen, und mit ihr den abstrakten Verlauf einer Handlung. Diese Handlung besteht aus mehr als nur ein oder zwei Bewegungen, sie zieht sich abstrakt durch die mannigfache Ökologie der Bewegungen. Dass nur einige wenige Bewegungen und Relationen erfahren und der Handlung zugerechnet werden, basiert auf unserer Gewohnheit, die Welt auf kausal-sinnvolle Weise zu organisieren. Alle anderen Bewegungen und Einflüsse werden ignoriert bzw. als zufällig abgewehrt. Nicht jede_r zieht täglich um, doch jede_r bewegt sich: Jeder_r bewegt sich in und durch eine von abstrakten Handlungsbögen choreographierte Ökologie von Bewegungen. Einige Körperteile bewegt man am liebsten, andere eher ungern. Man weint, man hält sich an jemandem fest, wenn man Angst hat, man raucht. Man stellt eine Falle und manchmal geht man selbst in eine. Man öffnet ein Frühstücksei. Oftmals trägt man Dinge, auch wenn sie nie die andere Seite erreichen werden. Diese Handlungen sind weder bloß ein Teil noch die Essenz der alltäglichen Bewegungen. Sie sind abstrakte Kräfte, die die Bewegungen – ihre Geschwindigkeit, ihre Richtung, ihren Rhythmus und ihre Intensität – verändern. Diese Handlungen produzieren neue Bewegungen, neue Differenzen und neue Spannungen. Indem die alltäglichen Fragen, Aufgaben und Objekte in den Bereich des Tanzes überführt werden, ziehen sie den Bogen der Handlungen in den choreographischen Prozess hinein. Ohne die Handlung des Umziehens, des Tragens oder des ängstlichen Festhaltens auf der Bühne aufzuführen, produzieren die immanenten Kräfte des Fragens choreographische Bewegung, die das Alltägliche dramatisieren. Mit den neuen Handlungen verlassen die

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Bewegungen ihre vorgegebenen Bahnen und Ziele. Neue Bewegungen und neue Fragen entstehen. Neue spekulative Handlungen. Die Matratze findet ihren Weg. Einen anderen Weg.

I MMEDIATION Nervös wandert die Zigarette von einem Finger zum anderen, von einer Hand zur anderen, zu den Lippen, dem Mundwinkel und zurück zur Hand. Ängstliches Zittern. Sie weiß nicht was sie sagen soll. Sie sitzt auf einem Stuhl und es fühlt sich an, als ob jeder sie anstarrt. Vielleicht weiß sie gar nicht, wie man eine Zigarette hält. Vielleicht ist es ihre erste Zigarette. Vielleicht raucht sie gar nicht. Jede ihrer Bewegungen fragt: Wie eine Zigarette halten? Ihre Bewegungen können nicht antworten. Und doch – so scheint es – ist jede der Bewegungen eine vorläufige Antwort und zugleich die Wiederholung der Frage: Wie eine Zigarette halten? Sie kann nicht aufhören sich zu bewegen, sie kann nicht aufhören zu antworten, sie kann nicht aufhören die Frage zu wiederholen. Ohne die Zigarette wären es bloß zwei Hände, die vor ihrem Gesicht auf und ab und hin und her wandern. Mit dem Ende der Zigarette hört das Zittern auf. Das Verglühen der Zigarette bietet ein (vorläufiges) Ende. Eine neue Zigarette wird folgen, die Proben sind noch nicht zu Ende. Die Zigarette hat die Bewegung zur Handlung gemacht. Durch die choreographische Kraft der Zigarette gewinnt die Bewegung Bedeutung: Sie artikuliert Nervosität, Ängstlichkeit und Schüchternheit. In der Abstraktion wird die Bewegung expressiv. Dies ist nicht die Abstraktion eines inneren Gefühls, das sich in einer Geste artikuliert. Hier artikuliert die Bewegung, indem sie eine neue Frage stellt, ihre choreographische Kraft. Wie bewegt sie ihre Finger? Wohin bewegt sie ihre Hände? Dies ist das Wie und Wo der Bewegung. Abstraktion fügt nicht einfach eine Bedeutung auf einer anderen (höheren) Ebene hinzu. Choreographie ist nicht das Medium der Bewegung im Reich der Zeichen. Der Ausdruck übersteigt die Bewegung und lässt sie in ein anderes Ereignis, in eine andere Bewegung und in eine andere Choreographie strömen. Dieses Überströmen ist die immediale Kraft der Abstraktion. Indem sie die Choreographie des Rauchens aufnimmt und sie über die bloße Unmittelbarkeit des Ereignisses hinaustreibt, wird die Abstraktion zur Immediation. Nervosität führt zu einer neuen

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Zigarette, zu einem neuen Zug und wird damit zugleich in den beruhigenden Bogen des Rauchens überführt. Zugleich entsteht der niemals endende Bogen schlechter Angewohnheiten. Immediation ist nicht das Gegenteil von mediation oder Medialität. Das „Im-“ ist keine Negation, sondern vielmehr das „Im-“ der Immersion. Wie die Immersion wohnt der Immediation eine Kraft inne, die in das Geschehen hineinzieht ohne sich jedoch in diesem völlig aufzulösen. In ihr taucht nicht ein Individuum in eine andere Sphäre oder eine andere Welt ein, vielmehr ist es die Handlung oder Erfahrung, die in ein anderes Ereignis strömt. Eine Zigarette führt zur nächsten, führt zur nächsten, führt zur nächsten. Das ist die immediale Choreographie als choreographische Kraft. Indem Bausch die Fragen der Bewegung aufnimmt – Wie eine Zigarette halten? –, lässt sie die Choreographie des Rauchens auf eine Weise expressiv werden, wie es die Bewegungen vorher nicht waren. Mittels der Technik des Fragens strömen die Handlungen des Rauches in den Probenprozess. Immediation ist jedoch nicht linear und die alltäglichen Bewegungen dienen den Proben nicht einfach als Material. Geraucht wird in den Pausen, regelmäßig werden die Proben unterbrochen und die Fragen verändert – Wer hat eine Zigarette? Wer hat Feuer? Darf man hier rauchen? In der Pause entstehen Ideen und neue Fragen. Wenn die Pause zu Ende geht, ist immer noch ein Zug, noch eine Zigarette da. Müde wird weiter geraucht – es wird geredet, gefragt. Proben wir noch?30 Proben und Alltag beginnen sich ineinander zu falten. Und in diesen Falten entsteht eine nicht-lineare Choreographie: Fragen des Alltags strömen ins Studio, in die Probenprozesse, in die Aufführungen und zurück in den Alltag. Nach der Premiere zündest du dir eine Zigarette an. Doch deine Bewegungen haben sich verändert. Die Choreographie lässt das Wie der Bewegungen in den Vordergrund treten. Die Gewohnheiten beginnen sich mit Unsicherheit zu vermengen. Die „Nachwirkungen“ der Erfahrungen machen sich auf „merkwürdige Weise“, „wie eine sehr schwaches Déjà-

30 Müdigkeit, Krankheit und Rauchen dominieren die Atmosphäre des Probenprozesses von Walzer, wie sie in der Dokumentation Walzer – 41 Minuten aus den Proben dargestellt wird. Dennoch funktioniert diese Atmosphäre als affektiver Motor für neue Bewegungen, neue Szenen und neue Fragen. Die Szenen der rauchenden Frau entstand aus der pragmatischen Frage Wer möchte noch eine Zigarette?, die Bausch in der Probenpause gestellt hatte.

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Vu“ bemerkbar.31 Die Erfahrung der Choreographie des Rauchens verändert die Weise, wie die Hände sich bewegen und wie die Finger zittern. „You are consciously experiencing the semblancing of experience – its double order; your double existence – that normally remains in the nonconscious background of everyday life“.32 Die Kraft der Choreographie differenziert und dramatisiert die alltäglichen Bewegungen und verändert so die Weise des Fragens.

ALLTAGSPOLITIK Das Rauchen einer Zigarette, das Tragen einer Matratze, das Öffnen eines Frühstückseis, dies alles sind Choreographien zwischen Tanz und Alltag. Transversal ziehen und strömen die abstrakten Fragen von einem Ereignis ins nächste und durch dieses hindurch – neue Fragen entstehen und mit ihnen neue Spannungen. Diese Fragen lenken unsere Bewegungen, unsere Aufmerksamkeit und unsere Handlungen auf spekulative Weise. Zugleich eröffnen die Fragen neue Verbindungen, neue Beziehungen zwischen Bewegungen: Die Choreographie des Rauchens besteht nicht nur aus zitternden Fingern, sie ist zugleich verwoben mit psychischen wie ökonomischen, physikalischen wie biologischen, ökologischen wie demographischen Fragen. Diese Choreographie ist ökologisch: Darunter ist nicht die Bezugnahme auf ausschließlich umweltliche (natürliche) Aspekte zu verstehen, sondern vielmehr die Fokussierung auf die Logik der dynamischen Verknüpfungen, der Öko-Logik von ganz unterschiedlichen Bewegungen, Praktiken und Techniken in Bezug auf die materielle wie immaterielle, menschliche wie nicht-menschliche Umgebung.33 In diesen Verknüpfungen artikuliert die Choreographie die Politik des Alltags: Keine dieser Fragen ist lediglich privat, persönlich, ästhetisch oder künstlerisch. Jede dieser Fragen ist Teil der ökologischen Politik. Bewe-

31 Meine Übersetzung von: B. Massumi: Semblance and Event, S. 166. 32 Ebd. Seine Ausführungen zur Immediation der Erfahrung entwickelt Massumi ausgehend von John Irvines Installationen und ihrer Kraft, die im Nachgang des Galleriebesuchs auf der Straße gespürt wird. „You are aware of thinking-feeling the depths of the city as you walk and look“ (Ebd.). 33 Vgl. Guattari, Félix: Die drei Ökologien, Wien: Passagen 1994, S. 41.

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gungen führen zu Bewegungen, Handlungsbögen spannen sich durch sie hindurch und verbinden das Soziale, das Psychische, die Ökonomie, Ökologie und mehr. Choreographie ist hier nicht im Sinne eines Gesetzes, einer Vorschrift oder einer gegebenen Form zu verstehen; mittels der Fragen modelliert sie die Bewegung in ihrem Vollzug. Choreographie operiert aus dem Milieu, aus der Mitte heraus. Als abstrakte Kraft ist die Choreographie nicht zu lösen von der konkreten Bewegung und doch gehen beide nicht ineinander auf: Die Choreographie geht über die Bewegung hinaus, verbindet diese mit anderen Bewegungen und bringt sie in ein spannungsvolles Verhältnis. Diese Bewegungen bilden keineswegs einen reibungslosen Flow, mit ihnen entstehen immer wieder neue Differenzen und Spannungen. In ihrem dramatisierenden Prozess ist die Choreographie immedial. Sie operiert in der Mitte und aus dem Milieu von Bewegungen, das sich zugleich auf je spezifische Weise ausdrückt: in den Choreographien des Alltags, des Theaters, in sozialen, politischen, ökologischen Choreographien, vor allem aber in ihren Zwischenräumen und Verbindungen. Dies ist die immediale und zugleich produktive Kraft sowie Macht der Choreographie.

L ITERATUR Brandstetter, Gabriele: „Tanztheater als ‚Chronik der Gefühle‘. FallGeschichten von Pina Bausch und Christoph Marthaler“, in: Margrit Bischof, Claudia Fest und Claudia Rosiny (Hg.), e_motion, Hamburg: LIT 2006, S. 17–34. Deleuze, Gilles: Differenz und Wiederholung, München: Fink 1992. Deleuze, Gilles: „Die Methode der Dramatisierung“, in: ders., Die einsame Insel, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003, S. 139–170. Deleuze, Gilles: Die Falte. Leibniz und der Barock, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2000. Deleuze, Gilles: Nietzsche und die Philosopie, Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 1991. Forsythe, William. Choreographic Ojects. http://www.williamforsythe. de/essay.html. Guattari, Félix: Die drei Ökologien, Wien: Passagen 1994.

A LLTÄGLICHE A BSTRAKTIONEN

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Hoghe, Raimund. „‚Walzer‘. Fragen, Themen, Stichpunkte aus den Proben“, in: ders. (Hg.): Pina Bausch. Theatergeschichten von Raimund Hoghe, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1986. S. 84–89. Langer, Susanne K.: Feeling and Form. A Theory of Art developed from Philosophy in a New Key, London: Routledge and Kegan Paul Limited 1953. Manning, Erin: Always More than One. Individuation’s Dance, Durham: Duke UP 2013. Manning, Erin, Massumi, Brian: Thought in the Act, Passages in the Ecology of Experience, Durham: Duke UP 2014. Manning, Erin/Munster, Anna/Stavning Thomsen, Bodil-Marie (Hg.), Immediations. Art, Media, Event, London: Open Humanities Press (im Erscheinen). Massumi, Brian: Semblance and Event. Activist Philosophy and the Occurent Arts, Cambridge: MIT 2011. Massumi, Brian: What Animals Teach Us about Politics, Durham: Duke UP 2014. Murphie, Andrew: „Making sense: the transformation of documentary by digital and networked media“, in: Studies in Documentary Film, 8.3 (2014), S. 188–204. Rainer, Yvonne: „Some Retrospective Notes on a Dance for 10 People and 12 Mattresses Called ‚Parts of Some Sextets,‘ Performed at the Wadsworth Atheneum, Hartford, Connecticut, and Judson Memorial Church, New York, in March, 1965“, in: The Tulane Drama Review, 10.2 (1965), S. 168–178. Simondon, Gilbert: „Das Individuum und seine Genese. Einleitung“, in: Claudia Blümle/Armin Schäfer (Hg.), Struktur, Figur, Konur. Abstraktion in Kunst und Lebenswissenschaften, Berlin u. Zürich: Diaphanes 2007, S. 29–45. Whitehead, Alfred North: Prozess und Realität. Entwurf einer Kosmologie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1987. Whitehead, Alfred North: Abenteuer der Ideen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2000.

Neuverteilungen dokumentarischer Praktiken

Die Aufteilung des Unsichtbaren Zu Aspekten des Politischen in aktuellen Protestfilmen F LORIAN K RAUTKRÄMER „Sich der Perspektive bemächtigen, bedeutet bereits seine Gegenwart in einem anderen Raum zu bestimmen als in dem, wo die ,Arbeit nicht wartet‘.“ (Jacques Rancière: Der emanzipierte Zuschauer1)

Zahlreiche Proteste, Aufstände oder Revolutionen der letzten Jahre wurden begleitet, etabliert oder verstetigt durch vielstimmige visuelle Zeugnisse, gefilmt mit Kamerahandys oder ähnlich handlichen Geräten aus unterschiedlichsten Perspektiven, die auf Plattformen wie YouTube oder Facebook die Auseinandersetzungen der Straßen und Plätze nicht nur belegten, sondern auch weiterführten. Die „Grüne Revolution“ im Iran 2009, der „Arabische Frühling“, die Proteste in Istanbul und auf dem Maidan waren auf virtuellen Orten sichtbar und diese Zeugnisse waren nicht weniger politisch als die Proteste selbst.2 Denn die Aufnahmen, die man im 1

Rancière, Jacques: Der emanzipierte Zuschauer, Wien: Passagen Verlag 2009, S. 75.

2

Zum politischen Potential der Bilder der Aufstände siehe u.a.: Hanke, Christine: „Den Platz lesen. Çapulcu-Figuren des Protests in der Türkei“, in: zfm 9 (2/2013), S. 114-123; Ebner, Florian/Wicke, Constanze: „Intervenierende Bilder: Für eine Kartografie der Aufnahmen einer Revolution“, in: dies. (Hg.), Kairo. Offene Stadt. Neue Bilder einer andauernden Revolution, Leipzig: Spector Books 2013, S. 46-52; Baladi, Lara: „Wenn sehen heißt dazugehören: Die

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Internet (und anschließend in Auszügen auch in den offiziellen Nachrichten) vom Tahrir-Platz oder von den Kämpfen in Syrien sehen konnte, waren zumindest anfangs von den Protestierenden selbst gefilmt und anschließend hochgeladen worden.3

Bilder vom Tahrir-Platz“, in: Ebner/Wicke: Kairo. Offene Stadt, S. 74-80; Rothöhler, Simon: High Definition: Digitale Filmästhetik, Berlin: August 2013, S. 59ff.; Erdmann, Julius: „Symbolischer Protest im Internet. Über die Aktualität des Protestbegriffes angesichts internetbasierter Handlungsformen mediatisierten Widerstandes“, in: Iuditha Balint/Hannah Dingeldein/Kathrin Lämmle (Hg.), Protest, Empörung, Widerstand. Zur Analyse von Auflehnungsbewegungen, Konstanz/München: UVK Medien 2014, S. 157-171. Zur Rolle der sozialen Medien bei diesen Aufständen siehe u.a.: Hofheinz, Albrecht: „Soziale Medien im Arabischen Frühling“, in: Schneiders, Thorsten Gerald (Hg.), Der Arabische Frühling. Hintergründe und Analysen, Wiesbaden: Springer VS 2013, S. 117125; Faris, David M.: Dissident and Revolution in a Digital Age. Social Media, Blogging and Activism in Egypt, New York: I.B. Tauris 2013; Bebawi, Saba/Diana Bossio, Diana (Hg.): Social Media and the Politics of Reportage: The 'Arab Spring', Basingstoke, New York: Palgrave Macmillan 2014; Berichte von Bloggern des Arabischen Frühlings sind u.a. Ben Mhenni, Lina: Vernetzt euch!, Berlin: Ullstein 2011; Ghonim, Wael: Revolution 2.0. Wie wir mit der ägyptischen Revolution die Welt verändern, Berlin: Econ 2012. Zur Situation des Journalismus in Nordafrika wahrend des Arabischen Frühlings vgl. Markham, Tim: Media and the Experience of Social Change. The Arab World, London/New York: Rowman & Littlefield 2017. Und grundlegend zu den Social Movements Studies ab dem Jahr 2000 siehe Leistert, Oliver: From protest to surveillance - the political rationality of mobile media: Modalities of neoliberalism, Frankfurt a. M.: PL Academic Research 2013, S. 55ff. 3

Der Großteil der Videos, die während der ägyptischen Revolution 2011 aufgenommen wurden, befindet sich laut Stefano Savona allerdings nicht im Internet, sondern verbleibt auf den Mobiltelefonen und Computern der Menschen, und man zeigt sich die Bilder gegenseitig bei privaten Treffen. Den Videodokumenten kommt hierbei eine Erinnerungsfunktion zu (Savona vergleicht sie mit einem Stück der Berliner Mauer, das man nach ihrem Fall mit sich herumtrug), sie sind zudem direkt mit demjenigen verknüpft, der sie aufgenommen hat und anschließend präsentiert, vgl. hierzu den Beitrag von Stefano Savona in: Stefano Savona/ Zabunyan Dork/Jeanpierre Laurent: „Voir la révolution. Table ronde

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Auf die spezielle Rolle der Kamera als Machtdispositiv bei diesen Demonstrationen hat Judith Butler in einem Aufsatz bereits 2011 hingewiesen.4 Neu war nicht die Form des Protests, der vor allem in großen regelmäßig stattfindenden Demonstrationen sich artikulierte, sondern seine Sichtbarkeit. Nicht einige wenige Kameras warfen einen privilegierten Blick auf die Menschen, sondern dutzende filmten sich selbst aus der Menge heraus. Das visuelle Resultat war dabei ebenso wichtig wie die Verbindung zum Körper des Filmenden, auf das die Aufnahmen durch Standpunkt, Qualität5 und Kameraführung hinwiesen. Butler betont, dass diese Körper verletzlich sind, und das ohnehin schon große Risiko wird erhöht, indem sie eine Kamera benutzen und deswegen zur Zielscheibe des Regimes werden. Schon bald nach Beginn der Proteste und Demonstrationen in Kairo verschwinden die Vogelperspektiven, die in den Nachrichten Bilder aus der geschützten Position von Hotelbalkonen bringen, zugunsten einer vielstimmigen Berichterstattung wortwörtlich von unten, aus den Demonstrationszügen selbst. In vielen Aufnahmen erkennt man bildliche Elemente solch einer involvierten Kamera: Körper und Gegenstände verdecken das Bild, die Kameras fallen oder rennen, die Filmenden werden von den Leuten vor dem Objektiv adressiert. Die Kamera ist kein unbeteiligter

autour de Tahrir, Place de la Libération“, in: Cahiers du cinéma 675/Februar (2012), S. 76-81. Zum Verhältnis geteilter und ungeteilter Fotos und Videos auf dem Handy und ihrer Erinnerungsfunktion siehe auch Reading, Anna: „Memobilia: The Mobile Phone and the Emergence of Wearable Memories“, in: Joanne Garde-Hansen/Anna Reading/Andrew Hoskins (Hg.), Save As … Digital Memories, Basingstoke/New York: Palgrave Macmillan 2009, S. 81-95. 4

Butler, Judith: „Bodies in Alliance and the Politics of the Street“, http://eipcp.net/transversal/1011/butler/en vom September 2011. Der Aufsatz liegt inzwischen auch als deutsche Publikation vor: „Körperallianzen und die Politik der Straße“, in: dies: Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung, Berlin: Suhrkamp 2016, S. 91-132.

5

L. Baladi: Bilder vom Tahrir-Platz, S. 77. Zur Qualität inoffizieller Nachrichtenbilder vgl. Steyerl, Hito: „In Defense of the Poor Image“, in: e-flux 10/11 (2009),

http://www.e-flux.com/journal/in-defense-of-the-poor-image/;

Fiske,

John: „Videotech“, in: Nicholas Mirzoeff (Hg.), The visual culture reader, London: Routledge 2008, S. 383-391.

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Beobachter, sondern Teil der Bewegung. Und das gilt nicht nur für die Kamera, sondern auch für den Akt des Bildermachens selbst: „Während der arabischen Aufstände wurde der Akt des Fotografierens hier und in der ganzen Region nicht nur zu einer Handlung des Sehens und Aufzeichnens, sondern zu einem Akt kompletter Partizipation. Im Kern der ägyptischen Aufstände war das Fotografieren eine politische Handlung, bezüglich ihrer Relevanz dem Demonstrieren gleichgestellt […] Zu fotografieren hieß dazuzugehören.“6

Während die Revolution in Ägypten (vorerst) gescheitert ist, aufgrund rigider Einschnitte in Versammlungsrecht und Meinungsfreiheit öffentlich kaum noch Zeugnis der Protestkultur abgelegt werden kann und auch die unabhängige Arbeit in den Medien stark erschwert wird, sind die Spuren auf YouTube weniger einfach zu beseitigen.7 Auch wenn die Autoren der Videos oft nicht zugeordnet werden können und einzelne Videos ohne Angabe von Gründen verschwinden, so kann doch von einem allgemein zugänglichen Archiv8 gesprochen werden, das belegt, dass die Aufstände Anfang 2011 tatsächlich stattgefunden haben (und dessen Nutzung natürlich wie bei jedem anderen Archiv auch von Regierungen eingeschränkt werden kann). Eine Besonderheit dieses Archivs ist, dass sich daran auch

6

L. Baladi: Bilder vom Tahrir-Platz, S. 77. Zum Verschwinden des Fotografierens in der Öffentlichkeit unter Mursi siehe u.a. Al Bdewi, Mohammad: „A photographer’s tale: ‚… and so I took less and less pictures‘“, in: Judith Jäger/Christopher Resch (Hg.), Medienfreiheit in Ägypten. Zum journalistischen Arbeiten in Ägypten nach der Arabischen Revolution, Köln: Halem 2015, S. 173-181.

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Jäger, Judith/Resch, Christopher: „Die Medien in Ägypten: Von vordergründiger Freiheit zum Spielball der Herrschenden“, in: dies. (Hg.), Medienfreiheit in Ägypten, S. 47-66, hier S.57.

8

Zur Diskussion des Archivstatus von YouTube siehe u.a. Prelinger, Rick: „The Appearance of Archives“, in: Pelle Snickars (Hg.), The YouTube Reader, Stockholm: National Library of Sweden 2009, S. 168-275; Snickars, Pelle: „The Archival Cloud“, in: ebd., S. 292-313. Zur „Krise des Archivs als Theorie und Metapher“ bzgl. aktueller Netzpraktiken vgl. auch Lovink, Geert: Im Bann der Plattformen. Die nächste Runde der Netzkritik, Bielefeld: transcript 2017, S. 189ff.

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die Veränderungen der Kameratechnologien ablesen lassen. Wurden zu Beginn der Auseinandersetzungen in Syrien noch zahlreiche kürzere Handyclips mit einer Auflösung von nur 350x250 Pixeln hochgeladen, so finden sich inzwischen überwiegend mehrere Minuten lange Aufnahmen in HD oder FullHD, die mittels Actioncam9 aufgenommen wurden. Nicht selten handelt es sich dabei auch um Kompilationen, in denen die brutalsten, blutigsten und aufregendsten Sequenzen zusammengeschnitten wurden, worauf in den Titeln der Clips auch entsprechend hingewiesen wird. Dass die hochgeladenen Videos nicht in einer Sackgasse enden, sondern die Weiterverarbeitung ein entscheidender Faktor dabei ist, verdeutlichen nicht nur diese Zusammenschnitte, sondern auch verschiedene journalistische und künstlerische Projekte, die mit dem Found-Footage arbeiten.

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Verschiedene Berichte von Bloggerinnen und Bloggern, Fotografinnen, Fotografen und Filmenden des „Arabischen Frühlings“ betonen die enorme Wichtigkeit der von ihnen kontrollierten und verbreiteten medialen Erzeugnisse, nicht nur, um den Protest zu organisieren und zu mobilisieren, sondern auch, um Präsenz zu zeigen, den Ort „in jedermanns Wohnraum“ auszudehnen.10 Dabei zeigen die Bilder durchaus, dass sie unter großen Gefahren für Leib und Leben der Filmenden aufgenommen wurden: Für sein Projekt „The Pixelated Revolution“ hat Rabih Mroué eine ganze Reihe von Clips auf YouTube gesammelt, auf denen Filmende im Syrischen Bürgerkrieg während des Filmens ange- oder erschossen wurden. Was sich also in die virtuellen Plätze ausdehnt und dort Realität wird, ist zwar eine neue Sichtbarkeit der Körper der Protestierenden, die Gefahr für diese Körper bleibt aber auf den ersten Platz beschränkt.

9

Als Actioncam bezeichnet man kleinere, recht robuste Kameras ohne größere Features, die beispielsweise auf Helmen beim Skilaufen montiert werden und mehrere Minuten lang ohne Unterbrechung und weitere Eingaben aufnehmen können. Bekannteste Actioncam ist die GoPro. Siehe hierzu ausführlich: Gerling, Winfried/Holschbach, Susanne/Löffler, Petra (Hg.), Bilder verteilen. Fotografische Praktiken in der digitalen Kultur, Bielefeld: transcript 2018, S. 132ff.

10 L. Baladi: Bilder vom Tahrir-Platz, S. 77.

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Die Clips des „Arabischen Frühlings“ als politische Äußerungen anzusehen, sie mit den Protesten auf Straßen und Plätzen zu vergleichen, bedeutet, sie unter dem Gesichtspunkt des Sichtbaren und der Praxis zu betrachten und eben nicht bloß als Zeugnis des Geschehenen, als Gebrauchsgegenstände. Und eben hierdurch werden sie anschlussfähig an die Theorie der Ästhetik der Politik von Jacques Rancière: „Denn die Politik ist eine ästhetische Angelegenheit, Sache des Erscheinens“11. Speziell die Clips vom Tahrir-Platz Ende Januar 2011 zeigen, dass die Besetzung des Platzes im Zuge der Proteste nicht nur die Folge eines Demonstrationszuges ist, sondern auch Volksfest, politische (Diskussions-)Veranstaltung und Happening. Auf vielen Aufnahmen sieht man Gruppen, wie sie ihre Forderungen als Gesang verbreiten, wie sie verschiedene politische und religiöse Fragen erörtern und häufig auch direkt und unaufgefordert in die Kamera sprechen. Was sonst vor allem in repressiveren Regimen nur in den eigenen vier Wänden stattfand, geschieht nun explizit in der Öffentlichkeit, in einer doppelten sogar: der auf dem (realen) Platz und im Netz. Indem die hochgeladenen Clips den Platz ausdehnten sowie nicht zensierbares Zeugnis von den Ereignissen ablegten, fungierten sie gleichzeitig aber auch als Einladung an andere Teile der Bevölkerung, sich den Aktionen anzuschließen. Damit erfüllen sie, was Rancière von politischer Kunst verlangt (wobei hier die Frage, ob diese Clips Kunst seien, zunächst nicht interessiert 12): „Kunst ist weder politisch aufgrund der Botschaften, die sie überbringt, noch aufgrund der Art und Weise, wie sie soziale Strukturen, politische Konflikte oder soziale, ethnische oder sexuelle Identitäten darstellt. Kunst ist in erster Linie dadurch politisch, dass sie ein raumzeitliches Sensorium schafft, durch das bestimmte Weisen des Zusammen- oder Getrenntseins, des Innen- oder Außen-, Gegenüber- oder In-der-Mitte-Seins festgelegt werden. Kunst ist dadurch politisch, dass sie einen bestimmten Raum und eine bestimmte Zeit aufteilt, und dass die Gegenstände, mit denen sie diesen Raum bevölkert, und die Rhythmen, in die sie diese Zeit einteilt, eine spezifische Form der Erfahrung festlegen, die mit anderen Formen der Erfah-

11 Rancière, Jacques: Das Unvernehmen. Politik und Philosophie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002, S. 85. 12 Zu einer Definition der Clips als Kunst im Sinne von Rancière siehe Snowdon, Peter: „The Revolution Will be Uploaded: Vernacular Video and the Arab Spring“, in: Culture Unbound 6 (2014).

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rung übereinstimmt oder mit ihnen bricht. Sie ist eine spezifische Form der Sichtbarkeit, eine Veränderung der Beziehungen zwischen den Formen des Sinnlichen und den Regimen der Bedeutungszuweisung, […], aber auch und vor allem zwischen den Formen der Gemeinsamkeit oder der Einsamkeit. Denn bevor Politik die Ausübung von Macht oder ein Machtkampf ist, ist sie die Aufteilung eines spezifischen Raums der ‚gemeinsamen Angelegenheiten‘. Politik ist der Konflikt um die Frage, welche Gegenstände diesem Raum angehören und welche nicht, welche Subjekte dann teilhaben und welche nicht. Wenn Kunst politisch ist, dann nur, wenn sich die von ihr aufgeteilten Räume und Zeiten und die von ihr gewählten Formen der Besetzung dieser Zeiten und Räume mit jener Aufteilung von Räumen und Zeiten, von Subjekten und Objekten, von Privatem und Öffentlichem, von Fähigkeiten und Untätigkeiten überlagern, durch die sich die politische Gemeinschaft definiert.“13

Die Bühne, auf der das gemeinsame Erscheinen als Grundlage von Politik erfolgen muss, ist nicht mehr nur die heutige, urbane Entsprechung des Aventin, auf der der Sprechakt zu vernehmen ist, 14 sondern eben auch die Plattformen des Internets. Das aufgeteilte Sinnliche [sensible]15 definiert Rancière in Abgrenzung zum Sensorischen [sensoriel] als verteilte Bedeutung, als Sichtbares, das als Sagbares artikuliert, interpretiert und bewertet wird.16 Das Wort, auf das es mir hier ankommt, ist das der Verteilung [distribué]. Anders als man bei dem Beispiel der sich versammelnden Plebe-

13 Rancière, Jacques: Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien, Berlin: B_Books 2008, S. 77. 14 Vgl. J. Rancière: Das Unvernehmen, S. 36. 15 Ebd., S. 38. 16 Rancière, Jacques: „Politique de l'indétermination esthétique“, in: Jerôme Game (Hg.), Jacques Rancière et la politique de l'esthétique, Paris: Archives Contemporaines 2009, S. 157-176, hier S. 159. Die deutsche Übersetzung macht aus dem „sens distribué“ des französischen Originals einen aufgeteilten Sinn (J. Rancière 2008a: S. 43), was meiner Meinung nach verwirrend ist, da die „Aufteilung des Sinnlichen“ die Übersetzung von „Le Partage du sensible“ ist, und „distribué“ hier daher im ursprünglichen Sinn von „verteilt“ übersetzt werden müsste, zumal dem Adjektiv im Französischen tatsächlich eher die Bedeutung des Verteilens anhängt, so ist das Wort für Bürgerjournalismus im Französischen u.a. auch „journalisme distribué“.

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jer17 zunächst annehmen könnte, geht es eben nicht allein um das Erstarken einer neuen Stimme auf einer neuen Bühne, sondern um das Erhalten der Vielstimmigkeit sowie um die Vermeidung des Konsens.18 Die Etablierung von YouTube als eine Erweiterung des Platzes19 passt dazu ebenso wie auch zu Rancières Betonung des Sichtbaren: „Die politische Aktivität konfiguriert die Aufteilung des Sinnlichen neu. Sie bringt neue Objekte und Subjekte auf die Bühne des Gemeinsamen. Sie macht sichtbar, was unsichtbar war, sie macht diejenigen als sprechende Wesen hörbar, die nur als lärmende Tiere verstanden wurden.“20 Die Clips von dem Tahrir-Platz zeigen unterschiedliche Aktivitäten und Menschen und machen die verschiedenen Motivationen, die hinter der Besetzung stehen, vernehmbar.

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Neben den zahlreichen Sichtbarkeiten auf YouTube gibt es bereits eine Reihe von Filmen, die sich mit dem „Arabischen Frühling“ auseinandersetzen. Bei den Dokumentarfilmen zum Thema lassen sich grob zwei Herangehensweisen beobachten: jene, die gänzlich oder überwiegend auf die im Internet veröffentlichten Clips zurückgreifen und die, die darauf überwiegend oder gänzlich verzichten. Zu letzteren gehört der für einen Oscar nominierte Al midan (Jehane Noujaim, Ägypten/USA/UK 2013), der von den Ereignissen in Kairo von 2011 bis 2013 erzählt. Der Film folgt dafür einer Reihe von ProtagonistInnen, die bereits früh in der Besetzung des Tahir-Platzes involviert waren, sie strukturieren den Ablauf mit ihren Erzählungen. Zwar zeigt der Film auch Bilder aus verschiedenen Quellen, die zumeist durch das Abfilmen eines Computerbildschirmes und der Qualitätsdifferenz zum vom Team gedrehten Material kenntlich werden, diese

17 J. Rancière: Das Unvernehmen, S. 36. 18 In Rancières Politik-Verständnis entsteht Politik nicht allein durch die Versammlung, sondern durch die Gegenüberstellung verschiedener Teile der Gesellschaft, siehe dazu die sechste These in Rancière, Jacques: Zehn Thesen zur Politik, Zürich, Berlin: Diaphanes 2008, S. 27ff. 19 In gewissem Sinne ist diese Erweiterung auch eine „politische Tätigkeit […], die die Bestimmung eines Ortes ändert“, J. Rancière: Das Unvernehmen, S. 41. 20 Rancière, Jacques: Politik der Literatur, Wien: Passagen Verlag 2008, S. 14.

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werden aber in den Verlauf des Films eingebettet und durch die Verbindung mit dem Off-Kommentar zum Teil der Erzählung der Protagonisten verwoben. Der Einsatz hochgeladenen Materials unterscheidet sich damit nicht von dem der Nachrichten, das Bildmaterial ist Quelle und Beleg für von anderen gefertigte Aussagen. Al midan ist ein Film über die Ereignisse in Kairo und einer über den Umgang mit den Bildern, aber nicht einer über diese Bilder. Im Verlauf des Films kann die zunehmende Wichtigkeit des produzierten Bildmaterials beobachtet werden, wenn die Protagonisten bei Berichten von Ereignissen schon gleich danach fragen, ob auch Bilder gemacht worden seien. Die Realität des virtuellen Platzes scheint die Arbeit auf dem realen Platz zu strukturieren. In dem zuvor fertiggestellten Dokumentarfilm Tahrir (F/I 2011) folgt Stefano Savona zwar auch einigen ProtagonistInnen, die aber weit weniger zentral in dem Geschehen stehen, viel mehr wirkt es so, als fände er sie zwischendurch immer wieder. Im Gegensatz zu Al midan, der die Geschehnisse über einen längeren Zeitraum begleitete und zu verschiedenen Veröffentlichungen immer wieder auch ein Update erfuhr, um aktuell zu bleiben, filmte Savona nur einige Tage Ende Januar und Anfang Februar in Kairo für seinen Film und nutzt kein fremdes Material.21 Savona geht es nicht um eine geschlossene Darstellung oder chronologische Aufarbeitung, sondern um die schlichte Bezeugung dessen, was dort passiert. Deswegen bestehen längere Passagen immer wieder aus Gesängen, die in der Menge stattfinden, spontanen Reden, die für die Kamera und/oder Umstehende gehalten werden und Diskussionen der Menschen untereinander. Rückblickend erinnert der Film an Aufnahmen, die man aus den YouTube-Clips kennt, nur mit dem Unterschied, dass sie qualitativ hochwertiger sind, was vor allem durch die Auflösung sowie die geringe Schärfentiefe auffällt. Auch wenn die Protestbewegung längst Blogs und soziale Medien für Berichte und Aufrufe nutzte, war die Berichterstattung über YouTube zumindest für westliche Beobachter zu diesem frühen Zeitpunkt noch nicht so wichtig geworden, wie sie es dann im Verlauf des Jahres wurde. Tahrir kann daher

21 Vgl. Anderson, John: Filmmaker Noujaim Talks Sundance Winner Egyptian Revolution Doc ‚The Square‘ (TRAILER), in: toh! Thompson on Hollywood, http://blogs.indiewire.com/thompsononhollywood/filmmaker-noujaim-talks-sun dance-winner-egyptian-revolution-doc-the-square-updating-ending-in-cairo-trai ler, 23.10.2013.

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durchaus als (westliches) Äquivalent zu den YouTube-Clips angesehen werden.22 In seiner offenen Form geht es nicht um eine Ordnung oder Fixierung der Aufnahmen, Tahrir ist kein Film über die Verteilung von Sichtbarkeit, sondern Teil eben dieser Verteilung. Diese allerdings holt den Film selbst wieder ein, da er in die Zirkulation der kommerziellen Verwertungslogik mit Auswertung auf Festivals, in Kinos und des DVD-Marktes eingespeist wurde, was automatisch zur Unsichtbarkeit auf öffentlichen Plätzen wie YouTube führt.

Abbildung 1: Still aus dem Film „Tahrir“

Noch stärker ist diese Tendenz bei dem Film Maidan (Sergei Loznitsa, Ukraine/NL 2014), der die Proteste in Kiew verfolgt. Zwar sind diese Proteste als auch die Zeugnisse davon auf YouTube völlig anders, als die des „Arabischen Frühlings“, Loznitas Vorgehen ist es aber nicht: auch er geht mit einer Kamera zu den Menschen auf dem Platz, er filmt, montiert und wertet aus (auf dem Filmfestival in Cannes, im Kino, nicht online). Anders als bisherige Filme über Proteste wählt er allerdings eine durchgehend ästhetische Form, indem fast alle Einstellungen mit einer auf einem Stativ montierten unbeweglichen Kamera aufgenommen werden und meist gut eine Minute lang dauern. Indem die Kamera zudem häufig auf den Bühnen positioniert wird und die Menschen filmt, die zu ihr hochblicken, entstehen so Tableaus, die sich deutlich von allen bisher bekannten Nachrichten- oder

22 Vgl. L. Ben Mhenni: Vernetzt euch.

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YouTube-Bildern unterscheiden. Adressierungen der Kamera unterbleiben weitgehend und die homogene Gestaltung der Tonspur macht deutlich, dass es hier auch um ein künstlerisches Interesse geht. Die Bilder werden nicht einer Logik der Chronologie oder des Sagbaren untergeordnet, sondern bestimmten ästhetischen Vorstellungen. Es geht mir hier nicht darum, dafür zu plädieren, dass diese Filme online verfügbar gemacht werden sollten, oder dass man kein Stativ verwenden sollte, problematisch ist vielmehr, dass sich diese Filme nicht zu ihrem Anteil am Unsichtbaren verhalten. So unterschiedlich sie auch sind, alle drei Filme tun so, als gäbe es den anderen Platz YouTube nicht, oder – im Falle von Al midan – als wäre er bloß ein Werkzeug für die Auseinandersetzungen. Filme und Arbeiten hingegen, die sich mit dem meist auf YouTube auffindbaren Clips beschäftigen, sind häufig nicht daran interessiert, damit die chronologischen Ereignisse aufzuarbeiten, sondern ihnen geht es neben der inhaltlichen Arbeit auch darum, die Plattform als weiteren Ort zu etablieren und die Besonderheiten des Videomaterials herauszustellen, „Sichtbarkeit oder Unsichtbarkeit in einem gemeinsamen Raum“ zu thematisieren, sowie, „wer Zugang zu einer gemeinsamen Sprache hat und wer nicht“. 23 Prinzipiell ist die Frage berechtigt, warum es Filme über das YouTube-Material des Arabischen Frühlings braucht, wenn dieses doch den meisten Menschen zur Sichtung zur Verfügung steht. Filme wie The Uprising (Peter Snowdon, UK/B 2013), Abstrakter Film (Birgit Hein, D 2013) oder die Installation „The Pixelated Revolution“ von Rabih Mroué (2012) sind nicht daran interessiert, das visuelle Ausgangsmaterial zugunsten einer These oder Chronologie zu homogenisieren, sondern wollen die Vielstimmigkeit beibehalten. Indem sie dezidiert Bildmaterial nutzen, das für die Zuschauer ihrer Filme ebenfalls zugänglich ist, geht es diesen Filmen auch darum, für diese Bilder neue Räume zu schaffen. Das Festivalpublikum im Falle von Snowdon und Hein und das Ausstellungspublikum bei Mroué soll sich mit Bildern auseinandersetzen und sich auch fragen, warum man sie sich bisher noch nicht angesehen hat. Das Einbinden in neue und andere Räume als die YouTubes lässt zudem andere Elemente in den Vordergrund treten, die in dem Material vorhanden sind, aber eben erst in den anderen Zusammenhängen offensichtlich werden.

23 Rancière, Jacques: Ist Kunst widerständig?, Berlin: Merve 2008, S. 26.

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Damit das Alltägliche als „Spur des Wahren“ auch in anderen Verwertungszusammenhängen wie beispielsweise denen der Kunst genutzt werden kann, muss für Rancière das Alltägliche aus seiner Selbstverständlichkeit herausgerissen werden.24 Das geschieht zum einen durch das Filmen selbst, wodurch das bloße Erscheinen zu einem politischen Akt wird, und zwar das Erscheinen der Kamera, was während der Mubarak-Ära auf vielen öffentlichen Plätzen verboten war, als auch das spätere Erscheinen auf den Handys oder auf YouTube.25 Aber auch durch das Transferieren der Clips aus ihrer Verwertungslogik heraus: von YouTube in den Kinosaal. Allen drei Filmen ist zudem gemein, dass sie das Unsichtbare thematisieren. Es wird dadurch zwar nicht direkt sichtbar, aber man gibt ihm einen Raum. Rabih Mroué, indem die von ihm ausgewählten Clips zeigen, dass die Person hinter der Kamera mit eben dieser getroffen zusammenbricht; Peter Snowdon wählt für seine fiktive siebentägige Chronologie der Ereignisse vor allem jene Clips aus, in denen ebenfalls Personen hinter der Kamera spürbar werden, da sie adressiert oder angeschossen werden, weglaufen, hörbar weinen oder sich mit der Kamera zusammen verstecken; Birgit Hein hat für ihren Film vor allem jene Passagen der Clips hintereinander montiert, in denen aufgrund des Rennens oder Fallens nicht viel mehr als monochrome oder verpixelte Farbflächen zu erkennen sind, durch die synchron belassene Tonspur wird jedoch der Bezug zu den Kämpfen hergestellt. Hierbei wird weniger die kameraführende Person thematisiert, da die Clips teilweise auch zu kurz sind, es wird aber einem Element zur Aufmerksamkeit verholfen, das für die Glaubwürdigkeit jener Clips enorm wichtig ist, selten aber mit den Bildern thematisiert wird: die Stellen im Film, auf denen man nichts erkennt.26 Mit Rancière formuliert konstruieren diese drei Arbeiten Fiktionen, sie benutzen das Material des Alltags, stellen es in neue Zusammenhänge, lassen es aber gleichzeitig auch intakt, das heißt, sie sollen nicht im Sinne

24 Ebd., S. 55. 25 Vgl. L. Baladi: Bilder vom Tahrir-Platz, S. 77. 26 Siehe ausführlich zu diesen Filmen Krautkrämer, Florian: „The revolution will not be televised but uploaded. Filme über die Filme der arabischen Revolution“, in: Cargo Film/Medien/Kultur 22 (2014), S. 32-37 und Krautkrämer, Florian: „Revolution Uploaded. Un/Sichtbares im Handy-Dokumentarfilm“, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft 11 (2014), S. 113-127.

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einer bereits getätigten Aussage, einer beabsichtigten Wirkung eingesetzt werden.27 Damit reflektieren sie YouTube als einen politischen Ort, einen Ort, an dem vielstimmige und alltägliche Clips mit direktem Ansinnen oder nicht, ohne kommerziellen Hintergrund hochgeladen werden auf eine kommerzielle Plattform, die sich zudem zum Weiterverarbeiten anbietet; an dem die automatisch generierte Abfolge der Clips nicht der Intention des direkten Produzenten oder Rezipienten gehorcht; ein Ort, an dem die Aufnahmen in Playlists angeordnet, heruntergeladen und weiterverarbeitet werden können; an dem ein und dasselbe Motiv in Clips mit unterschiedlicher Aussage auftauchen kann, die der Aufständischen und die der Herrschenden nebeneinander. So entsteht jedoch ein neues Unsichtbares, das in diesen Filmen ebenso wenig thematisiert wird wie das in Al midan, Tahrir oder Maidan. Im Bezug auf diese Bilder sowie ihre Produktion schmilzt bei den Beispielen, die mit dem Material von YouTube arbeiten, der hors cadre auf den Punkt der Kamera zusammen. 28 Die Wendigkeit der kleinen portablen Kameras macht es möglich, den Bereich hinter der Kamera jederzeit selbst ins Bild zu nehmen, und wenn das nicht geschieht, ist dieser Bereich permanent latent vorhanden, da bei den Amateuraufnahmen in die Kamera geblickt wird, sich das Rennen und Fallen ins Bild überträgt, das dabei

27 „Es gibt sodann innerhalb dieses Rahmens die Strategien der Künstler, die sich vornehmen, die Rahmen und die Maßstäbe dessen, was sichtbar und aussprechbar ist, zu verändern, das sehen zu lassen, was nicht gesehen wurde, das anders sehen zu lassen, was zu einfach gesehen wurde, das in Beziehung zu setzen, was beziehungslos war, mit dem Zweck, Risse im sinnlichen Gewebe der Wahrnehmungen und in der Dynamik der Affekte zu erzeugen. Das ist die Arbeit der Fiktion. Die Fiktion ist nicht die Erschaffung einer imaginären Welt, die der wirklichen Welt entgegengesetzt ist. Sie ist die Arbeit, die Dissense vollzieht, die die Modi der sinnlichen Präsentation und die Formen der Aussage verändert, indem sie die Rahmen, die Maßstäbe oder die Rhythmen ändert, indem sie nur Verhältnisse zwischen der Erscheinung und der Wirklichkeit, dem Einzelnen und dem Allgemeinen, dem Sichtbaren und seiner Bedeutung herstellt“, J. Rancière: Der emanzipierte Zuschauer, S. 79. 28 In der Filmtheorie bezeichnet man jenen Bereich des Off, der durch einen Schwenk der Kamera ins Bild rücken könnte als diegetisches Off oder hors champ, jenes Off aber, das die außerdiegetischen Elemente wie Kamera und RegisseurIn enthält als hors cadre.

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häufig seine Gegenständlichkeit verliert und nur mehr Fragmente zeigt. Die involvierte Kamera zeigt sich selbst in ihren Zusammenhängen. Das Unsichtbare verschwindet dabei aber nicht, es findet einen neuen Platz, und der ist nun am anderen Ende der Zirkulation: vor dem Computer.

D IE AUFTEILUNG DES U NSICHTBAREN Für die Filme wird nun ein Bereich wichtig, der zuvor allein der Distribution und Rezeption vorbehalten war: der vor dem Bildschirm. Denn die Zirkulation der Bilder findet in einem direkten Austauschverhältnis zu diesem Raum statt. Jeder angeklickte YouTube-Clip beeinflusst die Abfolge der Wiedergabe sowohl auf dem eigenen Rechner als auch über die Website auf allen anderen Geräten, die auf ähnliche Videos mit ähnlichen Suchbegriffen zugreifen. Titel und Tags mit „raw“, „Blood“ aber auch „GoPro“ werben um die Klicks der Zuschauer, da jedes Aufrufen Geld generieren kann, wie teilweise eingeblendete Werbebanner zur JamesCook-University in Singapur oder zu McDonalds verdeutlichen.

Abbildung 2: Panzer-Perspektive aus dem Clip „Tanks with GoPro Taking Rebel strongholds in Jobar“

Wenn ich also einen Clip aus dem syrischen Bürgerkrieg ansehe, der im Titel verspricht, dass eine GoPro direkt auf einem Panzer befestigt wurde, dann übernehme ich nicht nur die Perspektive von Assads Armee, sondern

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bin zugleich auch verantwortlich dafür, dass diejenigen, die diese Perspektive verbreiten, Geld verdienen, das möglicherweise wieder in den Krieg zurück fließt.29 Bei genauerem Hinsehen haben wir es also mit drei verschiedenen Bereichen des Unsichtbaren zu tun. Dem ersten Bereich kann durch das Verbreiten der Aufnahmen zu neuer Sichtbarkeit verholfen werden, wenn Demonstrationen gefilmt und damit online gestellt werden. Dieses Verhältnis von Sichtbarem und Unsichtbarem hängt noch am ehesten mit dem Begriff des Politischen zusammen, den Rancière verwendet. Da die Aufteilung in sichtbare und unsichtbare Räume einer polizeilichen Logik 30 entspringt und das Erscheinen auf einer gemeinsamen Bühne erst Politik ermöglicht, ist bei Rancière das Unsichtbare ebenfalls mit dem Polizeilichen konnotiert.31 Judith Butler argumentiert ähnlich: „For politics to take place, the body must appear“.32 Sichtbarkeit muss hergestellt werden, was aber nicht bedeuten darf, dass das Unsichtbare neu verteilt (partager/aufgeteilt) wird: es muss verschwinden zugunsten der Vielstimmigkeit. Dafür müssen die Clips nicht zwangsläufig im Internet geteilt werden, es genügt auch, sie von Zeit zu Zeit auf dem Handy vorzuzeigen. Doch auch wenn die Vielstimmigkeit auf YouTube letztendlich dauerhafter hergestellt werden kann als in der umbrechenden Gesellschaft, entstehen doch neue Unsichtbarkeiten: Der zweite Bereich befindet sich in den Bildern, wo er aufgrund der involvierten Kamera zunehmend auf den schwarzen Fleck der Kamera selbst reduziert wird. Auch dass ein spezifisches Ereignis aus verschiede-

29 In diesem Fall ist das die russischsprachige pro-Assad-orientierte Abkhazian Network News Agency. 30 Polizeilich wird hier im Rancière’schen Sinne verwendet: „Allgemein benennt man mit dem Namen der Politik die Gesamtheit der Vorgänge, durch welche sich die Vereinigung und die Übereinstimmung der Gemeinschaften, die Organisation der Mächte, die Verteilung der Plätze und Funktionen und das System der Legetimierung dieser Verteilung vollzieht. Ich schlage vor, dieser Verteilung und dem System dieser Legitimierungen einen anderen Namen zu geben. Ich schlage vor, sie Polizei zu nennen“, J. Rancière: Das Unvernehmen, S. 39f. (Hervh. i.O.). 31 Das bedeutet nicht, dass die Polizei selbst unsichtbar ist, die polizeiliche Logik ist teilweise auf konkrete Sichtbarkeit angewiesen. 32 J. Butler: Bodies in Alliance.

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nen Winkeln von verschiedenen Handkameras aufgenommen und online geteilt wird, macht Bereiche sichtbar, die zuvor dem Bereich des hors cadre angehörten. Dabei muss dieser Bereich nicht zwangsläufig selbst im Bild erscheinen, seine Latenz tritt deutlicher hervor, als das sonst bei fotografischen Medien der Fall ist.33 In früheren medialen Konfigurationen wurden beide Bereiche des Unsichtbaren vom Sichtbaren strukturiert: Ereignisse, die gefilmt wurden, bedeuteten gleichzeitig, dass andere Ereignisse nicht gefilmt werden konnten, und was im Bild der Kamera zu sehen war, war nicht im hors champ. Nun aber zieht das Unsichtbare in die Bilder mit ein. Für Rabih Mroué waren ruhige, vom Stativ aus gefilmte Bilder als Bilder der Herrschenden identifizierbar, weil nur das Regime ausreichend Infrastruktur und Zeit hatte, um in Ruhe die Kamera aufzubauen. Das Stativ ist hier nicht wörtlich zu nehmen, aber die verwendete Technik lässt Rückschlüsse auf die Situation und den Filmenden zu, bei der involvierten Kamera schreibt sich der unsichtbare Bereich direkt ins Bild hinein. Mit dem dritten Unsichtbaren ist es komplizierter, weil es weniger formal zu beschreiben ist. Es handelt sich dabei um den Platz vor dem Bildschirm. Es gibt keinen direkten Zusammenhang zwischen diesem Platz und der Produktion des angesehenen Bildes, außer dass allein durch das Sichtbarwerden des Clips der Bereich des Sichtbaren nun doch wieder gezählt und damit einer polizeilichen Logik zugeführt wird: Klickzahlen bestimmen, was gesehen werden soll und was in den Suchergebnissen eher verschwindet, Werbebanner werden geschaltet und somit Gelder generiert, die zur Produktion neuer, ähnlicher Clips beitragen können. Als Rezipient hat man wenig Einfluss auf diese Aufteilung, da sich ohne das Anwählen eines Clips meist nicht mit Sicherheit sagen lässt, was sich dahinter verbirgt, wen man damit unterstützt und wem man schadet. Letztendlich kann man also nicht davon ausgehen, dass man das Unsichtbare beseitigen könnte. Jede Ausdehnung des Sichtbaren produziert auch wieder Unsichtbares – nicht unbedingt in einem gleichberechtigten Austauschverhältnis, wie das noch beim Gegensatzpaar champ/hors champ der Fall war, sondern die Bereiche können bezüglich der Größe und der

33 „Mit der Fotografie ist es uns nicht mehr möglich, das Bild außerhalb des Aktes zu denken, der es generiert.“ Dubois, Philippe: L’Acte photographique et autres essais, Paris: Nathan 1990, S. 9: „Qu’avec la photographie, il ne nous est plus possible de penser l’image en dehors de l’acte qui la fait être“.

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Dauer variieren und an gänzlich unerwarteten Orten entstehen. Sowohl in der Ästhetik der Politik als auch dem ästhetischen Regime hat sich Rancière stark auf das Visuelle, das Sichtbare und den Blick konzentriert. So zeichnet sich sein von ihm als ästhetisch bezeichnetes Regime dadurch aus, dass die Literatur vom zuvor verschwiegenen Alltäglichen berichtete und die Malerei das Unbedeutende malte.34 Wenn nun aber das Sichtbare nicht ohne das Unsichtbare zu haben ist, muss dann nicht auch das Unsichtbare im politischen, ästhetischen Prozess verhandelt werden? Muss man sich also nicht überlegen, wie die Bühne des Unsichtbaren bei der Produktion der stummen Worte auch politisch sein kann? Denn bei Rancière wird im ästhetischen Regime das Bild zum stummen Wort, zur „Beredsamkeit dessen, das nicht reden kann“, das letztendlich aber nicht wirkungslos bleibt, weil es sichtbar wird: „Das stumme Wort ist also die Beredsamkeit dessen, das nicht reden kann. Es ist die Fähigkeit, geschriebene Zeichen auf einem Körper aufzuzeigen“.35 Wie aber soll man mit dem Unsichtbaren anders arbeiten, als es sichtbar zu machen? Denn jede Untersuchung oder Thematisierung des Unsichtbaren resultiert zwangsläufig in einer neuen und veränderten Sichtbarkeit – und damit in neuen Unsichtbarkeiten. Ein produktiver Umgang mit dem Unsichtbaren könnte darin liegen, sich auf den Bereich der Zirkulation zu konzentrieren. Die Arbeiten von Snowdon und Hein haben keine neuen Bilder hinzugefügt, sie haben sich allein aus dem Bestehenden bedient, das sie neu zusammengesetzt haben. Beide Filme, aber auch die Pixelated Revolution von Mroué befragen die Bilder nach dem, was man auf ihnen nicht sieht, ohne dass es aber darum ginge, dem Unsichtbaren ein Bild zu geben.36 Diese Filme sind Arbeiten über bestehende Bilder und darüber, wie sie zirkulieren und wir sie auswählen und ansehen. Es sind Überlegungen dazu, wie Sichtbares verteilt wird. Ein auf Sichtbarkeit fixierter Prozess der Weiterverarbeitung und Zirkulation resultiert häufig genug in ordnenden Ergebnissen, wohingegen die offene Form das Unsichtbare auch in einer positiven Besetzung „zeigen“ kann, möglicherweise begünstigt das Akzeptieren gewisser Unsichtbarkeiten

34 Vgl. J. Rancière: Aufteilung des Sinnlichen, S. 51ff. 35 Rancière, Jacques: Politik der Bilder, Zürich: Diaphanes 2005, S. 21. 36 Mroué hat das in der dazugehörigen Installation dann doch getan, indem er den Aufbau eines der von ihm ausgewählten Videos nachinszeniert hat. In der der Installation zugrundeliegenden Performance-Lecture aber geht es nicht darum.

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sogar solch offene Formate. Letztendlich geht es hier nicht darum, die Möglichkeiten visueller Äußerungen ohne Neuproduktionen von Bildern vorzuschlagen, es kann hier keine Pauschallösungen geben. Aber anstatt allein (neue) Sichtbarkeiten zu präferieren oder zu kritisieren, müsste auch die Arbeit mit dem Unsichtbaren stärker in Anschlag gebracht werden, ohne das Unsichtbare auch gleich dem Regime der Sichtbarkeit zuzuführen.

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Verfahren des Sich-Aussetzens Zur dokumentarischen (Neu-)Anordnung des Interviews S VEN S EIBEL

R ELOKALISIERUNG

ODER K RISE DOKUMENTARISCHER P RAKTIKEN ? Das anhaltende Interesse an dokumentarischen Formen innerhalb der Räume und Institutionen der Kunst findet bereits seit einigen Jahren parallel auch in den interdisziplinär geführten Debatten der Kunst- und Medienkulturwissenschaften diskursiven Widerhall. Dabei gleichen die Deutungsansätze dieser Entwicklung in vielerlei Hinsicht jenen Diskussionen, die sich im Zuge der parallel in den 1990er Jahren stattfindenden „Relokalisierung“1 des Films in den Präsentations- und Ausstellungszusammenhängen der Kunst herausgebildet haben.2 Ebenfalls unter dem Eindruck der zuneh-

1

Relokalisierung wird hier im Anschluss an Francesco Casetti als Konzept medialen Wandels verstanden, das sowohl die Rekontextualisierung medialer und ästhetischer Praktiken und Erfahrungsformen betrifft, als auch die durch diese Bewegung ausgelöste Transformation von sozialen und institutionellen Kontexten und medialen Umwelten umfasst. Zum Konzept der „Relocation“ siehe: Casetti, Francesco: The Lumière Galaxy: Seven Key Words for the Cinema to Come, New York: Columbia University Press 2015, S. 1-42.

2

Eva Hohenberger und Katrin Mundt etwa rekonstruieren die Verbreitung und Nobilitierung filmdokumentarischer Formen in einer Historisierungslinie, die die „Aufnahme und Aneignung dokumentarischer Verfahren in der Kunst“ anhand von Überkreuzungen der Geschichte künstlerischer Formen, wie der Foto-

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menden Proliferation und Entgrenzung dokumentarischer Bilder und Praktiken greift der Begriff des „documentary turn“3 die Effekte dieser Entwicklung in filmkünstlerischen Produktionen auf. Die Herausforderung, die sich durch die digitale Produktion und Distribution von Bildern hinsichtlich der Kategorie des Dokumentarischen stellt, wird in diesem Diskussionszusammenhang sowohl von der zunehmenden Allgenwart als auch von der Frage der Manipulation von Bildern – als Dokumenten und Zeugnissen – und ihres sich wandelnden Evidenzanspruchs perspektiviert.4 Zweifelsohne lassen sich aktuell eine Vielzahl von Experimenten in den Künsten beobachten, deren Erprobung neuer filmdokumentarischer Formen und Formate sich einer breiteren medienkulturellen Dynamik der Rekontextualisierung ästhetischer Praxis und ihrer Rezeption verdankt.5 In diesem

grafie und dokumentarischen Videos mit der Entwicklung von Institutionen wie dem Museum oder der Großausstellung (MoMA, dOCUMENTA) im 20. Jahrhundert untersucht: Hohenberger, Eva / Mundt, Katrin: „Orte des Dokumentarischen. Einführung in den Schwerpunkt“, in: Dies. (Hg.), Ortsbestimmungen. Das Dokumentarische zwischen Kino und Kunst, Berlin: Vorwerk 8 2016, S. 828, hier S. 8. 3

Balsom, Erika/Peleg, Hila: „Introduction: The Documentary Attitude“, in: Dies. (Hg.), Documentary across Disciplines, Cambridge/London: MIT Press 2016, S. 10-19, hier S. 15f. u. S. 19, Fn.9. Auf die seit den späten 1990er Jahren anhaltende Konjunktur dokumentarischer Arbeiten in den Künsten und der Frage „Was ist der ‚documentary turn?‘“ reagiert auch Hito Steyerls Theorie des Dokumentarischen, vgl. Steyerl, Hito: Die Farbe der Wahrheit: Dokumentarismen im Kunstfeld, Wien/Berlin: Turia+Kant 2008. Vgl. auch Nash, Mark: „Reality in the Age of Aesthetics“, in: Frieze 114 (04/2008), online unter: https: //frieze.com/article/reality-age-aesthetics vom 20.10.2017.

4

Zu aktuellen Tendenzen der Evidenzproduktion in künstlerischen Prozessen und ihrer kritischen Reflexion vgl. Hahn, Daniela: „Einleitung/Introduction“, in: Dies. (Hg.), Beyond Evidence. Das Dokument in den Künsten, Paderborn: Fink 2016, S. 9-21.

5

Franscesco Casetti hebt in seinem Modell des Wandels und der Transformation des Kinos die Rolle der heterogenen Praktiken von Zuschauer*innen („reworkings“) hervor, „[l]ocated at the intersection of discourses, practices, places, and needs, spectators intervene in the equilibrium between elements“. (F. Casetti: Lumière Galaxy, S. 87). Für ein Verständnis des Bedeutungswandels im Feld

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Zusammenhang bedarf es neben historischen Perspektiven auch theoretischer Zugänge, die über historische Rekonstruktionen hinaus nicht nur die Ausweitung der Kategorie des Dokumentarischen konstatieren, sondern ihren ebenfalls beobachtbaren qualitativen Bedeutungswandel nachvollziehen. Gerade Dokumentarfilme, die sich unterschiedlicher Traditionen und Einflüsse verdanken, an den Kreuzungspunkten von Kino, Filmfestival oder Ausstellungsraum entstehen und dabei heterogene künstlerische oder institutionelle Felder durchqueren, liefern selbst film- und medienästhetische Reflexionen und Verhandlungen von Wirklichkeit. Dabei haben ‚experimentelle Dokumentationen‘6 immer schon zur Verhandlung gestellt, wie sich in ihnen Bilder, Töne, Gesten, Wörter oder Körper zur Wirklichkeit – oder als Wirklichkeit – positionieren und inszenieren. Doch auf welcher Ebene ließe sich die Annahme, dass sich mit und durch die Relokalisierungsdynamiken audiovisueller und filmischer Praktiken auch ein Wandel in die dokumentarischen Epistemologien eingetragen hat, überhaupt beschreiben und theoretisieren? Für die Grenzbereiche zwischen dokumentarischen und historiografischen Praktiken hat Philip Rosen vor einigen Jahren die Differenz zwischen „document“ und „documentary“ erarbeitet.7 Dabei legt Rosen insbesondere die zeit- und medienspezifisch

dokumentarischer Praktiken scheint es ebenfalls hilfreich, neben sich verändernden digitalen Technologien und ästhetischen Techniken jene in Transformation begriffenen Zuschauer*innen-Konstellationen in den Blick zu nehmen. 6

Paolo Magagnoli kommt auf den Begriff der „experimental documentary“, um sich Momenten der Durchdringung von Dokument und Fiktion aber auch von Realem und Utopischen in Arbeiten von Hito Steyerl, Anri Sala, Ilya und Emilia Kabakov anzunähern. Als offenes Begriffskonzept eignet sich der Bezug auf ‚experimentelle Dokumentation‘ sowohl dazu, auf lose Verflechtungen zwischen aktuellen dokumentarischen Filmprojekten mit Traditionen des Experimentalfilms oder des politischen Essayfilms hinzudeuten, als auch dazu, für ästhetische Aushandlung zu sensibilisieren, die nicht in dokumentarischen Realismen münden. Magagnoli, Paolo: Documents of Utopia: The Politics of Experimental Documentary, New York: Columbia Univ. Press 2015.

7

Vgl. das Kapitel „Document and Documentary: On the Persistence of Historical Concepts“ in: Rosen, Philip: Change Mummified. Cinema, Historicity, Theory, London/Minneapolis: University of Minnesota Press 2001, S. 225-263.

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heterogenen Operationen frei, über die Dokumentarfilme und Fernsehnachrichten (News Coverages) die Indexikalität audiovisueller Dokumente organisieren und in historische und dokumentarische Tatsachenerzählung sequenzialisieren.8 Jenseits der traditionellen Dokumentation, so eine an Rosen anschließende These Oliver Fahles und Friedrich Balkes „werden im Verhältnis von Dokument und Dokumentarischem Momente der Unterbrechung oder Suspension dieses Zusammenspiels von Historiografischem und dokumentarischen Praktiken greifbar.“9 An diese Einschätzung anknüpfend lässt sich konstatieren, dass sich im Feld der Gegenwartskunst – aus der Tradition der experimentellen und politischen Dokumentation heraus – Filmästhetiken angesiedelt haben, die eben eine solche ‚Supension‘ von Wahrheits- und Wirklichkeitsbeziehungen sowie ihre Neubefragung produktiv vorantreiben. In Ausstellungs- und Installationsfilmen untersuchen Künstler*innen wie Pierre Huyghe, Eija Lisa Athila, Hito Steyerl, Akram Zaatari, Omer Fast, Sharon Hayes, Gerard Byrne oder jüngst Salomé Lamas bereits seit den 1990er Jahren die Beziehungen zwischen Dokument und Fiktion,

8

Rosens prominentes historisches Beispiel für die „Conversion“ von der „Pastness“ des document zur „meaning“ der documentary ist die Berichterstattung der NBC über die Ermordung John F. Kennedys. Rosen arbeitet in diesem Zusammenhang die zeitliche und diskursive Funktion der „anchorperson“ heraus, über die er eine Analogie zum Dokumentarfilm gewährleistet sieht: „Thus, regularly scheduled television news includes such momentary positionings by announcers, with the anchorperson as the apex of a pyramid of knowledge, and characteristically provides retrospective summaries and accounts, sometimes called ,perspective‘ or ,context‘, for the most recent and contemporary news events. This edges it toward documentary film/video. If shots as indexical traces of past reality may be treated as documents in the broad sense, documentary can be treated as a conversion from the document. This conversion involves a synthesizing knowledge claim, by virtue of a sequence that sublates an undoubtable referential field of pastness into meaning. Documentary as it comes to us from this tradition is not just ex post facto, but historical in the modern sense.“ (P. Rosen: Change Mummified, S. 240).

9

Fahle, Oliver/Balke, Friedrich: „Einleitung in den Schwerpunkt Dokument und Dokumentarisches“, in: ZFM (Zeitschrift für Medienwissenschaft) 11, 2/2014, S. 10-17, hier S. 12.

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Wirklichkeit und Inszenierung. Ohne sich dabei offen einem filmdokumentarischen Credo zu verschreiben, werfen diese Positionen die Frage nach dem Stellenwert dokumentarischer Praxis für die Konstruktion von Erinnerung auf oder untersuchen Überlagerung des Dokumentarischen mit sozialen, historischen und juristischen Diskursen. 10 Auffällig ist, dass dabei der Einsatz bestimmter Verfahren und Strategien, trotz disparater Themen- und Motivkomplexe oder unterschiedlichster ästhetischer und politischer Ausgangspunkte der jeweiligen Künstler*innen und Regisseur*innen, wiederholt in den Vordergrund gerückt ist. Das Verfahren des Interviews ist eines von ihnen.11

10 Diese Tendenz setzte zeitlich versetzt ebenfalls im Dokumentarfilm ein. So sind in der Vergangenheit Filme wie Rithy Panhs S-21, LA MACHINE DE MORT KHMÈRE ROUGE (KHM, FRA 2002, R: Rithy Panh) oder Joshua Oppenheimer THE ACT OF KILLING (GBR, DNK, NOR 2012, R: Joshua Oppenheimer) gerade dadurch bekannt geworden, dass sie auf je unterschiedliche Weise Verfahren filmischer Zeugenschaft über Strategien der Fiktionalisierung oder des Reenactments erprobt haben. Zur Aushandlung von Zeugenschaft in filmdokumentarischen Ansätzen vgl. das Kapitel „Erlebtes bezeugen“ aus, Rothöhler, Simon: Amateur der Weltgeschichte. Historiographische Praktiken im Kino der Gegenwart, Zürich: Diaphanes 2011, S. 141-189. 11 Die Inszenierung und Befragung unterschiedlichster Ebenen der Interviewsituation durch Videos, Filme und Installationen von Künstler*innen ist so heterogen wie der Einsatz dieses Verfahrens im Dokumentarfilm. Einige filmkünstlerische Beispiele, die sich mit der medialen Inszenierung von traumatischen Erfahrungen und Zeugenschaft auseinandersetzen, knüpfen dabei an eine Tradition der kritisch-reflexiven und fiktionalen Inszenierung von Interviews an, bspw.: Omer Fasts A TANK TRANLATED, 2002 (4-Kanal Videoinstallation), THE CASTING, 2007 (4-Kanal Film Projektion, 35mm digitalisiert auf Video) oder Akram Zataaris ALL IS WELL ON THE BORDER, 1997 (Video). Parallel ließ sich seit den 2000er Jahren die Tendenz beobachten, dass Künstler*innen die dokumentarische Form des Interviews in der Qualität wiederentdecken, soziale Situationen dokumentierend herzustellen. Hierfür exemplarisch anführen ließe sich Sharon Hayes Arbeit RICERCHE: THREE, 2013 (1-Kanal HD-Video). Dabei knüpft RICERCHE: THREE

an die durch portable Aufzeichnungsgeräte begünstigte Traditi-

on des survey-interviews an, die in Filmen der 1960er Jahre entstand. Eine di-

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Im Gegensatz zum Reenactment ist dem Interview in kunstwissenschaftlichen Diskursen über dokumentarische Formen jüngst kaum theoretisches Interesse zuteilgeworden. Doch wodurch lässt sich die erneute Aufmerksamkeit für das dokumentarische Interview in der künstlerischen Praxis erklären? In einigen der oben genannten künstlerischen Positionen ist zu beobachten, dass das Interview als eine Art dokumentarischer Anordnung12 von Wahrheits- und Wissensinszenierung neu befragt wird. Den aktuellen künstlerischen Beschäftigungen mit dem Interview, so der Ausgangspunt der folgenden Überlegungen, liegt eine erneute, medienästhetische Befragung der dokumentarischen Epistemologie dieser Anordnung zugrunde, die eine Beschäftigung mit ihren ethisch-politischen Dimensionen miteinschließt. Das Interview ist dabei Verfahren, Prozess und dokumentarische Anordnung zugleich. Als Prozess geht es nicht in dem Zustand des Dokuments oder der Dokumentation auf – es lässt sich daher nicht über diese epistemologische Unterscheidung Rosens einholen. Vielmehr interveniert

rekte filmhistorische Referenz dieser Arbeit ist daher auch Piere Paolo Pasolini dokumentarische Studie COMIZI D'AMORE (ITA 1965, R: Piere Paolo Pasolini). 12 Der Begriff dokumentarische Anordnung steht hier in Anlehnung an die prominenten Analysen wissenschaftlicher Versuchsanordnungen und „Experimentalsysteme“ in der Biologie durch den Wissenschaftshistoriker Hans-Jörg Rheinberger. Als „Orte der Emergenz“ lassen sich Experimentalsysteme mit Rheinberger als jene materiellen Umgebungen und Strukturen begreifen, die den Entdeckungen des Neuen in den Wissenschaften vorausgehen und sie ermöglichen. (Rheinberger, Hans-Jörg: „Über die Kunst, das Unbekannte zu erforschen“, in: Karl-Josef Pazzini/Andrea Sambisch/Daniel Tyradellis (Hg.), Das Unverfügbare. Wunder, Wissen, Bildung, Zürich-Berlin: Diaphanes 2013, S. 143-149, hier S. 145) Experimentelle Anordnungen besitzen die Eigenschaft, in den Hintergrund zu treten, während sie „die untersuchten Phänomene zum Sprechen bringen“ (S. 146). Eben in dieser Eigenschaft lassen sich nicht nur klare Verbindungen zu den Künsten und ihren Experimenten herstellen — wie sie Rheinberger ebenfalls verfolgt —, sondern auch und gerade zu dokumentarischen Verfahren wie dem Interview. Zur Übertragung der wissenschaftstheoretischen Konzepte der Anordnung und Handlungsmacht auf den fiktionalen Film vgl. Engell, Lorenz: „Versuch und Irrtum. Film als Experimentelle Anordnung“, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 57/2 (2012), S. 297–306.

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das Interview in die Wirklichkeiten von Beziehungen, die es gleichsam transformiert. Im Folgenden wird diese These anhand von Analysen zu Hito Steyerls LOVELY ANDREA (DEU/JPN 2007) und Omer Fasts NOSTALGIA (2009)13 überprüft werden. Beide Arbeiten bedienen sich Strategien des Neuanordnens und der Remediatisierung von Interview-Szenen und konfrontieren dokumentarische Momente von Zeugenschaft und Vergegenwärtigung mit der Frage der Subjektivierung und Situiertheit von Wahrheitsbeziehungen. Wie dabei zu zeigen sein wird, eröffnet die Auseinandersetzung mit der Grenze von Fiktion und Nichtfiktion – auch wenn diese immer häufiger zu einer uneingelösten Andeutung von Reflexivität gerät – nach wie vor politische Fragestellungen, die in ihrer Komplexität in dokumentarischen Ansätzen in spezifischer Weise verhandelbar werden. In einer aktuellen Polemik gegen die Rhetorik des „blurring the boundary between reality and fiction“14 zeichnet die Filmwissenschaftlerin Erika Balsom die Erosionslinien einer gegenwärtigen ‚Krise des Dokumentarischen‘ von den postmodernen Skeptizismen der 1990er Jahre bis zum gegenwärtigen Relativismus einer „Post-truth politics“15 nach und macht dabei einen Verdichtungspunkt dieser Entwicklung gerade zwischen Kunstraum und Kino aus.16 Balsom konstatiert, dass sich im Zuge der reflexiven Befragung dokumentarischer Wahrheitsproduktion17, der Betonung der

13 Videoinstallation in drei Teilen: NOSTALGIA I, 1-Kanal HD-Video, (Farbe/Ton), 4:35 Min.; NOSTALGIA II, 2-Kanal HD-Video (synchronisiert, Farbe/Ton), 9:49 Min.; NOSTALGIA III, Super 16 mm Film auf HD-Video übertragen (Farbe, Sound), 31:48 Min., Angaben GB Agency. 14 Balsom, Erika: „The Reality-Based Community“, in: e-flux journal, 83,06/2017, S.1-13, hier S. 5f. 15 Ebd., S. 1. 16 „The ‚blurring of boundaries‘ was held to be an inviolably noble goal. As the new millennium began, critics would repeatedly point to precisely these characteristics as typical of contemporary art’s ‚documentary turn‘. For some, these strategies were evidence of a sophisticated approach to questions of truth that favorably differentiated them from that poor straw man, ‚traditional documentary‘.“ (Ebd., S. 4). 17 An anderer Stelle argumentiert Balsom, dass sich die Kategorie des Dokumentarischen in den späten 1990er Jahren durch postmoderne und poststrukturalisti-

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Ununterscheidbarkeit von Fiktion und Dokument sowie der Skepsis gegenüber einer filmdokumentarischen Beobachtungsästhetik („observational mode“) eine Entwicklung realisiere18, die zu einer relativistischen Verschiebung in der Deutung der Aufgabe von Dokumentationen geführt habe: „At worst, the insistence that documentary is forever invaded by fictionalization leads to a dangerous relativism that annuls a distinction between truth and falsity that we might rather want to fight for. And across this spectrum, we find an underlying assumption that today requires interrogation: namely, that the task of vanguard documentary is to problematize, rather than claim, access to phenomenal reality.“19

Diese Einschätzung Balsoms wird der vorliegende Beitrag zum Ausgang nehmen, um anhand der Anordnung des Interviews einen Wandel dokumentarischer Wirklichkeitskonstruktionen zu beschreiben, der, wie es die Filmwissenschaftlerin nachvollziehbar konstatiert, gerade im Rahmen des documentary turn in den Künsten seit einigen Jahren zu beobachten ist. Das Interview ist, neben weiteren dokumentarischen Verfahren, zum Gegenstand und zugleich Austragungsort von Bedeutungsverschiebungen dokumentarischer Praxis geworden. Entgegen Balsoms triftigen Einschätzungen wird dieser Beitrag allerdings die These verfolgen, dass es sich bei dem sog. blurring zwischen Dokument und Fiktion nicht ausschließlich um eine Schwächung, sondern vielmehr um einen Ausdifferenzierungsprozess

sche Denkansätze dem Vorwurf ausgesetzt sah, lediglich auf Effekte semiotischer Zeichenkonventionen zurückführbar zu sein. Die Filmwissenschaftlerin führt hier exemplarisch Jean Baudrillards These vom Verlust des Referenten in kapitalistischen Zeichenwelt an: „For Jean Baudrillard in particular, questions of the real and the referent were hopelessly anachronistic in an age of simulated reality-effects. Within such a climate, documentary was something of a bad object, presumed to be inextricable from naïve and ideological notions of immediacy, transparency, and authenticity. One response to the acknowledgement that all images are the product of codes and conventions is to deem the documentary image and the fictional image interchangeable on the grounds that they are equally constructed.“ (E. Balsom/H. Peleg: Documentary Attitude, S. 14). 18 Vgl. hierzu Balsoms Ausführung zum „observational mode“ als „bad object“: E. Balsom: Reality-Based Community, S. 4. 19 Ebd., S. 5.

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der Kategorie des Dokumentarischen handelt. Dieser Prozess verläuft quer zu der von Balsom konstatierten ,Krise‘ und dem Bemühen, die epistemologische Unterscheidbarkeit dokumentarischer Bilder erneut über ihren „indexical bond to the real“ zu beanspruchen.20 Beide Arbeiten, NOSTALGIA von Omer Fast und LOVELY ANDREA von Hito Steyerl, werfen in je unterschiedlichen ästhetischen Strategien Fragen nach den epistemologischen Grenzen des Dokumentarischen in Verbindung mit dem Interview auf. Dass bei der Befragung dokumentarischer Epistemologien nicht nur postmoderner Relativismus, sondern eben für wissenskritische Perspektiven relevante ästhetische Strategien den Hintergrund markieren, soll anhand der Analyse der beiden Arbeiten ebenfalls verdeutlicht werden. Der zweite Teil dieses Beitrags wird unterdessen den Versuch unternehmen, einen Bedeutungswandel der Kategorie des Dokumentarischen anhand eines Beispiels zu skizzieren, das über jene traditionell epistemologischen Problemkomplexe hinausführt, in die auch Balsoms Polemik zweifelsohne verstrickt ist21. Mit der experimentellen filmdokumentarischen Studie TERRA DE NINGUÉM (PRT 2012, R: Salomé Lamas) der portugiesischen Künstlerin und Regisseurin Salomé Lamas wird daher zuletzt ein weiteres Beispiel diskutiert, welches das ästhetische Interesse an dem Interviewverfahren aus den vorangegangen Künstlerfilmen aufnimmt, bei der Übertragung zurück ins Kinosetting jedoch ein dokumentarisches Moment

20 Ebd., S. 4. 21 Balsoms Kritik an der Beziehung zwischen erkenntniskritischen Modellen, die im Kontext der sog. Postmoderne-Diskussion entstanden sind und jenen, die dokumentarische und fiktionale Seiten filmischer Bilder befragenden Filmprojekte zwischen Kino und Kunstraum ist zweifelsohne berechtigt. Doch scheint eine wesentliche Erkenntnis der Fortführung der Postmoderne-Diskussionen in der Medien- und Filmtheorie der Vergangenheit – bspw. bei Philip Rosen oder Gilberto Perez, die eben jene polemische Thesen Baudrillards hinter sich lassen – zu sein, dass sich dokumentarische Qualitäten auch jenseits harter Gegenüberstellungen von dokumentarischen und fiktionalen Bildern beschreiben lassen. Vgl. P. Rosen: Change Mummified, S. 225-263; vgl. auch das Kapitel „The Documentary Image“, in: Perez, Gilberto: The material Ghost. Films and their Medium, Baltimore/London: Johns Hopkins Univ. Press 1998, S. 29-50.

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entfaltet, das nicht mehr an der Frage der indexikalischen Beziehung von Bild und Welt orientiert ist.

E PISTEMOLOGIE , DES I NTERVIEWS

P OLITIK UND K RITIK

„Das Interview steht daher immer schon unter Verdacht.“ 22 So fasst Hito Steyerl einen Begleiteffekt dieser „dokumentarischen Technik“ 23 zusammen, die im selben Maße wie sie historische Wahrheiten über Zeugenaussagen verbürge, auch Zweifel an ihnen entstehen lasse.24 Diese instabile Epistemologie hängt nun nicht nur an der Figur der Zeug*in, so ließe sich die Argumentation der Künstlerin zuspitzen, sondern ebenso an den Funktionen, die dem Interview als Methode der Beglaubigung und Diskursivierung in unterschiedlichen Genres des Dokumentarfilms zukommt. Tatsächlich hängt dem Interview in der jüngeren Geschichte des Dokumentarfilms immer wieder der Ruf eines ausgedienten Verfahrens nach, das gleichwohl in traditionellen wie auch in experimentellen Dokumentarfilmen in unterschiedlichen historischen Konstellationen wiederentdeckt wird.25 Wiederkehrend ist auch die vorgebrachte Kritik und Skepsis gegen22 Steyerl, Hito: „Können Zeugen sprechen? Zur Philosophie des Interviews“, in: Dies., Die Farbe der Wahrheit. Dokumentarismen im Kunstfeld, S. 17-24, hier S. 18. 23 Ebd., S. 19. 24 Vgl. ebd., S. 17-19. 25 So kommentiert etwa Bill Nichols in seiner einflussreichen Unterscheidung dokumentarischer Genres („documentary modes of representation“) den Einsatz von Interviews sowohl im Modus der klassischen erklärenden Dokumentation („expository mode“), als auch in den stärker von soziologischen oder anthropologischen Fragestellungen informierten partizipativen Ansätzen der 1970er Jahren („interactive mode“). In beiden Genres komme, so Nichols Einschätzung in „Representing Reality“, dem Interview ganz unterschiedliche Funktionen zu. Im ‚erklärenden‘ Modus, diene das Interview dazu, eine bereits vorhandene und über eine ‚Voice-of-God‘ Stimme etablierte Argumentation zu bestätigen, während es in der ‚interaktiven‘ Dokumentation Evidenz aus Zeugenaussagen oder der Interaktion zwischen Regisseur*in und Interviewten selbst gewinne: „The

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über diesem Verfahren, die wohl am prominentesten im Zuge des sog. Direct oder Observational Cinema artikuliert wurde.26 Doch welche Eigenschaften dieses, in heterogenen ästhetischen Spielarten und Traditionen vorzufindenden Verfahren sind es, die seit den 1960er Jahren entweder Kritik oder programmatische Abkehr von Regisseur*innen und Theoretiker*innen provoziert haben? Klassische Interview-Situationen mit Zeitzeug*innen oder Expert* innen können die Argumentation einer historischen Erzählung oder Einschätzung bestätigen. Gerade im Bereich historischer Fernsehdokumentationen sind Interviews daher fest in Bestätigungsstrategien von Geschichtsnarrativen integriert. Interviews vermögen vergangene Zusammenhänge durch persönliche Perspektiven, Erinnerung und Erfahrungsberichte zu illustrieren. Interview-Szenen fungieren zugespitzt als ästhetisch-epistemologische Relais, die einen Prozess vollziehen, der in Beziehung steht mit einem Effekt, den Bill Nichols für einen anderen Zusammenhang als die dokumentarische Transformation von Fakten in filmische Evidenz näher bestimmt hat. Ein ‚faktischer Zusammenhang‘ in der Welt erlangt seine Gültigkeit im Dokumentarfilm durch die Evidenz audiovisueller Sinnlich-

difference is quite significant, but the important point here is the shift of emphasis from an author-centered voice of authority to a witness-centered voice of testimony. When interviews contribute to an expository mode of representation, they generally serve as evidence for the filmmaker's, or text's, argument. When interviews contribute to an interactive mode of representation, they generally serve as evidence for an argument presented as the product of the interaction of filmmaker and subject.“ (Nichols, Bill: Representing Reality. Issues and Concepts in Documentary, Bloomington: Indiana University Press 1991, S. 48). 26 Zur Problematisierung des Interviews und anderer dokumentarischer Verfahren und Konventionen im Kontext des Observational Cinema und Direct Cinema vgl. Colin Young: „Observational Cinema“, in: Paul Hockings (Hg.): Principles of Visual Anthropology, Berlin/New York: de Gruyter 1975/1995, S. 99-114, hier S. 99; Saunders, Dave: Direct Cinema. Observational Documentary and the Politics of the Sixties, London/New York: Wallflower Press 2007, S. 5-11; Grimshaw, Anna: „In Defense of Observational Cinema. The significance of the Bazinian turn for ethnographic Filmmaking“, in: Christian Suhr/Rane Willerslev (Hg.), Transcultural Montage, New York: Berghahn Books 2013, S. 226-240, hier S. 232.

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keit. Erst wenn Fakten zu Gehör gebracht oder in Augenscheinlichkeit versetzt sind, lässt sich auf sie innerhalb der auf Plausibilität ausgerichteten historischen Welt des Dokumentarfilms Bezug nehmen. 27 Für Nichols liegt der Effekt dieser filmästhetisch grundierten Transformation darin, dass Evidenz nicht nur innerhalb des Dokumentarfilms und seiner diskursiven Rahmung erhoben wird, sondern auch für eine außerfilmische Welt geltend gemacht wird.28 Das Interview erzeugt nun seinem Versprechen nach Evidenz weniger aus einem semiotischen Prozess als aus dem affektiven Miterleben an einer Interaktion vor der Kamera. Doch lassen sich diese Wirklichkeit behauptenden und vermeintlich spontanen Interaktionen selten von einem Moment der Inszenierung von Zeugnissen, Geständnissen und Offenbarungen oder eben auch Finten, Unwahrheiten und Lügen trennen.29

27 Vgl. Nichols, Bill: „The Question of Evidence, the Power of Rhetoric and Documentary“, in: Brian Winston (Hg.), The Documentary Film Book, Basingstoke: Palgrave 2013, S. 33-39, hier S. 33f. 28 Nichols Argumentation geht über ein zeichentheoretisches Verständnis dokumentarischer Evidenz hinaus. Für eine Analyse von Interview-Situationen ergeben sich dort Anschlussstellen in dieser Argumentation, wo sie nicht die indexikalischen Eigenschaften des fotografischen Bildes, sondern die gestischen und deiktischen Dimensionen der Interview-Situationen und ihrer Evidenzbildung in den Vordergrund rückt: „Cast back by discourse into the external world, facts take up a place outside discourse and are made to do so in a way that allows their reincarnation as evidence to overlay perfectly the fact to which it corresponds. The indexical quality of the photographic image is ideally suited to this purpose.“ (Ebd., S. 34). 29 Obwohl die Dialogizität der Kommunikationssituation eines Interviews in vielen Film- und Fernsehproduktionen aus der Darstellung und dem Ablauf ausgeschlossen wird, gelingt es durch diese Settings dennoch, die Äußerungen von Zeug*innen als spontane Akte der Vergegenwärtigung und nicht als Bestandteil einer dokumentarischen Erzählung zu inszenieren. Das dokumentarische Subjekt, dass hierbei zur Erfahrungsträger*in wird, subjektiviert sich über eine diskursive und technisch-mediale Anordnung, die Aussagen in Resonanz mit Regungen, Haltungen, Gesten und Mimiken hält. Als Bühne und Aufzeichnung zugleich, gelingt es dem Interview noch die intensivsten Affekte in Korrespondenz mit getätigten Aussagen zu halten.

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Die Prozesshaftigkeit und Dauer, in der im Interview Worte, Aussagen oder Dialoge entstehen und sich mit Gesten, Mimiken und affektiven Regungen als Spuren und Aktualisierung von Erinnertem verschränken, wird von einem ganzen Ensemble technischer, medialer, sozialer, ökonomischer Bedingungen getragen. Anhand der Frage wie diese Bedingungen und die soziale Situation und Interaktionen des Interviews schließlich in der audiovisuellen Anordnung des Interviews erfahrbar gemacht werden, lassen sich divergierende dokumentarische Stile, Ethiken und Epistemologien unterteilen. Es gibt eine Vielzahl an Filmen, die das Interview als Ort der sozialen Interaktion, als Methode der politischen Teilhabe und Intervention oder als Technik der dialogischen Erinnerung und Zeugenschaft konzeptuell ins Zentrum rücken. Aber trotz seiner derzeitigen Wiederentdeckung in dokumentarischen Filmprojekten30 gilt das Interview nach wie vor als Verfahren, das leicht vom dokumentierenden in den fiktional erzählenden Modus umzuschlagen droht. Eben diese Nähe zur Fiktion war Grund dafür, dass die Protagonist*innen des Observational Cinma in den 1960er Jahren „abandoned the interview as an appropriate component“, wie es Colin Young zusammenfasst.31 Doch auch der Umstand, dass das Interview in die sozialen Situationen interveniert, die es dokumentiert, machte aus ihm wohl eine Abgrenzungsfolie für das „fly-on-the-wall“ Ideal und die „picturelogic“32 des Direct Cinema. In den 1990er Jahren – vor dem Hintergrund poststrukturalistischer Filmtheorien – entwickelt sich hingegen das Verständnis des Interviews als eine Art Dispositiv. So hebt auch Bill Nichols die hierarchischen Machtbeziehungen und die diskursivierende Funktion des Interviews als „overdetermined structure“ hervor.33 Mit Bezug auf Teresa de Lauretis „technolgies of gender“ spricht Nichols von „technologies of knowledge“, in denen

30 Bekannte Beispiele, die mit der Anordnung des Interview experimentieren und sie konzeptuell ins Zentrum rücken, wären u.a. Astra Taylors EXAMINED LIFE (CAN 2008, R: Astra Taylor) und Michel Gondrys IS THE MAN WHO IS TALL HAPPY? (FRA 2013, R: Michel Gondry). 31 C. Young: Observational Cinema, S. 99. 32 D. Saunders: Direct Cinema, S. 10. 33 B. Nichols: Representing Reality, S. 50.

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sich Macht und Wissen untrennbar in der Hervorbringung von Subjektivität verschränken: „The interview in its various guises has a central role to play among these technologies. In cinema, this linkage of technique to power takes m aterial form as space and time, particularly space. Like the ethical issues concerning the space between filmmaker and subject and how it is negotiated, a parallel set of political issues of hierarchy and control, power and knowledge surround the interview.“34

Parallel zu diesem Verständnis des Interviews als Dispositiv und somit einer von Machtbeziehungen durchdrungenen Anordnung, entsteht die Kritik an der Repräsentationspolitik des Interviews. Da politische Ansprüche mit Techniken des ‚Stimme verleihens‘ und ‚sprechen lassens‘ in dem Interview historisch verknüpft sind, ist die Interviewtechnik im besonderen Maße mit der Frage der Stellvertretung und Autorität dokumentarischer Darstellung verstrickt. Jay Ruby hat diesen Problemkomplex ebenfalls zu Beginn der 1990er Jahre für den innerhalb der Visuellen Anthropologie geführten Diskurs wie folgt zusammenfasst: „Who can represent someone else, with what intention, in what ‚language‘, and in what environment is a conundrum that characterizes the postmodern era.“35 Die durch portable Tonaufzeichnungsgeräte begünstigte Popularität von Interviews in Strömungen wie dem Cinema Vérité steht mit dem Zusammenhang von politischer Repräsentation und Stimme unmittelbar in Beziehung. Im Rückblick auf den Einfluss dieser Entwicklungen und den Experimenten mit Interviews im Dokumentarfilm, sowie der Visuellen Anthropologie in den 1960er Jahren, bilanziert Ruby kritisch: „It is ‚speaking with‘ instead of ‚speaking for.‘ However, editorial control still remains in the hands of the filmmaker. The empowerment of the subject is therefore more illusionary than actual. While new voices are heard, traditional forms of authorship have not been significantly altered.“36

34 Ebd., S. 51 35 Ruby, Jay: „Speaking For, Speaking About, Speaking With, or Speaking Alongside: An Anthropological and Documentary Dilemma“, in: Visual Anthropology Review 7 (2/2 1991), S. 50-67, hier S. 50. 36 Ebd., S. 54

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Diese Politik des Interviewverfahrens – die sich treffend in der von Ruby beschriebenen Diskrepanz von Stimme und Autorschaft verdeutlicht – und seine vermeintlich transparente Kommunikationssituation wurde auch zum Gegenstand der Kritik in Trinh T. Minh-has postkolonialer Dokumentarfilmtheorie und Praxis.37 Hito Steyerl knüpft an diese Position an, wenn sie Zeugenaussagen in Interviews in die Nähe jener „historische[n], juristische[n] oder journalistische[n] Wahrheitstechnologien“ rückt, 38 die Michel Foucault im Zusammenhang seiner Studie zur juristischen Wahrheitssuche untersucht hat.39 Die von Steyerl und vielen anderen Theoretiker*innen hervorgebrachte Repräsentationskritik des Interviews ließe sich folgendermaßen pointieren: Versteht man das Interview als eine Technik der Beglaubigung von Wissen und Generierung von Evidenz, dann lässt sich der Effekt dieses Verfahrens als das In-Beziehung-Setzen von Subjektivierungsprozessen und Wahrheit bestimmen. In Interviews bilden sich Wahrheitsbeziehungen zwischen historischen Narrativen und vergegenwärtigten Erfahrungen heraus. Jenseits dieser repräsentationskritischen Perspektive lässt sich das Interview zunächst auch als eine komplexe dokumentarische Anordnung bestimmen, in der mehrere diskursive und mediale Operation und Prozesse interferieren, die zudem zeitlich auseinanderliegen können – wie Aufnahme und Montage. Das durch das Interview vermittelte Wissen und seine Wirkung auf die Zuschauer*innen hängt von der Mediatisierung verschiedener Ebenen ab, die ihrerseits filmästhetischen Konvention unterliegt. Eine

37 In einem mit Mary Zoumazi geführten Interview weist Trinh T. Minh-ha die prominente Formel des „speaking nearby“ aus ihrem Film REASSEMBLAGE: FROM THE FIRELIGHT TO THE SCREEN (USA 1983, R: Trinh T. Minh-ha) als Öffnungsversuch der Interviewsituation aus. Vgl. Minh-ha, Trinh T./Zoumazi, Mary: „Scent, Sound and Cinema“, in: Trinh T. Minh-ha, Cinema Interval, London/New York: Routledge 1999, S. 246-266, hier S. 248. 38 H. Steyerl: Können Zeugen sprechen?, S. 19. 39 Über die von Steyerl aufgezählten juristischen und religiösen Beispiele – wie dem Geständnis, der Folter, der Beichte – hinaus, lassen sich Beziehungen zwischen dem dokumentarischen Interview und der von Foucault vom Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert untersuchten ‚enquête‘ (Untersuchung) herstellen. Foucault, Michel: Die Wahrheit und die juristischen Formen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 52-77.

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möglichst organisch wirkende Koordination von Fragen, Antworten und mimischen Reaktion sowie Kameraeinstellungen, zurückhaltendem und doch vereindeutigendem Schnitt können dieses komplexe Ensemble zu einer dokumentarischen Repräsentation und einem vermeintlichen Träger von Wahrheit naturalisieren. Das Verfahren des Interviews in Filmdokumentationen läuft indes nicht zwangsläufig auf die Hervorbringung eines dokumentarischen Subjekts oder die Bestätigung einer historischen Tatsachenerzählung hinaus. Vielmehr kann die je eigene Realität von Beziehungen (mediale, soziale, politische), die im Interview mediatisiert wird, in ästhetischen und epistemologisch offeneren Prozessen ausgestellt und reflektiert werden. Künstlerische Ansätze, die im Zuge des documentary turns entstanden sind, lassen sich eben genau ausgehend von der Frage, wie sie sich der Opazität eines komplexen dokumentarischen Mediatisierungsprozesses aussetzen und mithin die epistemologischen Prozeduren des Interviews offen halten, näher bestimmen. Steyerls Befragung des Interviews in LOVELY ANDREA weist darin einige Parallelen mit der Reinszenierung dokumentarischer Interviews in Omer Fasts NOSTALGIA auf, insofern beide Arbeiten eine Reflexion der Wahrheits- und Wirklichkeitsansprüche der Anordnung des Interviews eröffnen.40

D OKUMENTARISCHE E PISTEMOLOGIEN

AUSSETZEN

Omer Fasts aus drei zusammenhängenden Projektionen bestehende Installation NOSTALGIA beginnt mit dem Interview eines Geflüchteten aus Westafrika, der eine Episode aus seiner Vergangenheit als Kindersoldat erinnert. Wie in einigen anderen Arbeiten des israelisch-amerikanischen Künstlers und Filmemachers dienen auch in dieser Filminstallation Auszüge aus Interviews mit Menschen, die eine extreme, meist traumatische Form der Krisenerfahrung erlebt haben, als Grundlage für Erzählungen, in denen sich Fiktion und Dokumentation wechselseitig durchdringen. Die Schilderungen des jungen Nigerianers wirken zunächst disparat. Detailreich erzählt er-

40 Hierbei beziehe ich mich auf die räumliche Anordnung in der die Arbeit im Rahmen der Ausstellung „Omer Fast“ im Kölnischen Kunstverein, 22.10. – 18.12.2011 installiert war.

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scheint in der knapp vier Minuten langen Sequenz lediglich eine Episode, in der der Junge von einem ehemaligen Soldaten und neuem Ersatzvater in Überlebenstechniken („Bush-Crafts“) eingewiesen wird. Minutiös schildert er dabei das Erlernen der Fertigkeit, eine Falle für Rebhühner herzustellen. Anstelle der ‚tatsächlichen‘ Interview-Szene zwischen dem interviewten Geflüchteten und dem Interviewer Fast, ist die Tonspur mit einer Aufnahme montiert, in der die Herstellung dieser Schlingfalle nachgestellt wird. In der mehrkanaligen Installation folgen nun zwei fiktionalisierende Weiterbearbeitungen dieses Interviewmaterials, die nacheinander und in getrennten Räumen projiziert werden. Ein Regisseur erklärt dem Nigerianer William den konzeptuellen Ausgangspunkt seines Kunstprojekts, das davon handelt, Fragmente des Berichts eines Flüchtlings in das Script eines Science-Fiction Films umzuarbeiten.41 Die Inszenierung dieser Interview-Situation entpuppt sich unmittelbar als die eines Castings. William wird gebeten seine Vergangenheit darzustellen, dabei unterbricht der Regisseur ihn immer wieder mit Rückfragen zu inkohärent wirkenden Abläufen und Zusammenhängen in der Schilderung seiner Geschichte. Zum einen scheint William seine gegenwär-

41 In dieser ersten der beiden fiktionalen Weiterführungen wird das ‚ursprüngliche‘ Interview zwischen dem Regisseur und William in einer Greenscreen Situation nachgestellt. Wie in weiteren Arbeiten Fasts wird auch hier das dokumentarische Verfahren des Interviews mit der künstlerischen Form des Reenactments verschränkt. Anhand des später entstandenen Installationsfilm 5000 FEET IS THE

BEST (2011) hat Maria Muhle präzise die Funktion des Reenactments

und seine genuin „ästhetische Epistemologie“ freigelegt. In Auseinandersetzung mit Fasts Arbeit beschreibt Muhle das Reenactment als eine eigenständige „Form des ästhetischen Dokumentarismus“, die sie mit Rancière von einem „naiv dokumentarische[n] Paradigma“ unterscheidet. (Muhle, Maria: „Omer Fast: ‚5000 Feet is the Best‘“ Reenactement zwischen dokumentarischem und ästhetischem Regime, in: ZFM (Zeitschrift für Medienwissenschaft) 11, 2/2014, S. 91101, hier S. 101.) Auch für NOSTALGIA ließe sich diese Funktion des Reenactments aufzeigen. Gleichzeitig steht in NOSTALGIA die Anordnung des Interviews stärker im Zentrum fiktionaler und narrativer Verschiebungen, die über das Reenactement hinausgehen und dabei sowohl den fiktional-persuasiven Charakter des Interviews selbst als auch seine Verankerung in unterschiedlichen sozialen Kontexten nachvollziehbar werden lassen.

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tigen prekären Lebensumstände nicht aus der Darstellung seiner Vergangenheit heraushalten zu können, denn immer wieder überlagern sich Episoden aus Gegenwart und Vergangenheit in seiner Geschichte. Zum anderen entsprechen Williams Erzählungen nicht jenem Bild, das der Regisseur – ein Alter Egos Omers Fasts – sich unter einer authentischen Episode aus dem Leben in einem Bürgerkriegsland vorstellt. Auf die Aufforderung „Give me something specific“ kehrt nun die Schilderung über die Herstellung einer Schlingfalle wieder zurück. Auch sie erscheint für den Regisseur jedoch in vollkommen widersprüchliche und unglaubwürdige Zusammenhänge eingebettet zu sein. Auch in dem letzten, als Kinovorführung präsentierten Teil des Installationsfilms, taucht das Fragment über die Falle wieder unvermittelt auf. Ein an Science-Fiction Filme der 1970er Jahre erinnerndes Gedankenexperiment spielt mit einer alternativen (post-)kolonialen Realität. Afrika ist hier der Ort, der von Geflüchteten aus Europa und Großbritannien über einen geheimen unterirdischen Tunnel aufgesucht wird. Der Film beginnt wieder mit einem Interview, das den Charakter einer Verhör- oder Vernehmungssituation besitzt. Eine Beamtin der Grenzsicherung befragt einen geflüchteten britischen ‚Eindringling‘ (im Original „Trespasser“) über jene Schlupflöcher, über die er den afrikanischen Kontinent betreten konnte. Es entspinnt sich eine Geschichte mit vielen Ködern, Finten und Wiederholungen, in der die Frage der Authentizität immer wieder an die Kunstfertigkeit des Storytelling und der Präsentation des Selbst geknüpft wird. Während die medialen und dispositiven Bedingungen des Interviews in anderen Arbeiten Fasts durch Loop-Strukturen oder durch selbstreflexive, filmische Gesten wie eingefügte Jump-Cuts sichtbar gemacht werden,42 so findet in NOSTALGIA die Beleuchtung der politischen und sozialen Beziehungen, in die die vermeintlich neutrale dokumentarische Technik des Interviews eingelassen ist, wesentlich über verschiedene und überganglose Stadien der Fiktionalisierung dessen statt, was eigentlich dokumentiert werden soll. In Hito Steyerls im Rahmen der Documenta 12 entstandenen dokumentarischen Essayfilm LOVELY ANDREA scheint das Verfahren des Interviews zunächst eine nebengeordnete Rolle zu spielen. Der Film verknüpft einen dokumentarischen Ansatz mit der Ästhetik von Musikvideos, Essayfilmen und Found Footage und schreibt sich dabei zugleich in feministische Tradi-

42 Bspw. in THE CASTING (2007).

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tionen der Befragung der Grenzverläufe von Öffentlichkeit und Privatheit ein. Der Rahmen des 30-minütigen Kurzfilms wird von einer Reise – der dokumentarischen Fiktion par excellence – abgesteckt, die die Künstlerin in Begleitung eines Kamerateams zurück nach Tokyo führt, wo sie sich, wie man erfährt, zehn Jahre zuvor als Modell für Bondagefotografien verdingt habe, um ihr Studium zu finanzieren. Anhand der Suche dieser Bilder in Archiven und den Interviews mit männlichen Bondage-Meistern entwickelt LOVELEY ANDREA eine thesenhafte Rekonstruktion von Existenzweisen im Zeitalter aufkeimender digitaler Netzwerke und Bildindustrien. Über das Motiv des Bondage entsteht dabei auch die Reflexion einer vergeschlechtlichten Subjektivität, die aus der Dialektik von Ausgesetztheit und Souveränität entsteht. LOVELY ANDREA ist in der Folge weniger als dokumentarische Arbeit besprochen, denn als filmessayistischer Versuch über den Status des Bildes im Kontext globalisierter visueller Kulturen und Öffentlichkeiten wahrgenommen worden.43 Es gibt jedoch einen dokumentarischen Moment in diesem Film, der aus gezielter Beiläufigkeit entsteht. Die ersten 20 Minuten, und damit der überwiegende Teil der Arbeit, handeln von dem Auffinden der BondageAufnahmen Steyerls, welches von dem humorvollen, selbstreflexiven Spiel mit dokumentarischen Konventionen begleitet wird. Gegen Ende wendet sich die Erzählreise jedoch einer neuen Protagonistin zu. Asagi Ageha arbeitet als Übersetzerin44 für die Filmemacherin und ihr Filmteam und

43 Vgl. hierzu das Kapitel 3 „Hito Steyerl’s Traveling Images“ aus: Demos, T.J.: The Migrant Image. The Art and Politics of Documentary during Global Crisis, Durham/London: Duke University Press 2013, S. 74-89. 44 Die Schlüsselrolle der Übersetzerin für die Dramaturgie von Loreley Andrea erscheint keineswegs zufällig. Denn die Frage der Übersetzung bzw. Übersetzbarkeit ist für Steyerls Auseinandersetzung mit einem Begriff des Dokumentarischen zentral. Vgl. Steyerl, Hito: „Die Geste des Bauens. Dokumentarismus als Übersetzung“, in: Dies., Die Farbe der Wahrheit, S. 89-91. Darüberhinaus verbindet sie in ihrer Einleitung zur deutschen Publikation von Gayatri Chakravorty Spivaks Essay „Can the Subaltern Speak?“ die Übersetzung mit der Frage nach der (Un)Möglichkeit der Repräsentation von Subalternität. Vgl. Dies., „Die Gegenwart der Subalternen“, in: Spivak, Gayatri Chakravorty: Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation, Wien/Berlin: Turia+Kant 2008.

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stellt darüber hinaus Kontakte her zu (Künstler-)Pornografen und Produzenten aus dem Netzwerk der japanischen Bondage-Industrie. Doch Asagi Ageha ist selbst auch Bondage-Modell und hat als „Seil-Künstlerin“ die Technik der „Self-Suspension“ perfektioniert. Wenn Ageha nun gegen Ende des Films von ihrer Rolle à part als Dolmetscherin in den Mittelpunkt des dokumentarischen Interesses gerät, geschieht dies auf eine Weise, die sie nicht als Fallbeispiel oder als Stellvertreterin einer bestimmten Erfahrung exponiert. Erst nachdem die Fotografien Steyerls aus einem Archiv wiederauftauchen und Ageha die obszön-humorvollen Bildunterschriften übersetzt, fragt Steyerl sie, „do they also write this poetry next to your photos?“. Die Eröffnung dieses Dialogs verdankt sich keiner Strategie der Aufdeckung, sondern ist selbst eine sensible Geste der Allianzbildung. LOVELY ANDREA bereitet in den nun verbleibenden Filmminuten Agehas Kunstform der ‚Selbstaufhängung‘ die Bühne. Es ist diese Fertigkeit des in-der-Schwebe-haltens, die der Film in der Ästhetik eines Musikvideos als eine politische Allegorie einer der prekären Bindung abgerungenen Unabhängigkeit audiovisuell verdichet. Man könnte die Begegnung mit der Figur Agehas als einen Nebenschauplatz der in LOVELY ANDREA vollzogenen Reise verstehen. Doch ist es nicht gerade das Rätsel um Steyerls verlorene Bilddokumente, das hier als narrative(s) Setting bzw. Finte fungiert, um die Aufmerksamkeit von Ageha – als potentieller Zeugin – auf die Regisseurin zu lenken? Durch dieses Manöver des Sich-Aussetzens, auch wenn es auf einer Fiktion beruht, unterläuft das Interview in LOVELY ANDREA zwar keineswegs die Machtbeziehungen, die die Anordnung des Interviews als – im Sinne Steyerls – ,Wahrheitstechnologie‘ strukturell begleiten. Doch dadurch, dass Steyerl und ihre Dolmetscherin während das Interview einsetzt den Blick auf die Bondage-Fotografien der Regisseurin richten – mögen diese auch inszeniert sein – wird die Hierarchie von Befragung und (Selbst-)Darstellung neu ausgehandelt und öffnet sich auf die Möglichkeit einer Erfahrung von Reziprozität.

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F IKTION ALS (R E -)O RGANISATION : „P ERSUASIVE F ICTIONS “ Sowohl in Fasts Filminstallation als auch in Steyerls Filmessay wird das Interview Teil einer ästhetischen Form, die sich nicht mehr allein auf eine dokumentarische Erzählung verpflichten lässt. Beide Arbeiten ließen sich über jenes von Balsom identifizierte Moment eines blurring der Kategorien von Dokument und Fiktion beschreiben. Doch geht die ästhetische Irritation von Wirklichkeitsregistern in beiden Fällen nicht mit dem Postulat einer semiotischen Ununterscheidbarkeit einher. Während Zweifel und Ungewissheit über den Status von Bildern, Tönen und Erfahrungen in LOVELY ANDREA vor dem Hintergrund von Steyerls eigenen Theorieeinsätzen als strategisch evozierte Irritationspotentiale gedacht werden können45, so werfen die fiktionalisierenden Episoden in NOSTALGIA – und anderer Arbeiten Fasts – die Frage nach der (Re-)Organisation von Erfahrung und Zeugenschaft in der Dokumentation auf. Verhandelt wird in NOSTALGIA der Übergang von einem Dokument zu einer überzeugenden Narration authentischer Erfahrung vermittels der Organisationstechniken der Dokumentation.46 Mit Blick auf die kritische Reflexion vergleichbarer Wissenspraktiken und Effekte in einem anderen Feld ließe sich die von Fasts Arbeit untersuchte Rolle der Fiktion – in Bezug zum dokumentarischen Material – mit einem Konzept der Anthropologin Marilyn Strathern als „organising device“ bezeichnen.47 Als „persuasive fictions“ bezeichnet Strathern jene „literary strategies“, die in der Organisation und Inszenierung von Wissen in ethnografischen 45 Vgl. Dies.: „Kunst oder Leben? Dokumentarische Jargons der Eigentlichkeit“, in: Sabeth Buchmann/Helmut Draxler/Stephan Gerne (Hg.), Film, Avantgarde, Biopolitik, Wien: Schlebrügge.Editor 2009, S. 120-129, hier S. 128-129. 46 Wie Philip Rosen gezeigt hat, ist es die sequentielle Organisation von Dokumenten, die die Erzählungen von Dokumentarfilmen seit der Grierson-Schule mit den Erzähl-Standards Hollywoods in Beziehung brachte. Siehe hierzu Rosens Diskussion zur Beziehung von „documentation“ und „actualities“: P. Rosen: Change Mummified, S. 243-247. 47 Strathern, Marilyn: „Out of Context: The Persuasive Fictions of Anthropology“, in: Current Anthropology 28 (3/1987), S. 251-281, hier S. 257.

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Monographien zum Einsatz gelangen.48 Unter dem Konzept der persuasiven Fiktionen konzeptualisiert sie dabei verschiedene Verfahren der Anthropologie, die ethnografische Daten, Beobachtungen und Konzepte narrativ und der Form der Organisation nach auch fiktional verdichten. 49 Funktion dieser literarischen Verfahren in ethnografischen Texten sei es, eine Beziehung zwischen Leser*innen und Autor*innen sowie fremden („other“) kulturellen Konzepten und kultureller Andersheit in ethnografischen Texten zu vermitteln.50 Das Manöver der frühen Feldforschung besteht für Strathern exemplarisch darin, einen Abstand zu einem kulturellen Kontext zu konstruieren, der durch eine direkte Beziehung von Beobachter*in (Ethnograph*in) und Beobachteten (Indigenen) in der Feldstudie überbrückt werde.51 Was in modernen ethnografischen Monografien im Überwinden einer zuvor konstruierten Distanz jedoch ebenfalls verschwinde, ist für Strathern vor allem der Text und die Autorschaft der Ethnolog*in, teilt sich doch in der Feldstudie der soziale Kontext scheinbar unvermittelt und durch direkte Teilhabe am sozialen Kontext mit. 52 An die Stelle eines un-

48 Ebd. 49 Vgl. ebd., S. 257. 50 Ebd., S. 256f. Mit der modernen Anthropologie, so Stratherns Argumentation, finde die Ablösung einer stärker an literarischen Traditionen orientierten Fiktion (reader/writer) durch die Erfindung einer anderen Erzählstrategie und Textform statt. Mit dem Übergang von der sogenannten ‚armchair anthropology‘ zur ethnografischen Feldforschung, auf den Strathern sich hier bezieht, halten zwei komplementäre „modernistische“ Vorstellungen Einzug in die Anthropologie (Vgl. S. 256): Zunächst wäre dies die Idee eines von „uns“ separierten sozialen und kulturellen Kontextes des „Anderen“, dessen Bedeutungen und Regeln sich dem Blick von außen entziehen. Mit dieser Rahmung und gleichzeitigen Distanzierung des Anderen („framed off“) durch die Konstruktion geschlossener sozialer Kontexte, tauche jedoch im gleichen Zuge die Vorstellung auf, sich innerhalb dieses fremden Feldes von Bedeutungsbeziehungen erforschend bewegen zu können. Von dieser Konstruktion her erhalte die ethnografische Feldstudie und die Arbeit des Feldforschers ihre Legitimation (ebd., S. 261). 51 Vgl. ebd., S. 258. 52 Wo die Feldforschung die literarischen Verfahren verschwinden lässt, die einen anthropologischen Deutungszugriff über die direkte Beobachtung von Lebenszusammenhängen zu Wort kommen lassen, da operiert das Interview strukturell

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übersichtlichen Gefüges von komplexen Beziehungen und Interdependenzen, tritt die Illusion einer Beobachtungsanordung. Obwohl diese Überlegungen aus der Blütezeit postmoderner Wissenskritik und den Debatten um Textualität und Writing Culture stammen, lassen sich Stratherns Argumente im Feld dokumentarischer Praxis produktiv rekontextualisieren. 53 Denn was letztendlich in den persuasive fictions der frühen modernen Feldstudien kaschiert wird, ist die Medialität ihres eigenen Organisationsprinzips. Versteht man das Interview als organising device in jener wissenskritischen Bedeutungsspanne, in der Stratherns Texte diesen Begriff halten, dann wird es als ein dokumentarisches Anordnungsverfahren beschreibbar, dessen Kunstgriff darin besteht, Dramaturgien der Organisation von Information (Aussagen, Affekten, Mimiken, etc.) in persuasive Fiktionen, d.h. im Kontext dokumentarischer Bilder, in Inszenierungen verkörperter Authentifizierungen zu übertragen.54 In experimentellen Dokumentationen und essayistischen Ansätzen lässt sich hingegen der Versuch nachvollziehen, mit Fiktionalisierungen diese Prozesse der Bedeutungsproduktion offen zu halten. Folgt man Philip Rosen in dem Argument, dass die ästhetische Organisation von Dokumenten die historische Parallele zwischen doku-

sehr ähnlich und camoufliert jene filmisch-medialen Verfahren, die Prozesse der Subjektivierung in Beglaubigungen übertragen. Es ist in beiden Fällen das Begehren nach einer direkten Beobachtung oder Erfahrungsmöglichkeit, die eine komplexe mediale und diskursive Organisation und Konstruktion von Wissen verschwinden lässt. 53 Clifford, James/Marcus, George E. (Hg.): Writing Culture. The Poetics and Politics of Ethnography, 25th Anniversary Edition, Berkeley: Univ. of California Press, 2010. 54 Unter dem Konzept „device“ fasst Strathern unterschiedliche und vielschichtige Prozesse anthropologischer Forschung und ihrer Macht-Wissen Relationen zusammen. Dabei kommt in Stratherns Formulierung vom „literary“ (S. 259), „organising“ (S. 257) und „metering device“ (S. 262) die Bedeutung einer Anordnung zum Ausdruck, der bereits eine Art dokumentarischer Funktion zukommt: „We typically think of anthropologists as creating devices by which to understand what other people think or believe. Simultaneously, of course, they are engaged in constructing devices by which to affect what their audience thinks and believes. Preparing a description requires specific literary strategies, the construction of a persuasive fiction.“ (ebd., S. 256).

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mentarischen und fiktionalen Erzählungen markiert, dann verfahren Fasts Interview-Anordnungen parallel in den Registern beider Erzählmodi. Ohne Zweifel verlässt Fasts Installationsfilm deutlich den Bereich dokumentarischer Fragestellungen und fängt dabei etwas von der Wirklichkeit der Anordnung des Interviews und der sie begleitenden Subjektivierungsprozesse ein. Über die zwei (Re-)Inszenierungen der ursprünglichen Interviews des Künstlers mit dem nigerianischen Flüchtling stiftet NOSTALGIA eine Beziehung zu Lebensbereichen, in denen Interviews als eine dokumentierende und registrierende Technik die Authentizität bzw. die authentische Performance von Geschichten und Selbstzeugnissen beurteilen und beglaubigen. Es ist eine Art dokumentarisches Begehren für die Details der Erzählung eines Zeugnisses aus dem heraus das Alter Ego Fasts die Geschichte des Nigerianers Williams auf Unstimmigkeiten prüft. Es ist ein damit verwandtes Begehren, welches die Dynamiken des Verhörs des britischen Flüchtlings durch die Grenzbeamtin zu strukturieren scheint. Die entworfenen fiktionalen Nachstellungen in Fasts Arbeit lassen sich dabei auf die These bringen, dass die Darstellungen authentischer Erfahrung eben das Ergebnis einer Kunstfertigkeit der Verkörperung und des Storytelling sind. Die Fiktionalisierung dient in Fasts Arbeiten darüber hinaus dazu, politische und soziale Wirklichkeiten, in die Interviewverfahren eingebettet sind, durch Verschiebung und Nachstellung zu erforschen. Die fiktionalen Episoden in NOSTALGIA überblenden daher auch Entwürfe von sozialen und institutionellen Kontexten, in die die Technik des Interviews eingebunden sein könnte (zwischen Flirt und Verhör, Talk Show und Casting). LOVELY ANDREA gelingt es hingegen, trotz des Spiels mit den Konventionen dokumentarischen Erzählens, den Eindruck zu vermitteln, dass sich etwas von der Ambivalenz aus Agehas Lebenswirklichkeit als BondageKünstlerin in dem Film artikuliert. Wenn das Interview mit Ageha mit einem Clip zu ihrer Performance der ‚Self-Suspension‘ parallel montiert wird, entsteht aus dem Bild der Seiltänzerin eine komplexe Allegorie vergeschlechtlichter kapitalistischer Ausbeutung, die die Untersuchung möglicher Fluchtlinien gleich mitverhandelt. Dass dies gelingt, liegt nicht daran, dass Ageha in der Interview-Einstellung eine Stimme verliehen wird, sondern darin, dass LOVELY ANDREA die Schilderungen der Tänzerin in den Dienst einer vielstimmigen Deutung setzt. Der Zweifel über den dokumen-

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tarischen Wert der erzählten Geschichten und Figuren bleibt hier bis zum Ende aufrechterhalten. Die Fähigkeit dokumentarischer Praktiken, Momente der Unsicherheit oder Verunsicherung bei Betrachter*innen über die Faktizität von Bildern zu stiften, wird laut Steyerl fälschlicherweise als ihr „Mangel“ ausgelegt. 55 Doch genau in dieser Eigenschaft ist für die Künstlerin und Theoretikerin ein genuin dokumentarisches Potential angelegt.56 In der Art wie Steyerl das Interview als Verfahren der Neuanordnung und zugleich Situierung in ihrer eigenen filmästhetischen Praxis nutzt, lässt sich ein strategisches Aussetzen der epistemologischen Register einer Wahrheitstechnologie erkennen. Das Interview wird dadurch zum Ort, an dem das Verhältnis von Subjektivität und politischer Realität nicht festgeschrieben, sondern als mediatisierte Beziehung befragt wird. Anders als bei Fast setzt der bei Steyerl zur dokumentarischen Kategorie erhobene Zweifel nicht nur die Wahrheitsfunktion des Interviews außer Kraft. Vielmehr gehört das methodische Hervorkehren von Ungewissheit zur dokumentarischen Befragung der unauflösbaren Ambivalenzen eben jener affektiven Arbeits- und Wirklichkeitsverhältnisse, um die in LOVELY ANDREA alles kreist. In NOSTALGIA und LOVELY ANDREA ist das Interview kein Ort, an dem sich eine bereits vorgefundene Realität vergegenwärtigen ließe. Das Interview ist hier vielmehr eine Anordnung, in der sich die Wirklichkeiten sozialer Beziehungen und Begehren sowie die mediale Performativität des Interviews selbst verschränken. Weniger der Verlust von Referenzialität, als vielmehr der bewusste Impuls, vermeintliche Gewissheiten dokumentarischer Operationen zu destabilisieren, lässt sich somit hinsichtlich dieser beiden Positionen verzeichnen.

ANORDNUNG DER I NTERVENTION Während die besprochenen Arbeiten von Fast und Steyerl exemplarisch für eine Beschäftigung von Künstler*innen und Regisseur*innen gelten kön-

55 Steyerl, Hito: „Die dokumentarische Unschärferelation. Was ist Dokumentarismus?“ in: dies., Farbe der Wahrheit, S. 9. 56 Vgl. H. Steyerl: Kunst oder Leben? S. 129.

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nen, die sich vorwiegend auf die Reflexion und Kritik der Epistemologie des Interviews konzentrieren, schließt Salomé Lamas’ TERRA DE NINGUÉM bei einem dokumentarischen Potential des Interviews an, das im Kontext der künstlerischen Befragung dieses Verfahrens in der Vergangenheit kaum Beachtung fand. Lamas dokumentarische Studie inszeniert das Interview als Bühne, so die nun vorgestellte Überlegung, auf der sich die Prozesse der Subjektivierung und Situierung wechselseitig durchdringen. Das filmische Interview wird hier zugleich zu einem Medium der Aufzeichnung und Intervention wie auch zu einem Milieu der Transformation. Hier lassen sich Bezüge zu einem Verständnis der Interviewsituation herstellen, wie es Trinh T. Minh-ha im Rahmen ihrer postkolonialen Dokumentarfilmtheorie in den 1980er und 1990er Jahre entwickelt hat. Ebenfalls im Anschluss an eine Kritik des dokumentarischen Einsatzes des Interviews erinnert die vietnamesische Filmemacherin an die transformierende Prozesshaftigkeit des Interviews und fragt: „How can the interview remain a site of multiplicities?“57 Minh-Ha verweist in diesem Zusammenhang auf eine doppelte Bedeutung des Interviews, die sie aus der etymologischen Spannung der Wörter „entrevue“ und „entretien“ ableitet. Beide Bedeutungen verweisen für Minh-Ha auf die Möglichkeit des Gemeinsamen („mutuality“) im Zwischen („betweeness“).58 Über die Verben entrevoir und entretenir lasse sich dieser Zwischenraum – oder eben das Intervall – des Interviews als ein „affective state“ 59 des wechselseitigen Sehens und der Begegnung („entrevue“), sowie der Berührung und des Haltens, schließlich des Aufrechterhaltens einer Beziehung qualifizieren: „We have here a situation in which something happens that is at the same time a seeing and a holding, a sighting, and a sounding, a feel or a view between and forward. Further, this encounter with different thoughts, discourses and events yields what one can call a `third ground´; one on which something comes to pass between the two of us, which is not necessarily something that passed between the interview-

57 T. Minh-ha/M. Zoumazi: Scent, Sound and Cinema, S.248. 58 Vgl. ebd., S. 248 f. 59 Ebd., S.249.

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er and the interviewee. It's a relationship, let's say, between energies, between languages, or between words, concepts, and concerns.“60

Dieser „third ground“ des Interviews ist eine affektiv und medienästhetisch dichte Anordnung, in der Momente des Wandels und der Transformation an die eigene Situiertheit in dieser Beziehung geknüpft sind.61 Was sich also in der Situation des Interviews dokumentiert, um diese Position Minh-has zuzuspitzen, ist der Wandel einer Relation als Begegnung (encounter). In Lamas Film, so die nun folgende Argumentation, verhandelt sich diese Situiertheit und grundlegende Relationalität in einem dichten medienästhetischen Prozess zwischen Stimme und Bild sowie der Präsenz einer Beobachtungsanordnung und der Nachträglichkeit des Voice-Over.

S ITUIERTHEIT ALS DOKUMENTARISCHES M OMENT (T ERRA DE N INGUÉM ) Noch bevor in TERRA DE NINGUÉM (2012, engl. No Man’s Land, Orig. Portugiesisch)62 der Protagonist seinen Platz vor der Kamera einnimmt, um seine eng mit der kolonialen Vergangenheit Portugals verwobene Geschichte zu erzählen, inspizieren einige kurze Einstellungen den Drehort für die hier wenige Minuten später entstehende dokumentarische Inszenierung: 60 Ebd. 61 Unter dem Konzept der Situiertheit ist nun gerade eine kritische Perspektive auf Wissenspraktiken adressiert wie sie Donna Haraway in vielen Studien unter der Formel „situierte[n] Wissens“ untersucht und in ihren berühmten SF-Lektüren feministisch gewendet hat. Vgl. Haraway, Donna: „Situiertes Wissen. Die Wissensfrage im Feminismus und das Privileg einer partialen Perspektive“, in: Scheich, Elvira (Hg.): Vermittelte Weiblichkeit: feministische Wissenschaftsund Gesellschaftstheorie, Hamburg: Hamburger Edition 1996, S. 217-248. Vgl. zum kritisch-spekulativen Konzept des SF, dies.: SF, Speculative Fabulation and String Figures: Documenta (13). Stuttgart: Hatje Cantz 2012. 62 Im Folgenden werden Interview und Voice-Over der Arbeit aus den begleitenden englischen Untertitel resp. Transkription in „Terra de Ninguém. Dialogue List“, in: Lamas, Salomé: Parafiction. Selected Works, Mailand: Mousse Publishing 2016, S. 156-164, zitiert.

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Eine Hand betätigt die Schalter eines Stromaggregats. Das Kunstlicht eines Scheinwerfers lässt den Raum eines scheinbar verlassenen und renovierungsbedürftigen Gebäudes erkennen. Das provisorisch wirkende Aufnahme-Set ist vorbereitet. Ein einzelner Stuhl steht wie auf einer Bühne inszeniert, frontal vor der Kamera. Ein schwarzes Laken verdeckt die dahinter befindliche baufällige Wand. Es ist dieser schwarze Hintergrund, der im Laufe von 70 Minuten den ebenfalls dunkel gekleideten Oberkörper des Protagonisten von Salomé Lamas’ filmdokumentarischer Studie beinahe zum Verschwinden bringen wird.63 Der Titel TERRA DE NINGUÉM, den die portugiesische Filmemacherin und Künstlerin für ihren weitestgehend aus bühnenartigen InterviewEinstellungen bestehenden Film gewählt hat, lässt sich u.a. auf diese dunklen Zonen beziehen, über die die Mise en scène immer wieder das Gesicht von Paulo de Figueiredo isoliert und seine kleinsten Regungen sichtbar werden lässt. Dies geschieht, während der Mann sich in seinen Äußerungen mit den eigenen Gräueltaten und seiner Mitwirkung an kolonialen Verbrechen konfrontiert sieht. Ebenso greift der Titel auch jene juristischen, bürokratischen, ethischen und politischen Grauzonen auf, in die die Erzählung von Figueiredos Vergangenheit sich zu verstricken und einzudunkeln scheint. Paulo, wie ihn die weibliche Stimme des Voice-Overs an einigen Stellen adressiert, diente in den 1960er Jahren zunächst unter der Regierung António de Oliveira Salazars als Soldat für die portugiesische Armee in Mosambik und Angola, ermordete später im Auftrag staatlicher und nicht-

63 Der Eindruck einer experimentellen dokumentarischen Studie stellt sich in Terra de Ninguém nicht nur durch die visuelle Rauminszenierung des Interviews ein, die an theatrale Formen und Bühnensituationen erinnert. Auch die fragmentierte Abfolge des Interviews sowie die Länge von 72 Min. entspricht nicht den konventionellen Formen des Dokumentarfilms. Der Frage der Form ließe sich aber auch über die Arbeitsweise von Lamas in unterschiedlichen institutionellen Rahmungen und Kontexten annähern. So wurde TERRA DE NINGUÉMIN nicht nur auf Filmfestivals oder dem On-Demand-Anbieter Mubi vorgeführt, sondern auch in Screenings in Museen präsentiert. Auf der Seite von Lamas ist zudem eine Dvd-Edition der Arbeit als Videoinstallation dokumentiert, vgl. http://www.salomelamas.info/projects-ii/terra-de-ninguemno-mans-land/ (10.07. 2018).

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staatlicher Geheimorganisationen und antiterroristischer Gruppierungen (GAL – Grupos Antiterroristas de Liberación) Mitglieder der ETA im Spanien und Frankreich der 1980er Jahre, bevor er zuletzt als Mitglied von Todesschwadronen in Südamerika gezielte Tötungen ausführte. Paulos Erzählung verbindet eine in weiten Teilen noch nicht aufgearbeitete jüngere Kolonialgeschichte Portugals mit der bis heute noch nicht vollends beleuchteten historischen Episode europäischer Anti-Terror Bekämpfung durch paramilitärische Organisationen in Spanien und Frankreich.64 Lamas Film befragt die Register zweier Wirklichkeiten: Er widmet sich der Biografie und den moralischen Rechtfertigungen und Banalisierungen der Gewaltverbrechen seines Protagonisten. Die politische und ideologische Realität des Paulo de Figueiredos setzt sich Stück für Stück aus seinen detailreichen Erzählungen zusammen, in denen der ehemalige Söldner und Soldat im Rückblick auf seine grausamen Taten die Episoden einer düsteren Lebensgeschichte vergegenwärtigt. Im Zuge dieser Rekonstruktion kommt darüber hinaus eine Geschichte von politisch-juristischen Netzwerken und paramilitärischen Organisationen und Institutionen zum Vorschein, die sich in Paulos Rückschau – nicht ohne Widersprüche – zu einer historischen Topographie verwebt. Gleichzeitig ist TERRA DE NINGUÉM aber auch eine Studie über die Wirklichkeit der audiovisuellen Anordnung des dokumentarischen Interviews selbst65 – eine Anordnung also, die eben-

64 TERRA DE NINGUÉM besitzt insofern experimentellen Charakter, als der Film die dokumentarische Form, mit der er diese historische Vergangenheit untersucht, thematisiert und bis zu einem gewissen Extrem inszeniert. Das neutrale Set des Interviews wird selbst zu einem abgeschnittenen und isolierten Raum, einem ‚Niemandsland‘, dessen Funktion die Regisseurin über seine nüchtern registrierende Beobachtungsästhetik beschreibt: „Every aspect of the process should be registered in that space: the cigarette breaks, the waiting, the hesitation, et cetera.“ Lamas, Salomé: „Diary Notes on Terra de Ninguém“, in: dies.: Parafiction. Selected Works, Mailand: Mousse Publishing 2016, S. S.164-169, hier S. 165. 65 Die Wirklichkeit des Interviews der Vorstellung einer dokumentarischen Darstellung von Wirklichkeit gegenüberzustellen und vorzuziehen folgt hier der Analogie zu einer prominenten Formel Gilles Deleuze‘, auf die der Philosoph zurückgreift, um die Beziehung zwischen Fiktion und Wirklichkeit im cinemaverité einzuholen: „[...] dies ist dann kein Kino der Wahrheit mehr, sondern die

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so durch persuasive Prozeduren oder ‚parafiktionale‘ Effekte 66 charakterisiert wäre, wie durch die Möglichkeit einer transformierenden Erfahrung und Begegnung. Dabei scheint die Strategie in TERRA DE NINGUÉM zunächst auf eine Überhöhung der formalen Geschlossenheit von Interview-Szenen zu zielen. Während die strenge Rauminszenierung den Körper Paulos isoliert und seine Haltung und sein Mienenspiel in langen Nahen- und HalbnahenEinstellungen exponiert, unterbricht ein weiterer formaler und konzeptueller Eingriff die Kontinuität des Interviews, das an drei Tagen zwischen den Jahren 2011 und 2012 aufgezeichnet wurde. Einblendungen von Ziffern, aufwärts gezählt von 1 bis 89 segmentieren das Interview in Aussagen und Sinnabschnitte. Das Prinzip, nach dem die Ziffern- und Schwarzbildtafeln den Fluss der Schilderungen unterbrechen, gehorcht dabei keinem intuitiv oder auf Anhieb nachvollziehbaren System. Mal sind es einzelne Sätze, mal ganze thematische Episoden, die durch die Abfolge zweier Zahlen gerahmt, in Unterkapitel eingeteilt oder wie über eine Nummer in einem Inventar eingetragen werden. Im Verlauf der Erzählung zeichnen sich zwei offenkundige Funktion dieser Segmentierung ab. Zunächst treten die Ziffern an die Stelle der Fragen der Interviewerin – der Regisseurin Lamas selbst. Denn die aus dem Off gestellten Fragen werden ebenso unhörbar gemacht – und nur anhand mancher Reaktion Paulos ablesbar –, wie die Anwesenheit der Regisseurin am konkreten Ort des Interviews durch das Ausbleiben eines Gegenschusses unsichtbar bleibt. Ein sich hieraus unmittelbar einstellender Effekt ist, dass Paulos Antworten durch diese Auslassung wie ein direkt in die Kame-

Wahrheit des Kinos.“ (Deleuze, Gilles: Das Zeit-Bild. Kino 2, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991, S. 199). 66 „Parafiction“ lautet der Titel einer Ausstellung von Lamas (Salomé Lamas: PARAFICTION, Museu de Arte Contemporânea de Serralves, 20.02-03.05 2015) In einem kurzen essayistischen Text in der gleichnamigen Begleitpublikation steht der Begriff am Ende einer Reflexion über die Grenzen und Übergänge von „nonfiction“, die die Regisseurin auf komplexe Beziehungen von Wahrheit, Fakt und Überzeugung („persuasion“), Geschichte, Erinnerung und Trauma sowie Filmemacher*in und Zuschauer*in zurückwirft. Vgl. Lamas, Salomé: „Introduction. Letter to an Unknown Director“, in: Dies.: Parafiction, S. 9-15.

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ra gehaltener Monolog wirken.67 In insgesamt drei Voice-Over-Notizen wird das Interview zudem durch die mit der Stimme der Regisseurin eingesprochenen Kontextualisierungen und Reflexionen unterbrochen. Dem ersten Kapitel aus Paulos Lebensgeschichte („primeiro dia“), ist über die Zwischentitel der Ort „Africa“ und der politische Kontext „guerra colonial“ vorangestellt. Man erfährt nun etwas über ein blutiges Kapitel der portugiesischen Kolonialgeschichte in Angola und Mosambik, dessen Gewaltexzesse erst nach der Nelkenrevolution am 25. April 1974 endeten. In Paulos Schilderung dieser Zeit vergegenwärtigt sich neben Erinnerungen auch der Versuch einer Rechtfertigung jenes Sadismus und Rassismus, die von der historischen Situation kolonialer Gewalt nicht zu trennen sind.68 Die beinahe hermetisch-geschlossen scheinende visuelle Anordnung in TERRA DE NINGUÉM lässt die auf moralischen und politischen Paradoxien beruhende Wahrheit Paulos, die sich über jede Geste, aber auch über jede unbehagliche Pause in seiner Darbietung artikuliert, als ein immersives Kammerspiel erfahrbar werden. An dieser affektiven Öffnung auf die Zuschauer*in-Position hat die strenge und formal geschlossene Mise en scène der Interview-Situation wesentlich Anteil. Den Ziffern kommt dabei ebenfalls eine doppelte Funktion zu. Sie gleichen juristischen Bestandsaufnahmen, indes erinnert der Monolog Paulos mitunter an die Aussage eines Angeklagten im Zeugenstand. Als Unterbre-

67 Es sind jene kurzen Pausen zwischen den Fragen, in denen die Kamera Paulos Regungen und Reaktion weiter aufzeichnet – nachdem seine Schilderungen bereits wieder verstummt sind – die verdeutlichen, dass es sich bei dem Interview auch um eine Beobachtungsanordnung handelt. Die so häufig ansetzende unbehagliche Stille wird neben den eingesetzten Zahlen durch weitere Zwischentitel unterbrochen, die das Interview thematisch und zeitlich ordnen. 68 Im Voice-Over resümiert Lamas die Schilderungen dieser Gräuel und deutet bereits einen Zusammenhang zu der ästhetischen Form der InterviewAnordnung an: „Note: November 2011. Paulo is determined to tell the truth, what really happened. I’m interested in his truth, not in mine, not in anyone else’s. He offers sublimated portraits of the cruelties and paradoxes of power, as well as of the revolutions that deposed it, only to erect new bureaucracies, new cruelties and paradoxes. His work as mercenary lies between these two worlds.“ (Transkript aus „Terra de Ninguém. Dialogue List“, in: S. Lamas: Parafiction, S. 156-164, hier S. 158f).

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chungen in der Rede lassen die Ziffern zugleich auch den Konstruktionscharakter dieser dokumentarischen Erzählung erkennen. Jede Ziffer markiert einen Schnitt, auf den unregelmäßige Wechsel von Einstellungsgrößen und Aufnahmewinkel folgen, die die Wirkung von eingefügten Jump Cuts entfalten. Die Ziffern lassen damit auf Auslassungen und Neuanordnungen in der Montage des Interviews schließen und markieren eine mögliche Reorganisation der Aussagen in der Postproduktion. Diesem Effekt eignet jedoch nur eine kleine Geste der Verfremdung. Die durch die Zahlen entstehenden Unterkapitel steigern die Aufmerksamkeit für Paulos Erzählung. Indes unterstreichen sie gleichzeitig den Zweifel an der Geschichte Paulos, auf deren Widersprüche ebenfalls der Voice Over-Kommentar hinweist. Am dritten Tag werden diese Zweifel auch während des Interview sehr konkret. Hier berichtet Paulo von der Zeit, in der er sich als bezahlter Auftragsmörder und als Mitglied der Gruppe GAL (grupo antiterrorista liberación) verdingte, jener geheimen paramilitärischen Organisation, die von 1981 bis 1987 unter Felipe González mit terroristischen Maßnahmen Jagd auf Mitglieder der ETA machte. Die Interviewerin wirft Fragen über Details zu einzelnen Auftragsmorden an ETA-Mitgliedern in Spanien und Frankreich auf, welche ebenfalls nicht zu hören, sondern lediglich aus Paulos Antworten ableitbar werden. Lamas Stimme kontextualisiert später diese Aussagen und Informationen aus Paulos Bericht, verweist auf eigene Recherchen zu Zeitungsartikeln und Gerichtsakten von Prozessen – sowohl in Spanien als auch in Portugal – jener Zeit, so als ob sie die Echtheit eins Dokuments (eben des Interviews) vor dem Hintergrund weiterer Archivdokumente prüfe. Einige von Paulos Informationen scheinen sich über öffentlich zugängliche Belege bestätigen zu lassen, andere nicht. Doch es ist der Detailreichtum von Paulos Erläuterungen – dessen Name, wie zu erfahren ist, in keinem Dokument auftaucht –, ihre Ähnlichkeiten sowie Abweichungen von offiziellen Berichten, die für Lamas die Frage aufwerfen, „who is Paulo de Figueiredo?“. Die Skepsis gegenüber Paulos Identität lässt sich dabei auch als Ausdruck eines tiefergehenden und beunruhigenden Zweifels an der Aufarbeitung der rätselhaften politischen Netzwerke und Infrastrukturen lesen – Infrastrukturen, die die staatlich gestützten Operationen der Gruppe GAL auf internationalem Terrain ermöglichten.

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TERRA DE NINGUÉM führt das Interview als eine dokumentarische Anordnung vor, die sich zunächst über Wahrheitstechnologien der Befragung, der Beobachtung und dokumentarischen Aufzeichnung zu formieren scheint. Die Strenge der Inszenierung produziert nun aber gerade eine Ungewissheit darüber, was die Interviews eigentlich zu Tage fördern. An die Stelle von Gewissheit stellt sich eine mehrschichtige Skepsis ein, die über die dokumentarische Darstellung hinaus Zweifel an der sich in ihr verhandelten historischen Welt artikuliert: Sie betrifft die Darstellung Paulos, aber auch die historische Aufarbeitung der Kontinuitäten zwischen Kolonialismus und den politischen Wirklichkeiten der 1960er und 1970er Jahre in Südeuropa. Dabei ließe sich der Zweifel auch hier im jenen Verständnis als dokumentarische Qualität beschreiben, wie es Hito Steyerl gegenüber den Wahrheitsansprüchen dokumentarischer Bilder in Stellung bringt.69 TERRA DE NINGUÉM verschanzt sich nun aber keineswegs in einem Modus dokumentarischer Ambivalenz, sondern eröffnet eine zweite, parallel untersuchte Ebene, in der die Realität des Interviews – d.h. auch seine Medialität und Relationalität – zum Ausgang einer anderen Evidenzbildung wird.

T HIRD G ROUND In Lamas veröffentlichten, zwischen theoretischem Versuch und SetTagebuch angelegten „Notizen“ zu TERRA DE NINGUÉM, wird der „third ground“ des Interviews als das „no-man’s-land“ einer Machtbeziehung ausgewiesen, die durch wechselseitige Kalküle und Interessen das Interview bereits im Vorfeld der Illusion einer neutralen Begegnung entheben: „He says he is using me to tell his story, I tell him that I am using him to produce a film. We trade and everyone gets what they want. I respect him, and I get his respect (?)[...]. Aims and expectations are established on both sides and the game – to please, to achieve one’s goal, and to be surprised – is set in motion. We are creating a relationship to be filmed, and this is what unites us.“70

69 Vgl. H. Steyerl: Kunst oder Leben? 70 S. Lamas: Diary Notes, S. 166.

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Die Regisseurin skizziert diese Beziehungen wohl auch vor dem Hintergrund, dass mit dem Interview keinem Opfer, sondern gerade einem Täter der Raum für die narrative Ausschmückung seiner Gräueltaten überlassen werde.71 Wenn Lamas an anderer Stelle den methodischen Ausgangspunkt ihrer filmisch-dokumentarischen Praxis reflektiert, und schreibt, „[t]he starting point that I take is simple and childlike. I choose a confined reality to which I relocate“, dann ließe sich vor dem Hintergrund dieser Selbstbeobachtung das Interview als eines ihrer Verfahren beschreiben, sich der Realität einer Beziehung auszusetzen.72 Doch wie lässt sich dieser Ansatz und das zugrundliegende dokumentarische Verständnis – „We are creating a relationship to be filmed [..]“73 – vor dem Hintergrund lesen, dass Lamas ihre Stimme und ihre Fragen, ja ihre Anwesenheit in der Interview-Szene sowohl visuell in der Aufnahme als auch akustisch in der Postproduktion tilgt? Lamas Situierung findet nicht in der Interview-Situation selbst statt. Die Arbeit zielt offenbar nicht darauf, eine authentische Spontanität am Set des Interviews zu dokumentieren. Die Relationalität des Interviewprozesses wird in TERRA DE NINGUÉM über jenen zeitlichen und räumlichen Abstand remediatisiert, den Aufnahme und Voice-Over zueinander einnehmen. Der Voice-Over markiert die Ortlosigkeit eines filmischen Außen, von dem aus die objektivierende Rede eines Voice-of-God Kommentars traditionell die Bedeutung von Aussagen und Bildern organisiert und in die Kohärenz einer historischen Welt überträgt. Auch in TERRA DE NINGUÉM behält der Voice-Over die Qualität einer Ortlosigkeit, einer ‚akusmatischen‘ Spur der Loslösung einer Stimme von ihrer Quelle.74 Doch die Er-

71 „He offers sublimated portraits of the cruelties and paradoxes of power as well as of the revolutions that deposed it […]“ (Dies.: Dialogue List, S. 159). 72 Dies., „Introduction. Letter to an Unknown Director“, in: Dies.: Parafiction, S. 12. 73 Dies.: Diary Notes, S. 166. 74 Zum filmtheoretischen Konzept des „acousmêtre“ vgl. Chion, Michel: AudioVision. Sound on Screen, New York: Columbia Univ. Press 1994, S. S. 66-94. Mit Rey Chow ließe sich der Einsatz des Voice-Over auch als eine „akusmatische Komplikation“ der Stimme der Künstlerin und ihrer nicht zur Sichtbarkeit gebrachten Quelle beschreiben. Chow, Rey: „Die erkaltete Spur aufnehmen: Anti-dokumentarische Bestrebungen, akusmatische Komplikationen“, in: Volko

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zählungen dieser Stimme installieren keine anonymisierte Beobachter- oder Wissensinstanz, sondern entfalten eine situierte Erfahrung, die an die Interviewsituation als relationalen Raum zurückgebunden wird. Dabei öffnet Lamas’ Stimme von diesem akustischen Anderswo aus die Geschlossenheit des Raumes in dem das Interview stattfindet. In insgesamt sechs Notizen, den Zeitraum von November 2011 bis Juni 2012 umfassend, lokalisiert sich über den Voice-Over eine Rede, die in mehrfacher Hinsicht Position bezieht. Denn neben dem Versuch einer historischen Kontextualisierung und den Zweifeln an Paulos Erzählung artikuliert sich über die weibliche Stimme eine Subjektposition, die sich, der Inszenierung des Interviews als vermeintlichem „neutral space“75 zum Trotz, immer stärker in die Wirklichkeitsbeziehungen der dokumentarischen Anordnung verstrickt findet.76

E INE E VIDENZ VON B EZIEHUNGEN Salomé Lamas situiert zwischen Interview und Voice-Over, zwischen Produktion und Postproduktion die zwei Seiten einer gemeinsamen ,dokumentarischen Ethik‘:

Kamensky/Julian Rohrhuber (Hg.), Ton – Texte zur Akustik im Dokumentarfilm, Berlin: Vorwerk 8, 2013, S. 194-211, hier S. 203f. 75 In einem Gespräch mit Nuno Lisboa schildert Lamas, wie sich über die Abmachung, das Interview als einen neutralen Raum zu betrachten, die komplexen Beziehungen zwischen Privatheit und Öffentlichkeit und wechselseitiger Ausgesetztheit dokumentarisch überhaupt erst entfaltet konnten. Lamas, Salome/ Lisboa, Nuno, „In Conversation“, in: ebd., S. 167f. 76 Lamas methodisches Vorgehen lässt sich zu ihrem dokumentarischen Grundverständnis in Beziehung setzten. In ihren Schilderungen wird dabei ein Vorgehen erkennbar, in dem die Regisseurin eine ‚Wirklichkeit‘ aus der Relation zu ihrer situierten Filmpraxis nachzeichnet: „Firstly you attempt to circumscribe the reality to a terrain in order to not lose yourself; you try to create a fence or a temporal limit like in TERRA DE NINGUÉM. Subsequently you occupy, or you transport yourself out of, your comfort zone, to the interior of that reality, and you wait for this movement that is atypical not only for the inhabitants of that reality, but also for yourself. […]“ (Ebd., S. 169).

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„There are two dimensions when speaking about documentary ethics. The first deals with the filmmaker’s action regarding the outside world (subjects, outside influences, re-creation of physical scenes and sets). The second has to do with the filmmaker`s action behind the camera such as editing , voice-over commentary, and intent.“77

Die beiden Seiten dieser dokumentarischen Ethik betreffen die ästhetische Nachvollziehbarkeit von Entscheidungen in TERRA DE NINGUÉM: die Wahl des Ortes und der Mise en scène des Interviews auf der einen Seite; die Sichtbarmachung der Montage durch das Hinzufügen der Ziffern und die Reflexionen des Voice-Over auf der anderen. Interview und Voice-Over markieren in Lamas Studie zwei Seiten einer dokumentarischen Ethik, der es über die immersive (Neu-)Anordnung des Beobachtbaren und des zu Gehör gebrachten gelingt, sich einer ‚Wirklichkeit‘ auszusetzen, die sich nicht in ein einfaches Verhältnis von Wissen und Sichtbarkeit übertragen lässt: „I’m interested in his truth not in mine, not in anyone else’s“. Das Ende von TERRA DE NINGUÉM kehrt die Komplexität der Wirklichkeitsverhältnisse, in die der Film selbst verwickelt ist noch einmal hervor. In der letzten Notiz schildert Lamas ihre letzte Begegnung mit Paulo. Bereits zuvor legen einige Einstellungen die soziale Realität offen, in der sich Paulo wiederfindet. Eine Kamera folgt einem Mann zu einem unter einer Eisenbahnbrücke provisorisch errichteten Zeltlager, in dem auch Paulo zu leben scheint. Über eine in der Dämmerung aufgenommene Panoramaeinstellung dieses Ortes, legt sich ein letztes Mal Lamas Monolog: „I try to contact him without success. Weeks go by, since our last meeting. Paulo sounds disturbed on the phone. He tells me that the material I shot has no value whatsoever, without the documents to support it. He adds that I`ll never understand his life choices and that he’s not used to have someone chasing him. I say that I care about him. Weeks after Paulo gets in touch saying he has gathered the material that supports his testimony. This meeting will never take place. I pass Paulo on the street. We arrange a meeting downtown the following day. We talk, the film is only remembered as another thing. The documents will not be mentioned again.“

77 Dies., Diary Notes, S. 165.

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Auch diese letzte Notiz im Film ließe sich in Richtung einer Epistemologie des Zweifels lesen und verstehen. Der Verweis auf die ausbleibenden Belege, die Paulos Geschichte zu mehr als einer detailreich und theatral inszenierten Spinnerei eines Mannes ohne Papiere erheben könnten, lässt uns mit der Unsicherheit über den Dokumentstatus des Interviews und damit des gesamten Films zurück. Jedoch unter der bis hier entfalteten Perspektive und der These, dass in TERRA DE NINGUÉM gleichzeitig die Wirklichkeit des Interviews als operationales Verfahren der Transformation und Intervention verhandelt wird, ließe sich hier auf einer anderen Ebene – als jener der Epistemologie des Zweifels – ein anderes Moment dokumentarischer Evidenz in Anschlag bringen. Denn die Frage wäre, wofür kann das Interview sowie Lamas Monologe (im Voice-Over) überhaupt eine Evidenz liefern? Eine Beschreibung Marilyn Stratherns zur verteilten räumlichen und zeitlichen Ordnung ethnographischer Praxis ist hier hilfreich. Einige Jahre nachdem der Höhepunkt der Debatten um die Writing Culture erreicht waren, und kurz bevor die Diskussion um den sog. ontological turn78 in der Anthropologie in den späten 1990er Jahren aufkeimte, nimmt Marilyn Strathern in einer Aufsatzsammlung die Frage nach der Rolle der ‚fieldwork‘ erneut auf. Jenseits eines epistemologischen Relativismus geht es Strathern dabei nun gerade nicht um die Frage der Konstruiertheit oder

78 Die anhaltende Diskussion des ontological turn in der Anthropologie ist u.a. auch eine Reaktion auf die Auseinandersetzung mit Fragen eines kulturellen Relativismus, wie er im Zuge des Postmodernismus auch in der Ethnologie verhandelt wurde. Ob und inwiefern diese Diskussion produktive Anschlussstellen für eine Theorie dokumentarischer Praktiken bereithält gilt es noch zu beurteilen. Vielversprechend scheint jedoch, dass der ontological turn erweiterte Perspektiven auf die Interaktionen materieller und situierter Wissenspraktiken der Ethnologie eröffnet. Die Schlüsselrolle, die die Arbeiten von Marilyn Strathern – neben denen von bspw. Viveiros de Castro – in dieser komplexen methodischen und theoretischen Entwicklung innerhalb der Anthropologie besitzen, wird ausführlich von Martin Holbraad und Morten Axel Pedersen dargelegt: Holbraad, Martin/ Pedersen, Morten Axel: The Ontological Turn: An Anthropological Exposition, Cambridge: University Press 2017 (für Strathern siehe Kap. 3, S. 110-156).

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Fiktionalität der Feldforschung als Wissenspraxis. 79 Mit Blick auf die eigenen Erfahrungen ethnografischer Feldforschung beschreibt die Anthropologin vielmehr ein heterogenes Geflecht von Praktiken und komplexen Beziehungen aus dem heraus jene Wissenseffekte entstehen, die Strathern als „immersement“ eines „ethnographic moment“ konzeptualisiert.80 Der Wissenseffekt um den es Strathern hierbei geht, entsteht entlang einer Trajektorie, über die sich ethnografische Praxis – fortlaufend neu – verteilt und die das eigentliche ‚Feld‘ der ethnografischen Beobachtung, sowie der Auseinandersetzung und Verwicklung mit Phänomenen in der Feldforschung verdoppelt und mit jenem traditionellen Ort der Analyse „at the desk“ verbinde.81 Beide Felder der anthropologischen Praxis scheinen sich zunächst arbeitsteilig in Beobachtung und Analyse trennen zu lassen. Für Strathern jedoch bringen sich diese Praxisfelder als „double location“ wechselseitig hervor.82 Die angesprochene Trajektorie wäre für Strathern jene Relation zwischen dem, was sich aus der teilnehmenden Beobachtung erschließt und dem was aus dem gesammelten Material noch nicht gedeutet werden kann, da es der Neu- und Reorganisation durch den Prozess des Schreibens bedarf.83 Jeder dieser Orte muss sich auf die Erfahrungen des jeweils anderen öffnen bzw. offen gehalten werden.84 Die Praxis der Anthropolog*in bringt beide Felder in Beziehung: „Each point of engagement is thus a replacement or a reordering of elements located in a separate field of activity and

79 Vgl. insbesondere die einführenden und abschließenden Aufsätze „The Ethnographic Effect“ I u. II in: Startern, Marilyn: Property, Substance and Effect. Anthropological Essays on Persons and Things, London/New Jersey: The Athlone Press 1999, S. 1-26 u. S. 229-261. 80 Dies.: The Ethnographic Effect I, S. 1. 81 Ebd. 82 Ebd. 83 Vgl. ebd., S. 3-6. 84 „Now the division between the two fields creates two kinds of (interrelated) relationships. There is the acute awareness of the pull of divergent paths of knowledge, and the anthropologist may well regard one of these trajectories as pertaining to observation and the other to analysis. But there is also the effect of engaging the fields together, and this we might call the ethnographic moment.“ (Ebd., S. 6).

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observation altogether.“85 Aus dem Bewohnen („inhabit“ im orig.) dieser Relation kann ein Verständnisprozess entstehen, dessen dynamische und relationale Wissenseffekte sich epistemologisch nicht gänzlich einholen lassen. Lamas dokumentarische Ethik des Interviews in TERRA DE NINGUÉM forciert eine strukturell vergleichbare dokumentarische Dynamik, die sich in den Prozessen und Relationen zwischen Interview und Voice-Over, profilmischer Aufzeichnung, postproduktioneller Montage und Reflexion sowie letztlich zwischen immersiver Beobachtung und situierender Beurteilung entfaltet. Spätestens, wenn im Epilog von TERRA DE NINGUÉM der Tod Paulos erneut in einer persönlichen Notiz thematisiert wird, ist neben dem Zweifel ein weiteres dokumentarisches Register erfahrbar. 86 Dieses Register bezeichnet die Evidenz von miteinander in Konflikt stehenden juristischen, ethischen, sozialen und politischen Beziehungen, aus denen dokumentarische Prozesse hervorgehen. Anstelle eines Relativismus begegnet Lamas dokumentarisches Experiment der Politik des Interviews daher über eine Prozesshaftigkeit, die medial anders fundiert ist als die Frage nach der Adäquatheit dokumentarischer Darstellung. Zwischen Interview und Voice-Over leitet sich das dokumentarische Moment der Arbeit eben in dem Versuch ab, sich den Ambivalenzen dieser Anordnung auszusetzen. Ob hierbei aus der Wahrheitstechnologie des Interviews sogleich eine Vielstimmigkeit einer medialen (Neu-)Anordnung erwächst, wäre eine der Fragen, die sich aus Lamas Arbeit ableiten ließen. Alle drei hier besprochenen Arbeiten verbindet vielleicht, dass in ihnen die dokumentarische Herstellung von Subjektivität untrennbar erscheint von der Situierung dieser Praxis innerhalb eines Geflechts von sozialen, juristischen und politischen Beziehungen. Ob im Feld der Kunst oder, wie

85 Ebd., S 2. 86 Erst im als Text eingeblendeten Epilog erhält die Zuschauer*in die Information über den späteren Tod Paulos. Der Text situiert dieses Wissen sogleich in einer Beziehung zwischen Öffentlichkeiten und Intimität, die ihrerseits die Form eines (Ein-)Geständnisses annimmt: „I’ve just realized that I’m telling these news to everyone I know, even those who aren’t as close, as if my thoughts in this affliction were that everyone should know Paulo, and if they didn’t, it was their fault.“ (transcript, S. 164.)

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jüngst wieder verstärkt zu beobachten ist, auf Filmfestivals, experimentelle Dokumentationen wie jene von Fast, Steyerl und Lamas haben in ihren Wirklichkeitsverhandlungen die Frage nach epistemologischen Grenzen aus vorherigen Dokumentarfilmtraditionen geerbt, aufgenommen und in neuen medienästhetischen Reflexionen und Anordnungen vorangetrieben. Diese Praktiken relational und nicht relativistisch zu beschreiben, erlaubt es neben dem Zweifel auch die Kategorie der Evidenz als dokumentarische Kategorie neu – und über Repräsentationsfragen hinaus – zu fassen. Der Voice-Over ist bei Lamas weder der akusmatische Ort einer objektivierenden Rede, noch länger der einer essayistischen Reflexion oder Dekonstruktion von Repräsentation. Vielmehr liefert er die Evidenz von Beziehungen, die sich im dokumentarischen Prozess fort- und umgeschrieben haben. Die Evidenz, die sich über das Interview gewinnen ließe, wäre mit Strathern gedacht, immer relational, verortet und situiert: „What you see is not a representation of the world; it is evidence of your point of being in it.“87

L ITERATUR Balsom, Erika: „The Reality-Based Community“, in: e-flux journal, 83,06/2017, S. 1-13. Balsom, Erika/Peleg, Hila (Hg.), Documentary across Disciplines, Cambridge/London: MIT Press 2016. Casetti, Francesco: The Lumière Galaxy: Seven Key Words for the Cinema to Come, New York: Columbia University Press 2015. Chion, Michel: Audio-Vision. Sound on Screen, New York: Columbia Univ. Press. 1994. Chow, Rey: „Die erkaltete Spur aufnehmen: Anti-dokumentarische Bestrebungen, akusmatische Komplikationen“, in: Volko Kamensky/Julian Rohrhuber (Hg.), Ton – Texte zur Akustik im Dokumentarfilm, Berlin: Vorwerk 8, 2013, S. 194-211. Clifford, James/Marcus, George E. (Hg.): Writing Culture. The Poetics and Politics of Ethnography, 25th Anniversary Edition, Berkeley: Univ. of California Press, 2010. Deleuze, Gilles: Das Zeit-Bild. Kino 2, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991.

87 M. Strathern: The Ethnographic Effect II, S. 259.

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Demos, T.J.: The Migrant Image. The Art and Politics of Documentary during Global Crisis, Durham/London: Duke University Press 2013. Engell, Lorenz: „Versuch und Irrtum. Film als Experimentelle Anordnung“, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 57/2 (2012), S. 297–306. Fahle, Oliver/Balke, Friedrich: „Einleitung in den Schwerpunkt Dokument und Dokumentarisches“, in: ZFM (Zeitschrift für Medienwissenschaft) 11, 2/2014, S. 10-17. Foucault, Michel: Die Wahrheit und die juristischen Formen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003. Grimshaw, Anna: „In Defense of Observational Cinema. The significance of the Bazinian turn for ethnographic Filmmaking“, in: Christian Suhr/Rane Willerslev (Hg.), Transcultural Montage, New York: Berghahn Books 2013, S. 226-240. Hahn, Daniela (Hg.), Beyond Evidence. Das Dokument in den Künsten, Paderborn: Fink 2016. Hohenberger, Eva/Mundt, Katrin (Hg.), Ortsbestimmungen. Das Dokumentarische zwischen Kino und Kunst, Berlin: Vorwerk 8 2016. Holbraad, Martin/ Pedersen, Morten Axel: The Ontological Turn: An Anthropological Exposition, Cambridge: University Press 2017. Haraway, Donna: „Situiertes Wissen. Die Wissensfrage im Feminismus und das Privileg einer partialen Perspektive“, in: Scheich, Elvira (Hg.): Vermittelte Weiblichkeit: feministische Wissenschafts- und Gesellschaftstheorie, Hamburg: Hamburger Edition 1996, S. 217-248. Haraway, Donna: SF, Speculative Fabulation and String Figures: Documenta (13). Stuttgart: Hatje Cantz 2012. Lamas, Salomé: Parafiction. Selected Works, Mailand: Mousse Publishing 2016. Magagnoli, Paolo: Documents of Utopia: The Politics of Experimental Documentary, New York: Columbia Univ. Press 2015. Minh-ha, Trinh T./Zoumazi, Mary: „Scent, Sound and Cinema“, in: Trinh T. Minh-ha, Cinema Interval, London/New York: Routledge 1999, S. 246-266. Muhle, Maria: „Omer Fast: ‚5000 Feet is the Best‘“ Reenactement zwischen dokumentarischem und ästhetischem Regime, in: ZFM (Zeitschrift für Medienwissenschaft) 11, 2/2014, S. 91-101.

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Young, Colin: „Observational Cinema“, in: Paul Hockings (Hg.): Principles of Visual Anthropology, Berlin/New York: de Gruyter 1975/1995, S. 99-114.

Choreographische Anordnungen

Verfahren der (De-)Produktion bei Tino Sehgal und Ragnar Kjartansson M AREN B UTTE

F ADE

IN

Ein kleines Mädchen in Jeans und Turnschuhen steht nahezu unbewegt in einem großen, leeren, durch hohe Fenster hell ausgeleuchteten Ausstellungsraum. Sie hat langes hellbraunes Haar, zwei Strähnen hängen schmal an der Wange herab, die restlichen Haare sind ungewöhnlich hinter das Ohr geklemmt. Sie hält eine Art kurzen Monolog, geht kleinere Raumwege und führt verlangsamte Armbewegungen aus, die an Gesten erinnern, aber nicht klar zuzuordnen sind. Rumpf und Beine bleiben zumeist ruhig; Kopf und Augen wandern immer wieder und ganz langsam in die Runde der Zuschauer_innen, die sich mittlerweile um das Mädchen versammelt haben. Die für ein Kind untypische Langsamkeit der Bewegungen erscheint unheimlich und markiert ihr Verhalten als nicht-alltäglich, als eine „Kunsthandlung“1; sie erzeugt eine Präsenz, die sie von den Zuschauer_innen im Raum klar unterscheidet. Ann Lee, so benennt sich das Mädchen selbst, spricht konzentriert und gleichmäßig, mit heller und zuweilen melancholisch klingender Stimme. „I once was two-dimensional and I want to become three-dimensional... embodied“, erzählt sie uns. Sie erwähnt einen

1

Vgl. Lüthy, Michael/von Hantelmann, Dorothea: „Handeln als Kunst und Kunst als Handeln“, in: Karin Gludovatz/Dorothea von Hantelmann/Michael Lüthy/Bernhard Schieder (Hg.): Kunsthandeln, Berlin: diaphanes 2010, S. 7-12, hier S. 7.

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Philippe und Pierre, die sich lange mit ihr beschäftigt, dann aber zu viel Arbeit gehabt hätten. Sie fragt daraufhin ihr Publikum: „Would you consider yourself to be too busy or not busy enough?“ Jemand antwortet mit: „Not busy enough.“ „Why?“, fragt Ann Lee. Er hänge gerade zwischen zwei Projekten. „That’s interesting“, antwortet Ann Lee mit abklingender Stimme, geht langsam auf den Ausgang zu, wendet sich noch einmal um und fragt: „Can you tell me the difference between a sign and melancholia?“ Noch während alle mit der Sondierung der Frage beschäftigt sind, wendet sie sich ab und sagt im Gehen „take care.“ Kurze Zeit später betritt ein identisch zurechtgemachtes, etwas kleineres blondes Mädchen den Raum und beginnt von vorn, in identischer Intonation und Bewegungsqualität. Diesmal antwortet niemand auf ihre Fragen. Und so stellt sich eine ganz andere Frage: Wer lässt diese Mädchen das sprechen? Welche Handlungsmacht haben sie selbst? Ann Lee, so findet sich im Internet, ist eine Anime-Figur der japanischen Produktionsfirma Kworks, die die Künstler Philippe Parreno und Pierre Huyghe 1997 für damals nur $ 428 gekauft hatten und die sie im Rahmen des Projekts No ghost just a shell anderen Künstler_innen für ihre eigenen Vorhaben angeboten haben.2 Der deutschindische Künstler und Choreograph Tino Sehgal nahm dies wahr und zeigte 2009 erstmals seine mediale Übertragung oder „incarnation“ von Ann Lee auf einem Festival in Manchester und 2011 in der Marian Goodman Gallery in New York.3 Seine Interpretation zirkuliert so in ihren ReAktualisierungen durch die Museen und Festivals anstatt durch Comics und Anime-Serien. Mit ihr werden auch genderrelevante Fragen der Identität und Selbstbestimmung und von Besitz und Copyright gestellt. In Sehgals Arbeiten geht es aber vor allem um jenen Status des flüchtigen (Kunst-) Objekts in Arbeiten, die Objekte durch Handlungen ersetzen – sowie um Formen der Arbeit und Produktion, denen hier ein melancholisches Moment eingeschrieben scheint.

2

Vgl. Phaidon-Online-Artikel: „Tino Sehgal reanimates Manga character at Frieze. Sehgal’s interpretation of Philippe Parreno and Pierre Huyghe’s Ann Lee character comes to the New York art fair“, http://de.phaidon.com/agenda/art /articles/2013/may/08/tino-sehgal-reanimates-manga-character-at-frieze/ 25.06.2018.

3

Ebd.

vom

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Szenenwechsel. Der Innenraum der ehemaligen Kirche St. Agnes in Berlin-Kreuzberg, die heute als Ausstellungsort genutzt wird. Eine Videoprojektion zeigt in einem abgedunkelten, hohen Innenraum den Mitschnitt eines Live-Konzerts der US-amerikanischen Indierockband The National. Anstelle einer Abfolge von Liedern gibt die Aufzeichnung aber nur die wiederholte Aufführung eines einzigen Songs wieder: Sorrow. Das melancholische Lied, mit gefühlvoller und tiefer Stimme vorgetragen, verändert sich im Laufe der Wiederholungen. Das sentimentale Gefühl, das sich beim Hören anfangs einstellte, scheint sich zu entleeren. Das Konzert wird durch das Verfahren der Reproduktion, Wiederholung und Ausstellung zu etwas anderem: zu einer Soundinstallation. Als Zuschauer_in verliert man sich zunehmend im Beobachten von kleinsten Variationen in der Darbietung und schweift immer wieder in Reflexionen über die ‚maschinelle‘ Herstellung von Hits und Gefühlen in der Musikindustrie ab sowie über die Fetischisierung von Stimmen oder Starfiguren durch eine Permanenz der Wiederholung. „We’re only doing one encore tonight“, kündigt der Sänger an. Schließlich aber bemerkt man die Arbeit und das Bemühen der Performer, die zusehends erschöpfter erscheinen und nimmt das Produktionsverfahren selbst wahr: die konzeptuelle Anlage des Videos. Vor der Installation machen es sich derweil einige Zuschauer_innen als Verdopplung der Zuschauer im Video auf dem Boden gemütlich und lassen die Installation als ‚bewegte Maschine‘ ablaufen, in der die Akteure endlos performen – in einer zirkulären Struktur und einer Art „Eigenblutdoping“, so die Metapher von Diederich Diedrichsen für die Selbstverwertung innerhalb der Popindustrie, den Zwang zur Performance.4

4

Vgl. Diederichsen, Diedrich: Eigenblutdoping. Selbstverwertung – Künstlerromantik – Partizipation, Köln: Kiepenheuer und Witsch 2008. Diederichsen beschreibt hier die Untrennbarkeit von Kunstwerk und Künstler in der Popmusik seit den 1960er Jahren und wie sich die fordistische Entfremdung auch und besonders auch in kreativen Berufen sedimentiere. Er arbeitet das Phänomen eines Zwangs zur „Selbstverwertung“ heraus. Die Strategien des „Popstars“ als Produkt („Star“) seien anfangs noch als Ausdruck der Kritik und potentiell subversiv und widerständig zu werten, während sich heute lediglich das System fortschreibe – zirkulär und in einer Art „Eigenblutdoping“. Den Begriff entlehnt Diederichsen dem Sportdoping und benutzt ihn als Bild für die permanente

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Bei den beiden beschriebenen Szenen handelt es sich um die Erfahrungen zweier Arbeiten, die im Juni 2015 im Rahmen des Foreign-AffairsPerformance-Festivals in Berlin präsentiert wurden und deren Künstler man zunächst nicht miteinander in Verbindung bringen würde: Ann Lee (2009) von Tino Sehgal, und A Lot of Sorrow (2013/14) des isländischen Künstlers Ragnar Kjartansson. Beide Arbeiten entgrenzten unterschiedliche Künste und Bereiche der Nicht-Kunst, indem sie zwischen Kunst und Handlung, Theater und Performance und zwischen Ausstellung und Aufführung oszillierten; weiterhin griffen sie auch auf Pop-Kontexte aus. Auch wurden beide Arbeiten auf unterschiedliche Weise in Schleife oder Wiederholung gestellt: durch Handlung (Ann Lee und ihre ‚Klone‘ und The National wiederholten ihre Handlungsaufgaben), wobei A Lot of Sorrow zusätzlich durch mediale Aufzeichnung ‚loopbar‘ wurde und sich Sehgals Arbeit wie immer jeglicher Objekthaftigkeit durch Mediatisierung entzog, worauf noch genauer eingegangen wird. Die beiden Arbeiten erzeugten durch mindestens zwei künstlerische Verfahren eine je eigene Ästhetik: 1. Durch das Verfahren der (medialen) Übertragung zwischen Kontexten oder Milieus, und 2. durch das Mittel der Wiederholung (einer Aufgabe oder Figuration). Auf diese Weise befragten sie die Formen der Produktion und Modi der Übertragung und stellten damit die Grenzen und den Begriff des Kunstwerks als (Handlungs-)Objekt in Frage.5 Im Folgenden möchte ich die Produktionsverfahren, die Kunst-

„Selbstzuführung“, um die eigene kreative Produktivität zu steigern – die Wiederholung der Ich-Performance. 5

Das Festival Foreign Affairs wurde u. a. kuratiert von Matthias von Hartz und widmete sich Fragen zum Thema Zeit: Lebenszeit, Festivalzeit, Arbeitszeit, Aufführungszeit, usw. Es befragte Konzepte von Dauer, Entschleunigung, Dehnung und Verdichtung im Verhältnis zur gemessenen, also sozial und kulturell regulierten Zeit. Neben Sehgal und Kjartansson wurden insgesamt fünfundsiebzig Aufführungen (plus Konzerte und Workshops) präsentiert, darunter auch Jan Fabres vierundzwanzigstündige Performance über die Tragödie Mount Olympus – mit siebenundzwanzig Performer_innen und begleitenden Installationen im Haus der Berliner Festspiele, bei der die Besucher_innen auf dem Gelände übernachten konnten. Forced Entertainment zeigten die gesammelten Werke Shakespeares als tägliche, einstündige Nacherzählung durch eine/n Performer_in mit Alltagsgegenständen (Table Top Shakespeare).

V ERFAHREN DER (D E-)P RODUKTION

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und Mediengrenzen überschreiten, und die darin angelegte Erfahrungsstruktur genauer beleuchten.

V ERFAHREN O BJEKT E NTGRENZUNG Vor der Analyse einige Bemerkungen zum Begriff des Verfahrens. Als Verfahren können Handlungen verstanden werden, genauer: Handlung als Strategie, Methode oder Operation, die die Produktion einer (nicht)künstlerischen Arbeit steuert. Der Begriff des Verfahrens als zielgerichtete und doch ergebnisoffene Vorgehensweise soll hier nicht universell verwendet werden, sondern historisch kontextualisiert. Seit der Moderne, spätestens aber seit den 1950er und 60er-Jahren, sind zunehmend Entgrenzungen zwischen den Künsten, aber auch zwischen Kunst und Nicht-Kunst zu beobachten. Damit ging auch eine verstärkte und kunst- und medienübergreifende Verwendung bestimmter Verfahren einher, wie beispielsweise Anordnen, Übertragen, Wiederholen, Sammeln, Dokumentieren, usw.6 Diese konzeptuellen Verfahren bringen nicht nur neue Vorgehensweisen von der Idee zum Produkt hervor, die sich von ‚herkömmlichen‘ Kompositionsprinzipien und kreativen Prozessen unterschied, sondern bringen auch Zufall und Unabgeschlossenheit ins Spiel, so beispielsweise durch Scores, Notationen und Partituren bei George Brecht, John Cage oder Sol LeWitt. Zahlreiche Kooperationen zwischen Künstler-, Musiker- und Choreograph_innen, man denke an Robert Morris, Simone Forti, Yvonne Rainer, Robert Rauschenberg und John Cage, erzeugten und ermöglichten neue Produktionsformen und eine Nähe der Verfahrensweisen. 7 Das Anordnen als schriftliche Anweisung oder räumliche Konstellation beispielsweise, die eine Performance oder Choreographie generierte, 8 aber nicht festschrieb,

6

Vgl. Butte, Maren/McGovern, Fiona/Rafael, Marie-France/Schafaff, Jörn (Hg.): Assign & Arrange. Methodologies of Presentation in Art and Dance, Berlin: Sternberg Press 2014.

7

Vgl.

zum

Austausch

zwischen

Tanz

und

Kunst

bspw.

Dziewior,

Yilmaz/Engelbach, Barbara (Hg.): Yvonne Rainer. Raum, Körper, Sprache, Köln: König 2012. 8

Zu Konzepten von Choreographie basierend auf Anordnungsverfahren vgl. Brandstetter, Gabriele: „Choreographie“, in: Jörn Schafaff/Nina Schallen-

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beides im Prozess hielt, war dabei – von Seiten der Kunst – verschränkt mit einer Absage an das materielle Objekt (als Produkt, Ware, Fetisch, usw.). Diese Absage wurde wirksam in den bewegten Kunstformen wie der kinetischen Skulptur, der Performance, dem Happening, an Fluxus und der Konzeptkunst, die ihre eigene Relationalität und Prozesshaftigkeit betonten. Von der Seite der performativen Künste sind ihrerseits Verfahren der Auflösung des Aufführungsprodukts zu verzeichnen. Sie wurden symptomatisch sichtbar an der Enthierarchisierung von Text und Aufführung in den 1960er und 70er Jahren und an der Einbeziehung performativer Praktiken in Theaterproduktionen, beispielsweise bei Richard Schechner oder Ariane Mnouchkine, sowie an einer Befragung der Objekthaftigkeit der Elemente im postdramatischen Theater der folgenden Jahrzehnte.9 Das Verfahren ist also im Zusammenhang mit einer Veränderung des Produktionsprozesses zu denken. Der einheitliche Schaffensprozess einer Materialumformung (durch Arbeitskraft) in ein Produkt sowie die Autorität und Handlungsmacht der Künstler_in wurden zunehmend in Frage gestellt. Auch der Status des Kunstwerks als Artefakt und höchster Wert wurde problematisiert. Dorothea von Hantelmann sieht diesbezüglich einen Zusammenhang zwischen den Debatten der Kunst und der (Produktions-) Ökonomie dieser Jahre, in denen das Modell der Versorgung (mit Produkten) in eine wirtschaftliche und ökologische Krise geraten war. 10 Und auch Sabeth Buchmann zeigt in ihrer Studie Denken gegen das Denken jenen Zusammenhang zwischen konzeptuellen Kunstpraktiken der 1960er Jahre und der Neubewertung des Produktionsbegriffs im Zuge der ökonomischen, soziokulturellen und technologischen Veränderungen auf. 11

berg/Tobias Vogt (Hg.), Kunst – Begriffe der Gegenwart von Allegorie bis Zip, Köln: König 2013, S. 33-38. 9

So beschreibt es besonders Hans-Thies Lehmann für die Arbeiten der Wooster Group, Robert Wilson, Christoph Marthaler, u. a. Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater, Frankfurt am Main: Verlag der Autoren 2005.

10 Hantelmann, Dorothea von: How to do Things with Art, Zürich/Dijon: JRP Ringier/Les presses du réel 2010, S. 152-153. 11 Buchmann, Sabeth: Denken gegen das Denken. Produktion, Technologie, Subjektivität bei Sol LeWitt, Yvonne Rainer und Helio Oiticia, Berlin: b-books 2007.

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Bereits im Kunstdiskurs dieser Jahre selbst verdichten sich die Fragen zu Produktion am „Objekt“ – zunächst entlang kunstspezifischer und intermedialer Fragestellungen, die unterschwellig aber auf Ökonomie und wirtschaftliche Aspekte verweisen: So schreibt beispielsweise Harold Rosenberg 1966 vom „anxious object“ und Barbara Rose von Kunst „beyond the object“.12 Der Kunstkritiker Michael Fried verurteilt in Art and Objecthood (1967) die Entwicklung zur minimal oder literal art und deren raumgreifende Qualität in der minimalistischen Skulptur und Installation als objektauflösend und findet hierfür den Begriff der Theatralisierung. Anders als in der Malerei des abstrakten Expressionismus der 1940er bis 1960er Jahre sei das Kunstwerk in Arbeiten von Carl Andre und Robert Morris keine unabhängige und handwerklich geschaffene Einheit mehr, die eine transzendente Erfahrung ermögliche, sondern arrangierte und teils industriell vorgefertigte Elemente, die auf ein Event oder Erlebnis abzielten, das mehr auf seinen soziokulturellen Kontext als auf die inneren, kompositorischen Qualitäten und Relationen verweise. 13 Theatralität umfasst bei Fried einen Erfahrungsmodus der Zerstreuung und ist, in Fortführung der medienspezifischen Argumente Clement Greenbergs, kritisch gemeint.14 Das künstlerische Produktionsverfahren des Anordnens scheint hier gegen eine traditionellere Praxis und Regeln des Gestaltens in Anschlag gebracht und ermöglicht eine andere Form der Erfahrung. Einige Jahre später versteht Rosalind Krauss umgekehrt die Entgrenzungen als Skulpturen „in the expanded field“ und hebt gerade die relationalen Eigenschaften dieser Arbeiten hervor.15 Diese und weitere Positionen reflektieren

12 Rose und Rosenberg zitiert nach: D. von Hantelmann: How to do Things with Art, S. 129. 13 Fried, Michael: „Art and Objecthood“, in: Gregory Battock (Hg.), Minimal Art: A Critical Anthology, New York: E. P. Dutton 1968, S. 116-147. 
 14 Der Begriff des Theatralen bleibt dabei unzureichend historisiert oder erläutert. Eine kritische Lektüre des Theatralitätsbegriff bei Fried findet sich in: Bormann, Hans-Friedrich: „Theatralität als Vorschrift. Zu Michael Frieds Kunst und Objekthaftigkeit“, in: Erika Fischer-Lichte u.a. (Hg.), Diskurse des Theatralen, Tübingen/Basel: Francke 2005, S. 91-106. 15 Krauss, Rosalind: The Originality of the Avant-Garde and other Modernist Myths, Cambridge: MIT 1986, S. 276-290. Auch Lucy Lippards Überlegungen zur Dematerialisierung des Kunstobjekts in der Konzeptkunst von 1973 widmet

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auf je unterschiedliche Weise jenes Problematisch-Werden von Kunstobjekt, Handlung und Situation und weisen teils auch eine gegen Warenförmigkeit oder Objektfetischisierung gerichtete Gesellschaftskritik auf.16

K EEP PLAYING . T INO S EHGAL R AGNAR K JARTANSSON

UND

Mit der Kritik und Veränderung von Produktionsweisen, besonders mit der Verlagerung zur Kunst ins in situ von Performance, Fluxus, Happening usw., ging auch die Frage nach der ästhetischen Erfahrung einher, die ihrerseits durch Prozesshaftigkeit und Unbestimmtheit geprägt zu sein schien. Besonders seit den 1990er Jahren entstehen wieder vermehrt Arbeiten, die sich mit dem Verhältnis von Produktion und Erfahrung befassen und die auf den Kontext der 1960er Jahre und seine verfahrensorientierte Produktionsweisen verweisen. So schreibt beispielsweise Sandra Umathum in ihrer Studie zu Felix Gonzalez-Torres, Erwin Wurm und Tino Sehgal von der Kunst als Aufführungserfahrung. Sie verbindet theater- mit kunstwissenschaftliche Perspektiven, um die ästhetische Erfahrung solch relationaler Künste (Nicolas Bourriaud) zu bestimmen. Sie charakterisiert die Arbeiten Sehgals in der Nachfolge der Entgrenzungstendenzen der 1960er Jahre als „Aufführungssituationen“,17 in denen Zuschauer_innen als Teilhabende in einem „sozialen Raum“ (dem Museum, der Galerie, der Kunstbiennale usw.) versammelt würden. Sie bestimmt die Werke als eine „Materialisierung von Situationen“, da sie sich nur in und zwischen Körpern ereigneten. Materialisierung meint hier das prozessuale und sich gleich wieder entziesich der Frage des Objekts: Lippard, Lucy: Six Years. The Dematerialization of the Art Object 1966-1972, Oakland: California UP 1997; sowie indirekt auch Peggy Phelans These der Unwiederbringlichkeit von Performances durch Dokumentation als kritische Geste. Phelan, Peggy: Unmarked. The Politics of Performance, London/New York: Routledge 1993. 16 Vgl. Lütticken, Sven: „Progressive Striptease“, in: Amelia Jones/Adrian Heathfield (Hg.), Perform Repeat Record. Live Art in History, Bristol/Chicago: Intellect 2014, S. 187-198, hier S. 188. 17 Umathum, Sandra: Kunst als Aufführungserfahrung, Bielefeld: transcript 2011, S. 17.

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hende Material-Werden, eine „(De-)Produktion“,18 der ihr Verschwinden und ihre Flüchtigkeit eingeschrieben ist. Von diesen Überlegungen Umathums ausgehend können sowohl die künstlerischen Verfahren Sehgals als auch Kjartanssons und die damit verschränkte ästhetische Erfahrung als Deproduktion gefasst werden: als Strategien des Erscheinen-Lassens, denen auf gewisse Weise stärker als anderen Aufführungen ihr Vergehen bereits eingeschrieben ist, weil sie bereits an der Grenze zur Abwesenheit, Objektlosigkeit und Ausleerung entlang operieren. Flüchtigkeit ist hier kein Nebenprodukt im Sinne von Peggy Phelans Idee von „performance‘s only life is in the present“.19 Sie ist entscheidendes Merkmal der Gestaltung und ruft soziokulturelle und ökonomische Kontexte (Produkt-Kultur und Kapitalismus) auf, sowie kunstinterne Debatten über eine „Immaterialisierung“ des Kunstwerks.20 Betrachtet man eine Produktion als den idealerweise zielgerichteten Vorgang einer Umwandlung einer Ressource in Form / Objekt durch den Verbrauch von Arbeitskraft, in dem ökonomisch, also ohne Verschwendung und „Umwege“ agiert werden soll, so gibt es in den Arbeiten Sehgals und Kjartanssons unterschiedliche Formen des Bruchs, der Verweigerung und der Umlenkung des ‚regulären‘ oder idealen Vorgangs, wie er in anderen Kontexten gefasst wird. Beide hinterfragen damit ein Paradigma von performativer Produktivität, worauf im letzten Teil des Artikels noch einmal genauer eingegangen werden soll. Tino Sehgal stellt die Fragen nach dem Objekt noch einmal neu, wenn er auf die einfachen Grund-Formen der medialen Produktion – Sprechen, Tanzen, Singen – zurückgreift und jedwede Dokumentation unterbindet: von Beschriftungen im Aufführungsraum über Faltblätter und Übersichtspläne hin zu Fotografien und Videoaufzeichnungen und sogar Kaufverträgen; alle Verkaufsprozesse laufen über mündliche Vereinbarungen ab. 21 „Es geht (...) in erster Linie darum, ein Kunstwerk zu machen, das anders

18 Ebd., S. 120. 19 Phelans Argument, das sie heute vielleicht relativieren würde, zielt damit grundsätzlich auf die Frage, was ein Kunstobjekt sei und wendet sich am Beispiel der feministischen Body Art genderreflexiv gegen Repräsentation und Dokumentation. Vgl. P. Phelan: Unmarked. 20 Vgl. Fußnote 15. 21 So fehlt beispielsweise die Seite 438/9 im Documenta-13-Begleitbuch, auf der Sehgals Arbeit This Variation (2012) hätte beschrieben sein sollen.

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produziert ist“, sagt Tino Sehgal. „Ein Kunstwerk ist immer Objekt gewesen, und die Kunst folgt der technischen Entwicklung, von der Höhlenmalerei bis zur Internetkunst.“22 Indem Sehgal die medientechnologische Bedingtheit des Produkts zurückdrängt, thematisiert und kritisiert er den regulären Umformungsprozess von Ressource über Arbeitskraft in Produkt, der ‚normalerweise‘ auch für die Kunst gültig ist. Er affirmiert den marktwirtschaftlichen Vorgang aber gleichzeitig, was eine spezifische Spannung erzeugt. „Ist eine andere Form von Produktion möglich“, fragen die Arbeiten von Sehgal und finden Antwort in den flüchtigen, performativen Elementen – einer Übertragung zwischen den Milieus der Kunst (Aufführung und Ausstellung). Was von den Ereignissen, wie bei jeder Form von Aufführung, noch übrigbleibt, sind (Fehl-)Erinnerungen von Zeugen, Gerüchte, oral history – Körper als „living archives“ einer temporären „nomadic society“ von Zuschauer_innen.23 Auch Präskripte und Notizen vom Probenprozess bleiben verwehrt. Sehgal ist an der „wiederholten Materialisierung seiner Werke interessiert“, was ihm auch eine gewisse „Nähe zum Theater“ und seinem Dispositiv einer Permanenz der Wiederholung verleiht.24 Im Endeffekt sorgt das Auslassen der Dokumentation aber auch für eine Re-Auratisierung des Kunstwerks als unsichtbarem Objekt, die am Ende des Artikels noch einmal genauer befragt werden soll.25 Neben Ann Lee wurden insgesamt vier weitere Arbeiten Tino Sehgals im Martin-Gropius-Bau in Form einer Einzelausstellung, der ersten in Berlin, sowie eine weitere mit dem Titel This Progress (2010) im Haus der Berliner Festspiele präsentiert.26 Der Gropius-Bau selbst wurde so zu einem

22 Reiser, Jörg/Dittmer, Mareike (Hg.): Funky Lessons, Frankfurt am Main: Revolver 2005, S. 101. 23 Gravano, Viviana: „Tino Sehgal’s Performances: The Spectator as Living Archive“, in: Raphael Cuir/Eric Mangion (Hg.), Performance Art. Life of the Archive and Topicality, Dijon: Les Presses du Réel 2014. S. 105-112. 24 S. Umathum: Kunst als Aufführungserfahrung, S. 130. So werden beispielsweise auch die Texte, Lieder und Bewegungen bei Sehgal einstudiert und geprobt. 25 Vgl. S. Lütticken: Progressive Striptease, S. 192. 26 This Progress konnte man nach Anmeldung einzeln besuchen und wurde sukzessive von drei Performer_innen unterschiedlichen und ansteigenden Alters um das Festivalgebäude geführt und befragt, was man unter Fortschritt verstehe. Die Arbeit wurde bereits 2010 im Guggenheim Museum New York gezeigt.

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riesigen Environment aus multiplizierten kleinen Ereignissen in Wiederholung, die die rund achtzig Performer_innen erzeugten, indem sie redeten, tanzten, summten, sich küssten, sich auf dem Boden wälzten und sangen. Das gesamte Untergeschoss wurde bespielt, das heißt, vier Ausstellungsräume plus der große Lichthof in der Mitte des Gebäudes. Hier versammelten sich zuweilen alle Performer_innen zu einem großen Intermezzo, das sich zu einer großen bewegten Installation aus singenden und tanzenden Menschen formte. Sehgals Werke sind in den vergangenen fünfzehn Jahren als Interventionen und Bespielungen unterschiedlicher Orte (Guggenheim Museum, New York; Documenta 13, Kassel; Turbine Hall Tate Modern, London; u.a.) sowie seit einiger Zeit auch vermehrt als Einzelausstellungen präsentiert worden. Sie können als künstlerisch gestaltete „Situationen“ oder flüchtige Ereignisse im Ausstellungsraum bezeichnet werden, in denen Bewegungen, Stimmen, Performer und Zuschauer_innen aufeinander bezogen werden und sich Dispositive der Aufführung und Ausstellung entgrenzen. Sehgals Arbeiten zeichnen sich in der Regel, wenn sie einzeln gezeigt werden, als Interventionen oder „Überraschungen“27 innerhalb von Institutionen und anderen Ausstellungen aus.28 Der/die unvorbereitete Besucher_in konnte von dieser passive aggressiveness oder Scherzhaftigkeit

27 S. Lütticken: Progressive Striptease, S. 189. 28 So zeigte beispielsweise This is so contemporary! drei Museumswärter im deutschen Pavillon der 51. Venedig Biennale 2005, die unerwartet aus ihrer passiven und doch kontrollierenden Rolle des Personals fielen und die Angaben zur eigenen „performance“ vortrugen; sie tanzten, warfen die Hände in die Luft und riefen: „Tino Sehgal.“ „This is contemporary!“ Anschließend benannten sie den Ort der Aufführung. In The objective of that object (2004-2005, Institute of Contemporary Arts, London) kreisten fünf Performer_innen einzelne oder mehrere Zuschauer_innen ein, standen mit dem Rücken zur Mitte und tauschten sich bspw. untereinander (und ggf. auch mit den Besucher_innen) über Themen wie „Spionieren“ aus. Diese choreographische Anordnung (zur Körperbewegung im Raum) ließ über Machtkonstellationen reflektieren: Wer steuert hier die Bewegung und die Themen der Gruppe? Die Anblickenden oder die Angeblickten? Vgl. S. Umathum: Kunst als Aufführungserfahrung, S. 134-139.

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irritiert sein, weil sie Erwartungen durchkreuzen konnte. 29 In der Einzelausstellung im Gropius-Bau fiel der Aspekt der Überraschung, der Intervention oder Irritation weg: Die Zuschauer_innen besuchten eine Werkschau, in der sich die auditiven und energetischen Sphären der einzelnen Arbeiten berührten und überlagerten (und gleichsam für die Festivalbesucher_innen auch in Wechselwirkung mit den anderen Aufführungserfahrungen traten). Beim Betreten des Raumes traf man auf ein junges Paar, am Tag meines Besuchs Mann und Frau, die sich ineinander verschlungen langsam auf dem Boden rollten, sich zeitweise küssten und wie in Zeitlupe romantisch oder sexuell konnotierte Haltungen einnahmen. Es handelte sich um Sehgals Arbeit The Kiss von 2002, in der wechselnde Performer_innen-Paare bekannte (Kuss- und Zuneigungs-)Motive aus der Kunstgeschichte zitathaft ‚nachstellen‘ und beleben (von Rodin, Brancusi, Jeff Koons u.a.), aber nicht als tableaux vivants, sondern in einer langsamen Metamorphose, die viele Zwischenmomente einschließt. Die Paare lagen einsam im weiten Raum und oszillierten zwischen lebendigen (Alltags-)Körpern und überhöhter, skulpturaler Erscheinung und berührten uns in dieser Anordnung auch affektiv, während man noch die Gesangsounds aus anderen Räumen hörte. Ein anderer Ort offenbarte zwei bis drei Performer_innen, die über die Stimme und Bewegung den Raum erfüllten und beatbox-artige Geräusche machten. Der vorletzte Ausstellungsraum auf der rechten Seite war eine Art Salon:30 Sechs Performer_innen saßen, standen und unterhielten sich; sie führten verlangsamte Bewegungen aus und veränderten an den Wänden entlang von Zeit zu Zeit gegen den Uhrzeigersinn ihre Position im Raum. Sie diskutierten, mit und ohne die Besucher_innen – wie in einem Salon des 19. Jahrhunderts –, Fragen wie Fortschritt, Feminismus, Ökonomie und soziologische Themen sowie Kunstformen wie den Situationismus.31 Konkrete Themen während meines Besuchs waren Fragen über

29 Zum Dispositiv des Museums vgl. Bennett, Tony: „Der bürgerliche Blick. Das Museum und die Organisation des Sehens“, in: Dorothea von Hantelmann/Carolin, Meister (Hg.), Die Ausstellung. Politik eines Rituals, Zürich/ Berlin: diaphanes 2010, S. 47-77.
 30 Eine andere Aufführungssituation der Arbeit beschreibt S. Umathum: Kunst als Aufführungserfahrung, S. 148ff. 31 Ebd.

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Mitleid, Freizeit und Selbsttechniken oder -technologien.32 Eine der Performerinnen beschrieb, wie sich ihr Körper durch das Trainieren im Fitnessstudio veränderte. Immer, wenn ein/e neue/r Besucher_in den Raum betrat, vernahm man ein lautes Einatmen der Performer_innen und ein: „Welcome to this Situation!“, gesprochen im Chor. Die Figuren nahmen immer mal wieder zitathaft Posen aus der Kunstgeschichte ein (bspw. Seurats La grande chatte oder Manets Déjeuner sur l’herbe) oder gingen mit ihren Themen auf Merkmale ihrer Besucher_innen ein.33 Die Themen umspielten dabei die wiederkehrenden Fragen Sehgals nach Produktion, Gesellschaft und Kunst und immer wieder wurde ein Bezug zu Positionen der westlichen Geistesgeschichte hergestellt, bspw. auf Michel Foucault, Guy Debord, Max Weber, Donna Haraway und andere: „In 1710, someone said...“, war eine, mit wechselnden Datierungen, wiederkehrende Formel eines neues Themas. Als Besucher_in war es unmöglich, sich die Themen und Aspekte zu merken. This Situation schuf aber eine Atmosphäre, die, ergänzend zur Gesamtatmosphäre der Einzelausstellung, die eines Forums für Denkprozesse hatte. Der letzte und vielleicht aufwendigste Raum der Ausstellung war abgedunkelt und bereits von Klängen erfüllt, als ich ihn betrat. Dort wurde This Variation (2012) gezeigt. Es handelte sich um einen Raum mit einer Gruppe von Performer_innen, die sangen und tanzten, sich unterhielten und teils Natur- und Tiergeräusche nachahmten sowie mit der Stimme Beatgeräusche erzeugten. Die Stimm-Sounds wurden teils zu hastigem Atmen, kleine Gesangselemente in unterschiedlichen Tonhöhen wiederholten und multiplizierten sich und wurden schließlich zu einem mehrstimmigen A-capellaSong. Ich erkannte den Song Neon Lights von Kraftwerk, erinnerte mich aber auch an Good Vibrations von den Bee Gees, Sunshine of your Love von Cream von meinem früheren Besuch der Arbeit während der Documenta 13 in Kassel im Jahr 2012. Der Komponist Ari Benjamin-Meyers hatte in Kooperation mit Tino Sehgal Songs aus der Popgeschichte in Gesangspartituren umgeformt, die die Perfomer_innen aus unterschiedlichen

32 Vgl. Foucault, Michel: „Technologien des Selbst“, in: Luther H. Martin/Huck Gutman u.a. (Hg.), Technologien des Selbst, Frankfurt a.M.: Fischer 1993, S. 24-62. 33 Vgl. S. Umathum: Kunst als Aufführungserfahrung, S. 148ff.

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Kontexten einstudierten.34 Weitere Sounds wie Klatschen konnten zum Rhythmus werden, zu dem die Performer_innen tanzten – in losen Halbkreisen und Diagonalen den Raum beschreitend oder auf der Stelle, was man in der Dunkelheit auch über die anderen Sinne, beispielsweise über einen Windhauch, wahrnehmen konnte. Sie traten dabei immer wieder fest auf und bewegten Hüfte, Köpfe und Arme ruckartig und in gleichbleibendem Energieniveau von sich weg und auf sich zu. Die exaltierten Bewegungen erinnerten an Ritualtänze, mitunter auch an Nijinskys Choreographie zu Strawinskys Komposition von Le Sacre du printemps (1913) und dann wieder an moves aus dem Clubbing (bspw. aus dem HipHop). Jedoch erschienen die Bewegungen nicht improvisiert. Sie folgten einer Choreographie, einem pattern, und bildeten eine bestimmte Sequenz – scheinbar ausgelöst durch bestimmte Zeichen oder cues, die dann alle synchron wiederholten. Inmitten des performativen Settings wurde man animiert mitzutanzen; die Synchronisation breitete sich aus. Und nicht nur die Performer_innen bestimmten die Situation. Jeder Schritt der Besucher_innen konstellierte den Moment neu. Er trug die Züge einer Aufführung, jedoch ohne die strenge Bühnensituation und ohne die zeitliche Begrenzung. Es hätte sein können, dass dies für immer weiterlaufen und sich unablässig wiederholen würde – die Performer_innen arbeiteten sozusagen unermüdlich an der Produktion. Die Form der bewegten Anordnung erzeugte eine partizipative Gestimmtheit, einen (blinden) Sog in das Geschehen hinein und auch ein Wohlbefinden, das man bei Konzerten verspüren kann, die man als flüchtig und einmalig wahrnimmt. Diese Beobachtung einer emphatischen Erfahrung35 lässt sich mit den Verfahren der Deproduktion in Verbindung bringen: Sehgal erzeugte mit den unmittelbaren Mitteln der Stimme und der Bewegung, der flexiblen Anordnung und Wiederholung einen starken rituellen, affektiven und auratisierenden Zug: ein verstärktes In-der-Gegenwart-Sein, das nur möglich ist, wenn man den Entzug und das Vergehen bereits spürt und mitdenkt. Im Moment der Formung zeigte sich

34 Einen Hinweis dazu findet man im Documenta-Begleitbuch. 35 Birgit Rieger nennt diese Erfahrung einen „wohligen Postmaterialismus“, vgl. Rieger, Birgit: „Die Kunst der Begegnung. Tino-Sehgal-Ausstellung im MartinGropius-Bau“, in: Tagesspiegel vom 27.6.2015, http://www.tagesspiegel.de/ kultur/tino-sehgal-ausstellung-im-martin-gropius-bau-die-kunst-derbegegnung/1 1975864.html vom 10.06.2018.

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zugleich eine Deformung, und so wurde das eigene Vergessen zum Thema – zumal man als erfahrene/r Zuschauer_in vielleicht die mediale Unverfügbarkeit von Sehgals Werken bereits verinnerlicht hat. Die extreme Form der Flüchtigkeit in Sehgals Werken teilen die Arbeiten Ragnar Kjartanssons nicht, die sehr wohl gut dokumentiert sind. Aber auch sie thematisieren den Entzug, indem sie die Vollzüge eines linearen Produktionsprozesses stören und dessen Erwartungen durchkreuzen. Kjartansson, geboren 1976, selbst Musiker, Performer, ehemals Bühnentechniker und Maler sowie Sohn eines Theaterintendanten, arbeitet zwischen den Künsten und Medien und verwendet das Verfahren einer expliziten und eng getakteten Wiederholung und des „Auf-Dauer-Stellens“ von Handlungen und Ereignissen. Aber, anders als Sehgal, unter Einbeziehung von Medientechnologie (auch zur Dokumentation). Weiterhin organisiert er seine Arbeiten durch ein Anordnen von theatralen Settings aus Gegenständen, Kostümen, Möbelstücken und (gesprochenen oder gesungenen) Aktionen. Das Arrangement kann für einen gewissen Zeitraum besucht werden und folgt so der Logik, dem Zeitregime und der Ansichtigkeit einer Ausstellung als Dispositiv. Einige seiner Arbeiten können als durational performance oder Theaterinstallationen bezeichnet werden (The Great Unrest, 2005; The End, 2009). Aber auch serielle Zeichnungen (verbunden mit einer Reisetätigkeit und Performance: Blossoming Trees Performance, 2008, verbunden mit Reisetätigkeit und Performance) oder Videoarbeiten gehören dazu, wie auch die Verwendung von Musik oder Rezitation (Schumann Machine, 2008 und God, 2007).36 Sein Vokabular besteht aus heterogenem Material, beispielsweise Volksgeschichten (isländische Erzählzyklen), Figuren der Comedia dell’arte, Vaudeville-, Burleske- und melodramatischen Elementen sowie Motiven und Themen der Romantik (wie Genie und Amateur, Vergänglichkeit und Transzendenz), erinnert aber auch an dadaistische Revuen oder maschinenhaft erzeugte Gags. 37 Seine Arbeiten sind oft begehbar und Kjartansson selbst nimmt eine Rollenfigur ein (vom Ritter über einen Sturm-und-Drang-Gedichte-Interpreten bis zu einer undefinierten Künstlerfigur), mit der die Besucher_innen in Interakti-

36 Vgl. Budak, Adam: „An Incantation of Seraphim. Toward Ragnar Kjartansson’s Theatrics of Daydream“, in: Christian von Schön (Hg.), Ragnar Kjartansson – The End, Center for Icelandic Art, Ostfildern: Hatje Cantz 2009, S. 11-26. 37 Ebd., S. 24.

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on treten können.38 In A Lot of Sorrow aber performt er nicht selbst. Er hatte, nachdem er seinen Lieblingssong Sorrow angeblich immer und immer wieder per Repeat-Einstellung gehört hatte, die Band The National 2013 gebeten, das Stück sechs Stunden lang im MoMA PS1 zu performen und dies aufgezeichnet. Ausgehend von dieser Aufgabenstellung entstand eine Videoarbeit aus vielfacher Übertragung: Das komponierte, aufgezeichnete Lied wird live aufgeführt oder (re-)enacted, materialisiert sich als Situation der Aufführung, während es zugleich wieder aufgezeichnet und als ein bewegtes Bild einer Performance wieder in eine Aufführungssituation übersetzt wird – in den Kirchenraum St. Agnes. Viele Milieus und Zusammenhänge zwischen Kunst, Performance und Musik kommen in dieser Arbeit in Berührung und werden miteinander verwirkt. Ästhetischer Kreuzungspunkt der Arbeit Kjartanssons in Kooperation mit The National erscheint dabei aber die Performance der Band selbst zu sein: Angeleitet von einer simplen Aufgabe (etwa „keep playing“) wiederholten sie unermüdlich einen vorgegeben musikalischen Text und befragten so die Formen der Produktion in Kunst und Musikbusiness gleichermaßen, indem sie sie zirkulär machten. So ist unklar, was hier das Werk ist: Ist es die Anweisung (Konzept), die Aufführung, das Video? Diese Frage ist nicht lösbar, sondern hält die Liveness des Theatralen mit der medialen Technik des Videos in Spannung oder sogar Widerspruch. Adam Budak deutet dieses Verfahren bei Kjartansson als eine „self-enclosure of the system of production“, die eine Hysterie erzeuge.39 Er bringt sie mit der frühen futuristischen Skulptur und Marcel Duchamps Das Große Glas zusammen. Die ins Leere laufende Energie der Wiederholung erzeuge eine Melancholie und gleichsam autoerotische und narzisstische Mechanik. Das automatische Ablaufen stehe auch als Bild für einen universalen psychischen Dynamismus, eine

38 Seine Arbeiten sind unter anderem von Sigurdur Gudmundsson beeinflusst sowie von europäischer und US-amerikanischer Performance-Kunst; er arbeitet teils solistisch und teils in Kollaboration. So beispielsweise für Schumann Machine 2008 mit David Thór Jónsson während der Manifesta 7, wo sie für zwei Wochen acht Stunden in einem gestalteten Setting täglich Schumann-Lieder performten. 39 A. Budak: An Incantation of Seraphim, S. 24.

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Metapher für „interconnectedness“ im Sinne von Deleuze und Guattari. 40 Doch vor allem zeigt Kjartansson hier die menschlich-mechanische Interaktion als unproduktive Produktion, als Deproduktion: als einen sinnlos ablaufenden Kreislauf. Das reduzierte Verfahren der Wiederholung bei Kjartansson lenkt die Aufmerksamkeit auf den Produktionsprozess selbst, seine Nicht-Erfüllung (im herkömmlichen Sinne von Ergebnishaftigkeit) und auf Stagnation und/oder Überfluss. In ihrem Buch Wiederholung Wiederholen41 von 2006 reflektieren Sabeth Buchmann et al. die Wiederholung als Prinzip in Kunst und Philosophie, die einem cartesianischen Rationalismus und Fortschrittskonzepten sozusagen entgegen gestellt sei und ein Moment des Spielerischen einführe. Die Wiederholung produziere eine zirkuläre Struktur und dabei sei es ein Charakteristikum von Wiederholungsprozessen, dass keine Wiederholung je identisch sei. So schreibt bereits viele Jahre zuvor Kierkegaard von der Nicht-Wiederholbarkeit vergangener Ereignisse (am Beispiel eines fiktiven Berlin-Besuchs).42 Und Gilles Deleuze formuliert in seiner Schrift Differenz und Wiederholung (Orig. 1968) einen anti-repräsentativen Begriff von Wiederholung, in dem bspw. nicht Identität („Original“) und Wiederholung oder auch Singuläres und Universales symmetrisch aufeinander träfen, sondern ein Differentes mit Differentem, d.h. Ähnlichkeit und Veränderung sind keine Folge, sondern Ausdruck eines Verhältnisses in Wiederholungsprozessen, in denen sich die Kategorien selbst auflösten.43 In einem solchen Verhältnis müssen

40 Ebd., S. 20. Deleuze und Guattari entwickeln diese „interconnectedness“ in Bezug auf ihr Konzept des „body without organs“, der für ein fluides Wechselspiel der Intensitäten steht. 41 Buchmann, Sabeth u.a. (Hg.): Wenn sonst nichts klappt. Wiederholung wiederholen in Kunst, Popkultur, Film, Musik, Alltag, Theorie und Praxis, Hamburg/Berlin: b-books/ Polypen 2005, bes. S. 17. In den Künsten verwendeten bspw. besonders die Strömungen des 20. Jahrhunderts – bspw. Minimalismus, Conceptual Art und Pop Art – Verfahren der Wiederholung, um Konzepte von Originalität und homogene Schaffensprozesse zu unterlaufen, bspw. durch Kopieren, Samplen, Appropriieren, Serialisieren. 42 Vgl. Kierkegaard, Sören: Die Wiederholung, Hamburg: Meiner 2000. 43 Vgl. Deleuze, Gilles: Differenz und Wiederholung, München: Fink 1992, S. 1347. Ein Beispiel für Deleuzes Konzept der differenten Wiederholung, die sich wie bei Derrida sprachlich formiert, ist das des Sommers. Wie können wir von

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Performance, Wiederaufführung und Dokumentation bei Kjartansson gelesen werden: als iterative Prozesse, die durch Differenzen in der Schwebe halten, was während der Wiederholungen passiert und ein Verhältnis zwischen Differentem und Differentem auf Dauer stellen (in der Wiederholung der Songperformance). Kjartansson bringt durch den Gebrauch von Medientechnologien und exzessiver Wiederholung zwei unterschiedliche, denkbare Dimensionen von Wiederholung gegeneinander in Stellung – scheinbar medientechnisch bedingte ‚identische‘ und die performative – und bringt so eine paradoxe Komplexität hervor: Beides kann sich nicht ineinander auflösen und bleibt flexibel-starr. Auch eine zweite Arbeit Kjartanssons, die auf dem Foreign-AffairsFestival gezeigt wurde, arbeitete mit dem Verfahren der Wiederholung zwischen Technik und Ereignis, das durch die Wiederholung eine Verwandlung in etwas anderes (Kunsterfahrung, Zeit-Reflexionen) ermöglichte. Foreign Affairs zeigte neben der kooperativen Videoinstallation mit The National auch The Fall, das auf dem Festival seine Uraufführung hatte. Es bestand aus einem einzelnen Vorgang in Wiederholung – dem Fallen (mit einem lauten Knall) einer an Seilen befestigten handelsüblichen blauen Matratze (readymade) oder Turnmatte auf den Boden eines dunkel gehaltenen Bühnenraums – und basierte auf einem Ereignis aus Kjartanssons Vergangenheit: „In 1987, Kjartansson’s father, director Kjartan Ragnarsson, came home from a performance of Hamlet at Goteborg’s Stora Teatern in a state of great excitement: An outrageous incident on stage had transformed the entire performance. Kjartansson’s father had watched the events and was transported into a kind of ecstasy. Even though Kjartansson himself did not witness the spontaneous performative act, the memory of this moment stayed with him to this day. (...) The Fall is an installation on the momentary in the theatrical: Each and every second holds the potential for the ultimate dramatic event.“44

Sommer sprechen, wenn es keine „Sommerhaftigkeit“ gibt und jeder Sommer verschieden ist? 44 Siehe die Ankündigung der Website von Foreign Affairs: https://www.ber linerfestspiele.de/en/aktuell/festivals/berlinerfestspiele/programm/programm_ bfs/veranstaltungsdetail_bfs_128557.php vom 10.06.2018.

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Wie bei A Lot of Sorrow ist über technische und performative Mittel ein Ereignis auf Dauer gestellt. Während der Song Sorrow seine affektive Wucht verliert und zu einem Bild für das melancholisch-romantische Ideal einer (Un-)Vergänglichkeit von Kunst und Automatismus wird, wird die Matratze zu einer konzeptuell gestalteten Metapher für die Möglichkeit von Aktualisierung. Eine Reflexion über das Ereignis selbst: über Flüchtigkeit und die Möglichkeit eines Umschlagspunkts, wenn etwas Alltägliches in etwas anderes oder Bedeutsames übergeht, der Moment, bevor etwas in einer großen Erzählung mündet. „Making an event“, schreibt Deleuze, „however small – is the most delicate thing in the world: the opposite of making a drama or making history.“ 45 Anstelle von „Geschichte(n)“ zeigt demgemäß The Fall jenes Mikroelement, aus dem Drama und Handlung hervorgehen könnten. Und auch Alain Badiou schreibt von einer „disappearance of intrigue“ mit der Moderne, also dem Verschwinden der Intrige, meint Fabel, Handlung oder lineare Erzählung, und nennt als Beispiel Formen der Revue, des Vaudeville und den Kommunismus, die auf jeweils eigene Weise Bedeutung und sprunghafte narrative Strukturen ausbildeten.46 Und so steckt in Kjartanssons editing und repeating auch ein Witz der Montage: Das Drama Hamlet ist ausgespart, aber die Eventhaftigkeit eines Moments als Maschineneffekt bleibt. Über die Verfahren der Wiederholung, Anordnung und Übertragung lässt Kjartansson hier eine „kinetische Skulptur“ entstehen, die einen Möglichkeitsraum in der Schwebe hält (und die Energie gleichzeitig immer wieder ins Leere laufen lässt). Wie Kjartansson hatte sich bereits der Künstler Robert Morris für diese Art von Ereignishaftigkeit interessiert. 1961 ließ er eine grau gestrichene, menschenhohe Säule für drei Minuten auf der Bühne des Living Theatre in New York stehen, bis sie dann, durch einen Faden gezogen, umfiel und weitere drei Minuten liegenblieb. Damit hatte er die Zeitlichkeiten und Konventionen von Theater und Museum befragt – Aufführungszeit, Besuchszeit, stillgestellte Objekte und bewegte Ereignisse. Vor allem aber sollte die Hinwendung zum Ereignishaften eine Nähe zum Leben und sei-

45 Deleuze, Gilles/Parnet, Claire: Dialogues, New York: Columbia UP 1990, S. 52. 46 Alain Badiou, zitiert nach: A. Budak: An Incantation of Seraphim, S. 25. Dies erinnert nicht zuletzt auch an das Ende der großen Erzählungen in der Postmoderne: Vgl. Lyotard, Jean-François: Immaterialität und Postmoderne, Berlin: Merve 1985.

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nen Veränderungen selbst herstellen, Kunst und Leben entgrenzen. 47 Diesen Umschlagspunkt setzt auch Kjartansson in Szene und macht schmunzeln und sich fragen, wie lange man dem Schauspiel beiwohnen soll. Oder ob die Präsentation den Bühnenraum braucht, ob und wie sie mit den institutionsspezifischen Gepflogenheiten interagiert. Vor allem aber stellt sich die Frage nach den ‚unsichtbaren‘ Performer_innen, den Bühnentechniker_innen. Welchen Teil des Spektakels übernimmt die Maschine, welchen Teil übernehmen die Techniker_innen? Die Matratze fiel acht Stunden, brachte Zeitpläne und besondere Arbeitszeiten in den Produktionsprozess.

F ADE OUT . P ERFORMANCE DER D EPRODUKTION

UND

K RITIK

Der Vergleich zwischen Sehgal und Kjartansson mit Bezugnahme auf die Diskurse der 1960er Jahre bis in die Gegenwart zeigte, dass sie beide bestimmte Verfahren (der Wiederholung und Übertragung) verwenden und so nicht nur auf besondere Weise kom-ponieren, sondern gleichzeitig das Kunstobjekt als Artefakt oder Produkt selbst in Frage stellen, in dem sie es als bewegt, flüchtig und paradoxal sichtbar machen. Sie ermöglichen so eine spezifische ästhetische Erfahrung des Entzugs, der Ausleerung, der Hysterie, aber auch der ‚Schönheit des Moments‘. Auf diese Weise reflektieren sie Prozesse der Produktion als Deproduktion (als Materialisierung im Entzug). Mit der Analyse der Verfahren der Deproduktion rückte auch die Entgrenzung zwischen den ‚Milieus‘ Kunst und Alltag in den Blick: die Frage des Verhältnisses von Ästhetik, Performance und Ökonomie. Sehgal und Kjartansson reflektieren auf unterschiedliche Weise jene Arbeit und die Arbeitshandlungen sowie die Dimensionen der ästhetischen Erfahrung zwischen Kunst und Leben. Sehgals und Kjartanssons Performances brachten die Frage nach der „immateriellen Arbeit“ und dem Produkt ins Spiel. Sehgals Performer_innen, die Band The National und auch die Bühnenarbeiter_innen, die die Matratze lenkten, führten nicht nur Kunst-, sondern 47 Vgl. Schafaff, Jörn: „Wie die Zeit vergeht. Über die Annäherung von bildender Kunst und Theater“, in: Begleitheft zu Foreign Affairs, Kulturveranstaltungen des Bundes und Berlin GmbH, Beilage TAZ, S. 48-50, hier S. 48.

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auch Arbeitshandlungen aus, die eine bestimmte Atmosphäre und Reflexionsebene erzeugten. In seinem Artikel Progressive Striptease thematisiert Sven Lütticken jene performativen Handlungen zwischen Kunst und Arbeit bei Tino Sehgal. Er bringt dessen Arbeiten mit der immateriellen Arbeit in Verbindung, den sogenannten Service-Jobs, wie sie Maurizio Lazzarato und Antonio Negri für die wirtschaftliche Ökonomie der Gegenwart beschreiben.48 Lütticken zieht als Beispiel das ‚Erlebnis des CappuccinoTrinkens‘ heran, das bspw. auch Joseph Pine und James Gilmore in ihrem Buch Experience Economy beschreiben: Man bezahle hier für die Atmosphäre und die Erfahrung.49 Und Jeremy Rifkin bezeichnet die ErlebnisÖkonomie der immateriellen Arbeit als die letzte Stufe des Kapitalismus.50 In Sehgals Aufführungssituationen wird auf der einen Seite genau jene unsichtbare Arbeit enttarnt, indem er die Wohlfühl- oder experience economy bloßlege („strip bare“).51 Der „immaterielle Kapitalismus“ konstituiere sich, so Lütticken, in einem allgegenwärtigen „performativen Imperativ“ (der sich noch in populären, neoliberalen Fernsehformaten zeige): Jeder soll immer und überall performen und alles sei formbar durch Performance. In Sehgals Arbeiten werde jener Imperativ auf komplexe Weise sichtbar. Ihnen scheint damit auch subversives Potential innezuwohnen: Der Status Quo kann durch neue Setzungen – im Sinne Judith Butlers performativer Handlungen – verändert werden, scheinen Sehgals Arbeiten zwischen Aufführung und Ausstellung, Kunst und Alltag zu betonen. Jedoch, wendet Lütticken ein: Indem Sehgal den Moment auratisiere und die pure Anwesenheit und Direktheit der performativen Situation fast kultisch feiere, würde diese sich auf der anderen Seite sofort der kritischen Reflexion entziehen. Daher plädiert er für ein weniger harmonisierendes oder homogenes, sondern spannungshafteres Spiel mit den Fragen der immateriellen Arbeit und Performativität. Auf gewisse Weise, so kann man den Gedanken fortführen, tut dies Kjartansson: Zunächst bauen seine Arbeiten, wie

48 Vgl. Negri, Antonio/Lazzarato, Maurizio/Virno, Paolo: Umherschweifende Produzenten. Immaterielle Arbeit und Subversion, Berlin: ID-Verlag 1998, bes. S. 49ff. 49 S. Lütticken: Progressive Striptease, S. 189. 50 Rifkin, Jeremy: Das Ende der Arbeit und ihre Zukunft, Frankfurt a.M./New York: Campus Verlag 1993, S. 16. 51 Vgl. S. Lütticken: Progressive Striptease, S. 195.

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Sehgals, auf minimalen und einstudierten performativen Handlungen auf und bespielen das Moment der Liveness und Ko-Präsenz. Auf der anderen Seite aber lässt er die Situationen spannungsreicher und theatraler wirken: In der klarer als theatral markierten Aufführungssituation (im Theater oder Konzertsaal) prallen – auch in anderen Stücken Kjartanssons mit mehr Requisite, Kostüm und Rollen – heterogenere Elemente aufeinander. Die Arbeiten stellen die eigene ‚Künstlichkeit‘ und Montage durch die technischen Elemente aus. Kjartansson nimmt stets die technischen Medien in seine Befragungen der Performances hinein: The Fall und auch A Lot of Sorrow bespielen bspw. über das Verfahren der vielfältigen Wiederholung jenes unvermeidbare Scharnier von Performance und Medien und zeigen damit eine Untrennbarkeit von „Freiheit und Determinierung“ in Alltagsund in Kunstperformances auf – jene mediale Bedingtheit einer ökonomisierten Performance.52 Kjartanssons Arbeiten inszenieren so ein unlösbares Spannungsverhältnis zwischen Performance und Medialität. Doch beide Künstler zeigen auf je eigene Weise konturierte Entgrenzungen zwischen den Künsten und Milieus auf, die dann ganz eigene Zwischensituationen erzeugen können: Kjartansson in einer hysterischen Schleife und theatralmedialen Konstellation und Sehgal – innerhalb der homogenisierenden Choreographie53 – eher in einer Form des diskreteren Oszillierens oder Schillerns von Differenzen im Ganzen der Erfahrung.

52 Ebd., S. 196. 53 Zur Re-Lektüre dieser Denkfigur des politisch-kritischen Potentials des Theatralen (als Konflikt, Montage) im Gegensatz zur Choreographie (als harmonisierend, synchronisierend, kollektiv) vgl. Cvejic, Bojana/Vujanovic, Ana: Public Sphere by Performance, Berlin: b_books 2012, bes. S. 55-91. Sie stellen hier die ideologischen Implikationen und Codes von „social choreography“ und „social drama“ gegenüber. 


V ERFAHREN DER (D E-)P RODUKTION

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L ITERATUR Bennett, Tony: „Der bürgerliche Blick. Das Museum und die Organisation des Sehens“, in: Dorothea von Hantelmann/Carolin Meister (Hg.), Die Ausstellung. Politik eines Rituals, Zürich/ Berlin: diaphanes 2010, S. 47-77. Bormann, Hans-Friedrich: „Theatralität als Vorschrift. Zu Michael Frieds Kunst und Objekthaftigkeit“, in: Erika Fischer-Lichte u.a. (Hg.), Diskurse des Theatralen, Tübingen/Basel: Francke 2005, S. 91-106. Brandstetter, Gabriele: „Choreographie“, in: Jörn Schafaff/Nina Schallenberg/Tobias Vogt (Hg.), Kunst – Begriffe der Gegenwart von Allegorie bis Zip, Köln: König 2013, S. 33-38. Buchmann, Sabeth u.a. (Hg.): Wenn sonst nichts klappt. Wiederholung wiederholen in Kunst, Popkultur, Film, Musik, Alltag, Theorie und Praxis, Hamburg/Berlin: b-books/Polypen 2005. Buchmann, Sabeth: Denken gegen das Denken. Produktion, Technologie, Subjektivität bei Sol LeWitt, Yvonne Rainer und Helio Oiticia, Berlin: b-books 2007. Budak, Adam: „An Incantation of Seraphim. Toward Ragnar Kjartansson’s Theatrics of Daydream“, in: Christian von Schön (Hg.), Ragnar Kjartansson – The End, Center for Icelandic Art, Ostfildern: Hatje Cantz 2009, S. 11-26. Butte, Maren/McGovern, Fiona/Rafael, Marie-France/Schafaff, Jörn (Hg.): Assign & Arrange. Methodologies of Presentation in Art and Dance, Berlin: Sternberg Press 2014. Cvejic, Bojana/Vujanovic, Ana: Public Sphere by Performance, Berlin: b_books 2012. Deleuze, Gilles: Differenz und Wiederholung, München: Fink 1992. Deleuze, Gilles/Parnet, Claire: Dialogues, New York: Columbia UP 1990. Diederichsen, Diedrich: Eigenblutdoping. Selbstverwertung – Künstlerromantik – Partizipation, Köln: Kiepenheuer und Witsch 2008. Dziewior, Yilmaz/Engelbach, Barbara (Hg.): Yvonne Rainer. Raum, Körper, Sprache, Köln: König 2012. Foucault, Michel: „Technologien des Selbst“, in: Luther H. Martin/Huck Gutman u.a. (Hg.), Technologien des Selbst, Frankfurt a.M.: Fischer 1993, S. 24-62.

234 | M AREN B UTTE

Fried, Michael: „Art and Objecthood“, in: Gregory Battock (Hg.), Minimal Art: A Critical Anthology, New York: E. P. Dutton 1968, S. 116-147. Gludovatz, Karin/ von Hantelmann, Dorothea/Lüthy, Michael/Schieder, Bernhard (Hg.): Kunsthandeln, Berlin: diaphanes 2010. Gravano, Viviana: „Tino Sehgal’s Performances: The Spectator as Living Archive“, in: Raphael Cuir/Eric Mangion (Hg.), Performance Art. Life of the Archive and Topicality, Dijon: Les Presses du Réel 2014. S. 105112. von Hantelmann, Dorothea: How to do Things with Art, Zürich/Dijon: JRP Ringier/Les presses du réel 2010. Kierkegaard, Sören: Die Wiederholung, Hamburg: Meiner 2000. Krauss, Rosalind: The Originality of the Avant-Garde and other Modernist Myths, Cambridge: MIT 1986. Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater, Frankfurt am Main: Verlag der Autoren 2005. Lippard, Lucy: Six Years. The Dematerialization of the Art Object 19661972, Oakland: California UP 1997. Lütticken, Sven: „Progressive Striptease“, in: Amelia Jones/Adrian Heathfield (Hg.), Perform Repeat Record. Live Art in History, Bristol/Chicago: Intellect 2014, S. 187-198. Lyotard, Jean-François: Immaterialität und Postmoderne, Berlin: Merve 1985. Negri, Antonio/Lazzarato, Maurizio/Virno, Paolo: Umherschweifende Produzenten. Immaterielle Arbeit und Subversion, Berlin: ID-Verlag 1998. Phaidon-Online-Artikel: „Tino Sehgal reanimates Manga character at Frieze. Sehgal’s interpretation of Philippe Parreno and Pierre Huyghe’s Ann Lee character comes to the New York art fair“, http://de.phai don.com/agenda/art/articles/2013/may/08/tino-sehgal-reanimates-man ga-character-at-frieze/ vom 25.07.2018. Phelan, Peggy: Unmarked. The Politics of Performance, London/New York: Routledge 1993. Reiser, Jörg/Dittmer, Mareike (Hg.): Funky Lessons, Frankfurt am Main: Revolver 2005. Rieger, Birgit: „Die Kunst der Begegnung. Tino-Sehgal-Ausstellung im Martin-Gropius-Bau“, in: Tagesspiegel vom 27.6.2015, http://www.

V ERFAHREN DER (D E-)P RODUKTION

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tagesspiegel.de/kultur/tino-sehgal-ausstellung-im-martin-gropius-baudie-kunst-der-begegnung/11975864.html vom 10.06.2018. Rifkin, Jeremy: Das Ende der Arbeit und ihre Zukunft, Frankfurt a.M./New York: Campus Verlag 1993. Schafaff, Jörn: „Wie die Zeit vergeht. Über die Annäherung von bildender Kunst und Theater“, in: Begleitheft zu Foreign Affairs, Kulturveranstaltungen des Bundes und Berlin GmbH, Beilage TAZ, S. 48-50. Umathum, Sandra: Kunst als Aufführungserfahrung, Bielefeld: transcript 2011.

Zur Materialität der Praxis von Tanz im Ausstellungskontext K IRSTEN M AAR

Zunehmend lässt sich in den vergangenen Jahren das Phänomen beobachten, Tanz und Performance im Ausstellungskontext zu präsentieren. Darunter lassen sich ganz unterschiedliche Formate fassen – von SammelAusstellungen, die verschiedene choreographische Ansätze vereinen, wie z.B. Move! Choreographing You (2011) kuratiert von Stephanie Rosenthal, die die Besucher_innen partizipativ miteinbinden, über Themenausstellungen wie im Pariser Centre Pompidou danser sa vie (2011), kuratiert von Christine Macel und Emma Lavigne oder im Deutschen Hygiene Museum Dresden: tanz! wie wir uns und die Welt bewegen (2013), kuratiert von Colleen Schmitz, die überblicksartig Entwicklungen nachzuzeichnen versuchen, sowie Ausstellungen, die biographisch das Werk einer Choreograph_in präsentieren wie Yvonne Rainer. Raum Körper Sprache (2012) oder Simone Forti: Thinking with the Body (2014) bis hin zu Ausstellungen, die mittels einer Reflexion der Institution den Begriff und das Konzept des Choreographischen über eine Auseinandersetzung mit diesem anderen Dispositiv zu erweitern suchen wie Xavier Le Roys Retrospective, Tino Sehgals Werkschauen oder Boris Charmatzʼ Musée de la danse. All diesen ‚choreographischen Ausstellungen‘ oder ‚ausgestellten Choreographien‘ liegen unterschiedliche institutionelle oder künstlerische Ausgangsfragen zugrunde.1 1

Von Seiten der Institutionen und Kuratoren besteht ein anderes Interesse hinsichtlich der Vermittlung, der Diskursivierung und der ökonomischen Bedingungen als von Choreograph_innen, die damit den Begriff und das Konzept des

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Ich möchte in diesem Beitrag eine Facette beleuchten, die bislang auch im Schreiben über dieses aktuelle Phänomen zumeist vernachlässigt wird. 2 So werde ich untersuchen, wie durch den Tanz Displaystrategien der Ausstellung unterminiert und Verschiebungen oder displacements in diesem komplexen Gefüge von Choreographie, Aufführung und Ausstellung generiert werden. Diese Verschiebungen und displacements sind – so meine These – aufs Engste mit dem ‚Vermögen des Körpers‘ verknüpft. Wie werden durch choreographische Verfahren und tänzerische Techniken Aspekte einer ‚materiellen Praxis‘ zum Erscheinen gebracht und inwiefern eröffnen sie bestimmte Handlungszusammenhänge einer ‚relationalen‘ Ästhetik, die jedoch jenseits der Definitionen von Nicholas Bourriaud3 zu bestimmen wäre? Die ‚postmedialen‘ Kunstformen, die sich mit den Entgrenzungen der Künste seit den 1960ern entlang neuer Genres wie Environment und Land Art, Happening und Performance, sowie orts-spezifischen Interventionen und Installationen herausgebildet haben, sind – legt man die Definition von Rosalind Krauss zugrunde4 – zumeist einem institutionskritischen Interesse verpflichtet und damit einem konzeptuellen Ansatz verbunden, der sich im Tanz in den 1960ern und erneut seit den 90er Jahren äußert. Die benannten neueren choreographischen Phänomene, welche sich im Ausstellungskon-

Choreographischen auf seine Tragfähigkeit in anderen Kontexten hin überprüfen wollen, wie beispielsweise William Forsythe mit seinen „choreographic objects“. 2

Inwiefern das Schreiben über Tanz im Ausstellungskontext sich auch dadurch verändert, dass es zu einem großen Teil inzwischen von Kunsthistoriker_innen bzw. Kurator_innen wie Catherine Wood, Carrie Lambert-Beatty, Jenn Joy geleistet wird, wäre gesondert zu untersuchen. Eine entscheidende Perspektive – die präzise Bewegungsanalyse – geht hierbei zumeist verloren, da der Blick der Kunstkritik für gewöhnlich andere Herangehensweisen und Betrachtungsweisen erfordert. Zugleich jedoch wäre dies ein Plädoyer für eine methodische Interdisziplinarität.

3

Bourriaud, Nicholas: Esthétique relationelle, Dijon: Les presses du réel 2001.

4

Krauss, Rosalind: „A Voyage on the North Sea“ – Broodthaers, das Postmediale, Berlin/Zürich: diaphanes 2008. (engl.: „A Voyage on the North Sea. Art in the Age of the Post-Medium-Condition“, London/New York: Thames & Hudson 1999).

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text zwischen Performance, Installation und Intervention bewegen, werden innerhalb dieses Rahmens erneut auf ihre Grenzen hin befragt. In den Übertragungen zwischen den Kunstfeldern zielen sie vielfach darauf, den Begriff des Choreographischen selbst zu erweitern und stellen damit auch die jeweiligen Dispositive der Ausstellung bzw. Aufführung zur Neuverhandlung. Betrachtet man Choreographie als Verfahren der Anordnung in ihrem doppelten Sinne5, d. h. zum einen als Anordnung im Sinne einer (oft notationell verfassten) Anweisung, Regel oder Instruktion, wie sie traditionell6 und erneut vor allem seit den 1960ern mit den Umbrüchen des postmodernen Tanzes verwendet werden, und zum anderen als raum-zeitliche Anordnung, wie sie sich aus diesen Vor-Schriften ergibt, so stellt sich die Frage, was in den Prozessen der Übertragung zwischen Präskript und Aus-/ Aufführung jeweils hinzukommt bzw. verloren geht, bzw. was zur Erscheinung gebracht wird oder verborgen bleibt. Zwischen konzeptueller Instruktion und deren Interpretation wurde ähnlich wie in den bildenden Künsten der 1960er, nicht nur infolge einer zeitlichen Nachordnung vielfach der Primat des Geistigen angenommen; „choreography as art of command“ erhielt die negative Konnotation einer disziplinierenden Regulierung.7

5

Siehe dazu die Forschungsergebnisse des Teilprojekts „Topographien des Flüchtigen – Choreographie als Verfahren der Anordnung“, das im Rahmen des DFG-Sonderforschungsbereichs „Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste“ von 2011-14 bearbeitet wurde, insbesondere den Band Butte, Maren/McGovern, Fiona/Rafael, Marie-France/Schafaff, Jörn (Hg.): Assign & Arrange. Methodologies of Presentation in Art and Dance, Berlin: Sternberg Press 2014.

6

Hier sei nur kurz auf die frühen Tanzschriften von Thoinot Arbeau (Orchésographie – 1589) und Raoul Auger Feuillet (Chorégraphie – 1700) verwiesen; siehe dazu den Eintrag von Gabriele Brandstetter: „Choreographie“, in: Erika Fischer-Lichte/ Doris Kolesch/ Matthias Warstat (Hg.), Metzler Lexikon der Theatertheorie, Stuttgart/Weimar: Metzler 2005, S. 52-55.

7

Ebd. Historisch trugen diese Tanzschriften zur Erziehung des Hofmannes bei. Gabriele Brandstetter verweist in diesem Kontext auf die Tanz-Handbücher, die an den europäischen Höfen zirkulierten und standesgemäßes Benehmen und Haltung vermitteln sollten. Als Instrument formuliert nach den Regeln der Rhe-

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In diesem Feld – zwischen Vor-schrift und räumlicher Anordnung lassen sich nicht nur choreographische Arbeiten, sondern auch die Ansätze des Ausstellens bzw. des Kuratorischen diskutieren, sind sie doch jeweils durch Aspekte der „Erziehung“ zur Rezeption gekennzeichnet, auch wenn sie mittels unterschiedlicher Verfahren und Zeitregime operieren. Auf den ersten Blick scheinen sie gegensätzlichen Logiken zu folgen: Tanz als flüchtige Kunstform, die Fragen nach Prozesshaftigkeit, Dauer und kinästhetischer Erfahrung adressiert, während das Museum das Sammeln, Archivieren, Klassifizieren und Arrangieren von vorgeblich statischen Objekten zum Ziel hat. Gerahmt durch das Medium der Aufführung – durch Medien des Darstellens und des Zeigens, die sich von den medialen Display-Strategien der Ausstellungskünste unterscheiden8 – spielen in der zunehmenden Entgrenzung der Künste jedoch auch Tanz und post-dramatisches Theater mit Stasis und Objekthaftigkeit, die traditionell wiederum eher dem Museum zugeordnet sind.9 Zwischen den Dispositiven Ausstellung und Aufführung ergeben sich somit Überlappungen in den jeweiligen Methoden der Präsentation und der Adressierung eines Publikums, wobei insbesondere die Verfahren der Choreographie sowie die architektonischen Rahmungen eine wesentliche Rolle in der Gestaltung von Display und Situation spielen. Das Display als Medium, das in seiner funktionalen wie ästhetischen Form der Sichtbarmachung das Zeigen selbst wiederum ausstellt und reflektiert, 10 definiert die Beziehungen zwischen Macht, Wissen und einer möglichen

torik sozialer Regulierung und der Erziehung üben sie ein in Takt und Ordnung, so z.B. bei Domenico da Piacenza der Aspekt der maniera: der Stilisierung der Bewegung, sowie die Gehobenheit der Bewegung: G. Brandstetter: „Choreographie“, in: Fischer-Lichte/Kolesch/Warstat (Hg.), Metzler Lexikon der Theatertheorie (2005), S.53. 8

Hantelmann, Dorothea von: Notizen zur Ausstellung, documenta 13, 100 Notizen – 100 Gedanken, Ostfoldern: Hatje-Cantz 2012.

9

Vgl. neben Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater, Frankfurt am Main: Verlag der Autoren 1999, u.a. Eiermann, André: Postspektakuläres Theater. Die Alterität der Aufführung und die Entgrenzung der Künste, Bielefeld: transcript 2009.

10 McGovern, Fiona: „Display“, in: Jörn Schafaff/Nina Schallenberg u.a. (Hg.), Kunst – Begriffe der Gegenwart, Köln: Walter König 2013, S. 43-47.

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ästhetischen Erfahrung. Als ein „Geflecht künstlerischer Verfahren und Strategien, das über die Verortung und Effekte von Displays innerhalb von Ausstellungen hinaus die Akte künstlerischer Darbietung, die dafür eingesetzten Mittel und die durch sie hervorgerufenen Wirkungen und ihre jeweiligen diskursiven Kontexte in Stellung zueinander bring(t)“ 11 sind jene im Rahmen des Museums platzierten Installationen oder Interventionen Instrumente der Sichtbarmachung und an den Prozessen von Institutionskritik und Displacement von jeher beteiligt. Die Neu-Konstellationen, welche durch kuratorisches Handeln generiert werden, fallen mit der ‚Choreographie der Ausstellung‘ zusammen, und lassen so jene ephemeren Architekturen oder ‚Bühnen des Wissens‘ entstehen, die jedoch stets nur relativ stabil sind. Doch was passiert, wenn die traditionellen Medien des Zeigens, der Präsentation, wie wir sie von den jeweiligen Dispositiven der Ausstellung oder der Aufführung her gewohnt sind, und dementsprechend bestimmte Erwartungen mit ihnen verknüpfen – was passiert, wenn diese enttäuscht oder verschoben werden? Wie greifen die Praktiken und Verfahren des jeweiligen Dispositivs ein in den Prozess der Bedeutungsgenerierung bzw. der Erfahrungsgestaltung?12 Im Falle des aktuellen Phänomens, Tanz im Museum auszustellen, betrifft dies neben den Choreographien des Raumes vor allem auch die Rolle des Körpers und der Körpertechniken: Was verändert sich, wenn das Aus-

11 Bismarck, Beatrice von: „Display/Displacement. Zur Politik des Präsentierens“, in: Jennifer John/Dorothee Richter/Sigrid Schade (Hg.), Re-Visionen des Displays. Ausstellungs-Szenarien, ihre Lektüren und ihr Publikum, Zürich: JRP Ringier 2008, S. 69-82, hier S. 71. 12 Mit dem Begriff der Erfahrungsgestaltung beziehe ich mich direkt auf Bätschmann, Oskar: Ausstellungskünstler: Kult und Karriere im modernen Kunstsystem, Köln: Dumont 1997 und Umathum, Sandra: „Der Museumsbesucher als Erfahrungsgestalter“, in: Karin Gludovatz/Dorothea von Hantelmann/Michael Lüthy/Bernhard Schieder (Hg.), Kunsthandeln, Berlin/Zürich: diaphanes 2010, S. 59-72, aber auch zahlreiche Publikationen, die in den vergangenen Jahren zum Thema partizipativer Kunstformen erschienen sind und diesen Begriff aufnehmen, so z.B. Klonk, Charlotte: Spaces of Experience. Art Gallery Interiors from 1800-2000, New Haven: Yale University Press 2009.

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stellungsobjekt durch bewegte Körper ersetzt wird, lautet die Frage, die sich z.B. Xavier Le Roy hinsichtlich seiner Rétrospective stellt.13 Ebenso wie bestimmte Praktiken und je spezifische Tanztechniken bzw. choreographische Verfahren mit daran beteiligt sind, was wie sichtbar oder anderweitig erfahrbar wird, was zur Erscheinung kommt, was sich wie zeigt, so ist das Theater ein Ort des Sehens und Gesehen-Werdens, und immer spielt es auch mit dem Wechsel zwischen Zeigen und Verbergen.14 Der Vorhang, die Kulissen, die Beleuchtung sowie verschiedenste Techniken sind Werkzeuge dieses Spiels – auf der Ebene des Museums sind es Displaystrategien wie die Auswahl und Konstellierung – die Hängung, die Raumgestaltung und Beleuchtung, die Nomenklatur usw., die ein dynamisches Beziehungsgefüge der einzelnen Werkaspekte eröffnen oder eben nicht.15 Doch der Aspekt des Verbergens tritt hier weniger offen zutage, ist die Art und Weise der Präsentation doch traditionell eher darauf angelegt, die Auslassungen gerade nicht sichtbar werden zu lassen. Im Museum wie im Theater, das seine etymologische Verwandtschaft zur theoria als einem Sehen auf Distanz selbst in aktuellen, auf Partizipation angelegten Präsentationsformen nur selten ganz aufgibt, scheint die Privilegierung des Visuellen offenkundig.16 Als disziplinäre und disziplinierende Werkzeuge wirken jene Blickregime und die ihnen inhärente Performanz der (Selbst-) Kontrolle im Sinne einer pädagogischen Funktion an der Erziehung des Bürgers, die sich entlang der spezifischen Rituale beider Dispositive entfaltet.17

13 Cvejic, Bojana (Hg.): „Rétrospective“ by Xavier Le Roy, Dijon: les presses du réel 2014. 14 Weber, Samuel: Theatricality as Medium, New York: Fordham University Press 2004, S. 3f und 6f. 15 Zu unterscheiden ist dabei grundsätzlich zwischen verschiedenen Typen von Ausstellungskontexten – dem Galerieraum bzw. dem Museum und ihren jeweiligen Kontexten, ob institutionskritischer Hintergrund, ob Projekt oder Verkaufsgalerie, archivarisches oder Sammler-Interesse usw. 16 S. Weber: Theatricality as Medium, S. 3. 17 Vgl. Bennett, Tony: „Der bürgerliche Blick. Das Museum und die Organisation des Sehens“, in: Dorothea von Hantelmann/Carolin Meister (Hg.), Die Ausstellung. Politik eines Rituals, Berlin/Zürich: diaphanes 2010, S. 47–77.

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B ORIS C HARMATZ : M USÉE

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DE LA DANSE :

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E XPO ZÉRO

Das grell grüne Plakat zeigt einen Grundriss – einen noch leeren – zu füllenden Raum – es könnte der Grundriss der Wohnung sein, in die das Musée de la danse geladen hat.18 Zugleich ist es aber vielleicht auch Notation und Präskript noch bevorstehender Handlungen – Grundriss und damit Entwurfszeichnung, eine Planung des Unvorhersehbaren, die dennoch einen ganz bestimmten Rahmen vorgibt. Was schreibt dieser Plan vor, welche Raumwege eröffnet er, welche verhindert er, welche „Choreographien“ – betrachtet man den Begriff im etymologischen Sinne eines Raumschreibens – entwirft er? Gleich nachdem ich diese großzügig geschnittene Wohnung im Stadtteil Schöneberg betreten habe und Rabih Mroué mich und die anderen Besucher mit Handschlag begrüßt hat, treffe ich im ersten Raum auf eine Workshop-Situation: Shelley Senter, ehemalige Tänzerin bei Trisha Brown, eine der Ikonen des Postmodernen Tanzes der Judson Church – versucht Claire Bishop, Kunsthistorikerin und Kritikerin der relational aesthetics und der Partizipationsästhetik, die einzelnen Bewegungssequenzen von Trisha Browns Choreographie Primary Group Accumulation (1973) beizubringen. Beide liegen am Boden, wie es die Choreographie, die es in mehreren Variationen gibt, vorschreibt. Primary Group Accumulation war das dritte Stück, das Brown nach dem mathematischen Prinzip der Reihung und Addition: A-AB-ABC-ABCD usw. strukturierte. Die einzelnen Bewegungselemente – vor allem einfache, minimale Bewegungen, wie leichte Rotationen und Beugungen der Gelenke, die jedoch keinesfalls direkt Alltagsbewegungen entsprachen – wurden von den Tänzern synchron ausgeführt, und so einfach und leicht diese auch aussahen, so schwierig erweist es sich, die Spannung zwischen der mathematischen Struktur der nicht virtuosen Bewegung und deren Interpretation in ihrer notwendigen Exaktheit und in der Synchronisierung mit den anderen umzusetzen. Eine Ver-

18 In dieser Wohnung befinden sich seit 2010 die Kunstsaele, die als Ausstellungsraum der Sammlungen Bergmeier und Oehmen genutzt werden. Sie teilen diese Räumlichkeiten mit der Galerie Aanant & Zoo und dem Salon Populaire. Das Musée de la danse war dort im Rahmen der Berliner Festspiele Foreign Affairs 2014 zu Gast.

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handlung zwischen „geometric order and corporeal imprecision“19, denn Trisha Brown war in den Accumulation Pieces vor allem an der imprecision, an den minimalen, individuellen Abweichungen interessiert. 20 Ich lege mich dazu: nicht in eine Reihe – wie es damals die Anordnung im Sinne minimalistischer Ästhetik ähnlich den einzelnen Kuben von Morris oder Judd vorsah, um Aspekte der Wiederholung und des Seriellen deutlich zu machen – sondern so, dass ich Shelley Senter sehen kann, was jedoch beim Lernen der einzelnen, relativ einfachen Bewegungen nicht allein eine Rolle spielt, geht es doch vor allem darum, die einzelnen Teile in der richtigen Reihenfolge zu memorieren, dem additiven Schema A, AB, ABC, ABCD gemäß, was sie vor allem über ihre kurzen Ansagen vermittelt. Gleichzeitig ihren Worten und meinem Körper lauschend, komme ich in eine konzentrierte Haltung und frage mich: Wie lerne ich, wie lernt mein Körper, wie lernt er sich zu erinnern? Wie verhält er sich zu den anderen Körpern neben mir? Und auf welcher Ebene finden die Prozesse der Synchronisierung statt? Trägt diese wiederum bei zu einem einfacheren Lernen? Wie sind die repetitive Struktur des Stücks und die Wiederholung des Übens aufeinander bezogen? Welche spezifischen Fähigkeiten oder besser Fertigkeiten sind erforderlich, welches Training hilft die Bewegungen adäquat auszuführen? Nicht umsonst stehen gerade Trisha Browns Arbeiten für eine hohe kinästhetische Elaboriertheit, doch anders als bei Lucinda Childs präzisen, mit der Stoppuhr trainierten Choreographien, steht die minimale Abweichung und damit die Individualität des Tänzerkörpers im Vordergrund. Voraussetzung dafür ist eine überaus hohe Sensibilisierung für die Synchronisierungen mit den anderen Tänzern – also nichts, was einfach in wenigen Minuten zu lernen wäre. Als Brown die Stücke entwickelte war

19 Vgl. Burt, Ramsay: „Geometric order and corporal imprecision: Trisha Brown´s Group Primary Accumulation (1973)“, in: M. Butte/F. McGovern/M.F. Rafael/J. Schafaff: Assign & Arrange (2014), S. 73-88, hier: S. 79. 20 In diesem Kontext wäre auch auf die ursprüngliche Fassung von Yvonne Rainers Trio A als Trio zu verweisen (nicht jene von 1978, die uns heute als Video so bekannt ist). In der Ausführung von Rainer, Steve Paxton und David Gordon werden ebenfalls jene Abweichungen, die sich abhängig von Körpergröße, Länge der Extremitäten u. a. ergeben, sichtbar.

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sie gemeinsam mit Elaine Summer, ebenfalls Mitglied der Judson Church, in Studien über „kinetic awareness“ vertieft.21 All dies geht mir durch den Kopf während ich versuche die einzelnen Bewegungen in der exakten Reihenfolge zu memorieren, sie trotzdem präzise genug auszuführen, dabei den gleichmäßigen Rhythmus beizubehalten und den der anderen nicht zu verlieren. Zudem frage ich mich, was die Individualität der einzelnen PerformerInnen hinsichtlich ihrer jeweiligen Bewegungsqualität ausmacht, denn die Abweichungen werden hier eklatant – und hier wird mir bewusst, dass wir die ganze Zeit über auch Objekte der Beobachtung sind, denn andere Besucher haben sich um uns herum gruppiert oder werfen zumindest im Vorbeigehen einen Blick auf uns. Dieses Bewusstsein für das Ausgestellt-Sein – „Being watched“22, wie es Yvonne Rainer bereits früh reflektiert – erwähnt auch eine der Tänzerinnen im Kontext der damaligen Debatte um die minimalistische Ästhetik von Trisha Browns Arbeiten: dass die Performerinnen während der Aufführungen scheinbar zu Objekten wurden.23 Nachdem die Stücke zuerst in den Galerieräumen befreundeter Künstler aufgeführt wurden, führte Trisha Browns Interesse an den Erkundungen der Möglichkeiten des öffentlichen Stadtraumes dazu, einzelne Arbeiten, u.a. auch Primary Group Accumulation im Central Park bzw. auf Flößen im Hudson River aufzuführen und so ein ganz anderes Publikum zu adressieren. Dann ist unsere gemeinsame Übung vorbei. Um die Selbstbezogenheit und die konzentrierte, nach innen gewendete Stimmung der Situation aufzulösen, lädt uns Claire Bishop zu einer Diskussion über die gemachten Erfahrungen und die historische Verortung des Stücks ein. Nach ein paar Minuten gehe ich weiter. Im nächsten Raum inszenieren Meg Stuart und Boris Charmatz ein anderes Spiel mit der Erinnerung: „Do you remember this movement?“ könnte das Spiel diesmal heißen, bei dem Stuart oder Charmatz je einzelne Bewegungssequenzen aus bekannten Choreographien – oder aber aus dem Alltagskontext zitieren und dabei entweder den jeweils anderen, oder aber

21 R. Burt: Geometric order and corporal imprecision, S. 79. 22 So der Titel der Monographie von Carrie Lambert-Beatty über Yvonne Rainer and the 1960s, Cambridge/ Mass.: The MIT Press 2008. 23 Sylvia Whitman, bildende Künstlerin und damals Tänzerin bei Trisha Brown, Zitat von 1974 in S. Burt: Geometric order and corporal imprecision, S. 79.

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auch die Betrachter involvieren. So erinnern wir uns z. B. an die für Meg Stuarts Stücke charakteristischen Bewegungen des Zitterns, das die Konturen des Körpers verwischt und ähnlich wie in Francis Bacons Gemälden aufzulösen scheint, und groteske „Figuren des Unabgeschlossenen“24 generiert. Diese werden abrupt gebrochen durch die nächste Sequenz, die an das Eng-Tanzen auf Teenager-Partys erinnert – und plötzlich sind alle Besucher aufgefordert auch mit ihnen Unbekannten eng umschlungen zu tanzen. Im nächsten Raum spielt sich ein ähnliches Hin und Her zwischen Meg Stuart und Rabih Mroué ab: Sie demonstrieren sich gegenseitig die Geschichte ihrer Körper. Sie heben den Hautfetzen eines bestimmten Ausschnitts ihres Körpers an, wölben ihn mit den Fingern hervor und sagen: „Berlin – 1997 – Blinddarmoperation“ oder – während er eine Narbe am Oberarm zeigt: „Beirut – 1988 – bomb attack“ oder ganz metaphorisch: „Paris – 1999 – love pain“. So entspinnt sich nach und nach eine ganz persönliche Geschichte der Narben, Wunden und Verletzungen des Körpers; gleichzeitig bleiben diese merkwürdig fern und abstrakt, da sie ohne Emotion und Begleitumstände vorgetragen werden. Wieder einen Raum weiter erzählt Mette Ingvartsen von einem Projekt, das inzwischen unter dem Titel 69 Positions tourte – und entwirft damit einen Parcours durch die Geschichte sexueller Utopien seit den späten 1960ern und wie sie sich in und durch Performances gespiegelt haben. Zufällig oder geplant kommt etwas später David Riff hinzu, Kurator und Mitglied der russischen Künstlerinitiative CHTO DELAT, der diese Geschichte westlicher Befreiungsutopien mit der Geschichte vergleichbarer Performances in der Sowjetunion, genauer im Moskauer Konzeptualismus25 konterkariert. Was aus dieser Gegenüberstellung entsteht, ist ein gemeinsames Nachdenken über gesellschaftliche Utopien und darüber welche Formen von Körperlichkeit wie mit ihnen zusammenhängen. Zwischenfragen und Diskussionen sind jederzeit erwünscht, wiederum stellen

24 Foellmer, Susanne: Am Rand der Körper. Inventuren des Unabgeschlossenen im zeitgenössischen Tanz, Bielefeld: transcript 2009. 25 Der Begriff des Moskauer Konzeptualismus (eigentlich Moskauer Romantischer Konzeptualismus) wurde 1979 von Boris Groys geprägt und bezeichnet eine Vermischung von ironisiertem sowjetischen Kunstverständnis und den Ansätzen westlicher Conceptual Art; die Arbeiten waren jedoch vielfältig vor allem durch Elemente der Body Art gekennzeichnet.

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sich durch diese Interventionen von Seiten des Publikums teilweise bestimmte Situationen erst her. Durch das Erzählen, durch die Imagination, und die verschiedenen Rezeptionsweisen der Besucher_innen werden jeweils ganz unterschiedliche Modi der Erfahrung aufgerufen. So involvieren mich die Situationen, die ich in dieser ehemals bürgerlichen Wohnung erfahre, mal mehr oder weniger, mal eher auf reflexiv-distanzierter, mal auf einer körperlichen, mal auf affektiver Ebene, oder diese verschiedenen Ebenen vermischen sich auf unbestimmbare Art und Weise. Doch um was für Situation handelt es sich hier genau, wenn die Dispositive von Aufführung und Ausstellung, Workshop und Seminar so offensichtlich vermischt werden? Die einzelnen Ereignisse in den Räumen wechseln zwischen erzählten Geschichten, Workshops, Interventionen, Lecture Performances (ohne script) und partizipativen Aktionen, es gibt keine ‚einfachen Aufführungen‘, sondern immer geht es darum etwas umzusetzen, etwas auszuführen, zu vermitteln. Die Möglichkeit zu kommen und zu gehen besteht jederzeit, insofern ist die Situation also durchaus museumsspezifisch, unterscheidet sich jenes Dispositiv doch grundlegend von der festgelegten zeitlichen Vereinbarung des Theaters, das wiederum eine andere Form der Konzentration garantiert, die sich hier jedoch je nach Rahmung ebenfalls einstellt. Während der fünf Stunden, die ich dort verbringe, gibt es kein einziges Objekt oder Requisit. Alles stellt sich zwischen den Körpern der Tänzer_innen und denen der Besucher_innen her. Doch was genau ist es, was sich herstellt? Mittels welcher Verfahren, Praktiken, Techniken, Wahrnehmungen? Welche Potentialität ist diesen improvisatorischen und kollaborativ angelegten Begegnungen eigen? Woher rührt die starke Forderung nach Partizipation? Mit welchem Ziel soll das Publikum, soll der einzelne Besucher involviert werden? Wie wird dieser Ort überhaupt als Museum gekennzeichnet, wenn nicht nur durch die Bezeichnung in der Ankündigung? Der private Charakter der Wohnung, der Gang durch die kleineren und größeren Räume, die fast intimen Situationen sowie die Gespräche mit anderen Besucher_innen scheinen eher in andere Richtungen zu weisen. Der Titel der Veranstaltung und die rahmende Begrüßung am Einlass, das Fortschreiten von Raum zu Raum und deren Blickachsen, die jeweils eine neue Aktion ankündigen, kennzeichnen diesen Ort wiederum als KunstRaum und damit als einen Schutzraum, in dem die Möglichkeit Verhaltensweisen auszuprobieren keine weitreichenden Folgen im Realen nach

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sich zieht. Dennoch überschreite ich von Raum zu Raum Schwellen, die mögliche Transformationen nach sich ziehen könnten.26 Diese Überlegungen und Fragen verschieben sich erneut, wenn wir auf ein anderes Format des Musée de la danse blicken.

D AS M USÉE ALS ÖFFENTLICHER O RT ALS O RT IM ÖFFENTLICHEN R AUM

BZW .

Ein paar Tage zuvor hatten Charmatz und andere Tänzerinnen und Performerinnen vergleichbare Situationen im Treptower Park vor dem sowjetischen Ehrenmal in Szene gesetzt.27 Neben einer partizipativen Lesung aus Texten von Karl Marx war hier Reinhild Hoffmann zu sehen, die direkt vor dem Hintergrund eines sowjetischen Denkmals einen Ausschnitt aus Heiner Müllers Horatier choreographierte, eine Tänzerin, die Charlie Chaplins Modern Times mit Pavlovas Sterbendem Schwan und russischen Volkstänzen in neue Zusammenhänge setzte, Janez Janša, der den Ursprüngen der „kommunistischen Kontakt-Improvisation“ nachging, Vogueing-Lessons, aber auch Lieder und weitere Re-enactments von Oskar Schlemmer über Merce Cunningham bis hin zum afrikanischen Tanz oder zu Michael Jackson. All diese Performances verwandelten im Kontext von De/ Kolonisierungsgeschichte/n den historischen Ort und Erholungspark in einen Erinnerungsort, der sich mit jedem Stück (bzw. Ausschnitt) durch Kontextualisierungsprozesse, in die wie selbstverständlich auch zufällige Passanten eingebunden werden, neu entfaltet. Je unterschiedlich wird der jeweilige Bezug durch die Tänzer_innen hergestellt. Zwischen der Monumentalität des Ehrenmals und den Sichtachsen des umgebenden weiten Feldes werden Situationen geschaffen, die jedoch hier anders gerahmt sind 26 Vgl. Fischer-Lichte, Erika: „Ästhetische Erfahrung als Schwellenerfahrung“, in: Joachim Küpper/Christoph Menke (Hg.), Dimensionen ästhetischer Erfahrung, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003, S. 138-161. 27 Hier unter dem Titel 20 Dancers for the XX Century, angelehnt an Tino Sehgals Stück 20 Minutes for the XX Century, in dem Charmatz sowie Andrew Hartridge und Frank Willens 20 signifikante Choreographien des 20. Jahrhunderts tanzen, gezeigt im Hebbel am Ufer HAU im Rahmen des Festivals Tanz im August 2014.

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als in der Wohnung, eher betonen sie die chorischen Elemente ritueller Gemeinschaftlichkeit und die dem theatron eigene Qualität als Ort der Verhandlung von Öffentlichkeit.28 Vor diesem ambivalenten Ort mit historischen Denkmälern und Bezügen, der auch als Soldatenfriedhof diente, Körpergesten zu performen, setzt diese in ein spannungsreiches und geschichtsträchtig aufgeladenes Verhältnis zu den expressiven Posen der monumentalen Skulptur. Auf andere Art und Weise stellt sich hier die Frage, ob eine Dichotomisierung von Bewahrung und Flüchtigem überhaupt Sinn ergibt, wie es Charmatz auch in seinem Manifest formuliert.29 Die Spannung zwischen dem musealen Archiv und der ephemeren Kunstform des Tanzes wird zwischen dem Bewahren und den Aktualisierungen durch die Aufführungen, durch die Weitergabe und das Erlernen, Erinnern und Wieder-holen, in Bewegung gehalten.

D AS M ANIFEST 2009, zur Eröffnung des Musée des la danse in Rennes bzw. der Überführung des „Centre Chorégraphique National“ CNN in eben jenes Musée formulierte Charmatz seine Vorstellung davon ganz im Stil der frühen Avantgarden in einem Manifest. Hier beschrieb er „how a museum can be

28 Vgl. dazu Schwarte, Ludger: Philosophie der Architektur, München: Fink 2009, S. 149ff. 29 Ergänzend hatte das im Rahmen der Berliner Festspiele stattfindende Festival Foreign Affairs auch noch ein früheres Stück Aat enen tionon und eine aktuelle Produktion Levée des conflits von Charmatz programmiert, sowie ein Symposium, das der Frage nachging: „How to dance with Art – on the interference of time-based arts and art spaces“ und vereinte somit verschiedene Formate, die Charmatz auch in seinem Musée in Rennes einbezieht und so die Frage der Institution/Institutionalisierung jenseits einer einfachen Kritik konstruktiv neu verhandelt indem er fragt, inwiefern die jeweiligen Kunstformen und ihre Verfahren wie Methoden sich gegenseitig bereichern können, welche Besonderheit den jeweiligen Präsentations- und Denkformen eigen ist, und was sich in den Übertragungsbewegungen zwischen ihnen ereignet. http://www.museedela danse.org/system/article/attachments/documents/593/original_manifesto-danc ing-museum100401.pdf?1512057026 vom 15. August 2018.

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alive and inhabited“30 – es sollte ein Mikromuseum sein, das Austauschprozesse zwischen den Funktionen des Konservierens, der Kreation, des Forschens und Ausstellens, des Einwerbens von Geldern, der Vermittlung verbindet, ein Museum der Künstler, das Forscher, Sammler, Kuratoren zusammenbringt, ein Museum der kooperativen Vernetzung mit regionalen und globalen Institutionen. Ein exzentrisches Museum, das nicht etwa Taxonomien des Tanzes festschreiben, sondern eher als Einführung in verschiedene Praktiken verstanden werden will. Ein verkörperndes bzw. verkörpertes Museum, „built by the bodies, who move through it“. 31 Ein provokatives Museum, das durch und durch zeitgenössisch sein soll (wenn man Zeitgenossenschaft in historischen Bezügen denkt). Ein transgressives Museum, dem es nicht um die Bewahrung und den Erhalt von staubigen „Originalen“ geht, sondern das sich „der Kunst des Plagiats verschreibt“ 32, des Weiterschreibens von Traditionen. Ein „durchlässiges Museum“ 33, das sich durch eine grundsätzliche Offenheit, und damit der Ermöglichung von Öffentlichkeit auszeichnet. Ein Museum, das auf komplexe Art und Weise unterschiedliche Zeitlichkeiten verbindet, das ephemer und beständig zugleich ist, neue Genealogien eröffnet, das experimentell und bewahrend, aktiv und reaktiv und mobil ist und schließlich ein „musée immediate“ – ein unmittelbares Museum – „(which) exists as soon as the first gesture has been performed“.34 Mit dem Manifest wandte sich Charmatz gegen jene drei Parameter, die bis dahin choreographische Arbeit in Frankreich institutionalisierten. So sollte das Musée nicht national, sondern regional und global agieren.35 Mit der Abschaffung des Centre richtet er sich zum einen gegen die französische Zentralisierungspolitik, die auch in den regionalen Centres immer noch durchschimmert und setzt diese in einen analogen Bezug zum Tänzerkörper, für den die Frage nach einem Zentrum im 20. Jahrhundert längt obsolet geworden sei. Dezentralisierung wird hier als Strategie begriffen,

31 Ebd. 32 Ebd. 33 Ebd. 34 Ebd. Diese „Unmittelbarkeit“ wäre auf den ersten Blick als ein überhöhtes Authentizitätsdenken des Tanzes zu kritisieren. 35 Ebd.

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die sowohl die Organisation der Körper als auch der Institutionen betrifft. Und schließlich geht es ihm auch und vor allem darum, den Begriff des Choreographischen zu eliminieren. „This is why one can also erase the word ,choreographic‘, in order to approach it from a different angle. Dance certainly includes a properly choreographic dimension, but it also happily overflows beyond this framework. Dance is much broader than what is simply choreographic“.36

Mit seinen Aussagen lässt sich weitergehend darüber spekulieren, wie die Materialität der tänzerischen Praktiken die binäre Geist-Körper-Logik ebenso wie die Hierarchie zwischen Konzept und Ausführung herausfordert und stattdessen ein reziprokes Verhältnis zwischen Tanz und Choreographie etablieren kann.

Z IRKULATIONEN DES K UNSTMARKTS – W HAT A BODY CAN DO ?

ODER :

Was bedeutet es nun, diese/n Körper als oder vielmehr anstelle von Objekt/en auszustellen? Dies ist die Frage, die sich neben Charmatz auch andere Choreographen wie Xavier Le Roy oder Tino Sehgal stellen: Was geschieht, wenn der bewegliche Tänzerkörper den Körper der Skulptur oder des un-beweglichen Kunst-Objekts ersetzt? Oft fallen in diesem Zusammenhang Stichworte wie Ko-Präsenz, Unmittelbarkeit, Authentizität und Nicht-Kommodifizierbarkeit, doch sind sie keinesfalls hinreichend zur Analyse. Denn während durch den Apparat des Museums das bloße ‚Ding‘ zu einem autonomen Werk, und von einer Sphäre der Nutzung und des Gebrauchs zu jener der Produktion von Bedeutung und Subjektivität erhoben wird, werden zugleich die Kategorie des Produkts oder der Ware in der Konzeption des Kunstwerks gespiegelt37; die Nähe zur Warenwelt verschafft den Kunstobjekten im Rahmen des Museums einen ambivalenten 36 Ebd. 37 Von Hantelmann, Dorothea/Meister, Carolin: „Einleitung“, in dies.: Die Ausstellung (2010), S. 7-18, hier S. 14f.

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Charakter zwischen Verdinglichung und Fetischisierung und mündet schließlich in eine Zirkulation, in die neben der Kunst und ihren Objekte auch ihre Diskurse miteinbezogen sind. Wenn nun der Körper zum Ausstellungsobjekt wird, welche Funktion erfüllt er in diesem Szenario? Was verschiebt sich durch seine ‚Präsenz‘? Welche Parameter des Displays, der Rhetoriken des Zeigens, der Medialität des Museums werden dadurch in Frage gestellt? Wird er tatsächlich zum ‚Objekt‘ der Betrachtung? Tritt er ein in eben jene Zirkulation des Kunstmarkts und wenn ja auf welche Weise verändert er diese? Rosalind Krauss’ Aufsatz zur „kulturell(n) Logik des spätkapitalistischen Museums“38 reflektiert die im Zuge einer Ökonomisierung der Kultur veränderten kuratorischen Bedingungen, die sich angesichts einer Wendung vom enzyklopädischen oder diachronen – auf narrativen Zusammenhängen beruhenden – Museum zur Synchronizität von Erfahrungsintensitäten ergeben. Diese Veränderungen brächten eine fragmentierte, verdinglichte Subjektivität hervor, die neben der geschichtlichen Verortung und der narrativen Einbettung in diskursive Zusammenhänge auch die Haltung kritischer Reflexivität einbüße. Als Ausgangspunkt dieser Entwicklung hebt sie das „Paradox des Minimalismus“ hervor. Die radikal räumliche Erfahrung und die Körperperspektive waren eng gebunden an die seriellen, reproduktiven Verfahren und die Einbeziehung industrieller Materialien. Diese veränderten die Struktur des Originals und etablierten eine „culture of the copy“. Doch die einst revolutionäre Idee des Gebrauchs von Technologien der Massenproduktion in der Kunst, welche die Rolle des Autors unterminieren sollte, wurde invertiert. Die „multiples without original“ seien inzwischen zum bloßen architektonischen Effekt spektakulärer Inszenierungen und zur „mass commodity production“ in der Kunst verkommen.39

38 Krauss, Rosalind: „The Logic of the Late Capitalist Museum“, in: October 54 (1990), S. 3-17. Diese Kritik wird auch von Hal Foster, einem jüngeren Kunstkritiker im Kreis des einflussreichen October-Magazines, immer wieder geäußert. 39 Es wäre an dieser Stelle spannend, würde aber hier zu weit führen, diese Entwicklungen mit den Überlegungen Rainers und Browns zum „minimalistischen“

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Dieser Wandel von einem Modell der Geschichte zu einem der simultanen Erfahrungen von Räumlichkeit und Atmosphäre betrifft insbesondere auch die Frage, wie sich die transitorischen Kunstformen mit ihren Implikationen von Prozesshaftigkeit, Dauer und flüchtiger, kinästhetischer Erfahrung zum Museum als Ort des Bewahrens einer eher statischen ‚Ordnung der Dinge‘ verhalten. Die positive Hinwendung der Museumsinstitutionen zu den ephemeren Kunstformen ist sicher auch vor dem Hintergrund der von Lucy Lippard und John Chandler 1969 angesichts der aufkommenden Konzeptkunst diagnostizierten „dematerialization of the art object“ zu lesen, die durchaus die Zunahme von Performance-Kunst mit einschloss40: „[...] Ultraconceptual art that emphazises the thinking process almost exclusively [...] provoking a profound dematerialization of art especially of art as object [...] which becomes almost obsolete.“41 Hier mag jedoch aus kunsthistorischer Perspektive das Missverständnis vorliegen, dass weder jene „aesthetics of administration“ (Buchloh), wie sie die Conceptual Art kennzeichnete, noch eben jene ephemeren Künste tatsächlich derart immateriell sind, denn durchaus materialisieren sich in diesen Prozessen bestimmte Techniken und Praktiken. Vielmehr unterstützt das Argument einer positiven Bewertung von Tanz als flüchtiger Kunst performancetheoretische Ansätze der liveness und Präsenz, wie sie z. B. bei Peggy Phelan formuliert werden. 42 Zu fragen wäre danach, inwiefern gerade diese flüchtigen Ereignisse eine Vermarktung von „authentischen“, angeblich nicht-reproduzierbaren, dematerialisierten Kunstformen befördern. Eher ließe sich angesichts der Veränderung der Produktionsverfahren im Rahmen einer post-fordistischen Gesellschaft seit den 1960ern mit Maurizo Lazzarato von „immaterieller Arbeit“ sprechen. Damit wäre die

Tanz und deren Erfahrungsdimensionen jenseits von „Theatricality and Spectacle“ herauszuarbeiten. 40 Lippard, Lucy/Chandler, John: „The Dematerialization of the Art Object“, in: Alexander Alberro/Blake Stimson (Hg.), Conceptual Art. A Critical Anthology, Cambridge: MIT Press 1999, S.46-50. 41 Ebd. und weiter: „Such a work is a medium rather than an end in itself or art-asart.“ 42 Phelan, Peggy: Unmarked: The Politics of Performance, London/New York: Routledge 1993.

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Bedeutung von Performance vor allem in den ihr zugrunde liegenden veränderten Strukturen künstlerischer Produktion zu verorten, die v.a. Aspekte des Kuratorischen betreffen, die wiederum ihre Wurzeln in den 1960er Jahren haben, „when artists as Bruce Nauman, Dan Graham or Robert Morris first introduced practices of selecting, assembling, arranging, contextualizing and presenting into their art“.43 Jene Arbeiten etablierten Relationen nicht nur zwischen den Objekten sondern auch zwischen den Besuchern, Orten und Kontexten. Jedoch erfordern diese Prozesse andere hauptsächlich konzeptuelle Fähigkeiten, welche dem Feld der Dienstleistungen entstammen und Management, Organisation, Veröffentlichungssowie Vermittlungsstrategien umfassen und darüber auch den Diskurs der Kunstproduktion wesentlich bestimmen. Als solche Tätigkeiten, die soziale und Selbsttechnologie in genuiner Weise verbinden, tragen sie zu einer wachsenden Prekarisierung des Feldes bei. Indem intellektuelle, handwerkliche und unternehmerische Fertigkeiten gleichermaßen erforderlich werden, verschwimmen die Grenzen zwischen Konzeption und Ausführung. Mit der Einbeziehung des gesamten Subjekts in den Prozess der Wertsteigerung werden Grenzen zwischen Freizeit und Arbeitszeit, zwischen Leben und Arbeit zunehmend ununterscheidbar. Der Zwang zur kreativen Selbstverwirklichung verändert insofern auch die Modelle der Kunstproduktion und ihrer Reflektion. Was nun könnte der Körper dem entgegensetzen? Anders als Xavier Le Roy oder Tino Sehgal, die seit den 1990ern oftmals als ‚conceptual choreographers‘ bezeichnet wurden, gilt Charmatz als ein Tänzer und Choreograph, dem die tänzerische Praxis selbst als Ausgangspunkt gilt.44 Der Körper – untrennbar von Worten, Bildern, Ideen und Konzepten – dient ihm weder als Refugium der Authentizität noch als Medium des Ausdrucks oder der symbolischen Überhöhung, sondern vielmehr als Ort der Erkundung, wobei Momente der Desintegration, in denen die Lesbarkeit gestört und Erwartungen enttäuscht werden, stets dazu gehö-

43 Bismarck, Beatrice von: „Relations in Motion: The Curatorial Condition in Visual Art and its Possibilities for the Neighbouring Disciplines“, in: Florian Malzacher (Hg.), Curating Performing Arts, frakcija Performing Arts Journal 55/Sommer (2010), S. 50-57. 44 So Catherine Wood, Kuratorin der London Tate in: Wood, Catherine: „Boris Charmatz. An Architecture of Attention“, in: Afterall Journal 37 autumn/winter (2014), S. 123-132.

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ren. Weniger werden Referentialität und Bedeutung des Körpers betont – obwohl diese Ebene natürlich immer mitspielt, gerade vor dem Hintergrund des sowjetischen Denkmals – als vielmehr die Materialität der Praktiken, die ihn durchziehen, seine Geschichte und Erfahrungen, seine Empfindungen, die zu teilen bzw. mitzuteilen Ziel der jeweiligen Situationen ist. Dabei handelt es sich nie nur um die Materialität eines einzelnen Körpers, denn sie ist – so meine Überlegung – nur in den Verbindungen, die er eingeht, zu spüren. Doch aus was besteht jene Materialität? Denn keinesfalls sind diese zugegebenermaßen flüchtigen Ereignisse als immateriell zu bezeichnen. Es materialisieren sich in diesen Körpern verschiedenste Erfahrungen: Erlernte und jahrelang trainierte Tanz-Techniken, somatische Praktiken, die ein Spüren nach innen und zugleich eine Erweiterung nach außen ermöglichen. Jahrelanges Üben ist erforderlich, um diese Fertigkeiten zu erlangen, die weniger spektakuläre Ergebnisse zeitigen und eine andere Virtuosität als im klassischen Ballett verkörpern. Zahlreiche Momente des Sich- Ausprobierens sind erforderlich, um bestimmte Situationen einzuüben, um Erfahrungen zu ermöglichen, die wiederum ein improvisatorisches Wissen erfordern, auf Situationen des Unvorhersehbaren adäquat zu reagieren. Diese Materialität ist Ergebnis verschiedener Formen des Trainings, das bestimmte Fertigkeiten herausbildet, die sich mit dem jeweiligen Kunstkontext verändern.45 Insbesondere die Scoring-Praktiken, die die Choreograph_innen der Judson Church im Anschluss an John Cage und Anna Halprin ausbildeten46 und die Techniken, die sich im Umgang mit

45 Roberts, John: The Intangibilities of Form: Skill and Deskilling in Art After The Readymade, London: Verso 2007. Darin beschreibt er mit den Begriffen deund re-skilling die Verlagerung und Verschiebung von jeweils erforderlichen Fertigkeiten, wie sie sich seit Duchamp in der bildenden Kunst verschoben haben. Eine vergleichbare Entwicklung ist auch auf dem Gebiet des Tanzes zu beobachten, mit eben jener Herausbildung des sog. conceptual dance, oder bereits mit dem Post Modern Dance der 1960er Jahre, der jenseits von Virtuosität und Ausdruck auf minimale und Alltagsbewegungen sowie auf scoring practices und tasks setzen. 46 Vgl. dazu Maar, Kirsten: „AnOrdnungen im postmodernen Tanz. Zum Umgang mit scores in den Choreographien von Trisha Brown, Yvonne Rainer und Lucinda Childs“, in: Fabian Czolbe/David Magnus (Hg.), Notationen in kreativen Prozessen, Würzburg: Königshausen und Neumann 2015, S.137-161.

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diesen herausbildeten, haben dazu beigetragen das Feld des (zeitgenössischen) Tanzes im Hinblick auf die Hierarchien von Choreographie und Tanz zu differenzieren.47 Diese somatischen Praktiken oder Tanz-Techniken wie die ContactImprovisation sind geeignet, ein Kontinuum zwischen Subjekt und Umgebung herzzustellen, da sie ein gleichzeitiges Nach-Innen-Spüren und NachAußen-Aufmerksam-sein ermöglichen. Dadurch werden Figuren des Unabgeschlossenen produziert, die oft auch mit der Metapher der „Durchlässigkeit“ des Tänzerkörpers beschrieben werden.48 Durchlässigkeit ist dabei als eine Fähigkeit zu verstehen, sich von Kräften affizieren zu lassen, die durch den Körper hindurch gehen und ihn transformieren. Es handelt sich um Erweiterungen des Körpers, die ihn qualifizieren, mit anderen in Austausch zu treten und ein kinästhetisches Vermögen auszubilden49 – auf tanzwissenschaftlicher Ebene wäre dies an Rudolf von Labans Idee des Mitschwingens und an sein Modell der Kinesphäre anzubinden, wie er es bereits zu Beginn des Jahrhunderts entwickelt und später in seiner Choreutik veröffentlicht.50

47 Vgl. Maar, Kirsten: „Artificial Speculations on the Nature of Things. The Choreographic Work of Mette Invartsen and Yvonne Rainer“, unter: http:// reciprocalturn.com/ausgabe/two/artificial-speculations-nature-things-%E2%80 %93-choreographic-work-mette-ingvartsen-and-yvonne. 48 Peeters, Jeroen: Through the Back. Situating Vision between Moving Bodies, Helsinki: Theatre Academy of the University of the Arts Helsinki, Kinesis 5 2014, darin Kap.5: „Bodies as filters. On resistance and the sensorial in the work of Boris Charmatz, Benoit Lachambre and Meg Stuart“, S. 87-115. Jedoch betreffen diese Modi der Affizierung keinesfalls nur eine körperliche Ebene, sondern sind an den Prozessen der Semiotisierung u. a. ebenso beteiligt wie der e-motionalen Berührung. 49 Vgl. Deleuzes Konzeptionen der Affizierung u. a. in Deleuze, Gilles/Guattari, Felix: Was ist Philosophie?, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2000, darin Kap 7: „Perzept, Affekt und Begriff“, S. 191-237. 50 Laban, Rudolf von: Choreutik: Grundlagen der Raumharmonielehre des Tanzes, Wilhelmshaven: Florian Noetzel 1991. Diese Idee ermöglicht es den Körper als ausgedehnt zu erfahren, erweiterbar wäre dieses Denken um die Aspekte des Semiotischen und Symbolischen bei Jean-Luc Nancy, der anders als Laban, bei

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In diesen Vorgängen, in denen die Körper in Austausch mit anderen und ihrer Umgebung treten, sind Körper und Denken untrennbar miteinander verbunden, z.B. in den imaginierten Vorstellungsbildern, die zur Bewegungsgenerierung herangezogen werden.51 Es handelt sich insofern um Körper, die ausgedehnt, mit den Möglichkeiten zur Affizierung gedacht werden. Es ist nicht allein die Materialität des Körpers, sondern eine Materialität, die sich erst in den assemblagen, die der Körper mit anderen Dingen und Milieus, in denen er agiert, entfaltet. Doch gerade in diesen Momenten der Übertragung schleichen sich Momente der Unterbrechung, des Zögerns, oder andere rhythmische Konfigurationen ein, welche die sonst so glatte Organisation des choreographischen Prozesses und seiner Wahrnehmung herausfordern und neue Muster generieren – und die auch die Medialität des Tanzes als Reflexion eines „dazwischen“ ausstellen.52 In diesen wechselnden Konstellationen sind Offenheit und Unbestimmtheit – indeterminacy als Relation zwischen Konzept und Interpretation im Sinne Cages53 – konstitutiver Bestandteil der „volatile bodies“54, als die jene Körper(bilder), die zwischen verschiedensten Zuschreibungen oszillieren und sich verschiedenster Techniken und Praktiken bedienen, auch bezeichnet werden können. Damit sind nicht nur andere Bedeutungszuschreibungen, sondern auch andere Formen der Wissensgenerierung angesprochen.55 Das Wissen des Körpers als knowing how, als implizites Wissen oder tacit knowledge, operiert kontextuell und situativ, keinesfalls ist es jedoch dem rationalen knowing that gegenüberzustellen, denn das

dem es noch um einen Kollektivkörper geht, darüber auch den Gedanken eines Mit-Seins jenseits einer Gemeinschaft formuliert. 51 Dazu Gil, José: „Paradoxical Body“, in: TDR – The Drama Review 50/4 (2006), S. 21-35. 52 Agamben, Giorgio: „Noten zur Geste“, in: Georg-Lauer, Jutta (Hg.), Postmoderne und Politik, Tübingen: edition diskord 1992, S. 97-108. 53 Siehe z.B. Kotz, Liz: „Words to be looked at: Language in 1960s Art“, Cambridge Mass.: The MIT Press 2007, insbes. Kap.2 „Post-Cagean Aesthetics and the Event Score“, S. 59-99. 54 Grosz, Elizabeth: Volatile Bodies. Toward a Corporeal Feminism, Bloomington: Indiana University Press 1994. 55 Huschka, Sabine (Hg.): Wissenskultur Tanz. Historische und zeitgenössische Vermittlungsakte zwischen Praktiken und Diskursen, Bielefeld: transcript 2009.

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implizite Wissen steht nicht außerhalb des Wissens, sondern ist zu seiner Beschreibung unerlässlich.56 Subjektivität wäre demnach nicht allein durch die Akkumulation kognitiven Wissens, sondern vor allem durch Praxis, Intuition und deren Verbindungen zu ersterem auszubilden.57 Die Praktiken des Ausprobierens, des Lernens, Erkundens, Erforschens, Erlebens und Erfahrens sind als propositions zu verstehen: sie eröffnen jenseits des bloß Sichtbaren Verhandlungsräume des score bzw. der Partitur, die über das „partire del terreno“ (da Piacenza, s. Fußnote 7) eine partage und damit eine Teilhabe und Teilnahme vorschlagen, die an jene Bereiche rührt, die zwischen Versprachlichung und Performanz verbleiben und sich nicht in eindeutiger Übersetzbarkeit fassen lassen, die uns als Betrachter in jene Situationen der Unentscheidbarkeit versetzen, die etwas in der Schwebe lassen, und darüber letztlich eine Unverfügbarkeit markieren, die dem Körper in anderen Zusammenhängen inzwischen abhanden gekommen ist. Im Rückgriff auf die im Zuge der Tanz-Ausstellungen viel zitierten Judson-Choreographinnen müsste man insofern auf die Aussagen von Anna bzw. Lawrence Halprin und Simone Forti zurückkommen: „When „everything could be a score“58 – „everything could be a dance“.59 Denn diese Zitate markieren gerade jenes Intervall zwischen Partitur und Interpretation, zwischen Vorschrift und Praxis, in dem das Unvorhersehbare sich ereignen kann.

56 Polanyi, Michel: Implizites Wissen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1985. 57 An dieser Stelle müsste eine Neu-Evaluation der philosophischen Begriffe techné, poiesis und praxis und ihrem Bezug zum Improvisatorischen, Spielerischen und Pädagogischen im Tanz folgen. Sie wäre in ihrem Bezug zu einem Vermögen und ihrer jeweiligen Aktualisierungen zu diskutieren, in ihrem Bezug zum Handeln und Hervorbingen/Entbergen, dessen Bezug zum „Erscheinen und Eröffnen“ hier ebenfalls entscheidend wäre. Eine angemessene Diskussion dieses Feldes führt jedoch an dieser Stelle zu weit. 58 L. Kotz: Words to be looked at, S. 49; siehe dazu auch Halprin, Lawrence: The RSVP Cycles: Creative Processes in the Human Environment, New York: George Braziller 1969. 59 Simone Forti, zitiert aus Archivmaterial der New York Public Library, gesichtet im März 2014.

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L ITERATUR Agamben, Giorgio: „Noten zur Geste“, in: Jutta Georg-Lauer (Hg.), Postmoderne und Politik, Tübingen: edition diskord 1992, S. 97-108. Bätschmann, Oskar: Ausstellungskünstler: Kult und Karriere im modernen Kunstsystem, Köln: Dumont 1997. Bennett, Tony: „Der bürgerliche Blick. Das Museum und die Organisation des Sehens“, in: Dorothea von Hantelmann/Carolin Meister (Hg.), Die Ausstellung. Politik eines Rituals, Berlin/Zürich: diaphanes 2010, S. 47–77. Bismarck, Beatrice von: „Relations in Motion: The Curatorial Condition in Visual Art and its Possibilities for the Neighbouring Disciplines“, in: Florian Malzacher (Hg.), Curating Performing Arts, frakcija Performing Arts Journal 55/Sommer (2010), S. 50-57. Bismarck, Beatrice von: „Display/Displacement. Zur Politik des Präsentierens“, in: Jennifer John/Dorothee Richter/Sigrid Schade (Hg.), ReVisionen des Displays. Ausstellungs-Szenarien, ihre Lektüren und ihr Publikum, Zürich: JRP Ringier 2008, S. 69-82. Bourriaud, Nicholas: Esthétique relationelle, Dijon: Les presses du réel 2001. Brandstetter, Gabriele: „Choreographie“, in: Erika Fischer-Lichte/Doris Kolesch/Matthias Warstat (Hg.), Metzler Lexikon der Theatertheorie, Stuttgart/Weimar: Metzler 2005, S. 52-55. Burt, Ramsay: „Geometric order and corporal imprecision: Trisha Brown´s Group Primary Accumulation (1973)“, in: Maren Butte/Fiona McGovern/Marie-France Rafael/Jörn Schafaff (Hg.), Assign & Arrange. Methodologies of Presentation in Art and Dance, Berlin: Sternberg Press 2014, S. 73-88. Butte, Maren/McGovern, Fiona/Rafael, Marie-France/Schafaff, Jörn (Hg.), Assign & Arrange. Methodologies of Presentation in Art and Dance, Berlin: Sternberg Press 2014. Cvejic, Bojana (Hg.): „Rétrospective“ by Xavier Le Roy, Dijon: les presses du réel 2014. Deleuze, Gilles/Guattari, Felix: Was ist Philosophie?, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2000. Eiermann, André: Postspektakuläres Theater. Die Alterität der Aufführung und die Entgrenzung der Künste, Bielefeld: transcript 2009.

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Fischer-Lichte, Erika: „Ästhetische Erfahrung als Schwellenerfahrung“, in: Joachim Küpper/Christoph Menke (Hg.), Dimensionen ästhetischer Erfahrung, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003, S. 138-161. Foellmer, Susanne: Am Rand der Körper. Inventuren des Unabgeschlossenen im zeitgenössischen Tanz, Bielefeld: transcript 2009. Gil, José: „Paradoxical Body“, in: TDR – The Drama Review 50/4 (2006), S. 21-35. Grosz, Elizabeth: Volatile Bodies. Toward a Corporeal Feminism, Bloomington: Indiana University Press 1994. Halprin, Lawrence: The RSVP Cycles: Creative Processes in the Human Environment, New York: George Braziller 1969. Hantelmann, Dorothea von/Meister, Carolin: „Einleitung“, in: dies. (Hg.), Die Ausstellung. Politik eines Rituals, Berlin/Zürich: diaphanes 2010, S.7-18. Hantelmann, Dorothea von: Notizen zur Ausstellung, documenta 13, 100 Notizen – 100 Gedanken, Ostfoldern: Hatje-Cantz 2012. Huschka, Sabine (Hg.): Wissenskultur Tanz. Historische und zeitgenössische Vermittlungsakte zwischen Praktiken und Diskursen, Bielefeld: transcript 2009. Klonk, Charlotte: Spaces of Experience. Art Gallery Interiors from 18002000, New Haven: Yale University Press 2009. Kotz, Liz: „Words to be looked at: Language in 1960s Art“, Cambridge Mass.: The MIT Press 2007. Krauss, Rosalind: „The Logic of the Late Capitalist Museum“, in: October 54/Autumn (1990), S. 3-17. Krauss, Rosalind: ,A Voyage on the North Sea‘ – Broodthaers, das Postmediale, Berlin/Zürich: diaphanes 2008. Laban, Rudolf von: Choreutik: Grundlagen der Raumharmonielehre des Tanzes, Wilhelmshaven: Florian Noetzel 1991. Lambert-Beatty, Carrie: Yvonne Rainer and the 1960s, Cambridge: The MIT Press 2008. Lippard, Lucy/Chandler, John: „The Dematerialization of the Art Object“, in: Alexander Alberro/Blake Stimson (Hg.), Conceptual Art. A Critical Anthology, Cambridge: The MIT Press 1999, S.46-50. Maar, Kirsten: „AnOrdnungen im postmodernen Tanz. Zum Umgang mit scores in den Choreographien von Trisha Brown, Yvonne Rainer und Lucinda Childs“, in: Fabian Czolbe/David Magnus (Hg.), Notationen in

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kreativen Prozessen, Würzburg: Königshausen und Neumann 2015, S.137-161. Maar, Kirsten: „Artificial Speculations on the Nature of Things. The Choreographic Work of Mette Invartsen und Yvonne Rainer“, unter: http://reciprocalturn.com/ausgabe/two/artificial-speculations-nature-thi ngs-%E2%80%93-choreographic-work-mette-ingvartsen-and-yvonne. Peeters, Jeroen: Through the Back. Situating Vision between Moving Bodies, Helsinki: Theatre Academy of the University of the Arts Hel-

sinki, Kinesis 5 2014. Phelan, Peggy: Unmarked: The Politics of Performance, London/New York: Routledge 1993. Polanyi, Michel: Implizites Wissen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1985. Roberts, John: The Intangibilities of Form: Skill and Deskilling in Art After The Readymade, London: Verso 2007. Schwarte, Ludger: Philosophie der Architektur, München: Fink 2009. Umathum, Sandra: „Der Museumsbesucher als Erfahrungsgestalter“, in: Karin Gludovatz/Dorothea von Hantelmann/Michael Lüthy/Bernhard Schieder (Hg.), Kunsthandeln, Berlin/Zürich: diaphanes 2010, S. 59-72. Weber, Samuel: Theatricality as Medium, New York: Fordham University Press 2004. Wood, Catherine: „Boris Charmatz. An Architecture of Attention“, in: Afterall 37/Herbst-Winter (2014). S. 123-132.

Autorinnen und Autoren

Maren Butte ist Juniorprofessorin für Theaterwissenschaft / Performance Studies am Institut für Medien- und Kulturwissenschaft der HeinrichHeine-Universität Düsseldorf. Zuvor war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Bayreuth, im SFB 626 „Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste“ an der Freien Universität Berlin und im Forschungsschwerpunkt „Bildkritik / eikones“ an der Universität Basel. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen zwischen theater- und medienwissenschaftlichen Fragestellungen und fokussieren auf das Verhältnis von Körper, Medien und Ästhetik, Affekttheorien und Gender Studies. Ihr aktuelles Forschungsprojekt widmet sich künstlerischen Produktionsverfahren seit den 1960er Jahren bis zur Digitalisierung. Gerko Egert ist Tanz- und Theaterwissenschaftler an der Justus-LiebigUniversität Gießen. Seine Forschungsinteressen umfassen Philosophien und Politiken der Bewegung, menschliche und nicht-menschliche Choreographien, Tanz und Performance, Prozessphilosophien sowie (spekulativen) Pragmatismus, vor allem in den Arbeiten von Deleuze und Guattari. Neben seiner Promotion Berührungen. Bewegung, Relation und Affekt im zeitgenössischen Tanz (transcript 2016) umfassen seine Publikationen u.a.: Movements of Interweaving (Hrsg. mit Gabriele Brandstetter und Holger Hartung, 2018), „Choreographing the Weather – Weathering Choreography (TDR 2016) und Die Choreographische Kraft der Information (Nach dem Film 2018). Weite Informationen und Texte unter www. gerkoegert.net.



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Kai van Eikels ist Philosoph, Theater- und Literaturwissenschaftler. Nach Vertretungsprofessuren in Gießen, Berlin und Hildesheim ist er derzeit als Akademischer Oberrat am Institut für Theaterwissenschaft der RuhrUniversität Bochum tätig. Seine Forschungsschwerpunkte sind anarchische, selbstorganisierte Kollektivformen wie „Schwärme“ oder „Smart Mobs“; Kunst und Arbeit; Politiken des Performativen; Synchronisierung, Zeit und Materialität. Veröffentlichungen: Die Kunst des Kollektiven. Performance zwischen Theater, Politik und Sozio-Ökonomie (2013), Art works – Ästhetik des Postfordismus (mit dem Netzwerk Kunst + Arbeit, 2015); Szenen des Virtuosen (mit Gabriele Brandstetter und Bettina Brandl-Risi, 2017); Theorie-Blog: https://kunstdeskollektiven.wordpress.com. Reinhold Görling war von 2002 bis 2018 Professor für Medienwissenschaft an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und hatte Gastprofessuren für Comparative Literature an der University of California at Irvine (1999-2000), für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Leopold-Franzens Universität Innsbruck (2001) und für Filmwissenschaft und für Medienwissenschaft an der Universität Wien (2018-2019) inne. Gegenwärtige Forschungsschwerpunkte: Medienphilosophie, Filmwissenschaft, Psychoanalyse und Medientheorie, Prozessphilosophie, Theorie und Ästhetiken der Zeit, kulturelle Folgen von Gewalt. Letzte Publikationen: Das Obszöne als politisches Performativ. Politische Strategien der Provokation und Indienstnahme von Affekten, hg. zus. mit Silvia Bahl, Bielefeld: transcript 2019; Denkweisen des Spiels, hg. zus. mit Astrid Deuber-Mankowsky, Wien: Turia und Kant 2017; Szenen der Gewalt. Folter und Film von Rossellini bis Bigelow, Bielefeld: transcript 2014. Florian Krautkrämer ist Filmwissenschaftler und Leitet den Studienbereich Interdisziplinäres an der Kunsthochschule in Luzern. Er wurde 2011 promoviert (Schrift im Film (Münster: LIT 2013)) und arbeitet seitdem zu Veränderungen des Dokumentarfilms und von Amateurformaten vor allem auch im Bezug zu den Videos des Arabischen Frühlings. Letzte Publikationen dazu sind: „‚All filmed on a GoPro Hero 2‘: Über Veränderungen im Amateur- und Familienfilm“. In: Ute Holfelder / Klaus Schönberger (Hg): Bewegtbilder und Alltagskulture(en). Von Super 8 über Video zum Handyfilm. Praktiken von Amateuren im Prozess der gesellschaftlichen Ästhetisierung, Köln: Harlem 2017, S. 234-249; „GoPro-Vision und

A UTORINNEN UND A UTOREN

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involvierter Blick: Neue Bilder der Kriegsberichterstattung“. In: M.-H. Adam, Sz. Gellai, J. Knifka (Hg.): Technisierte Lebenswelt. Über den Prozess der Figuration von Mensch und Technik, Bielefeld: transcript, 2016, S. 209–226. 2018 gab er die Publikation Aufschub. Das Lager Westerburg und der Film von Rudolf Breslauer / Harun Farocki (Berlin: Vorwerk 8) heraus. Maximilian Linsenmeier ist Medien- und Kulturwissenschaftler und arbeitet als Referent für Universitätsentwicklung an der Leuphana Universität Lüneburg. Zuvor war er von 2011 bis 2017 als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Medien- und Kulturwissenschaft der Heinrich-HeineUniversität Düsseldorf tätig. Dort promovierte er mit einer Studie „Zu Verhältnissen von ästhetischer Praxis und politischer Ökologie im Anthropozän“. Zu seinen Forschungsinteressen zählen u.a. mediale Bedingungen von kollektiven Wissenskonstruktionen, kulturelle Transformationsprozesse im Klimawandel, Theorien und Konzepte von Natur(en)kulturen und ästhetische Dimensionen sozio-ökologischer Probleme. Kirsten Maar ist Theater- und Tanzwissenschaftlerin und Dramaturgin und lehrt als Junior-Professorin an der FU Berlin. Von 2007-2014 arbeitete sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG-Sonderforschungsbereich 626 „Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste“ im Teilprojekt „Topographien des Flüchtigen“. Ihre Arbeitsschwerpunkte umfassen choreographische Verfahren im 20. Jahrhundert, Entgrenzungen zwischen bildender Kunst, Architektur und Choreographie, kinästhetische Erfahrung und Raumkonzeptionen, Notation und Komposition, Genderund Kanonfragen. Publikationen u.a.: Notationen und choreographisches Denken (gemeinsam mit G.Brandstetter und F.Hofmann, Freiburg: Rombach 2010), Assign and Arrange. Methodologies of Presentation in Art and Dance (mit M. Butte, F. McGovern, MF. Rafael und J. Schafaff, Berlin: Sternberg 2014). Sven Seibel ist Medien- und Kulturwissenschaftler und forscht und lehrt am Institut für Kunst und visuelle Kultur der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Zuvor war er von 2009 bis 2015 als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Medien- und Kulturwissenschaft der Heinrich-

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Heine-Universität Düsseldorf tätig, wo er mit einer Arbeit über Relationalität als medienästhetische und repräsentationskritische Figur in Essay- und Installationsfilmen unter medienökologischen Voraussetzungen promovierte. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen dokumentarische Praktiken zwischen digitalem und politischem Wandel, Film als sozio-mediale Alltagspraxis, Praxeologie und Geschichte des kollaborativen Films, ‚NichtSouverenitätʻ als affektive und mediale Figur. Ein aktuelle Publikation hierzu: „Die Kamera überlassen. Montage und kollaboratives Filmemachen in Les Sauteurs“ in: Martin Doll (Hg.): Cutting Edge! Positionen der Filmmontage. Bertz+Fischer, 2019.

Medienwissenschaft Susan Leigh Star

Grenzobjekte und Medienforschung (hg. von Sebastian Gießmann und Nadine Taha) 2017, 536 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3126-5 E-Book kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-3126-9 EPUB: ISBN 978-3-7328-3126-5

Geert Lovink

Im Bann der Plattformen Die nächste Runde der Netzkritik (übersetzt aus dem Englischen von Andreas Kallfelz) 2017, 268 S., kart. 24,99 € (DE), 978-3-8376-3368-9 E-Book PDF: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3368-3 EPUB: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-3368-9

Gundolf S. Freyermuth

Games | Game Design | Game Studies Eine Einführung 2015, 280 S., kart. 17,99 € (DE), 978-3-8376-2982-8 E-Book: 15,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-2982-2

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Medienwissenschaft Ricarda Drüeke, Elisabeth Klaus, Martina Thiele, Julia Elena Goldmann (Hg.)

Kommunikationswissenschaftliche Gender Studies Zur Aktualität kritischer Gesellschaftsanalyse April 2018, 308 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3837-0 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3837-4

Ramón Reichert, Annika Richterich, Pablo Abend, Mathias Fuchs, Karin Wenz (eds.)

Digital Culture & Society (DCS) Vol. 3, Issue 2/2017 – Mobile Digital Practices January 2018, 272 p., pb. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3821-9 E-Book: 29,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3821-3

Gesellschaft für Medienwissenschaft (Hg.)

Zeitschrift für Medienwissenschaft 17 Jg. 9, Heft 2/2017: Psychische Apparate 2017, 216 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb. 24,99 € (DE), 978-3-8376-4083-0 E-Book kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-4083-4 EPUB: ISBN 978-3-7328-4083-0

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de