Auditive Medienkulturen: Techniken des Hörens und Praktiken der Klanggestaltung [1. Aufl.] 9783839416860

Der Band »Auditive Medienkulturen« versammelt aktuelle Forschungen zu medial vermittelten Klang- und Hörkulturen und bie

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Auditive Medienkulturen: Techniken des Hörens und Praktiken der Klanggestaltung [1. Aufl.]
 9783839416860

Table of contents :
Inhalt
Einleitung: Auditive Medienkulturen
Bei Tanzmusik kommt es einem in die Beine
I. Auditive Kulturen als Gegenstand der Geistes- und Kulturwissenschaften
ZUR MEDIALITÄT UND HISTORIZITÄT DES AUDITIVEN
»Musick of Scraping Trenchers«. Medienexperimente zur Frequenzbestimmung von Galileo Galilei, Robert Hooke, Felix Savart und die Medialisierung des Klangs
Die Materialität des Klangs und die Medienpraxis der Musikkultur. Ein verspäteter Gegenstand der Musikwissenschaft?
Spieltechnik der Musik. Beispiele einer organologischen Kulturgeschichte
Von der anthropologischen zur medialen Stimme
Klangkristalle. Zur Semiotik artifizieller Hörbarkeit
Zur Historizität des Hörens. Ansätze für eine Geschichte auditiver Kulturen
›KLANG‹ ALS PROBLEM IN DER MUSIKWISSENSCHAFT
Klang der Gesellschaft. Zur Soziologisierung des Klangs im Konzert, 1900–1930
Die Taubheit des Diskurses. Zur Gehörlosigkeit der Soziologie im Feld der Musikanalyse
Klang als epistemische Ressource und als operativer Prozess
SOUND STUDIES ALS ERWEITERUNG DER MUSIKWISSENSCHAFT?
Musikwissenschaft als Sound Studies. Fachhistorische Perspektiven und wissenschaftstheoretische Implikationen
Sound Studies – auf dem Weg zu einer Theorie auditiver Kultur. Ästhetische Praxis zwischen Kunst und Wissenschaft
II. Fallbeispiele: Auditive Medienkulturen in Geschichte und Gegenwart
KULTUREN DER KLANGGESTALTUNG
Von der Konstruktion der Stille zur Konstruktion der Intimität. Die Szenografie des House of the Future als Wohnlaboratorium in einer stillgelegten Welt
Die Entwicklung der Recording Culture am Beispiel der Beatles in den Abbey Road Studios
Schleifen knüpfen, Klangobjekte identifizieren. Auditive Techniken in Pierre Schaeffers Musique Concrète und Walter Murchs Sound Design von THX 1138
Theoretisch-methodische Annäherungen an die Ästhetik des Radios. Qualitative Merkmale von Wellenidentitäten
KLANGORTE UND HÖRRÄUME
Intermediale Spielräume im Hörspiel der Gegenwart. Zwischen Dokumentation und Fiktion, Originalton und Manipulation, akustischer Kunst und Radiophonie, Theater und Installation
Zwei Hörräume ›gleichschwebender Aufmerksamkeit‹. Psychoanalyse und Ambient
Emotionale Musikrezeption in unterschiedlichen Alltagskontexten. Eine wahrnehmungsökologische Perspektive auf die Rolle der beteiligten Medientechnologien
Die Technik gibt den Ton an. Zur auditiven Medienkultur der Bioakustik
Studio 54 in Münster, Exzesse in Westfalen? Über die Polyvalenz des Raumes im Medium ›Diskothek‹
Abstracts in English
Autoreninnen und Autoren

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Axel Volmar, Jens Schröter (Hg.) Auditive Medienkulturen

Axel Volmar, Jens Schröter (Hg.)

Auditive Medienkulturen Techniken des Hörens und Praktiken der Klanggestaltung

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat: Anja Griesbach, Jan Wagener, Janis Powileit Satz: Anja Griesbach, Jan Wagener Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1686-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Axel Volmar/Jens Schröter: Einleitung: Auditive Medienkulturen | 9

Friedrich Kittler: Bei Tanzmusik kommt es einem in die Beine | 35

I. Auditive Kulturen als Gegenstand der Geistes- und Kulturwissenschaften ZUR MEDIALITÄT UND HISTORIZITÄT DES AUDITIVEN Daniel Gethmann: »Musick of Scraping Trenchers«. Medienexperimente zur Frequenzbestimmung von Galileo Galilei, Robert Hooke, Felix Savart und die Medialisierung des Klangs | 45 Rolf Großmann: Die Materialität des Klangs und die Medienpraxis der Musikkultur. Ein verspäteter Gegenstand der Musikwissenschaft? | 61

Rebecca Wolf: Spieltechnik der Musik. Beispiele einer organologischen Kulturgeschichte | 79 Cornelia Epping-Jäger: Von der anthropologischen zur medialen Stimme | 99

Jochen Venus: Klangkristalle. Zur Semiotik artifizieller Hörbarkeit | 115

Daniel Morat: Zur Historizität des Hörens. Ansätze für eine Geschichte auditiver Kulturen | 131

›KLANG‹ ALS PROBLEM IN DER MUSIKWISSENSCHAFT Hansjakob Ziemer: Klang der Gesellschaft. Zur Soziologisierung des Klangs im Konzert, 1900–1930 | 145 Marcus S. Kleiner: Die Taubheit des Diskurses. Zur Gehörlosigkeit der Soziologie im Feld der Musikanalyse | 165 Sebastian Klotz: Klang als epistemische Ressource und als operativer Prozess | 189

SOUND STUDIES ALS ERWEITERUNG DER MUSIKWISSENSCHAFT? Bettina Schlüter: Musikwissenschaft als Sound Studies. Fachhistorische Perspektiven und wissenschaftstheoretische Implikationen | 207

Sabine Sanio: Sound Studies – auf dem Weg zu einer Theorie auditiver Kultur. Ästhetische Praxis zwischen Kunst und Wissenschaft | 227

II. Fallbeispiele: Auditive Medienkulturen in Geschichte und Gegenwart KULTUREN DER KLANGGESTALTUNG Sabine von Fischer: Von der Konstruktion der Stille zur Konstruktion der Intimität. Die Szenografie des House of the Future als Wohnlaboratorium in einer stillgelegten Welt | 249 Volkmar Kramarz: Die Entwicklung der Recording Culture am Beispiel der Beatles in den Abbey Road Studios | 269

Jan Philip Müller: Schleifen knüpfen, Klangobjekte identifizieren. Auditive Techniken in Pierre Schaeffers Musique Concrète und Walter Murchs Sound Design von THX 1138 | 287 Golo Föllmer: Theoretisch-methodische Annäherungen an die Ästhetik des Radios. Qualitative Merkmale von Wellenidentitäten | 321

KLANGORTE UND HÖRRÄUME Bettina Wodianka: Intermediale Spielräume im Hörspiel der Gegenwart. Zwischen Dokumentation und Fiktion, Originalton und Manipulation, akustischer Kunst und Radiophonie, Theater und Installation | 339

Gregor Schwering: Zwei Hörräume ›gleichschwebender Aufmerksamkeit‹. Psychoanalyse und Ambient | 359 Steffen Lepa: Emotionale Musikrezeption in unterschiedlichen Alltagskontexten. Eine wahrnehmungsökologische Perspektive auf die Rolle der beteiligten Medientechnologien | 373

Judith Willkomm: Die Technik gibt den Ton an. Zur auditiven Medienkultur der Bioakustik | 393 Thomas Wilke: Studio 54 in Münster, Exzesse in Westfalen? Über die Polyvalenz des Raumes im Medium ›Diskothek‹ | 419

Abstracts in English | 441 Autoreninnen und Autoren | 451

Einleitung: Auditive Medienkulturen Axel Volmar und Jens Schröter

S ONIC TURN ? S OUND S TUDIES IN DEN G EISTES - UND K ULTURWISSENSCHAF TEN Die Forschungsrichtung der Sound Studies ist in den Geistes- und Kulturwissenschaften angekommen. Während bis vor wenigen Jahren noch häufig moniert wurde, dass der Gegenstand Sound in der kultur- und medienwissenschaftlichen Forschung notorisch unterrepräsentiert sei, lässt sich die Fülle der international erscheinenden Publikationen, die das Resultat eines zuletzt stark angewachsenen Interesses an der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den Phänomenen, Praktiken und Bedeutungen auditiver Kultur bilden, heute kaum mehr überblicken. Einige Veröffentlichungen haben sogar einen sonic bzw. acoustic turn diagnostiziert,1 d. h. eine Hinwendung der Kulturwissenschaften zu der epistemologischen Frage, ob gestalteten Klängen ein ähnlich spezifisches Wissen zugesprochen werden kann bzw. muss wie der Sprache (linguistic turn) und Bildern (pictorial bzw. iconic turn).2 Von einer derartigen sonischen Wende im Sinne eines kulturwissenschaftlichen Turns kann jedoch – und insbesondere im deutschsprachigen Raum – derzeit noch keine Rede sein. Während die Frage »What do pictures want?«3 bereits eine längere Geschichte hat und zur Bildung fruchtbarer interdisziplinärer Forschungsansätze wie etwa den Visual Studies und der Bildwissenschaft geführt hat, sind Fragen nach der kulturellen Bedeutung von gestalteten und kommunizierten Klängen noch weitgehend offen. Ebenso unklar ist, warum sich innerhalb der Geisteswissenschaften bislang noch keine der Bildwissenschaft vergleichbare Klangwissenschaft entwickelt hat und welche Gegenstände eine solche zu behandeln hätte. 1 | Vgl. Drobnick: »Listening Awry«; Porcello: »Three Contributions to the ›Sonic Turn‹.«; Meyer: Acoustic Turn. 2 | Zur historischen Entwicklung und Bedeutung der ›Turns‹ in den Geistes- und Kulturwissenschaften siehe Bachmann-Medick: Cultural Turns. 3 | Vgl. Mitchell: What Do Pictures want?

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Dieser Umstand zeigt sich nicht zuletzt anhand der Tatsache, dass die neueren Publikationen im deutschsprachigen Raum, die explizit eine Anknüpfung an die anglo-amerikanischen Sound Studies suchen, vorwiegend im Umfeld von Kunsthochschulen und Fachhochschulen für Gestaltung entstanden sind.4 Diese Veröffentlichungen haben darauf aufmerksam gemacht, dass der Bereich der auditiven Mediengestaltung in den vergangenen zwei Jahrzehnten eine wesentliche Aufwertung, Ausdifferenzierung und Professionalisierung in vielen gesellschaftlichen Bereichen erfahren hat. So reicht die Thematisierung dieser zunehmenden Bandbreite vom Bedeutungszuwachs der Tongestaltung in Medien und Künsten über akustisches Produktdesign und Corporate-Sound-Strategien bis hin zur verstärkten Nutzung des auditiven Wahrnehmungskanals für die Produktion neuen Wissens, wie etwa im Bereich der wissenschaftlichen Sonifikation. Gerade die Kultur- und Medienwissenschaften könnten jedoch – nicht zuletzt in theoretisch-methodischer Hinsicht – erheblich dazu beitragen, dass sich die Sound Studies zukünftig einer stärkeren Reflexion und Deutung der auditiven Kultur zuwenden. Ansätze hierfür liefert der vorliegende Band. In dieser Einleitung wollen wir die methodischen und theoretischen Hintergründe skizzieren, vor denen wir die Beschäftigung mit auditiven Medienkulturen für sinnvoll und notwendig halten. Dabei geht es – im Unterschied zu dem, was die Rede von ›Sound Studies‹ zumindest nahelegt – nicht einfach nur um Klangphänomene oder deren Wahrnehmung, sondern um Kollektive, die sich wesentlich durch den Umgang mit Klang und Klanggestaltung auszeichnen, d. h. um Klänge im jeweiligen Kontext historisch und lokal spezifischer Praktiken in Netzwerken aus Personen, Zeichen und Technologien: eben um auditive Medienkulturen. In einem ersten Abschnitt sollen medienontologische Bestimmungen des Klangs in Kontrast v.a. zum Bild kritisiert werden. Aus dieser Zurückweisung allzu genereller Bestimmungen folgen bestimmte methodische Präferenzen, die in den folgenden Abschnitten dargelegt werden. Dabei wird auch ausdrücklich auf die Diskussion zu den Visual Studies zurückgegriffen – stellte diese doch schon einen frühen Versuch dar, allzu generalisierenden Ontologien in Bezug auf Bilder auszuweichen.

Die audiovisuelle Litanei oder die ontologische Falle Bis dato tappen Arbeiten zur Klang- und Hörkultur immer wieder in das, was man als ontologische Falle bezeichnen könnte: Dieser Auffassung zufolge lassen sich die kulturellen Bedeutungen des Auditiven auf scheinbar unveränderliche und mithin natürliche Gegebenheiten zurückführen. So 4 | Vgl. exemplarisch Motte-Haber u. a.: Sonambiente; Werner/Lankau: Media Soundscapes I: Klanguage; Werner/Lankau: Media Soundscapes II: Didaktik, Design, Dialog; Meyer: Acoustic Turn; Schulze: Sound Studies; Spehr: Funktionale Klänge; Schoon/Volmar: Das geschulte Ohr.

E INLEITUNG

werden Klang und Hören zumeist auf eine in der Philosophiegeschichte immer wieder angeführte ›Hierarchie der Sinne‹ bezogen, bei der die Prämisse einer Hegemonie des Visuellen in der westlichen Kulturgeschichte eine zentrale Rolle spielt.5 Jonathan Sterne und seiner aufschlussreichen Studie The Audible Past folgend gehen wir jedoch von der grundlegenden Hypothese aus, dass wesentliche Ursachen für die bevorzugte Beschäftigung mit Schriftlichkeit und Bildlichkeit zunächst in der Diskursgeschichte der Geisteswissenschaften mit ihren spezifischen historischen Kontingenzen selbst zu suchen sind.6 Seien es Kulturtheorien, die seit Platon mit dem Modell eines ›Visualprimats‹ operieren7 oder die Debatte um ›Oralität und Literalität‹8 – stets wurde dem Auditiven die tendenziell negativ bzw. als defizient ausgelegte Rolle des Anderen, Emotionalen und Irrationalen zugewiesen und der vermeintlichen Objektivität und Rationalität von Bild und Schrift diametral entgegengesetzt. Gerade auch Jacques Derridas Kritik am sog. ›Phonozentrismus‹ der europäischen Geistesgeschichte bedeutet ja nichts anderes als den Versuch, die laut Derrida privilegierte Rolle des Auditiven, näherhin der Stimme in der Geschichte der Philosophie als eine Art Trugbild oder Illusion zu entlarven. Der angeblichen Transparenz der stimmlichen Äußerung gegenüber der Idealität des Sinns, wie sie Derrida noch bei Husserl zu finden glaubt, setzt er eine ursprüngliche Differentialität entgegen, die ihr Muster letztlich an der sichtbaren Erscheinung der Schrift findet.9 Derartige Konzeptionalisierungen des Auditiven scheinen in einem erheblichen Maße dafür verantwortlich zu sein, dass generalisierende, transhistorische Zuschreibungen und mitunter äußerst fragwürdige Gegenüberstellungen des Auditiven und des Visuellen bis heute beständig reproduziert bzw. nicht ausreichend reflektiert werden – Sterne spricht daher von der Hartnäckigkeit einer »audiovisuellen Litanei« im geistesund kulturwissenschaftlichen Diskurs über die Sinne. Zu den gebetsmüh-

5 | Schafer: The Tuning of the World; Truax: Acoustic Communication; Trabant: »Der akroamatische Leibniz«; Welsch: »Auf dem Weg zu einer Kultur des Hörens?«. 6 | Sterne: The Audible Past. 7 | Vgl. z. B. Timaios 47a-c, Phaidros 250d, Politeia 507c. 8 | Goody/Watt: »The Consequences of Literacy«; Goody: Literacy in Traditional Societies; Ong: Orality and Literacy; Havelock: The Muse Learns to Write; McLuhan/Powers: The Global Village. 9 | Vgl. Derrida: Grammatologie; vgl. dazu aber auch Jay: Downcast Eyes, S. 493 ff. Jay zeigt auf, dass die Lage bei Derrida aber insofern komplizierter ist, als auch das Sehen und das Bild der Dekonstruktion anheimfallen. Bei Derrida wird letztlich jede »Metaphysik der Präsenz« unterlaufen, gleich ob diese Präsenz durch das Sich-Sprechen-Hören oder die vermeintliche Evidenz des Sehens hergestellt wird. Verkürzt könnte man sagen, dass Derrida die Differentialität der Schrift gegen Klang und Bild ausspielt.

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lenartig reproduzierten Vorurteilen, von denen auch die o.a. Literatur zur Klanggestaltung nicht ganz frei ist, zählen u. a. die Folgenden:10 1. Klänge zeichneten sich durch Flüchtigkeit, Bilder dagegen durch Persistenz aus. So behandelt etwa der Medienphilosoph Dieter Mersch, und das scheint symptomatisch für die breite Akzeptanz solcher Zuschreibungen, in seinen zwei Vorlesungen über Kunst und Medium bezüglich des ›Tons‹ zwar Fragen der Notation, nicht jedoch solche der Schallaufzeichnung.11 Tatsächlich sind es jedoch die seit rund 130 Jahren beständig anwachsenden Archive der Schall-Schriften, die die Entfaltung auditiver Medienkulturen überhaupt erst ermöglicht haben und bis heute entscheidend prägen (Friedrich Kittler, Daniel Gethmann und Rolf Großmann).12 2. Klang sei mit Innerlichkeit und Spiritualität konnontiert, während Schrift und Bild für Objektivität und Rationalität verbürgten.13 Techniken auditiver Erkenntnisproduktion – von der medizinischen Diagnose mittels des Stethoskops über die akustische Anzeige des Geigerzählers bis hin zu gegenwärtigen Forschungen zum Sound and Music Computing (Sebastian Klotz) und zur wissenschaftlichen Sonifikation14 (Judith Willkomm) – widersprechen einer solchen verallgemeinernden Ansicht. 3. Durch akustische Medien würden die Klänge von ihrer Quelle getrennt, was zu einer sog. ›Schizophonie‹, d. h. einer entfremdeten, weil mediatisierten Kommunikation und Rezeption führe.15 Demgegenüber zeigen jedoch die hoch konstruktiven Verfahren aus dem Bereich der Raumakustik (Sabine von Fischer), der Musikproduktion (Volkmar Kramarz), der Filmtongestaltung (Jan Philip Müller) sowie der Radio- und Hörspielästhetik (Golo Föllmer, Bettina Wodianka), dass Praktiken der Klanggestaltung gar nicht auf die Abbildung originärer Klangereignisse abzielen, sondern auf deren Transformation durch die vorhandenen technischen Möglichkeiten und medienästhetischen Strategien. Anstatt also eine vermeintlich verlorene Ursprünglichkeit zu beklagen, erweist es sich aus kultur- und medienwissenschaftlicher Sicht als wesentlich produktiver, die durch die Verbreitung von Audiomedien und -technologien ausgelösten Neuordnungen auditiver Dis10 | Kursivierte Eigennamen verweisen im Folgenden auf in diesem Band vertretene AutorInnen. 11 | Vgl. Mersch: Kunst und Medium. 12 | Vgl. exemplarisch Kittler: Grammophon, Film, Typewriter; Kittler: Draculas Vermächtnis. 13 | Vgl. exemplarisch McLuhan/Powers: The Global Village; Ong: Orality and Literacy; Welsch: »Auf dem Weg zu einer Kultur des Hörens?«. 14 | Vgl. Hermann u. a.: The Sonification Handbook; Schoon/Volmar: Das geschulte Ohr. 15 | Vgl. Schafer: The Tuning of the World; Truax: Acoustic Communication.

E INLEITUNG

positive in ihrer historischen Spezifik zu beschreiben und zu deuten (Daniel Morat). 4. Klänge würden durch das Ohr in den Körper eindringen, während das Bild jedoch Distanz zwischen Subjekt und Objekt – kurz: eine Perspektive – herstelle. Diese Einschätzung wird zumeist mit dem Argument begründet, dass das Ohr im Gegensatz zum Auge nicht verschließbar und so der akustischen Umwelt schutzlos ausgeliefert sei, oft verbunden mit der Behauptung, dass sich gestaltete Klänge daher besonders effektiv zu manipulativen Zwecken eigneten. Eine solche Sichtweise kann jedoch nicht erklären, weshalb manche akustischen Dispositive und Hörräume ihre Wirkungen besser, manche dagegen weniger überzeugend entfalten und welche Vorstellungen und Zuschreibungen jeweils mit unterschiedlich mediatisierten Klängen verbunden werden (Cornelia Epping-Jäger, Golo Föllmer, Steffen Lepa, Gregor Schwering, Thomas Wilke). Angesichts der differenzierten Ökonomien der Mediengestaltung, deren primäre Aufgabe darin besteht, mittels strategisch gestalteter Bilder, Typografien und Klänge die Aufmerksamkeit ihrer Adressaten zu erwecken oder Handlungsanweisungen zu vermitteln, bieten Gegenüberstellungen allgemeiner Sinnesfunktionen kaum brauchbare Analyseperspektiven. Eine solche Auffassung ignoriert zudem die diversen Filterungsprozesse der auditiven Wahrnehmung sowie Kulturtechniken zur Vermeidung und Kontrolle von Lärm – von den wachsverstopften Ohren des Odysseus oder heutiger Ohropax-Nutzer bis zur persönlichen Gestaltung des eigenen Klangraums mithilfe tragbarer Musikgeräte. Die Vorstellung, dass man der akustischen Außenwelt stärker ausgeliefert sei als der visuellen, kann zudem angesichts der Ubiquität visueller Immersionsstrategien16 kaum als haltbar gelten –  ganz davon abgesehen, dass die primäre Aufgabe von Augenlidern nicht darin besteht, optische Eindrücke auszublenden, sondern darin, die Augen mit Feuchtigkeit zu benetzen. 5. Klänge seien zeitlich, Bilder dagegen räumlich verfasst. Raumakustik, elektroakustische Beschallungsanlagen und Surround-Verfahren haben jedoch gerade im 20. Jahrhundert eine wichtige musikalische, medienkulturelle und bautechnische Bedeutung erlangt, ebenso wie die zunehmende Verwendung auditiver Displays zur räumlichen Darstellung akustischer Informationen (Sabine von Fischer, Judith Willkomm, Thomas Wilke, Bettina Wodianka). Klänge besitzen also eine eminent räumliche Dimension, die nicht unterschlagen werden sollte. Umgekehrt zeigen die komplexen visuellen Dramaturgien der sog. zeitbasierten Medien seit der Erfindung der Kinematografie, dass Bilder sehr wohl eine zeitliche Ebene beinhalten. Die Konstruktion einer medienontologischen Dichotomie zwischen Klang-Zeit und 16 | Exemplarisch etwa in der Diskussion um die sog. Virtual Reality, vgl. Grau: Virtuelle Kunst in Geschichte und Gegenwart; Schröter: Das Netz und die virtuelle Realität; Bogen u. a.: Virtuelle Welten als Basistechnologie für Kunst und Kultur?.

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Bild-Raum verfehlt die konkreten Realisationen von sowohl Klängen als auch Bildern in Form auditiver bzw. visueller Ereignisse. Aufgrund der hartnäckigen Persistenz solcher Zuschreibungen halten wir es für angebracht, den Status des Auditiven in der Diskursgeschichte verschiedener geisteswissenschaftlicher Theorietraditionen – und insbesondere in der Musikwissenschaft – noch einmal kritisch zu prüfen und auf der Grundlage der beschriebenen Einwände zu problematisieren.

V ON S INNES - UND M EDIENONTOLOGIEN ZUR E RFORSCHUNG AUDITIVER M EDIENKULTUREN Klangphänomene und die um diese organisierten kulturellen Praktiken und Diskurse verdanken ihre Bedeutung und Wirkmächtigkeit tatsächlich nur zu einem – und möglicherweise sogar äußerst geringen – Teil vermeintlich ontologischen Gegebenheiten, sondern entfalten diese wesentlich durch das komplexe Zusammenwirken diverser soziokultureller, technischer, epistemischer und ästhetischer Kontexte, die historisch gewachsen und kontingent sind. Daher bilden auch nicht Klänge als solche oder die auditive Wahrnehmung des Einzelnen die primären Untersuchungsgegenstände der hier zusammengestellten Analysen, sondern konkrete sozio-technische Konstellationen, Netzwerke oder Dispositive, in denen Klänge verschiedenster Art operieren und Fertigkeiten des Hörens ausgebildet werden, die vielleicht am schlüssigsten in Entwendung einer berühmten Formulierung Jonathan Crarys als Techniken des Hörens bezeichnet werden können.17 Mithin ist es unumgänglich, die dabei verwendeten medialen Praktiken der Klanggestaltung zu berücksichtigen und deren Auswirkungen auf Operationen, Diskurse, Wahrnehmungsweisen und die Ästhetik der Klänge zu untersuchen. Die Beschreibung und Deutung auditiver Medienkulturen in Form solcher ›heterogener Ensembles‹ (Foucault) bildet das gemeinsame Ziel der in diesem Band versammelten Studien. Hinlänglich bekannte Arbeiten, die den Begriff der ›Kultur‹ im Titel tragen, wie etwa die Sammelpublikation Radio Cultures18 oder der Auditory Culture Reader19 , sind in methodischer Hinsicht stark vom Ansatz der Cultural Studies und der Post Colonial Studies geprägt. Die Forschungsobjekte sind dort vor allem bereits bestehende soziale, ethnische, religiöse und andere Teilkulturen, die auf ihren unterschiedlichen Mediengebrauch und die Ausbildung kultureller Praktiken hin untersucht werden. Demgegenüber adressieren die Beiträge dieses Bandes Kollektive, die sich gerade durch ihre spezifischen auditiven Praktiken auszeichnen oder 17 | Vgl. Crary: Techniken des Betrachters. 18 | Vgl. Keith: Radio Cultures. 19 | Vgl. Bull/Back: The Auditory Culture Reader.

E INLEITUNG

definieren. Dazu gehören u. a. Konzert- und Diskobesucher (Hansjakob Ziemer, Thomas Wilke), Sound Designer (Jan Philip Müller), Musikproduzenten (Rolf Großmann, Volkmar Kramarz) und Hörspielmacher (Bettina Wodianka) sowie Bioakustiker (Judith Willkomm) und Instrumentenbauer (Rebecca Wolf). Indem sie sich dem Zusammenhang zwischen dem Auditiven, dem Medialen und kulturellen Praktiken bzw. Sedimentierungen widmen, verdeutlichen die Beiträge auf je unterschiedliche Weise, dass es sich bei Klangphänomenen und Hörempfindungen nicht um natürliche, sondern um kulturelle Objekte handelt, die nicht unabhängig vom Kontext ihrer historischen Entwicklung sowie vielfältiger Materialisierungen und Mediatisierungen betrachtet werden können. Folglich stellt sich die Frage nach den Methoden zur Untersuchung dieses Forschungsfelds. Die Komplexität des Gegenstandsbereichs sowie die Erfahrungen aus anderen kulturwissenschaftlichen Forschungsfeldern wie der Bildwissenschaft20 oder der Raumtheorie21 legen für die Untersuchung auditiver Medienkulturen einen breit gefächerten Zugang durch den Rückgriff auf verschiedene geistes-, kultur- und sozialwissenschaftliche Ansätze nahe, da sich je nach Fragestellung, Erkenntnisinteresse und Gegenstandsbereich unter Umständen unterschiedliche oder auch mehrere Methoden anbieten. Mit welchen Begriffen und Theoriemodellen lässt sich dagegen heute über diese Zusammenhänge sprechen? Musikwissenschaftliche Harmonielehren, die sich auf Tonbeziehungen konzentrieren, Modelle der physikalischen Akustik und neurophysiologische Theorien der auditiven Wahrnehmung sind zur historischen und komparativen Analyse verschiedener Klangkulturen wohl kaum geeignet. Was konstituiert eine auditive Medienkultur und wie lassen sich etwa historische und gegenwärtige, analoge und digitale Klang- und Hörkulturen vergleichen? Adäquate Methoden, mit denen Formen auditiver Kultur und die Rolle der Medialität von Klängen (insbesondere der Gestaltbarkeit und Kommunizierbarkeit) untersucht werden können, bilden in der Tat ein grundlegendes Desiderat klangwissenschaftlicher Forschung. Im Folgenden möchten wir diesbezüglich – ohne dabei jedoch einen Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben – einige Vorschläge machen. Zuerst soll dem Umstand Rechnung getragen werden, dass der in der deutschen Medienwissenschaft (und mittlerweile auch in den USA22) prominente Ansatz der Medienarchäologie gerade bei seinem Begründer Friedrich A. Kittler von Beginn an stark mit Fragen nach dem Verhältnis von Klang und Kultur verbunden war. Die Medienarchäologie aber ist v.a. auf die Wissens- bzw. Wissenschaftsgeschichte der Akustik und der akustischen Medien bezogen, auf deren Grundlage sie auf die Technizität der auditiven Kultur im Allgemeinen hingewiesen hat. Die Untersuchung differenzierter Klangkulturen und auditiver Praktiken bildete dagegen nicht 20 | Vgl. exemplarisch Sachs-Hombach: Bildwissenschaft. 21 | Vgl. Dünne/Günzel: Raumtheorie; Döring/Thielmann: Spatial Turn. 22 | Winthrop-Young: Kittler and the Media.

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immer ihr primäres Interesse. Daher möchten wir in aller gebotenen Kürze auch noch einmal auf derzeit zunehmend rezipierte praxeologische Ansätze verweisen, deren Potential für die Erforschung auditiver Medienkulturen noch kaum ausgeschöpft worden ist. Schließlich erscheint es vor dem Hintergrund des zu Beginn unternommenen Rekurses auf die ›audiovisuelle Litanei‹, bei dem es um die Probleme einer abstrakten sinnes- und medienontologischen Gegenüberstellung von Hören und Sehen bzw. von Klang und Bild ging, als vielversprechend, auch noch einmal jenes heterogene Feld von Ansätzen knapp in den Blick zu nehmen, das von der Seite des Bildes aus die Medienontologie verwarf: Das Feld der Visual Culture – die offenkundig auch vom Namen her bereits auf die auditive Medienkultur vorzuverweisen scheint.

Medienarchäologie Viele Beiträge dieses Bandes bewegen sich implizit im Fahrwasser des deutschen Medienwissenschaftlers Friedrich A. Kittler (1943–2011). Kittler besaß wie nur wenige andere ein Verständnis von der fundamentalen Bedeutung der auditiven Kultur für die Geistesgeschichte der westlichen Welt. Von seiner weithin bekannten Monographie Grammophon Film Typewriter von 1986 bis zu seinen jüngsten Versuchen, im Rahmen seiner leider unvollendet gebliebenen Schriftenreihe Musik und Mathematik (seit 2006) die Prozesse der Verschriftlichung, Mathematisierung und Manipulation akustischer Phänomene als einen zentralen historischen Motor kultureller Produktion seit der frühen griechischen Antike herauszustellen, zieht sich die Thematisierung der auditiven Kultur wie ein roter Faden durch das Werk Kittlers.23 Kittlers Ansatz, die Kulturgeschichte des Abendlandes und der Moderne in Form einer Historiographie der Verwissenschaftlichung und Technisierung des Akustischen zu schreiben, bildet in vielerlei Hinsicht – thematisch wie methodisch – das Vorbild für eine auf die Kultur- und Wissenschaftsgeschichte der akustischen Medien ausgerichtete Strömung innerhalb der Sound Studies. Während einige englischsprachige Publikationen heute zu den Gründungstexten der Sound Studies gezählt werden und auf diese Weise auch das Selbstverständnis dieser Forschungsrichtung wesentlich prägen,24 sind die zahllosen im deutschsprachigen Raum erschienenen medienarchäologischen Arbeiten weit weniger bekannt.25 Diese halten jedoch viele Anregungen zur Beschreibung und Deutung auditiver Kulturen bereit. 23 | Vgl. Kittler: Grammophon, Film, Typewriter; Kittler: Musik und Mathematik. Bd. 1: Hellas, Teil 1: Aphrodite; Kittler: Musik und Mathematik. Bd. 1: Hellas, Teil 2: Eros. 24 | Vgl. insb. Sterne: The Audible Past; Katz: Capturing Sound; Goodman: Sonic Warfare. 25 | Vgl. exemplarisch Scherer: Klavier-Spiele; Gess u. a.: Hörstürze; Hagen: Das Radio; Gethmann: Klangmaschinen zwischen Experiment und Medientech-

E INLEITUNG

Tatsächlich streift Kittler bereits in seiner im Jahre 1998 unter dem Titel Bei Tanzmusik kommt es einem in die Beine gehaltenen Laudatio zu Ehren des Musikers Brian Eno viele der Themen, die auch die Beiträge dieses Bandes adressieren: darunter die Mathematisierung und Technisierung des Auditiven (Cornelia Epping-Jäger, Daniel Gethmann, Sebastian Klotz), das Problem der »Papierfixiertheit« der abendländischen Kunstmusik (Rolf Großmann, Rebecca Wolf), die Genese neuer Musikstile wie etwa des Jazz oder der Musique Concrète auf der Grundlage akustischer Medientechnologien (Rolf Großmann, Jan Philip Müller), die Geburt der Popmusik durch das Zusammentreffen der Beatles und der Abbey Road Studios (Volkmar Kramarz) und nicht zuletzt Brian Enos Konzept einer Ambient Music (Gregor Schwering). Anlässlich des ersten Todestages von Friedrich Kittler veröffentlichen wir seine Rede im Anschluss an diese Einleitung.

Praxistheorien Anders als Kittler gehen wir jedoch davon aus, dass es – nicht zuletzt auch durch die große Anzahl an Forschungsbeiträgen, die in den letzten Jahren entstanden sind – zunehmend schwieriger geworden ist, von einer herrschenden auditiven Medienkultur im Singular zu sprechen. Auch kann die Konzentration auf die Techniken so nicht durchgehalten werden. Die Erforschung auditiver Medienkulturen muss Kollektive, nicht nur Klänge oder nur Techniken oder nur Personen untersuchen. Damit befinden sich diese in enger Nachbarschaft zu Praxistheorien wie etwa der Ethnologie, der Actor-Network-Theory (ANT) oder den Science and Technology Studies (STS). Diesbezüglich knüpfen wir explizit an den von Trevor Pinch und Karin Bijsterveld geprägten Zweig der Sound Studies an, in dem der methodische Zugang der STS bereits seit einiger Zeit fruchtbar für klangwissenschaftliche Studien genutzt wird.26 In einem Artikel über Popmusikproduzenten hat der französische Wissenschaftssoziologe Antoine Hennion bereits in den 1980er Jahren empirisch erhobenes Material mit dem Ansatz der ANT dazu verwendet, die Rolle des Popmusikproduzenten als Mittler zwischen den scheinbar getrennten Bereichen der Produktion und Rezeption zu untersuchen.27 Diese Arbeiten zeigen, dass sich geisteswissenschaftliche Fragestellungen durchaus auch im Rückgriff auf empirisches Datenmaterial beantworten lassen. So untersuchen einige Beiträge etwa die kontextspezifische Nutzung von Lautsprechern und Kopfhörern aus einer wahrnehmungsökologischen Perspektive (Steffen Lepa) bzw. die Wechselwirkungen zwischen Tonaufzeichnungesgeräten, Forschern und nik; Epping-Jäger/Linz: Medien/Stimmen; Felderer: Phonorama; Gethmann: Die Übertragung der Stimme. 26 | Vgl. Pinch/Bijsterveld: Sound Studies; Bijsterveld: Mechanical Sound; Pinch/Bijsterveld: The Oxford Handbook of Sound Studies. 27 | Vgl. Hennion: »An Intermediary Between Production and Consumption«.

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wissenschaftlichen Fragestellungen in der gegenwärtigen Bioakustik (Judith Willkomm).

Visual Studies Bei einem Band über auditive Kultur drängt sich der Vergleich zu der schon länger anhaltenden Diskussion über die visuelle Kultur auf. Anders als in der Kunstwissenschaft, in denen eine Umorientierung vom künstlerischen Werk zu den Gegenstandsbereichen Bild und Bildlichkeit zur Entstehung der Visual Studies geführt haben, hat in der Musikwissenschaft eine vergleichbare Abkehr vom Werk als zentralem Forschungsgegenstand bzw. eine Hinwendung zu Klang und Klanglichkeit als Katalysatoren kultureller Praxis bisher nur ansatzweise stattgefunden.28 Im Folgenden seien einige Aspekte der komplexen und mitunter schwer überschaubaren Debatte29 zur visuellen Kultur skizziert und versuchsweise auf das Forschungsfeld der auditiven Kultur bezogen. Zunächst muss man festhalten, dass in der Diskussion um die visuelle Kultur, v.a. in den USA unter dem Begriff der Visual Culture, zwei verschiedene Dinge gemeint sein können, nämlich einerseits der Gegenstand der Untersuchung, andererseits (heute nicht mehr ganz so neue) interdisziplinäre Studienprogramme, die sich anschicken, diesen Gegenstand zu erforschen und zu lehren.30 Viele der Konflikte in der Diskussion entzündeten sich gerade an der mit der Erforschung visueller Kultur verbundenen Interdisziplinarität31, die mitunter sogar als »Tod der Fachkenntnisse«32 kritisiert wurde. Denn anstelle einer Vertiefung in ein klar abgegrenztes Gegenstandsfeld schienen methodische Eklektizismen überhand zu nehmen. Visual Culture stellt so gesehen v.a. für die Kunstwissenschaft bzw. Kunstgeschichte als Fach und ihr methodisches Arsenal eine Herausforderung dar. Daher gehen einige Beiträge der Frage nach, ob die auditive Kultur mithin nicht in einem ähnlichen Spannungsverhältnis zur Musikwissenschaft steht wie die visuelle Kultur zur Kunstwissenschaft. Damit adressieren sie ebenfalls die Frage, ob und inwiefern Sound Studies in Konkurrenz zur traditionellen Musikwissenschaft stehen oder aber deren zeitgemäße Erweiterung darstellen (Marcus S. Kleiner, Sabine Sanio, Bettina Schlüter und Hansjakob Ziemer). 28 | Vgl. Lütteken: Musikwissenschaft. 29 | Vgl. als sehr guten und materialreichen Überblick Morra/Smith: Visual Culture; vgl. auch Diederichsen: »Visual Culture – Ein Projektbericht«. 30 | Diese Unterscheidung trifft auch auf die Sound Studies zu. So bietet die Universität der Künste Berlin beispielsweise den angewandten Aufbaustudiengang Sound Studies an, während die Universität Bonn die musikwissenschaftliche Ausbildung zum BA-Studiengang Musikwissenschaft/Sound Studies erweitert hat. 31 | Vgl. Mitchell: »Interdisziplinarität und visuelle Kultur«. 32 | Vgl. z. B. Christopher Wood im »Visual Culture Questionaire« der Zeitschrift October, wiederveröffentlicht in: Morra/Smith: Visual Culture, S.  396.

E INLEITUNG

Die methodische Herausforderung der Visual Culture an die Kunstwissenschaft bestand auch und insbesondere darin, dass für ein gewisses traditionelles kunstwissenschaftliches Verständnis ein Kanon klar definierter Werke der einzig respektable Gegenstand der Beschäftigung war, während in der interdisziplinären Forschung eben die visuelle Kultur in ihrer ganzen Bandbreite in den Blick geraten sollte. Damit wurde tendenziell die Unterscheidung zwischen high culture und low culture bzw. die damit nicht identische Unterscheidung von ›rein ästhetischen‹ und funktionalen Bildern eingeebnet.33 Populärkulturelle Darstellungen, wie z. B. Fernsehsendungen oder Werbeplakate konnten ebenso Gegenstand werden wie die Bildproduktion aus den Naturwissenschaften.34 Ähnlich verfahren auch die bisherigen Forschungen zur auditiven Kultur. Dabei ging es diesen jedoch nicht nur um eine Öffnung zum Gegenstandsfeld der so genannten ›U-Musik‹, denn eine diesbezügliche Öffnung der systematischen Musikwissenschaft hat mittlerweile natürlich längst stattgefunden.35 Die thematische Erweiterung der Sound Studies bezieht sich nicht bloß auf mehr und andere Formen von Musik, sondern v.a. auch auf Klänge, die eben gerade keine Musik sind. Denn es sind die außermusikalischen Kontexte der Klanggestaltung und -inszenierung, die die auditiven Kulturen, die mehr und mehr zu unserem Alltag gehören, entscheidend prägen: Neben Gegenwartsanalysen, die die zunehmende Ubiquität von Sounddesign in der Medien- und Produktgestaltung sowie im Bereich funktionaler Klänge36 adressieren, gehören dazu auch Anschlüsse historische Arbeiten, die u. a. die Geschichte der Akustik, der Schallreproduktionsmedien, des Lärmschutzes und der Raumakustik gerade nicht als das Andere, sondern als wesentliche Aspekte einer Geschichte der Moderne herausgestellt haben.37

33 | In dem von Horst Bredekamp geprägten Flügel der deutschen Kunstwissenschaft ist diese Annäherung an die wissenschaftlichen Bildern am weitesten gediehen: hier bilden sich – wiederum interdisziplinär – große Schnittmengen einerseits mit der Wissenschaftsgeschichte, andererseits mit der Medienwissenschaft. 34 | Vgl. exemplarisch Eshun: More Brilliant Than the Sun; Cox/Warner: Audio Culture; Moorefield: The Producer as Composer; Anderson: Making Easy Listening; für den deutschsprachigen Bereich vgl. u. a. Poschardt: DJ-culture; Kleiner/ Szepanski: Soundcultures; Föllmer: Netzmusik. 35 | Unter dem Begriff der ›funktionalen Klänge‹ werden im Wesentlichen Klänge verstanden, denen eine Appellfunktion zugesprochen werden kann, d. h. Klänge, mit denen uns etwa unsere mobilen Geräte, Computer, Kopierer oder Autos über ihre inneren Zustände unterrichten bzw. mit denen ihre Bedienung ermöglicht oder erleichtert werden soll. Vgl. dazu Spehr: Funktionale Klänge. 36 | Vgl. insb. Erlmann: Hearing Cultures; Erlmann: Reason and Resonance; Sterne: The Audible Past; Bijsterveld: Mechanical Sound; Thompson: The Soundscape of Modernity. 37 | Vgl. am Beispiel der Diskussion zur Fotografie Holschbach: »Einleitung«, S. 10.

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P OLITICS OF A UDIFICATION ? Z U DEN I DEOLOGIEN AUDITIVER M EDIENKULTUR In der anbrechenden Diskussion zur visuellen Kultur in den späten 1970er Jahren waren es insbesondere die theoretischen Strömungen der Semiotik und der Psychoanalyse, denen zugetraut wurde, die Einengung der Beschäftigung auf kanonisierte Werke unter rein ästhetischen Prämissen aufzubrechen.38 Daher sollte über viele vorliegende Studien hinaus hier auch versucht werden, semiotische und psychoanalytische Ansätze am Beispiel der auditiven Kultur zu erproben (Jochen Venus bzw. Gregor Schwering).39 Psychoanalyse und Semiotik waren für die Visual Studies bzw. die Visual Culture immer auch gerade Mittel, die ›Ideologien‹ zu dechiffrieren, die in visuellen Praktiken operativ sind: »This is visual culture. It is not just a part of your everyday life, it is your everyday life.«40 Diese Bemerkung von Nicholas Mirzoeff verdeutlicht, wie sehr die visuelle Kultur unser Handeln, unser Selbstverständnis und unsere Vorstellungen prägen. Wie ist es also um die – von den besonderen Musikdarbietungen in Konzerthallen deutlich getrennte – auditive Kultur bestellt, die schon mit dem morgendlichen Weckerklingeln oder -piepsen beginnt? Gestaltete Klänge und klanggestaltende Praktiken strukturieren einerseits unseren Tag – das Weckerklingeln ist ein schönes Beispiel für die Rolle, die Klänge in der disziplinatorischen Zurichtung von Menschen als »Arbeitnehmer« spielen – oder wirken identitätsbildend, andererseits beeinflussen sie unbewusst aber auch massiv unsere Handlungen und Entscheidungen (Bsp. Werbung, Muzak, Corporate Sound etc.). Daher scheint es von einer fundamentalen Wichtigkeit zu sein, nicht nur nach den Phänomenen selbst, sondern insbesondere nach deren Bedeutungszusammenhängen zu fragen, die sich wiederum vor allem durch die Analyse kultureller Praktiken sowie in Hard- und Software eingegangener Handlungen erschließen. Sound Studies sollten sich daher nicht nur, wenn die Bezeichnung das auch suggerieren mag, mit Sound beschäftigen, sondern auch und vor allem mit den Umständen, die zur Existenz und Stabilisierung der Klänge geführt haben, die im Mittelpunkt der jeweiligen Untersuchung stehen: Wieso gibt es spezielle Klänge und auditive Praktiken und weshalb tauchen diese gerade zu bestimmten Zeiten und an bestimmten Orten auf? Weshalb bilden manche Technologien historische Konjunkturen aus (z. B. Mp3-Player), während andere zunehmend in den Hintergrund treten (z. B. die klassische Stereo-Anlage)? Wie nicht nur das Beispiel des Weckers zeigt, greift jede Analyse der auditiven Kultur zu kurz, wenn 38 | Hinsichtlich der Psychoanalyse können die Sound Studies bereits auf einige breit rezipierte Arbeiten zurückgreifen, vgl. etwa Dolar: His Master’s Voice; Silverman: The Acoustic Mirror. 39 | Mirzoeff: »What is Visual Culture?«, S. 120. 40 | Mitchell: »Interdisziplinarität und visuelle Kultur«, S. 38.

E INLEITUNG

sie die zentrale Stellung ihrer unterschiedlichen Materialisierungen und Mediatisierungen als auditive Medienkultur unterschätzt. Es geht also nicht einfach um die Funktion und Rezeption verschiedenartiger Klänge, sondern um je konkrete Praktiken mit je konkreten Technologien zur Erzeugung, Übertragung, Speicherung, Bearbeitung und Wiedergabe von Klangereignissen. Die Praktiken und Diskurse, die sich um solche Technologien entfalten, die ihren Gebrauch regulieren und in diesem Gebrauch ebenso reproduziert wie verschoben werden, sind genau jene auditiven Medienkulturen, denen sich kultur- und medienwissenschaftlich orientierte Sound Studies zuwenden sollten. Ganz ähnlich fokussierte sich auch die Forschung zur Visual Culture auch auf die »Pluralität der Gebrauchsweisen«41 z. B. von fotografischen Bildern. In der Visual Culture bzw. den Visual Studies wurden die Gebrauchsweisen der Bilder als immer schon diskursiv, »d. h. von Sprache – von Ideologien, theoretischen und wissenschaftlichen Konzepten, Glaubenssystemen etc. – durchdrungene«42 verstanden. Mitchell spricht daher in Bezug auf die visuelle Kultur auch von der »sozialen Konstruktion visueller Erfahrung«.43 Insbesondere in Bezug auf die Gebrauchsweisen von Fotografien wurde dabei der Begriff der politics of representation geprägt. Dabei geht es um die »meist unbewußten, ideologischen wie psychischen Strukturen [...], über die Fotografien die Wirklichkeit und die Identitäten erst konstituieren, die sie zu re-präsentieren vorgeben.«44 In der auditiven Medienkultur gibt es wesentliche Parallelen, man denke etwa, um ein plakatives Beispiel zu nennen, an die etablierten Stereotypen von Medienstimmen, die je nach Kontext Verlässlichkeit (Nachrichtenstimme), Optimismus (kommerzielles Radio) oder Erfolg (Werbung) ausstrahlen. Obwohl Klänge also zunächst als abstrakter erscheinen mögen als Bilder, sind diesen bzw. den auditiven Praktiken und Technologien, die die Klänge jeweils erzeugen, doch unzweifelhaft ideologische Programme eingeschrieben, die von den Visual Studies geprägte Sound Studies zu identifizieren hätten.

41 | Holschbach: »Einleitung«, S. 10 f. 42 | Ebd. 43 | Mitchell: »Interdisziplinarität und visuelle Kultur«, S. 38. 44 | Holschbach: »Einleitung«, S. 10 f.

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V ORSTELLUNG DER B EITR ÄGE I.

Auditive Kulturen als Gegenstand der Geistes- und Kultur wissenschaften

Zur Medialität und Historizität des Auditiven Eine medienwissenschaftliche Klangforschung verdankt ihren Gegenstand wesentlich der kulturtechnischen Übertragung, Speicherung und Bearbeitung auditiver Sinnesdaten. Durch diesen Umstand kommt insbesondere den Experimentalsituationen, die der Mediatisierung von Klang historisch vorausgehen, sowie ihren jeweiligen Kontexten eine besondere Bedeutung zu. Akustische Medienexperimente markieren eine Schwelle, an der sich Kulturtechniken in akustischen Medien formieren und ausdifferenzieren. Die Diskontinuitäten und Brüche, die an dieser Schwelle in der Wissensordnung vom Klang auftreten, thematisiert der eröffnende Beitrag von Daniel Gethmann. In genealogischer Perspektive skizziert dieser die historischen Voraussetzungen einer akustischen Medientechnik, ausgehend von Experimenten und Apparaturen des 17. Jahrhunderts von Galileo Galilei und Robert Hooke sowie deren Fortführung im 19. Jahrhundert durch Felix Savart, mit denen der Zusammenhang von Tonhöhe und Frequenz nachgewiesen wurde. Den Weg von der Frequenzbestimmung zur Medialisierung des Klangs zeigt Gethmann anhand eines instruktiven philosophical toys aus dem Jahre 1879 auf, das sich an den gerade entstehenden Massenmarkt für akustische Medientechniken richtet: die sog. Sprechenden Streifen (lames parlantes) von Jacques Paul Lambrigot. Im Rahmen solcher Medienexperimente bilden insbesondere die entstehenden Schall-Schriften eine wesentliche Voraussetzung für die weitere Entwicklung auditiver Medienkulturen: Die neue Schriftlichkeit der Phonographie lässt akustisches Material als Schall-Platte oder MagnetbandSchnipsel buchstäblich greifbar werden, bevor es sich in den digitalen Rastern von Samplerate und Bittiefe auflöst und zu virtuellen Objekten wurde, die sich mittels Maus und Tastatur manipulieren lassen. Rolf Großmann geht in seinem Beitrag daher der Frage nach, warum die Materialität des Klangs und die damit verbundene Medienpraxis der Musikkultur erst mit großer Verspätung zu Gegenständen musikwissenschaftlicher Forschung wurden. Musikalische Formen wie Musique concrète, Hiphop, Dub, Soundscapes und Klangkunst sind nur einige Stichworte dieses medienmusikalischen Wandels von der Notation der Tonhöhen zur Notation des Schalls – betroffen ist jedoch die gesamte auditive Kultur des Hörens und Gestaltens akustischer Phänomene. Eine wichtige Aufgabe der Musikwissenschaft sei somit nicht nur die Neubestimmung der Medialität und Materialität von Musik, sondern auch der Konzeption musikalischen Materials, da bisherige Materialdiskurse der Musik technische Medien als reine Vermittlungsinstanzen verhandeln, die im Hinblick auf von ihnen vermittelten Gegenstände neutral bleiben. Großmann hingegen zeigt, wie

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sich medienwissenschaftliche Positionen und Ansätze in der Musikwissenschaft fruchtbar machen lassen. Im Kontext der vielfältigen Zusammenhänge von Musik und Technik zeigt Rebecca Wolf auf, wie sich musikinstrumentenkundliche Methoden mit einer weiter gefassten kulturwissenschaftlichen Herangehensweise verbinden lassen. Als Plädoyer für eine interdisziplinäre Ausrichtung der Organologie beschäftigt sich dieser Beitrag vorrangig mit den Experimentatoren neuer Klänge im 19. und 20. Jahrhundert. Diese musikalischen Klangforscher, wie etwa Johann Nepomuk Mälzel, Theobald Böhm und Karlheinz Stockhausen, waren nicht selten Instrumentenbauer, Mechaniker, Musiker und Komponisten in einer Person. Die Präsentation neuer Erfindungen und Konstruktionen, sei sie in publizierter Form oder im Rahmen von Ausstellungen und Konzerten, spielt für die Wahrnehmung der Instrumente eine überaus wichtige Rolle und zeigt ausdrücklich Gemeinsamkeiten sogenannter herkömmlicher und elektronischer Musik. Die bis heute praktizierte Trennung zwischen der historischen Musikwissenschaft und der Instrumentenkunde erscheint aus dieser Perspektive als äußerst fragwürdig. Cornelia Epping-Jäger nimmt in ihrem Beitrag zur medialen Stimme ein 1931 von Karl Bühler an der Wiener Universität initiiertes Forschungsprogramm in den Blick, in dem eine Gruppe junger, experimentell arbeitender Psychologen das so genannte »Klanggesicht« einer Person als mediales Phänomen entdeckte. In verschiedenen Zuordnungsexperimenten untersuchten u. a. Herta Herzog und Paul Lazarsfeld im Rundfunk übertragene Stimmen, die sie nicht mehr als bloßes Indiz der seelischen Verfasstheit ihrer Sprecher verstanden, sondern auch in Hinblick auf ihre soziale Adressierungsfunktion beobachteten. Angeregt durch die noch junge Medientechnik des Radios wurde erstmals ein zuvor erlebnispsychologisch gefasster Ausdrucksbegriff durch einen neuartigen Ausdrucksbegriff ersetzt, der sich stattdessen an einem mediatisierten Kommunikationsraum, einem Klangdispositiv, orientierte. Das anhand der Radioexperimente des Jahres 1933 entworfene theoretisch-methodische Forschungsparadigma bindet die Analyse des Ausdrucksphänomens ‚Stimmklang‘ auf diese Weise konstitutiv an die medialen Dispositive, in denen Klang prozessiert wird. Der Bühlersche Ansatz könnte so zu einem kulturwissenschaftlichen Analysemodell beitragen, welches das Spannungsverhältnis zwischen anthropologischer Stimme und dem Klang der Stimme in dispositiver Situiertheit aufzuzeigen vermag. Unabhängig von den Bedingungen ihrer Erzeugung und Verbreitung sind Klänge immer auch Zeichen. Aber gibt es auch Zeichen, die nur als Klänge möglich sind? D. h. Zeichen, deren Bedeutsamkeit nicht anders realisiert werden kann als im Medium des Hörbaren? Dieser Frage widmet sich der Beitrag von Jochen Venus zur Semiotik des Klangs. In den 1960er Jahren versprach die strukturalistische Semiotik, alle Zeichenprozesse unter einem einheitlichen, neutralen und logisch strengen Paradigma beobachten und erklären zu können. Im Bereich des Akustischen aber hat

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sich diese analytische Strategie jedoch als wenig tragfähig erwiesen. Bis heute ist ungeklärt, was das Besondere klanglicher Zeichen sein könnte. Den Grund dafür sieht Venus darin, dass sich die semiotische Forschung vor allem am sprachlichen Zeichen orientierte und dadurch alle Zeichenprozesse nach dem Modell der Lektüre arbiträrer Zeichen rekonstruierte, und zeigt Alternativen zu einer solchen Modellierung. Wenn wir einen Klang hören, verstehen wir nicht, was er uns »sagen« will. Vielmehr informiert er uns über klingende Geschehnisse, die als ereignishafte Klangquellen verstanden werden. Dieses Faktum der Klangsemiose wird genau dann zur zeichenanalytischen Herausforderung, wenn es sich bei den Klangquellen um mediale Klangquellen handelt, um Klänge, die andere Klänge vermitteln. Mit den modernen technischen Klangmedien tritt der Klang der Technik und der Klang der technisch vermittelten Klänge derart auseinander, dass ›zweiklangliche‹ Klangzeichen entstehen, die in Opposition zu anderen Klangzeichen zu kulturell gepflegten Sounds werden und ein eigenes System kultureller Bedeutung errichten. Nach einer langen Hochkonjunktur der Bildwissenschaft interessieren sich die Kultur- und Medienwissenschaften seit einiger Zeit auch verstärkt für die Bedeutung der Klänge und der akustischen Kommunikation. Die Geschichtswissenschaft spielt im Rahmen dieser sich neu etablierenden Sound Studies bisher allerdings noch keine große Rolle. Sie fungiert dort vor allem als Hilfswissenschaft für historisch ausgerichtete Klangforschungen. Die grundsätzliche Historizität, d. h. die historische Verfasstheit der Sinne – und mithin des Hörens – sowie den Vorstellungen über diese müssen jedoch auch bei der Erforschung gegenwärtiger Medienkulturen berücksichtigt werden, sofern man nicht Gefahr laufen will, kulturelle Zuschreibungen über den Sinn der Sinne für natürliche Gegebenheiten zu halten. Vor diesem Hintergrund rekapituliert der Beitrag von Daniel Morat den gegenwärtigen Stand der interdisziplinären Klangforschung und verdeutlicht anhand dessen einen möglichen Beitrag der Geschichtswissenschaft, den Morat exemplarisch auf die drei Leitbegriffe Historisierung, Aneignung und Kontextualisierung bringt.

Klang als Problem in der Musikwissenschaft ›Klang‹ scheint bis heute einen problematischen Gegenstand für die Musikwissenschaft –  und zumal für die historische Musikwissenschaft – darzustellen. Das liegt nicht zuletzt an dem Umstand, dass die Musikwissenschaft nur zaghafte Versuche unternommen hat, neben ihrem altbewährten Arbeitsmedium, der musikalischen Notation, auch andere Schall-Schriften zuzulassen – mit dem Ergebnis, dass der Klang der Musik nur selten zum Thema musikwissenschaftlicher Forschung wurde. Die Beiträge dieser Sektion adressieren dieses Problem aus verschiedenen Blickwinkeln, stellen dabei aber auch historische wie gegenwärtige Versuche zur Überwindung dieser Situation dar.

E INLEITUNG

Hansjakob Ziemer geht in seinem Beitrag über den Klang der Gesellschaft zunächst der Frage nach, wie die Zeitgenossen zu Beginn des 20. Jahrhunderts versuchten, die Spannung zwischen dem Sozialen und dem Individuellen in ihren Reflexionen zum Klang im Konzert zu lösen. In ihm wird der historische Kontext von Paul Bekkers Versuch rekonstruiert, erstmals die soziale Dimension von Klang im Konzert zu erfassen. Bekker griff hierfür auf eine latente soziale Bedeutung von Klang im allgemeinen ästhetischen Diskurs vor dem Ersten Weltkrieg zurück. Dabei wird argumentiert, dass Bekker für seine Soziologisierung des Klangs eine Utopie einer musikalischen Gesellschaft entwarf. In der Folge setzten sich Bekkers soziologische Ideen zwar zunächst nicht durch, sondern stattdessen etwa die musiksoziologischen Schriften Adornos, die eine neue Perspektive auf das Verhältnis von Musik und Gesellschaft warfen, in der Klang eine untergeordnete Rolle spielte. Dennoch wurde der Klang im Konzert angesichts des Wandels in den Hörformen im Diskurs der 1920er Jahre als eine eigenständige Kategorie wahrgenommen. Das Verhältnis von Musik und Soziologie adressiert auch der Beitrag von Marcus S. Kleiner in Form eines detaillierten Literaturberichts. Die akademische Soziologie thematisiert ›Musik‹ im Feld einer ihrer Bindestrichgebiete, der Musik-Soziologie, die ebenso wie die Kunst-Soziologie ein Nischendasein fristet. Auch in der Musikwissenschaft wird ihr als Teilgebiet der systematischen Musikwissenschaft nur verhältnismäßig wenig Interesse entgegengebracht. Diese Marginalisierung ist erstaunlich, insbesondere wenn man bedenkt, dass die soziologische Theorietradition durchaus prominente Beiträge zur Musiksoziologie aufweist – vor allem im Kontext ihrer Begründung als Kulturwissenschaft. Für Kleiner ein Indiz dafür, dass die entscheidenden Impulse für die Weiterentwicklung der Musiksoziologie nicht mehr aus der Soziologie selbst kommen. An dieser Situation hat auch das seit einigen Jahren zunehmende Interesse an kultursoziologischen Fragestellungen nichts grundlegend geändert. Die soziologische Forschung besitzt bis heute keinen Sinn für die Bedeutung der Omnipräsenz von Musik im Alltag, sondern zeichnet sich durch eine regelrechte »Gehörlosigkeit« aus. Der Beitrag rekapituliert zunächst die wichtigsten Positionen der Musiksoziologie von ihren Anfängen bis zur Gegenwart und stellt im Anschluss Möglichkeiten vor, wie musiksoziologische Ansätze um eine Perspektive auf die Klanglichkeit der Musik aktualisiert und auf diese Weise zur Erforschung auditiver Medienkulturen genutzt werden können. ›Klang‹, so lautet wiederum die Diagnose von Sebastian Klotz, ist zu einer generativen Metapher für ein Bündel von künstlerischen und wissenschaftlichen Zugängen geworden, ohne dass eine präzise Definition vorliegt. Das in den Medienwissenschaften entwickelte Konzept des ›Sonischen‹ stelle diesbezüglich einen wichtigen Differenzierungsversuch dar. In seinem Beitrag weist Klotz anhand eines Streifzugs durch aktuelle Arbeiten aus dem Feld des Sound and Music Computings nachdrücklich auf die Operativität von Klängen hin und zeigt auf, dass sich sich die-

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se nicht mittels klassischer, d. h. hermeneutischer und musikologischer Verfahren charakterisieren lässt. Aufgrund der Operativität der Klänge in signalverarbeitenden Systemen hätten Klangforscher neben den semantisch aufgeladenen Praxen des menschlichen Hörens nunmehr auch ein technisches Registrieren und Prozessieren klanglicher Phänomene zu berücksichtigen, woraus sich neuartige methodische Herausforderungen für die Audio-Wissenschaften ergäben. Als Ausgangspunkt für solche Untersuchungen schlägt Klotz eine Beschreibung von Klängen als operative Prozesse vor, die gleichwohl mit einer musikologischen Expertise verbunden werden sollte.

Sound Studies als Er weiterung der Musikwissenschaft? Angesichts der allgegenwärtigen Mediatisierungen akustischer Phänomene und auditiver Wahrnehmungsprozesse stellt sich daher die Frage, inwiefern das interdisziplinäre Feld der Sound Studies als Erweiterung der Musikwissenschaft verstanden werden kann. Die Termini Organised Sound und Sound Studies können als Kennung einer medien- und kulturwissenschaftlichen Neujustierung von Themengebieten und Fragestellungen der Musikwissenschaft verstanden werden − als Signal, wissenschaftliche Limitierungen in der Orientierung an einem historisch begrenzten, medienontologisch fixierten Musikverständnis nachhaltig aufzubrechen und erweiterte Perspektiven der Untersuchung klanglicher Phänomene als Teil auditiver Medienkulturen zu erschließen. Diesbezüglich legt der Beitrag von Bettina Schlüter zunächst in einer übersichtlichen Zusammenschau dar, an welchen Stellen sich eine solche Neuorientierung als inkompatibel zu einem tradierten Fachverständnis und dem dort akzentuierten Musikbegriff erwies. Am Beispiel der angloamerikanischen New Musicology werden im Anschluss jene wissenschaftlichen Transformationen diskutiert, die ab den 1990er Jahren die Gegenstands- und Untersuchungsspielräume der Musikwissenschaft erweiterten, neue Impulse setzten und damit zugleich die Grundlagen für eine kultur- und medienwissenschaftliche Öffnung des Fachs legten. Das Feld der Sound Studies hat sich jedoch nicht nur aus der Musikwissenschaft selbst heraus gebildet, sondern ist vor allem aus einer starken Auseinandersetzung mit experimenteller Musikpraxis entstanden. Dieser Tradition der Sound Studies widmet sich der Beitrag von Sabine Sanio. In diesem erläutert Sanio ihren Begriff der ›auditiven Kultur‹, der sich insbesondere an unterschiedlichen Weisen des Hörens orientiert. So stehe eine Theorie auditiver Kultur vor der grundsätzlichen Frage, wie der Erfahrungsraum der Moderne aus der Perspektive des Hörens beschrieben werden kann. Sanio fasst die Frage nach dem Hören dabei als Ergebnis einer Ausdifferenzierung des Musikbegriffs, die dazu geführt hat, dass sich die klassische Vorstellung von ›Musik‹ als von Komponisten geschaffene Werke aus gesetzten und arrangierten Tönen im Laufe des 20. Jahrhunderts immer stärker in Richtung eines Musikbegriffs verschoben hat,

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der aus der Perspektive des Hörers formuliert wird. Exemplarisch stellt Sanio für ihr Konzept der auditiven Kultur einige Kernideen von Komponisten und Klangkünstlern vor, die die Nähe von künstlerischen und wissenschaftlichen Strategien produktiven Hörens belegen.

II. Fallbeispiele: Auditive Medienkulturen in Geschichte und Gegenwart Kulturen der Klanggestaltung Die Technik der Isolation und die Technik der Übertragung, beide in akustischen Laboratorien entwickelt, stellten die Architektur im 20. Jahrhundert auf neue Grundlagen. In einer parallelen Betrachtung der Entwicklungen im Laboratoriumsbau der akustischen Forschung, die im Electro-Acoustic Laboratory (EAL) der Harvard University von 1943 einen vorübergehenden Höhepunkt erreichten, sowie der Szenografie des House of the Future von Alison und Peter Smithson (eines introvertierten Modells in der Ideal Home Wohnausstellung im Jahr 1956) rekonstruiert Sabine von Fischer Raumkonzeptionen der Stille und der Intimität. Für die akustische Forschung waren die »anechoischen«, d. h. schalltoten Versuchsräume eine Voraussetzung, um elektroakustische Schallsignale ingenieurswissenschaftlich untersuchen zu können. In der privaten Welt des Heims bediente die Schallisolation das Bedürfnis der Nachkriegsgeneration nach einer Abgrenzung gegen eine feindliche Außenwelt und wurde so zur Bedingung für Intimität als einer unmittelbaren und doch kontrollierbaren Erfahrung. Die Geschichte der Musikproduktion ist ebenso durch die mediale Gestaltung von Hörerfahrungen geprägt. Zu den Meilensteinen der Recording Culture gehören nicht zuletzt die Studioproduktionen der Beatles, die speziell 1967 im Londoner EMI-Studio in der Abbey Road mit ihrem Album Sgt. Pepper’s Geschichte schrieben. Die Entstehung dieses Albums, das als eines der ersten Konzeptalben der Popmusik gilt, bildet den Gegenstand des Beitrags von Volkmar Kramarz. Erstmalig nutzten hier Musiker aus dem Bereich der Unterhaltungsmusik gemeinsam mit einem erfahrenen Produzenten und einem routinierten Team von Technikern die gestalterischen Möglichkeiten, die ein Tonstudio zur Verfügung stellen konnte. Die Beatles gingen damit über das reine Dokumentieren von Klängen hinaus und begannen, das Studio als solches wie ein eigenständiges Instrument einzusetzen – ganz ähnlich wie die Protagonisten der elektronischen EMusik. Diese Umdeutung des Tonstudios geschah, obwohl die EMI bis dahin praktisch keinerlei Experimente oder musikalische Innovationen in ihren Studios zugelassen hatte, nicht zuletzt deshalb, weil die Fab Four aus Liverpool jeglichen kommerziellen Erfolg, der überhaupt nur denkbar war, bereits zuvor erreicht hatten und dadurch einen nahezu unbegrenzten Zugang zu allen Studioeinrichtungen einfordern konnten.

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Eine vergleichbar revolutionäre Zäsur in der Geschichte der Filmtongestaltung behandelt der Beitrag von Jan Philip Müller. Dieser verfolgt eine Genealogie der Diskurse und Techniken des Auditiven zwischen Pierre Schaeffers Ende der 1940er Jahre entstehenden Musique Concrète und der sich mit dem Begriff ›Sound Design‹ andeutenden Veränderungen der Filmtonästhetik in den 1970er Jahren. Exemplarisch werden die neuen ästhetischen Strategien anhand der von Walter Murch gestalteten Tonspur für den Film THX 1138 (1971) von George Lucas untersucht werden. Entlang zweier paradigmatischer Verfahren Schaeffers – die ›abgeschnittene Glocke‹ (cloche coupée) und die ›geschlossene Rille‹ (sillon fermé) – wird zunächst dessen Konzept des ›Klangobjekts‹ und der damit formulierten Begründung einer originären Klang-Forschung nachvollzogen. In den Film-Sound-Strategien Murchs, wie dem sog. ›Worldizing‹ und dem gezielten Aufspannen von Übergangszonen zwischen den vormals weitgehend getrennten Elementen Sprache, Musik und Geräusch, wird schließlich deutlich, wie einerseits Aspekte der Musique Concrète in Tonfilm übersetzt werden und andererseits aber die spezifischen Effekte des Sound Designs in THX 1138 ihre Macht gerade von dort entfalten, wo sich in der Konzeption Schaeffers epistemologische Probleme bei der Identifikation von Klangobjekten abzeichnen. Der anschließende Beitrag von Golo Föllmer geht davon aus, dass Faktoren der Klanggestaltung auch im Radio eine viel größere Rolle spielen, als es die bisherige Praxis der Radioprogrammforschung impliziert. Diese ist seit ihrer Entstehung weitgehend eine Frage des Inhalts, d. h. Studien untersuchen primär Informationsgehalte, journalistischen Stil, Musikfarbe, das Verhältnis von Musik und Sprache etc. Demgegenüber konzentriert sich der Beitrag auf die Produktionskriterien von Radiopraktikern, die darauf zielen, eine konsistente ›Anmutung‹ eines Senders, die sog. Wellenidentität, zu erzeugen. Es wird angenommen, dass u. a. differenzierte Sprechweisen, Aspekte des Timings, des Pegels und des Rhythmus im Programmfluss, technische Signalbearbeitung (Filterung, Kompression) und der Sound von Verpackungselementen (Jingles, Station-IDs etc.) zu diesen ästhetischen Faktoren gehören. Nach einem kurzen Überblick über bisherige Forschungsansätze zur ästhetischen Dimension des Radios skizziert Föllmer einige methodische und theoretische Ansätze, die zum Studium der auditiven Kultur und Ästhetik von Radiosendern genutzt werden können.

Klangorte und Hörräume Lange Zeit bildeten die Phänomene und Formen des Akustischen auch in der Intermedialitätsforschung einen vernachlässigten Bereich. Um Hörspiele, in denen Transpositionen künstlerischer Medien wie Literatur, Theater oder Film als Ergänzung der auditiven Ebene durch visuelle Darbietungsformen in ästhetischen Strömungen innerhalb des Mediums Rundfunk stattfinden, als Medienkombinationen erfassen zu können,

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bietet sich aus kultur- und medienwissenschaftlicher Perspektive jedoch gerade der begriffliche Untersuchungsrahmen von Intermedialität und Hybridität an. Anhand von zwei gegenwärtigen Produktionen zeichnet der Beitrag von Bettina Wodianka dieses Wechselspiel nach, indem die jeweiligen Übersetzungsstrategien herausgestellt werden. In Wodiankas Analyse erscheinen die Medienwechsel im aktuellen Hörspiel als komplexe, durch die Rezeptionsästhetik der auditiven Künste und Medienkulturen geprägte Transformationsprozesse, die das Wechselspiel der Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit im Spannungsfeld zwischen Hören und Sehen zum künstlerischen und spielerischen Programm machen und eben darin einen eigenen medienästhetischen Diskurs herausbilden. Der Beitrag von Gregor Schwering adressiert eine strukturelle Homologie zwischen den Konzepten des psychoanalytischen Settings und der Ambient Music von Brian Eno. Dabei gerät ein Hörraum in den Fokus, der das Gehörte nicht länger objektiv zu ergründen sucht, sondern einen Prozess in den Vordergrund rückt, der maßgeblich von den Annahmen einer »gleichschwebenden Aufmerksamkeit« (Freud) bzw. »surrounding influence« (Eno) geprägt ist. In diesem wird ein Hörakt präferiert, in dem vor allem die Öffnung sowie Offenheit des Ohrs für eine Mitsprache seiner Umwelt zum Thema werden kann und wird. Mit diesem Konzept eines ergebnisoffenen Hörens verbindet Schwering den Vorschlag, die so erarbeiteten Begriffe für die Beobachtung der Nutzungsverhältnisse von sog. Ambient-Medien zu nutzen. Die Sound Studies bilden Trevor Pinch und Karin Bijsterveld zufolge »ein emergierendes interdisziplinäres Feld, welches sich mit der materiellen Produktion und Konsumption von Musik, Klang, Geräusch und Stille und dem historischen Wandel dieser Prozesse innerhalb verschiedener Gesellschaften beschäftigt«.45 Mit dieser expliziten Betonung der Materialität des Auditiven verbindet sich nicht nur theoretisch, sondern auch methodologisch der Anspruch, Fragen nach der spezifischen Bedeutung von Medientechnologien, mittels derer Klänge, Geräusche und Musik wahrnehmbar werden, stärker als bisher ins Blickfeld interdisziplinärer Forschung zu auditiven Kulturphänomenen zu rücken. Der Beitrag von Steffen Lepa zeigt anhand einer wahrnehmungsökologischen Studie, dass die Wahl unterschiedlicher Technologien zur Wiedergabe von Musik (v.a. zwischen Kopfhörer- bzw. Lautsprecherwiedergabe) stark davon abhängig ist, mit welchen emotionalen Zuschreibungen das jeweilige Wiedergabedispositiv besetzt ist und macht dadurch deutlich, wie sowohl die Musikals auch die Medienwissenschaft von methodischen Ansätzen der empirischen Musiksoziologie profitieren kann. Einen ebenfalls empirischen Ansatz zur Erforschung auditiver Medienkulturen verfolgt der Beitrag von Judith Willkomm, der sich der ethnografischen Untersuchung bioakustischer Feldforschung widmet. Für die Bioakustik – ein Forschungsgebiet, das sich mit den Lautäußerungen 45 | Pinch/Bijsterveld: »Sound Studies«, S. 636.

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von Tieren und deren auditiver Wahrnehmung beschäftigt – gehört der Umgang mit Audiotechnik zur wissenschaftlichen Alltagspraxis. Anhand von vier exemplarischen Fallstudien aus unterschiedlichen Bereichen der aktuellen bioakustischen Forschung macht Willkomm auf den wechselseitigen Einfluss zwischen Forschenden, Forschungsfeld und akustischer Medientechnik aufmerksam und entwickelt dabei einen medienethnografischen Ansatz für die Analyse auditiver Erkenntnisformen in den Naturwissenschaften. Im Zentrum des Beitrags steht die Frage, welche Funktion akustische Aufzeichnungsgeräte im Feldforschungsprozess einnehmen können und in welchem Verhältnis die medial erhobenen Daten zu den auditiven Beobachtungen der Forschenden im Feld stehen. Im letzten Beitrag des Bandes beschäftigt sich Thomas Wilke mit der Diskothek als einem spezifischen Hörraum zur Rezeption von Musik. Dabei wird die Diskothek modellhaft als ein räumlich-strukturiertes Dispositiv verstanden, das heterogene Faktoren vereint, spektakuläre Hörsituationen schafft und auf eine kontingente und transitorische Weise gemeinschaftsstiftend wirkt. Der sozialtopographische Ort der ›Diskothek‹ wird dabei im Anschluss an Forschungen des Spatial Turns in drei Raumbegriffe unterteilt und dabei als technischer, semiotischer und kulturpragmatischer Raum verstanden. Die technischen Räume zeigen die notwendigen Voraussetzungen eines funktionierenden Dispositivs, aus dem sich ästhetisierende Effekte ergeben. Der semiotische Raum beschäftigt sich mit der Zeichenhaftigkeit des Programms in der Diskothek, also dem, was dort an Handlungen, Prozessen, Kommunikationen beobachtbar wird. Die Diskothek als ein kulturpragmatischer Raum wiederum stellt die diskursiv verankerten, historischen wie aktuellen Wechselverhältnisse zwischen dem »Dispositiv Diskothek« und herrschenden gesellschaftlichen Realitäten heraus. Indem Wilke aufzeigt, wie diese Raumdimensionen aufeinander auf bauen, nebeneinander existieren und sich wechselseitig beeinflussen, erinnert der Beitrag noch einmal daran, dass die Erforschung auditiver Medienkulturen mehrdimensionale Zugänge erfordert, die sowohl technisch-apparative Anordnungen, kulturelle Praktiken und Diskurse des Auditiven gleichermaßen berücksichtigt.

D ANK An dieser Stelle möchten wir uns ganz herzlich bei Anja Griesbach, Jan Wagener und Janis Powileit für ihre engagierte Mitarbeit am Lektorat der Beiträge und dem Textsatz des Manuskripts bedanken. Unser Dank gilt ferner der VolkswagenStiftung, namentlich Frau Dr. Vera Szöllösi-Brenig, für die Ermöglichung eines Symposiums zum Thema im Jahr 2010 sowie allen Helferinnen und Helfern, die uns bei der Ausrichtung der Veranstaltung unterstützt haben. Weiterhin danken wir allen Autorinnen

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und Autoren, Susanne Holl für die freundliche Erlaubnis, die Laudatio von Friedrich Kittler auf Brian Eno in den Band aufnehmen zu dürfen, Textworks Translations und dem transcript Verlag für die angenehme Zusammenarbeit. Siegen, im Oktober 2012

Axel Volmar Jens Schröter

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Bei Tanzmusik kommt es einem in die Beine * Friedrich Kittler

Mr. Eno, meine Damen und Herren, Musik ist eine Sache, Wissenschaft eine andere. Die eine geht unmittelbar in die Beine, die andere kommt erst nach langen Umwegen über Bücher, Geschichten oder Techniken wieder auf dieser Erde an. Verzeihen Sie es daher einem Medienhistoriker, die Aktualität der Musik, die wir heute ehren, nur über historische Arabesken und theoretische Überbauten zu erreichen. Immerhin hat besagte Theorie in ihrer historisch höchsten Form es schon einmal geschafft, die Sache mit der Musik und den Beinen auf den Punkt zu bringen. In den Vorlesungen, die Georg Friedrich Wilhelm Hegel hier in Berlin seit 1828 über Philosophie der Kunst hielt, standen die denkwürdigen Sätze: Die eigentümliche Gewalt der Musik ist eine elementarische Macht, d. h. sie liegt in dem Elemente des Tones, in welchem sich hier die Kunst bewegt. Von diesem Elemente wird das Subjekt nicht nur dieser oder jener Besonderheit nach ergriffen oder bloß durch einen bestimmten Inhalt gefaßt, sondern seinem einfachen Selbst, dem Zentrum seines geistigen Daseins nach in das Werk hineingehoben und selber in Tätigkeit gesetzt. So haben wir z. B. bei hervorstechenden, leicht fortrauschenden Rhythmen sogleich Lust, den Takt mitzuschlagen, die Melodie mitzusingen, und bei Tanzmusik kommt es einem sogar in die Beine.1

Der Grund solcher Lust aber ist unsere Widerstandslosigkeit gegenüber Musik: Im Unterschied zu allen anderen Künsten, die ja nur Räume oder Flächen mit Gebilden oder Zeichenketten füllen, fällt die Musik, weil sie * | Festvortrag anlässlich der Verleihung des 01-Awards 1998 an Brian Eno im Rahmen des 2. Multimedia Forums in Berlin, 20. November 1998. 1 | Hegel: Ästhetik, S. 276; vgl. auch S. 245.

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nichts als Zeit ist, mit dem Sein ihrer Hörer zusammen. Was Hegel als ihre »elementarische Macht« feiert, folgt unmittelbar aus seinem Satz, dass »das Ich in der Zeit«, »die Zeit« aber »das Sein des Subjekts selber ist«.2 Mit anderen Worten: Musik wirkt, ohne dass irgend eine Ästhetik noch theoretische Brücken zu ihr schlagen müsste. Nietzsche bei all seiner Hegelfeindschaft schrieb daher nur Hegel fort, als er »Ästhetik« »nichts als eine angewandte Physiologie« nannte und die rhetorische Frage stellte: »Was will eigentlich meiner ganzer Leib von der Musik überhaupt? Denn es gibt keine Seele...«.3 Solche eleganten Schlussfolgerungen würde jeder Technofreak von heute unterschreiben, wenn es mit der Austreibung der Seele aus Musik und Ästhetik nur so einfach gewesen wäre. Aber das ganze Glück oder Unglück Europas lag gerade darin, die von Hegel gefeierte elementarische Macht der Musik immer schon aufgehoben zu haben. Elemente heißen zwar jene unvordenklichen und unumgänglichen Gegebenheiten, die uns buchstäblich umgeben – aber nicht schon immer. Bei den Griechen nämlich besagte Element, lange bevor es zum gemeinsamen Namen von Wasser und Feuer, Erde und Luft aufrückte, schlicht und einfach Buchstabe. Das griechische Vokalalphabet, weil es als erste Totalanalyse einer gesprochenen Sprache wiederkehrende Laute in eine abzählbare Menge von Zeichen überführte, hatte den Begriff Element nachgerade hervorgerufen. Folgerichtig standen seine vierundzwanzig Buchstaben schon seit Anbeginn für Laute und Zahlen zugleich; die Pythagoreer brachten ihnen auch noch bei, für musikalische Intervalle zu stehen. Die Musik geriet also in Europa unter die höhere Macht eines Codes, der sie zwar anschreibbar, abzählbar und speicherbar machte, aber gerade darum ihre Macht notwendig verfehlte. Zum Zeichen dessen soll Pythagoras seine musiktheoretische Inspiration zwar im Ambiente einer dröhnenden Schmiede empfangen haben, aber was seine Mathematik ganzer Zahlen dann durchrechnen konnte, waren einzig und allein die dünnen farblosen Töne eines Monochords. Weder die Intervallbuchstaben der Griechen noch auch die Notenlinien und Notensymbole, mit denen Guido von Arezzo zu Beginn unseres Jahrtausends die musikalische Neuzeit einläutete, sind daher imstande, die akustisch-physikalische Wirklichkeit von Musik mehr als bloß zu bezeichnen. Eher haben sie umgekehrt dafür gesorgt, dass nur solche Musik gemacht wurde, die sich auch schreiben ließ. Zumindest in der Hochkultur war das Medium Papier wichtiger als instrumentale Klangfarben, physikalische Lautstärken und absolute Tonhöhen. Denn dieses Papier gewährte der europäischen Musik die einmalige Möglichkeit, aus der vergehenden Zeit zu springen. Es machte die Zukunft einer Melodielinie oder Harmoniefolge planbar und von dieser Zukunft her auch wieder die Gegenwart. Ohne solche Rückläufigkeit, wie es sie nur in Speichermedien gibt, wären die Krebsgänge bei Bach oder die Leit2 | Hegel: Ästhetik, S. 277. 3 | Nietzsche: Nietzsche contra Wagner, S. 1041.

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motive bei Wagner gar nicht zu schreiben gewesen. Die Zeit selber ließ sich verwürfeln wie sonst nur noch die Buchstaben im Anagramm oder Palindrom, also auf dem Papier. Für dieses Vorrecht namens Komposition zahlte die europäische Musik jedoch den hohen Preis, dass alles, was Hegels Beine oder Nietzsches ganzer Leib von ihr erwarteten, frommer Wunsch bleiben musste. Sicher, schon das neunzehnte Jahrhundert in seiner Liebe zu allen achtzig neuentdeckten Elementen hat alles menschenmögliche unternommen, um den frommen Wunsch seiner Philosophen zu erhören. Was die Partituren an elementarischer Macht nicht hergaben, lieferten neue Berufe wie der Virtuose oder Dirigent aus freien Stücken nach. Was die alteuropäischen Opernhäuser und Konzertsäle nicht hergaben, gingen Architekten wie Langhans, der ja nicht nur das Brandenburger Tor baute, mit physikalisch optimierter Akustik an. So gelang es doch noch, der Musik jene Seele einzuflößen, die es laut Nietzsche gar nicht gibt. Ohne seine Dirigenten und Virtuosen, seine Architekten und Akustiker wäre Bayreuth auch in den Sommerwochen ein verschlafenes Provinznest geblieben. Nur am Notenpapier, der materiellen Basis aller europäischen E-Musik, hat nicht einmal Richard Wagner gerüttelt. Dabei hätte er es können. Sechs Jahre, bevor der Herr aller Trommelfelle dem Tod in Venedig begegnete, bastelte ein Zeitgenosse Wagners den ersten papierlosen Musikspeicher zusammen: 1877 konnte Thomas Alva Edison einer staunenden Zeitungsöffentlichkeit den Prototypen seines sogenannten Phonographen vorstellen. Damit war die physikalische Akustik, wie sie schon Theaterarchitekten wie Langhans inspiriert hatte, endlich in Hardware gegossen. Musik schrieb sich von selber auf, ohne den Umweg griechischer Buchstaben oder mittelalterlicher Noten nehmen zu müssen. Was das an Neuerungen versprach, scheint Edison, offenbar gerade weil er halbtaub und unmusikalisch war, sofort erkannt zu haben. Denn seine Tonwalze hat nicht nur Opernsänger wie Caruso oder Blaskapellmeister wie Sousa unsterblich gemacht, sondern auch so notenpapierlose Komponisten wie den Mississippi. Ol’ Man River, dieser Held der frühen Jazz-Songs, ist genau das Rauschen, das Edison und seine Fortsetzer, also Phonograph und Grammophon, musikalisch allererst möglich gemacht haben. Ol’ Man River ist zugleich das Eingedenken daran, dass der gute alte Jazz ohne Schallplatte gar nicht denkbar gewesen wäre. Der Wind hätte sie alle längst verweht, jene musikalischen Analphabeten, die seit der Jahrhundertwende zur Trompete oder Posaune griffen, um Musik ohne Notenpapier und Harmonielehre zu machen. Improvisation, ob in New Orleans oder später in Chicago oder New York, hieß ganz schlicht, der vergehenden Zeit vertrauen zu können, einfach weil die andere, kompositorische Seite von Musik der mechanischen Aufzeichnung selber überlassen bleiben durfte. Damit hat der Jazz nicht bloß Philosophen erbost, die wie Adorno das musikalische Material weiterhin nur in Papierform zuließen, sondern seinen eigenen Möglichkeiten auch eine Grenze gesetzt. Mit leichter Übertreibung gesagt: die

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Musik war immer nur so komplex, dynamisch und obertonhaltig, wie ihre technischen Medien das erlaubten. Wenn Tenorsaxophonisten wie Lester Young ihr Instrument ausreizten, blieben sie doch in der akustisch ziemlich bescheidenen Frequenzbandbreite jenes Mittelwellenradios, das ihre Schallplatten in den Dreißigern auflegte. Erst als das UKW diese Brandbreiten aus guten militärischen Gründen im Zweiten Weltkrieg weit nach oben trieb, wurde auch der BeBop von Gillespie und Parker zur Möglichkeit. Mit Undezimen und Tredezimen über dem Grundton feierte sich die Frequenzbandbreite von UKW als solche. Aber während in den Clubs von Harlem der BeBop mit Obertönen und Kokain experimentierte, lief besagter Weltkrieg weiter. Es waren keine Schallplattenkäufer, sondern Bomberpiloten im Coastal Command der Royal Air Force, denen ein unerhörtes akustisches Experiment erstmals zu Ohren kam. Für die Schlacht um England hatte die Decca zwischen 1941 und 1942 eine Schallplatte entwickeln müssen, deren Frequenzbandbreite weit über Edisons Phonograph und Berliners Grammophon hinausging. Sie versprach nämlich – und das schon im Markennamen selber – full frequency range reproduction, die volle Wiedergabe aller für Menschen hörbaren Frequenzen. An ffrr-Schallplatten sollten die Bomberpiloten noch in ihrer Trainingsphase lernen, abgetauchte, also unsichtbare deutsche U-Boote von ihren abgetauchten britischen Zwillingen akustisch zu unterscheiden. Denn nur wenn das Motorengeräusch, wie es am untersten Ende des Hörbereichs erklang, ein U-Boot des Gegners verriet, durften die Wasserbomben ausgeklinkt werden. Aus dieser Minimierung von friendly fire ist dann unmittelbar nach Kriegsende das freundliche Feuer unserer alltäglichen HiFi-Qualität hervorgegangen. Aber auch Britanniens Gegner schliefen nicht. Ein großer Kunsthistoriker, der damals im Auftrag seines Geheimdienstes deutsche Soldatensender abhörte, hat von seiner Verblüffung berichtet, als die Tonqualität dieser Stationen 1943 einen technischen Sprung nach vorn machte. Feindsendungen, die nachweislich gar nicht vor dem Mikrophon hatten stattfinden können, sondern als Tonkonserven abgespielt sein mussten, klangen mit einemmal live. Erst 1944, als Eisenhowers Panzerspitzen Paris befreiten, lichtete sich dieses Geheimnis. Auch im Soldatensender Paris stand jenes brandneue Gerät, das die akustische Anwesenheit von Abwesenden einfach deshalb simulieren konnte, weil seine Frequenzbandbreite mit der von Menschenohren fast zusammenfiel. Das Tonbandgerät, wie es damals noch in umständlichem Technikerdeutsch hieß, lief aber nicht nur in öffentlichen Sendern, sondern auch in den Folterkammern der Gestapo und in den Funkerräumen der Kriegsflotte. Dort hatte es den noch geheimeren Auftrag, die Zeit selber zu verwürfeln. Tonbandmitschnitte ließen sich – im Unterschied zu allen Tonwalzen oder Schallplatte – mit Schere und Klebeband so kleinteilig bearbeiten, bis aus einer empirisch abgelaufenen Zeitfolge all ihre Anagramme oder Palindrome zusammengebastelt waren. Genau jene Zauberei also, die die europäische Musik nur im Medium ihres Notenpapiers, also nur für abstrakte Intervalle hatte

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vollbringen können, erfasste erstmals das weite, ja unermessliche Feld konkreter Klänge. Diese Konkretion der Montage ist bekanntlich unmittelbar nach Kriegsende zum Eigennamen einer ganzen Musikart aufgestiegen. Weniger bekanntlich bleibt, dass Pierre Schaeffers musique concrète auf der medientechnischen Basis einer Kriegsbeute entstand. Ohne die vormagnetisierten Tonbänder der BASF hätten weder Schaeffer noch der frühe Stockhausen ihr musikalisches Neuland betreten können. Denn Bandaufnahmen erlauben nicht nur, die Zeit zu verwürfeln; ihre durchregelbaren Laufgeschwindigkeiten machen es auch möglich, die Mikrozeit des Hörens ganz so zu manipulieren wie sonst nur der Film die Mikrozeit des Sehens. Zum erstenmal in der Musikgeschichte waren Töne keine letzten unzerlegbaren Elemente mehr, sondern Summen von lauter unerhörbaren Sekundenbruchteilen, die der Komponist allesamt einzeln beschleunigt oder verlangsamt hatte. In der E-Musik hat sich diese Tonbandzauberei, dieser Gesang der Jünglinge im Feuerofen bald herumgesprochen. Aber nur ein einziges Buch über Pop Musik erwähnt, dass ihre medientechnische Ursprünge exakt dieselben waren. In seiner Geschichte der Abbey Road Studios erwähnt Brian Southall eine interessante Entwicklung, die bewies, daß aus Gegnerschaft manchmal auch Gutes kommen kann. 1946 [nämlich] flog eine Gruppe von Toningenieuren aus den USA und England, darunter auch Berth Jones von Abbey Road, nach Berlin, um dort jene Magnetaufzeichnungen zu studieren, die in Deutschland während des Krieges stattgefunden hatten. Unter dem erbeuteten Kriegsgerät entdeckten sie ein Gerät mit magnetischem Band, mit dem sich das Oberkommando der Wehrmacht an der Entschlüsselung von Geheimcodes versucht hatte. Die dadurch gewonnenen Informationen erlaubten es der EMI, jene berühmten Magnetbänder und Tonbandgeräte auf den Markt zu bringen, die als British Tape Recorder dann 25 Jahre lang in den Abbey Road Studios liefen. 4

Soviel zur Erinnerung an die Beatles auf ihrem Höhepunkt und Berlin auf seinem Tiefpunkt, ohne der Popmusik damit einen anderen Ursprung andichten zu wollen. Denn auch die Musik, die wir heute ehren, reicht in ihren Wurzeln (um nicht roots zu sagen) in die Leinwandplantagen und Negerviertel der amerikanischen Südstaaten zurück. Pop Musik gibt es seit dem Zweiten Weltkrieg, als weiße Kinder, wenn sie am Radio drehten, zum erstenmal auf den falschen Sender stoßen konnten: Die zahllosen Schwarzen, die der Krieg in die Kriegsindustrie der Nordstaaten verschlagen hatte, mussten auch in weißen Gegenden mit ihrem vertrauten Jazz versorgt werden. Und doch ist die Pop Musik, wie wir sie heute ehren, unverwechselbar anders als aller Jazz. Sie hat in Londoner Aufnahmestudios wie der berühmten Abbey Road etwas gelernt, was keine Improvisation je4 | Southall: Abbey Road, S. 137.

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mals vermochte: die Analyse oder Zerlegung der musikalischen Zeit – als Komposition mit und auf einer Unzahl an Tonbandgeräten. Was Schallplatte und Radio für den Jazz waren, sind Bandmaschinen und HiFi-Qualität, Synthesizer und Computer für eine Pop Musik geworden, die erst London und nicht schon New Orleans der Welt geschenkt hat. Insofern ist und bleibt Musik die genaue Zeitgenossin eines Maschinenparks, der im Fall Brian Enos zeitweise sage und schreibe einunddreißig Tonbandgeräte gezählt haben soll. Nur hat gerade der Milliardenerfolg der Pop Musik ihre Hörer, Konsumenten und Theoretiker dazu verleitet, aus dieser Zeitgenossenschaft in archaische Träume zu fliehen. Ausgebrochen sein soll eine Kultur der sekundären Oralität, die das Schreiben, wo nicht gar das Sprechen fortan erspart. Dieser Traum aber hat zur dramatischen Folge, dass ausnahmsweise auch Pop Musiker die Sprache der Theorie oder Wissenschaft sprechen müssen. Wann immer [Brian Eno] über den Klang sprach, [sprach er über] die Unangemessenheit jener klassischen Sprachen, die Komponisten zu seiner Beschreibung benutzt hatten. Denn die Entwicklung elektronischer Instrumente und Aufnahmeverfahren hat eine Lage geschaffen, in der die ganze Frage des Timbres, der physikalischen Qualität von Klängen, ein Ort höchster kompositorischer Aufmerksamkeit geworden ist. Was die E-Musiker verkennen oder zumindest unterschätzen, ist, daß ihre Sprache, die Sprache der klassischen schriftlich niedergelegten Komposition, schlicht und einfach keine Begriffe hat, um den Gitarrensound von Jimi Hendrix’ Voodoo Chile oder Phil Spectors Produktion von Da Doo Ron Ron zu beschreiben. 5

Eine Sprache für Sound, also für unvorhersehbare, unausdenkbare, unvorstellbare akustische Ereignisse war aber auch das Tonbandgerät noch nicht. Es bot mit seinen Knöpfen und Reglern, seinen Scheren und Echoschleifen bestenfalls Elemente, um den chaotischen Innenraum von Maxwells Dämon einigermaßen zu kodieren. Erst Digitalcomputer bieten eine Sprache für Sound, die all seine fraktalen Dimensionen zugleich analytisch und synthetisch, elementar und konstruktiv erfasst. Nicht umsonst erwog schon Alan Turing, der 1936 ihrer aller Prinzipschaltung angegeben hat, die Kriegsbeute namens Magnetband zur Speicherung digitaler Nullen und Einsen zu missbrauchen.6 Nicht umsonst tasten digitale Signalprozessoren die Musik in der Mikrozeit von einundvierzigtausendsteln Sekunden ab, um ihre Signale wahrhaft, nämlich jenseits menschlicher Ohren, manipulieren zu können. Nicht umsonst schließlich läuft Brian 5 | Eno: »Scents and Sensibility«, Übersetzung durch Friedrich Kittler, zu Eno siehe u. a.: Eno-Archiv (allgemeine Information, vgl. Humes/Boon: »EnoWeb«), Nervenet (viele Interviews, vgl. Humes/Boon: »EnoWeb – interviews and articles«) oder Enos Generative Music (Software, vgl. Intermorphic Ltd.: »Generative Music Lab«; Oldfield: »Brian Eno‘s generation game«). 6 | Vgl. Hodges: Alan Turing, S. 314.

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Enos vermutlich meistgehörte Komposition in der Mikrozeit von dreieinviertel Sekunden: Sie ist Musik aus Computern für Computer und trägt einen Titel, in dem vier von fünf Wörtern als Copyright oder Trademark geschützt sind: Microsoft Windows Ninety Five Sound.7 Damit ist nicht bloß die übliche Songlänge von dreieinhalb Minuten digitalisiert und d. h. miniaturisiert. Damit macht wo schon kein hochgefahrenes, so doch ein hochfahrendes Betriebssystem auch Spaß. Die Kultur ist also wie ein Meteorit aus der Erhabenheit pythagoreischer Geheimbünde in den Alltag von heute gestürzt. Sie hat sich, wie Eric Satie und Brian Eno sagen würden, in Ambiente verwandelt. Was der Sound immer schon war, nämlich ebenso allgegenwärtig wie unauffällig, ist in der Popkultur auch noch auf den technischen Begriff gekommen. Nur dass die Wissenschaft, ausgerechnet die Wissenschaft, daraus die dümmste aller Lehren zieht. Ab sofort soll es niemand mehr angehen, was einst der pythagoreische Geheimbund unter Intervallen und Sphärenharmonien verstand oder was heute die Computerwissenschaft an Algorithmen und Differentialgleichungen entwickelt. Denn der Endeffekt all solcher Theorien, das musikalische Ambiente nämlich, geht zwar mehr oder minder, aber ganz automatisch in die Beine. Also läuft die Wissenschaft selber zur Seinsweise von Muzak über. Sie erweitert ihren ehedem elitären Kulturbegriff so radikal, bis alle Katzen grau und alle Alltage Kulturen sind. Sie bezieht ihren Begriff von Popkultur aus dem statistisch gemittelten Sozialverhalten in Diskotheken und ihren eigenen Daseinsgrund aus einer verklungenen Studentenrevolution, der Roxy Music einst in die Beine fuhr. Die Musik, die wir heute ehren, lehrt anderes. Sie lehrt frei nach Hegel, dass eine Kultur nur so populär ist, wie sie sich in ihre Technologien zu verlieren getraut. Daß die Musik heute mehr denn je in die Beine fährt, verdankt sie Musikern, deren ganzes Denken in Computer gefahren ist. Diese Entäußerung wird eine historische Schwelle der Musikgeschichte gewesen sein, weil universale programmierbare Maschinen das Denken selber verändern. Eine Erleuchtung so jäh wie jene, die Pythagoras einst im Dröhnen der Schmiedehämmer erfahren haben soll, überkommt die Musiker von heute: Alles was erklingt, ist programmierbar. Und wir anderen können nur sagen, dass wir dabeigewesen sind.

L ITER ATUR Eno, Brian: »Scents and Sensibility«, http://music.hyperreal.org/artists/ brian_eno/interviews/detail92.html, 10.08.2012. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Ästhetik, Bd. II, hrsg. v. Friedrich Bassenge. Berlin/Weimar 1965. 7 | Gemeint ist die Startmelodie des Betriebssystems Microsoft Windows 95, auch als Microsoft Windows 95 Startup Sound bezeichnet (Anm. d. Hrsg.).

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Hodges, Andrew: Alan Turing. The Enigma. New York 1983. Humes, Malcom/Boon, Tom: »EnoWeb«, http://www.enoweb.co.uk/, 18.09.2012. Humes, Malcom/Boon, Tom: »EnoWeb – interviews and articles«, http:// www.eno-web.co.uk/interviews/intindex.html, 18.09.2012. Intermorphic Ltd: »Generative Music Lab«, http://www.intermorphic. com/, 18.09.2012. Nietzsche, Friedrich: Nietzsche contra Wagner. Werke, Bd. II, hrsg. v. Karl Schlechta. München 1959-61. Oldfield, Andy: »Brian Eno‘s generation game«, in: The Independent, 29.07.1996, http://music.hyperreal.org/artists/brian_eno/interviews/ ind96d.html, 18.09.2012. Southall, Brian: Abbey Road. The Story of the World’s Most Famous Recording Studios. Cambridge, MA 1982.

I Auditive Kulturen als Gegenstand der Geistesund Kulturwissenschaften

»Musick of Scraping Trenchers« Medienexperimente zur Frequenzbestimmung von Galileo Galilei, Robert Hooke, Felix Savart und die Medialisierung des Klangs Daniel Gethmann

Eine medienwissenschaftliche Klangforschung verdankt ihren Gegenstand der kulturtechnischen Übertragung, Speicherung und Bearbeitung auditiver Sinnesdaten. Dadurch erlangen deren Experimentalsituationen eine besondere Bedeutung, denn sie markieren die Schwelle, an der sich Kulturtechniken in entstehenden akustischen Medien formieren und ausdifferenzieren. Diese Experimentalsituationen und ihr epistemischer Kontext geben sich somit als Bedingung der Möglichkeit jener spezifischen Klangforschung zu denken, in der sich medienwissenschaftliche Zugänge und Analysen der auditiven Kultur artikulieren. Eine bekannte Experimentalsituation, die gleichzeitig als Grundlage des Zeitalters technischer Medien gilt, ist die Erfindung des Phonographen durch Thomas A. Edison im Jahre 1877. Zahlreiche medienhistorische Darstellungen stellen den Phonographen als eine Weiterentwicklung von Édouard-Leon Scotts Phonautographen aus dem Jahre 1855 vor, womit der Phonograph im Zusammenhang von Fragestellungen der graphischen Methode erscheint, die Sprache »in Graphen übersetzt. Die weitere Entwicklung geht natürlich dahin, die Registrierung als Matrix zu benutzen, um die Stimme wieder zu reproduzieren.«1 Edisons speaking machine liefert in dieser Sichtweise eine medienhistorische Stunde Null der Schallspeicherung, die es ermöglicht, sich auf die Entwicklungen nach ihrem »Ursprung« zu konzentrieren, da sich dessen »Vorgeschichte« in der graphischen Methode als Übersetzung eines bildgebenden in ein akustisches

1 | Chadarevian: »Die ›Methode der Kurven‹ in der Physiologie zwischen 1850 und 1900« S. 172.

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Verfahren zusammenfassen lässt.2 Eine Kritik an dieser Sichtweise zielt hier nicht nur auf ihr überholtes medienhistoriographisches Modell ab, sondern konkret auf den Umstand, dass von einer derartigen Perspektive zahlreiche frühere medientechnische Experimente und Experimentalanordnungen übersehen werden. Diese Auslassungen betreffen in gravierender Weise ausgerechnet die akustische Wissensgeschichte, deren medientechnische Experimente im 17. Jahrhundert entscheidende wissenschaftshistorische Umbrüche initiiert haben. Auf dem Gebiet der musikalischen Akustik zu experimentieren und einen Zusammenhang zwischen Tonhöhe und Frequenz zu erkennen, löst im 17. Jahrhundert einen fundamentalen Bruch innerhalb der symbolischen Formen aus, in denen Klänge anzuschreiben sind: Der buchstäblichen und graphischen Ordnung tritt die Ordnung der Frequenzzahlen zur Seite und ergänzt jede Tonhöhenbezeichnung um ihre Berechnung. Dadurch wandeln sich die pythagoreischen Intervalle als »Größen im Raum« – das heißt als Verhältniszahlen von Längenmaßen auf den Saiten eines Monochords – zu »Schwingungen einer Saite pro Sekunde, also Größen in der Zeit.«3 Der vorliegende Beitrag vertritt die Auffassung, dass die medientechnischen Apparaturen, die diesen fundamentalen Bruch in der Wissensordnung vom Klang getragen haben, stärker von einer aktuellen medienhistorischen Perspektive berücksichtigt werden müssen,4 der es darum geht, die medialen Dispositive einer auditiven Medienkultur hinsichtlich der Speicherung auditiver Sinnesdaten neu in den Blick zu nehmen. In mediengenealogischer Perspektive stehen in dieser Hinsicht vor allem die konkreten Kontexte und Entstehungsherde im Vordergrund, deren Analyse die Diskontinuitäten einer historischen Entwicklung, die Brüche, Verbindungen und Wiederholungen zu Tage treten lässt, die eine Formierung akustischer Medien überhaupt erst ermöglichen.5 Eine mediengenealogische Perspektive bezieht sich somit nicht nur auf die Entwicklung einzelner Medien, deren jeweils besondere und spezialisierte Geschichte eher durch einen dezidiert medienarchäologischen Zugang gefasst wird, sondern auch auf ihre kulturtechnische Basis in medialen Praktiken, die älter sein können als die Medien, die aus ihnen hervorgehen, sowie schließlich auf die Übergänge zwischen Kultur- und Medientechniken. Eine medienhistorisch-genealogische Perspektive auf mediale Entstehungsherde stellt in diesem Sinne ein Element im Entwurf einer Medienwissenschaftsgeschichte in Aussicht, mit dem kulturtechnisches mit medienhistorischem Wissen enggeführt werden kann.

2 | Vgl. Gelatt: The Fabulous Phonograph 1877–1977; Read/Welch: From Tin Foil to Stereo. 3 | Kittler: »›Vernehmen, was du wähnst‹«, S. 11. 4 | Vgl. zur Neuausrichtung dieser medienhistorischen Perspektive auch den innovativen Beitrag von Hilgers: »Sirenen. Lösungen des Klangs vom Körper«. 5 | Vgl. Gethmann: Klangmaschinen zwischen Experiment und Medientechnik.

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Andernorts habe ich argumentiert, dass sich die Experimentalsituation des Phonographen aus medienwissenschaftlicher Sicht als eine primär auditive zu denken gibt, bei der sich die experimentelle Fragestellung bereits zu Beginn vom visuellen Paradigma gelöst hat:6 Den Phonographen erfindet Edison mit den Ohren; auf die ihm zugrunde liegende technische Möglichkeit einer Reversibilität des Aufzeichnungsprozesses weisen ihn nach eigenen Worten eigenartige Geräusche hin, die bei der Signalübertragung seines automatischen Telegraphen im Labor entstehen, sobald dessen Laufgeschwindigkeit geändert wird: In manipulating this machine I found that when the cylinder carrying the indented paper was turned with great swiftness, it gave off a humming noise from the indentations – a musical, rhythmic sound resembling that of human talk heard indistinctly.7

Wenn sich die Tonhöhe hier als Variable der Umdrehungsgeschwindigkeit eines Zylinders mit gezacktem Papierstreifen in einer telegraphischen Apparatur zu denken gibt, stellen diese Geräusche im Lichte einer Wissenschaftsgeschichte der Akustik einen wichtigen Anstoß zur Erfindung des Phonographen dar. Denn durch die auditive Wahrnehmung beim Basteln an Prototypen einer Apparatur, die mit dem Phonographen nichts zu tun hat, wird Edison klar, dass »indentations« in der Lage sind, der menschlichen Stimme ähnliche Klänge hervorzubringen, sobald sie in Bewegung gesetzt an einem festen Körper anschlagen. Diese Erkenntnis stärkt die enorme Zuversicht, mit der Edison als erste technische Notiz zu seiner auditiven Versuchsreihe am 18. Juli 1877 in seinem Labortagebuch beiläufig die folgenden berühmten Sätze schreibt: Just tried experiment with a diaphram having an embossing point & held against parafin paper moving rapidly the spkg vibrations are indented nicely & theres no doubt that I shall be able to store up & reproduce automatically at any future time the human voice perfectly. 8

Die hier vom »embossing point« hergestellte Einschreibung konzipiert Edison im Prinzip als reversiblen Tiefdruck: Da sich dessen Schallspuren als Inskriptionen in Tiefenschrift auch abtasten lassen, kann jeder Klang aus seiner Aufzeichnung reproduziert werden. Dadurch entsteht im Unterschied zu den früheren Apparaturen zur graphischen Schallaufzeichnung ein primär akustisches Forschungsinstrument zur Soundanalyse, das aus der experimentellen Beobachtung, die überhaupt erst zu seiner Erfindung geführt hat, sein neues Verfahren der auditiven Erkenntnisgewinnung konstituiert: Edison plant nämlich, mit seiner Apparatur auch 6 | Vgl. Gethmann: »Schallspuren in der Tonschreibekunst«. 7 | Edison: »The Perfected Phonograph«, S. 643. 8 | Edison: The Papers of Thomas A. Edison, Bd. 3, S. 444.

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vom Ohr nicht wahrgenommene Klänge – also sowohl unter- als oberhalb der menschlichen Hörschwelle liegende Frequenzen aufzuzeichnen und hörbar zu machen: For it is a very extraordinary fact that, while the deepest tone that our ears are capable of recognizing is one containing 16 vibrations a second, the phonograph will record 10 vibrations or less, and can then raise the pitch until we hear a reproduction from them. Similarly, vibrations above the highest rate audible to the ear can be recorded on the phonograph and then reproduced by lowering the pitch, until we actually hear the record of those inaudible pulsations. 9

Aufgrund dieses Konzepts – an der Schwelle seines medientechnischen Gebrauchs zur Schallspeicherung – bestimmt Edison den epistemologischen Stellenwert des Phonographen folgendermaßen: »In fact, the phonograph will do, and does at this moment accomplish, the same thing in respect of conversation which instantaneous photography does for moving objects«.10 Wo die Moment- und in ihrer Nachfolge die Chronophotographie rasche Bewegungssequenzen in ihrer zeitlichen Abfolge überhaupt erst sichtbar werden lässt, macht der Phonograph die Zeit hörbar und ermöglicht dadurch, das analytische Hören – die Chronophonographie – als Forschen mit den Ohren im Zeitalter technischer Medien zu praktizieren. Reiht man den Phonographen insofern unter die Instrumente zur auditiven Forschung ein und vollzieht damit eine Hinwendung zur Auditiven Kultur über ihre Fundierung in akustischer Mediengeschichte, so stellt sich die Frage nach einer dieser Apparatur zugrunde liegenden Wissensordnung im erweiterten Kontext der »Acoustique Art« – wie sie Francis Bacon als eigenständige Gattung erstmals im Jahre 1605 benennt. In dem Maße, wie die musikalische Klangforschung zu dieser Zeit bereits eine zentrale Rolle bei der Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaften spielt,11 erhalten die Verbindungen, Brüche und Wiederholungen innerhalb einer kulturtechnischen Wissensgeschichte der Klangspeicherung ihre medienarchäologische Bedeutung auch für eine epistemologische Bestimmung der Klangwissenschaft am Beginn der neuzeitlichen Wissenschaften. So hat Galileo Galilei bereits Anfang des 17. Jahrhunderts mit experimentellen und breit rezipierten Klangstudien der »accidenti maravigliosi in materia de i suoni«12 (höchst wunderbaren Erscheinungen aus der Tonlehre) begonnen, die neue Fragestellungen und Methoden innerhalb einer noch weitgehend von der pythagoreischen Harmonielehre beherrschten Klangforschung aufgeworfen haben. Statt weiterhin die 9 | Edison: »The Perfected Phonograph«, S. 642. 10 | Ebd., S. 648. 11 | Vgl. Cohen: Quantifying Music, S. 247 ff. 12 | Galilei: »Discorsi e dimostrazioni matematiche intorno à due nuove scienze attenenti alla Mecanica & i Movimenti locali«, S. 138.

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Klänge am Monochord und damit in Verhältniszahlen von Saitenlängen zu bestimmen, richtete Galilei seine Aufmerksamkeit von der Schallquelle vielmehr auf die auditive Klangwahrnehmung. Eines seiner Experimente untersucht die Erzeugung von Schallwellen und mitschwingenden Wasserwellen durch die gleiche Schallquelle, wobei durch das Reiben eines Glases in einem wassergefüllten Gefäß neben einem Klang dieses Vorläufers der Glasharmonika gleichzeitig auch sichtbare Wellenformen auf dem Wasser entstehen, deren Zählung dann auch Aufschluss über das Verhältnis der Konsonanzen gibt:13 Es ist das ein schöner Versuch, bei dem man einzeln die vom Körper ausgehenden Erzitterungen unterscheiden kann, es sind das dieselben Stöße, die in der Luft sich ausbreiten und unser Trommelfell in Schwingung versetzen, und zuletzt in unserer Seele zu Tönen werden. Aber die Erschütterung im Wasser dauert nur so lange, als das Glas mit dem Finger gestrichen wird, und selbst in dieser Zeit sind sie nicht beständig, sondern sie vergehen und entstehen. Wäre es nicht schön, wenn man die Schwingungen lange andauern lassen könnte, selbst Monate und Jahre lang, so dass man im Stande wäre sie zu messen und bequem zu zählen?14

Diese wichtige Frage lässt Galileo Galilei am Ende seines Lebens in seinem physikalischen Hauptwerk Discorsi e Dimonstrazioni Matematiche, dessen Publikation in Italien von der Inquisition verhindert wird und das daher im Jahre 1638 bei Louis Elsevier in Leyden erscheint, einen der drei Protagonisten des Buches, Salviati, stellen, dem in seiner Frage offensichtlich eine Verstetigung des Klangs vor Augen steht. Salviati gibt auf seine zentrale Frage, wie man die Schwingungen möglichst lange andauern lassen könne, auch selbst eine erste Antwort. Im nächsten Erkenntnisschritt seiner Discorsi wandelt Galilei nämlich den wahrnehmbaren Klang in eine Einschreibung, die gemessen und berechnet werden kann: Die Erfindung machte ich zufällig, ich hatte nur zu beobachten und die Sache zu verwerten, es war eine tiefere Speculation bei Gelegenheit einer recht schlichten Verrichtung. Ich schabte mit einem scharfen eisernen Meissel eine Messingplatte, um einige Flecken fortzuschaffen, und bei schnellem Hinübergleiten über die Platte hörte ich ein oder zwei Mal unter vielen Streichen ein Pfeifen, und zwar einen starken, hellen Ton, und wie ich auf die Platte sehe, erblicke ich eine Menge feiner paralleler Striche, in völlig gleichen Abständen. Bei wiederholtem Streichen bemerkte ich, dass nur dann, wenn ein Ton entstand, der Meissel jene Furchen hervorrief, geschah aber das Streichen ohne Pfeifen, so war nicht die 13 | »[B]ei einem ziemlich großen Becher voll Wasser sah ich oft sehr gleichmäßig geformte Wellen, dann aber sprang der Ton in die höhere Octave über, und es zerfiel eine Wasserwelle in zwei Wellen: eine Erscheinung, die deutlich zeigt, dass die Form der Octave die doppelte ist.« Galilei: Unterredungen und mathematische Demonstrationen über zwei neue Wissenszweige, S. 86 f. 14 | Ebd., S. 88.

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D ANIEL G ETHMANN geringste Spur von einer Zeichnung zu sehen. Dieses Spiel wiederholte ich nun, bald mit größerer, bald mit kleinerer Geschwindigkeit, der Ton wurde bald höher, bald tiefer, beim höheren Tone waren die Striche gedrängter, und selbst dann, wenn das Gleiten gegen Ende des Striches rascher wurde, war auch der Pfeifton ein allmählich höher werdender, zugleich aber die Striche gegen Ende gedrängter, doch stets in vollendeter Zierlichkeit; bei den tönenden Streichzügen fühlte ich den Meissel in meiner Faust erdröhnen und die Hand durchzuckte ein Schauer. [...] Manchesmal suchte ich auf dem Klavier die Tonhöhe jener Pfeifentöne auf; zwei Töne, die am meisten differirten, bildeten eine Quinte, und als ich nun die Striche und deren Entfernung ausmaß, so fand ich auf 45 Striche des einen Tones 30 Striche des anderen; das entspricht wirklich der Form, die man der Quinte zuschreibt.15

Um die Tonhöhen und ihre Frequenzen vergleichbar zu machen, hätte Galilei seiner Messung zwar das gleiche Zeitintervall und nicht die gleiche Länge der Inskriptionen zugrunde legen müssen, wie bereits der Musikwissenschaftler Daniel P. Walker bemerkte;16 wenn aber das Experiment über eine bloße Messung von Tonhöhen hinaus jenseits seiner musikalischen Innovation Gültigkeit beanspruchen kann, dann gibt sich in Galileis Gedankenexperiment ein Verfahren zur Klangerzeugung zu denken, das Klangschwingungen dauerhaft auf einer Messingplatte einschreibt.17 Aus seinen Experimenten leitet Galilei die Schlussfolgerung ab, »dass das primäre unmittelbare Verhältnis der akustischen Intervalle weder von der Länge der Saiten, noch von ihrer Spannung, noch von ihrem Querschnitt bedingt ist, sondern von der Anzahl von Schwingungen und Lufterschütterungen, die unser Trommelfell treffen und letzteres in demsel15 | Ebd., S. 88 f. 16 | »Galilei had thus discovered a means of recording musical vibrations exactly, permanently and in a form that enabled one to compare frequencies precisely. Why did no one else use it? Why has no one ever used it? Leaving on one side mechanical problems, such as what made the chisel jump so regularly, we can see that there is a flaw in the experiment, even if we accept all the facts as Galilei recounts them. He counted the spaces of the two strokes within the same distance and found the required ratio of 3:2. But on his own saying he moved the chisel faster when producing the higher note; it therefore traversed this distance in less time than the stroke producing the lower note, and, if the ratio of frequencies was 3:2, should have made less than forty-five lines compared with the slower stroke’s thirty. The experiment could only possibly have produced valid results if he had compared the number of lines or spaces made during the same unit of time, not within the same distance.« Walker: Studies in Musical Science in the Late Renaissance, S. 30; vgl. auch Dostrovsky/Cannon: »Entstehung der musikalischen Akustik (1600–1750)«, S. 24. 17 | »Thus here, with the help of an early forerunner of the gramophone record, a method has been found to count vibrations, and, as a result, to determine exactly the true ratios of the consonances.« Cohen: Quantifying Music, S. 89.

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ben Tempo erzittern lassen.«18 Während Galilei insofern im Jahre 1638 eine von der Wahrnehmung ausgehende Wissenschaft der Musik als Lehre periodischer Schwingungen begründet19 – zu berücksichtigen wäre hier in erster Linie auch Marin Mersennes Harmonie universelle aus dem Jahre 1636 – fügt der »Curator of experiments« an der Londoner Royal Society, Robert Hooke, diesem neuen Paradigma des Klangs ein erstes Verfahren der experimentellen Evidenzerzeugung hinzu, wobei er sich an Galileis periodischer Schwingungslehre des Klangs orientiert. Diese ergänzt Hooke um eine Bestimmung von absoluten Frequenzen, die sich ebenfalls nicht länger auf die Schallquelle, sondern auf die auditive Wahrnehmung stützt, wie er Samuel Pepys am 8. August 1666 in London mitteilt. Dessen Tagebucheintrag nach ihrem zufälligen Treffen lautet folgendermaßen: [D]iscoursed with Mr. Hooke a little, whom we met in the street, about the nature of sounds, and he did make me understand the nature of musical sounds made by strings, mighty prettily; and told me that having come to a certain number of vibrations proper to make any tone, he is able to tell how many strokes a fly makes with her wings (those flies that hum in their flying) by the note that it answers to in musique, during their flying. 20

Robert Hooke setzt seine Untersuchungen der Ausbreitung von Schallschwingungen und des Zusammenhangs von Tonhöhen und Frequenz während der nächsten zwanzig Jahre fort, hat jedoch keine zusammenhängende Darstellung seines umfassenden Forschungsprogramms zur Erzeugung und Übertragung des Klangs hinterlassen. Zumindest seine Grundannahmen lassen sich jedoch seinem bis zum Jahre 1980 unpublizierten Musik-Traktat entnehmen: »[A]ll Sound is generated by motion; Sound being nothing els but a tremulous motion of the drum & organ in the ear, exited by the like motion of the sonorous medium, which received its motion from the Sounding body.«21 Als gehe es darum, Bacons legendäre »sound-houses«22 in den Räumen der Londoner Royal Society auch tatsächlich zu errichten, fasst Hooke am 15. Januar 1676 sein experimentelles Arbeitsprogramm zur Klanganalyse gesprächshalber zusammen: »Discoursed about the breaking of the air in pipes, of the musick of scraping trenchers, how the bow makes the fidle string sound, how 18 | Galilei: Unterredungen und mathematische Demonstrationen, S. 89 f. 19 | Vgl. Cohen: Quantifying Music, S. 93; vgl. auch Walker: Music, Spirit and Language in the Renaissance, S. 23 ff. 20 | Pepys: The Diary of Samuel Pepys, S. 392 f. 21 | Hooke: »A Curious Dissertation Concerning the Causes of the Power & Effects of Musick«, S. 601; vgl. auch: Kassler/Oldroyd: »Robert Hooke’s Trinity College ›Musick Scripts‹«. 22 | »We have also sound houses, where we practice and demonstrate all sounds and their generation.« Bacon: »New Atlantis«, S. 373.

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scraping of metall, the scraping the teeth of a comb, the turning of a watch wheel &c. made sound.«23 Dieses experimentelle auditive Forschungsprogramm ergibt sich aus Hookes »notion of sound, that it was nothing but strokes within a Determinate degree of velocity.«24 Die Schwingungslehre ergänzt somit die Auffassung eines kontinuierlichen Tons als Resultat umfassender Schwingungssysteme fester Körper (Klaviersaiten) und der Luft (Orgelpfeifen) um Töne als Resultat von rasch aufeinander folgenden Schallimpulsen, Schlägen oder Stößen, die ebenfalls die Wahrnehmung kontinuierlicher Klänge hervorrufen. Hier zeigt sich eine radikal neue Konzeption des Schalls, der sich neben seiner Wellenform auch durch die Periodizität von diskreten Schallimpulsen bzw. Schlägen beschreiben lässt, deren Frequenz für die Tonempfindung als bedeutsam erkannt wird. »The essential feature of this new definition was the reduction of tone to mere periodicity and the elimination of the former assumption about the form of the vibration.«25 Wenn die große Errungenschaft der Akustik des 17. Jahrhunderts somit darin besteht, den Zusammenhang zwischen Tonhöhe und Frequenz zu erkennen, so manifestiert sich diese Erkenntnis in der apparativen Realisierung einer Maschine, die aus einer bestimmten Umdrehungsfrequenz deren jeweilige Tonhöhe erzeugt und damit Sinnesdaten der Wahrnehmung auch der experimentellen Analyse öffnet. Hooke ermöglicht diesen Vorgang mit einer Experimentalanordnung zur Erzeugung bestimmter Frequenzen, die er am 28. März 1676 bei dem Uhrmacher und Feinmechaniker Thomas Tompion in London in Auftrag gibt: »directed Tompion about sound wheels. The number of teeth.«26 Seine Klangräder samt Zählwerk ihrer Umdrehungen besitzen eine unterschiedliche Zahnung, an die ein Karton oder ein kleiner Metallstreifen gehalten wird, so dass dessen Anschlagszahl auch bei schnellen Rotationen weiterhin berechenbar bleibt: Die Wahrnehmung einer bestimmten Tonhöhe hängt von der Umdrehungsfrequenz der Räder ab, da die Frequenz der erzwungenen Schwingung mit der Frequenz der äußeren Kraftschwingung übereinstimmt. Damit wird die Tonhöhe als das Resultat einer bestimmten Frequenz erfahrbar. Erst fünf Jahre später, am 27. Juli 1681, führt Robert Hooke der Royal Society schließlich ein Experiment vor, bei dem er diese Apparatur zur Tonsynthetisierung einsetzt: In July the same Year [1681] he shew’d a way of making Musical and other Sounds, by the striking of the Teeth of several Brass Wheels, proportionally cut as to their numbers, and turned very fast round, in which it was observable, that the equal or proportional stroakes of the Teeth, that is, 2 to 1, 4 to 3, &c. made the Musical

23 | Hooke: The Diary of Robert Hooke 1672–80, S. 211. 24 | Ebd. 25 | Vogel: »Sensation of Tone, Perception of Sound, and Empiricism«, S. 263. 26 | Hooke: The Diary of Robert Hooke 1672–80, S. 223.

»M USICK OF S CRAPING T RENCHERS « Notes, but the unequal stroakes ot the Teeth more answer’d the sound of the Voice in speaking. 27

Abgesehen von der Tatsache, dass hier bereits eine Synthetisierung der Stimme modelliert wird, baut Hooke mit Hilfe von Tompion eine Apparatur, bei der ein Zahnrad einen Metallsteifen in Schwingungen versetzt, sobald es gedreht wird. Die unterschiedlichen Tonhöhen hängen von der Geschwindigkeit der Umdrehungen ab, so dass es fortan möglich erscheint, aus der Zahnradzahl und der Umdrehungsgeschwindigkeit die exakte Frequenz eines musikalischen Tons und anderer Klänge zu berechnen, sowie umgekehrt auch die Tonhöhe des Flügelschlags einer Fliege in Frequenzzahlen angeben zu können. »He showed an experiment of making musical and other sounds by the help of teeth of brass wheels; which teeth were made of equal bigness for musical sounds, but of unequal for vocal sounds.«28 Wo unterschiedlich große Zahnräder gemäß den pythagoreischen Proportionen auf einer einzigen Achse angeordnet sind, löst sich die Konsonanz wie auch der Zusammenhang zwischen Intervallen und Frequenzverhältnissen von der Sinnesempfindung des Gehörs und lässt sich experimentell in relativen Frequenzen bestimmen. So wird also die Notation des Klangs ausgerechnet durch die auditive Synthese von Tonhöhen aus Umdrehungsfrequenzen – gestützt auf die Evidenz der Sinneswahrnehmung – zu einer Frage der reinen Berechnung jenseits symbolischer Formen ihrer Notation. Da Hooke sein Rad nicht in einem größeren Kontext von Klanganalysen präsentiert, gerät es in Vergessenheit, bis es im Jahre 1830 von Felix Savart erneut erfunden wird, um in der Akustik des 19. Jahrhunderts eine große Bedeutung zu erlangen. Savart gelingt es, mit seinem Rad, das er bis auf einen Durchmesser von 82 Zentimetern mit 720 Zähnen ausbaut, die exakte Frequenz bestimmter musikalischer Noten zu messen.29 Mit dieser Apparatur (Abb. 1), die zur Messung der »Empfindlichkeit des Gehörorgans« erfunden ist, bestimmt Savart die obere Grenze der menschlichen Hörwahrnehmung bei »etwa 24.000 Schlägen in der Secunde«.30 Diese Messung führt er durch »mittelst eines mehr oder weniger schnell gedrehten Rades, versehen am Umfange mit einer zweckmäßigen Zahl von Zähnen, die nach einander gegen einen auf einer Unterlage befestigten Körper schlagen, z. B. gegen eine Karte oder ein keilförmig zugeschnittenes Blättchen von leichtem Holze.«31

27 | Waller: »The Life of Robert Hooke«, S. 57. 28 | Gunther: Early Science in Oxford, S. 577; Birch: The History of the Royal Society of London, S. 96. 29 | Vgl. Savart: »Notes sur la sensibilité de l’organe de l’ouïe«. 30 | Savart: »Ueber die Empfindlichkeit des Gehörorgans«, S. 301. 31 | Ebd., S. 294.

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Abb. 1: Felix Savart: Apparatur zur Frequenzmessung. Zur Verbreitung von Savarts akustischen Forschungen im deutschen Sprachraum hat der Göttinger Physiker Wilhelm Eduard Weber stark beigetragen,32 nachdem er im Alter von 20 Jahren gemeinsam mit seinem älteren Bruder Ernst Heinrich Weber die Arbeit zur Wellenlehre, auf Experimente gegründet, oder über die Wellen tropfbarer Flüssigkeiten, mit Anwendung auf die Schall- und Lichtwellen vorlegte, wobei er zahlreiche Experimente dieses Grundlagenwerks des 19. Jahrhunderts bereits als Schüler begonnen hatte.33 Sowohl seine Dissertation aus dem Jahre 1826 als auch ihre Erweiterung zur Habilitationsschrift unter dem Titel Leges Oscillationis aus dem Jahre 1827 in Halle handeln von Zungenpfeifen als Schwingungssysteme. Ein Ergebnis der Vorstudien zu der Frage, was die Töne in gekoppelten Schwingungssystemen eigentlich hervorruft, schließt an Galileis Experimente an, die 187 Jahre zuvor publiziert wurden: Ein Ton von bestimmter Höhe wird hervorgerufen, wenn sich die Spitze eines starren Körpers gleichmäßig und mit gleich bleibender Geschwindigkeit auf der Oberfläche eines Körpers bewegt, in die in gleichem und genügend nahem Abstand von einander parallele Rillen eingedrückt oder eingegraben sind. 34

Die Tonhöhe gibt sich hier also in Relation zum Abstand paralleler Rillen zu denken. Jenseits einer akustischen Kulturtechnik zur Frequenz-

32 | Vgl. Weber: »Auszug aus den die Theorie des Schalles und Klanges betreffenden Aufsätzen von Felix Savart«; Weber: »Über Savart’s Klangversuche«; Weber: »Savart’s Versuche über die Bewegungen mittelbar erschütterter Membranen«; Weber: »Auszug aus den die Theorie des Schalles und Klanges betreffenden Aufsätzen von Felix Savart«. 33 | Vgl. Weber/Weber: »Wellenlehre«. 34 | »sonus certae altitudinis profertur, si acies corporis rigidi in corporis superficie, cui lineae parallelae, aeque distantes, sibique satis vicinae impressae aut insculptae sunt, uniformiter et celeritate constante movetur.« Weber: »Leges oscillationis oriundae si duo corpora diversa celeritate oscillantia ita conjunguntur ut oscillare non possint nisi simul et synchronice«, S. 213.

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analyse, wie Weber sie hier im Jahre 1827 konzipiert,35 artikuliert sich in seinen Angaben ein Prinzip, das über 50 Jahre später auch einer kleinen Apparatur namens lames parlantes (Sprechende Streifen) zugrunde liegt, die auf einer Adaptierung des Edison-Phonographen als Medientechnik des Kratzens einer Kartonscheibe auf einem Reliefstreifen basieren. Vorgestellt im Jahre 1879 von Jacques Paul Lambrigot, einem Telegrapheninspektor aus Albi in Südfrankreich, resümiert dieses instruktive Spielzeug die technischen Möglichkeiten zur Erzeugung von Schallereignissen durch diskrete Schallimpulse, Stöße und Schläge. Denn die Wiedergabe der lames parlantes geschieht mit einer Kartonscheibe, die über einen Metallstreifen gezogen wird und die dabei entstehenden Schwingungen über eine Bleidraht-Leitung bis zu einem Hörrohr weiterleitet (Abb. 2), in dem dann Worte wie die folgenden zu vernehmen sind: »Mon cher ami, Louis Quatorze, Bonjour, Lambrigot, Miracle.«36 Die Sprechenden Streifen Lambrigots erscheinen als ein »veritable dictionnaire parlante«,37 da sie in ihrer Funktionsweise ermöglichen, als »lecteur automatique« phonetische Sprachübungen jederzeit und überall durchzuführen, und zudem endlose Wiederholungen des Wortschatzes erlauben. Obwohl sie rasch wieder von der Bildfläche verschwunden sind, erfüllen die Sprechenden Streifen als akustisches Spielzeug die Grundanforderungen an eine mediale consumer-technology: So einfach zu bedienen und günstig zu produzieren die Wiedergabeapparatur für die Sprachaufnahmen dieses »Sixpenny Phonographs«38 erscheint, so kostspielig ist ihre Herstellung. Da die Apparatur kein kombiniertes Aufnahme- und Wiedergabegerät mehr wie der Edison-Phonograph besitzt, sondern ausschließlich zum Abspielen geeignet ist, müssen ständig neue Streifen bezogen werden. Bei der Herstellung der lames parlantes geht es um eine Stabilisierung der Schall-Inskription, was den Sprechenden Streifen, die mehrere tausend Mal abspielfähig sein sollen, auf eine recht komplizierte Weise auch gelingt: Zunächst wird die obere Seite einer Glasleiste mit Stearin bestrichen und eine vollkommen glatte Oberfläche hergestellt. Dann schreibt ein von einer Phonographenmembran modulierter Stichel die Schallschwingungen in die von der Apparatur vertikal nach unten gezogene Oberfläche ein (Abb. 3), deren Geschwindigkeit Lambrigot mit etwa 35 | Vgl. Gethmann: »Abfall der Erkenntnis«. 36 | »We have had an opportunity of testing this simple little instrument, and the words come out of it with remarkable distinctness, though of course with but feeble power; and among the following words, all of which we have heard it utter, some were unmistakably clear: ›Mon chere ami,‹ ›Louis Quatorze,‹ ›Victor Hugo,‹ ›La Republique,‹ ›Octavie,‹ ›Bonjour,‹ ›Lambrigot,‹ ›Miserable,‹ and ›Miracle‹«. O. V.: »A Sixpenny Phonograph«, S. 327. 37 | Hospitalier: »Les Lames Parlantes de M. Lambrigot«, S. 350, dort auch das folgende Zitat. 38 | O. V.: »A Sixpenny Phonograph«, S. 327.

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20 cm pro Sekunde angibt. Die Stearin-Gravur wird mit Graphit überzogen, um sie leitfähig zu machen und galvanisiert, so dass eine Galvanoplastik aus Kupfer entsteht.

Abb. 2: Jacques Paul Lambrigot: »Lames Parlantes«.

Abb. 3: Jacques Paul Lambrigot: Herstellung der »Lames Parlantes«: Einschreibung (links) und Kupfermatrize (rechts) der Schallschwingungen. Diese gewissermaßen inverse Kupfermatrize der Inskription, in die die Einritzungen des Stichels übersetzt sind, wird schließlich erneut in ein stabiles Klang-Positiv gewandelt, indem Bleidrähte in die Matrize gedrückt werden und damit einen Bleistreifen als Klangrelief erzeugen. Nach dieser doppelten Übersetzung lässt sich schließlich ein Karton-Tonabnehmer über den Streifen ziehen und eine Stimme im Hörrohr vernehmen. Die Sprechenden Streifen machen als philosophical toy das ihnen zugrunde liegende Wissen in ihrem alltäglichen Gebrauch jedermann zugänglich und allgemein verständlich. Darüber hinaus beziehen sie die Speicherung der Stimme auf klanglich-auditive Fragestellungen, die ein mediales Dispositiv der Klangerzeugung mittels diskreter Schallimpulse begründet haben. Insofern sind die Sprechenden Streifen von Lambrigot als Apparatur, die das Scratching als Medientechnik etabliert, auch von instruktivem Wert für eine Geschichte der auditiven Medienkul-

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tur, indem ihre Funktionsweise und ihr Referenzsystem vielfältige historische Kontexte und Bezüge eröffnet. Die eigentliche, rasch wieder in Vergessenheit geratene Apparatur tritt somit hinter dem klanglich-auditiven Prinzip zurück, das sie verkörpert. Ihre Konstruktion verweist direkt auf die Forschungen und Experimente von Thomas A. Edison, denn dieser konzipiert ihre Herstellung im Zuge seiner Arbeiten am Phonographen – lange vor Lambrigot – bereits am 23. November 1877, wie er in seinem Labortagebuch notiert: I propose to apply the phonograph principle to make Dolls speak sing cry & make various sounds also apply it to all kinds of Toys such as Dogs’ animals, fowls reptiles human figures: to cause them to make various sounds to steam Toy Engine imitation of exhaust & whistle = to reproduce from sheets music both orchestral instrumental & vocal the idea being to use a plate machine with perfect registration & stamp the music out in a press from a die or punch previously prepared by cutting in steel or from an electrotype or cast from the original on tin foil = A family may have one machine & 1.000 sheets of this music thus giving endless amusement. 39

Der Umstand, dass die Erfindung der Sprechenden Streifen somit vor Lambrigot bereits von Edison angegeben wird, tritt als Feststellung zum Zeitpunkt einer medialen Erfindung hinter dem Stellenwert ihrer medialen Praxisformen zurück, an denen sich das Medien-Werden eines speziellen Prinzips der Klangerzeugung, bei dem zunächst weder Form noch Funktion festgelegt sind, spielerisch, vorläufig, tastend und allgemein verständlich beobachten lässt. Derartige ephemere Medien wie die »lames parlantes« besitzen eher die Funktion materialisierter Gedankenmodelle, die benutzt, adaptiert und umgebaut werden. Ihren eigenen Objektstatus verdanken sie einem handwerklichen, spielerischen Zugang des Erprobens von Potentialen der Dinge, sie sind als Apparaturen über ihren eigenen Objektstatus hinaus auch selbst so etwas wie mediale Objekte zweiter Ordnung, indem sie Potentiale einer spezifischen Medialität diskutieren und gleichzeitig ihr jeweiliges Argument apparativ objektivieren. In diesen Potentialen geht es immer schon um eine Medialität des Klangs und damit um eine medialisierte Klangerzeugung, die in ihrem Entstehungsprozess auf wunderbare Weise die Dichotomie von Gelingen und Misslingen durchkreuzt. Denn es gibt eine hohe Anzahl vermeintlich »gescheiterter« Erfindungen und medialer Innovationen, die in Wirklichkeit apparative Experimentalsysteme bilden, in denen sich eine technische Erfindung in einem zweiten Schritt auch erstmals mit sozialen Verwendungen konfrontiert. Diese technischen Entstehungsherde vielfältiger medialer Innovationen bleiben oft über Jahrzehnte wirksam, sobald sich die Forschung in ersten Apparaturen konkretisiert hat, die dann adaptiert 39 | Edison: The Papers of Thomas A. Edison, Bd. 3, S. 629; vgl. auch Eintrag vom 28.12.1877, S. 686.

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und umgebaut werden. Das für ihr Medien-Werden benötigte kulturtechnische Wissen kann bereits seit längerem zur Verfügung stehen, entscheidend sind jedoch die Medienexperimente, in denen es weiter entwickelt wird. Es aktualisiert sich zum medialen Dispositiv innerhalb spezifischer Konstellationen, deren Erscheinen im 19. Jahrhundert die Entwicklung von Medientechniken der Speicherung, Übertragung und Bearbeitung auditiver Sinnesdaten als apparative Effekte einer grundlegenden Neuorientierung von Forschungsfragestellungen und Entwurfsmethoden zu denken gibt. Die Brüche, Verbindungen und Wiederholungen einer solchen Entwicklung zu untersuchen, die eine Formierung und Ausdifferenzierung der akustischen Medien überhaupt erst ermöglicht hat, stellt die Audio-Medientheorie damit vor die Aufgabe, überkommene Vorstellungen von der Genese materieller und symbolischer Formen ihres Gegenstands durch eingehende Untersuchungen klangwissenschaftlicher Medienexperimente zu ersetzen. In dem Maße, wie eine Medienwissenschaftsgeschichte damit an die Seite einer speziellen Geschichte einzelner akustischer Medien tritt, lassen sich diese sowohl hinsichtlich der medialen Praktiken und Wissensformen fassen, die sie erzeugen, wie auch auf die kulturtechnischen Praktiken und Wissensformen beziehen, aus denen sie hervorgehen.

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A BBILDUNGEN Abb. 1: Felix Savart: Apparatur zur Frequenzmessung. Aus: Adolphe Ganot: Traité élémentaire de physique expérimentale et appliquée et de météorologie. 2. Aufl., Paris 1853, S. 175. Abb.  2: Jacques Paul Lambrigot: »Lames Parlantes«. Aus: Engineering, Bd. 27, vom 18.04.1879. Abb. 3: Jacques Paul Lambrigot: Herstellung der »Lames Parlantes«: Einschreibung (links) und Kupfermatrize (rechts) der Schallschwingungen. Aus: Engineering, Bd. 27, vom 18.04.1879.

Die Materialität des Klangs und die Medienpraxis der Musikkultur Ein verspäteter Gegenstand der Musikwissenschaft? Rolf Grossmann Die Unterscheidung zwischen echter Musik und Soundeffekten kollabiert in einem Strom sonischen Materials, der sich vom flüssigen Aggregatzustand gehaltener Klavierklänge bis zum gasförmigen Zustand der gedämpften Trompetennebelbänke erstreckt. K ODWO E SHUN ÜBER M ILES DAVIS ’ HE LOVED HIM MADLY

Wenn sich eine vergleichsweise lange etablierte Disziplin wie die Musikwissenschaft und ein Wissenschaftsfeld mit einer eher kurzen Tradition wie die Medienwissenschaft treffen, sind neben neuen Erkenntnissen auch Probleme zu erwarten. Missverständnisse entstehen schon allein aus unterschiedlich definierten Gegenständen, Methoden und Begrifflichkeiten. Zudem gilt es, grundlegende Fragen zu stellen: Warum sollten die Medien und ihre kulturelle Praxis überhaupt ein – vielleicht verspäteter – Gegenstand der Musikwissenschaft werden? Oder aus der Sicht der Medienwissenschaft: Wofür brauchen wir die Musikwissenschaft, wenn die Medienpraxis längst die musikalische Praxis dominiert? Zwei Fragen, zwei mögliche Antworten, die als Leitthesen des folgenden Texts verstanden werden können: Weil die Musikwissenschaft sonst bereits vor der Musikkultur des 20. Jahrhunderts kapitulieren muss und ihre Gegenstände, die im Medienwandel veränderten musikalischen Prozesse und Phänomene, nicht mehr versteht und verstehen kann. Und weil die Medienwissenschaft andere Fragen stellt und andere Probleme lösen will als die Musikwissenschaft.

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Nebenbei gesagt, ist auch die Musikwissenschaft aus einer historisch weiter gefassten Perspektive betrachtet eine relativ neue Wissenschaft, die eine Hypothek aus der historischen Situation ihrer Gründung abzutragen hat: Sie laboriert bis heute an der methodisch unglücklichen wissenschaftshistorisch bedingten Teilung in historische und systematische Musikwissenschaft. Von daher sollte sie in einer neuerlichen Situation des Umbruchs Offenheit und Verständnis für terminologische und methodische Fragen und Missverständnisse zeigen. Der folgende Text thematisiert verständlicherweise nur einige wenige Gesichtspunkte dieser Diskussion, die allerdings von zentraler Bedeutung sind. Er möchte Anregungen für den interdisziplinären Umgang der angesprochenen Disziplinen mit musikalisch-medialen Phänomenen geben und einen Beitrag zur Präzisierung der Forschungsfragen und der jeweiligen Ziele leisten. Das übergreifende Thema des Bandes Auditive Medienkulturen bietet dabei eine aussichtsreiche Perspektive auf die Schnittmenge der bisher am meisten vernachlässigten Felder. Hier ist ebenso der Platz für die Erweiterung der Musikwissenschaft in die Richtung einer medienkulturellen Sicht musikalischer Gestaltung und Produktion einerseits wie für die medienwissenschaftliche Horizontverschiebung auf kulturelle Traditionslinien musikalischer Praxis andererseits. In diesem Sinne werden hier folgende Bereiche angesprochen: • die Materialität des Klangs, hier als Zentrum einer spezifischen Medien konstellation gesehen, • die Medienpraxis in der Musikkultur, hauptsächlich bezogen auf die musikalische Gestaltung und ihre Phänomene • und die auditive Kultur als Gegenstand der Medien- und der Musikwissenschaft. In einem ersten Schritt wird es zunächst darum gehen, die Begrifflichkeiten um den »Klang« in seiner medialen Konstituierung im Kontext der Musik deutlicher zu umreißen. Seine Materialität in der technischen Klangschrift des 20. Jahrhunderts verändert die Bezugssysteme musikalischen Gestaltens, die nachfolgend im Kontrast zum klassischen Komponieren mit notierten Tönen in einigen Feldern phonographisch-musikalischer Praxis dargestellt werden. Abschließend soll noch einmal die Frage nach den veränderten disziplinären Ordnungen bzw. den undisziplinierten Überschneidungen von Medien- und Musikwissenschaft diskutiert werden.

D ER K L ANG DES S CHALLS Die Materialität des Klangs ist einer der zentralen Aspekte im Zusammenwirken von Musik und dem Wandel der Medien. Hier ist der Ausgangspunkt die neue Schriftlichkeit der Phonographie, die im Verhältnis

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zur traditionellen Notenschrift eine grundsätzlich neue Form der Speicherung, Übertragung und Manipulation von musikalischer Gestaltung darstellt. Präziser gesagt, speichert die Phonographie zunächst einmal nichts als Schallereignisse. Bereits hier ergibt sich eine Reihe von terminologischen Problemen, denn Schall ist als solcher kein Klang und schon gar nicht Musik. Wie Friedrich Kittler feststellt, notiert das Grammophon die Sphäre des Realen, d. h. es zeichnet die akustischen Ereignisse vor jeder Bedeutung und zeichenhafter Wirklichkeit der menschlichen Sphäre auf.1 Klang dagegen, und hier herrscht in der vom Klang, Sound und Sonischen begeisterten medienwissenschaftlichen Szene manchmal begriffliche Verwirrung, ist bereits eine auf die Wahrnehmung bezogene Eigenschaft akustischer Schwingungen und kein ontologischer Urgrund jenseits des menschlichen Hörens. Man muss nicht Kittlers von Lacan entlehnter Trias von Realem, Imaginärem und Symbolischem folgen, um dieses Problem zu berücksichtigen. Für unsere Zwecke reicht es, die eingeführten Begriffe aus der physikalischen und musikalischen Akustik zu verwenden. Die Unterscheidung zwischen akustisch und auditiv gibt es dort ebenso wie die physikalische und die musikalische Ebene des Klangs. Die entsprechenden Grundmuster wissenschaftlicher Theoriebildung folgen – mit vielen Zwischentönen – physikalischen, psychophysischen und kulturellen Konzepten. Dabei ist es wichtig zu betonen, dass keineswegs die physikalische Konzeption einer ontologischen Realität am nächsten kommt, die wir – nach Immanuel Kant – ohnehin nicht kennen können. Ihre Ausrichtung auf die Prozesse der unbelebten Natur schließt lediglich Fragen nach intendiertem Sinn und Bedeutung und damit nach der als Realität erfahrenen menschlichen Wirklichkeit aus. Klang ist in all diesen Konzeptionen eine Eigenschaft, etwas Akzidentielles, das sich auf etwas bezieht, welches klingt (»welches tönt«, würde eine Schweizerin sagen und so einen Eindruck davon geben, wie komplex Begriffsbildungen hier sind). Klang als physikalische Eigenschaft des Schalls definiert sich durch ein jeweils charakteristisches Muster von Obertönen, das mithilfe der Fourieranalyse untersucht werden kann. Dieses korrespondiert wiederum mit der psychophysischen Wahrnehmung, welche die Basis für die kulturelle Formung von Klängen, für ihre Identifikation und Sinnkontexte bildet. Erst auf dieser Ebene findet sich schließlich Musik als, sagen wir, abgrenzbares System kommunikativen Handelns oder kulturelles Dispositiv.2 1 | Vgl. Kittler: Grammophon, Film, Typewriter. 2 | Es ist nicht von essenzieller Bedeutung, dass genau diese hier verwendeten Begriffe genutzt werden (im Beitrag von Marcus S. Kleiner in diesem Band ist in diesem Sinne von einem sozial ausgezeichneten akustischen Produkt die Rede, das von der sonst akustisch wahrnehmbaren Umwelt abgegrenzt wird und in einen konkreten Interaktionszusammenhang eingebettet ist). Die Unterscheidung der Theorieebenen, auf denen argumentiert wird, ist jedoch zur Vermeidung von Missverständnissen absolut geboten.

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Natürlich strukturieren solche Konzepte – wie alle daraus abgeleiteten Begriffsbildungen – ihren Gegenstand und ihre Erkenntnisoptionen, sie richten sich auf eine eingeführte Praxis auditiver Kultur. Die Unterscheidung zwischen Schall, Ton, Klang und Geräusch, zwischen periodischer und nicht periodischer Schwingung, zwischen physikalischer und musikalischer Akustik, zwischen Mikro- und Makrogliederung gestalteter Schallereignisse sind musikwissenschaftliche Grundbegriffe (die jede Musikwissenschaftlerin im ersten Semester lernt, meist mithilfe des Monochords und anderer archaisch anmutender Hilfsmittel). Verständlicherweise gehören solche begrifflichen Gliederungen des Auditiven zunächst nicht zu den medienwissenschaftlichen Grundlagen – weil sie dort auch gar nicht benötigt werden. Dort meint Ton, etwa als Filmton im Tonfilm, oft nicht mehr als die auditive Ebene an sich, also ein musikalisch völlig untonales Tönen, das Geräusche, O-Töne, Sprache und vieles mehr enthält. Die Ausdifferenzierung der Begriffe erfolgt in eine andere Richtung und auf einer anderen Ebene, was allerdings den Austausch zwischen den Disziplinen stark erschwert. Ein Ausweg, der zugleich auch das Problem mangelnder wissenschaftlicher Internationalisierung der Begriffsbildung berührt, scheint sich mit dem Begriff Sound anzubieten, mit dem das Klingende in seiner allgemeinsten Form gemeint sein könnte.3 Gewonnen ist damit jedoch noch wenig mehr als ein möglichst ausgedehntes gemeinsames Dach, unter dem weitere Forschung stattfinden kann. Eine neue Facette ist das Sonische, das – abgeleitet von englischsprachigen Diskursen um Sonic Fiction und Sonic Warfare4 – den für sich direkt körperlich wirksamen Schall auch am Rande eines traditionellen Musikbegriffs thematisiert und erkenntnistheoretisch jenseits begrifflicher Kategorisierung an neue Forschungsperspektiven erschließen soll. Der Fokus auf rational gestaltete und intellektuell durchhörbare Strukturen, wie er sich in der westeuropäischen Kunstmusik als dominierendes Prinzip herausgebildet hat, soll mit dem Sonischen in Richtung einer interkulturellen Einbeziehung des Körperlichen verlagert werden. Sobald also ein musikalisch-ästhetischer Prozess in der Medienkultur angesprochen ist, stellt sich die Frage nach den begrifflichen Traditionen und ihrer Fortschreibung in diese Praxis. Auf die disziplinär bereits erarbeiteten begrifflichen Differenzierungen völlig zu verzichten, wäre in der westeuropäischen Musikkultur, in der wir uns trotz der Auflösungstendenzen der Globalisierung nach wie befinden, nicht sinnvoll. Wir brauchen sie, um den musikalischen Medienwandel zu verstehen und mit ihm weiter zu denken. Das gestalterische Material, seine Materialität und die Medialität musikalischer Phänomene hängen unmittelbar zusammen.

3 | Einen ausführlichen Überblick über die Facetten des Begriffs gibt Frank Schätzlein in »Sound und Sounddesign in Medien und Forschung«. 4 | Eshun: Heller als die Sonne; Goodman: Sonic Warfare.

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TON UND K L ANG Traditionelle Notation als Medium der Gestaltung verweist nicht auf den Klang, sondern primär auf den Ton (und später auch auf Tondauern). Das sich aus Guido von Arezzos Handzeichen über die Neumen (vgl. Abb. 1) entwickelnde Notensystem bezieht sich auf eine wesentliche Eigenschaft des gestalteten Schalls, auf seine Periodizität, seine Frequenz oder musikalisch gesagt, seine Tonhöhe.

Abb. 1: Frühe Notation, diskrete Tonhöhen werden notiert und vermittelt (Dijon ca. 1025, Codex Montpellier).

Der Ton wird damit vor allen anderen wahrnehmbaren Parametern des Schalls zum ersten rationalisierbaren Material musikalischer Gestaltung. Diese Medienkonstellation der Speicherung und Verbreitung führte, wie bei Max Weber und Kurt Blaukopf ausführlich nachzulesen ist5, zur Mehrstimmigkeit, zur temperierten Stimmung, zum Kontrapunkt, zur entwickelnden motivisch-thematischen Variation und zur Funktionsharmonik, kurz zur Tonkunst. Der Ausgangspunkt und umfassende Gegenstand der Musikwissenschaft sind entsprechend mit Guido Adler deren kanonisierte Phänomene, die Denkmäler der österreichischen Tonkunst, fortgeführt als Denkmäler deutscher Tonkunst, unter anderem von Hugo Riemann (vgl. Abb. 2). Im Tonsatz, dem Setzen der Töne, und im Kontrapunkt, seiner kunstvollsten Form, ist ihre Medialität bereits bildlich enthalten. Es werden Töne nicht gespielt, sondern punctus contra punctum gesetzt – und dieses Setzen schließlich, etwa bei Johann Josef Fux, durch ein Regelwerk tradiert.6 Auch Hugo Riemanns Konzept der Funktionstonalität kann als ein solches Regelwerk entwickelter Schriftlichkeit verstanden werden, pointiert könnte hier vom musikalischen »Riemann-Universum« gesprochen werden, das für die Logik musikalischen Gestaltens und Hörens immensen Einfluss erlangte. Natürlich enthalten die Partituren dieses musikalischen Universums implizit auch den Parameter Klang, wenn auf ihnen Instrumen-

5 | Vgl. Weber: Die rationalen und soziologischen Grundlagen der Musik und Blaukopf: Musik im Wandel der Gesellschaft. 6 | Vgl. Fux: Gradus ad Parnassum.

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tierung, Schichtungen, Arrangements und Ähnliches festgehalten sind (vgl. Abb. 3).

Abb. 2: Denkmäler deutscher Tonkunst, Titelblätter Bd. 39.

Abb.  3: Partiturausschnitt 1. Satz, Sinfonie g-moll KV 550 (1788), Wolfgang Amadeus Mozart, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1880. Aus der Verteilung und Schichtung der notierten Töne in den Instrumentengruppen kann ein auch nur oberflächlich musikalisch gebildeter Betrachter bereits einfache Schlüsse über den Klang ziehen. Die Materialwerdung des Klangs eines bestimmten akustischen, ›erklingenden‹ Ereignisses beginnt jedoch erst mit dem Medium der Phono-

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graphie. Periodizität und Obertonstruktur sind dort beide gleichermaßen notiert, die tonalen Strukturen und der individuelle Sound sind damit Gegenstand medialer Vermittlung. Mit der Materialisierung des kompletten Schallereignisses in einem Speichermedium erhalten alle anderen musikalischen Parameter, die zuvor dem Ton (und der auf ihm basierten Schriftlichkeit) untergeordnet waren, eine neue Rolle. Die Phonographie aber ist eine Notation nicht nur des Klangs, sondern all dessen, was klingt. Damit werden auch andere, bisher an die Vermittlung durch Aufführungen gebundene und so nur schwer rationalisierbare Parameter zum verschriftlichten Material musikalischer Gestaltung, darunter etwa die rhythmische Mikrostruktur sowie Agogik und Intonation. Mit der Flankenschrift der beiden Stereokanäle kommt die Position der Schallquellen im Raum hinzu (Abb. 4). Auch der Ton ist noch da (darauf werde ich zurückkommen), aber eben nun als eine Eigenschaft unter anderen.

Abb. 4: Stereo Schallplattenrille in Flankenschrift, jede der beiden Seiten des ›Grabens‹ enthält ein Signal der beiden Stereokanäle. Die Platte des Grammophons ist eine Platte des Schalls, nicht des Tons, genau wie der arbiträre digitale Code einer MP3-Datei weder ein Werk der Tonkunst beschreibt noch an einen spezifischen materiellen Träger gebunden ist. Der Begriff Tonträger ist also kaum mehr als eine romantische Erinnerung an die gesetzten Töne. Er steht symptomatisch für die sich aus dem Beharren auf die Tradition der Tonkunst ergebende Fehleinschätzung der Phonographie von den ersten Tagen der Schallplatte bis zur MP3-Distribution im Internet. Kein Wunder, dass die aus diesem Missverständnis abgeleiteten Ansprüche der Tonträgerverbände, die auf dem alten Werkbegriff einer Tonkunst aufsetzen und denen sowohl die Töne als auch die Träger verloren zu gehen drohen, mit der kulturellen Wirklichkeit nur noch schwer zu vereinbaren sind. Die neue Materialität hat nicht nur ökonomische Folgen, sondern verändert unmittelbar auch die musikalische Praxis. Dies gilt besonders für außereuropäische Regionen, wo die Folgen des Medienwandels nicht durch kulturelle Traditionen gebremst und abgeschwächt werden. In Bass Culture, der Bibel des Reggae, sind die veränderten Verhältnisse von Materialität, Ökonomie und musikalischem Material in der

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ehemaligen britischen Kronkolonie Jamaika (seit 1962 unabhängig) bestens beschrieben. Über den Produzenten Duke Reid ist zum Beispiel zu lesen: Er bezahlte Studiomiete und Musiker, falls welche dabei waren, ließ Musiker und Sänger die technischen Details unter sich ausarbeiten und behielt als Finanzier der Session die Azetatplatte. [...] was das Copyright anbelangt, so hatte der Produzent alle Rechte an der fertigen Lackplatte und konnte damit tun und lassen, was er wollte. Wichtig ist anzumerken, dass nur der Besitz dieser einen speziellen Platte zählte, nicht etwa der Besitz des Materials, das darauf zu hören war. [...] dieses System (war) ein Albtraum für Musikverleger, da viele dieser Songs in immer neuen Versionen – sprich Neuaufnahmen – auftauchten und die Tantiemen in jedem Fall dem gehörten, der im Besitz der betreffende Mastertapes war.7

Diese Situation erinnert an die noch weitgehend urheberrechtsfreien letzten Jahrhunderte, als der Besitz der Partitur bzw. Druckplatte oder -stein die entscheidende Basis für die ökonomische Verwertung von mechanisch vervielfältigter Musik war. Nun entsteht in der Mitte des 20. Jahrhunderts in Jamaika aus einer rohkapitalistischen Situation phonographischer Distribution und Aufführung eine neue Musik abseits westeuropäischer Werte und Normen: mit Dubplate, Toasting und live-Remix bilden sich die Elemente einer Musik der Reproduktionsmedien, die schließlich für Dancehall, HipHop, Dub und die Produktionspraxis des 21. Jahrhunderts ein grundlegendes medienästhetisches Konzept vorgibt.8 Damit sind wir schon mittendrin in der Diskussion um Musikwissenschaft/Medienwissenschaft/Kulturwissenschaft. Der Begriff ›Musik‹ steht in diesem Feld nicht nur wissenschaftshistorisch für die Kultur des Tons, die erwähnte ›Tonkunst‹. Die kulturelle Aneignung der Phonographie und ihrer Nachfolger relativiert jedoch – wie beschrieben – die Tonkunst. Die entstandenen Kulturen des Hörbaren (die »auditive Kultur«) und des Klingenden (Soundkultur) enthalten längst als Teilbereich eine neue Musik, die auf der neuen Materialwerdung und Rationalisierung sämtlicher Parameter musikalischer Gestaltung beruht. Hinzu kommt die Gestaltung mit den Medienarchiven des Sound – einem Material zweiter Ordnung –, das bisher außerhalb der Perspektive westeuropäischer Musikkategorien blieb. Zum musikalischen Material gehören nun auch die Medienproduktionen (die in der alten Terminologie irrtümlich mit den Aufführungen gleichgesetzt wurden) und die Medienaufführungen mit ihren kulturellen Kontexten selbst, vom Madonnakonzert über den MP3-Walkman bis zur 7.1-Umgebung eines Dolby-Digital-Soundtrack.9

7 | Bradley: Bass Culture, S. 54. 8 | Vgl. Großmann: »Die Geburt des Pop aus dem Geist der phonographischen Reproduktion«. 9 | Vgl. Ashby: Absolute Music, Mechanical Reproduction.

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M EDIENHYBRID J A Z Z So ist der Jazz aus dieser Sicht durchaus als ein Ergebnis dieser neuen medialen Situation zu verstehen – als Medienhybrid zwischen traditionell notierter und phonographischer Praxis. Die charakteristischen Parameter – Improvisation, Sound, Phrasierung, Swing – kommen erst im Moment des Spiels voll zum Tragen und können jederzeit geändert werden. Sie lassen sich nur schlecht oder gar nicht in Noten oder Anweisungen festhalten.10 Der Berner Jazzpädagoge Peter Kraut schildert hier seine Probleme in der Lehre. Die musikalische Bildung und Weiterentwicklung im Jazz ist danach auf die hörende Aneignung angewiesen, ein essenzieller Teil ihrer Schriftlichkeit sind die Parameter des Spiels, wie sie auf Schallplatten »notiert« sind. Die Leadsheets des in den 1970er Jahren entstandenen Real Book (der Bibel der Jazzmusiker, die den Kanon des traditionellen Jazz enthält) repräsentieren genau diese hybride Praxis: Sie beziehen sich auf Notenschrift und Phonographie. Sie sind als Spielhilfe traditionell notiert, jedoch nur mit dem Verweis auf eine bestimmte phonographische Aufnahme vollständig verständlich und sinnvoll. Das Real Book ist ein sogenanntes ›Fakebook‹ und basiert auf der illegalen Vervielfältigung transkribierter und auf ihre essenzielle Melodik und Harmonik reduzierter Standardstücke innerhalb der Musikerszene.11 Ein Stück passt dort in der Regel auf eine Seite, notiert ist lediglich die Melodie und der Harmonieverlauf in Akkordsymbolen – und die entsprechende Aufnahme, auf die sich die Transkription bezieht. Es ist also zunächst kein kommerzielles Produkt, sondern dient der einfacheren Kommunikation der Spieler untereinander und wurde nicht zuletzt deshalb ein weltweiter Erfolg, weil es aus der Spielpraxis des Jazz selbst entstanden ist (vgl. Abb. 5). Während die traditionellen Leadsheets von Popsongs eine ausnotierte Klavierstimme besaßen, die Aufschluss über Spielweise und Stilistik des Stücks bot, ist hier der Bezug zum Record grundlegend. Die entsprechende Aufnahme bietet Orientierung, gleichzeitig eröffnet die reduziertere abstrakte Notation Spielräume für die eigene Interpretation und Improvisation. Der Verzicht auf eine konventionell ausnotierte Begleitung und ihr Ersatz durch einfache Buchstabensymbole ist allerdings wesentlich älter als das Real Book und steht ebenfalls in einer Tradition des medialen Wandels. (Anders als in der Kurznotation des Generalbass, der hier oft als Tradition genannt wird, sind diese Buchstabensymbole keine relativen funktionstonalen Bezeichnungen, sondern geben direkt Tonhöhe und Alterationen der Akkorde an.) Aus der engen Wechselbeziehung zwischen live gespielter Unterhaltungsmusik und den gerade erfolgreichsten Plattenveröffentlichungen 10 | Kraut: »Die Traditionsfalle«, S. 57. 11 | Erst als 6. Auflage (2005) wird es vom Verlag Hal Leonard legal verbreitet, einige der Jazzstandards sind allerdings nicht mehr enthalten.

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entwickelte sich in den USA ab den 1930er Jahren die heute gebräuchliche Hinzufügung von Tabulatur- und schließlich Akkordsymbolen. Sichtbarer Ausdruck dieser engen Wechselbeziehung waren die seit Anfang der 1940er Jahre verbreiteten Tune-Dex-Karten, die auf die Klavierstimme völlig verzichteten und auf der Rückseite Angaben zum Urheberrecht und zur Aufnahme trugen.12

Abb. 5: Leadsheet aus dem Real Book mit Verweis auf die entsprechende Aufnahme als Vorlage der Transkription, s. unten. Sie ermöglichten vornehmlich Tanz- und Showbands, ihr Repertoire schnell an aktuelle Plattenerfolge anzupassen, gleichzeitig dienten sie 12 | Vgl. Kernfeld: The Story of Fake Books.

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zum Geltendmachen von Urheberrechtsansprüchen. Für die Perspektive des musikalischen Medienwandels entscheidend ist dabei, dass sich hier eine neue Musikkultur der hörenden Aneignung bildet, in der ein notiertes Gerüst musikalisch-tonaler Struktur in wesentlichen Teilen durch phonographisch vermittelte Parameter einer klingenden Musik ergänzt werden muss, um eine sinnvolle Aufführung zu ermöglichen.

E FFEK TE UND S OUNDKUNST Wird für ein phonographisches Medium der Speicherung und Übertragung bzw. in diesem produziert, so findet eine direkte Wechselwirkung zwischen Medium, Struktur und Form der Musik statt. In den Anfängen der medienmusikalischen Gestaltung ist es bereits die Macht des Mediendispositivs, die zu neuen ästhetischen Strategien führt. Mikrofon, elektronische Verstärkung und die Mischung der Signale begründen ab Ende der 1920er Jahre neue Stile wie etwa die Als-ob-Intimität des Crooning,13 das effektvolle Spiel mit sich selbst (Les Paul) oder das Hinzumischen von Hallräumen. Die Wirkmacht dieser damals neuen, mit vertrauten auditiven Wahrnehmungsmustern spielenden medienästhetischen Gestaltung ist heute kaum noch vorstellbar. Crooner waren die ersten Popstars der Radio-Ära. Die geradezu sakral transzendente Wirkung von Halleffekten demonstriert die 1947 entstandene Aufnahme Peg o’ My Heart der Harmonicats, eines Mundharmonikatrios.14 Solopassagen werden dort so stark verhallt, dass sie scheinbar aus dem Nichts heraus kommen. Erzielt wird ein Effekt, dessen Künstlichkeit jederzeit hörbar ist, ohne die Hörer zu stören, im Gegenteil, er wird zum Markenzeichen der Aufnahme. Der große Erfolg und die breite Akzeptanz solcher scheinbar nebensächlichen Effektspielereien ist medienästhetisch gesehen ein Zeichen für die offene Emanzipation einer eigenen Medienrealität gegenüber dem Paradigma medialer Abbildung. Peg o’ My Heart verkaufte sich dank des in die Aufnahme gemischten Badezimmerhalls über eine Million Mal – der Producer/Engineer Bill Putnam wurde selbst zum Star der Produzentenszene.15 Was zunächst als Effekt Aufmerksamkeit erregt, geht in die Palette der alltäglichen Studioproduktion über und wird zum gestalterischen 13 | Das Crooning nutzt die elektronische Verstärkung der Singstimme zur Herstellung einer quasi privaten Hörsituation, in der die Entfernung des Sängers zum Ohr der Rezipientin minimal zu sein scheint. Statt des öffentlichen Gestus einer Bühnenstimme entsteht mittels einem flüsterndem, sprechenden detailreichen Klang der Eindruck einer individuellen Ansprache. Bekannte Crooner waren z. B. Bing Crosby und Frank Sinatra. 14 | Aufgenommen wurde dieser Effekt im Universal Audio (später UREI) Studio Chicago. 15 | Vgl. Cogan/Clark: Temples of Sound, S. 127 f.

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Material im handwerklichen Sinne. Produzenten wie Teo Macero, Sam Philips, Phil Spector, George Martin, Brian Wilson, Alan Parsons – um nur einige zu nennen – stehen für jeweils spezifische Konzepte des ästhetischen Umgangs mit den Mitteln der Studioproduktion und begründen den Anspruch der vormaligen Engineers auf Teilhabe an der Urheberschaft der phonographischen ›Werke‹.16 Über künstliche Räume, Filter, Pegelkompression und viele andere Verfahren der Signalverarbeitung, deren auch nur kursorische Behandlung diesen Beitrag sprengen würde und auf die in anderen Publikationen ausführlich eingegangen wird,17 führt der Weg in die spezifische Praxis der digitalen Medien, von denen hier nur ein aktuelles Gestaltungskonzept exemplarisch erwähnt werden soll. Digitale Schriften erlauben über die Arbitrarität und Adressierbarkeit ihres Codes hinaus das Rechnen und Programmieren. Die Schrift selbst wird ausführbar – ähnlich den Lochstreifen und -scheiben der Musikautomaten – jedoch nun auch als Teil algorithmischer Verarbeitung sowohl von Daten zur Klangerzeugung durch Synthesizer und Sampler wie auch der Audiodaten digitalisierter Phonographie.

Abb. 6: Die Harmonicats erhalten ihre goldene Schallplatte.

16 | Vgl. dazu auch den Beitrag von Volkmar Kramarz über die Wechselwirkungen zwischen den Abbey Road Studios und den Beatles in diesem Band. 17 | Vgl. z. B. Smudits: »A Journey into Sound«; Théberge: Any Sound You Can Imagine.

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M EDIENAVANTGARDE Die Verkopplung mit Wahrnehmungsmodellen führt nicht nur zu MP3Komprimierungs-Algorithmen, sondern auch zu neuen Gestaltungsverfahren mittels granularer Zerlegung digitalisierter Schallschwingungen. Dabei gibt es Zeichen dafür, dass der Ton gegenüber dem Klang wieder Boden gewinnt. Die granulare Zerlegung und algorithmische Transformation erlaubt neben der Gestaltung des Klangs auch die Manipulation der Tonhöheneigenschaften von digitalen Samples, wenn gewünscht, auch in Echtzeit. Eine Aufnahme der Mondscheinsonate von Moll nach Dur zu transponieren: kein Problem.18 Elastic Audio oder Auto-Tune ist aktuell Standard bei der Intonationskorrektur für live-Vocals, dient jedoch auch zur eigenständigen medienästhetischen Gestaltung jenseits der Simulation perfekter Stimmbeherrschung. So zeigt etwa Kanye West mit 808s & Heartbreak (2008), dass die kreative Nutzung dieses Bereichs bereits poptauglich ist, noch bevor experimentelle Kompositionen der ernsten Musik diese Gestaltungsmittel überhaupt zur Kenntnis nehmen. Mit weitreichenden Folgen: die Entwicklung des neuen Materials musikalisch-phonographischer Gestaltung verlagert sich in den Bereich der populären Musik, ein Phänomen, das bei genauerem Hinsehen auch für viele andere medienästhetische Strategien der Musik gilt. Der Avantgarde-Anspruch der ernsten Musik verliert an Handlungsspielraum und Glaubwürdigkeit, wenn Hörgewohnheiten innovativer Gestaltungskonzepte bereits durch Pop-Avantgarden experimentell erkundet und in der musikalischen Alltagspraxis eingeführt sind. Traditionelle Notation und Phonographie begründen in diesem Sinne die musikkulturellen Paradigmen des ›Tons‹ und des ›Klangs‹. Ob und welche neuen Paradigmen durch die digitale Phonographie hinzukommen werden, bleibt nach meiner Einschätzung bisher noch weit gehend offen. Es wäre sogar denkbar, dass der phonographisch beförderte Boom des Sounds sich als geschichtliches Zwischenspiel entpuppt. Innovationen und Veränderungen in der Musik des 20. Jahrhunderts lassen sich aus dieser Perspektive in jedem Fall anders und besser deuten als aus dem Gedanken der Fortschreibung des musikalischen Materials der Epoche der Tonkunst, wie es etwa in der Konzeption musikalischen Fortschritts bei Theodor W. Adorno geschieht. Zu den großen, bedeutenden Innovationen gehören dann auch weniger Meilensteine der Kompositionstechnik wie Reihentechnik, Serialität und Aleatorik, sondern vor allem

18 | Vgl. von Beesten: Elastic Audio. Der Effekt wird oft mit Auto-Tune bezeichnet, einem geschützten Begriff des Herstellers Antares Audio Technologies. Inzwischen wird auch Elastic Audio, das von Beesten als eingeführten Oberbegriff für Intonationskorrektur-Software benutzt, in Pro Tools (Fa. Avid) als Marke für ein Bundle von Time-Stretching- und Pitch-Shifting-Software verwendet.

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• neue Gestaltungsoptionen durch elektronisch verstärkte und erzeugte Schwingungen, • die (Re-)Kombination und Transformation phonographischen Materials (Loops, Cut, Copy & Paste, Effekte, Mehrspurproduktion etc.), • die automatische und interaktive Klangerzeugung, • die ästhetische Nutzung neuer Mediensettings (Klangkunst, Soundscapes), sowie • eine auf Signalen und Codes basierende technische Intermedialität. Diese Veränderungen der kulturellen Musikpraxis und mit ihr die aus der europäischen Kunstmusik abgeleiteten Wertsysteme lässt die Frage entstehen, ob hier überhaupt weiter bruchlos von Musik gesprochen werden kann. Dies betrifft besonders die letztgenannten Veränderungen, bei denen Musik nicht mehr herkömmlich instrumental oder vokal erzeugt wird und neue Relationen zwischen Wahrnehmungsmodi (wie Hören und Sehen) und Medien konstitutiv für das ästhetische Ereignis werden. Aber auch die ausgedehnte Nutzung phonographischen Materials aus dem bereits kulturell sedimentierten Medienpool zur Herstellung neuer Songs, also Versioning, Breakbeat, Sampling, Remix etc. bricht mit westeuropäisch-musikalischen Vorstellungen von Originalität und Autorschaft. Die Integration solcher Strategien findet zur Zeit allen Ortes in die sogenannte ernste Musik und die bildenden Künste sowie ihre Diskurse statt, kommt jedoch nur dann über ein reines Labeling hinaus, wenn dabei die zentralen Innovationen interkultureller Praxis der populären Musik eine wesentliche Rolle spielen: die Autonomie medial konstruierter Artefakte von einer nur abzubildenden Realität sowie die dynamische Identität eines Musikstücks.19

K ULTUR -M EDIEN -M USIK -W ISSENSCHAF T Diese hier nur schlaglichtartig ausgebreiteten Aspekte medienbezogener Musikgeschichte oder musikalischer Mediengeschichte sollen zumindest – wie eingangs gesagt – dazu anregen, die wissenschaftsdisziplinäre Situation aus ihrer traditionellen Starrheit zu befreien und zu dynamisieren. Sowohl Begriffe wie Klang oder Material lassen sich in einer transdisziplinären ›Musik-und-Medien‹-Perspektive besser und passender auf die aktuelle musikalische Praxis anwenden als auch Diskurse um Fortschritt und Avantgarde sinnvoller führen. Um noch einmal auf die Ausgangsfrage zurückzukommen: Welche Rolle spielen die Medien für die Musikwissenschaft bzw. die Musik für die Medienwissenschaft? Oder wird gar eine der beiden Disziplinen obsolet? Musik im engeren Sinne ist Teil eines umfassenderen Bereichs auditiver Medienkultur(en), der durch den Wandel technischer Medien erwei19 | Siehe dazu Großmann: »Reproduktionsmusik«, S. 126 f.

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tert und verändert wurde. Falls Musikwissenschaft als Disziplin aktuelle musikalische Prozesse behandeln will, hat sie diese Situation nicht nur zur Kenntnis zu nehmen, sondern auch in ihre wissenschaftsmethodischen Grundlagen zu integrieren. Die Grenzbereiche zwischen einer musikbezogenen Perspektive – auf medienmusikalische Phänomene, Strukturen und Prozesse – und einer eher medienbezogenen Perspektive – mit spezifischen kulturellen, sozialen und gesellschaftlichen Fragestellungen – sind vor dem Hintergrund eines sinnvollen disziplinären Miteinanders neu auszubalancieren. Zurzeit ist ein weiter Komplex von Fragestellungen zur auditiven Kultur wissenschaftsdisziplinär nicht eindeutig zugeordnet. Kultur-, medien- und musikwissenschaftliche Ansätze kooperieren und konkurrieren im Hinblick auf diese undisziplinierten Bereiche. Es gilt, diese Situation produktiv zu machen. Sollen Teile dieser neueren auditiven Medienkulturen zukünftig Forschungsgegenstände einer Wissenschaft der Musik bilden, so werden dort die technischen Medien mit ihren Funktionen, Optionen und kulturellen Dispositiven eine bedeutende Rolle spielen müssen. Eine interdisziplinäre Verschränkung mit der Medienwissenschaft, die hier einige Jahrzehnte Vorsprung hat, ist unumgänglich. Es wird also einen Bereich in Musikund Medienwissenschaft geben und geben müssen, in dem sich beide Disziplinen überschneiden. Die Musikwissenschaft reklamiert bisher – aus ihrer Tradition heraus, sich den klingenden Gegenständen als solchen zu widmen – dabei den ästhetischen Kernbereich musikalischer Prozesse für sich. Dieser Anspruch ist jedoch für die aktuelle Musikpraxis insbesondere der populären Musik kaum eingelöst worden und bedarf der hier skizzierten Veränderungen, um überhaupt glaubwürdig vertreten werden zu können. Für die Medienwissenschaft stellt sich im Vorgang des Ausbalancierens die Frage, ob und inwieweit sie eine Wissenschaft ästhetischer Phänomene und Prozesse ist bzw. werden will und damit in das traditionelle Feld der Wissenschaften der Künste (Kunstgeschichte, Bildwissenschaft, Musikwissenschaft etc.) einwandert. Für den publizistischen Zweig der Medienwissenschaft (»Medien und Massenkommunikation«) wird dies weniger ein Thema sein als für die qualitativ orientierte kultur- bzw. geisteswissenschaftliche Medienwissenschaft (die im Positionspapier des Wissenschaftsrats als »kulturwissenschaftliche Medialitätsforschung« bezeichnet wird20). Zugespitzt lautet die Frage: Gibt es medienästhetische Mechanismen, die über die Entwicklungslinien der einzelnen Künste hinausgehen und eine eigene, medienspezifische Ästhetik begründen können? Im Gegensatz dazu dient die Musikwissenschaft nicht primär dem Verständnis von Gesellschaft, Kultur und den sich dort vollziehenden Medienmechanismen, sondern dem Verständnis des ›So-Seins‹ auditiv20 | Wissenschaftsrat: Empfehlungen zur Weiterentwicklung der Kommunikations- und Medienwissenschaften in Deutschland.

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ästhetischer Phänomene und Prozesse. Dazu gehört unter anderem die eingehende Analyse und Bewertung gestalteter und inszenierter auditiver Artefakte. Hier hat sie ihre traditionelle Kompetenz, die es in einer medienwissenschaftlich erweiterten Musikwissenschaft weiterzuentwickeln gilt. Die zentrale Frage nach ihrer Position in der Konkurrenz der Disziplinen ist die nach ihrer Reformfähigkeit. Musikwissenschaft ist, und das unterscheidet sie von vielen anderen Geisteswissenschaften, auch eine Wissenschaft des praktischen Gestaltens. Sie ist sowohl wissenschaftshistorisch als auch institutionell, in Musikhochschulen und pädagogischen Fächern mit der Musikpraxis verbunden. Ihre Wissenschaftlerinnen sind oder waren zumeist auch ausübende Musikerinnen. Dies ist ihre Schwäche und Stärke zugleich und erklärt zumindest teilweise die Verspätung der Gegenstände, von der anfangs die Rede war. Gelebte Tradition – wie etwa die des Instrumentalspiels – verändert sich langsamer und ist nachhaltiger als der kulturindustrielle Fortschritt. Wenn medienkulturelle Veränderungen allerdings übersehen werden und nicht als Gegenstand wissenschaftlicher Forschung verhandelt werden können, besteht die Gefahr der Weltfremdheit und schließlich der Weltvergessenheit, eine Haltung, die sich zwar die Kunst, nicht aber die Wissenschaft leisten kann.

L ITER ATUR Ashby, Arved: Absolute Music, Mechanical Reproduction, Berkeley, CA 2010. Beesten, Philip von: Elastic Audio. Die digitale Manipulation von Tonhöhen- und Zeitstrukturen, Magisterarbeit Leuphana Universität Lüneburg 2009. Blaukopf, Kurt: Musik im Wandel der Gesellschaft. Grundzüge der Musiksoziologie, Darmstadt 1996. Bradley, Lloyd: Bass Culture. When Reggae was King [2000], London 2001. Cogan, Jim/Clark, William: Temples of Sound. Inside the Great Recording Studios, San Francisco CA 2003. Eshun, Kodwo: More brilliant than the Sun: Adventures in Sonic Fiction, London 1998. Fux, Johann J.: Gradus ad Parnassum oder Anführung zur regelmäßigen musikalischen Composition [1742], Hildesheim 2004. Goodman, Steve: Sonic Warfare. Sound, Affect & the Ecology of Fear, Cambridge MA 2009. Großmann, Rolf: »Reproduktionsmusik und Remix-Culture«, in: Saxer, Marion (Hrsg.): Mind the Gap. Medienkonstellationen zwischen zeitgenössischer Musik und Klangkunst, Saarbrücken 2011, S. 116-127.

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Großmann, Rolf: »Die Geburt des Pop aus dem Geist der phonographischen Reproduktion«, in: Bielefeldt, Christian u. a. (Hrsg.): PopMusicology. Perspektiven der Popmusikwissenschaft, Bielefeld 2008, S. 119-134. Kernfeld, Barry: The Story of Fake Books. Bootlegging Songs to Musicians, Lanham MD 2006. Kittler, Friedrich: Grammophon, Film, Typewriter, Berlin 1986. Kraut, Peter: »Die Traditionsfalle. Gedanken zur Entwicklungsgeschichte des Jazz«, in: Jahrbuch der Hochschule der Künste, Bern 2006, S. 57-64. Schätzlein, Frank: »Sound und Sounddesign in Medien und Forschung«, in: Segeberg, Harro/Schätzlein, Frank (Hrsg.): Sound. Zur Technologie und Ästhetik des Akustischen in den Medien, Marburg 2005, S. 24-40. Smudits, Alfred: »A Journey into Sound. Zur Geschichte der Musikproduktion, der Produzenten und der Sounds«, in: Phleps, Thomas/von Appen, Ralf (Hrsg.): Pop Sounds: Klangtexturen in der Pop- und Rockmusik: Basics – Stories – Tracks, Bielefeld 2003, S. 65-94. Théberge, Paul: Any Sound You Can Imagine. Making Music/Consuming Technology, Hanover NH 1997. Weber, Max: Die rationalen und soziologischen Grundlagen der Musik [1921], Tübingen 1972. Wissenschaftsrat: Empfehlungen zur Weiterentwicklung der Kommunikations- und Medienwissenschaften in Deutschland, Drucksache 7901-07, Oldenburg, 25.5.2007.

A BBILDUNGEN Abb. 1: Frühe Notation, diskrete Tonhöhen werden notiert und vermittelt (Dijon ca. 1025, Codex Montpellier). Abb. 2: Denkmäler deutscher Tonkunst, Titelblätter Bd. 39, mit freundlicher Genehmigung der Bayerischen Staatsbibliothek. Abb. 3: Partiturausschnitt 1. Satz, Sinfonie g-moll KV 550 (1788), Wolfgang Amadeus Mozart, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1880. IMSLP PetrucciBibliothek CC. Abb. 4: Die Harmonicats erhalten ihre goldene Schallplatte. Abb. 5: Leadsheet aus dem Real Book mit Verweis auf die entsprechende Aufnahme als Vorlage der Transkription, s. unten rechts. Abb. 6: Die Harmonicats erhalten ihre goldene Schallplatte. Für alle Abbildungen gilt soweit nicht anders angegeben das Copyright: Creative Commons (CC) Public Domain.

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Spieltechnik der Musik Beispiele einer organologischen Kulturgeschichte Rebecca Wolf

Die Verbindung von Musik und Technik betrifft Aspekte der musikalischen Spieltechnik von Virtuosen, der Kompositionstechnik und in ebensolchem Maße der Technik im Musikinstrumentenbau. In der musikwissenschaftlichen Disziplin spielt der letztgenannte Aspekt jedoch allzu häufig eine Rolle am Rande. Gerade die technischen Entwicklungen im Instrumentenbau der vergangenen mehr als 200 Jahre, wie die Erweiterung von Ambitus und Lautstärke, die Verwendung verschiedener Materialien sowie die Erfindungen und Entwicklung mechanischer Systeme bleiben oft wenig beachtet. Obwohl gerade die technischen Neuerungen Grundbedingungen darstellen für umgreifende klangliche Veränderungen und ihre Anwendung in größer werdenden Konzertsälen und in Partituren, die eine Erweiterung des Tonvorrats eines Instruments wie der Instrumentation insgesamt erfordern. Daher macht es sich dieser Text zur Aufgabe, technische Konstruktionen im Musikinstrumentenbau und ihre Wechselwirkungen mit klanglichen Veränderungen in den Vordergrund zu stellen, exemplarisch anzuwenden und nach Verbindungen zu Nachbardisziplinen zu fragen, um der kultur- und akustikgeschichtlichen Relevanz der Verbindung von Musik und Technik nachzuspüren. Auf das soeben beschriebene Desiderat einer stärkeren Auseinandersetzung mit technischen Entwicklungen machte Hubert Henkel bereits aufmerksam und widmete sich dessen historischen Hintergründen.1 Ausgehend von dem fehlenden Bezug auf die Musikinstrumente, selbst wenn es um Spieltechnik von Virtuosen und neue Klangqualitäten geht, stellt er fest, dass technische Veränderungen zumeist unberücksichtigt bleiben. Die historischen Schriften zur Organologie wurden mehrheitlich von Instrumentenbauern verfasst, als Herausgeber fungierten oftmals polytechnische Vereine. Ziel dieser Schriften war die Verbreitung neuer Tech1 | Henkel: »Die Technik der Musikinstrumentenherstellung am Beispiel des klassischen Instrumentariums«.

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niken und Erfindungen, die mit der raschen Entwicklung und flächendeckenden Wandlung von Klein- und Handwerksbetrieben hin zu Fabriken sowie mit der Einführung von großen Produktionsmaschinen mithalten mussten. Die Wechselwirkungen von Innovationen im Musikinstrumentenbau und Ansprüchen der Musiker und Komponisten führten zu einer stetigen Weiterentwicklung, die sich allerdings nicht nur in einzelnen Veränderungen zeigte, wie beispielsweise in den Dekaden um 1800 in der Erweiterung der Tastatur bei Hammerflügeln oder des Tonvorrats bei Blasinstrumenten hin zu einer chromatischen Skala, sondern auch darin, dass für die Umsetzung solcher Forderungen zahlreiche Neukonstruktionen der Instrumente nötig wurden. Die Handwerker dieser zunftfreien Gewerke waren ein wichtiger Bestandteil des kreativen Schaffensprozesses, der Auswirkungen auf technische Produktionsabläufe hatte und das Handwerk als unentbehrliche Voraussetzung für die anschließend stattfindende Kunstproduktion – also Komposition, Improvisation und Musizieren sowie Interpretieren – installierte. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts scheint sich dies allerdings an einem entscheidenden Punkt zu ändern: Der Handwerker wird durch die arbeitsteilige Fabrikarbeit immer mehr zum Spezialisten für einzelne Arbeitsschritte. Die Gesamtherstellung eines Instruments wird vielfach nicht mehr von nur einem Instrumentenbauer vorgenommen. Zwar muss dies, wie Henkel betont, bei Firmen, die auf Qualität Wert legten, keineswegs die Klangqualität oder Haltbarkeit der Instrumente verschlechtern, die Arbeitsweise der Handwerker aber veränderte sich grundlegend. Trotzdem blieben ihre Schriften bis heute von musikwissenschaftlicher Seite wenig beachtet. Aus dem Bereich der Technikgeschichte wurden in den vergangenen Jahren wertvolle Arbeiten zur Verbindung von Musik und Technik geliefert.2 Die Untersuchung des Kreativitätsprozesses beim Erschaffen und Konstruieren eines Kunstwerks fokussiert doch auch hier zumeist den Bereich der Kompositionstechnik und beschäftigt sich somit mit Komponisten, nicht aber mit Instrumentenbauern. Mit dem Schwerpunkt auf der Zeit des frühen 20. Jahrhunderts geht es um Kompositionsverfahren. Als neue Instrumente sind die ersten elektronischen von Interesse, sie scheinen als Beispiele für den Themenkomplex Musik und Technik besonders naheliegend zu sein. Nicht zuletzt vermutlich, weil ihre Konstrukteure vom traditionellen Handwerker abwichen und mehr den Toningenieuren zuzurechnen sind. Auch Martha Brechs Studie zu Musik und Technik im 20. Jahrhundert widmet sich diesem Gebiet.3 Sie macht einen entscheidenden Wandel in der Beziehung dieser beiden Begriffe zueinander aus, in dem sie sich auf den Einsatz von Schallspeichermedien und die Veranstaltung von Telefonkonzerten Ende des 19. Jahrhunderts bezieht und sich 2 | Z. B. Braun: »Komposition und Konstruktion. Zum Verhältnis von musikalischer und technischer Kreativität in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts«. Hier finden sich Angaben zu weiterer Forschungsliteratur. 3 | Brech: »Können eiserne Brücken nicht schön sein?«.

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so Musik und Technik unter den Vorzeichen der Elektrifizierung widmet. Brech zufolge ist der Einfluss von Technik bei elektroakustischer Musik ein höherer als zuvor. Sie stellt eine zunehmende Enthierarchisierung der Bereiche Musik und Technik im vergangenen Jahrhundert mit Einsatz der elektroakustischen Musik fest. Dies soll für den hier vorliegenden Aufsatz als Aufgabe genommen werden soll, den Blick zu weiten über die Verbindung von Elektronik und Musik hinaus. Freilich ist mit dem Einsatz der ersten elektronischen Musikinstrumente um 1920 ein entscheidender Wandel anzusetzen – klanglich ebenso wie in der Art der Musikproduktion und Aufführung.4 Eine enge Zusammenarbeit mit Ingenieuren der Nachrichtentechnik und Elektrotechnik wurde zentral, was Technik per se enger mit einzubeziehen scheint. Die Arbeitsweise veränderte sich, das Bedienen von Geräten wirkte sich auf die Aktionen der Musiker wie auf die Wirkung ihrer Handlungen aus. Darüber hinaus oder vielmehr die Grenzziehung zwischen mechanisch und elektrisch erzeugter Musik hinterfragend soll aber an dieser Stelle einem anderen Desiderat nachgegangen werden: der Technik der Musikinstrumente im kultur- und musikwissenschaftlichen Kontext. Die Beziehung von Handwerk und Kunst ist hierbei eine maßgebliche. Bereits lange vor dem Eingang der Elektronik in die Musik spielt das Verhältnis von Technik und Kunst eine bedeutende Rolle, so hebt beispielsweise bereits Novalis den Handwerker in den Rang eines Kunsthandwerkers, der Wissenschaft, Technik und Kunst in seiner Arbeit verbindet. Der Blick wird im Folgenden zunächst zur Mechanik gehen, bevor ein abschließendes Beispiel zur elektronischen Musik führt. Diese Vorgehensweise soll der Grenzüberwindung bei der Betrachtung technischer Verfahren dienen und vielmehr nach Verbindungen suchen.

TECHNÉ UND M USIK – DREI V ISIONEN UND IHRE L EGITIMATIONSVERSUCHE Die Verbindung von Technik und Musik ist freilich eine sehr alte und vielfältige. Unter techné wurde in der griechischen Antike das Werkzeug und dessen Handhabung verstanden; technikà ҇rgana meinen zunächst künstlich hergestellte Werkzeuge, können aber auch Musikinstrumente wie den Aulos und die Kithara bezeichnen. Musik wurde mithilfe von Instrumenten, die in diesem Fall die Funktion von Werkzeugen einnahmen, erklärbar, darstellbar und berechenbar, so dass die Verbindung von Technik, Musik und Wissen als eine sehr enge zu bezeichnen ist. Nun ist das Wissen aber nicht nur ein Ergebnis der beiden erstgenannten Bereiche, sondern leitet selbst die Vorgehensweise bei der Herstellung eines Werks. Techniken und Verfahrensweisen sind erlernbar und formal zu fassen. Einer rein technischen Erfassung entzieht sich oftmals der Sinn 4 | Siehe hierzu grundlegend Donhauser: Elektrische Klangmaschinen; Ruschkowski: Elektronische Klänge und musikalische Entdeckungen.

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oder Gehalt einer Sache. Kunst und Technik dagegen scheinen in der griechischen Antike sehr nah zusammen gedacht worden zu sein. Verweist die techné etymologisch zunächst auf das Zimmern, wird damit sehr bald auch der Bereich der Kunst und der Dichtung verbunden; zudem wird die techné eine Beigabe zum Betrug. Diese Verbindung zur Schwarzkunst scheint durch die Geschichte hindurch immer wieder auf. Technische Neuerungen können einen Fortschrittsglauben befördern ebenso wie den Verdacht der Scharlatanerie erwecken, was auch mit der Art der Präsentation zusammenhängen mag. Wo ein Neues erschaffen wird, kann von künstlerischer Technik die Rede sein, ein Künstler und Erfinder ist im Spiel, ansonsten erfolgt auch hier bald die Trennung zwischen techné als Nachahmung der Natur und ihrem Vorbild, der Natur und Physis selbst. Das künstlerische (Hand-)Arbeiten, wo es mit Rohstoffen zu tun hat, bleibt auf der Ebene der Elemente, die zur Herstellung eines Werks nötig sind. Eine Hierarchie entwickelt sich, die die Sicht auf das Handwerk, dessen Status und Ansehen in der Öffentlichkeit prägt, aber auch mit der Entwicklung von Wissenschaft und Kunst zusammenhängt.5 Die im Titel angesprochene Spieltechnik bezieht sich auf das Spiel mit der Technik zur Herstellung und Verbesserung von Musikinstrumenten und auf ihre Anwendung. Ein Changieren zwischen mehr oder weniger zweckfreiem Musizieren und ökonomischen Aspekten der Verbesserung und Vermarktung von Musikinstrumenten als Spielwerken ist hier zentral.6 Technik und das dafür nötige Wissen sind in der Kunsterzeugung selbst zu finden, beide werden durch das Hören von Musik vermittelt und verbreitet, doch nicht nur das: Nötig für diese Darstellung und zuvor für die Errechnung der Grundlagen ist das Instrument. Die Wissenschaft um dessen Herstellung und Entwicklung, dessen Funktion eines Werkzeugs und eines Kunstwerks, auf dessen Oberflächengestaltung vielfach große Mühe verwandt wurde, schließt freilich als zentrale Person den (Kunst-) Handwerker mit ein. Vor diesem Hintergrund sollen drei Beispiele untersucht werden, die auf je eigene Art und Weise Technik und Musik verbanden und dadurch neue Sichtweisen eröffnen. Zu hoffen ist hierbei auf eine engere Verbindung von traditionellem Konzertwesen mit Musikveranstaltungen experimenteller Prägung, wie sie seit dem 20. Jahrhundert vermehrt bekannt sind. Der Zeitraum erstreckt sich vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Dabei stellt sich die Frage, inwiefern die Präsentationskontexte zwischen musikalisch-wissenschaftlichem Anliegen, sinnlich umfassender Veranstaltung und Legitimationsbestrebung oszillieren. Auffällig ist immer wieder der Wunsch nach Seriosität, nach Anerkennung durch ein gebildetes oder spezialisiertes Publikum, der vielfach auch aus überlieferten Schriften abzulesen ist.

5 | Siehe zu diesem Absatz ausführlich Kittler: »Art. Künstlerische Techniken«. 6 | Vgl. Schramm: Art. »Spiel«.

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Sind hierin Argumentationen zu finden, die die Erfindungen vor dem Verdacht der bloßen Spielerei schützen sollen?

M USIKER ALS M ECHANIKER UND E RFINDER Das erste Beispiel spezifiziert Technik im Kontext der Mechanik und führt an den Beginn des 19. Jahrhunderts. Die Wandlung des Organon-Begriffs hat sich längst vollzogen, von Werkzeug über Instrument im Allgemeinen hin zur Bedeutung des Orgelwerks und von da mithilfe frühneuzeitlicher Musiktraktate wie beispielsweise Michael Praetorius De Organographia aus dem Jahr 1619 zum Überbegriff für alle Musikinstrumente.7 Die Berufsbezeichnung mancher Instrumentenbauer war die eines Mechanikers. Vor dem Hintergrund des zum Teil negativ behafteten Begriffs des Mechanischen, das vielfach in Opposition zum Organischen formuliert wurde, mag dies zunächst erstaunen. Galt doch das Mechanische als leblos, kalt und maschinenhaft, die Musik hingegen wurde gerade dann umjubelt, wenn sie Lebendiges dynamisch breit angelegt und affizierend darzustellen vermochte.8 In der Arbeit Johann Nepomuk Mälzels (1772–1838) treffen sich die vermeintlichen Pole. Mälzel war Pianist, Orgelbauer und Automatenbauer, was Anfang des 19. Jahrhunderts unter die Bezeichnung Mechaniker fiel. Mälzel gilt uns heute als eine schillernde Figur der Musikgeschichte. Auf verschiedenen Bühnen erreichte er große Bekanntheit, allerdings geriet er immer wieder unter den Verdacht, sich mit dem Ruhm anderer zu schmücken. So präsentierte er lange Jahre den berühmten Schachtürken Wolfgang von Kempelens, eine Automatenfigur, die hinter einem Tisch sitzend dieses Spiel der Ratio und Kombinatorik zu beherrschen vorgab – und dies in exotisch anmutendem Gewand. Unter der Bezeichnung Mälzels Metronom wurde die Erfindung eines anderen, Dietrich Nikolaus Winkel, mit wenigen Verbesserungen versehen und in hohen Produktionszahlen europa- und amerikaweit zur Norm der Musik-Chronometrie.9 Ungeachtet dieser Erfolge, die Mälzel auf der Arbeit und dem Erfindungsreichtum anderer aufbaute, muss doch hervorgehoben werden, dass er es in besonderem Maße verstand, Neues zu verbreiten, bekannt zu machen, zu bewerben und wie das Metronom professionell in Fabriken herzustellen. Zudem machte Mälzel durchaus eigene Erfindungen. Diese deckten eine Bandbreite ab, der zum Teil auch Neuerfindungen im Musikinstru7 | Einen Überblick über diese Entwicklung bietet Restle: »Organologie. Die Kunde von den Musikinstrumenten im 17. Jahrhundert«; siehe auch Haas: Art. »Organum«. 8 | Vgl. Seidel: »Mechanische und organische Musik und Musikanschauung«; ders. »Olympia. Über die Magie der Herzlosigkeit«. 9 | Vgl. Leonhardt: Der Taktmesser. Johann Nepomuk Mälzel – Ein lückenhafter Lebenslauf; Wolf: »Musik und Mechanik bei Johann Nepomuk Mälzel«.

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mentenbau zuzurechnen sind: Er stellte Hörrohre, Prothesen und eine Gasmaske her; außerdem ist die Skizze einer Figur mit Sprechmechanismus erhalten. Musik erzeugten sein Diorama Der Brand von Moskau, ein Trompeterautomat in Androidenform und mehrere Orchestrien. Letztere sollen im Folgenden näher in den Blick genommen werden, da an ihnen Neuerungen erprobt wurden, die dem Instrument Unikatcharakter verliehen und wichtige Anregungen für Instrumentenbauer der Zeit gaben. Mälzel baute im frühen 19. Jahrhunderts mehrere Orchestrien. Wie ihr Name bereits andeutet, verbanden diese unterschiedliche Instrumente in einem großen schrankförmigen Holzkorpus zu einem Orchester. Mälzel gab ihnen den Namen Panharmonikon. Zeitschriftenberichte über Vorführungen in Wien und Paris häuften sich, in denen die gespielten Musikstücke, die darin kombinierten Instrumente, die Funktionsweise sowie der Eintritts- und Verkaufspreis genannt wurden.10 Das Panharmonikon gehört zu den selbstspielenden Musikinstrumenten, als deren Programmträger eine bestiftete Walze, meist aus Holz gefertigt, dient. Der Antrieb erfolgt bei solch großen Instrumenten über Gewichte, die die Mechanik in Bewegung setzen. Verschiedenes Schlagwerk und eine Bandbreite an Blasinstrumenten bildeten das instrumentale Repertoire. Heute ist kein erhaltenes Instrument Mälzels bekannt und so ist der Fokus auf die überlieferten Quellen zu richten, die Auskunft über deren Präsentationen geben. Im Frühjahr 1807 hielt sich Mälzel mit einem Panharmonikon in Paris auf und gab Anlass zu mehreren Berichten, denen zufolge die Präsentationen der »arts mécaniques«11 ein großer Erfolg waren. Das Journal des Luxus und der Moden widmet dem Panharmonikon in Paris einen ausführlichen Artikel. Der Bericht beginnt mit einer Beschreibung des Publikums, mit der Hervorhebung des Besuchs der Kaiserin bei einer Vorstellung Mälzels, so als würde dies zugleich den Wert des Instruments und den hohen Eintrittspreis zur Veranstaltung einordnen helfen. Erst danach bekommen wir das Instrument selbst geschildert: Dieses Instrument gleicht einer Orgel, in der nichts als Blasinstrumente enthalten sind; als: Klarinetten, Hautbois, Trompeten u. s. w. Auch Pauken, eine Trommel und ein Triangel sind darinnen angebracht. Was man vorher nie geglaubt hätte, hat Herr Mälzel möglich gemacht, nämlich, seinen Instrumenten den nämlichen Ansatz zu geben, den ihnen nur eine lebende Lippe geben kann, und wir fordern jeden Tonkünstler auf, seiner Trompete einen besseren Stoß zu geben, als man ihn in diesem kunstreichen Instrumente mit Entzücken wahrnimmt. Dies war also ein Problem, das nun völlig aufgelöst worden ist.12

10 | Vgl. Journal des Luxus und der Moden 22; Schmitz: »Johann Nepomuk Mälzel und das Panharmonicon«; Sterl: »Johann Nepomuk Mälzel und seine Erfindungen«. 11 | Journal de l’Empire, S. 1. 12 | Journal des Luxus und der Moden 22, S. 447 f.

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Obwohl mit einer Orgel verglichen, spielten die Panharmonikon-Instrumente keine typische Orgelmusik, sondern boten ein breites Repertoire an Auszügen aktueller Opernmusik und Symphonien. Mozart, Haydn und Cherubini sind hier die bekannten Namen, die 1807 aufgeführt wurden. Hinzu kamen Walzer, Märsche und weitere Militärmusik sowie eigens von Mälzel komponierte Fanfaren. Besonders begeisterte die dynamische Spielweise, die das Instrument bot, alle »Nüanzen des Piano und Forte«13 seien ausgelotet worden. Diese dynamische Lebendigkeit war es, die der Musik von Automaten und Spieluhren im 18. Jahrhundert gefehlt hatte, so dass der selbstspielenden Musik ein allzu mechanischer Charakter vorgeworfen wurde. Wo aber Musik mit möglichst übergangslosen dynamischen Schattierungen erklang, wurde sie hochgelobt. Dies mag damit zusammenhängen, dass bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine verbreitete Beschäftigung mit der Wirkung von Musik stattfand. Denkmodelle der Resonanz und Sympathie sowie die Übertragung des Gefühls waren zentral,14 so dass immer häufiger ein ausdrucksvolles Spiel die Assoziation mit beseeltem Klang oder gar Atem des Instruments auslöste. Die neuen Wege der Musiktheorie, die um 1800 gesucht werden, orientieren sich am Organischen. Um die Wirkung eines Tonwerks einzuordnen, stellt sich zu dieser Zeit die Frage nach ihrem Erzeuger sowie dem Subjekt und Körper des Wahrnehmenden, nicht aber primär nach den Intervallverhältnissen oder dem Tonsystem. Musik ist Ausdruck eines fühlenden Individuums. Vor diesem Hintergrund wurde auch die Musik von Automaten, sobald dynamisch gespielt, als erstaunlich lebendig wahrgenommen. Teils wurde ihnen ein Eigenleben zugesprochen. Auch Mälzels Kollegen, wie der Dresdner Friedrich Kaufmann, konstruierten in den folgenden Jahrzehnten immer ausgefeiltere klangliche Schattierungsmöglichkeiten.15 Vielfach fanden die mechanischen Details einen Interessentenkreis, der versuchte, diese auch wissenschaftlich zu erläutern. So beeindruckten besonders die Trompetenstimmen des Panharmonikons, da die Nachahmung des menschlichen Ansatzes eine große Herausforderung darstellte. Hierbei handelte es sich um Zungenpfeifen wie im Orgelbau. Nachdem die Zungen mittels Luftdruck aus Blasebälgen zum Klingen gebracht werden, wandeln die als Resonatoren aufgesetzten Trompeten den Zungenton in einen trompetenähnlichen Klang um. Beim Panharmonikon war pro Tonhöhe noch eine eigene Trompete nötig, die nur diesen einen Ton spielen konnte. Mälzels Trompeterautomat aber spielte, ebenso wie der seines Kollegen Kaufmann, auf einer Trompete mehrere Töne. Carl Maria von Weber fasst dies 1812 zusammen:

13 | Ebd., S. 449. 14 | Vgl. Welsh: Hirnhöhlenpoetik; dies.: »›Töne sind Tasten höherer Sayten in uns‹«. 15 | Vgl. Wolf: Friedrich Kaufmanns Trompeterautomat.

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R EBECCA W OLF Der Mechanicus, Hr. Mälzel in Wien, ist bekanntlich der erste Erfinder der Vorrichtung, die die natürliche Embouchure des Menschen an der Trompete nachahmt. Er bereicherte dadurch die Orgel und andre ähnliche Werke bedeutend, die sich bis dahin nur mit Pfeifenregistern, (Rohrwerken) die dem Trompetenton ähnelten – behelfen mussten. Späterhin vervollkommnete er seine Erfindung so weit, dass er durch diese künstliche Embouchure auch auf Einer Trompete, wie ein Bläser, mehrere Töne zu erzeugen wusste; da er früher zu jedem Ton eine Trompete nöthig hatte.16

Auf diese Konstruktionen wurde nun auch ein anderer aufmerksam, der selbst (Musik-)Instrumente erfunden hatte und damit vor wissenschaftlich interessiertem Publikum auftrat, Ernst Florens Friedrich Chladni (1756–1827). Mit Fokus auf die Trompetenandroiden schreibt Chladni 1817: Bekanntermaßen haben die geschickten Mechaniker, Mälzel in Wien, und hernach Kaufmann in Dresden, Automate verfertigt, wo die verschiedenen Töne einer Trompete, welche man durch Blasen mit dem Munde hervorbringen kann, durch eine daran angebrachte mechanische Vorrichtung hervorgebracht werden, welche eine Art von Nachahmung der menschlichen Stimmwerkzeuge ist. Beyde Maschinen leisten viel, und um zu entscheiden, welche besser sey, müßte man sie zusammen hören. Daß es ein Automat ist, welches die Gestalt eines Trompeters hat, ist etwas Unwesentliches, und kann nur das größere, aus Nichtkennern bestehende Publikum interessiren; aber das Wesentliche der Sache ist in physikalischer Hinsicht interessant. Es ist hierbey keine Täuschung, und Hr. Mälzel hat die Gefälligkeit gehabt, mir das Wesentliche der Einrichtung außer der Maschine zu zeigen, nebst einigen Experimenten über die willkührliche Hervorbringung der verschiedenen Töne einer Trompete, durch den in der Hand gehaltenen Mechanismus. Man könnte auch eben sowohl eine Claviatur daran anbringen.17

Interessant ist hierbei die Betonung des Seriösen. Chladni ist es besonders wichtig, eine Täuschung auszuschließen und so scheint es, dass sich der Nimbus des Betrugs, der – wie bereits angesprochen – der techné in der Antike anhaftete oder zumindest mit ihr in Verbindung stand, bis ins 19.  Jahrhundert gehalten zu haben scheint. In den Quellen dieser Zeit sind nun aber zwei unterschiedliche Arten von Täuschung auszumachen: eine, die es zu verhindern gilt, um die Ernsthaftigkeit neuer Erfindungen nicht zu gefährden, und eine zweite, die hochgelobt wird und sich auf eine besonders gut gelungene Nachahmung bezieht. Chladni ging es darum, die Innovation für den Kenner hervorzuheben. Das breite Publikum, das sich von äußerem Schein beeindrucken lasse, interessierte ihn nicht. Hierbei mag es sich aber auch um eine rhetorische Maßnahme gehandelt haben, schließlich rechnete Chladni in seinen eigenen Expe16 | Weber: »Der Trompeter, eine Maschine von der Erfindung des Mechanicus, Hrn. Friedrich Kaufmann, in Dresden«, Sp. 663. 17 | Chladni: Neue Beyträge zur Akustik.

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rimentalvorführungen sehr wohl mit einer Zuhörerschaft, die sich von visuellen Effekten beeindrucken ließ. Man könnte gar sagen, dass seine Präsentation der Klangfiguren geradezu auf das Potenzial der visuellen Überzeugungskraft aufbaute. Das Changieren dieser öffentlichen Wissenschaften zwischen Erläuterungen physikalischer Sachverhalte und anschaulicher Präsentation im Rahmen von Ausstellungen, Konzerten oder Vorträgen ist für die Jahrzehnte um 1800 bereits mehrfach diskutiert worden.18 Diesem Bereich sind beide, Chladni und Mälzel zuzuordnen. Neben populären Präsentationen beeinflusste Mälzel weitere Gebiete des Instrumentenbaus. So schrieb Friedrich Kaufmann über seine eigenen Versuche, mit Schwellern aus dem Orgelbau dynamische Schattierungen im Automatenspiel zu ermöglichen.19 Über Pfeifen mit durchschlagenden Zungen berichtete er: Mit Vergnügen bezeuge ich, dass mir Hr. Abt Vogler, als ich ihn in den Jahren 1806 und späterhin 1809 in Darmstadt sprach, die Geschichte der Entstehung dieser Rohrwerke genau so erzählte, als ich dieselbe hier finde. Von Hrn. Abt Vogler erhielt sie, nach dessen Erzählung, der verdienstvolle Mälzel in Wien, der sie vorzüglich zu seinem Panharmonikon anwendete, mit welchem er in den Jahren 1805 bis 1807 in Paris war. – Er hatte sie vornehmlich zu den Oboen und Klarinetten und zu den Clarinotönen der Trompeten angewendet, und war auch in Paris so wenig geheimnissvoll damit, dass er diesen Mechanismus jedem gebildeten Zuhörer seiner Soirées musicales mit Vergnügen zeigte, wo auch ich sie selbst gesehen habe. 20

Zunächst könnte man meinen, die neue Anwendung durchschlagender Zungen sei ein Nebenprodukt oder Spezifikum des Automatenbaus – eine mechanische Erweiterung, die für den Großteil des Publikums, das vom visuellen Eindruck der großen Instrumente vermutlich mehr beeindruckt war, ein eher unerhebliches Detail darstellte. Doch diese Neuerungen sind eng mit dem Orgelbau verbunden und fanden weite Verbreitung. Etliche Konstrukteure wagten sich an den Bau großer Orchestrien und versuchten die Innovationen Mälzels zu übertreffen. Dem vorangegangenen Zitat Kaufmanns zufolge war es Mälzel sogar daran gelegen, seine Kollegen zu inspirieren. Er zeigte seine mechanischen Erfindungen im Detail, konnte dabei freilich einem möglichen Vorwurf des Betrugs vorbeugen, aber auch Wertschätzung in seiner Disziplin ernten. Er verstand es, Erfindungen bekannt zu machen, zu präsentieren und mit denen anderer zu verknüpfen.

18 | Vgl. Hochadel: Öffentliche Wissenschaft; Jackson: Harmonious Triads; Stafford: Kunstvolle Wissenschaft. 19 | Wilke: »Ueber die Crescendo- und Diminuendo-Züge an Orgeln«; ders.: »Ueber die Erfindung der Rohrwerke mit durchschlagenden Zungen«. 20 | Wilke: »Ueber die Erfindung der Rohrwerke mit durchschlagenden Zungen«, Sp. 153.

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In Mälzels Person verbanden sich unterschiedliche Talente: das traditionelle Handwerk, der Orgelbau und die Mechanik, die in innovativer Verbindung mit der Musik standen. Hinzu kommt die Fabrikation nützlicher Instrumente. Zur Herstellung des Metronoms in großen Stückzahlen verwendete er Maschinen, für deren Ablauf und Effizienz neueste Druckmaschinen ein direktes Vorbild abgaben. Sein Bekanntheitsgrad wuchs überregional, nicht zuletzt, da auch in den entsprechenden Fachzeitschriften berichtet wurde.21 Mälzels breites Interesse umfasste Musik, Erfindergeist, Wissenschaft und populäre Präsentationsweise im Konzertsaal, als Ausstellung sowie auf öffentlichen Plätzen. Anhand dieses Beispiels lassen sich Aspekte des Zeitgeists ablesen, die Suche im frühen 19. Jahrhundert nach Lebendigkeit in der Kunst und auf der anderen Seite nach ökonomisch erfolgreichen Wegen, Märkte zu erschließen. Musik findet nur noch zum Teil im kleinen Rahmen statt, vielmehr wird sie öffentlich und reproduzierbar.

M USIKER ALS H ANDWERKER UND W ISSENSCHAF TLER »Ist die Lehre von dem Einfluss des Materials, aus dem ein Blasinstrument verfertigt ist, auf den Ton desselben eine Fabel?« Diese Frage stellt im Jahr 1879 der Musiktheoretiker Karl Emil von Schafhäutl (1803–1890) in der Allgemeinen Musikalischen Zeitung. Ausführlich berichtet er von Experimenten zum Nachweis der Bedeutung des Materials eines Instruments für den erzeugten Ton. Zunächst beginnt er mit den Tonhöhen: Holz-, Zinn-, Blei- und Zinkpfeifen des gleichen Korpusausmaßes ergeben je unterschiedliche Schwingungszahlen, heute würden wir von Frequenz sprechen. Einer anderen Kategorie, dem Klangcharakter, geht Schafhäutl mit weiteren Experimenten nach, wobei die Vibration des Materials eine wichtige Rolle spiele und den Klang geradezu fühlbar mache: Man kann sich durch die Hand sogar von der Qualität des Tones, den eine Pfeife giebt, überzeugen, die Holzpfeife vibrirte am wenigsten, ihr Ton ist deshalb stumpf; die Zinkpfeife vibrirt am heftigsten, ihr Ton ist deshalb der stärkste und glänzendste. Auch die Pfeife aus dem unelastischen Blei vibrirt beim Tönen sehr bedeutsam. Wir haben somit den unwidersprechlichen Beweis, dass das Material, aus welchem die Pfeife gebildet ist, sogar auf die Quantität des Tones bedeutenden Einfluss hat, was man bis jetzt gar nicht ahnte. Allein auch die Qualität des Tones ist je nach der Beschaffenheit des Materiales so verschieden, dass er auch einem nichtmusikalischen Ohre auffällt. 22

21 | Hiervon überzeugt ein Blick in die Übersichtsbände des Répertoire Internationale de la Presse Musicale. 22 | Schafhäutl: »Ist die Lehre von dem Einfluss des Materials, aus dem ein Blasinstrument verfertigt ist, auf den Ton desselben eine Fabel?«, Sp. 609.

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Dabei scheint Schafhäutls gründliche Bemühung, seine Thesen und Versuche im Weiteren wissenschaftlich abgesichert zu formulieren, einen triftigen Grund zu haben. Nicht zuletzt geht es hier um einen öffentlich ausformulierten Disput, der ein zentrales Anliegen der Akustik zum Thema hat. Ein Kompromiss schiene kaum möglich. Die Partei, gegen die sich Schafhäutl dezidiert stellte, vertrat die Meinung, dass der Ton nur durch die Schwingungen in einem Instrument als Behälter stattfände. Das Material des Instruments hätte dabei keinerlei Auswirkungen auf die Klangeigenschaften. Schafhäutl stellte seinem Bericht ein Zitat dieser Gegenpartei voran. Hier heißt es: Eine Fabel, die merkwürdigerweise noch immer discutirt wird, ist die von dem Einfluss des Materials, aus welchem ein Blasinstrument verfertigt ist, auf den Ton desselben. In Wahrheit schwingen aber nicht die Holz- und Messingwände einer Clarinette oder Trompete, sondern einzig und allein die darin eingeschlossene Luftsäule; und drei ganz gleich gebaute Flöten, von denen die eine aus Silber, die andere aus Krystallglas, die dritte aus Holz ist, geben genau denselben Ton, den gleichen Timbre. Das ist eine auf unumstösslichen akustischen Gesetzen beruhende, durch jeden Versuch zu erweisende Thatsache. 23

Das Äußere hätte demnach lediglich die Funktion, als Hülle die hörbare Schwingung zu ermöglichen und ihre Länge und somit die Tonhöhe zu bestimmen. Es stellte sich hierauf die Frage, woher dieses Bedürfnis stammt, die Erzeugung des Klangcharakters alleine der schwingenden Luftsäule zuzuschreiben. Vielleicht zeigt sich hier eine grundsätzliche Ablehnung des Materiellen in der immateriellen Kunst der Musik. Erweckt eine Kunstform, deren wichtiges Wesensmerkmal die Flüchtigkeit ist, die sich allenfalls mittels Übertragung in Notation visuell fassen lässt, das Bedürfnis, sich diese als flüchtig wie eine luftige Schallwelle vorzustellen? Freilich musste Schafhäutl hiergegen gründlich argumentieren, wollte er glaubhaft sein. Für seine Arbeiten im Bereich der Musik- und Klangforschung stand er in langjährigem Kontakt zu Theobald Böhm (1794–1881), der uns heute hauptsächlich durch die nach ihm benannte Querflöte bekannt ist. Böhm war als Flötist Mitglied der königlichen Hofkapelle in München sowie Komponist, Lehrer, Techniker und Instrumentenbauer.24 An seiner Arbeit lässt sich eine intensive Beschäftigung mit den Materialien verfolgen, da er neben der Erfindung neuer Korpusformen und Griffsysteme im Flötenbau auch mit Grundstoffen experimentierte und sich hierüber schriftlich äußerte. Schon als Jugendlicher arbeitete er in der Werkstatt seines Vaters und erlernte Techniken des Juwelierhandwerks. 1828 eröffnete er seine erste Flötenbauwerkstatt und machte bald 23 | Ebd., Sp. 593. 24 | Eine umfangreiche Sammlung seiner Flöten wurde vor Kurzem im Deutschen Museum eröffnet, begleitet von einer detailreichen Homepage; vgl. Sammlung Heinz Prager.

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die Bekanntschaft Schafhäutls, mit dem er zur Akustik und Metallurgie experimentierte. 1834 betonte Böhm in einem Flötenprospekt, dass seine Verbesserungsversuche der Flöte nach rein akustischen Gesichtspunkten vorgenommen worden seien, »die nebst der möglichst reinen Intonation, Gleichheit u. Fülle des Tones, auch in mechanischer Hinsicht dem Spieler die reine Ausführung jeder musikalischen Figur möglich« machten.25 Böhm erprobte eine neue Anordnung der Bohrlöcher nach MonochordBerechnungen, also den mathematischen Verhältnissen der Intervalle entsprechend. Ergebnis dieser Neuordnung war eine veränderte Handhabung des Instruments, bei der der Fingersatz sozusagen den akustischen Gegebenheiten untergeordnet wurde. Durch diese Orientierung an pythagoreischen Berechnungen wurde also, so könnte interpretiert werden, durch die praktische Ausübung Musiktheorie regelrecht eingeübt und auswendig gelernt. Böhms Ziel war es, eine Gleichheit der Töne unabhängig von der Dynamik zu ermöglichen, eine rein temperierte Stimmung über den gesamten Tonumfang hinweg und in allen Tonarten. Seinen ästhetischen Vorstellungen entsprach der Ton der Silberflöte in idealer Weise, sie erlaubte die größte musikalische Virtuosität. Böhm setzte es sich zur Aufgabe, wertbeständige Instrumente für hohe Qualitätsansprüche herzustellen, was ihm auch nachhaltig gelang. So treffen sich ökonomische wie ästhetische Aspekte in seiner Arbeit gleichermaßen. Durch die Entwicklung dieses Systems zum Standard, der bis heute gilt, zeigt sich auch die Relevanz der Experimente. Interessant ist, dass Böhm auch im Eisenhüttenwesen tätig war. Längere Aufenthalte in Großbritannien nutzte er zur Erprobung von Eisenschmelzverfahren, wofür er schließlich 1835 eine Auszeichnung der Londoner Society of Arts erhielt.26 Seine neuen Methoden auf diesem Gebiet führten nach seiner Rückkehr nach Deutschland zu Patenten und Lizenzverträgen sowie zur Arbeit in verschiedenen Eisenhütten und Veröffentlichungen in Kunst- und Gewerbeblättern.27 So darf vermutet werden, dass sich Böhms Kenntnisse in der Metallverarbeitung auch auf die Experimente im Flötenbau auswirkten. Hohe Ansprüche an die Qualität und ständige Verbesserung des Materials äußerte er in beiden Berufsfeldern. Böhms hohe Kunst des Handwerks als Kunst lässt sich in die veränderte Wahrnehmung des Handwerks einordnen, die im Laufe des 19. Jahrhunderts an Komplexität zunahm. So erschien 1830 in der Berliner Allgemeinen musikalischen Zeitung ein Artikel, der die vermeintlichen Pole Handwerk und Kunst differenziert betrachtete.28 Zunächst wird hier die Kunst der göttlichen Sphäre zugeordnet, das Handwerk dagegen dem 25 | Böhm: Fünf Schriften zum Flötenbau, S. 55. 26 | Vgl. Ventzke: Boehm-Instrumente, S. 19. 27 | Z. B. Böhm: »Ueber die Anwendung der aus der Gicht der Hochöfen entweichenden Gase zum Entkohlen und Frischen des Roheisens«. 28 | Kaestner: »Ueber das Handwerk in der Kunst«. Der Hinweis auf diesen Artikel findet sich in Jackson: Harmonious Triads.

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Irdischen, was direkt auf zwei Grundelemente des Menschen verweist: Geist und Irdisches. Kunst als eine Idee, die zwar dem Geist entspringt, müsse sich für eine greifbare Umsetzung zu irdischem Stoff in Harmonie setzen. Das »Gefühl unseres Geistes« und »die Form in der Aussenwelt« müssten zusammenfinden, »und dies Versuchen ist eben das Handwerk der Kunst«29 . Das Handwerk selbst sei aufzuspalten: das rein technische Handwerk in Kontrast zur Beschäftigung mit Musik, die dem geistigen Element zuzurechnen sei. Wobei der Bau von Musikinstrumenten als eine Zwischenstufe gelten kann, so könnte heute interpretiert werden. Der Tonkünstler bildet dann eine Ebene, die die Umsetzung der Ideen und den Ausdruck des Gefühls zum obersten Ziel hat. Über das dafür notwendige Experimentieren kommt eine Wechselwirkung zwischen Handwerk und Kunst, »zwischen den mechanischen Geschicklichkeiten des menschlichen Körpers und dem Geiste«30 zustande, so dass ein Bewusstsein und die notwendige Inspiration für die Möglichkeiten einer Umsetzung entstehen. Die Hierarchie und Trennung von Mechanik und Kunst wird über das Gelenk des Instrumentenbauers durchlässig. Auch in Novalis’ (1772–1801) Arbeitsverständnis, das einer Trennung von Arbeit und Spiel nach dem Kriterium der Nützlichkeit widerspricht, finden Handwerk und Kunst zusammen. Novalis geht von einem Spielbegriff aus, in dem sich Überraschung und Täuschung, ein Versetzen in romantische Fantasiewelten mit dem Rückbezug auf das dazu nötige technische Gerät treffen. Novalis richtet den Fokus auf die Person des Naturforschers. Erst sein wissenschaftlicher Blick, der dem eines Künstlers gleicht, lässt die Erscheinung der Naturphänomene hervortreten.31 Natur und Kunst werden in diesem Sinne verknüpft, der Handwerker, bei Aristoteles noch bloßer »bánausos«,32 wird in seiner Vielfalt des Berufes aufgewertet. Ähnlich wie in Novalis’ Beschreibung des Bergbaus im Heinrich von Ofterdingen das Werkzeug konkret wird und die Arbeit zur höchsten Kunst, könnte – wenige Jahrzehnte später – die Arbeit Böhms auf dem Gebiet der Eisenveredelung in enger Beziehung zu Musik und Instrumentenbau gesehen werden. So kann Böhm als ein Beispiel für die vielfältigen Entwicklungen des Berufsstands der Instrumentenbauer gelten, die teilweise weit über das handwerkliche Herstellen hinausgingen, als Musiker arbeiteten und industrielle Verfahren in ihre Arbeit einbezogen. Dieses Umfeld mag auch als ein Grund dafür gelten, dass sich die Innovationen etablierten und Einfluss auf das Musikleben, im Falle Böhms bis heute, nahmen.

29 | Kaestner: »Ueber das Handwerk in der Kunst«, S. 297. 30 | Ebd. 31 | Vgl. Daiber: Experimentalphysik des Geistes. 32 | Vgl. weiterführend Riethmüller: »Musik zwischen Hellenismus und Spätantike«, S. 223.

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M USIKER ALS K OMPONISTEN UND V ISIONÄRE Das dritte Beispiel führt in die Mitte des 20. Jahrhunderts zu Karlheinz Stockhausen (1928–2007). Die Konzeption und Aufführung seines Werks Hymnen lässt sich in vielerlei Hinsicht in das Thema Musik und Technik einfügen, und weist zugleich durch die Visionskraft des Kompositionskonzepts weit darüber hinaus. Mit der Arbeit am Stück begann Stockhausen 1966 im Tonstudio des WDR Köln.33 Als Ausgangsmaterial dienten ihm Nationalhymnen aus der ganzen Welt, die eine Beschäftigung mit Raumkonzeptionen nahelegten. Und so nutzte Stockhausen diese wohl bekannteste Musik, die auf den je abgesteckten geografischen Raum eines Landes verweist, und integrierte neue Musik in die bekannte. Als »Inter-Modulation« wollte Stockhausen seine Kompositionsweise verstanden wissen. Die symbolträchtigen und mit Geschichte aufgeladenen Nationalhymnen wurden hierfür in Ausschnitten verwendet, ebenso wie neue Klänge, bearbeitete Teile oder elektronisch erzeugte Hymnenausschnitte, »gefundene Objekte«, ähnlich der konkreten Musik, Sprachteile, Geräusche von Kurzwellenempfängern und Klänge aus dem öffentlichen Raum. Verschiedene Versionen entstanden, mit Instrumentalisten, aber auch ausschließlich als Tonbandübertragung.34 Ohne nun im Detail auf die Komposition einzugehen, sei auf ihre Aufführung 1970 zur Weltausstellung in Osaka hingewiesen. In besonderem Maße ergab sich die Gelegenheit zu einer Mixtur aus Technik und Raum-Musik-Konzept. Der Aufführungsraum war Bestandteil des Deutschen Pavillons, eine begehbare Kugel mit einem Durchmesser von 28 Metern. In der Mitte dieses Auditoriums – sozusagen auf Äquatorhöhe – saß das Publikum auf einer transparenten Plattform, visuell und akustisch mitten im Klang. Die Form der Kugel ist sowohl symbolträchtig als auch in akustikgeschichtlicher Hinsicht interessant. Bereits vor Stockhausen galt sie als idealer Raum für elektronische Musik. So verweist Fred K. Prieberg in Bezug auf die Kugel als architektonische Form für den Konzertsaal zunächst auf Athanasius Kirchers Schalllehre, bevor er sie als ›Urei‹ interpretiert, als Symbol, das den Menschen im Zentrum verdeutlicht. Die Kugelform sei fundamentlos, strebe in utopischer Weise in die Höhe und kapsele noch dazu ab. Prieberg sieht hier eine Verdeutlichung einer »Fremdheit auf unserer Erde«.35 Vor allem der Verweis auf Kircher ist sinnfällig, da auch Stockhausen zunächst grundlegende Berechnungen zur Schallausbreitung vornehmen musste. Um die Klänge technisch optimal dem Raum anzupassen, war im Falle von Stockhausens Hymnen eine ausgearbeitete Soundanlage notwendig. Stockhausens Anliegen war es nicht nur, die Kugel zum Klingen zu 33 | Vgl. z. B. Custodis: Die soziale Isolation der neuen Musik; Moormann: »Raum-Musik als Kontaktzone«. 34 | Stockhausen: Texte zur Musik 1963–1970. 35 | Prieberg: Musica ex machina, S. 169.

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bringen, sondern andere Klangformen frei im Raum beweglich zu gestalten. Rotationsmühlen beispielsweise ließen klangliche Kreisbewegungen entstehen. Die Hörer bildeten das Zentrum – ihr Erleben wurde wichtig, darauf war alles zugeschnitten – für die Form und die Geschwindigkeit der Klangbewegungen. Anders als bei Novalis, für den der Forscher zentral ist – erst sein Blick ermöglicht das Experiment und lässt das Phänomen erscheinen –, ist bei Stockhausen der Klang selbst der Akteur. Er spricht von einer Raum-Komposition und nennt in diesem Kontext, anknüpfend an die Idee des Kosmos, fliegende Klänge und eine »musikalische Raumfahrt«36. Das Kugelauditorium von Osaka fungierte als Hörsaal, der der Raum-Komposition angemessen ist. Stockhausen erhoffte sich ein gemeinschaftliches Hören. Als gesellschaftliches Ziel wurde hier nichts weniger angestrebt als die Integration aller Völker, Religionen und Nationen durch die musikalische Verwirklichung einer Utopie. Die Vision des Gesamtkunstwerks, die sich auch in der räumlichen Gestaltung widerspiegelt, erweiterte Stockhausen für eine spätere Aufführung von Hymnen durch die Hinzunahme von Pflanzen. In Paris kam im Dezember 1983 eine Retrospektive seiner Werke zu Aufführung. Hierfür schrieb er zuvor eine genaue Anweisung zur Gestaltung von Beleuchtung und Farbgebung: Zusätzlich zur Beleuchtung möchte ich bitten, im Auditorium an den Wänden entlang und vor allem um die Lautsprechertürme herum große Topf-Sträucher (Lorbeer, Gummibäume, Oleander etc.) aus den städtischen Gärtnereien kommen zu lassen (ca. 120). Vielleicht gelingt es, pro Tag zusätzlich einige Pflanzen mit der dominierenden Farbe des Tages aufzustellen (große Topfblumen). Nimm diese Bitte ernst: ich habe oft bei meinen Vorführungen elektronischer Musik erfahren, daß solche Bäume und Pflanzen und Blumen eine wunderbare Umgebung fürs Hören schaffen. In Metz, Bonn usw. habe ich hunderte Topfbäume von den städtischen Gärtnereien umsonst ausleihen lassen für Aufführungen von SIRIUS. Weise darauf hin, daß pro Tag durch Konzentration einer Blumengruppe ein dominierender DUFT komponiert werden soll. 37

Der Geruchssinn wird demnach miteinbezogen. Zudem scheint es, als wollte er der elektronischen Musik Organisches im herkömmlichen Sinne hinzufügen. Die Anfänge der elektronischen Musik benannte er mit seinen Kompositionen Elektronische Studien I und II aus den Jahren 1953/54, die gänzlich aus synthetischen Klängen (basierend auf Sinustönen) bestehen. Sie setzte er in direkten Bezug zur Naturwissenschaft, verglich sie mit zusammengesetzten Elementarteilchen und setzte sie in die Tradition Anton Weberns, in dessen Kompositionen ein Bewusstsein für Heisenbergs Quantenmechanik und Unschärferelation musikalisch 36 | Stockhausen: Texte zur Musik 1963–1970. 37 | Brief vom 4. November 1983. Stockhausen: Texte zur Musik 1977–1984.

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deutlich würde. Die Aktualität und der enge Bezug zur Wissenschaft der Zeit brachten Stockhausen zufolge diese Musik hervor, die Weberns ebenso wie seine eigene.38 Bei Stockhausen wird ein Bedürfnis offensichtlich, Wissenschaft, Technik und Natur auf eindringliche Weise zusammenzuführen und dadurch ein umfassendes Kunstwerk zu schaffen sowie dessen Relevanz schriftlich zu erläutern. Die sinnlich erfahrbare Musik wird also aufs Engste mit technischen Neuerungen verknüpft, wobei in der Wahrnehmung die Technik, so möchte man meinen, in den Hintergrund treten soll, wenn nicht gar deutlich durch Organisches überdeckt oder durch große Gesamtkonzepte als ein Teil des Ganzen kommuniziert wird.

R ESÜMEE Sich gezielt in Traditionen zu stellen oder gar selbst eine solche anzustoßen, indem Nachahmer und Verbreiter der Neuerungen gesucht werden, ist hier als eine Gemeinsamkeit der drei Beispiele zu erkennen. Hohe Qualitätsansprüche werden auf unterschiedliche Weise deutlich, Mälzels Präzision wurde für seine Automaten sehr gelobt und musste für das Metronom auch gewährleistet sein. Es hätte sich auch sonst nie in solchen Stückzahlen verkauft und im eigentlichen Sinne ist es ja das Instrument für musikalische Genauigkeit schlechthin. Böhms Versuche, die Bohrlöcher der Flöte den Intervallverhältnissen entsprechend anzuordnen, auch wenn er dabei darauf hoffen musste, dass Musiker sich auf eine neue Spielweise einlassen mussten, bergen ein hohes Risiko, das sich letztlich aber durchgesetzt hat, sogar über das Instrument hinaus, für das das Griffsystem ergründet wurde. Auch andere Blasinstrumente folgen heute dieser Anordnung. Ähnlich überzeugt blieb Böhm von der Qualität des recht teuren Grundmaterials Silber. Zwar war auf diese Weise kein massentaugliches Produkt hergestellt, das in hohen Stückzahlen verkauft worden wäre, doch sicherte er sich nach und nach Profimusiker als Kunden. Möglicherweise hatte er sie auch durch sein eigenes Spiel auf Konzertreisen überzeugt. Von ähnlicher Kompromisslosigkeit, wenn es um die Umsetzung eines Konzeptes oder die Einrichtung eines Aufführungsortes geht, zeugen die Texte Stockhausens. Hier ist, was die Lautsprecherpositionen, aber auch alle anderen Elemente zur Raumerzeugung angeht, genauen Angaben zu folgen, Ideen umfassender Dimensionen wären sonst auch nicht umsetzbar. Bei allen drei Beispielen wird der Anschluss an die Wissenschaft der Zeit deutlich: Mälzel steht in persönlichem Kontakt zu Chladni, dem er mechanisch-technische Details seiner Arbeit zeigt. Beiden ist schließlich eine öffentlichkeitswirksame Präsentation ihrer Erfindungen gemein, so dass sie voneinander nur profitieren konnten. In einer Zeit der Sprechmaschinen, Androiden, der Instrumente mit lang anhaltenden Tönen, 38 | Stockhausen: Texte zur Musik 1963–1970.

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die den dynamischen Möglichkeiten der menschlichen Stimme nahe kamen, war noch eine Vielfalt der Aufführungskontexte gegeben, die die Instrumente in wechselndes Licht stellten, einmal als akustisches Experiment und dann wieder als Faszinosum der neuen Klangeigenschaften. Böhms enge Zusammenarbeit mit Schafhäutl, die sich nicht zuletzt in zahlreichen Texten der beiden ausdrückte und nachwirkte, vermittelte anschaulich die Wege der akustischen Berechnungen und Verbesserungen. Hochgesteckte Ziele des Klangs sowie der Präzision wurden verfolgt und schließlich mit neuen Konstruktionen erreicht, die zudem den Anforderungen der neuen Konzertsituationen nach weitreichendem Klang und einem gleichmäßigen Spiel in allen Tonarten nachkamen. Stockhausens apparative Erzeugung der Sinustöne verweist mehr auf ein Labor denn auf eine Instrumentenbauerwerkstatt. Die Suche nach der Basis der Töne, die dann wiederum neu zusammengesetzt werden, wird von ihm in den Kontext naturwissenschaftlicher Arbeiten der Zeit gestellt – der Sinuston als kleinstes Element und Bauteil. So erhält auch die Musik einen wichtigen Stellenwert im gesellschaftlichen Wandel und macht Stockhausens Erweiterung des Konzertraums zur kosmischen Vision etwas verständlicher vor dem Hintergrund der ersten bemannten Mondlandung. Technisch-wissenschaftliche Herausforderungen können somit als ein wichtiger Impuls für die Suche nach neuen Klangeigenschaften und musikalischen Erfindungen gelten; die Offenheit der Instrumentenbauer und Klangfinder, auch was ihren eigenen Status zwischen Kunst und Handwerk angeht, ist dafür aber eine Grundvoraussetzung. Die Beispiele beeinflussten das Konzertwesen ihrer Zeit in je weitgreifendem Maße, und mögen so vor dem Hintergrund auditiver Medienkulturen als zentrale Versuche gelten, Klangmöglichkeiten wie Musizierweisen zu erweitern.

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Von der anthropologischen zur medialen Stimme * Cornelia Epping-Jäger

1. V ORBEMERKUNG Der Beitrag nimmt ein von dem Psychologen und Kommunikationstheoretiker Karl Bühler initiiertes Forschungsprogramm in den Blick, mit dem Bühler und seine MitarbeiterInnen (unter ihnen die später in den USA als Mediaforscher berühmt gewordenen Herta Herzog und Paul Lazarsfeld) am Psychologischen Institut der Universität Wien im Jahre 1931 die Frage prüften, ob sich anhand des »Klanggesichts« einer über Radio ausgestrahlten Stimme, auf Persönlichkeitsmerkmale der Sprecher schließen lasse. Diese Untersuchung, die im folgenden »RAVAG-Experiment« (RAVAG = Österreichische Radio-Verkehrs-Gesellschaft) genannt wird, ging der in der Forschung häufig diskutierten »RAVAG-Studie« des Jahres 1932 voraus, die mit ihrer Erhebung von Hörererwartungen einen ersten Beitrag zur Radiowirkungsforschung darstellt. Das hier im Fokus stehende frühere »RAVAG-Experiment« dagegen, das in der Form von mehreren, aufeinander bezogenen Dissertationen realisiert wurde, kann mit seiner Untersuchung des Verhältnisses von anthropologischer und medialer Stimme als ein wichtiger Beitrag zu Grundfragen der auditiven Medienkultur betrachtet werden. Der Mensch von heute [so formuliert Bühler] sieht sich umgeben von technischen Einrichtungen, die ihn wie der stumme Film vor die Aufgabe stellen, sichtbaren Ausdruck isoliert vom hörbaren oder wie das Radio und Telefon vor die andere

* | Dieser Beitrag stellt eine überarbeitete, thematisch veränderte und angepasste Fassung des Textes »Kontaktaktion. Die frühe Wiener Ausdrucksforschung und die Entdeckung des Rundfunk-Publikums« dar, der mit Unterstützung der DFG verfasst und in: Schneider, Irmela/Otto, Isabell: Formationen der Mediennutzung II. Strategien der Verdatung, Bielefeld 2007, S. 55-71 veröffentlicht wurde.

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C ORNELIA E PPING -J ÄGER Aufgabe, hörbaren Ausdruck isoliert vom sichtbaren aufzunehmen: daraus entspringen der Forschung Impulse.1

Es war also gerade die in den frühen 1930er Jahren neue Medientechnik, die die Ausdrucksforschung dazu in Stand setzte, vokal-akustische Ausdrucksbewegungen, d. h. den Klang der menschlichen Stimme, aus dem Kontext anthropologischer Untersuchungsansätze zu lösen und hinsichtlich ihrer dispositiven, d. h. kommunikativen und technisch-medialen Prozessierungsbedingungen zu analysieren. So ist es nicht erstaunlich, dass das Stimme-Experiment den Klang der Stimme nicht mehr prioritär als Indiz der seelischen Verfasstheit des Adressanten fokussierte, sondern ihn vielmehr in Hinblick auf seine kommunikativen Adressierungsfunktionen analysierte. So sehr das »Klanggesicht« der Stimme auch zunächst rückzuverweisen schien auf die seelische Verfasstheit des Sprechenden, wird im Bühlerschen Stimmexperiment doch deutlich, dass es wesentlich durch sozial kommunikative Bedingungen bestimmt wird. Versucht man bereits hier ein kurzes Resümee, dann ist es darin zu sehen, dass der an der Wiener Universität lehrende Sprachpsychologe Karl Bühler, die ebenfalls dort als Entwicklungspsychologin arbeitende Charlotte Bühler sowie eine später als Medienwirkungsforscher zu Ruhm kommende Gruppe junger experimentell arbeitender Psychologen zum ersten Mal einen erlebnispsychologisch begründeten Ausdrucksbegriff durch einen Ausdrucksbegriff substituierten, der sich an einem mediatisierten Kommunikationsraum, und d. h. an einem Klangdispositiv, orientierte. Das zentrale Interesse, das in dieser Studie verfolgt wird, besteht also darin aufzuzeigen, wie die Psychologie des frühen 20 Jahrhunderts Klang und Stimme – das von Bühler so genannte »Klanggesicht« der Person – als mediales Phänomen entdecken. In neuen experimentellen Designs wird neben der anthropologischen Bedeutung des Stimmklangs sein kommunikativer und medialer Stellenwert herausgearbeitet. Dabei betrachten die fragebogen-gestützten Untersuchungen die Stimme nicht mehr vornehmlich als Indikator des Inner-Psychischen, sondern in ihrer Adressierungsfunktion im sozialen Raum. Zugleich wird deutlich gemacht, wie diese Entdeckung des medialen Klangs verstanden werden kann aus dem Entstehungshorizont neuer Medien wie dem des Rundfunks und des Tonfilms.

1 | Bühler: Ausdruckstheorie, S. 1.

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2. K ARL B ÜHLER UND DIE R E VISION DER A USDRUCKSTHEORIE »Das Ohr allein vermittelt uns dann und wann einen bestimmten und zwingenden Eindruck der Persönlichkeit«2 , formulierte Karl Bühler am 19. Mai 1931 in einem Vortrag, der von der RAVAG aus Anlass der Eröffnung des ›Rundfunkexperiments‹ ausgestrahlt wurde. Auffällig für die Exposition des Experimentes ist, dass Bühler hier in demselben Maße an das traditionelle Paradigma der anthropologischen Ausdrucksforschung anschließt wie er zugleich dessen Aussagekraft relativiert. In der Tat nimmt der Aufbau der Untersuchung Kernannahmen der traditionellen physiognomischen Ausdruckstheorie auf, um sie einer experimentellen Prüfung zu unterziehen. Die Ausgangsfrage der Untersuchung, inwiefern »die Stimme eines Sprechers für den Hörer Ausdruck seiner Persönlichkeit«3 sei, schließt an die zentrale Annahme der klassischen Ausdruckstheorie an, wie sie etwa Hegel in der Anthropologie resümierte: Die menschliche Stimme […] ist die Hauptweise wie der Mensch sein Inneres kundtut; was er ist, das legt er in seine Stimme. In dem Wohlklange derselben glauben wir daher die Schönheit der Seele des Sprechenden, in der Rauhigkeit seiner Stimme ein rohes Gefühl mit Sicherheit zu erkennen. […] [B]esonders aufmerksam auf das Symbolische der menschlichen Stimme sind die Blinden. Es wird sogar versichert, daß dieselben die körperliche Schönheit des Menschen an dem Wohlklange seiner Stimme erkennen wollen – daß sie selbst die Pockennarbigkeit an einem leichten Sprechen durch die Nase zu hören vermeinen. 4

Es ist diese, seit der Antike konstante und besonders in der Tradition der Physiognomie immer wieder artikulierte Überzeugung, dass an Ausdrucksformen wie ›der Stimme‹ und ›dem Gesicht‹ mit Sicherheit innere Affekte, Gefühle und geistige Zustände zu erkennen seien,5 die die Bühlersche Forschungsgruppe mit Hilfe des ›Rundfunkexperiments‹ zu überprüfen beabsichtigte. Gerade der Einsatz des Massenmediums Rundfunk erlaubte eine Aufhebung der methodischen Beschränkungen des (individual-) psychologischen Labors, da sich hier die Möglichkeit bot, den Ausdruckswert von Stimmen experimentell durch ihre Wirkung auf ein Massenpublikum zu untersuchen. 2 | Bühler: »Was erraten wir aus der menschlichen Stimme?«, S. 11. 3 | Herzog: »Stimme und Persönlichkeit (mit 10 Abbildungen im Text)«, S. 300. 4 | Hegel: Die Philosophie des Geistes, S. 108. 5 | Vgl. zu diesem Zusammenhang etwa: Lichtenberg: »Über Physiognomik; wider die Physiognomen«; Lavater: Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe; Geitner: »Klartext«; Gilman: »Charles Darwin und die Wissenschaft von der Visualisierung der Geisteskranken«; Meyer-Kalkus: Stimme und Sprechkünste im 20. Jahrhundert; Adam: »Symbol oder Symptom?«.

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Die medientechnisch möglich gewordene Einbeziehung einer großen Anzahl von Ausdruckrezipienten ermöglichte so nicht nur eine Erhöhung des Allgemeinheitsgrads empirischer Befunde, sie erfüllte auch eine wesentliche Bedingung, die sich aus Bühlers ausdrucks- und kommunikationstheoretischen Grundüberzeugungen ergab: Für ihn ließen sich Ausdrucksphänomene prinzipiell nicht im Horizont des so genannten »psychophysischen Parallelaxioms« Wundtscher Provenienz,6 sondern allein in einem Theorierahmen untersuchen, der das Moment der interaktiven Wirkung auf Rezipienten einbezieht. Dezidiert wies er die Ausdruckslehre Wundts mit dem Argument zurück, Ausdruck sei nicht »die ›Spiegelung‹ oder Selbstdarstellung der Erlebnisse im (bewegten) Körper des Erlebenden«.7 An Wundts Annahme, dass Ausdrucksbewegungen ›Vorgänge des Bewusstseins nach außen kundgeben‹, richtet er die Frage: »wem kundgeben?«, um gleich darauf selbst die Antwort zu geben: »[…] allen Artgenossen, die darauf vorbereitet und dafür gerüstet sind, von den Kundgaben Notiz zu nehmen«.8 Er leitet hieraus gegen den »einseitige[n] Kundgabetheoretiker«9 Wundt die allgemeine Maxime ab: Zu einer Kundgabe im spezifischen und einzig brauchbaren Sinn des Wortes wird irgendeine Körperbewegung erst in Relation zu einem wirklich vorhandenen oder mindestens fingierten Kundnehmer; Kundgabe und Kundnahme sind nur als korrelative Begriffe definierbar.10

Bezogen auf eine mögliche Theorie des Klangs ließe sich hier vielleicht vorläufig feststellen, dass auch Klang notwendig in medialen Räumen der »Kundnahme« situiert sein muss. Bühler stellt deshalb fest: Die Resonanz des Empfängers auf den Sender ist bei dieser Art von Ausdrucksforschung das Faktum, welches der Beobachtung direkt zugänglich ist, welches wissenschaftlich am Ausgang steht. Es soll sich niemand wundern, dass man von da aus im Fortgang des Denkens nicht exakt auf denselben Ausdrucksbegriff gelangt wie von der Erlebnisanalyse her.11

6 | Bühler: Die Krise der Psychologie, S. 32. Das Wundtsche Axiom geht davon aus, dass sich »feste Verbände zwischen bestimmten Vorstellungen und Ausdrucksbewegungen her[stellen]. Die Vorstellung ruft nun die zu ihr gehörige Bewegung und hinwiederum diese die erstere wach.«; Wundt: Grundzüge der physiologischen Psychologie, S. 542. 7 | Bühler: Ausdruckstheorie, S. 195. 8 | Bühler: Die Krise der Psychologie, S. 32 f. 9 | Ebd., S. 61. 10 | Ebd., S. 33. 11 | Bühler: Ausdruckstheorie, S. 198 f.

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Bühlers Zurückweisung eines »erlebnispsychologischen Ausdrucks-begriffs«12 , die das theoretische und methodische Design seiner Rundfunkund Stimmexperimente bestimmte, lässt sich in der Tat als Konsequenz der Überzeugung verstehen, dass sich der Ausdruck von Emotionen und psychischen Zuständen nicht zureichend ›vom Standpunkt des einzelnen Organismus her‹ in den Blick nehmen lässt. »Ausdruckszeichen« erschließen sich hermeneutisch nicht in erster Linie durch die Parallelisierung mit zugrunde liegenden psychischen Ereignissen, durch die sie ausgelöst werden. Vielmehr müssen sie »in Relation zu oft verwickelten Situationsumständen gesehen und gedeutet werden«13 , in Relation also zu dem, was G.H. Mead das reale ›Feld sozialer Interaktion‹ genannt hatte. »Ausdruckserscheinungen« sind deshalb nicht primär Korrelate psychischer Zustände, sondern vielmehr – wie Bühler formulierte – »Handlungsinitien«14 , d. h. Äußerungsformen, die ihren Sinn nur aus dem Horizont interaktiver Handlungen in situationalen Umgebungen beziehen. Dies gilt ohne Zweifel auch für viele Klangphänomene. Der Begriff des Ausdrucks erfährt damit eine »Inhaltsverschiebung«15 , die ihn aus dem Kontext des anthropologischen Paradigmas der Ausdruckstheorie und der Individualpsychologie umsituiert in einen handlungs- und kommunikationstheoretischen Rahmen. Verantwortlich für diese Neubegründung der Ausdruckstheorie ist ohne Zweifel der Kontext der beinahe gleichzeitig entstehenden Bühlerschen Sprachtheorie16, die in einem weiteren Sinne auch den Rahmen für das theoretische und methodische Design der Stimmexperimente darstellt.17 Die Konzeptualisierung des Ausdrucks als handlungsauslösendes Wirkungsphänomen (»Handlungsinitien«), also die Einbettung des Ausdruckszeichens in ein Feld »sozialer Wirksamkeit«18, kann nun in der Terminologie der Sprachtheorie verstanden werden als die enge Bezogenheit der »Ausdrucksfunktion« auf die »Appellfunktion«: »Der Kontaktpartner B spricht an auf etwas, was im Partner A geschieht«.19 Die bereits in der Ausdruckstheorie verwendeten Begriffe ›Ausdruck‹ und ›Appell‹ verweisen auf das von Bühler entwickelte »Organonmodell« der Sprache, das das stimmliche »konkrete Schallphänomen« an drei »variable Momente« bindet, die »berufen [sind], es dreimal verschieden zum Rang eines Zeichens zu erheben«. 12 | Ebd., S. 198. 13 | Ebd., S. 194. 14 | Ebd., S. 196. 15 | Ebd., S. 198. 16 | Bühler: Sprachtheorie. 17 | »Die ganzen Arbeiten stehen unter der Leitung von Herrn Professor Karl Bühler und fügen sich in den Rahmen seiner Sprachtheorie.«; Herzog: »Stimme und Persönlichkeit«, S. 301. 18 | Bühler: Ausdruckstheorie, S. 198. 19 | Ebd.

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C ORNELIA E PPING -J ÄGER Es ist Symbol kraft seiner Zuordnung zu Gegenständen und Sachverhalten, Symptom (Anzeichen, indicium) kraft seiner Abhängigkeit vom Sender, dessen Innerlichkeit es ausdrückt, und Signal kraft seines Appells an den Hörer, dessen äußeres oder inneres Verhalten es steuert wie andere Verkehrszeichen. 20

Vermutlich könnte Bühlers Organonmodell auch als heuristisches Begriffsschema für die theoretische Situierung von Klangphänomenen genutzt werden, sofern sie im weitesten Sinne in einer sozialen interaktiven Szene operieren (Gesang etc.). Das Organonmodell differenziert also den Zeichenprozess in drei konstitutive Momente aus: Es weist dem Symbol die Darstellungsfunktion, dem Symptom die Ausdrucksfunktion und dem Signal die Appellfunktion zu und erlaubt so, das Ausdrucksmoment in einen größeren kommunikativen Rahmen einzubetten. Ausdruck kann also nur insoweit Ausdruck von ›Innerlichkeit‹ sein, als diese ›Innerlichkeit‹ sich im Kontext sozialer Regulation, d. h. vor dem Hintergrund der »psychischen Resonanz auf den Ausdruck«21 im sozialen Raum konstituiert. Der zentrale Begriff, auf den hin Bühler das Konzept des Ausdrucks neu entwirft, ist der Begriff der »Steuerung«22 , der eng an den Terminus Signal geknüpft ist: »Ich spreche von Signalen […] und erfasse ihre kommunikative Valenz am Verhalten derer, die sie aufnehmen und psychophysisch verarbeiten.«23 Dass Bühler also »Ausdruckszeichen« zugleich als »Handlungsinitien« versteht oder – so die Sprachtheorie – die Ausdrucksfunktion des »Symptoms« eng an die Appellfunktion des »Signals« bindet, heißt, dass Ausdruck als »kontaktstrebige[r] Ausdruck«24 nicht sinnvoll unabhängig von den Prozessen der sprachlichen Steuerung gedacht werden kann. Auch die Ausdrucksvalenzen der Stimme können nur im Horizont des »sinnvollen Benehmen[s] der Gemeinschaftsglieder« verstanden werden; und dieses wird nur möglich dadurch, dass sich die sozialen Individuen aufgrund ihrer gemeinsamen »ideellen Bindung« an »Gemeinschaftsziele und -aufgaben« gegenseitig steuern.25

20 | Bühler: Sprachtheorie, S. 28. 21 | Bühler: »Der dritte Hauptsatz der Sprachtheorie«, S. 203. 22 | Vgl. zum Begriff der ›Steuerung‹: Bühler: Die Krise der Psychologie, S. 39 ff. 23 | Bühler: Sprachtheorie, S. 31. 24 | Bühler: Die Krise der Psychologie, S. 40. 25 | Vgl. ebd., S. 39. »Wo immer ein echtes Gemeinschaftsleben besteht, muß es eine gegenseitige Steuerung des sinnvollen Benehmens der Gemeinschaftsmitglieder geben. Wo die Richtpunkte der Steuerung nicht in der gemeinsamen Wahrnehmungssituation gegeben sind, müssen sie durch einen Kontakt höherer Ordnung, durch spezifisch semantische Einrichtungen vermittelt werden.«; ebd. S. 50.

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3. D AS RAVAG-S TIMM -E XPERIMENT UND DIE ME THODISCHE E INBEZIEHUNG DES M ASSENPUBLIKUMS Bevor ich den Aufbau des Radio-Experimentes kurz skizziere, scheint es sinnvoll, einen Blick auf die programmatischen Erläuterungen zu werfen, die die Bühler-Mitarbeiterin Herta Herzog anlässlich der Auswertung des Experimentes verfasste: Die »Errungenschaften der Technik«, lautete Herzogs Begründung, hätten eine »künstliche Erweiterung des Kontaktbereiches hervorgebracht«.26 Waren in medial nicht zerdehnten face-to-face-Situationen »alle Sinne damit beschäftigt, Kontaktfaktoren als Steuerungsprinzipien des gegenseitigen Verhaltens wahrzunehmen«, so ermöglichten gegenwärtig die neuen Medien neben der massenmedialen Ausweitung des Kommunikationsbereichs auch eine entweder akustische oder visuelle Isolierung der Wahrnehmungsdimensionen. Für die »Psychologie selbst«, so Herzog, »wird das Ausdrucksproblem drängend«. Mit Blick auf die Persönlichkeitsforschung und den Behaviorismus konstatiert sie, der letztere blende die psychische Seite aus, negiere »das Ausgedrückte teilweise«, und ziehe »die Erlebnisse in Zweifel«, während die Persönlichkeitsforschung sich wiederum auf einen Personentypus fokussiere, der sowohl die »dauernden Merkmale des Individuums, wie z. B. im Körperbau« als auch die »flüchtigen Körperbewegungen, wie z. B. in der Schreibbewegung oder im Gang« als Ausdruck von festen Persönlichkeitstypen interpretiere. Vor dem Hintergrund dieses Szenarios bestimmt Herzog den eigenen Forschungsansatz in Anlehnung an die Bühlersche Sprachpsychologie: Wenn wir im Folgenden den Ausdrucksgehalt der menschlichen Stimme untersuchen, so kommen wir von einer dritten, ganz anders gearteten Problemstellung, von der Sprachpsychologie Karl Bühlers und einem ihrer Fundamentalsätze: Eine Funktion der Sprache ist Ausdruck.

Der zentrale methodisch-theoretische Fortschritt gegenüber Behaviorismus und Persönlichkeitsforschung dürfte für Herzog dabei vor allem in der Bindung des Ausdrucks an seine soziale Wirkung bestanden haben: »Ausdruck an sich ist sinnlos, er bekommt Bedeutung erst, wenn jemand da ist, der etwas als Ausdruck erlebt.« Es ist anzunehmen, dass die hier vorgetragenen Überlegungen einen Gruppenkonsens repräsentierten, denn die um Bühler zentrierten Forscher nutzten die massenmedialen und isolierenden Eigenschaften des Rundfunks zunächst dazu, eine Umfrage zu konzipieren, die – da sie die Frage stellte: »Inwieweit ist die Stimme eines Sprechers für den Hörer Ausdruck seiner Persönlichkeit« – »nicht beim Sprecher einsetz[t], sondern bei dem, den der Ausdruck, ob er nun aktiv oder passiv ist, in 26 | Die folgenden Zitate beziehen sich, wenn nicht anders angegeben, auf Herzog: »Stimme und Persönlichkeit«, S. 300-302.

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erster Linie angeht, dem Hörer«. Ausdruck als ›Kundgabe‹ wurde also nun aus dem Kontext der Rezeptionssituation, d. h. aus der ›Kundnahme‹Perspektive des Rundfunkpublikums, in den Blick genommen. Soweit sich die Arbeiten aus dem Wiener Universitätsarchiv rekonstruieren lassen, setzte sich das, was das ›Stimmexperiment‹ genannt werden könnte, aus der von Herzog verfassten Auswertungsstudie zur Rundfunkumfrage und drei sich daran anschließenden »Zuordnungsexperimenten« zusammen. Diese, von Karl Bühler und Paul Lazarsfeld supervidierten Arbeiten, wurden durch weitere, von Charlotte Bühler betreute, Studien flankiert.27 Eröffnet wurde der erste Schritt des ›Stimmexperimentes‹, die Rundfunkumfrage, durch einen in der Zeitschrift »Radio Wien« vorab gedruckten Fragebogen. Diesen sollten jene Hörer, die an dem Thema ›was sich aus der menschlichen Stimme erraten‹ lasse interessiert seien, ausschneiden und anhand von drei Sendungen, die die RAVAG im Mai 1931 ausstrahlte, beantworten. Am Abend des 19. Mai 1931 hörten die Hörer dann zunächst den Vortrag von Bühler zum Thema »Persönlichkeit und Stimme«, anschließend meldete sich der als Statistikbeauftragter des Psychologischen Instituts engagierte Lazarsfeld, der die technische Seite des Versuchs erörterte. Sollten, darauf legte Lazarsfeld besonderen Wert, die Hörer zu den Fragen allgemeine Bemerkungen machen wollen, dann wäre das Forschungsteam »dafür sehr dankbar« und bitte darum, »diese auf einem eigenen Blatt beizufügen«. Derart eingewiesen hörte das Rundfunkpublikum an den avisierten Abenden jeweils die Stimmen von drei Sprecherinnen und Sprechern. Die insgesamt neun Sprecher trugen einen identischen Text vor: »Die Ankündigung über den verlorenen Hund Lux«. Ausgewählt worden waren diese Sprecher, so Lazarsfeld, nach den Prinzipien von »Berufsgruppen«. »Wir nahmen uns vor zu finden: den typischen Intellektuellen, den wahren Chauffeur, die führend berufstätige Frau, den Geistlichen, den Kaufmann, die Angestellte, den Lehrer; und dazu einen Buben und ein Mädel.«28 »Nur die Verschiedenheit der Hörer nach Geschlecht, Alter, sozialer Stellung, Charakter« – so argumentierte Herzog 1933 diese Auswahl dagegen gegenüber einem Fachpublikum – »berechtigt uns in ihrer Gesamtheit zu einigermaßen allgemeinen Aussagen darüber, wie weit die

27 | Diese Studien gehören, so schreibt Bühler in seiner Sprachtheorie, »in eine Reihe von Arbeiten über den Ausdruck der Sprechstimme«, die am Wiener Institut erstellt wurden; vgl. Bühler: Sprachtheorie, S. 94. Wie weit der Forschungsrahmen hier gesteckt wurde, sieht man daran – darauf verweist der Hinweis Bühlers –, dass man im Zusammenhang der Prüfung des Ausdruckstheorems auch Untersuchungen zum ›Lallen im Kindesalter‹ und zur ›Auffassung von Lautsignalen durch dressierte Hunde‹ durchführte; vgl. ebd., S. 212 und S. 285. 28 | Lazarsfeld: »Was erraten wir aus der menschlichen Stimme?«.

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Ausdruckshaltigkeit der menschlichen Stimme«, ihr ›Klanggesicht‹ also, »reicht.«29 Gefragt wurden die Hörer nun nach folgenden Angaben, die sich auf ihre Wahrnehmungsurteile über die Stimme der unsichtbaren Sprecher stützen sollten: »Geschlecht« und »Alter«, »Art des Berufes oder der Beschäftigung«, »Ist der Sprecher gewohnt Befehle zu geben?«, »Wie sieht der Sprecher aus: Größe und Dicke« und »Ist die Stimme angenehm?«. Kombinierte der Fragebogen bis hierher die Erhebung quantitativer und qualitativer Aussagen des Rundfunkpublikums zum Ausdruck der Sprecherstimmen, so fügte er im zweiten Teil ein methodisch äußerst weit reichendes Fragenensemble zur Sozialstruktur des Publikums ein. Gefragt wird nämlich nicht nur nach: »Art des Apparates: Detektor?, Kopfhörer?, Lampenapparat?, Lautsprecher?«, sondern auch nach »Beruf oder Beschäftigung des Hörers?, Alter?, Geschlecht?, Wohnort?«.30 Zum ersten Mal befragte man damit bei einer Umfrage zum Rundfunk ein anonymes Publikum über jene Angaben hinaus, die zur statistischen Erfassung von Programmwünschen erforderlich waren; und dies mit einem Fragenensemble, das bereits Korrelationen von Wahrnehmungsurteilen und Sozialstatus der Befragten zuließ.31 Insgesamt aber lässt sich der gesamte methodische Aufbau des Rundfunkexperiments als ausgesprochen innovativ und für die Forschung folgenreich charakterisieren, denn Herzog arbeitete nicht – wie damals allgemein üblich – mit nur einem einzigen methodischen Ansatz. Sie kombinierte vielmehr auch in der Auswertung der Umfrage quantitative und qualitativ phänomenologische Verfahren miteinander; zudem überprüfte sie einige für die 1930er Jahre einflussreiche Forschungsansätze auf ihre Produktivität für eine Ausdruckstheorie Bühlerscher Provenienz hin (Kretschmersche Typenlehre, Resonanzverfahren von Klages, das erweitert wird zu Indizien-Resonanzverfahren).32 Vor dem Hintergrund 29 | Herzog: »Stimme und Persönlichkeit«, S. 302. 30 | Der Fragebogen ist abgedruckt in Lazarfeld: »Was erraten wir aus der menschlichen Stimme?«, S. 11. 31 | Seit der Einrichtung des Österreichischen Rundfunks im Jahre 1924 hatte es einige Hörerumfragen gegeben. Abgefragt wurden dabei allerdings nur, wie etwa 1928 bei einer Umfrage der ›Radio-Woche‹, Sendungskategorien, die wieder in diverse Rubriken: »Musik 18 Sparten«; »Vorträge 19 Sparten« etc. gegliedert waren. Die Auswertung der Umfrage verzichtete sowohl auf die Nennung von Beteiligungszahlen als auch auf eine Spezifizierung des Publikums, das allein als »unter lebhafter Beteiligung unseres Leserkreises« Erwähnung fand; vgl. Radio-Woche, Nr. 8, 1928, S. 12. 32 | Dazu gehörten neben der Kretschmerschen Typenlehre etwa auch die Studie von Pear: Voice and Personality, die mit vereinfachten Parametern gearbeitet hatte und das von Klages entwickelte »Resonanzverfahren« (vgl. »Persönlichkeit«, S. 30 ff.), das von Herzog zu einem »Resonanz- und Indizienverfahren« erweitert wurde.

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dessen, dass die RAVAG zu diesem Zeitpunkt so gut wie keine Daten über ihr Publikum hatte, lieferten die 3.000 eingehenden Fragebogen eine erstaunliche Anzahl an Informationen, die hier aber nicht im Fokus stehen. Die quantitative Auswertung der »physiologische[n] Bedingtheit« der Stimmen lieferte »die erstaunlichsten Resultate«33: ›Geschlecht‹, ›Größe‹ und ›Dicke‹ der Sprecher wurden mit großer Richtigkeit erkannt. Die Altersschätzungen dagegen zeigten starke Abweichungen: »von einer Charakteristik der Stimme für das Alter […] kann man nicht sprechen«.34 Da Herzog meinte feststellen zu können, dass die Erkennungsquote für Personen, die »in einem besonderen Maße einen Typus darstellen«, besonders hoch sei, regte sie an, den Zusammenhang von Stimme und Körperbau aus der Perspektive der »Kretschmerschen Körperbautypen« in weiteren »Zuordnungsexperimenten« zu überprüfen.35 Der von Kretschmer statuierte anthropologische Zusammenhang von ›Körperbau und Charakter‹, der seit den frühen 1920er Jahren in der Psychiatrie ebenso diskutiert wurde wie in der Psychotechnik36, konnte aber in den einschlägigen Folgexperimenten nicht bestätigt werden. In den Experimenten konnte vielmehr nachgewiesen werden, dass die Zuweisung der Radiostimme zu einem Sprechertypus über einen von Bühler so genannten »Medius«, also eine dem Hörer bekannte Person, geleitet wurde. Die Attribute dieses Medius springen, wie Bühler formuliert, im Deutungsvorgang »unvermittelt auf den unbekannten Radiosprecher über […]«.37 Neben den statistischen Daten wurden qualitative Verfahren in den Experimentaufbau integriert. So wurde die Frage nach dem ›Beruf‹ der Sprecher einmal »rein behavioristisch betrachtet«, indem die Stimmen »von außen her auf ihre Deutbarkeit hin untersucht« wurden. Da die Berufsbestimmung für Herzog aber »nicht nur eine Milieubestimmung« bedeutete, versuchte man mit der Frage »Ist der Sprecher gewohnt, Befehle zu geben?« gezielt über Ja/Nein-Antworten hinausgehende ausführlichere Kommentare seitens der hörenden Versuchspersonen zu evozieren, die Auskunft darüber geben, aufgrund welcher Kriterien die Stimmen beurteilt wurden. »An den Antworten der RAVAG-Hörer«, so Herzog, »interessieren uns also die quantitativen Ergebnisse, aber mindestens ebenso stark ihre Formulierung. […] D. h. wir bekommen in den Zusätzen ein Vokabular der zur Beschreibung der Innerlichkeit« – damit sind Auskünfte über die »Persönlichkeit«, aber auch die »aktuellen Erlebnisse« gemeint – »geläufigen Termini.«38 Für Herzog steht die »Unproduktivität einer 33 | Lazarsfeld: »Was erraten wir aus der menschlichen Stimme?«, S. 5. 34 | Ebd. 35 | Vgl. Kretschmer: Körperbau und Charakter. 36 | Vgl. etwa Dalma: »Körperbau und Psychose, mit Berücksichtigung der konstitutionellen Bedeutung der Stimme«. Zum Einsatz der Kretschmer-Typen in der Psychotechnik vgl. Matz: »Die Konstitutionstypologie von Ernst Kretschmer«. 37 | Bühler: Ausdruckstheorie, S. 192 f. 38 | Ebd., S. 336.

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quantitativen Untersuchung« fest, denn »für die Deutung wird die völlige Erfahrung der Wirklichkeit relevant, die Stimme wird nicht nur direkt, sondern auch indirekt, mit Hilfe von Indizien beurteilt«. »Wir brauchen«, so formulierte sie die Konsequenz ihrer Überlegungen, »zur Klärung eine phänomenologische Betrachtungsweise, die auf das Einzelindividuum zurückgeht und sich nicht um die Richtigkeit, sondern um das erlebnismäßige Zustandekommen der Deutung kümmert.«39 Dementsprechend setzte sich die Auswertungsstudie in ihren abschließenden Kapiteln mit der »Struktur« und dem »Inhalt des Stimmerlebnisses« sowie mit den Strukturen »indirekter Deutungen« auseinander.40 Als Kontrollinstrument der hier untersuchten und erschlossenen Aussagen zog die in dieser Technik geübte Herzog – und damit wurde ein weiteres methodisches Verfahren angewandt – von ihr verfasste Selbstbeobachtungsprotokolle heran, die sie anlässlich des Anhörens von dreißig willkürlich ausgesuchten Rundfunkstimmen erstellt hatte.

4. D IE Z UORDNUNGSE XPERIMENTE UND DIE R EZEP TIVITÄTSTHESE DES A USDRUCKS An die Auswertung der Rundfunkumfrage schlossen unmittelbar drei ›Zuordnungsexperimente‹ an, die verschiedene Facetten der Umfrageergebnisse aufnahmen und experimentell vertieften, die hier aber nur noch angerissen werden können. Das Zuordnungsexperiment von Hellmut Tursky setzte sich mit der »Phänomenologie des Zuordnungsaktes zwischen Stimme und Bild des Sprechers« auseinander. Es sei, so Tursky, »das Verdienst der modernsten Zeit, die Frage ›wie verstehe ich Ausdruck‹ neben die Frage ›wie schaffe ich Ausdruck‹, die soziologische Betrachtung neben die psychologische gestellt zu haben.«41 Die Studie zielte darauf, den rezeptiven »psychischen Akt«42 zu analysieren, der der Zuordnung von Stimme und Bild zugrunde lag. Zu diesem Zweck wurden die Radiosprecher, die den Text vom verlorenen Hund im Radioexperiment gelesen hatten, auf Schallplatten aufgenommen und fotografiert. Anschließend nahmen fünfundzwanzig, nicht näher differenzierte, Personen eine Zuordnung von Bild und Stimme vor. Mit Hilfe dieses Experimentaufbaus sollten drei Probleme geprüft werden: Ob und wenn ja, zu welchem Prozentsatz die Zuordnung jeweils richtig ausgeführt wurde; ob der Zuordnungsakt bei den einzelnen Sprechern variiere oder einen stereotypen Charakter habe und schließlich, welche Typen des Zuordnungsaktes von Stimm-Bild-Phänomenen 39 | Ebd., S. 349 ff. 40 | Ebd., S. 350 ff. 41 | Tursky: Zur Phänomenologie des Zuordnungsaktes von Stimme und Persönlichkeit. 42 | Ebd., S. 5.

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existierten und wie man sich das Zusammenwirken der verschiedenen Formen vorzustellen habe.43 Ähnlich wie in der Arbeit Herzogs stand also auch bei Tursky die Frage nach dem Zustandekommen der Rezipientenurteile im Zentrum des Experimentes. Das Experiment von Sr. Maria Bonaventura (d. i. mit weltlichem Namen: A. Barta) untersuchte den Zusammenhang von »Ausdruck und Persönlichkeit in Sprechstimme und Phonogramm«. Im Fokus ihrer Überlegungen stand das Problem der Transitorizität von Stimme und Ausdruck: »Stimmlicher Ausdruck ist dynamischer Ausdruck katexochen. […] Der Ausdruck, der der gesprochenen Rede anhaftet, wird immer. Ich kann ihn in der Realität nie als Ganzes und Fertiges vor mir haben, nur in der Erinnerung«.44 Hier tritt also die Bühlersche Überlegung wieder auf, dass sich die Ganzheit des Ausdrucks erst in der Relation von Stimm-Produktion und Stimm-Rezeption herstellt. Sr. Bonaventura stellte ein neues Sprecherensemble zusammen. Die Sprecher wurden fotografiert, von jeder Person gab es ein »Ausdrucksund ein Totalbild«, anschließend nahm man die Stimmen auf Grammophonplatten auf. Da die affektive Beteiligung der Sprecher an ihren Texten im Zentrum stand, entwarf Sr. Bonaventura zwei Szenarien: In dem einen Szenarium stritten reale Arbeiter mit einer eigens engagierten »Frau Chefin« um eine Gehaltserhöhung, in dem anderen Szenarium lasen Akademiker einen Text über einen Skiunfall ab. Ihnen, den literal besser Ausgebildeten, traute Bonaventura also, ohne dass es dafür gesicherte Anhaltspunkte gegeben hätte, eine bereits durch den Lesevorgang angeregte Affektproduktion zu. Mitarbeiter des psychologischen Instituts, die in ihrer Zuordnungsaktivität nicht zeitlich eingeschränkt wurden, wiederum ordneten die Sprechplatten den Affektbildern zu. Über diese Zuordnungsakte verfertigten sie, da die ›Rezeptivitätsthese des Ausdrucks‹ überprüft werden sollte, Selbstbeobachtungsprotokolle. Die Ergebnisse erbrachten, nicht zuletzt durch das von Bühler beschriebene Prinzip des ›Medius‹, signifikante Übereinstimmungen in den Zuordnungen. Das dritte Zuordnungsexperiment zum Thema »Wahrnehmung und Ausdruck«, sollte – so formulierte sein Autor Norbert Thumb – »rein statistisch mit Hilfe von Massenexperimenten eine Stützung der bisherigen Ergebnisse« liefern.45 Die Konzentration der Untersuchung auf die Kretschmersche Typenlehre lässt vermuten, dass hier die von Herzog vorgeschlagene Überprüfung eines Zusammenhangs von Körperbau und Stimme im Vordergrund stand: Geprüft werden sollte die durch den Bühlerschen Forschungsrahmen problematisch gewordene Annahme einer Korrelation des Ausdrucks mit anthropologischen Körperbautypen. 43 | Vgl. ebd., S. 14. 44 | Bonaventura: »Ausdruck der Persönlichkeit in der Sprechstimme und im Photogramm«, S. 504. 45 | Thumb: Wahrnehmung und Ausdruck im Lichte des Zuordnungsexperimentes von Körperbau und Stimme, S. 3.

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Thumbs Studie konzipierte drei Experimente, die hier nicht im Einzelnen dargestellt werden können. Alle drei arbeiten mit Sprechern, die nach seiner Ansicht der Kretschmerschen Typenvorgabe entsprachen: »Wir gingen auf das Arbeitsamt für Büroangestellte und suchten uns dort ausgesprochen asthenische und pyknische Herren aus«. Die Sprecher unterzog Thumb sodann, wie er ohne jeden Zweifel am Vermessungsphantasma seines methodischen Ansatzes formulierte, »den allereinfachsten anthropologischen Messungen«, die u. a. Daten zum Schädelumfang, Stirnhöhe, Kopfbreite erhoben und auch die Kategorie »Rasse« abfragten.46 Die »zuordnenden Versuchspersonen« forderte Thumb dazu auf, einen sogenannten »Kretschmer-Fragebogen« auszufüllen, in dem sie – orientiert an den Kretschmerschen Kriterien – über sich selbst Auskunft geben sollten; ein Ansinnen übrigens, das von den als Beurteilende agierenden Psychologen des Wiener Instituts mehrheitlich abgelehnt wurde.47 An der Thumb’schen Studie ist vor allem bemerkenswert, dass sie in zwei Teile zerfällt: Der erste Teil versucht, eine Ausdifferenzierung der Kretschmerschen Bestimmungen für ›Stimme und Körperbau‹ zu leisten, kommt jedoch letztlich zu dem Ergebnis, jede Form der Korrelation von Kretschmerschen Körperbautypen und stimmlichen Ausdrucksformen als nicht gegeben zu betrachten. Der zweite Teil der Studie distanziert sich daher vollkommen von der Vorstellung, Stimme und Körperbau seien nach anthropologischen Gesichtspunkten korrelierbar: »Ist ein Messen der Stimme und des Körperbaus schlechthin denkbar? […] Die Stimme ist eben etwas viel zu komplexes und qualitativ vieldeutiges, als dass sie einer solchen einfachen Messung zugänglich wäre.«48 In der Konsequenz solcher Überlegungen entwirft Thumb im zweiten Teil der Studie einen wahrnehmungstheoretischen Ansatz, in dessen Fokus die durch die Theorie Bühlers angeregte Frage steht, inwieweit sich »Eindrucksfeld und Wahrnehmungsmaterial gegenseitig steuern«.49

5. R ESÜMEE Zunächst bedeutete die Orientierung an der Bühlerschen Ausdruckstheorie für die experimentellen Designs eine Verschiebung der Ausdrucksanalyse von der Produktions- auf die Rezeptionsseite. Hierin spiegelte sich die 46 | Auch wenn, wie Matz: Konstitutionstypologie: S. 5 ff. und S. 565 ff. deutlich macht, die Kretschmersche Typenlehre zu Anfang der 1930er Jahre noch nicht im rasse-ideologischen Kontext des NS stand, kann diese Kategorienwahl 1934 nur schwer unabhängig von diesem Kontext gelesen werden. 47 | Vgl. Thumb: Wahrnehmung und Ausdruck im Lichte des Zuordnungsexperiments von Körper und Stimme, S. 20. 48 | Ebd., S. 42. 49 | Ebd., S. 177 ff.

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– wenn auch kritische – Aufnahme des Behaviorismus insofern, als das Verhalten der Rezipienten erstmals in den Fokus rückt: Ausdruckskundgabe lässt sich nur über Ausdruckskundnahme angemessen untersuchen. Insgesamt könnte man sagen, dass das von Bühler so genannte »Klanggesicht« der Stimme nur im Kontext eines medialen dispositiven Rahmens sichtbar und lesbar wird. Natürlich sind meine bisherigen Überlegungen auf ein sehr spezifisches Klangphänomen, nämlich das der menschlichen Stimme und ihrer anthropologischen bzw. medialen Produktions- und Rezeptionsbedingungen eingeschränkt. Gleichwohl trifft vermutlich auch auf andere Typen von Klang in einem weiteren Sinne die Bühlersche Analyse zu, dass Klang nur insoweit als Ausdruck einer Produktionsinstanz interpretiert werden kann, als er sich in sozialen Szenarien zu entfalten vermag. Noch in neueren Formen der auditiven Medienkultur, wie etwa im Dispositiv Hörbuch, zeigt sich, dass der Klang der Stimme seine ästhetische Valenz nicht nur aus der zugrunde liegenden Bezugsliteratur, sondern aus den Formen seiner technisch-medialen und kulturellen Inszenierung – in Lesungen, Hörspiel, Remixes etwa – bezieht. Es ist nicht nur die Kundgabe der Literatur, sondern es sind die sozial-kulturellen Wahrnehmungsformen, die ihre klangvermittelte Kundnahme ermöglichen. Im Rückblick auf das Wiener Forschungsprogramm der Gruppe um Bühler kann festgestellt werden, dass der innovative theoretische und methodische Ansatz, der bei der Analyse des Stimmausdrucks in den Anlagen der Experimente die Entwicklung technischer Medien produktiv einbaute, mit der erzwungenen Emigration Bühlers 1938 abrupt unterbrochen wurde. In den amerikanischen Arbeiten der Bühler Schüler, die ja nicht nur die zeitgenössische Radioforschung, sondern auch die gegenwärtige Mediaforschung maßgeblich beeinflusst und geformt haben, wird hauptsächlich ein spezifischer Aspekt der Wiener Forschungen weitergeführt und ausgebaut, der Aspekt der auf das Moment der Steuerung ausgerichteten ›audience research‹. Demgegenüber bindet das anhand der Radioexperimente des Jahres 1931 entworfene theoretisch-methodische Forschungsparadigma die Analyse des Ausdrucksphänomens ›Stimmklang‹ konstitutiv an die medialen Dispositive, in denen Klang prozessiert wird. Verloren gegangen ist für lange Zeit der bei Bühler vorgezeichnete interdisziplinär produktive Zusammenhang von Kommunikationstheorie, Medientheorie und Mediennutzungsforschung. Der Bühlersche Ansatz könnte so zu einem kulturwissenschaftlichen Analysemodell beitragen, welches das Spannungsverhältnis zwischen anthropologischer Stimme und dem Klang der Stimme in dispositiver Situiertheit aufzuzeigen vermag.

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L ITER ATUR Adam, Meike: »Symbol oder Symptom? Lesbarmachung des Gesichts«, in: Löffler, Petra u. a. (Hrsg.): Das Gesicht ist eine starke Organisation, Köln 2004, S. 121-139. Bonaventura, Maria: »Ausdruck der Persönlichkeit in der Sprechstimme und im Photogramm«, in: Archiv für die gesamte Psychologie, Bd. 94, 1935, S. 501-570. Bühler, Karl: Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache [1934], Berlin u. a. 1978. Bühler, Karl: »Der dritte Hauptsatz der Sprachtheorie. Anschauung und Begriff im Sprechverkehr«, in: Piéron, Henri u. a. (Hrsg.): Onzième Congrès International de Psychologie. Paris, 25-31 Juillet 1937, Nendeln 1974, S. 196-203. Bühler, Karl: Ausdruckstheorie. Das System an der Geschichte aufgezeigt, Jena 1933. Bühler, Karl: »Was erraten wir aus der menschlichen Stimme?«, in: Radio Wien, Nr. 33, 1931, S. 11. Bühler, Karl: Die Krise der Psychologie, Jena 1927. Dalma, Giovanni: »Körperbau und Psychose, mit Berücksichtigung der konstitutionellen Bedeutung der Stimme«, in: Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie, Nr. 97. 1925, S. 782-790. Geitner, Ursula: »Klartext. Zur Physiognomie Johann Caspar Lavaters«, in: Campe, Rüdiger u. a. (Hrsg.): Geschichten der Physiognomik. Text, Bild, Wissen, Freiburg 1996, S. 357-385. Gilman, Sander L.: »Charles Darwin und die Wissenschaft von der Visualisierung der Geisteskranken«, in: Campe, Rüdiger u. a. (Hrsg.): Geschichten der Physiognomik. Text, Bild, Wissen, Freiburg 1996, S. 453-471. Hegel, G.W.F.: Werke in zwanzig Bänden. Die Philosophie des Geistes, Bd. 10, Frankfurt a. M. 1970 Herzog, Herta: »Stimme und Persönlichkeit (mit 10 Abbildungen im Text)«, in: Zeitschrift für Psychologie, Jg. 130, 1933, S. 300-369. Kretschmer, Ernst: Körperbau und Charakter, Berlin u. a. 1967. Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe [1775], Eine Auswahl mit 101 Abbildungen, hrsg. v. Christoph Siegrist, Stuttgart 1984. Lazarsfeld, Paul: »Was erraten wir aus der menschlichen Stimme? Ein erster Bericht über die psychologische Versuchsreihe vom 19., 21. und 23 Mai«, in: Radio Wien, Nr. 36, 1931, S. 9-11. Lichtenberg, Georg Christoph: »Über Physiognomik; wider die Physiognomen. Zur Beförderung der Menschenliebe und Menschenkenntnis« [1778], in: ders.: Schriften und Briefe. Band 3: Aufsätze, Entwürfe, Gedichte, hrsg. v. Wolfgang Promies, München 1972, S. 256-295.

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Matz, Bernhard Wilhelm: »Die Konstitutionstypologie von Ernst Kretschmer. Ein Beitrag zur Geschichte der Psychiatrie und Psychologie im 29. Jahrhundert«, www.diss.fu-berlin.de/2002/205/index.html, 19.10.2010. Meyer-Kalkus, Reinhart: Stimme und Sprechkünste im 20. Jahrhundert, Berlin 2001. Pear, Tom Hatherley: Voice and Personality, London 1931. Radio-Woche, Nr. 8, 1928. Thumb, Norbert: Wahrnehmung und Ausdruck im Lichte des Zuordnungsexperimentes von Körperbau und Stimme, Wien 1934. Tursky, Hellmut: Zur Phänomenologie des Zurdnungsaktes von Stimme und Persönlichkeit, Wien 1932. Wundt, Wilhelm: Grundzüge der physiologischen Psychologie, Bd. 3, Leipzig 1903.

Klangkristalle Zur Semiotik artifizieller Hörbarkeit Jochen Venus

Spätestens seit den frühen 1970er Jahren zählt die Zeichenlogik des Auditiven zum festen Themenbestand der Semiotik. Im Zentrum des Interesses steht dabei die Interpretierbarkeit von Klängen. Dabei sind insbesondere solche Klänge bemerkenswert, die das Geschehen nicht zufällig begleiten, sondern nur deshalb entstehen, weil sie gehört und verstanden werden sollen. Dass es sich bei dieser intentionalen Klanglichkeit, die eine Welt artifizieller Hörbarkeiten erzeugt, um ein semiotisch interessantes Feld handelt, liegt auf der Hand. Allerdings zeigt sich an der Klang- und Musiksemiotik eine ganz eigentümliche Besonderheit, die an der Bildsemiotik und Textsemiotik nicht zu beobachten ist: Es herrscht paradoxerweise eine große Einigkeit darüber, dass die Welt der artifiziellen Hörbarkeiten auf einem eigenen semiotischen System beruht, gleichwohl wird relativ unschlüssig darüber gestritten, ob Töne, Intervalle, Akkorde, Rhythmen und Tempi Zeichen sind.1 Ich möchte dieser Problemlage nachgehen und einen Vorschlag zur Diskussion stellen, wie diese Problemlage zu bewerten ist und welche Schlüsse aus ihr gezogen werden können. Nach meinem Eindruck liegt die Unschlüssigkeit der klangsemiotischen Grundlagendiskussion in einem allgemeinen Problem der modernen Semiotik begründet, nämlich sich als systematisch fundierte Grundwissenschaft begreifen zu wollen und darüber das historische Motiv zu vergessen, das sie überhaupt erst denkbar hat werden lassen: die Erfindung technischer Medien. Gerade im Bereich der Klangsemiotik, so möchte ich zeigen, darf die Technizität des Reflexionsanlasses nicht übersehen, oder besser: überhört werden, wenn man seine Semiotizität auf den Begriff bringen möchte. Ich gehe in drei Schritten vor. Zunächst skizziere ich überblicksartig die semiotischen Forschungsperspektiven auf die Phänomenologie des 1 | Vgl. Nöth: Handbuch der Semiotik, S. 433-439.

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Klangs. Dabei möchte ich das dominante Selbstverständnis der Musiksemiotik beschreiben, um vor diesem Hintergrund die Kontroversen darzustellen, die den Diskurs prägen. In einem zweiten Schritt möchte ich zeigen, dass und wie die technikgeschichtliche Ignoranz der Semiotik verhindert hat, ein adäquates Verständnis von Klangphänomenen zu modellieren. Abschließend möchte ich einen technikhistorisch orientierten semiotischen Begriff medialer Klangformen vorstellen und skizzieren, welche Forschungsperspektiven dieser Begriff eröffnen könnte.

1. D IE S EMIOSE DES A UDITIVEN UND DAS S CHEITERN DER K L ANGSEMIOTIK Die Nähe des Hörbaren zur Welt der Bedeutungen lässt sich vielleicht am besten anekdotisch beschreiben. Vor einigen Jahren bin ich eines sehr frühen Morgens von einem höchst irritierenden Geräusch geweckt worden: hohe, knallende, metallische Attacken, die in einem langen Hall ausliefen. Im Halbschlaf war mir, als läge ich in einer unendlich großen Werkshalle, an deren anderem, von mir weit entfernten Ende ein Arbeiter mit einem schweren Hammer in regelmäßigen Abständen auf einen Amboss schlug. Aber im Halbschlaf war mich doch klar, dass ich in meinem Bett lag. Was war es also? Woher kam das? Mir fiel der Bahnhof ein. Möglicherweise kam es auch vom Ende der Straße, wo ein Bauhandwerker sein Geschäft hat. Aber so früh am morgen? Oder waren es entfernte Gewehrschüsse? Aber warum so regelmäßig? – Es dauerte noch einige dieser unendlich gedehnten Sekunden des Halbschlafs, bis ich erkannte, worum es sich handelte: Es waren die gleichmäßigen Atemzüge unserer einige Tage alten Tochter, die friedlich neben mir schlief und deren Atemgeräusche mir noch unvertraut waren. Einige bedeutende Charakteristika von Klängen zeigen sich in dieser Erfahrung: Der Klang, den wir hörend erleben, hat für uns eine unzweifelhafte Form, die uns gleichsam von Außen zustößt; der Klang in seiner auditiven Form ist von einer unverfügbaren, zweifelsresistent gewissen Präsenz. Zwar können wir uns im Nachhinein, wenn das Gehörte nicht mehr präsent ist, fragen, ob wir wirklich gehört haben, was wir gehört zu haben glauben. Und wir können uns während des Hörens fragen, wie sich der Klang verändern würde, wenn wir unseren Ort wechseln würden. Wir können zukünftige Klangerlebnisse erwarten und die Gründe dieser Erwartung in Zweifel ziehen. Aber wir können nicht das gegenwärtige Klangerlebnis seiner Form nach bezweifeln. Zu fragen, ob wir tatsächlich hören, was wir hören, wäre so unsinnig wie zu fragen, ob wir ›wirklich‹ Bauchschmerzen haben, wenn wir Bauchschmerzen haben.2 Diese unzweifelhafte Form des Klangs hat Folgen. Sie aktualisiert unwillkürlich, ohne dass wir dies bewusst steuern, einen Sinnverweis, denn 2 | Vgl. dazu ausführlich Wiesing: Das Mich der Wahrnehmung.

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ebenso gewiss wie die aktuelle Form des Gehörten, ist die qualitative Bezogenheit des Klangs: Klang ist immer Klang von etwas.3 Da jeder Hörende mit seiner leibkörperlichen Präsenz immer auch sich selbst als halb willkürliche, halb unwillkürliche Klangquelle erlebt, steht das Klangliche unvermeidlich im Erfahrungszusammenhang eigener und fremder Körperlichkeit und Intentionalität. Klang ist immer Klang von etwas im hörbaren Verhältnis zu anderem, möglicherweise ein mutwilliges Sich-hörbar-Machen, so wie eine Ansicht immer die Ansicht von etwas ist im sichtbaren Verhältnis zu anderem, vielleicht ein mutwilliges Sich-zur-Schau-Stellen. Während aber die Ansicht eines Sachverhalts an diesem Sachverhalt gleichsam klebt, entfernt sich der Klang von seinem Ursprung und mischt sich mit anderen Klängen. Der Sinnverweis des Hörbaren ist daher deutlich offener als der Sinnverweis des Sichtbaren. Das klanglich induzierte Interpretationsgeschehen ist plastischer als sein visuelles Gegenstück. Zwar sind alle Bedeutungen vage, aber die Bedeutung von Klängen erscheint doch vergleichsweise offener als die von visuellen Gestalten. Diese gegenüber der unverfügbaren Form des Klangs zur Disposition stehende Klangbedeutung prägt unser gefühlsmäßiges Erleben des Klangs; im anekdotisch geschilderten Fall seine beunruhigende oder rührende Wirkung. Die Phänomenologie des Auditiven, die Welt des Hörens und des Gehörten ist offenbar eng gekoppelt an eine Semiose des Klangs, an eine zeichenhafte Produktivität, von der wir nur mit Mühe abstrahieren können, wenn wir versuchen, Klänge ›rein‹ zu hören, in ihrer auditiven Positivität. Klänge lassen sich daher nicht auf ihr physisch-physiologisches Substrat reduzieren, das wir mit den Modellen der physikalischen Akustik und der Anatomie und Physiologie des Hörens erklären können. Derselbe Klang kann auf höchst unterschiedlichen physikalischen Voraussetzungen beruhen. Nur deshalb ist überhaupt möglich, Klänge auf unterschiedliche Klangquellen zurückführen zu können. Die Physik des Akustischen und die Physiologie des menschlichen Hörsinnes erfassen lediglich die notwendigen Bedingungen des Hörbaren, die naturgesetzlichen Umstände, unter denen Hören möglich ist. Aber über das Hören und das Gehörte selbst, seine spezifischen Umstände und Wirkungen, erfahren wir durch die physikalische Akustik und die Biologie des Hörsinns nichts. An dieser Stelle setzt die Klangsemiotik an. Ihr geht es nicht um Bedingungen und Folgen des physisch-biologischen Klangsubstrats, sondern um die formalen Bedingungen, Strukturen und Folgen der allgemeinen Klanggestalt im Bewusstsein von Hörenden und Verstehenden. Was lässt sich dann unter der Semiose und der Semiotik des Klangs näherhin verstehen? Nach dem dominanten Selbstverständnis der Semiotik kann man beide Begriffe so umreißen: Die Klangsemiose ist der Ob3 | Vgl. hierzu aus konstruktivistischer Sicht die umfassende Studie von Großmann: Musik als Kommunikation.

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jektbereich und die Klangsemiotik ist die Methodologie der Erforschung des psychosozialen Klanggeschehens. Der besondere Zugriff der Semiotik auf die Klangsemiose besteht darin, sie explizit unter dem Gesichtspunkt ihrer Zeichenhaftigkeit zu rekonstruieren und so mit anderen Prozessen des Zeichenuniversums (insbesondere der Bild- und Textsemiose) vergleichbar zu machen. In diesem Sinn umfasst die Semiose des Klangs alle phänomenalen Bedingungen und Wirkungen des Hörbaren, d. h. alle gestalthaften Voraussetzungen und gestalthaften Folgen der Gegebenheit von Klanggestalten. Die Klangsemiotik hätte nach diesem Verständnis auf den Begriff zu bringen, wie Spürbares, Sichtbares, Hörbares und Verstehbares Klanggestalten provoziert, und umgekehrt: welche Empfindungen, audiovisuellen Gegebenheiten und Interpretationen durch Klänge provoziert werden. Eine solche Klangsemiotik lässt sich ganz unterschiedlich ausführen, je nach dem präferierten zeichentheoretischen Ansatz. Grundsätzlich lässt sich eine strukturorientierte Semiotik in der Nachfolge von Ferdinand de Saussure von einer prozessorientierten Semiotik in der Nachfolge von Charles S. Peirce unterscheiden. Und jenseits dieser Grundorientierung kann noch einmal eine eher empiristisch-behaviouristische Semiotik in der Nachfolge von Charles Morris und eine politisch kritische Semiotik in der Nachfolge von Umberto Eco unterschieden werden.4 Unabhängig von diesen Spielarten gibt es aber auch einige Grundbausteine der Semiotik, die in den meisten sich als semiotisch verstehenden Untersuchungen benutzt werden. Zuallererst wären in diesem Zusammenhang sicher die Ideen des semiotischen Systems bzw. des semiotischen Codes sowie die von Peirce eingeführte Trias zeichenhafter Objektbeziehungstypen: Ikon, Index, Symbol, zu nennen. Die Trias zeichenhafter Objektbeziehungen präsentiert eine unhintergehbare und vollständige Unterteilung der Möglichkeiten, wie Zeichen sich auf Bezeichnetes beziehen können. Eine ikonische Zeichenbeziehung beruht auf der möglichen Ähnlichkeit zwischen dem Zeichenträger und dem Bezeichnetem; die indexikalische Zeichenbeziehung wird durch eine mögliche Grund-Folge-Beziehung zwischen Zeichenträger und Bezeichnetem konstituiert, so dass die Gestalt des Zeichenträgers durch das Bezeichnete entweder verursacht ist oder es hervorruft; die symbolische Zeichenbeziehung beruht dagegen auf einer Konvention, mittels derer die Gestalt des Zeichenträgers die Vorstellung des Zeichenobjekts vergegenwärtigt. Diese Trias zeichenhafter Objektbeziehungen ist wegen ihrer Simplizität und prägnanten Exemplifizierbarkeit zu einem besonders wirkmächtigen semiotischen Instrument geworden, das sich freilich bei genauerer Betrachtung als sehr viel problematischer und weniger aufschlussreich erweist, als man auf den 4 | Einen hervorragenden Überblick über die Paradigmenlage gibt Nöth: Handbuch der Semiotik, insbesondere im 2. Kapitel »Klassiker, Richtungen und Schulen der Semiotik im 20. Jahrhundert«, S. 59-131.

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ersten Blick annehmen könnte. Denn jeder Gegenstand weist Ähnlichkeitsbezüge und Funktionen in Grund-Folge-Beziehungen auf und kann mit einer konventionellen Bedeutung belegt sein. Eine direkte Analyse vorhandenen Materials hinsichtlich seiner Semiotizität scheint auf diese Weise schwer möglich zu sein.5 Stellt man diese Bedenken aber zunächst einmal zurück, so ist zu konstatieren, dass Klänge in Hinsicht auf ihre Objektbeziehungen auf dreierlei Weise motiviert sein können bzw. ihrerseits motivieren können: 1.

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durch ihre Ikonizität, also ihre Ähnlichkeit mit anderen Formen, (das kann sich auf alle Eigenschaften von Klängen beziehen, z. B. auf die Ähnlichkeit der Tonhöhe, des Frequenzspektrums, der Dynamik usw.); durch ihre Indexikalität, also durch ihre funktionale Verbindung mit anderem Geschehen, das empirisch mit einem bestimmten Klang einhergeht, oder mit bestimmten Empfindungen und Gefühlen wie Schmerz, Freude, Lust, Aggressivität u. ä., deren unwillkürlicher Ausdruck der betreffende Klang oft ist; durch ihre Symbolizität, also durch mehr oder weniger allgemein anerkannte artifizielle Substitutionsregeln, durch welche die Klanggestalt einen bestimmten Begriff vergegenwärtigt (z. B. der Klang einer Trillerpfeife, der im Fußballspiel den schiedsrichterlichen Befehl einer Spielunterbrechung und -wiederaufnahme symbolisiert).

Das Ziel einer Klangsemiotik wäre es, in den Beispielen für ikonische, indexikalische und symbolische Klangmedialität Muster aufzufinden und diese hinsichtlich ihrer Elemente, ihrer Formen und ihrer Funktionen systematisch zu beschreiben und zu erklären. Eine derart ausgearbeitete Klangsemiotik würde an die Stelle vorwissenschaftlicher Terminologien treten, deren oft vage und kontingent-impressionistische Semantik die Logik des Klanglichen mehr umspielen und andeuten als auf den operativen Begriff zu bringen. Eine semiotisch gut begründete, bedeutungsdichtere, zielgenauere Terminologie könnte die arbeitsteilige Produktion der Audiomedialität einerseits zielbewusster angeleiten, andererseits könnte sie – im Blick auf die Rezeption und Wirkung audiomedialer Komplexe,

5 | Peirce selbst hat deshalb die einfachen Objektbeziehungen des Zeichens nicht als unmittelbare Evidenzen behandelt, sondern ihre Begriffe aus einer trichotomischen Metalogik semiotischer Verweismöglichkeiten zu deduzieren versucht; ein Unternehmen, das ihn schließlich in seiner systematisch überzeugendsten Ausarbeitung, dem berühmten Manuskript Nomenclature and Division of Triadic Relations, as Far as They Are Determined zu einer Kategorientafel zehn grundlegender Zeichenbeziehungen führte; vgl. Peirce: Phänomen und Logik der Zeichen, S. 121139. Diese relativ komplex begründete Typologie ist, jedenfalls in der Praxis semiotischer Gegenstandsanalysen, nicht nachhaltig rezipiert worden.

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erwartbare Bedeutungszuweisungen von überraschenden, situativ zu erklärenden Reaktionen unterscheiden. In diesem Sinn haben Musikwissenschaftler und Semiotiker wie Seeger, Lefebvre und jüngst wieder Tagg eine elementare Semiotik intentionaler Klanglichlichkeit zu begründen versucht und nach dem Vorbild des Morphems als kleinster Bedeutung tragender Einheit der Sprache das Melem bzw. das Musem postuliert.6 Auf der Basis solch kleinster Bedeutung tragender Klangeinheiten sollen die Strukturbildungen der Musik systematisiert und in ihren Codierungsfunktionen evaluiert werden können, um auf diese Weise gesellschaftlich wirksame klangliche Codes dingfest zu machen. Dieses Forschungsprogramm, so eingängig es zunächst anmutet, begeht allerdings einen fundamentalen Kategorienfehler: Indem es im Klanglichen mit der Vorstellung kleinster Bedeutung tragender Einheiten eine Sprachanalogie konstruiert, überträgt es ein Modell der Sprache ins Klangliche, das eine solche Übertragung explizit ausschließt. Das strukturalistische Sprachmodell, das der Idee kleinster Bedeutung tragender Elemente zu Grunde liegt, geht bekanntlich davon aus, dass es solche Elemente nicht isoliert und in einem positiv empirischen Sinn geben kann, sondern nur als selektive, und daher informative Instantiationen einer zu Grunde liegenden Sprachstruktur. Das sinnlich Wahrnehmbare der Sprache ist gegenüber dieser Sprachstruktur sekundär und nur mittels der erlernten Sprachstruktur als in sich gegliedert erfahrbar. Für das Klangliche als solchem gilt nach einem berühmten Wort de Saussures: »Die lautliche Masse ist ebenso wenig etwas fest Abgegrenztes und klar Bestimmtes; sie ist nicht eine Hohlform, in die sich das Denken einschmiegt, sondern ein plastischer Stoff [...]«7. Damit aber ist Klangliches als solches prinzipiell als etwas Vor- und Außersemiotisches markiert. Die Übertragung der Terminologie der strukturalistischen Linguistik auf Klangphänomene und ihre spezifischen kommunikativen Funktionen muss daher deren begrifflichen Status neu und durchaus kontralinguistisch konstruieren. Dabei aber kommt es, da die linguistische Terminologie ihren phänomenabstrakten Impetus immer mitschleppt, notwendigerweise zu Unklarheiten und Missverständnissen. So ist es nicht verwunderlich, wenn Winfried Nöth konstatiert: »Die Frage nach der möglichen Minimaleinheit des semiotischen Systems der Musik bleibt unentschieden«8. Dann aber stellt sich mit Nachdruck die Frage, wie eine Semiotik des Klanglichen überhaupt möglich sein soll? Die semiotische Forschung hat darauf reagiert, indem sie sich an semantischen Eigenwerten orientiert hat, die im Musikdiskurs beobachtet werden können. Die Genrebezeichnungen und Formbegriffe, die von 6 | Vgl. Seeger: »On the Moods of a Musical Logic«, S. 76; Lefebvre: Musique et sémiologie, S. 57; Tagg: Music’s Meanings, S. 222. 7 | Saussure: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, S. 133. 8 | Nöth: Handbuch der Semiotik, S. 437.

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Komponisten, Interpreten, Musikkritikern und Rezipienten verwendet werden, um ihre Höreindrücke und deren Bewertung zu beschreiben, dienen der semiotischen Erforschung der Klangmedialität als Grundlage ihrer rekonstruktiven Arbeit.9 Problematisch erscheint daran weniger die latente Redundanz des Verfahrens, kann doch die Semiotik auf diese Weise analytisch nie das Wissen überbieten, das in den medialen Praktiken vorhanden ist, oder diesem Wissen eine produktive inkongruente Perspektive anbieten. Immerhin wäre mit einer semiotischen Reformulierung des medienpraktischen Wissens eine Generalisierung verbunden, die intermediale Vergleiche erleichtern könnte. Problematischer ist demgegenüber der Umstand, dass die mediale Praxis auf ihre Selbstbeschreibung reduziert wird und das Hören als bloßes Registrieren etablierter Klangmuster erscheint. Das Hören wird auf diese Weise als ein lektüreanaloger Interpretationsvorgang aufgefasst und die symbolische Funktion stillschweigend zur Grund- und Zielfunktion der Klangsemiose gemacht. Auf diese Weise hat es die Semiotik des Auditiven, man muss es so hart sagen, nicht zu einer eigenständigen und aufschlussreichen Methodologie gebracht, sondern ist ein semiotischer Jargon geblieben, dessen man sich bis heute ungezwungen und unsystematisch bedient, wenn es darum geht, Typen, Formen, Gattungen und Praktiken des Auditiven zu beschreiben. Überdeutlich lässt sich das etwa an einem Aufsatz Diedrich Diederichsens zeigen, in dem er drei Typen von Klangzeichen analysiert, nämlich das Sound-Logo, das Sound-Design und den Sound-Effekt.10 Dabei appliziert er das Vokabular semiotischer Theorie relativ freihändig, und hält im Übrigen, wie seine abschließenden Bemerkungen zeigen, den Sound sans phrase für eine Subversion von Zeichenhaftigkeit: Da, wo man zu den dekonstruierten und freigelegten oder freigelassenen Sounds tanzt oder psychedelische Drogen nimmt, deren unbearbeitete Version als Klingelton nicht nur meine Arbeitsleistung abruft, sondern auch die vorübergehend vielleicht unterbrochene Arbeit der Subjektivität streng wieder einfordert, da ist der Sturz des Zeichens in die Nacht der Nichtbedeutung nie wirklich ein Sturz ins Leere, ihm sind die Strudel einer Ich-Unterbrechung, womöglich eines vorübergehenden Ich-Verlustes beigegeben, die es nie in den Genuss absoluter und/oder autonomer Musik geschafft hätten, sondern davon ausgelöst und perpetuiert

9 | Maßstabsetzend in diesem Zusammenhang ist Nattiez: Musicologie général et sémiologie. Der Titel der englischen Übersetzung Music and Discourse: Toward a Semiology of Music bringt Nattiez’ Programmatik noch deutlicher zum Ausdruck als der Titel des französischen Originals: Es geht um die Hörbarkeit intentionaler Klanglichkeit allein unter dem Gesichtspunkt ihrer diskursiven Codiertheit. Das Hörbare selbst wird als Epiphänomen einer kulturell gepflegten, sprachlich eindeutig codierbaren Semantik musikalischer Formen behandelt. 10 | Diederichsen: »Drei Typen von Klangzeichen«.

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J OCHEN V ENUS werden, dass die meisten Transzendenz-Sounds gerade noch ganz funktionale Verwandte hatten.11

Diederichsens suggestive Beschreibung hält fest, dass die Bedeutsamkeit des Klanglichen schillert und gerade darin seine problematische Semiotizität zu suchen wäre. Dies stößt allerdings die Semiotik vom methodologischen Thron. Die Bearbeitung der Produktivität des Klanglichen fällt nur mehr auch in den Gegenstandsbereich der Semiotik, und nicht mehr wegen ihres Anspruchs, ohnehin den schlüssigen Gesamtrahmen für die fruchtbare Analyse aller Sachverhalte anzubieten,12 sondern aus einer ganz spezifischen Nähe des Themas zur Zeichenproblematik.

2. D IE A UTOGR AFIEN UND DIE SEMIOTISCHE H ER AUSFORDERUNG Die universalwissenschaftliche Schlüsselattitüde der Semiotik hat ihren kulturwissenschaftlichen Appeal verloren, der semiotische Jargon ist längst keine heiße Wissenschaftsmode mehr. Daher kann man heute vielleicht in einem differenzierteren Sinn nach dem Status und der Logik der Klangsemiose im Unterschied zu und im Zusammenspiel mit anderen generischen Logiken der Klanglichkeit fragen. Das bisherige semiotische Leitmodell generalisierte eine sehr spezifische Kommunikationsweise zum Inbegriff der Kommunikation, nämlich die sachbezogene sprachliche Kommunikation unter Anwesenden, die klärungsorientierte Gesprächssituation: Die Semiotik stilisierte den Sprecher, der seine Gedanken in eine lautsprachliche Form bringt, die 11 | Ebd., S. 123. 12 | Am deutlichsten findet sich der universalistische Anspruch der behaviouristischen Semiotik bei Charles W. Morris ausgeprägt, der seinen Ansatz explizit als Erfüllung des einheitswissenschaftlichen Programms des logischen Empirismus ansah; vgl. Morris: »Foundations of the Unity of Science«. Da es sich beim Zeichengriff um einen gegenstandsabstrakten Funktionsbegriff handelt, kann es einem leicht so vorkommen, als habe man den epistemologischen Schlüssel in der Hand. So lässt sich z. B. auch der Ansatz von Charles S. Peirce durchaus im Sinne einer Zeichenontologie interpretieren und handhaben. Da Peirce in der Begründung der Zeichenkategorien relationenlogisch ansetzt und konsequenterweise keine vorgängigen Substanzialitäten und Gegenständlichkeiten voraussetzt, kann man die von ihm gefundenen Kategorien als Grundkategorien des Seins (miss-) verstehen, aus denen dann logischerweise eine pansemiotische Auffassung der Welt und eine Allzuständigkeit der Semiotik folgt. In der Peirce-Rezeption und der Peirce-Kritik ist diese ontologisch-pansemiotische Lektüre seiner Überlegungen besonders wirksam gewesen. Und innerhalb des semiotischen Diskurses ist der universalwissenschaftliche Anspruch auch nach wie vor lebendig, siehe nur Posner u. a.: Semiotik/Semiotics.

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wiederum vom Hörer im Sinne der ursprünglichen Intention interpretiert werden soll, zum Sender, der Informationen nach Maßgabe eines allgemeinen Codierungsschlüssels in eine verkehrsfähige Form bringt, die wiederum von einem Empfänger nach demselben Schlüssel in die Ursprungsinformation zurückverwandelt wird.13 Dieses Modell lenkte den analytischen Blick vor allem auf das Übersetzungsverhältnis zwischen der Form des physischen Zeichenträgers und der diesem Zeichenträger interpretativ zugewiesenen Bedeutung. Unberücksichtigt blieben in diesem Modell technische Probleme der physischen Adressierung von Empfängern, Probleme des Verhältnisses zwischen dem sinnlich-ästhetischen Eigenwert der Zeichenform und der mit dieser Form intendierten Bedeutung, Probleme der Motivation zur Kommunikationsteilnahme und, nicht zuletzt, Fragen des kulturellen Status, der kulturellen Reichweite und des historischen Wandels semiotisch rekonstruierbarer Interpretationsmöglichkeiten. Spürbar wurde diese programmatische Ausgrenzung wichtiger Gegenstandsaspekte durch die Beschleunigung des medialen Wandels und die permanente Relativierung und Restrukturierung etablierter Zeichensysteme. Die Medienwissenschaften, die darauf reagierten, waren eine geradezu antisemiotische Gründung: Die theoretischen Entwürfe, die heute allgemein als Diskursbegründungen der Medienwissenschaft gelten, entzündeten sich, von Brecht und Benjamin bis McLuhan und Baudrillard, allesamt und dezidiert an außersemiotischen, sinnlichen, technischen und gesellschaftlichen Evidenzen sowie der Verunsicherung und dem Wandel historisch etablierter Interpretationssysteme.14 Mit der Beschleunigung des medientechnologischen Wandels und der immer dynamischeren Ausdifferenzierung und systemischen Integration neuer ästhetischer Genres rückte die kulturelle und historische Relativität der Zeichenträgersysteme ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Vor diesem historischen Erfahrungshintergrund zeigt sich nun auch systematisch relativ umstandslos, dass das universalsemiotische Wissenschaftsprojekt auf einem Missverständnis beruhte. Der allgemeine Objektbereich der Semiotik, das Universum der Zeichen, so lässt sich heute mit freiem Auge erkennen, ist an sich gar kein Erkenntnisproblem! Denn anders als die Gegenstände des physikalischen Universums sind Zeichen per se reflexiv und bedürfen keiner gesellschaftlich gepflegten Sonderreflexivität, um gewusst zu werden. Erst die physisch-technische Supplementierung und Steuerung von Zeichenprozessen verlangt ein Wissen über die Logik von Zeichenprozessen und die 13 | Dieses Sender-Empfänger-Modell findet sich in außerordentlich vielen Studien dargestellt, ausdifferenziert und gegenstandsmäßig angepasst, so dass es mittlerweile ziemlich viele terminologisch unterschiedlich profilierte und diagrammatisch unterschiedliche visualisierte Versionen dieses Modells gibt. 14 | Einen detaillierten Überblick über die Etappen der Diskursbegründung verschafft Leschke: Einführung in die Medientheorie; zentrale Texte der medienwissenschaftlichen Diskursbegründung geben Pias u. a.: Kursbuch Medienkultur.

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wissenschaftliche Raffinierung und Kritik dieses Wissens. Erst Schrift und Buchdruck machen Sprache zum semiotisch relevanten Thema. Erst die Technologien des Bildes machen Sichtbarkeit zum Problem. Und erst die automatische Aufzeichnung, Speicherung und Wiedergabe von Klängen stellen das Hörbare prägnant zur Disposition und machen aus ihnen Gegenstände konzeptueller Gestaltung, die ohne ein Klangwissen, eine Semiotik des Auditiven, nicht zu haben ist. Eine gehaltvolle und produktive Klangsemiotik, die nicht lediglich die Logik der Musikdiskurse rekapituliert, muss sich entsprechend auf technische Paradigmen der Klanggestaltung beziehen. In der Geschichte der Semiotik hat die Ignoranz gegenüber ihrem technikgeschichtlichen Apriori dazu geführt, dass sie lediglich die bestehenden Wissensbestände der bild-, klangund textspezifischen Kunstpraxen reformulierte und ins semiotische Vokabular übersetzte. Dabei wurde verkannt, dass das semiotische Erkenntnisinteresse auf ein Bündel von technikgeschichtlichen Entwicklungen reagierte, die sich in ihren Effekten um 1900 zu einem kulturellen Epochenbruch aufsummierten. Die Diskursbegründung des modernen Strukturalismus und der modernen Semiotik um 1900 lässt sich als ein Versuch lesen, den ersten tiefgreifenden Technisierungsschub der gesellschaftlichen Zeichenproduktion nach der Erfindung des Buchdrucks wissenschaftlich aufzuklären. Und im Kontext des Wissenschaftsverständnisses des 19. Jahrhunderts konnte es kaum anders sein, dass die moderne Wissenschaft der Zeichen universalistisch, systematisch und typologisch orientiert war. Die erste historische Aufzeichnungs-, Speicher- und Distributionstechnologie von Zeichenkomplexen, die als Technologie produziert und rationalisiert wurde und eine Maschinisierung der Semiosphäre konstituierte, war der Buchdruck. Der Buchdruck mit beweglichen Lettern ermöglichte bekanntlich die massenhafte Reproduktion und Verteilung von Schriftstücken und machte das Sprachverstehen und die Grenzen des Verstehens zu einem relevanten gesellschaftlichen Thema: Wie adressiert man ein disperses, unbekanntes Publikum so, dass alle das Gemeinte verstehen? Wie versteht man einen Text, dessen Autor lange vor einem gelebt hat oder in einer ganz anderen kulturellen Umgebung? Die Konjunktur sprach- und literaturwissenschaftlicher Themen im 19. Jahrhundert war nicht nur deshalb eine Folge der Leserevolution um 180015, weil diese Wissenschaften die Verfügbarkeit von Texten voraussetzten, sondern weil die Technologie des Buchdrucks das sprachliche Sinnverstehen in einer massiven Weise aus dem Kontext situativer Anwesenheit löste. In der Interaktion von Anwesenden sind sprachliche Missverständnisse sozusagen mit Bordmitteln zu lösen. Bei medientechnisch auseinandergezogenen kommunikativen Bezügen geht das prinzipiell nicht. Um Verständnisprobleme zu lösen, braucht man, seit es Medientechnologien gibt, kulturwissenschaftliche Verstehensmodelle. 15 | Vgl. Schön: Der Verlust der Sinnlichkeit oder Die Verwandlungen des Lesers.

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Und der wissenschaftliche Diskurs folgt der Chronologie der Medientechnikgeschichte insofern, als die Problematisierung nichtsymbolischer Semiose, einer Semiose, die nicht auf Lektüre beruht, erst notwendig wurde, seit es Produktionstechnologien des Ikonischen und Indexikalischen gab, seit Photo- und Phonographie analoge Bilder und Klänge technisch verfügbar machten. Allerdings registrierte die Semiotik in der Zeit ihrer Diskursbegründung dies noch nicht, sondern war voll und ganz biblionom fokussiert. Das Phänomen, das ganz im Zentrum der Theoriebildung stand und zum Paradigma der Semiose schlechthin wurde, war die symbolische Semiose, der Vollzug eines konventionellen, und daher begrifflich vermittelten Quidproquo. Das sinnliche Erleben und die somatischen Wirkungen von Visuellem und Auditivem, also die Klang- und Bildsemiose, wurde systematisch ausgespart bzw. als Lektüre rekonstruiert.

3. D AS TECHNISCHE P RINZIP DER Z WEIKL ANGLICHKEIT UND DIE GESELLSCHAF TLICHE Z ÜCHTUNG VON K L ANGKRISTALLEN Die Schwierigkeiten der Semiotik, die Semiose des Klangs gehaltvoll zu entwerfen, lässt sich medientechnikgeschichtlich sowohl begründen als auch aufheben. Dafür ist es notwendig, die vortechnische Klanglichkeit von ihrer technischen Supplementierung abzuheben: Klänge sind zunächst einmal ›natürliche‹ Klänge, d. h. auditive Signaturen von Ereignissen und Handlungen. Wir identifizieren Klänge durch die Namen der sie hervorbringenden Geschehnisse, Lebewesen und instrumentellen Vollzüge. Wir hören und identifizieren den Klang eines Regenschauers, eines Steins, der eine Geröllhalde hinunterrollt, wir hören und identifizieren das Miauen einer Katze und die Anrede durch einen anderen Menschen (selbst wenn wir seine Sprache nicht verstehen), wir hören und identifizieren Trommel-, Pfeif- und Saitenklänge. Diese Identifizierbarkeit natürlicher Klänge ist so selbstverständlich, dass es zunächst keiner Kulturwissenschaft des Klangs bedarf, denn er ist in seiner natürlichen Form transhistorisch selbstverständlich. Nichtselbstverständlich ist dagegen die Verbindung von Klängen in Form von Harmonien, Rhythmen, Melodien und Instrumentalensembles. Der praktische Musikdiskurs und später die Musikwissenschaft haben sich daher auf genau diese Aspekte konzentriert. Eine allgemeine Theorie von Zeichensystemen und -prozessen muss erst dann komplex entfaltet werden, wenn das, was die Zeichen formal vergegenwärtigen und wie sie es vergegenwärtigen, nicht mehr auf selbstverständlichen, performativ eingeübten Praktiken beruht, wie die bildnerische Vergegenwärtigung von Ansichten, die stimmliche und akustischen Imitation von Lauten. Und das ist dann der Fall, wenn die Semiose und ihre performative Handhabung durch Technologien manipuliert

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wird, die sich einerseits vom leiblich Selbstverständlichen entfernen und andererseits die Modulierbarkeit der Zeichenprozesse in Raum und Zeit deutlich erweitern, wenn, mit anderen Worten, durch vorgegebene Geräte, deren Funktionsweisen nicht mehr im Einzelnen bekannt sein müssen, Klangformen aufgezeichnet, automatisch bearbeitet, gespeichert und distribuiert werden. Das Spezifikum solcher technisch vermittelten Klänge, das paradigmatisch Neue an den medientechnischen Klängen um 1900 ist der Widerstreit, den sie dem Hören zumuten, ihre offenbare Zweiklanglichkeit. Ein Hundebellen, das durch ein Grammophon vergegenwärtigt wird, klingt nach Hundebellen und nach Grammophon. Eine menschliche Stimme, deren Nahsound vorher nur Liebenden zugänglich war, und der jetzt durch Mikrophonie veröffentlicht werden kann, klingt nach intimer Stimme und nach Mikrophon und Lautsprecher. Und es bleibt nicht bei dieser Zweiklanglichkeit. Popsongs, wie etwa die Ballade auf einen medialen Umbruch der Popkultur Video Killed the Radio Star, integrieren fingierte Radiostimmen, so dass im Radio auf einmal der Klang des Radios gehört werden kann. Überboten wird diese schon erstaunliche, hörbare Reflexivität des Klanglichen noch im digitalen Medienumbruch, der durch die Techniken des Samplings spezifische Klangreflexionen in äußerst komplexe Klangkonfigurationen versetzt. Durch diese technische Entkontextualisierung und Remediatisierung medialer Klangcharaktere entsteht ein Phänomen, dass vor den Medien nur durch äußerst angestrengte Epoché zu haben war: reine Hörbarkeit, die semiotisch kein klingendes Geschehen oder ein seine Innerlichkeit artikulierendes Lebewesen zur Geltung bringt, sondern referenzlos auf die reine Auditivität des Klanglichen selbst verweist. Seither ist unangestrengt zu hören, dass es artifizielle Hörbarkeit gibt, seither wissen wir, dass wir als Hörende keine passiven Opfer der Akustik des Physischen sind, sondern Teilnehmer einer gesellschaftlichen Produktion des Auditiven. Seit dem digitalen Medienumbruch tritt uns die hörbare Welt mehr und mehr als eine gesellschaftliche Züchtungsstation von Klangkristallen gegenüber, als eine Ökonomie der Klangwerte, die durch Konjunkturen und konjunkturellen Einbrüche, Apotheosen und Subversionen gekennzeichnet ist. Die potenzielle Mehrklanglichkeit der technisch umfassend kontrollierbaren Audiomedialität eröffnet eine gesellschaftliche Reflexivität der Klangkombinatorik, für die jede aufmerksamkeitsträchtige Form zur hörbaren Selektion im Spektrum artifizieller Hörbarkeit wird. Diese gesellschaftlich ausgehandelte Klangzucht scheint mir der legitime Gegenstand einer Klangsemiotik zu sein, die einerseits kategorial und andererseits an konkretem historischen Material auf den Begriff zu bringen hätte, was man mit Niklas Luhmann als den Sound der Gesellschaft bezeichnen könnte. Die kleinste, nicht Bedeutung tragende, sondern Klang vermittelnde Einheit wäre entsprechend die Klangoberfläche einer technisch be-

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schreibbaren Klangquelle, vor deren Hintergrund ein anderer Klang zur Geltung gebracht werden kann. Die Einfachheit dieser Einheit begründet sich durch ihre Artifizialität. Während natürliche Klangphänomene, der Klang eines Geschehens oder einer lebendigen Artikulation, immer ein Moment von Mehrdeutigkeit behält – einerseits hinsichtlich der prinzipiellen Unabgeschlossenheit jedes klingenden Geschehens, andererseits hinsichtlich der prinzipiellen Verborgenheit innerer Zustände –, kommt der Hörbarkeit des technischen Klangmediums eine ganz eigentümliche semiotische Selbstverständlichkeit zu: Seine Hörbarkeit ist nicht eine ›beiher spielende‹ Eigenschaft, wie man mit Hegel sagen könnte, sondern dasjenige, was den Sinn der Sache vollständig enthüllt, denn Klangmedien sind nicht die hörbare Erscheinung eines unhörbaren Sachverhalts, eines physischen Geschehens oder einer inneren Befindlichkeit; Klangmedien sind vielmehr hörbar einzig und allein deshalb, weil sie hörbar sein sollen. Wer Klangmedien als solche identifiziert, der identifiziert das Dispositiv des Hörens, das sie sind; die hörende Person versteht implizit, durch sozial eingeübte Nutzungspraktiken, in welche prädisponierte Anordnung zu einer Klangquelle sie getreten ist oder treten soll, um hören zu können, was nach Maßgabe des Mediums gehört werden soll. Auf diese Weise entsteht etwas ganz Bemerkenswertes: Dadurch dass der Klang eines technischen Mediums (etwa der Klang eines laufenden Grammophons in Absehung von der Klanggestalt, dessen Hintergrund der Grammophonklang ist) als solcher nichts Besonderes zur Geltung bringt, sondern ein allgemeines, technisch reproduzierbares Dispositiv des Hörens versinnlicht, schafft der Medienklang eine potenziell allgegenwärtige, feste Form reiner Hörbarkeit. Diese Form reiner Hörbarkeit erscheint durch ihre Artifizialität und wegen ihrer Artifizialität als ein hörbarer acte gratuit, als ein autonomer Klangvollzug ohne situative Referenz. Der Medienklang ist damit für jeden Hörenden, der ihn als solchen versteht, als kollektives Hörerlebnis gegenwärtig Und wenn eine solche feste Form reiner, kollektiver Hörbarkeit ihrerseits zum Gegenstand medialer Darstellung wird, wie etwa im Fall des Popsongs Video Killed the Radio Star, dann ereignet sich noch etwas viel Bemerkenswerteres: Kollektive Hörbarkeit wird reflexiv; wir hören, mittels welcher artifizieller Hörbarkeiten wir uns auditiv etwas mitteilen können. Wir hören die gesellschaftlich zur Verfügung stehenden Klangpotenziale. Vor diesem Hintergrund, in Kenntnis dieser Klangpotenziale, wird jeder Sound zu einem vorbegrifflichen, hörbaren Statement über die gesellschaftlichen Dispositive des Hörens, denn jedes mediale Klangdispositiv ist eingelassen in gesellschaftliche Praktiken ihrer Produktion und Nutzung, die mit dem Klangdispositiv reproduziert und in ihrer Remediatisierung referenziert werden. Die vorbegrifflichen, hörbaren Statements gesellschaftlicher Sounds zeigen uns, wie zu hören und wie nicht zu hören sei. In den ausdifferenzierten artifiziellen Klanglandschaf-

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ten16 des Mediensystems der Gesellschaft treten die Klangdispositive in einen vorbegrifflichen Kommunikationszusammenhang, in dem klangliche Normen und ihre respektiven Praktiken in einander widerstreitende Klangkulturen kristallisieren. Einige vorläufige Höreindrücke mögen die Richtungen andeuten, in denen Klangmaterialien thematisiert werden könnten: So nimmt etwa der gleichmäßig frequenzsatte, aber relativ dynamikarme Sound aktueller Popmusik aggressiv polemisch Stellung gegenüber dem vergleichsweise distanziert-unnahbaren, aber ungleich dynamischeren Konzertsound der europäischen Kunstmusik. Die trockene, die Technizität des Gitarrenverstärkers hörbar zur Geltung bringenden Produktionen des späten Lou Reed17 verhalten sich apotheotisch zur elektrogitarristischen Praktik und höhnisch gegenüber tüftelnden harmonischen Arrangements. Die Remix-Kultur der Klänge verhält sich insgesamt ironisch zum Pathos des Originalklangs, während die zirpenden elektronischen Klangteppiche, die etwa im Neo-Country einer Band wie Lambchop die akustische Faktur der Songs unheimlich grundieren18, das Hier und Jetzt des Originalklangs in ein Utopia entrücken. Eine Klangsemiotik auf der Höhe der technischen Medien hätte auf solche kontrastiven Stellungnahmen der Klangwelten zu achten, um die historische wie aktuelle Semiose technischer Klangmedien als implizite Soundpolitik der Gesellschaft zu dechiffrieren.

L ITER ATUR Diederichsen, Diedrich: »Drei Typen von Klangzeichen«, in: Schulze, Holger (Hrsg.): Sound Studies. Traditionen – Methoden – Desiderate. Eine Einführung, Bielefeld 2008, S. 109-123. Großmann, Rolf: Musik als Kommunikation. Zur Theorie musikalischer Kommunikationshandlungen, Braunschweig 1990. Lambchop: Is A Woman, USA 2002, Audio-CD. Lefebvre, Henri: »Musique et sémiologie«, in: Musique en jeu, IV, 1975, S. 52-62. Leschke, Rainer: Einführung in die Medientheorie, München 2003. Morris, Charles W.: »Foundations of the Unity of Science«, in: ders.: Towards an International Encyclopedia of Unified Science, Bd. 1.2, Chicago 1938. Nattiez, Jean-Jaques: Music and Discourse. Toward a Semiology of Music, 16 | Dass dieser glückliche Begriff Murray Shaffers ein wertvoller point of departure für die medientechnologische, medienästhetisch und mediensemiotische Diskussion artifizieller Hörbarkeiten wäre, soll hier wenigstens markiert werden. Vgl. Schafer: Die Ordnung der Klänge. 17 | Vgl. z. B. Reed: Ecstasy. 18 | Vgl. z. B. Lambchop: Is A Woman.

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[ frz. Orig.: ders.: Musicologie générale et sémiologie, Paris 1987], New Jersey 1990. Nöth, Winfried: Handbuch der Semiotik, Stuttgart 2000. Peirce, Charles Sanders: Phänomen und Logik der Zeichen, hrsg. und aus dem Amerik. übers. v. Helmut Pape, Frankfurt a. M. 1983. Pias, Claus u. a. (Hrsg.): Kursbuch Medienkultur. Die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard, Stuttgart 2000. Posner, Roland u. a. (Hrsg.): Semiotik/Semiotics: Ein Handbuch zu den zeichentheoretischen Grundlagen von Natur und Kultur, 4 Bde., Berlin u. a. 1997–2004. Reed, Lou: Ecstasy, USA 2000, Audio-CD. Saussure, Ferdinand de: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, hrsg. v. Bally, Charles/Sechehaye, Albert, aus d. Franz. übers. v. Hermann Lommel, 3. Aufl. m. e. Nachw. v. Peter Ernst, Berlin 2001. Schafer, R. Murray: Die Ordnung der Klänge. Eine Kulturgeschichte des Hörens, hrsg. und neu übersetzt v. Sabine Breitsameter, Mainz 2010. Schön, Erich: Der Verlust der Sinnlichkeit oder Die Verwandlungen des Lesers. Mentalitätswandel um 1800, Stuttgart 1993. Seeger, Charles: »On the Moods of a Musical Logic«, in: ders.: Studies in Musicology 1935–1975, Berkeley 1977, S. 64-88. Tagg, Philip: Music’s Meanings. A Musicology for Non-Musicologists, http://www.tagg.org/texts.html#Books, 2011, 30.03.2012. The Buggles: Video Killed the Radio Star. The Age of Plastic, GB 1980, LP. Wiesing, Lambert: Das Mich der Wahrnehmung. Eine Autopsie, Frankfurt a. M. 2008.

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Zur Historizität des Hörens Ansätze für eine Geschichte auditiver Kulturen * Daniel Morat

Folgt man zwei einschlägigen Sammelbänden aus dem Jahr 2008, findet der aktuelle acoustic turn in den Geistes- und Kulturwissenschaften offenbar weitgehend ohne Beteiligung der Geschichtswissenschaft statt: Sowohl in dem 2008 von Petra Maria Meyer herausgegebenen Band mit dem gleichnamigen Titel als auch in dem Sammelband Sound Studies. Traditionen – Methoden – Desiderate. Eine Einführung von Holger Schulze schreiben neben Medien- und Musikwissenschaftler/innen auch Philosoph/inn/en und Theaterwissenschaftler/innen, Komponist/inn/en, Klangkünstler/ innen und Medien-Designer/innen, aber keine Historiker/innen.1 Tatsächlich spielt die Geschichte im Feld der »sound culture studies«2 bisher eine eher untergeordnete Rolle, besonders im deutschsprachigen Raum. Umgekehrt gilt, dass auch die deutsche Geschichtswissenschaft – im Unterschied etwa zur anglo-amerikanischen – gerade erst damit beginnt, sich für Fragen des Akustischen und Auditiven in der Geschichte zu interessieren.3 Beide Seiten könnten jedoch von einem intensiveren Austausch profitieren. Das gilt in besonderem Maße für eine medienwissenschaftliche Klangforschung, die bestrebt ist, über die Analyse der spezifischen Medialität ihres Gegenstands hinaus Klangkulturen in den Blick zu nehmen, bei denen nicht die akustischen Medien selbst im Vordergrund stehen, * | Eine frühere Fassung dieses Essays ist erschienen als Morat: »Sound Studies – Sound Histories« 1 | Vgl. Meyer: Acoustic Turn; Schulze: Sound Studies. 2 | Hilmes: »Is There a Field Called Sound Culture Studies?«. 3 | Vgl. Müller: »›The Sound of Silence‹« sowie das Themenheft der Zeithistorischen Forschungen/Studies in Contemporary History, Jg. 8, Nr. 2, 2011 zum Thema »Politik und Kultur des Klangs im 20. Jahrhundert«; für die schon etwas länger andauernde Debatte in der englischsprachigen Geschichtswissenschaft vgl. stellvertretend Smith: Hearing History.

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sondern der soziale Umgang mit ihnen, mithin soziale Klangpraktiken. Im Folgenden sollen einige Anregungen herausgearbeitet werden, die die Geschichtswissenschaft für eine so verstandene Klangforschung geben kann. Dies erfolgt in erster Linie in Auseinandersetzung mit einer Reihe geschichtswissenschaftlicher Studien der letzten Jahre. Im letzten Abschnitt werden diese Anregungen dann unter den Leitbegriffen »Historisierung«, »Aneignung« und »Kontextualisierung« zusammengefasst.

H ISTORISCHE A NTHROPOLOGIE DES H ÖRENS Im Zuge einer allgemeinen Hochkonjunktur der Mediengeschichte sind in den letzten Jahren auch einige historische Forschungsprojekte zur Geschichte der akustischen Medien und insbesondere zur Radiogeschichte entstanden. Daneben finden sich auch neuere Arbeiten über die Geschichte der Musikkultur, über Rezeptionsgeschichte und Musik im Kontext nationaler Identitätspolitik und ähnliches.4 Diese Arbeiten haben nicht zuletzt von Anregungen aus der Medien- und der Musikwissenschaft profitiert. Fragt man jedoch umgekehrt nach dem Anregungspotential der Geschichtswissenschaft für die medienwissenschaftliche Klangforschung, so lohnt es sich, den Blick auf eine Reihe von Arbeiten zur Geschichte des Hörens und der Klangpraktiken zu lenken, die sich weder speziell mit akustischen Medien noch mit Musik beschäftigen. Solche Arbeiten findet man zum Beispiel im Kontext einer historischen Anthropologie der Sinneswahrnehmung, wie sie – in der Tradition der französischen Annales-Schule und auf Anregungen Lucien Febvres zurückgehend – von Alain Corbin entworfen und betrieben wurde.5 Corbin hat nicht nur ein berühmtes Buch über die Geschichte des Geruchs in der Frühen Neuzeit geschrieben.6 1994 veröffentlichte er auch eine Arbeit über Die Sprache der Glocken, in der er auf verschiedenen Ebenen die Herstellung einer symbolischen Ordnung durch den Klang und den Gebrauch der Kirchenglocken im Frankreich des 19. Jahrhunderts untersucht.7 Dabei geht es ihm zum einen um die sozialen und politischen Konflikte, die am Gegenstand der ländlichen Kirchenglocken ausgefochten wurden. Zum anderen argumentiert er, dass diese Konflikte eben nicht nur als politische und soziale Konflikte zu analysieren sind, sondern dass es in ihnen auch um das »Affektsystem« ging, das die Lebenswirklichkeit der historischen Akteure prägte und sie zu dem machte, was sie waren, d. h. das an ihrer Identitätsbildung beteiligt war. Am Beispiel 4 | Vgl. für einen breiteren Literaturüberblick Morat: »Zur Geschichte des Hörens«. 5 | Vgl. Corbin: »Geschichte und Anthropologie der Sinneswahrnehmung«; dazu auch Morat: »Sinne«; zum Begriff der Historischen Anthropologie Tanner: Historische Anthropologie zur Einführung. 6 | Vgl. Corbin: Pesthauch und Blütenduft. 7 | Corbin: Die Sprache der Glocken.

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der Französischen Revolution, mit der das Buch beginnt, macht Corbin deutlich, dass die Glockenpolitik des Nationalkonvents genau auf diese Schicht der Identitätsbildung zielte. Den revolutionären Versuch, die Glockenordnung radikal neu zu strukturieren, beschreibt er wie folgt: Die Machthaber der Republik versuchten, dem Instrument [also der Glocke] das Sakrale zu nehmen, seinen religiösen Gebrauch zu beschränken, seine sensorische Präsenz zu mindern und seine Feierlichkeit zu monopolisieren. Sie bemühten sich gleichzeitig, die Geläute zu säkularisieren und zu kommunalisieren und sie nationalen Bezügen und dem Rhythmus staatsbürgerlicher Betätigung unterzuordnen. Alle diese Ziele veranlaßten sie, den Gemeinden das Recht auf Lärm abzusprechen, ihr Bedürfnis nach Sakralisierung von Zeit und Raum zu bestreiten und also das System der Sinneskultur selbst zu verändern. 8

An anderer Stelle spricht Corbin auch vom »Wille[n] zur Disziplinierung von Geräuschen und Klängen«9, der mit dem Anspruch der Disziplinierung der neuen Republikbürger einherging, welchem sich diese gleichwohl widersetzten. Indem Corbin so nach Herrschaftsausübung und Herrschaftsverweigerung fragt, stellt er die typischen Fragen der Politikgeschichte. Er tut das jedoch in einer Perspektive, in der auch symbolische Handlungen und Deutungen, Mentalitäten und Alltagspraktiken als Teil des Politischen anerkannt werden. In diesem Sinn ist auch die Geschichte der sinnlichen Wahrnehmung und in diesem Fall konkret des Hörens und der Klänge Teil der politischen Geschichte. In ganz ähnlicher Weise hat sich Mark M. Smith mit den Klangkulturen des nordamerikanischen 19. Jahrhunderts beschäftigt. In seiner 2001 erschienenen Studie mit dem Titel Listening to Nineteenth-Century America untersucht er das, was er »aural sectionalism« nennt, also die Arten und Weisen, in denen sich im industrialisierten Norden und im Plantagensüden der USA seit Beginn des 19. Jahrhunderts unterschiedliche Klangkulturen herausgebildet haben.10 Dabei geht es nicht nur darum, inwiefern der Norden anders geklungen hat als der Süden, sondern vor allen Dingen darum, welche ›sound images‹ sich jeweils der Norden vom Süden und der Süden vom Norden gemacht hat. Indem Smith die auditive Konstruktion des Anderen rekonstruiert, erschließt er die akustische Dimension der Sklavenfrage und des »sectional consciousness«, also des Trennungsbewusstseins zwischen Norden und Süden, das schließlich in 8 | Ebd., S. 21. 9 | Ebd., S. 47. 10 | Smith: Listening to Nineteenth-Century America, S. 147. Smiths Arbeit ist zugleich ein Beispiel dafür, dass die Frage nach dem Klang in der anglo-amerikanischen Geschichtswissenschaft schon sehr viel mehr Aufmerksamkeit erfahren hat als in der deutschen; vgl. etwa auch Johnson: Listening in Paris; Picker: Victorian Soundscapes; Rath: How Early America Sounded; Schmidt: Hearing Things; Smith: The Acoustic World of Early Modern England; Smith: Hearing History.

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den Amerikanischen Bürgerkrieg geführt hat.11 Auch hier handelt es sich also um Klanggeschichte als Teil der politischen Geschichte,12 wobei es Smith nicht nur darum geht, einer im Prinzip schon bekannten Geschichte lediglich »texture, meaning, and depth« zu verleihen, wie er an einer Stelle schreibt. Es geht ihm auch darum, »new storylines« zu eröffnen, also Geschichten neu zu erzählen und besser zu verstehen, indem man sie auf ihre akustische Dimension hin befragt.13 Zwei Dinge lassen sich sowohl für Corbin wie für Smith sagen: Bei beiden geht es erstens um die symbolische Bedeutung von Klangsystemen. »Sounds carry meaning«14 , wie Smith trocken schreibt. Das heißt, sie haben Bedeutung für etwas beziehungsweise für jemanden. Sie sind also zweitens nicht isoliert zu untersuchen, sondern immer in ihrem politischen, sozialen und kulturellen Kontext. »Sounds and their meanings are shaped by the cultural, economic, and political contexts in which they are produced and heard.«15 Auditive Geschichte ist demnach nur als Teil einer allgemeinen Geschichte sinnvoll, in der sich Klang und Kontext wechselseitig erhellen. Im Übrigen ist Smith ebenso wie Corbin nicht allein an einer Geschichte des Hörens interessiert, sondern allgemein an einer Sinnesgeschichte, in der die synästhetische Qualität unserer sinnlichen Wahrnehmung ernst genommen wird. Dieses Programm hat Smith in einem 2007 erschienenen Buchessay mit dem Titel Sensing the Past. Seeing, Hearing, Smelling, Tasting, and Touching in History genauer ausformuliert.16 Dabei orientiert er sich unter anderem stark an der anglo-amerikanischen Ethnologie und Kulturanthropologie, in der Leute wie David Howes und Constance Classen seit längerem eine »anthropology of the senses« vertreten.17 Smith organisiert seine Skizze einer möglichen Geschichte der Sinneswahrnehmung in diesem Essay entlang einer Leitfrage, die wiederum durch das geprägt ist, was Smith die »great divide theory«18 nennt. Damit ist in erster Linie die Medientheorie von Marshall McLuhan und Walter 11 | Smith: Listening to Nineteenth-Century America, S. 15. 12 | Für eine »political history of the senses« hat jüngst auch Sophia Rosenfeld am Beispiel des politischen Redens und des politischen Zuhörens in demokratischen Kulturen plädiert; vgl. Rosenfeld: »On Being Heard«, S. 334; vgl. für den Begriff der Klanggeschichte im deutschen Kontext Missfelder: »Period Ear«. 13 | Smith: Listening to Nineteenth-Century America, S. 262. 14 | Ebd, S. 266. 15 | Ebd. S. 7. 16 | Vgl. Smith: Sensing the Past. 17 | Vgl. Classen: Worlds of Sense; Howes: Sensual Relations; ders.: Empire of the Senses; daneben auch Erlmann: Hearing Cultures. Die Orientierung an der Ethnologie und Kulturanthropologie ist im Übrigen auch für die historische Anthropologie in Deutschland und Frankreich kennzeichnend. 18 | Smith: Sensing the Past, S. 8.

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Ong gemeint, die einen säkularen Wandel von der vormodernen Mündlichkeit zur modernen (Druck-)Schriftlichkeit annimmt, der in erster Linie durch die Erfindung und Verbreitung des Buchdrucks am Beginn der Moderne ausgelöst worden sei. Dieser Wandel von der Oralität zur Literalität bzw. zur print culture gehe dabei mit einem Wandel in der Hierarchie der Sinne einher, die sich vom Primat des Hörens zum Primat des Sehens verschoben habe. Die These von einer Hegemonie des Visuellen in der Moderne ist im Anschluss an McLuhan und Ong unter anderem durch Verweise auf die Entdeckung der Perspektive in der Renaissance, die Herausbildung des cartesianischen Erkenntnissubjekts als Beobachtersubjekt, die visuellen Leitmetaphern der Aufklärung und schließlich auf die Entwicklung der optischen Medien und hier besonders der optischen Reproduktionstechniken der Fotografie und des Films im 19. Jahrhundert ausgearbeitet und untermauert worden.19 Die so entfaltete historische Gegenüberstellung von vormodernem Hören und modernem Sehen erlaubte zudem auch eine (wenn man so will: koloniale) Gegenüberstellung von primitiven oralen und entwickelten visuellen Kulturen bzw. Gesellschaften. Der Essay von Mark M. Smith sucht nun nach Wegen, diese »great divide theory« zu überwinden, bzw. er stellt Ansätze vor, die bereits jenseits dieser »great divide theory« operieren. Dabei geht es nicht darum, die enorme Aufwertung des Sehens durch die genannten Faktoren vom Buchdruck bis zur Fotografie und damit die Bedeutung des Sehens für die Moderne gänzlich zu leugnen. Aber Smith sucht doch zu Recht deutlich zu machen, dass es sich bei dieser Aufwertung nicht um ein Nullsummenspiel gehandelt hat, dass mithin die anderen Sinne und besonders das Hören nicht gänzlich marginalisiert worden sind und weiterhin an der Weltwahrnehmung und der Bedeutungsproduktion der historischen Akteure in der Moderne beteiligt blieben: In fact, hearing, sound, and aurality generally were critical in many ways to the unfolding of modernity and to downplay its importance only deafens us to the meaning and trajectory of key developments of the post-Enlightenment era. 20

In seinem Essay beschäftigt sich Smith auch mit der methodischen Frage, mit welchen Quellen eine Geschichte der Sinneswahrnehmung zu schreiben ist und welche Rolle die eigene Sinneswahrnehmung dabei spielen kann. Anders als etwa Peter Charles Hoffer21 geht Smith nicht davon aus, dass mit einer Rekonstruktion und »Präsentifikation« vergangener Sinneswelten – wie sie in amerikanischen Geschichtsparks wie etwa Colonial Williamsburg angestrebt wird – Entscheidendes über die vergangene Be19 | Vgl. dazu etwa Jay: »Scopic Regimes of Modernity«; Levin: Modernity and the Hegemony of Vision. 20 | Smith: Sensing the Past, S. 58. 21 | Vgl. Hoffer: Sensory Worlds of Early America.

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deutung dieser Sinneswelten herauszufinden ist, denn »it is impossible to experience those sensations the same way as those who heard the hammer or music, tasted the food, or smelled the dung«22 . Es kommt nicht darauf an, wie die historischen Klänge »eigentlich geklungen« haben (um Leopold von Ranke abzuwandeln), sondern welche Bedeutung sie für die Zeitgenossen hatten. Diese kulturelle, soziale und politische Bedeutung der Sinneswahrnehmungen lässt sich auch aus der schriftlichen Überlieferung der Zeit rekonstruieren.

L ÄRM UND (U MWELT-)G ESCHICHTE Ähnlich argumentiert auch die niederländische Technikhistorikerin Karin Bijsterveld in ihrem 2008 erschienenen Buch Mechanical Sound. Technology, Culture, and Public Problems of Noise in the Twentieth Century.23 Obwohl sie sich mit dem 20. Jahrhundert beschäftigt, aus dem bekanntlich Klangaufzeichnungen vorliegen, greift sie kaum auf diese zurück. Stattdessen untersucht sie anhand schriftlicher Quellen, wie und unter welchen Bedingungen industrieller bzw. technischer Lärm zum öffentlichen Problem gemacht wurde und welchen Formen der Dramatisierung die öffentliche Thematisierung dabei folgte. Auch hier geht es also um politische und soziale Konflikte, die am Gegenstand des Lärms ausgetragen wurden. In einem aufschlussreichen Kapitel über »industrial hearing loss« zeigt sie beispielsweise anhand von Auseinandersetzungen in den Niederlanden in den 1960er Jahren, dass die Dramatisierung des Arbeitslärmproblems durch die Gesundheitsexperten, die den Arbeitern die Benutzung von Gehörschutz dringend empfahlen, an deren Arbeitswirklichkeit gerade vorbeiging. Diese verzichteten auf den Gehörschutz nicht primär, weil sie die Gesundheitsrisiken nicht ernst nahmen, sondern weil das Aushaltenkönnen des Lärms auch zu den Attributen proletarischer Männlichkeit gehörte und vor allen Dingen weil das Gehör bei der Bedienung und Kontrolle der Maschinen für sie von großer Bedeutung war. Bijsterveld spricht hier von der »shop floor culture of listening to machines«24 , die mit dem Tragen von Gehörschutz nicht vereinbar war. Indem Bijsterveld die »cultural meanings of sound«25 in die Untersuchung der Lärmproblematik mit einbezieht, schließt sie an Corbin und Smith an und geht über die umwelthistorische Perspektive hinaus, in der die geschichtswissenschaftlichen Arbeiten zum Lärm in der industrialisierten und urbanisierten Moderne bisher meistens geschrieben wurden. Das gilt etwa für zwei längere Aufsätze aus den 1990er Jahren, in denen sich der deutsche Sozialhistoriker Klaus Saul mit der Lärmprob22 | Smith: Sensing the Past, S. 121. 23 | Bijsterveld: Mechanical Sound. 24 | Ebd. S. 80. 25 | Ebd.

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lematik im Deutschen Kaiserreich beschäftigt hat. In diesen Aufsätzen spricht Saul ganz selbstverständlich und ohne das eigens zu diskutieren oder zu begründen vom Lärm als einem »Faktor der Umweltbelastung« und von »akustische[r] Umweltverschmutzung«.26 In beiden Aufsätzen geht es zum einen um die materiellen Grundlagen der veränderten Lärmproblematik um 1900, also um Industrialisierung, Urbanisierung und Technisierung und ihre klanglichen Begleiterscheinungen. Zum anderen behandelt Saul dann sowohl die Klagen über Lärmbelästigung anhand von Gerichtsquellen und publizistischen Äußerungen als auch die praktischen Versuche zur Lärmeindämmung durch gesetzliche Verordnungen, bauliche Maßnahme wie die Asphaltierungen der Straßen und bürgerschaftliche Kampagnen wie sie der 1908 von Theodor Lessing gegründete und bis 1911 von ihm geleitete Deutsche Lärmschutzverband initiierte. Es geht also zum einen um die Materialität der Lärmverhältnisse und zum anderen um die Wahrnehmungs- und Deutungsmuster, in denen sich die Zeitgenossen mit diesen Lärmverhältnissen auseinandergesetzt haben. Diese umwelthistorische Perspektive auf das Lärmproblem kann sich auf einen der wichtigsten Pioniere der ökologischen Klangforschung berufen, auf den kanadische Komponisten und Klangforscher R. Murray Schafer. Dieser prägte schon in den 1960er Jahren den Begriff »Soundscape«, der ins Deutsche als »Klanglandschaft« übersetzt werden kann.27 1971 rief Schafer an der Simon Fraser Universität in British Columbia das World Soundscape Project ins Leben, das der vergleichenden Erforschung von Klanglandschaften gewidmet war. Treibender Impuls war dabei das Bewusstsein eines Wandels der ›akustischen Umwelt‹ durch Industrialisierung und Urbanisierung, und zwar im Sinne einer Degeneration, wie Barry Truax, enger Mitstreiter von Schafer, 1977 in der Einleitung zum Handbook for Acoustic Ecology schrieb.28 Die umfangreichen Freiluft-Tonaufzeichnungen des Projekts dienten damit auch präservatorischen Zwecken. Zugleich sollten die Veröffentlichungen und Aktivitäten des Projekts der Hörerziehung dienen und das Bewusstsein für die Klangumwelt schärfen. Das World Soundscape Project um Schafer und Truax hat ausgefeilte Methoden und eine elaborierte Begrifflichkeit zur Analyse und Beschreibung der akustischen Umwelt entwickelt, die auch für eine heutige Geschichte des Hörens nützlich sein können. Die Definition des Begriffs ›Soundscape‹ kombiniert dabei die Beschreibung der akustischen Umwelt mit deren Wahrnehmung und Deutung. »The nature of the soundscape is that it joins the outer physical reality to the inner mental processes of understanding it; in fact it is the relationship between the two«,29 26 | Saul: »›Kein Zeitalter seit Erschaffung der Welt hat so viel und so ungeheuerlichen Lärm gemacht...‹«, S. 187; ders.: »Wider die ›Lärmpest‹«. 27 | Vgl. Schafer: The Soundscape. 28 | Truax: »Introduction to the First Edition«. 29 | Ebd.

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wie Barry Truax schreibt. Oder in der Formulierung von Emily Thompson: »Like a landscape, a soundscape is simultaneously a physical environment and a way of perceiving that environment; it is both a world and a culture constructed to make sense of that world.«30 Auch die von Schafer vertretene historische These eines Übergangs vom »Hi-Fi-Soundscape« der Vormoderne zum »Lo-Fi-Soundscape« der industriellen Moderne ist nicht einfach von der Hand zu weisen. Mit dieser These meint Schafer nicht, dass es in der Vormoderne einfach leiser gewesen sei als heute, sondern dass die einzelnen Geräusche klarer voneinander zu trennen gewesen seien, während die industrielle Moderne durch ein Grundrauschen geprägt sei, in dem die einzelnen Geräusche verschwimmen. So habe überhaupt erst das industrielle Zeitalter die »flat line in sound« hervorgebracht, also etwa das Summen eines Generators oder Ventilators.31 Schon bei Schafer besteht jedoch das normative und in der Folge methodische Problem, dass dieser Übergang vom Hi-Fi- zum Lo-Fi-Soundscape von vorne herein als Form der »noise pollution« und damit als Degeneration gefasst wird. Dieses normativ-methodische Problem bleibt auch bei allen späteren Arbeiten bestehen, die sich der Frage nach dem Klang und dem Hören in der technischen Moderne vornehmlich in umwelthistorischer Perspektive nähern und deren akustische Veränderungen von vorne herein als akustische Umweltverschmutzung verstehen.32 Bei dieser Vorannahme gerät häufig aus dem Blick, in welchem Maße Auseinandersetzungen um den Lärm soziale und politische Konflikte waren, in denen es zu allererst um die Definition dessen ging, was überhaupt als Lärm zu qualifizieren ist.33 Denn Lärm ist nicht messbar. Allenfalls sind Geräuschintensitäten und -qualitäten messbar. Ob diese aber als Lärm oder als Bereicherung der akustischen Umwelt erfahren werden, ist Gegenstand der sozialen Auseinandersetzung und Aushandlung. »Lärm ist das Geräusch der anderen«34 , wie Kurt Tucholsky schrieb. In diesem Sinn ist Lärm immer schon eine soziale Kategorie. Mit diesem Argument ist auch das Problem des Anthropozentrismus berührt, wobei das nicht nur den Lärm, sondern jede Beschäftigung mit Klang betrifft. Denn Klang ist, darauf weist Jonathan Sterne in seinem Buch The Audible Past. Cultural Origins of Sound Reproduction mit Nachdruck hin, per Definition eine Kategorie der Wahrnehmung und damit an den Menschen gebunden. Klang ist die Luftschwingung, die gehört wird, 30 | Thompson: The Soundscape of Modernity, S. 1. Emily Thompsons bezieht sich in ihrer Arbeit über die wissenschaftliche Akustik zwar auf den SoundscapeBegriff von Schafer, folgt methodisch aber nicht dessen Positivismus, sondern einem wissenschaftshistorischen Konstruktivismus. 31 | Vgl. Schafer: The Soundscape, S. 78 ff. 32 | Vgl. zur Problematisierung der umwelthistorischen Perspektive auf vergangene Klangphänomene auch Morat: »Zwischen Lärmpest und Lustbarkeit«. 33 | Vgl. dazu Dommann: »Antiphon«. 34 | Zit. n. Payer: »Vom Geräusch zum Lärm«, S. 188.

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woraus Sterne folgert: »Sound is an artifact of the messy and political human sphere.«35

A NSÄT ZE EINER G ESCHICHTE AUDITIVER K ULTUREN Sternes wegweisende Studie enthält noch weitere Argumente für eine konsequent historische Annäherungsweise an Klangphänomene und Klangkulturen. So wendet sich Sterne mit seiner Untersuchung gegen gängige wirkungsgeschichtliche Erzählungen, die die Erfindung akustischer Medien wie des Telefons oder des Phonographen zum Ausgangspunkt nehmen, um dann deren Auswirkungen auf Hörgewohnheiten und -praktiken zu beschreiben. Sterne dreht diese Argumentation um und geht davon aus, dass die akustischen Medien nur erfunden werden konnten, weil sich bereits vorher Veränderungen im Status und in der Art des Hörens vollzogen hatten. Dies ist mit den kulturellen Ursprüngen der Tonreproduktion gemeint, die Sterne in einem wissenschafts-, technikund kulturhistorischen Suchprozess bis ins frühe 19. Jahrhundert zurückverfolgt.36 Dabei beschreibt er die »objectification and abstraction of hearing and sound, their construction as bounded and coherent objects« als Vorbedingungen, nicht als Effekte der Tonreproduktion. Teil dieser Objektivierung des Hörens war die Herausbildung bestimmter »techniques of listening«, die Sterne auch als »audible technique« bezeichnet und die er etwa anhand der Geschichte des Stethoskops beschreibt.37 In seinem letzten Kapitel geht Sterne dann auf die wissenschaftliche Verwendung von Tonaufzeichnungen unter anderem in der Ethnographie ein, deren präservatorischer Anspruch zur Entstehung des Bewusstseins beitrug, im Phonographen auch einen Historiographen zu besitzen, also einen Apparat zur Herstellung historischer Quellen, die als »hörbare Vergangenheit« für spätere Generationen aufbewahrt werden konnten. Im Anschluss an Sterne und wiederanknüpfend an Corbin und Smith lassen sich die hier entwickelten Anregungen der Geschichtswissenschaft für eine interdisziplinäre Klangforschung abschließend auf drei Begriffe bringen: 1. Historisierung: Wenn Sound immer »an artifact of the messy and political human sphere« ist, wie Sterne schreibt, dann sind Klangkonstellationen und Hörsituationen immer historisch spezifisch, sie sind geworden und wieder vergangen bzw. vergänglich. Das fordert nicht nur dazu auf, den jeweiligen Untersuchungsgegenstand historisch zu situieren, sondern auch, die eigenen Vorannahmen über »das Hören« etwa im 35 | Sterne: The Audible Past, S. 13. 36 | Eine ähnliche Argumentationsweise für die Vor- und Frühgeschichte der technischen Übertragung der Stimme im Radio findet sich auch bei Gethmann: Die Übertragung der Stimme. 37 | Sterne: The Audible Past, S. 23, 87 u. 137.

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Unterschied zu »dem Sehen« zu historisieren und zu problematisieren. Sterne nennt das weit verbreitete Set von apriorischen Annahmen über das Verhältnis von Hören und Sehen zu Recht die audio-visuelle Litanei. Dazu zählt er solche Gegenüberstellungen wie: »hearing is spherical, vision is directional; hearing immerses its subject, vision offers a perspective; hearing involves physical contact with the outside world, vision requires distance from it; hearing tends toward subjectivity, vision tends toward objectivity; hearing is about affect, vision is about intellect«38 . Mit diesen quasi-anthropologischen Annahmen wird auch gegenwärtig noch oft in der Auseinandersetzung mit der Kulturbedeutung unserer Sinneswahrnehmungen argumentiert. Hören und Sehen sind aber nicht einfach biologisch verankerte kognitive Vermögen des Menschen, sondern auch historisch geformte Kulturtechniken, deren Bedeutung und Hierarchisierung wandelbar ist und die deshalb in dieser Wandelbarkeit untersucht werden müssen. Historisierung bedeutet daher immer zweierlei: Zum einen die historische Situierung des jeweiligen Untersuchungsgegenstands, zum anderen aber auch die historische Relativierung der eigenen Annahmen und Begriffe, mit denen dieser Untersuchungsgegenstand behandelt wird. Gegenwärtige Kategorien und Definitionen dürfen nicht unbedacht auf den historischen Gegenstand übertragen werden, sondern müssen selbst als die Produkte historischer Wissensbildungsprozesse analysiert werden.39 2. Aneignung: Mit Sterne lässt sich noch ein weiteres Argument vorbringen, das auf der Linie dieser Historisierung liegt und mit dem Ansatz einer historischen Anthropologie der Sinneswahrnehmung kompatibel ist. Dieses Argument richtet sich gegen das, was in einem bestimmten Strang der Medienwissenschaften das technische Apriori der Medien genannt wird.40 Sterne teilt zwar manches mit dieser maßgeblich von Friedrich Kittler geprägten Richtung der Medienwissenschaft. Dazu zählt in erster Linie die an Foucault geschulte archäologische Methode der Suche nach den »Realitätsbedingungen von Wissen«.41 Doch während die archäologische Suche nach den technischen Bedingungen des Wissens leicht in einen materialistischen Determinismus abgleiten konnte, hat Sterne dieses Verfahren in seinem Buch gleichsam von den Füßen zurück auf den Kopf gestellt und die kulturellen Bedingungen der Technik herausgearbeitet. Damit hat er den Blick dafür wieder freigelegt, dass auch die Nutzungsweisen der akustischen Medien nicht allein technisch vorgegeben, sondern von kulturellen Deutungen und Gewohnheiten abhängig sind. Zur Beschreibung und Analyse dieser kulturell bedingten Nutzungsweisen bietet sich der in der Geschichtswissenschaft besonders 38 | Ebd., S. 15. 39 | Vgl. zum Begriff der Historisierung in der Geschichtswissenschaft Kolá: »Historisierung«. 40 | Vgl. dazu etwa Ebeling: »Das technische Apriori«. 41 | Ebd., S. 15.

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von Alf Lüdtke profilierte Begriff der Aneignung an. Dieser dient in erster Linie der Beschreibung von produktivem, ›eigensinnigem‹ Handeln innerhalb von Machtverhältnissen.42 Bezogen auf die Untersuchung medialer Klangkulturen fordert er dazu auf, diese nicht allein oder primär über die technisch-medialen Bedingungen der Klangproduktion und -rezeption zu analysieren, sondern über die tatsächlichen sozialen Nutzungs- und Deutungsweisen der akustischen Medien. 3. Kontextualisierung: Dieses Argument zugunsten des Aneignungsbegriffs gilt auch für den vormedialen bzw. vortechnischen Umgang mit Klängen, wie Corbin und Smith ihn untersucht haben. Klänge sind immer eingebunden in Handlungen, sie sind Teil von kulturellen Praktiken und als solche zu untersuchen. Insofern sind sie auch immer nur in ihrem sozialen, politischen und kulturellen Kontext analysierbar. Als letzter der drei Leitbegriffe ist daher hier der Begriff der Kontextualisierung stark zu machen. Dies mag bis zu einem gewissen Grad als Selbstverständlichkeit und in diesem Sinn als Plattitüde erscheinen. Es kann aber in zwei Richtungen helfen, thematische Verengungen zu vermeiden: Zum einen bei der Bestimmung des Untersuchungsgegenstands einzelner Studien, die immer entsprechend kontextualisierend angelegt sein müssen, und zum anderen bei der Platzierung der Sound Studies bzw. einer interdisziplinären Klangforschung im Feld der Sozial- und Kulturwissenschaften. Denn eine interdisziplinäre Klangforschung sollte nicht als Spartendisziplin gedacht werden, die sich mit einem eng begrenzten Gegenstand beschäftigt, sondern als Erweiterung der allgemeinen Sozial- und Kulturwissenschaften, die eine bisher vernachlässigte Dimension der »messy and political human sphere« erschließt und der kulturwissenschaftlichen Forschung zugänglich macht. In diesem Sinn geht es darum, die Sensibilität für die Kulturbedeutung der Klänge und des Hörens nicht nur auf einzelne Gegenstandsbereiche zu beschränken, sondern in die allgemeine Beschäftigung mit Medien- und Kulturtechniken einzuführen.

F A ZIT In Anlehnung besonders an Arbeiten der historischen Anthropologie und in Abgrenzung sowohl zu normativ argumentierenden Ansätzen der Umweltgeschichte wie zum materialistischen Determinismus einer rein technisch orientierten Medienarchäologie wurden im vorliegenden Essay mögliche Anregungen der Geschichtswissenschaft für eine interdisziplinäre Beschäftigung mit (medialen) Klangkulturen entwickelt. Diese Anregungen wurden auf die drei Leitbegriffe Historisierung, Aneignung und Kontextualisierung gebracht. Sie orientieren sich in erster Linie an Ansätzen der neueren Kulturgeschichtsschreibung, die den Schwerpunkt auf

42 | Vgl. Lüdtke: »Alltagsgeschichte«; Füssel: »Die Kunst der Schwachen«.

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die Produktion von Bedeutung in sozialen Praktiken legen.43 Sie erlauben nicht nur, das Bewusstsein für die historische Spezifik einzelner Hörsituationen und Klangpraktiken zu schärfen, sondern können auch zur Einordnung der interdisziplinären Klangforschung in das weitere Feld der Sozial-, Geistes- und Kulturwissenschaften beitragen.

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43 | Vgl. dazu allg. Daniel: Kompendium Kulturgeschichte.

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Klang der Gesellschaft Zur Soziologisierung des Klangs im Konzert, 1900–1930 Hansjakob Ziemer

E INLEITUNG In den Jahren um den Ersten Weltkrieg schien die Definition von ›Klang‹ unter den Musikwissenschaftlern festzustehen: Riemanns Musiklexikon bestimmte ›Klang‹ 1922 zunächst physikalisch als »die hörbaren Schwingungen elastischer Körper« und erläuterte dann die physiologisch-psychologischen Rezeptionsvorgänge im Gehör des Rezipienten.1 Diese Definition ging zurück auf die Erkenntnisse der physiologischen und physikalischen Forschungen von u. a. Hermann von Helmholtz und Carl Stumpf, die die Wirkung von Schallereignissen untersucht und sich darum bemühten hatten, eine Brücke zwischen den physikalisch-physiologischen Untersuchungen von rein klanglichen Phänomenen und ästhetischen Betrachtungen zu bauen. Diese Beschreibung von Klang sei bis in die Gegenwart gültig, hieß es 1996 im Artikel »Klangfarbe« von Musik in Geschichte und Gegenwart, in dem Klang als ein psycho-akustisches Phänomen definiert wurde, und zwar als eine »Eigenschaft der auditorischen Empfindung«, bei der die Klangfarbe vom »Spektrum des Reizes abhängt« und mit weiteren Kategorien wie Tonhöhe oder Lautstärke ein Merkmal der »Hörempfindung« ist.2 Diese Forschungsergebnisse legten durch ihre Betonung auf naturwissenschaftliche Methoden eine Eindeutigkeit nahe, die sich nicht auf die Fragestellungen des allgemeinen öffentlichen Diskurses übertragen lässt, in dem seit Mitte des 19. Jahrhunderts die Bedeutung der Musik in der Gesellschaft verhandelt wurde. Dieser Diskurs war nicht an einzelne Disziplinen gebunden, sondern verknüpfte theoretisch orientierte Musik1 | O. V.: »Art. ›Klang‹«. 2 | Rösing u. a.: »Art. Klangfarbe«, S. 140.

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historiker genauso wie praktisch orientierte Journalisten. Zwar bestand ein Konsens darin, dass naturwissenschaftliche Theorien von der Wirkungsweise des Schalls allein die Klangerfahrung nicht begründen konnten, aber es blieb offen, wie die Klangwirkungen im Konzert zu erklären waren und in welchem Bezug sie zum Einzelnen und zur Gesellschaft standen. Hermeneutische Erklärungsmodelle begannen zwar um 1900, die Rolle der Klänge mit Blick auf das Deutungsvermögen des Einzelnen zu definieren, aber solche Theorien standen in einer Spannung zu den Alltagsbeobachtungen, die auf die soziale Dimension der Klangerfahrung verwiesen, die auch in der naturwissenschaftlichen Debatte marginalisiert worden war.3 Eine Lösung dieses Problems wollte der Frankfurter Journalist und Publizist Paul Bekker in seiner soziologischen Studie Das deutsche Musikleben (1916) erreichen, in der erstmals eine umfassende soziologische Analyse der Strukturen der Musikwelt unternommen und der sozialen Dimension des Klangs für die Hörer eine zentrale Rolle eingeräumt wurde. Bekkers Konzept wies auf eine theoretische Behandlung des Klangs voraus, die über die immanente musikalische Bedeutung von Klangstrukturen hinausging und die Klangerfahrung als einen kommunikativen und soziologischen Akt definierte.4 In diesem Aufsatz rekonstruiere ich den historischen Kontext von Bekkers Versuch, die soziale Dimension von Klang zu erfassen und gehe der Frage nach, wie die Zeitgenossen versucht haben, die Spannung zwischen dem Sozialen und dem Individuellen in ihren Reflexionen zum Klang im Konzert zu lösen. Dabei will ich zeigen, dass Paul Bekker eine latente soziale Bedeutung von Klang im öffentlichen Diskurs aufgegriffen und für den Entwurf einer sozialen Utopie genutzt hat, in der er theoretische Fragen mit praktischen Beobachtungen verknüpfte. Gerade als Journalist sah er sich in der Lage, den Forderungen des Alltags zu entsprechen und der Musik in Zeiten einer tief empfundenen Krise eine neue soziale Stellung zu sichern, indem er dem Klang eine zentrale Rolle im musikalischen Vergesellschaftungsprozess zuwies. Das Ergebnis war eine Studie, die Bekker zu einem Vorläufer der Musiksoziologie machte, die mit Adorno in den 1930er Jahren etabliert wurde, auch wenn der Klang bei Adorno seinen Status als Forschungsgegenstand einbüßte. Vor diesem Hintergrund kann die Perspektive einer auditiven Medienkultur gerade Bekkers Klangsoziologie zwischen Alltag und Theorie gerecht werden, weil mit ihr die Abhängigkeit des Diskurses über ›Klang‹ von den kulturellen Praktiken des Alltags thematisiert werden kann. Um diese Bedingtheit zu zeigen, gehe ich zuerst der Frage nach, welche konkurrierenden Bedeutungen von Klang es in Bekkers Kontext gab und gehe auf unterschiedliche 3 | In beiden Lexika-Artikeln spielt der soziale Charakter der wissenschaftlichen Kategorien eine untergeordnete Rolle, und der MGG-Artikel verlagert die soziale Dimension des Klangs in die nicht-europäische Klangwelt. 4 | Vgl. Kaden: »Was hat Musik mit Klang zu tun?!«; vgl. zur Definition von Klang Morat: »Der Klang der Zeitgeschichte«, S. 174.

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Gegenstände in diesem Diskurs ein (Musikästhetik, Hören, Architektur, Musikjournalismus), bevor ich mich dann Paul Bekkers Klangsoziologie widme und mich abschließend damit befasse, welche Rolle sein soziologisches Konzept in den 1920er Jahren spielte.

1. Z WISCHEN DEN PSYCHOLOGISCHEN UND SOZIALEN D IMENSIONEN DES K L ANGS Ein wichtiges Ziel in dem populär-ästhetischen Diskurs über Musik war es, die Klangwirkungen von Musik zu objektivieren, um für die Klangwirkungen zu gesicherten Aussagen zu kommen. Ein Weg hierfür bestand darin, die musikalische Struktur vom subjektiven Element im Klangerlebnis zu trennen, wie in den formalästhetischen Überlegungen Eduard Hanslicks, der um die Mitte des 19. Jahrhunderts eine neue Art und Weise der Beschäftigung mit der Musik im Konzertsaal etabliert hatte. Hanslick war einer der führenden Wiener Musikkritiker und ein Verteidiger der neudeutschen Schule um Johannes Brahms, der sich als ein Kritiker der Gefühlsästhetik der Romantik profiliert hatte. In seiner 1854 erschienenen umstrittenen Schrift Vom Musikalisch-Schönen, die viele Auflagen erlebte und bis heute als ein emblematischer Text für die Musiktheorie der Moderne gilt, wandte sich Hanslick gegen eine musikästhetische Tradition, die die Essenz von Musik in den Gefühlen suchte, die sie auszudrücken schien.5 Hanslick hoffte darauf, »aus der dunklen Herrschaft des Gefühls herauszukommen« und beabsichtigte eine objektive Wissenschaftlichkeit zu erreichen, die er in der Ästhetik der Romantik vermisste.6 Er entwarf einen Ansatz, der von der Zwecklosigkeit der Kunst ausging, die »bloße Form« sei, und mit dem er in der Analyse musikalische Klänge von Emotionen trennen wollte, um ein objektives Hören zu ermöglichen. In den musikalischen Strukturen als »tönend bewegten Formen« seien Gefühle nicht repräsentiert; und selbst wenn Hanslick das Vorhandensein von Gefühlen im musikalischen Erleben nicht leugnete, so lag für ihn der adäquate Modus des Hörens in der Kontemplation und Versenkung entlang der formalen Strukturen, die die Musik vorgab. ›Klang‹ war für Hanslick eine physiologische Größe, die er in Anlehnung an Helmholtz’ Theorien definierte. Auf diese Weise marginalisierte Hanslick die Rolle der Hörer und des Publikums und ignorierte die Wirkmächtigkeit von Klangphänomenen, um einer Objektivierung des Musikhörens näher zu kommen. Hanslicks Ziel einer Objektivierung teilten zwar auch seine Kritiker um 1900 wie Hermann Kretzschmar, aber im Gegensatz zu Hanslick ging Kretzschmar davon aus, dass Klänge deutbar waren, einen emotionalen Inhalt besaßen und auf einen subjektiven Hörer angewiesen waren. Für ihn war das Hörerlebnis zutiefst mit Emotionen verbunden, denn er kon5 | Hanslick: Vom Musikalisch-Schönen. 6 | Ebd., S. 4 (Vorwort zur 9. Auflage) u. S. 1.

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statierte, dass »im allgemeinen […] [der Hörer] in sinnlichen Eindrücken stecken [bleibt], die sich als Wohlgefallen und Bewunderung oder als Verwunderung und Missfallen äußern«.7 Kretzschmar entwarf das Konzept einer »musikalischen Hermeneutik«, einer wissenschaftlichen Theorie des Hörens, die objektiven Kriterien entsprechen sollte. Mit seinem Konzept griff er auf die Vordenker der Hermeneutik, Friedrich Schleiermacher und Wilhelm Dilthey, zurück und bemühte sich um den Nachweis, dass das Verstehen von Musik und damit auch die emotionale Erfahrung beim Hören kein Zufallsprodukt sei, sondern auf rationalen Grundlagen beruhte. Für ihn war es zwar grundsätzlich ein Mangel von Musik, keine genau bestimmbaren emotionalen Bedeutungen zu vermitteln, weil ihr die Präzision der Sprache fehlte. Aber Musik zu hören, so schrieb Kretzschmar, stützte sich auf Belege aus dem musikalischen Material selbst. Der Konzertbesucher wandelte sich zu einem reflektierten Hörer, einem Hörer seiner selbst: Als Konzertbesucher nahm er die Musik physisch wahr, aber er erkannte zur gleichen Zeit, welche anderen Emotionen zur Deutung der Musik in Frage kamen, denn die Instrumentalmusik verlangte, »hinter den Zeichen und Formen Ideen zu sehen«.8 Ein solches phantasiegeleitetes Hören erlaubte den Hörern eine Identifikation mit dem gehörten Komponisten, und durch die Metaphern konnten sie ihre Eindrücke und Assoziationen auf die Musik projizieren und so eine direkte Verbindung zwischen sich selbst und der Musik herstellen. Kretzschmar verlagerte die Klangbedeutung nach innen, denn »das innerliche Hören ist zentral«.9 Es sei dahingestellt, ob Kretzschmars Verwissenschaftlichung des subjektiven Hörens plausibel war; aber wie bei Hanslick war eine Folge seines theoretischen Herangehens ein Verlust an Soziabilität, weil der Fokus auf das individuelle Klangerlebnis gerichtet war. Diese Dominanz von individuellen oder formalästhetischen Herangehensweisen wurde gleichwohl durchaus erkannt, und Kretzschmar selbst verwies immer wieder auf die soziale Bedeutung der Musik.10 Kaum ein Text verzichtete in dieser Zeit auf den Hinweis, wie wichtig die Musik für die Gesellschaft sei. Die Musik habe die stärkste Kraft, Emotionen der Gemeinsamkeit zu erzeugen und kaum eine andere Kunst habe das Potential, »großen Massen gemeinsame Empfindungen beizubringen«.11 Als solche sei die Musik ein »Verbindungsmittel für die Menschen untereinander«, schrieb der Kulturkritiker Karl Storck 1906. Aber Storck war ein Beispiel dafür, wie die soziale Funktion von Musik mit einem Rückgriff auf psychologische Wirkungen begründet wurde; Storck argumentierte etwa, dass durch die Erfahrung des Rhythmus und durch die 7 | Kretzschmar: »Anregungen zur Förderung der musikalischen Hermeneutik«, S. 48. 8 | Ebd., S. 49. 9 | Ebd., S. 66. 10 | Vgl. Kretzschmar: Musikalische Zeitfragen. 11 | Storck: Musik-Politik, S. 24.

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»Wirkung des Tons an sich, der in feinen Artikulierungen der Freude, der Betrübtheit bei allen Individuen etwas Verwandtes hat«, Gemeinschaft hergestellt würde.12 Er entwarf eine universale Theorie der Gefühlswirkung von Musik, die für ihn aber nicht sozial bedingt war, denn er erklärte ihre Wirkung allein durch den Bezug zum individuellen Hörer. Auch der Musikkritiker und Pädagoge Walter Howard schrieb, dass es im Konzert darum ginge, »die Assoziation der gehörten Klänge mit Empfindungen und seelischen Stimmungen« zu verknüpfen.13 Offen bleibt die Frage, wie die Verbindung von sozialer und psychologischer Wirkung beim Hören von Klängen erklärt werden sollte. Einen anderen Weg als Hanslick oder Kretzschmar beschritten die Praktiker des Konzertlebens wie die Konzertreformer oder Musikjournalisten, die eine Erfahrungsperspektive auf die Klangwirkungen in den Diskurs einbrachten. Die Konzertreformer sahen beispielsweise das Problem der gegenwärtigen architektonischen Gestaltung der Konzertsäle darin, dass in der Gesellschaft die Individualisierung überhand genommen hatte.14 Paul Marsop, ein führender Münchner Musikkritiker, behauptete, dass das Konzert die Macht verloren hatte, eine Gemeinschaft zu formen. Die Hörer kämen nicht wegen der Kunst ins Konzert, sondern folgten oberflächlichen Klangwelten ohne tiefere Bedeutung. Marsop verband das Problem der Individualisierung mit dem architektonischen Stil, der individualistisches Verhalten fördere statt den Blick auf die Gemeinschaft zu lenken.15 Er kritisierte, dass die Ausstattung nur für die Augen bestimmt sei, nicht aber für die Ohren, zumal die Akustik in der Regel nicht den Anforderungen moderner Klangkultur gerecht würde. Auf der Suche nach dem idealen Konzertraum wiesen die Konzertreformer darauf hin, dass alles aus den Konzerträumen entfernt werden müsse, was Augen und Ohren störe, die Musiker sollten unsichtbar bleiben und die Räume sollten einen reinen Klang zulassen. Man forderte, die religiösen Bezüge zu verstärken, etwa durch die Grundform einer Kathedrale oder durch die Verdunklung der Räume. Auf diese Weise rückten Reformer wie Ernst Haiger die Frage der Klangerfahrung in Richtung einer mittelalterlichen Mystik, die den Charakter des Illusionären im Konzert betonte.16 Solche konkreten Alltagsbeobachtungen bestimmten auch die journalistischen Berichte aus dem Konzert, die im Vorhandensein von emotionalen Reaktionen auf Klänge einen Nachweis für die vermittelnde Funktion von Klangerfahrungen sahen. In den Jahren vor 1914 spielte die Lust der Konzertbesucher an Klängen und an Festlichkeit eine besondere Rolle, deren Präsenz oder Abwesenheit ein Kriterium für den erfolgreichen Konzertbesuch war. Werke früheren Entstehungsdatums fesselten 12 | Storck: Die kulturelle Bedeutung der Musik, S. 11. 13 | Howard: »Was ist uns Musik und was kann sie uns sein?«, S. 211. 14 | Für eine Zusammenfassung dieser Debatte vgl. Schwab: Konzert, S. 186. 15 | Marsop: »Der Musiksaal der Zukunft«, S. 7. 16 | Vgl. Haiger: »Der Tempel«.

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beispielsweise nur selten die Hörer, weil, wie ein Kritiker der Frankfurter Zeitung nach dem Hören von Liszts symphonischer Dichtung Orpheus urteilte, es unklar war, ob es Liszt »gelungen ist, in seiner Musik die Klänge zu schildern, welche der Menschheit die milde Gewalt der Kunst, den Glanz ihrer Glorie, ihre völkererziehende Harmonie offenbaren«.17 Stattdessen erfüllten andere Werke den Wunsch nach Klangfülle. Ein Kritiker hörte bei einem Konzert mit Tschaikowsky »rauschende Tonwellen auf uns niederfluten«, man lobte die »angeborene üppige Phantasie« von Rimsky-Korsakow, sein »Schwelgen in originellen Klangkombinationen, […] in Farbenpracht«. Man wähnte sich in einem »brodelnden Kessel«, der »Farbenkomplexe« enthielt, sobald man Strauss hörte, und pries dessen Kompositionen, weil sie einem »buntschillerndem Tongewand« ähnelten.18 Die Musik vor dem Ersten Weltkrieg glänzte für die Hörer in allen Farben und regte die Phantasie der Hörer an; sie war gerade deshalb erfolgreich, weil in der Möglichkeit der Zurschaustellung subjektiver Haltungen ein Bedürfnis der Hörer in diesen Jahren lag. Diese Form der Klangerfahrung rief Kritik hervor, etwa von Siegmund Hausegger, der die »sinnlich verweichlichende Berauschung durch Klang« kritisierte und die Furcht äußerte, dass die Konzentration auf den Klang zu einer »Veräußerlichung des Hörens« geführt habe.19 Zugleich aber herrschte in den Musikkritiken ein Konsens darüber, dass solche Klangerfahrungen in einem sozialen Kontext stattfanden, der durch soziale Erwartungen geprägt war. ›Klang‹ konnte bei Journalisten auch als ein Nachweis für die vermittelnde Funktion des Konzerts dienen, um die soziale Organisation eines Zusammenhalts zu erklären. Als 1912 in Frankfurt die neue Festhalle die Massenaufführungen von Bachs Matthäuspassion und Mahlers 8. Sinfonie erlebte (mit jeweils 2.000 Mitwirkenden und vor über 15.000 Hörern), hofften die Organisatoren auf ein neues Klangerlebnis. Die Klänge würden Zugang zu einer transzendentalen Dimension erlauben, hieß es in einem Prospekt, und ohne Fehler oder Missklänge zu den Hörern gelangen: »Nur der reine Klang dringt zum Ohr«.20 Doch für die Hörer sollte es nicht bei der bloßen Wahrnehmung eines Schallereignisses bleiben, denn mit dieser neuen Klangqualität verband sich die Hoffnung, durch das gemeinsame Hören eine neue soziale Einheit herzustellen. Die Frankfurter, wie andere Stadtbewohner auch von den Folgen der Urbanisierung betroffen, hofften darauf, dass die Menschen zu einer neuen urbanen Gemeinschaft vereint würden. »In dem riesenhaften Raume schmelzen die Leistungen der Einzelnen leichter und vollkommener ins Ganze zu17 | Schaum: »Fünftes Museums-Concert«. 18 | Vgl. o. V.: »2. Sonntagskonzert der Museumsgesellschaft«; Gehrmann: »Frankfurter Opernhaus«; Schaum: »Zweites Museums-Concert«; H.S.: »Frankfurter Concerte«. 19 | Hausegger: »Sind Klassisch und Modern Gegensätze?«, S. 43. 20 | Entwurf zum Programm in der Zeitungsausschnittsammlung des Mengelberg Archief Den Haag.

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sammen als anderswo«, schrieb ein Hörer, für den durch das Hören die Utopie einer vereinten Stadt schon Realität geworden zu sein schien.21 Bei weiteren Aufführungen stellte sich zwar heraus, dass die akustische Qualität der Festhalle den Erfordernissen des Hörens der Musik von Bach oder Mahler nicht genügte; aber die Verknüpfungen von Klängen, Akustik und einer idealen Gemeinschaft, gespeist aus dem zeitgenössischen Diskurs, enthielten schon Elemente, die Bekkers soziologische Ideen vorwegnahmen. Die Konzertreformer und Journalisten waren stärker als die theoretisch orientierten Autoren darauf angewiesen, die soziale Dimension der Klangerfahrung zu betonen, weil sie auf Grund ihrer Stellung verschiedene Aspekte wie den Raum, das Publikum und die Musik in Einklang bringen mussten. Der öffentliche Diskurs von Hanslick bis Marsop befasste sich mit verschiedenen Gegenständen – der Reform der Architektur und der Rolle der Akustik, Berichten von Hörererlebnissen, der musikalischen Hermeneutik oder der Formalästhetik – und es blieb im Fin de Siécle umstritten, wie der Klang in der allgemeinen populär-ästhetischen Debatte zu definieren sei: als ein Proprium der Seele, als immanent in den musikalischen Formen oder als ein Vehikel für Gemeinschaft. Die Versuche, Klangerfahrungen zu objektivieren, führten zu einer Isolierung des Sozialen und einer Dominanz des Psychologischen, aber die Beispiele aus der Praxis zeigen, dass überall dort, wo musikalische Klänge gehört wurden, das Soziale präsent war.

2. Z UR S OZIOLOGISIERUNG DES K L ANGS : B EKKERS S TUDIE D AS DEUTSCHE M USIKLEBEN (1916) Paul Bekker unternahm es nun, mittels einer Soziologisierung des musikalischen Lebens auf die Herausforderungen der Debatten über die Musik und ihre Wirkungen zu reagieren. Er griff auf die latent in dem allgemeinen öffentlichen Diskurs vorhandenen sozialen Dimensionen des Klangs zurück und entdeckte hierin eine Kategorie, die helfen konnte, zu einer allumfassenden Theorie musikalischer Produktion und Rezeption zu gelangen, die die individuelle und die soziale Wirkung der Musik miteinander verband. Theoretischer Ausgangspunkt war für ihn eine Reformulierung der musikalischen Form, also all dessen, worin ›Musik‹ Gestalt annehmen konnte. Bekker brach mit der etablierten Vorstellung eines absoluten musikalischen Formbegriffs und stellte ihm ein dynamisches Wechselspiel von subjektiv geformter und gleichzeitig soziologisch abhängiger Materie und Wahrnehmung gegenüber.22 Aber Bekkers Formbegriff lässt sich nicht nur als eine Dynamisierung des Schaffens- und 21 | O. V.: »Die Matthäuspassion in der Frankfurter Festhalle«. 22 | Für eine ausführliche Diskussion des innovativen Formbegriffs und eine ideengeschichtliche Einordnung vgl. Eichhorn: Paul Bekker.

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Wahrnehmungsprozesses interpretieren, sondern auch als eine Soziologisierung des Klangs. Denn mit Bekkers Konzept der musikalischen Form erhielt der musikalische Klang einen neuen Status im Konzertsaal, weil er die Zusammenführung der wechselseitigen Bedingtheit von Komponieren und Hören auf der einen und die Abhängigkeit dieser Tätigkeiten von ihrer sozialen Umwelt auf der anderen Seite symbolisch repräsentierte: Die Gestaltungsgesetze der Materie überhaupt beruhen nicht auf innerorganischen Gesetzen der Materie. Sie sind Ergebnisse der Wechselwirkung zwischen Materie und gesellschaftlichem Wahrnehmungsvermögen: sie sind soziologisch bedingt. Das Klangbild ist ein in Klangmaterie umgesetztes Gesellschaftsbild, kein ästhetisches, sondern ein soziologisches Klangsymbol. 23

Der Klang stand somit für eine Einheit von musikalischer und sozialer Form, die durch das unmittelbare Zusammenwirken von Komponist und Gesellschaft geschaffen wurde.24 Als eine Voraussetzung für die Etablierung des soziologischen Klangsymbols definierte Bekker in Abgrenzung zu Hanslicks Formalästhetik und Kretzschmars psychologischem Wahrnehmungsbegriff Musik als ein soziales Phänomen. Schon Camille Bellaigue hatte 1901 die Idee in den zeitgenössischen Diskurs eingeführt, dass Musik die »soziologischste« Kunst sei, weil sie eine ideale Vermittlerin sei, indem sie eine gemeinsame emotionale Erfahrung erlaube.25 Bekker vertiefte dieses Verständnis und argumentierte, dass die musikalische Form über ein bestimmtes »Klangbild« hinausgehe, wie es der Komponist in der Partitur festgeschrieben hatte. Vielmehr bedürfe dieses Klangbild der Wahrnehmung, und erst durch die Wechselbeziehung von Gestaltung und Wahrnehmung könne die Musik wirken. Das bedeutete, dass in dem Moment, in dem die Musik erklang, der Komponist, der das musikalische Material bearbeitet hatte, in einer konkreten Beziehung mit dem Hörer stand, der das Material wahrnahm. Für den Hörer war dies nun ein aktiver Prozess, denn »Wahrnehmen heißt, Beziehung aufnehmen, tätig werden«, wie Bekker schrieb.26 Damit war der Hörer nicht mehr zu einem passiven Empfänger von Schallreizen reduziert, sondern wurde neben dem Komponisten zur zentralen ästhetischen Instanz in einer musikalischen Aufführung. Im Zentrum seines Ansatzes stand aber die vergesellschaftende Wirkung der musikalischen Erfahrung durch das Wechselspiel von Gestaltung und Wahrnehmung, weil sie bestimmte Umweltforderungen erfüllte. Der Komponist musste genauso wie der Hörer den Anforderungen seines sozialen Umfelds genügen, wodurch beide mit der Gesellschaft verbunden waren. Die sozialen Einflüsse spiegelten sich im musikalischen 23 | Bekker: Das deutsche Musikleben, S. 24. 24 | Ebd., S. 26. 25 | Vgl. Bellaigue: »Die Musik vom soziologischen Standpunkt«, S. 523. 26 | Bekker: Das deutsche Musikleben, S. 19.

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Material wider, und dies erlaubte es wiederum dem Hörer, die Musik wahrzunehmen und zu verstehen. Die Gesellschaft war hier also sowohl Voraussetzung als auch Ergebnis für das Wechselspiel von Wahrnehmen und Schaffen. Bekker führte drei spezifische »Umweltforderungen« auf: Erstens war die Wahrnehmbarkeit musikalischer Materie an Räume gebunden; zweitens konnte die Materie erst dann zu einem Klangsymbol werden, wenn der Wahrnehmungsraum durch die Hörer ausgefüllt war und wenn die Hörer über ein Wahrnehmungsvermögen verfügten; drittens bedurfte es der Wahrnehmung der Hörer als einer sozialen Gesamtgruppe. Erst durch diese Verknüpfung in einer gemeinsamen Wahrnehmung könne ein »Kollektivwesen« entstehen, das mehr war als die Summe seiner Teile und das in dem soziologischen Klangsymbol zusammengefasst wurde, das dann wiederum für eine spezifische Vorstellung von Gesellschaft stand: In der musikalischen Form fand sich der »Abdruck der Gesellschaftsverfassung«.27 Bekker nahm damit aber auch einen Gedanken auf, den Simmel in seiner Soziologie der Sinne nur wenige Jahre zuvor als die »soziologische Leistung« des Hörens gesehen hatte: dass nämlich das gemeinschaftliche Hören zu Vergesellschaftung führen könne, weil gerade die Klangerfahrung in der Fülle des sozialen Lebens zu vermitteln vermochte.28 Während aber Simmel das Hören als vorsoziologisch begriff und darin eine anthropologische Konstante sah, die nicht historischen Bedingungen unterlag, verwies Bekker auf die Historizität dieses Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft.29 Darin unterschied Bekker sich auch von anderen Studien zur Soziabilität musikalischer Betätigung, wie etwa der Dissertationsschrift Individuum und Gemeinschaft (1913) von Hans Staudinger, einem Schüler Alfred Webers, der beschrieb, wie in musikalischen Zusammenschlüssen seit dem Mittelalter Gemeinschaft entstanden war.30 Während Staudinger von einem statischen Zustand dieser Gemeinschaft ausging, die durch Musik geschaffen worden war, und die sich durch eine Einheit der Ziele und der Erfahrungen auszeichnete, differenzierte Bekker: Der Komponist nahm bestimmte Ideen seiner Zeit auf und übersetzte sie in ein Klangbild, das durch das Wahrnehmungsvermögen zu einem Symbol werden konnte. Daraus entstand nicht nur eine soziale, sondern auch eine ästhetische Einheit, die an die Wahrnehmung einer bestimmten Zeit gebunden war, d. h. das Klangsymbol konnte nur in seiner Zeit erkannt werden. Zwar ist mit Recht darauf hingewiesen worden, dass Bekker trotz allem daran festhielt, den Werken einen zeitlosen ethischen Charakter zuzusprechen, aber Bekkers Verdienst bestand gerade darin, auf die Historizität der Bedingungen von Komponieren und Hören zu 27 | Ebd., S. 181. 28 | Vgl. Simmel: »Exkurs über die Soziologie der Sinne«, S. 732. 29 | Zu Simmel vgl. Schrage: »Erleben, Verstehen, Vergleichen«, S. 271. 30 | Vgl. Staudinger: Individuum und Gemeinschaft in der Kulturorganisation des Vereins.

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verweisen, auf die das Konzert angewiesen war.31 Mit der Einführung des soziologischen Klangsymbols hatte Bekker gezeigt, dass das Hören kein zeitloser Vorgang war, der sich immer wiederholte. Anders als Kretzschmar oder Storck verwies Bekker nicht nur auf die Fähigkeit von Musik zur Vergesellschaftung; vielmehr erkannte er in der musikalischen Form auch ein aktuelles und sozialkritisches Potential. Bekker definierte damit auch die Rolle des Komponisten und des Hörers neu, indem er das subjektive Schaffen zur aktuellen gesellschaftlichen Situation in Beziehung setzte. Der Komponist war abhängig von den sozialen Voraussetzungen und daher soziologisch mit seinem Kontext verflochten: »Die Bedeutung der Persönlichkeit ergibt sich demnach aus ihrem Verhalten gegenüber den soziologischen Schaffensbedingungen«.32 Bekker wollte keineswegs den Komponisten simplifizierend als Spiegel seiner Zeit begreifen; vielmehr besaß der Komponist die Freiheit der kritischen Auseinandersetzung mit seiner Zeit und konnte so zu einem Kritiker der Gesellschaft werden. Die neue Bedeutung des Klangs als dynamisch, vergesellschaftend, historisch und sozialkritisch verdankte sich der utopischen Qualität, die Bekker mit dem Klangsymbol verband, und die sich etwa in der Vorstellung eines unmittelbaren Verständnisses von Musik durch die Hörer oder in einer sozial-ästhetischen Staatsidee zeigte. Bekkers Utopie war der Krisensituation geschuldet, die für ihn Anlass für die Studie war. Wie viele seiner Zeitgenossen sah sich Bekker an einem »Wendepunkte unseres sozialen, unseres öffentlichen, unseres staatlichen Lebens« angekommen, der neuer Orientierung bedurfte.33 Bekker fand hierfür gerade in der Geschichte Beispiele, die das ideale Zusammenwirken von Gesellschaft und Musik, etwa in der frühneuzeitlichen Kirchengemeinde, belegten. Aber er erhoffte sich durch das utopische Wirken des Klangsymbols im Konzert eine Stärkung der säkularisierten Gegenwart, und insbesondere die Stärkung der Kultur des Nationalstaats: Eine nationale Kultur aber kann erst gewonnen werden aus dem bewussten Zusammenwirken beider Formen: der sozial-ästhetischen und der staatlich-politischen, die beide einander zu geben, voneinander zu nehmen haben, von denen keine die andere beherrschen, keine die andere außer acht lassen darf, soll sie nicht zur Formel herabsinken, soll sie die Einheit der nationalen Kultur, die Wahrheit des ihr zugrunde liegenden Gemeinsamkeitswillens bestätigen. 34

31 | Zur Kritik an Bekker vgl. Schubert: »Aspekte der Bekkerschen Musiksoziologie«. 32 | Bekker: Das deutsche Musikleben, S. 23. 33 | Ebd., S. 137. Zum allgemeinen Krisendiskurs unter Bezug auf Bekker vgl. Baur: Paul Bekker, S. 13-18. 34 | Bekker: Das deutsche Musikleben, S. 53.

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Bekker ging damit bewusst über eine theoretische Reflexion des Zustands der Gegenwart hinaus. Der Schlüssel für diese Reform lag in einer neuen »soziologischen Ästhetik«, die nicht nur zum Ziel hatte, die soziologische Seite der kulturellen Fragen zu reflektieren, sondern auch praktische Lösungsmöglichkeiten anzubieten. Schließlich lag ein Grund für die Soziologisierung des Klangs in Bekkers eigenem Selbstverständnis als Journalist, von dem sein Buch in doppelter Weise zeugte: Einerseits definierte er darin die Rolle des Journalisten im Rahmen seiner soziologischen Theorie. Der Journalist war demnach die zentrale synthetische Kraft in seinem Konzept, die zwischen Materie und Gesellschaft vermittelte und somit das Entstehen des soziologischen Klangsymbols überhaupt erst möglich machte. Die journalistische Kritik war das »Mittel der Bindung und Verschmelzung von Musiker und Gesellschaft«, schrieb Bekker, indem sie die musikalische Form erklärte und zugleich darauf achtete, dass Musiker und Gesellschaft die Verbindung mit ihrer Zeit aufrechterhielten.35 Andererseits sah Bekker die Verknüpfung des Sozialen mit dem Musikalischen durch Reflexion der theoretischen, kulturellen und historischen Hintergründe als eine journalistische Aufgabe, die er selbst erfüllen musste. Seine soziologische Theorie kann als das Ergebnis einer jahrelangen journalistischen Tätigkeit gesehen werden. Als Bekker das Buch schrieb, verstand er sich zuerst als Journalist, dessen Tätigkeit nicht primär objektiven, wissenschaftlichen Kriterien unterlag.36 Dies unterschied ihn von Musikhistorikern wie Kretzschmar oder Naturwissenschaftlern, die sich darum bemühten, wissenschaftliche Reputation mit ihren Beiträgen zu erhalten. Bekker, Autodidakt und seit 1911 als Musikredakteur bei der Frankfurter Zeitung angestellt, fasste sein Wissen zum Gegenstand des Klangs als Journalist zusammen, der zwischen der praktischen Erfahrung des Konzerts und den ästhetischen und sozialen Theorien seiner Zeit vermittelte. Durch sein allgemein verständliches und äußerst populäres Beethovenbuch hatte er eine Reputation als einer der führenden Musikkritiker seiner Zeit erworben. Bekker kannte das musikalische Leben aus eigener teilnehmender Beobachtung und konstruierte ein Wissen zu Klängen, das durch journalistische Beobachtungs- und Interpretationstechniken entstand, die am besten als ethnologische Methoden beschrieben werden können. Journalisten wie Bekker eigneten sich einen ethnologischen Blick an, indem sie die soziale Alltagswelt fixierten und ihre Beobachtungen deuteten, um ihre Gesellschaft zu verstehen.37 Diese journalistische Herangehensweise war durchaus subjektiv, und Bekker lehnte eine Objektivierung seiner Anschauungen ab, ohne aber an der Gültigkeit seiner Ideen zu zweifeln. So konnte eine Soziologie des Klangs entstehen, die von Alltagserfahrungen ausging und sich durch Zusammenfassung 35 | Vgl. ebd., S. 243 ff. 36 | Vgl. Eichhorn: Paul Bekker, S. 254 f. 37 | Vgl. Kaschuba: Einführung in die europäische Ethnologie, S. 107.

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sozialen Wissens etablierte, mit der die Reformbedürftigkeit der Gesellschaft bewältigt werden sollte.38

3. D AS E NDE DES SOZIALEN K L ANGS IM K ONZERT ? Z UM K L ANGDISKURS IN DEN 1920 ER J AHREN Trotz einer allgemeinen öffentlichen Beachtung für sein Buch erfuhren Bekkers utopische Gedanken zur Rolle des Klangs in der Gesellschaft eine geteilte Rezeption: Einerseits zeigte sich schnell die Undurchführbarkeit von Bekkers Ideen, der sich selbst nach der Novemberrevolution in der Kulturpolitik in Frankfurt am Main engagierte und einsehen musste, wie schwierig es war, gegen die dominierende bürgerliche Kultur Reformen durchzusetzen. Der Klang erwies sich nicht als eine geeignete Kategorie, um wie erhofft soziale Probleme zu lösen, und die Innovationen in der Musikwissenschaft in diesen Jahren fanden weniger in der Musiksoziologie als in der Musikethnologie oder Musikpsychologie statt, so dass eine unmittelbare Fortführung von Bekkers soziologischen Kernideen nicht erfolgte. Bis zu Adornos frühen musiksoziologischen Schriften gab es kaum weiterführende theoretische Perspektiven über das Verhältnis von Musik und Gesellschaft.39 Andererseits zeigte sich in den 1920er Jahren, wie angesichts des Wandels von Hörformen und neuen Klanglandschaften inner- und außerhalb des Konzerts eine Thematisierung des Klangs als einer eigenständigen Kategorie notwendig wurde, die Bekker angelegt hatte. Bekker selbst setzte zwar seine Beschäftigung mit dem Klang weiter fort, allerdings trat der soziologische Aspekt seines Klangkonzepts in den Hintergrund.40 Er hob nun stärker einen phänomenologischen Aspekt beim Hören von Musik hervor: Das richtige musikalische Hören begann für ihn dort, wo Musik direkt sinnlich erfahren wurde, und wofür keine musikalische Bildung notwendig war. Bekker befasste sich nicht mehr mit der soziologischen Bedingtheit von Gestaltung und Wahrnehmung, vielmehr sollten die Hörer die »Nacktheit der Klänge« erfassen und sich um die »Rückgewinnung der ursprünglichen Naturkraft des musikalischen Klangs« bemühen.41 Der Hörer müsse sich dem »durch intensive Formgestaltung zur Erscheinung werdenden primären Klangerlebnis« widmen, das Bekker als einen »durch künstlerische Phantasie gesteigerten

38 | Vgl. Landwehr: »Wissensgeschichte«, S. 802. 39 | Wichtige Ausnahme ist Max Webers nachgelassenes Fragment über »Die sozialen und rationalen Grundlagen der Musik« (1921). 40 | Vgl. Bekker: »Erlebnis und Ausdruck«; ders.: »Klang und Eros I«; ders.: »Klang und Eros II«. 41 | Vgl. Eichhorn: Paul Bekker, S. 489, dort auch die ausführliche Diskussion von Bekkers phänomenologischem Klangkonzept.

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Naturlaut« definierte.42 Bekker verwies auf die Eigenschaft des Klangs als ein naturhaftes Material, das keine metaphysischen Einbindungen besaß; nach wie vor ging er von der Historizität seiner Klangphänomenologie aus, aber die vergesellschaftende Wirkung der Musik stand nun durch die Konzentration auf unmittelbare klangsinnliche Erscheinung nicht mehr im Zentrum, denn Bekker selbst hielt die Wirkungsmöglichkeiten der Musik in seiner Zeit für überschätzt.43 Dennoch wurde auch in seinem veränderten Konzept der Klang als eine eigenständige Kategorie bestätigt. Neben Bekkers phänomenologischer Definition des Klangs zeigten sich weitere Deutungsmöglichkeiten des Klangs im Konzert, die im öffentlichen Diskurs nicht mehr verborgen blieben, sondern konkret behandelt wurden. Dies hatte mit dem Wandel des Hörens zu tun, der durch die neuen Klanglandschaften etwa mit der Neuen Musik oder dem Radio eingeleitet worden war.44 Hans Redlich, ein österreichischer Musikhistoriker, Dirigent und Komponist bezeichnete dies als eine »Revolution des Hörens« und konstatierte eine »Veränderung unseres Klangbegriffs«: »Unser Ohr hört anders und andres und in einem so gewaltigen Maßstab anderes wie vielleicht niemals zuvor.«45 Redlich verwies auf die neuen Fähigkeiten zur Klangergänzung und Klangvorstellung, die die Gegenwart von früheren musikalischen Hörformen unterschied. Eine solche Rekonzeptualisierung des Klangbegriffs zeigte sich auch darin, dass es in den Diskussionen immer weniger um die Frage ging, was gehört wurde, sondern wie der Klang im Sinne einer Klangeigenschaft für das Konzert weiter genutzt werden konnte. Die Signifikanz des Klangs als Diskursgegenstand nahm in diesem Sinne zu: Guido Bagier stellte 1927 fest, dass inzwischen im Konzert »der Klang allein herrscht«, weil das Soziale eines Konzertbesuchs immer stärker zurückgegangen sei.46 Auch die Zeitschrift Pult und Taktstock widmete sich dem »Klang an sich« und behandelte nun Themen wie die Klangorganisation durch die Orchesteraufstellung, die Verbesserung der Klangdynamik von Instrumenten oder das Klangfarbengehör der Dirigenten. Es setzte sich ein praktisches Denken durch, wie mit Klängen umzugehen war, aber nicht im Sinne einer Durchsetzung von sozialen Idealen, sondern im Sinne einer Qualitätsverbesserung der Klangproduktion und einer Bewertung der Klangmaterie.47 Die sozialen Ideale mit Bezug zur Klangwelt verschwanden allerdings nicht gänzlich aus dem öffentlichen Diskurs, ohne dass der Klang aber 42 | Bekker: »Neue Kammermusik«. 43 | Zu den phänomenologischen Ansätzen in den 1920er Jahren vgl. Besseler: »Grundfragen des musikalischen Hörens«. Zu den Unterschieden zwischen Bekkers und Besselers Ansatz vgl. Eichhorn: Paul Bekker, S. 494. 44 | Vgl. Hailey: »Rethinking Sound«. 45 | Redlich: »Klang als Traum und Wirklichkeit«, S. 55. 46 | Bagier: »Die Entstehung einer neuen Klangwelt«. 47 | Vgl. bspw. den Wandel der Klangassoziationen in den 1920er Jahren Ziemer: Die Moderne hören, S. 312-318.

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als soziologische Kategorie figurierte. Arnold Schering griff 1931 in einem Beitrag für das Handwörterbuch der Soziologie Bekkers Konzept auf und sprach der Musik die Fähigkeit zu, ein elementares Gemeinschaftserlebnis zu schaffen, das vor allem durch Rhythmus, aber auch durch Klänge hervorgebracht würde. Schering hob die soziale Bindungskraft der Musik hervor, indem er argumentierte, ein musikalisches „Urerlebnis“ sei der Grund dafür, warum Menschen sich über Grenzen hinweg verbinden könnten. Ebenso seien die Klänge universal: »Es muß ein primäres Verhältnis des Menschen zum Klangreich, eine Art musikalisches Urerlebnis vorausgesetzt werden, das in jedem neuerwachenden Individualbewußtsein annähernd das gleiche ist.«48 Schering erklärte die Rolle des musikalischen Klangs als einer sozialen Macht durch eine Projektion auf eine natürliche Beziehung zwischen Mensch und Natur, die der Beginn für eine Entwicklung der Gesellschaft wäre. Zu den Grundlagen eines »elementaren Gemeinschaftserlebnisses« gehörten für Schering neben dem Klang auch weitere vormusikalische Elemente wie Rhythmus, Schall und Tempo. Daraus seien die modernen Formen der musikalischen Gemeinschaft entstanden, die nicht nur verschiedene Generationen, sondern auch verschiedene Regionen miteinander verbanden. Schering bezog somit den Klang in seine vormusikalische Utopie ein, allerdings ohne auf die genaueren soziologischen Bedingungen von Produktion und Rezeption einzugehen. Schering war mit seiner Gemeinschaftsutopie zwar keine Ausnahme um 1930, als auch Besselers Theorie einer Gemeinschaftsmusik ihre Wirkung entfaltete, aber in der Musiksoziologie Adornos zeigte sich eine radikale Abkehr von dem utopischen Charakter in der Betrachtung des Verhältnisses von Musik und Gesellschaft, die mit einer Abwertung des Klangbegriffs insgesamt einherging. Adorno, gemeinhin als der Gründervater der deutschen Musiksoziologie bezeichnet, verwendete den Begriff des Klangs nur marginal oder als eine Chiffre für bestimmte Typen des musikalischen Hörers, etwa in seiner Einleitung in die Musiksoziologie, als er den »emotionalen Hörer« als einen Hörer charakterisierte, »der den isolierten Klangreiz kulinarisch abschmeckt«.49 Klang erschien hier als ein Merkmal des emotionsgesteuerten Hörens, das dem strukturierten Hören gegenüber- und damit einem musikalischen Verständnis entgegenstand. Auch an weiteren Stellen in seinem Werk wird deutlich, dass Adorno Kritik an einem genießenden Klangerlebnis übt und in der Konzentration auf den Klang nur ein Zeichen für ein »atomistisches« Hören sah, das nicht vom musikalischen Material selbst geleitet sei.50 Weitere Verwendungen des Klangbegriffs zeigen, dass Adorno Bekkers klangsoziologische Überlegungen nicht übernahm, obwohl Adorno durchaus auf 48 | Schering: »Musik«, S. 397. 49 | Adorno: Einleitung in die Musiksoziologie, S. 23. Zur Geschichte der Musiksoziologie vgl. auch den Beitrag von Marcus S. Kleiner in diesem Band. 50 | Vgl. bspw. Andorno.: »Zweiter Mahler-Vortrag«.

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Elemente aus Bekkers Konzept zurückgriff, die bei Bekker noch eng mit dem Klangbegriff zusammengehangen hatten. Als Adorno begann, seine theoretischen musiksoziologischen Forschungen zu veröffentlichen (als erste 1932 seine wegweisende Studie Zur gesellschaftlichen Lage der Musik), unternahm er den Schritt hin zu einer radikalen Kritik der musikalischen Kultur und einer Neudefinition des Verhältnisses von Musik und Gesellschaft, die sich in seinen journalistischen Deutungen des Konzerts abgezeichnet hatte.51 Ausgehend von seiner musiktheoretischen Kompetenz als Komponist und seinen eigenen Beobachtungen des Konzertlebens machte Adorno die Musik zum Gegenstand der marxistischen Gesellschaftsanalyse und unternahm eine materialistische Deutung der Musik und des Musiklebens. Dabei entfernte er sich von einem unmittelbaren Bezug zur Praxis. Adorno stützte sich zwar auf die Tradition musikkritischer Arbeiten von Autoren wie Hermann Kretzschmar, Paul Bekker, Paul Marsop und anderen, die aus ihren Krisendiagnosen Vorschläge für Reformen des Musiklebens abgeleitet und auf ihre Umsetzung in der Praxis gehofft hatten, aber Adorno begriff Soziologie nicht als eine Wissenschaft, die zu praktischem Handeln führte – für ihn besaß Musiksoziologie Erkenntnischarakter.52 Statt praktische Lösungen für die Krise im Musikleben zu suchen, ordnete Adorno alles einem wissenschaftlichen Interesse unter. In seinen Studien begann er, das Konzertleben zu soziologisieren und seine Erkenntnisse in einen wissenschaftlichen Kontext zu stellen – er hob die Musik in den Rang einer Gesellschaftskritik. Er bedurfte nicht mehr eines Klangsymbols, vielmehr sah er es als Gegenstand seiner Kritik an. Für ihn bot die Musik die Möglichkeit, die Wirklichkeit zu kritisieren und zu erkennen. Während Bekker in der musikalischen Form eine Möglichkeit sah, wie die Musik mit der Gesellschaft eine Einheit bilden konnte, trennte Adorno Musik und Gesellschaft – in seinem Konzept übte die Musik Gesellschaftskritik, statt die Gesellschaft zu formen.53 »In unserem unmittelbaren Leben ist kein Platz mehr für Musik«, schrieb er 1934 und verwies darauf, dass der Klang der Kaffeehaus-Kapelle etwas »Schäbiges« habe und nur im Hintergrund gehört würde.54 Damit hatte der ›Klang‹ seine soziologische Funktion, wie sie ihm Bekker zugesprochen hatte, eingebüßt, weil er nur als Klangeigenschaft, als ein äußeres Erscheinungsmerkmal verstanden wurde. Der utopische Charakter des Konzerts, wie ihn Bekker gesehen hatte, war nun eliminiert, und Adorno machte hierfür ein »falsches Bewusstsein« verantwortlich, das auf die Ro51 | Vgl. Adorno: »Zur gesellschaftlichen Lage der Musik«; Paddison: Adorno’s Aesthetics of Music, S. 97-108. 52 | Adorno unterschied sich damit etwa von einer weiteren musiksoziologischen Richtung, die von den Autoren der Zeitschrift »Musik und Gesellschaft« vertreten wurde. Vgl. Boettcher: »Zur Frage«. 53 | Ebd., S. 732. 54 | Adorno: »Musik im Hintergrund«, S. 819.

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mantik zurückging – die »gesellschaftliche Lage [wird] für die Konsumenten verhüllt«.55 Das Konzert »täuschte« die Konzertbesucher gerade dort, wo es sich scheinbar der Wirklichkeit bediente, also in den Konzerten mit Gebrauchsmusik oder in den Massenkonzerten. Sie erzeugten nur den »Schein unmittelbarer Kollektivität«, ohne aber wirkliche Gemeinsamkeit zu erreichen und ohne tatsächlich auf die Wirklichkeit einzugehen.56 Das Konzert stand für Adorno ganz im Dienste der »ideologischen Vernebelung« des Bürgertums und war nur ein weiteres Zeichen für die allmähliche Auflösung der bürgerlichen Welt. Gerade in dieser Fundamentalkritik zeigte sich zwar, wie bedeutsam das Konzert für Adorno war; aber Adorno hatte die soziale Dimension vom Klang in das musikalische Material selbst verlagert, indem er zugunsten einer wissenschaftlichen Objektivität die musikalischen Wirkungen von der Musik selbst trennte.

A USBLICK Mit der Durchsetzung der theoretischen Musiksoziologie büßte der Klang als soziale Kategorie an Bedeutung ein, weil es nun nicht mehr um konkrete Kommunikationsprozesse beim Hören ging, sondern um »Antinomien« zwischen Musik und Gesellschaft. Erst durch die methodischen Innovationen in der Analyse der Beziehung von Musik und Gesellschaft, die vor allem von Musikethnologen seit den späten 1970er Jahren ausgingen, ist Klang wieder zu einem eigenständigen Gegenstand der wissenschaftlichen Betrachtung geworden. Mit Hilfe von ethnologischen Methoden werden Klänge seitdem als ein Merkmal von musikalischen Aufführungen gesehen, die zwischen den Beteiligten vermitteln und eine Kommunikation überhaupt erst erlauben.57 Steven Feld hat beispielsweise in seinen Studien zu den Akuli in Papua-Neuguinea gefragt, wie sich die klassenlosen und egalitären sozialen Strukturen einer Mikrogesellschaft in den Klängen zeigt. Ausgehend von den soziologischen Vorarbeiten von Emile Durkheim und Marcel Mauss zu symbolischem Handeln zeigt Feld, welche Rolle Klänge spielen können: »Sound structures as socially structured, sound organizations as socially organized, meaning of sounds as socially meaningful.«58 Andere Studien wie die des Musiksoziologen Christian Kaden gehen auf die semiotische Bedeutung von Klängen ein, die dabei nicht nur eine vermittelnde Funktion haben, sondern den Hörern »mannigfache Räume der Denotation« eröffnen. Kaden hebt hervor, dass die Klänge nicht nur einen Eigenwert haben, etwa im Sinne eines Klangfetischs, in dem Klänge nur um des Klangs willen gehört werden, sondern dass sie symbolische Bedeutung erlangen können und zentral 55 | Ebd., S. 764. 56 | Ebd., S. 762. 57 | Vgl. Small: Musicking. 58 | Feld: »Sound Structure as Social Structure«, S. 180.

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für die Kommunikation in musikalischen Aufführungssituation sein können.59 Mittels der Perspektive einer Geschichte auditiver Medienkulturen kann Bekkers Versuch einer Theoretisierung der sozialen Dimension des Klangs als ein Vorläufer dieser aktuellen Debatten gesehen werden, der auch daran erinnert, wie sehr die Anfänge der Musiksoziologie auf journalistische Alltagsbeobachtungen angewiesen waren.60 Gerade weil Bekker die akademische Verankerung in einer Disziplin fehlte, erwiesen sich seine soziologischen Ideen als fruchtbar, um die soziale Rolle von Klängen, beispielsweise in der Bildung von Gemeinschaften, zu untersuchen, sei es von der Musik- oder der Geschichtswissenschaft.

L ITER ATUR Adorno, Theodor W.: Einleitung in die Musiksoziologie. Zwölf theoretische Vorlesungen, Frankfurt a. M. 1996. Adorno, Theodor W.: »Musik im Hintergrund« [1934], in: ders.: Musikalische Schriften V, Frankfurt a. M. 2003, S. 819-823. Adorno, Theodor W.: »Zur gesellschaftlichen Lage der Musik« [1932], in: ders., Musikalische Schriften V, Frankfurt a. M. 2003, S. 729-778. Adorno, Theodor W.: »Zweiter Mahler-Vortrag« [1960], in: ders. Musikalische Schriften V, Frankfurt a. M. 2003 S. 589-603. Bagier, Guido: »Die Entstehung einer neuen Klangwelt«, in: Frankfurter Zeitung, Nr. 769, 15.10.1927. Baur, Vera: Paul Bekker. Eine Untersuchung seiner Schriften zur Musik, Aachen 1998. Bekker, Paul: »Erlebnis und Ausdruck. Eine Skizze«, in: Frankfurter Zeitung, Nr. 60, 24.1.1923. Bekker, Paul: »Neue Kammermusik. Aufführungen in Donaueschingen und Salzburg«, in: Frankfurter Zeitung, Nr. 596, 25.8.1922. Bekker, Paul: »Klang und Eros II«, in: Frankfurter Zeitung, Nr.  176, 7.3.1922. Bekker, Paul: »Klang und Eros I«, in: Frankfurter Zeitung, Nr. 173, 5.3.1922. Bekker, Paul: Das deutsche Musikleben, Berlin 1916. Bellaigue, Camille: »Die Musik vom soziologischen Standpunkt« (Teil II), in: Allgemeine Musikzeitung, Jg. 28, Nr. 32-33, 1901, S. 523-525. Besseler, Heinrich: »Grundfragen des musikalischen Hörens«, in: Jahrbuch der Musikbibliothek Peters, Jg. 31, 1925, S. 35-52. Boettcher, Hans: »Zur Frage: Musikverstehen und Klassenzugehörigkeit«, in: Melos, Jg. 11, Nr. 3, 1932, S. 100-103. Eichhorn, Andreas: Paul Bekker. Facetten eines kritischen Geistes, Hildesheim 2002, S. 175-193. 59 | Vgl. Kaden: »Sozialstrukturen als Bewegungsmomente des Musikhörens«. 60 | Ein paralleler Fall ist die Stadtsoziologie, vgl. Lindner: Die Entdeckung der Stadtkultur.

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Die Taubheit des Diskurses Zur Gehörlosigkeit der Soziologie im Feld der Musikanalyse Marcus S. Kleiner

1. E INLEITUNG Die deutsche bzw. deutschsprachige Fachsoziologie thematisiert Musik im Feld einer ihrer Bindestrichgebiete, der Musik-Soziologie. Die MusikSoziologie führt ein Nischendasein und ist in ihrer Bedeutung v. a. von der Kultur-, Kunst- und Mediensoziologie abhängig. Für Adorno (1997e: 10) kann eine soziologische Musikanalyse so nicht gelingen: »Was an soziologischen Begriffen an die Musik herantragen wird, ohne in musikalischen Begründungszusammenhängen sich ausweisen, bleibt unverbindlich« (vgl. Blaukopf 1996: 1). Gegenwärtig stammt der Großteil soziologischer Arbeiten zur Musik aus dem Umfeld der Kultur- und Mediensoziologie. Äußerst selten geht es hierbei um die Analyse der Musik als Musik (vgl. Inhetveen 1997: 79 ff., 2010: 331 ff.). Die Musik-Soziologie stellt eine Binde-Bindestrich-Soziologie bzw. eine Spezielle-Spezielle-Soziologie dar. In der deutschen Musikwissenschaft wird ihr, als Teilgebiet der Systematischen Musikwissenschaft, ebenfalls kein großes Interesse entgegengebracht, wenngleich bedeutend mehr als in der Soziologie.1 Der Gegenstand meines Beitrags ist eine auf dem Vorausgehenden aufbauende Vertiefung der Auseinandersetzung mit der Theorietradition (Abschnitt 2) und den Leitthemen (Abschnitt 3) der deutschen bzw. deutschsprachigen Musiksoziologie. Weiterhin diskutiere ich die musiksoziologische Vernachlässigung der Analyse des konstitutiven Zusammenhangs von Medien (Musik) und Sinnen. Diese Vernachlässigung markiere ich mit dem Begriff der Gehörlosigkeit (Abschnitt 4). Hierbei geht 1 | Vgl. u. a. die Arbeiten von Blaukopf (1950, 1996, 2010); H. Engel (1960); Kneif (1971, 1975); Kabursicky (1975); Rummenhöller (1978); G. Engel (1980, 1990); Kaden (1984, 1993); Wicke (1986); Kaden/Mackensen (2006); de la Motte-Haber/Neuhoff (2007).

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es nicht um die Rekonstruktion einzelner soziologischer Musikdiskurse, ebenso wenig werden Fallanalysen präsentiert. Ziel ist es, die Musiksoziologie zur Erforschung Auditiver Medienkulturen nutzbar zu machen und darauf aufbauend, erste Vorschläge für ein transdisziplinäres Forschungsdesign zur Analyse Auditiver Medienkulturen im Bereich der Musik und im Spannungsfeld einer Musiksoziologie und einer musikwissenschaftlich kenntnisreichen Medien(kultur)wissenschaft2 vorzustellen (Abschnitt 5).

2. THEORIE TR ADITION Diese Marginalisierung der Musiksoziologie (vgl. Inhetveen 1997) verwundert mit Blick auf die soziologische Theorietradition: im Kontext der Konstitution der Soziologie als Kulturwissenschaft entstanden ebenso wichtige Arbeiten zu Musiksoziologie wie im Feld der empirischen Kultur- und Medienanalyse. Hier seien etwa die folgenden Studien genannt, die in Überblicksarbeiten zur Musiksoziologie3 als Bezugsrahmen der Musiksoziologie angeführt werden: Psychologische und ethnologische Studien über Musik (1882) von Georg Simmel; Max Webers Fragment Die rationalen und soziologischen Grundlagen der Musik (1924); Paul Lazarsfelds Hörerbefragung der RAVAG (1932/1996); Alfred Schützs Gemeinsam Musizieren. Die Studie einer sozialen Beziehung (1951/1972) und Alphons Silbermanns Wovon lebt die Musik? Prinzipien der Musiksoziologie (1957). Diese Arbeiten besitzen innerhalb der Fachsoziologie allerdings nur eine sehr geringe Rezeptionsgeschichte. Mit Blick auf die Studien von Simmel, Weber und Lazarsfeld kann deren Auseinandersetzung mit Musik durchaus als frühe Akzentuierung der Medienanalyse im Feld soziologischer Forschung verstanden werden. Erinnert sei an dieser Stelle etwa auch an die frühen Studien zur medialen Konstitution von Öffentlichkeit und Öffentlicher Meinung sowie die daraus resultierenden Diskussionen zu Pressefreiheit und Zensur bei Marx 1842/1843 (vgl. Marx/Engels 1969) und Schäffle 1875–1878 (vgl. Schäffle 2001). Die Soziologie hat sich erst sehr spät und bis heute nicht grund2 | Das Grundverständnis einer Kulturwissenschaft der Medien beschreibt Karpenstein-Eßbach (2004: 8): »Die kulturwissenschaftliche Perspektive ist bezogen auf die vielfältigen Implikationen und Folgen, die für eine Kultur mit ihren Medien einhergehen. Sie sieht die Welt- und Selbstverhältnisse des Menschen, kulturelle Praktiken, ästhetische Symbolisierungsleistungen und geistige Tätigkeiten eingelagert in mediale Bedingungen, die an deren Formierung beteiligt sind. Medien sind in diesem Verhältnis sehr viel mehr als Instrumente für Kommunikationen: sie sind Ermöglichungen und Bestimmungsfaktoren kultureller Praxen.« 3 | Vgl. ergänzend zu den zuvor aufgeführten Autoren die materialreichen und instruktiven Überblicke von Haselauer (1980); Inhetveen (1997); Asanger (2009); vgl. zu bibliographischen Zwecken Elste (1975).

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sätzlich auf ihre mediensoziologischen und medientheoretischen Wurzeln eingelassen (vgl. hierzu Kleiner 2006, 2010). Überspitzt formuliert könnte man hier von der Geburt der Soziologie aus dem Geiste der Medien sprechen und der jahrzehntelangen Medien-Blindheit der Soziologie.4 Die umfangreichsten und (inter-)national stark diskutierten Studien zur Musiksoziologie hat Theodor W. Adorno vorgelegt. Seine Philosophie der Neuen Musik (1949/1997c) und die Einleitung in die Musiksoziologie. Zwölf theoretische Vorlesungen (1962/1997d) können als Kulminationspunkte seiner musiksoziologischen/-philosophischen Arbeiten betrachtet werden. Gleichwohl ist es gerade seine musikphilosophische sowie ästhetische Fundierung der Auseinandersetzung mit Musik bzw. der Analyse des Verhältnisses von Musik und Gesellschaft, die eine musiksoziologische Diskursgeschichte der Distanzierung von Adornos Musikstudien nach sich zog. Diesen und vergleichbaren Studien ist es nicht gelungen, wie Pfau (1997: 452; vgl. Inhetveen 1997) resümiert, »über die Setzung einiger grundlegender Positionen und zumal Optionen hinaus zu konsolidierten Theoriebildungen oder gar theoriegeleiteter Forschungsperspektive zu gelangen«. Die Einschätzung gilt auch für die im anglo-amerikanischen Forschungsraum beachteten Arbeiten von Paul Honigsheim (u. a. 1959, 1973). Zudem für die systemtheoretisch orientierte Musiksoziologie in den Studien von Frank Rotter (1985), Torsten Casimir (1991) und Peter Fuchs (1992). Mit Blick auf Adorno ist Pfaus Position allerdings zu relativieren – v. a. mit Blick auf die erkenntnistheoretische (vgl. Adorno 1997a) und ästhetische (vgl. Adorno 1997b) Fundierung seiner Musikstudien. Zudem betont Pfau (1997: 455), dass »[w]ichtige empirische Arbeiten zur Musiksoziologie [...] aus dem außeruniversitären Raum, sei es aufgrund kommerzieller, sei es aufgrund verbands- bzw. kulturpolitischer Nachfrage« kommen, wie z. B. von der GEMA (Gesellschaft für musikalische Aufführungs- und mechanische Vervielfältigungsrechte) als Auftraggeber musiksoziologischer Studien. Nicht zuletzt fand die Weiterentwicklung der Musiksoziologie seit Adornos Studien nicht mehr primär in der Fachsoziologie selbst statt. Die Rede von der Musiksoziologie ist vor diesem Hintergrund erklärungsbedürftig. Dieser Aspekt wird in den einschlägigen Studien zur Musiksoziologie ausgeblendet. Ein Blick in Standardwerke zur Einführung in die Soziologie, zur Geschichte der Soziologie, zur Soziologischen Theorie, zu den Praxisfeldern der Soziologie und in Wörterbücher sowie Lexika der Soziologie veranschaulicht diese These.5 Ausnahmen stellen etwa die Artikel zur Musiksoziologie von Rotter (1989) im Wörterbuch der Soziologie (Endru4 | Vgl. zur Mediensoziologie u. a. Neumann-Braun/Müller-Doohm (2000); Jäckel (2005); Ziemann (2006). Auch in diesen Arbeiten spielt Musik so gut wie keine Rolle. 5 | Vgl. u. a. AG Soziologie (1993); Korte/Schäfers (1997); Kaesler (2000, 2002); Kaesler/Vogt (2000); Korte/Schäfer (2002); Esser (2002); Korte (2004, 2006); Münch (2004); Abels (2007, 2009); Joas (2007); Kruse (2008).

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weit/Trommsdorff 1989), von Pfau (1997) im Soziologie-Lexikon (Reinhold 1997), und von Inhetveen (2010) im Handbuch Spezielle Soziologie (Kneer/ Schroer 2010) dar.6 Vor diesem Hintergrund muss die These von Inhetveen (2010: 326) relativiert werden, »dass die Musiksoziologie eine zwar kleine, aber traditionsreiche und vielfältige Teildisziplin der Soziologie ist.«7 Wäre sie dies in Deutschland sowie im deutschsprachigen Forschungsraum tatsächlich, würde ihr ein entsprechender Platz in den Einführungs-, Grundlagen-, Fachgeschichts- und Überblicksarbeiten zugewiesen. Dies ist aber nicht der Fall. Vielmehr besteht der Diskurs der Musiksoziologie in Deutschland und deutschsprachigem Forschungsraum aus disparaten Einzelleistungen. Ein übergeordneter Forschungszusammenhang oder Schulbildungen lassen sich nicht identifizieren. Insofern sollte nicht von Musiksoziologie, sondern von soziologischen Diskursen zur Musik gesprochen werden, in denen sich das Feld der Musiksoziologie jeweils neu konstituiert. Auch in der Auseinandersetzung mit den zuvor aufgeführten soziologischen Klassikern Simmel, Weber, Lazarsfeld, Silbermann und Schütz – abgesehen allerdings von Adorno – spielen deren Musikanalysen, wenn überhaupt, nur eine äußerst marginale Rolle. Kultur, Kunst, Medien und Musik sind Themengebiete, die in der deutschen bzw. deutschsprachigen Fachsoziologie insgesamt eine untergeordnete Rolle spielen und deren einschlägige Diskussionen in anderen Disziplinen stattfinden. Darüber hinaus existiert in der Musiksoziologie bis zur Gegenwart, wie Pfau (1997: 457) betont, kaum Kenntnis von zentralen Forschungsfeldern im Kontext der Musikanalyse, wie etwa der »Psychosomatik des Hörens, der Verarbeitung von Musik im limbischen System und Neokortex sowie der musikalischen Stressforschung«. Auch die eigensinnige Medialität und Technizität von Musik als Medium und von Medienmusik spielt im Kontext der Musiksoziologie kaum eine Rolle, ebenso wenig eine Auseinandersetzung mit den Veränderungen der Musik im Spannungsfeld einer Ästhetik des Digitalen.8 Andererseits verorten sich gegenwärtig Musikanalysen, die – mit Blick auf die Qualifikationsarbeiten – von Fachsoziologen stammen, zumeist in der Medienwissenschaft bzw. werden dort verstärkt rezipiert (vgl. u. a. Schrage 2001a/b, 2007; Kleiner 2009, 2010a/b; Kleiner/Szepanski 2003; Kleiner/Jacke 2009; Kleiner/Anastasiadis 2011). Diese Arbeiten fokussie6 | Die Artikel zur Musiksoziologie im »Wörterbuch der Soziologie« (Hillmann 2007: 600) und im »Lexikon zur Soziologie« (Hüppe 2007: 455) sind sehr allgemein und summarisch ausgerichtet. Insofern vermitteln sie eher den Eindruck der Belanglosigkeit dieser Bindestrich- bzw. Speziellen Soziologie. 7 | 13 Jahre zuvor vertritt sie in ihrer Dissertation zur Musiksoziologie in Deutschland eine konträre Position (vgl. Inhetveen 1997: 30 f.). 8 | Auch aus dem durchaus einflussreichen Feld der Techniksoziologie gibt es hierzu keine Beiträge. Vgl. zur Techniksoziologie u. a. Degele (2002); Rammert (2007); Passoth (2008); Weyer (2008).

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ren Themen, die in der Musiksoziologie nicht systematisch beachtet wurden und für die der fachsoziologische Diskurs keinen adäquaten Raum anzubieten scheint: Sound, Schall, Geräusch, Rauschen, Auditive Medienkulturen, elektronisch/digitale Musik und Popmusik. Gerade mit Blick auf die Vernachlässigung einer differenzierten Erforschung der Präsenz von Musik – v. a. von Populärer Musik sowie Popmusik9 – im Alltag, wird deutlich, wie Inhetveen (1997: 221) betont, dass »das bürgerlich-abendländische Musikideal die Forschungsinhalte und -methoden maßgeblich [bestimmt], was eine abwertende und sehr lückenhafte Auseinandersetzung mit der Popularmusik mit sich bringt«. Verbunden hiermit ist die Auffassung von Musik als Kunst sowie von Musikstücken als Kunstwerken. Eine Alternative zu der sich bis heute durchhaltenden Opposition zwischen (abendländischer) Kunstmusik10 als interkulturell sowie medienhistorisch eindimensionalem Leitbezugsrahmen der musiksoziologischen Forschungen und allen davon abweichenden Musikformen, hat Blaukopf (vgl. u. a. 1996) mit seinem Vorschlag gemacht, dass sich die Musiksoziologie auf die gesamte musikalische Praxis einer Gesellschaft bzw. auf alle musikalischen Praxen von Gesellschaften sowie auf deren Wandlungsprozesse fokussieren sollte.11 Musiksoziologie ist für Blaukopf (1955: 342) entsprechend eine »Sammlung aller für die musikalische Praxis relevanten gesellschaftlichen Tatbestände, Ordnung dieser Tatbestände nach ihrer Bedeutung für die musikalische Praxis und Erfassung der für die Veränderung der Praxis entscheidenden Tatbestände.«12 Blaukopf (vgl. u. a. 1996, 2010) hebt darauf aufbauend, wie Smudits (2010: 333) betont, die »grundsätzliche Unterschiedlichkeit von Umgangsmusik (oral tradiert, keine Professionalisierung, ›Volksmusik‹), Darbietungsmusik (notierte Musik, Professionalisierung), und Übertragungsmusik (medial 9 | Eine heuristische Eingrenzung der Begriffe Populär, Pop, Popkultur und Populäre Kultur kann ich an dieser Stelle nicht leisten. Ich verweise exemplarisch auf die folgenden Arbeiten: Hügel (2003; 2007); Blaseio/Pompe/Ruchatz (2005); Kleiner (2008); Jacke (2009) und v. a. auf die aus meiner Perspektive bedeutendste (deutsche) Studie zur Begriffsbestimmung und zur Unterscheidung der unterschiedlichen Konzepte von Populär, Pop, Popkultur und Populärer Kultur, die Hecken (2009) vorgelegt hat (vgl. auch Hecken 2007). 10 | Blaukopf (1996: 5) weist zudem darauf hin, dass den musikalischen Kunstwerken die musikalische Praxis vorausgeht. 11 | In diesen Kontext gehört als zentrale Aufgabe der Musiksoziologie die von Blaukopf (1996: 246 ff.) geforderte interkulturell-vergleichende »Soziographie des Musiklebens«. 12 | Aufbauend auf dieser Definition von Blaukopf und sie präzisierend, weil die Musiksoziologie sich nicht mit der musikalischen Praxis an sich beschäftigt, sondern nur mit ihr unter jeweils spezifischen Bedingungen, schlägt Haselauer (1980: 159) folgende Definition vor: »Musiksoziologie ist die Lehre von den (jeweiligen historisch und regional gegebenen) Bedingungen der musikalischen Praxis als soziales Beziehungsgefüge [Hervorhebung im Original – MSK].«

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gespeichert oder vermittelte Musik) [hervor] – in jüngster Zeit könnte dem tentativ der Begriff ›Verwendungsmusik‹ (digital kodierte Musik, ›Prosumer‹) hinzugefügt werden.«

3. G RUNDZÜGE DER M USIKSOZIOLOGIE Eine Definition von Musik erfolgt in der Soziologie primär über ihre soziale Funktion.13 Es geht entsprechend nicht um die Beantwortung der Frage, was Musik ist, sondern in welchen vielfältigen Funktionszusammenhängen Musik und Gesellschaft stehen – etwa kulturell, medial, technisch, rechtlich, ökonomisch, politisch, geschlechtsspezifisch. Als erster Bezugsrahmen dienen die unterschiedlichen Erscheinungsweisen musikbezogenen sozialen Handelns, inklusive des Erlebens und Verhaltens, von Akteuren sowie Akteursgruppen in den Strukturbereichen Produktion (wie z. B. Musikberufe oder Musikökonomie), Distribution (etwa Medien und Institutionen der Musikvermittlung, Public Relations, Kritik, Wissenschaft) und Rezeption (u. a. Konzerte, Hörertypologien, Szenen, Geschmacksbildung, Wertungen von Musikstilen, Körper). Die konkreten Analyseformen von Musik fungieren als zweiter Bezugsrahmen. Inhetveen (1997: 79-107) unterscheidet hierbei vier Grundformen: »Musikalische Stiltypologien« (wie Klassik, Schlager, Pop); »Generelle Eigenschaften von Musik« (etwa Funktion von Musik, Musik als Zeitkunst, Merkmale bestimmter Gattungen); »Musikalische Faktur und Technik« (u. a. Werkanalyse, stilistisch-kompositorische und materielle Technik); »Beiträge ohne Thematisierung von Musik« (z. B. Auseinandersetzung mit dem sozialen Kontext von Musik, ohne sich auf musikalische Inhalte und Techniken zu beziehen). Erweiternd kann die heuristische Musikdefinition von Rotter (1985: 9) verwendet werden, der Musik als »Erzeugung oder Zusammenfügen von Schallereignissen – Töne, Klänge, Geräusche – [versteht], die als solche in ihrer Abgegrenztheit von der sonst akustisch wahrnehmbaren Umwelt aus irgendeinem Grund als wertbehaftet gilt. [...] [D]ie Erzeugung der Schallereignisse ist soziales Handeln, das einen auf das Verhalten anderer gerichteten Sinn aufweist.« In der Musikwissenschaft gibt es drei grundlegende Definitionsebenen, um den Musikbegriff zu bestimmen: Erstens durch seine Nichtbe13 | In der Soziologie kennzeichnet der Begriff ›Funktion‹ eine reziproke Beziehung zwischen Elementen und hebt hervor, dass bestimmte Elemente einen Beitrag für die Gesellschaft leisten – zu deren Erhaltung und struktureller Kontinuität bzw. zu ihrem Wandel. Übertragen auf die Musiksoziologie bedeutet dies, wie Haselauer (1980: 200) hervorhebt: »[D]ie Funktion von Musik [meint] ihr tatsächliches Funktionieren [...], also die musikalische Praxis. [...] Funktion der Musik heißt daher einfach: was soll sie, was tut sie, wofür benützen Menschen sie, wofür setzen sie sie ein, auf welche Weise ist sie wem oder welcher Seite dienlich?«

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stimmung, weil eine »innere Einheit des Musikbegriffs« (Dahlhaus 1985: 13) letztlich nicht auszumachen ist. Viele der einschlägigen Handbücher und Lexika der Musikwissenschaft heben diesen Aspekt in ihren Artikeln zum Stichwort Musik hervor, wie z. B. Die Musik in Geschichte und Gegenwart (Riethmüller/Hüschen 1997: 1195 f.), The New Grove Dictionary of Music and Musicians (Nettl 2001: 425 f.), Riemann Musik Lexikon (Eggebrecht 1967), Sachwörterbuch der Musik (Thiel 1984: 405-407), Musik Lexikon (Moser 1955: 822 ff.) – dies gilt ebenfalls für den Artikel Musik im Wörterbuch Ästhetische Grundbegriffe der beiden Musikwissenschaftler Christian Kaden und Volker Kalisch (2002: 256, 258).14 Zweitens durch die Fokussierung des musikalischen Gehalts der Musik (vgl. u. a. Brockhaus Musik 1982: 509 f.) und drittens durch die Akzentuierung des Geistesgehalts der Musik (vgl. u. a. dtv-Atlas zur Musik 1986, Bd. 1.: 11; Moser 1955: 822; Riemann Musik Lexikon 1967, Sachteil L-Z: 601).15 In allen drei Definitionsebenen fungiert die Bestimmung der Musik durch die Interdependenz von Sinnen (Wahrnehmung) und Sinn (Bedeutung) bzw. der Sinne des Sinns und des Sinns der Sinne als Leitbezugsrahmen.16 Im Spannungsfeld der Soziologie der Musik als Bindestrich-Soziologie bzw. Spezielle Soziologie in der Fachsoziologie (mit Akzent auf dem sozia14 | Michael Rappe danke ich herzlich für seine instruktiven Hinweise zum und unseren intensiven Austausch über das Verständnis von Musik in den Musikwissenschaften. 15 | Im populärwissenschaftlichen Kontext von Wikipedia findet sich eine technisch fokussierte, relativ detailliierte und bemüht wertfreie Bestimmung von Musik als Musik, die zahlreiche Aspekte aus dem Kontext musikwissenschaftlicher Definitionsversuche vereint: »Musik (ȝȠȣıȚțү>IJȑȤȞȘ@PRXVLNƝWHFKQƝ: ›musische Kunst‹) ist eine organisierte Form von Schallereignissen. Zu ihrer Erzeugung wird akustisches Material – Töne und Geräusche innerhalb des für den Menschen hörbaren Bereichs –, das einerseits physikalischen Eigengesetzlichkeiten, wie zum Beispiel der Obertonreihe oder Zahlenverhältnissen unterliegt, andererseits durch die Art seiner Erzeugung mit der menschlichen Stimme, mit Musikinstrumenten, elektrischen Tongeneratoren, oder anderen Schallquellen gewisse Charakteristika aufweist, vom Menschen geordnet. Aus dem Vorrat eines Tonsystems werden Skalen gebildet; deren Töne können in unterschiedlicher Lautstärke und Klangfarbe erscheinen und Melodien bilden. Aus der zeitlichen Folge der Töne und Geräusche von verschieden langer Dauer entstehen Rhythmen. Aus dem Zusammenklang mehrerer Töne von jeweils anderer Tonhöhe erwächst Mehrstimmigkeit, aus den Beziehungen der Töne untereinander entsteht Harmonik.« (Wikipedia: »Musik«). 16 | Vgl. hierzu Plessners (1980) Entwurf einer Philosophischen Anthropologie (»Ästhesiologie des Geistes«), als Kritik an den klassischen Positionen von Kant (1990: 58, B 29) und Hegel (1986: 173), die den Menschen als »Subjekt-Objekt der Natur und als Subjekt-Objekt der Kultur« aus »einer Grundposition« heraus versteht (vgl. hierzu Karpenstein-Eßbach 2004: 24 ff.; vgl. Hörisch 2001 zum Zusammenhang von Sinn und Sinnen).

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len Kontext von Musik) und der Musiksoziologie als Hilfswissenschaft innerhalb der Systematischen Musikwissenschaft (mit Fokus auf der Musik als ästhetischem Medium17) ergeben sich grundlegende Unterschiede in der Forschungsausrichtung, aus der eine für den interdisziplinären Dialog problematische Diskursgrenze zwischen beiden Disziplinen entsteht – letztlich existiert bis heute kein gemeinsames Forschungsfeld mit dem Titel Musiksoziologie. Diese Diskurs- und Disziplingrenze wurde bisher auch nicht grundsätzlich überwunden, trotz aller Bekenntnisse zum Willen und zur Notwendigkeit von Interdisziplinarität aus der Soziologie und der Musikwissenschaft. Zumindest vier Fragen seien an dieser Stelle genannt (vgl. zu den Fragen zwei und drei De la Motte-Haber 2007): 1.

2. 3.

4.

Ist für die Musiksoziologie der Zugang über Musik als einem akustisch-klingenden Medium sachadäquater oder vielmehr der hinsichtlich des sozialen Gebrauchs der Musik? In welchem Verhältnis stehen die soziale Wirkung der Musik und die Wirkung der Musik selbst? Soll sich die Musiksoziologie auf das Gesellschaftliche in der Musik oder auf die Bedingungen von Musik in der Gesellschaft und ihre speziellen Gebrauchsweisen konzentrieren? »Sollen musikalische Inhalte Gegenstand der Musiksoziologie sein, oder soll sie sich auf die Untersuchung des sozialen Kontextes von Musik beschränken« (Inhetveen 2010: 331)?

Die Setzung dieser binären Oppositionen selbst, die sich mit Blick auf die spannungsreichen Interdependenzen von Gesellschaft und Musik (Soziologie) sowie Musik und Gesellschaft (Musikwissenschaft) ergibt, wird von Bühl (2004: 91; vgl. Smudits 2006; Parzer 2007) grundsätzlich kritisiert: Die meisten Versuche einer Verhältnisbestimmung von ›Musik‹ und ›Gesellschaft‹ sind falsch gestellt, insofern sie erstens von einer (nicht gegebenen) Einheit der Musik wie der Gesellschaft und zweitens von der Möglichkeit einer einfachen und pauschalen Kausal- oder Funktionszurechnung ausgehen: entweder ist die Gesellschaft das (Kollektiv-)Subjekt, das ein Objekt ›Musik‹ hervorbringt, oder umgekehrt ist ›die Musik‹ (oder allgemeiner noch: ›die Kunst‹) das Subjekt (oder eine ›Schöpfung‹), die den inneren Gehalt (oder historischen Stellenwert) einer Gesellschaft definiert. Jeweils positiv oder negativ gewendet, gibt es dann vier 17 | In Umkehrung des Vorschlags von Smudits (2010: 330), der für »die Unterscheidung zwischen Musiksoziologie (sociology of music, eher soziologisch) und Soziologie der Musik (music-sociology, eher musikwissenschaftlich)« plädiert, bevorzuge ich, aufbauend auf der Argumentation meines Beitrags, die Unterscheidung zwischen Soziologie der Musik (eher soziologisch) und Musiksoziologie (eher musikwissenschaftlich). Einen soziologisch instruktiven Überblick und Einstieg zur Soziologie der Musik vermittelt Haselauer (1980).

D IE T AUBHEIT DES D ISKURSES Positionen: die Musik als ›Abbild‹ oder als ›Gegenbild‹ bzw. als geheime ›Steuergröße‹ der Gesellschaft oder als ›Flucht‹ vor der Gesellschaft.

Soziologie und Musikwissenschaft besitzen beide keine als einheitlich bestimmbaren Gegenstände, die kausal aufeinander bezogen werden können. ›Gesellschaft‹ ist ein ebenso abstrakter, offener und zugleich überdeterminierter Begriff wie ›Musik‹. Im Feld der Soziologie der Musik und der Musiksoziologie, so könnte man Bühl weiterdenken, kommt es vielmehr auf die materialreiche Analyse der hochgradig differenzierten Handlungsweisen und Praxisformen von Musik(en) in der bzw. den Gesellschaft(en) an – verbunden mit einer inter- bzw. transkulturellen Kompetenz. Diese Perspektive könnte eine rudimentäre Basis für einen interdisziplinären Dialog von Soziologie und Musikwissenschaft darstellen und als Ausgangspunkt fungieren, um über die spezifischen Kompetenzen, die Soziologie und Musikwissenschaft jeweils in die interdisziplinäre Arbeit einbringen könnten, nachzudenken. Die unterschiedlichen Ausrichtungen der Soziologie der Musik lassen sich, ohne dabei die Originalität und den Eigensinn einzelner Studien zu reduzieren, auf die Auseinandersetzung sowie Weiterentwicklung der Grundthemen der sechs in der Einleitung hervorgehobenen Klassiker der Soziologie der Musik zurückführen18: »Keiner der Klassiker betreibt eine Separierung der Musiksoziologie als Bindestrich-Soziologie« (Inhetveen 2010: 330). Georg Simmel entwickelt seine Gedanken zur Soziologie der Musik im Spannungsfeld von Kultursoziologie, Philosophischer Anthropologie und Ethnologie19 bzw. Interkultureller Soziologie. Die Leitthemen seiner Ausführungen sind die Entwicklung der Musik; das Verhältnis von Musik und Sprache sowie von Musik und Emotionen; die soziokulturellen Bedeutungen und die interkulturellen Unterschiede dieser Bedeutungen von Musik; der Kunstcharakter von Musik; die Regelorientierung der Musik und Musik als sozialisationsbedingtes Ausdrucksverhalten. Gerahmt werden seine Überlegungen durch eine heuristisch-anthropologische Fundierung der Musik-Sinne bzw. des Musizierens (Gehör, Stimme). Max Weber liefert aus der Position der Verstehenden Soziologie einen Beitrag zur Soziologie der Musik – kulturvergleichend und musikethnologisch fundiert. Weber untersucht mit Blick auf die abendländische Musik 18 | Vgl. für ausführliche und vergleichende Analysen sowie zur Weiterentwicklung der Soziologie der Musik sowie Musiksoziologie, zwei Themen, die nicht Gegenstand dieses Beitrags sind, u. a. Haselauer (1980); Blaukopf (1996); Inhetveen (1997); Bontinck (2010). Als weitere, frühe soziologische Referenzpunkte für die Soziologie der Musik nennt Blaukopf (1996) z. B. Auguste Comte (1969) und Herbert Spencer (1893, 1966), als nicht-soziologische Begründer der Musiksoziologie u. a. Helmholtz (1913), Ellis (1922), Combrieu (1907). 19 | Vgl. zur Musikethnologie und Anthropologie in den Musikwissenschaften u. a. Kaden/Mackensen (2006: 117-220).

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»die Entwicklungsbedingungen der spezifischen Formen abendländischer Rationalisierung« (Inhetveen 2010: 326) – fokussiert auf Notenschriften, Mehrstimmigkeit, Technologien der Musikinstrumente, Tonsysteme20, Harmonielehren, die Sozialisierung des Gehörs beim Publikum und den Einfluss sozialer Gruppe auf die Musikentwicklung. Paul Lazarsfeld stellt mit den Methoden der Empirischen Sozialforschung21 in seinen Hörerstudien den Beginn der modernen empirischen Rundfunkforschung (Rezeptionsforschung) dar. Es ging in der RAVAGStudie um die Erforschung des Radios als Massenkommunikationsmedium mit Blick auf die Meinungen sowie Wünsche der Hörer von Radio Wien. Die Leitfragen hierbei waren: Für welche Zielgruppe sendet Radio Wien? Welche Programminhalte sollen zu welchen Zeitpunkten und in welchem Zeitumfang gesendet werden? Der Einfluss des Programms auf das Hörerverhalten wurde differenziert nach Alter, Ort, Geschlecht und sozialer Schichtung (Bildung/Beruf) erforscht. Befragt wurden insgesamt 110.312 Hörer.22 Theodor W. Adorno entwickelt eine Kritische Theorie der Musik, in deren Kontext er Musik – allerdings nur diejenige, die sich in Form autonomer Kunstwerke manifestiert – als ein zentrales Element seiner Gesellschaftsanalyse und -kritik auffasst.23 Im Zentrum seiner Studien zur Soziologie der Musik steht das (authentische) Werk bzw. die musikalische Faktur. Musikalische Werke der ernsten Musik bzw. der autonomen Kunstmusik, etwa die Künstler der Zweiten bzw. Neuen Wiener Schule (u. a. Arnold Schönberg, Alban Berg, Anton Webern), zeichnen sich durch ihre Autonomie und Inkommensurabilität im Vergleich zur Unterhaltungsmusik bzw. leichten Musik aus – sie fungieren als Einspruch gegen gesell20 | Vgl. zur Weiterentwicklung einer Soziologie der Tonsysteme, wie sie Weber skizzierte, Blaukopf (1950). 21 | Vgl. zur Methodologie musiksoziologischer Forschung in den Musikwissenschaften u. a. Kaden/Mackensen (2006: 223-348). 22 | Haselauer (1980: 73) relativiert die Bedeutung empirischer Sozialforschung für die soziologische Analyse von Musik und das Musikverstehen: »Eine Methodologie, die aus dem Problemkreis ›Musiksoziologie‹ erwächst (und nicht in diesen hineingetragen wird), muss die irrationalen Momente dieses Kommunikationsvorganges ebenso berücksichtigen wie die Sinne, die vorsprachliche, zwischensprachliche oder übersprachliche Ausdrucksfähigkeit und Ausdruckswilligkeit des Menschen ebenso wie die Emotionen, die außermusikalischen Wirkkräfte ebenso wie den Schöpfungswillen und das schöpferische Äußerungsrecht jedes einzelnen Menschen.« 23 | Pfau (1997: 453 ff.) bewertet die Zuordnung von Adorno zur Soziologie der Musik als nicht gerechtfertigt: »Adornos Musiksoziologie ist strenggenommen keine ›Soziologie‹. Nicht der System- bzw. Handlungszusammenhang musikalischer Kommunikation (Produktion, Interpretation, ›Werk‹, Rezeption) steht im Zentrum des Interesses. Nicht die Genese bzw. Selbstorganisation des Sozialsystems Musik in seinen einzelnen Ausdifferenzierungen wird zum Thema.«

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schaftliche, kulturelle und künstlerische Hegemonie (vgl. Adorno 1997d: 260 f.). Seine stark normative Soziologie der Musik konzentriert sich wesentlich auf die »objektiv strukturiert[e] Beschaffenheit der Musik« und die »gesellschaftlich[e] Dechiffrierung musikalischer Phänomene selbst« (Adorno 1997d: 15, 204), die letztlich nur an den großen Werken der autonomen Kunstmusik nachvollzogen werden kann. Hierzu bedarf es des Expertentums, also großer musikalischer Sachkenntnis und darauf aufbauend differenzierter ästhetischer Urteilskraft. Bemerkenswert ist die Fülle an unterschiedlichen Themen, die Adorno in seinen Musikstudien bearbeitete, wie z. B. Hörertypologien, Typologie musikalischen Verhaltens, das Musikleben, Oper, Kammermusik oder den Zusammenhang von Massenmedien und Musik. Alfred Schütz analysiert aus der Perspektive der Phänomenologischen Soziologie Musik als Interaktion, d. h. intersubjektives Handeln, am Beispiel des gemeinschaftlichen Musizierens als eigensinniger Kommunikationssituation. Seine handlungstheoretische Fundierung der Soziologie der Musik liefert hierbei v. a. konstitutive Beiträge zu einer musikalisch basierten Gruppensoziologie, zu einer Sozialisationstheorie der Musik sowie zur akustischen Vergemeinschaftung (vgl. Becker 1951; vgl. Inhetveen 2010: 329 f.). Alphons Silbermann steht in der Kölner Tradition der empirisch-wertfreien Sozialforschung und widmet sich in seinen Musikstudien wesentlich der Rezeptionsforschung und den Massenmedien. Seinen soziologischen Ansatz zur Musik entwickelt er in deutlicher Distanz zu Adorno. Leitthema seiner Musikstudien ist das Musikerlebnis, »in dem sich die Interaktion zwischen musikalischen Produzenten und Konsumenten manifestiert. Dagegen ist die Musik selbst, in ihrer Unbestimmtheit und Ungreifbarkeit, der soziologischen Analyse weitgehend entzogen« (Inhetveen 2010: 328). Fraglich bleibt hierbei, wie die Interaktion zwischen Produzent und Rezipient unter Ausblendung des Kommunikats Musik überhaupt sachadäquat erforscht werden kann (vgl. Pfau 1997: 455). Besonders anschlussfähig für einen interdisziplinären Dialog zwischen der Soziologie der Musik und der Musiksoziologie sind insbesondere die Studien von Simmel und Weber – aus der Musikwissenschaft etwa die Arbeiten von Kurt Blaukopf (1989a/b, 1996: 270-297) und Alfred Smudits (2002) zur Mediamorphose der Musik, d. h. die globalen Veränderungen der Musik und des Musiklebens durch die Dominanz elektronischer Medien.24

24 | In der deutschen Fachsoziologie gibt es gegenwärtig (seit 2004) einen Versuch zur Institutionalisierung und Revitalisierung der Musiksoziologie in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) mit stark interdisziplinärer Orientierung. Auf der AG-Homepage werden Musik-, Kultur- und Naturwissenschaften als interdisziplinäre Dialogpartner hervorgehoben, nicht aber die Medienwissenschaft. Vgl. Kurt/Saalmann: »AG Musiksoziologie«.

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4. Z UR G EHÖRLOSIGKEIT DER M USIKSOZIOLOGIE Grundlegend für meine Auseinandersetzung mit der Soziologie der Musik und der Musiksoziologie ist der Zusammenhang von Musik und Medien, wie ihn Großmann (2002: 267) herausstellt und der vom Gros der soziologischen und Teilen der musikwissenschaftlichen Forschung allerdings ignoriert wird: Musik ist [...] als kulturelle Ausformung eines Modus der Wahrnehmung wie Hören, Sehen etc. zunächst selbst ein Medium ästhetischer Kommunikation. Klingende Strukturen erhalten dabei im Verlauf musikalischen Handelns ästhetische Bedeutung (Großmann 1991). [...] Wird Musik nun selbst Gegenstand eines anderen Mediums, sind strenggenommen die Folgen für das gesamte Bedingungsfeld zu berücksichtigen. Da dieses Medium auch die Handlungsvariabeln und damit den zentralen Prozess der Bedeutungsgenerierung strukturiert, folgt daraus weiter, dass es eine unabhängige ›Musik‹ jenseits des jeweiligen Mediums nicht geben kann. Die gängige Trennung zwischen einer zu vermittelnden Musik und einem Medium als Mittler ist aus medientheoretischer Sicht eine grobe und missverständliche Vereinfachung. Formulierungen wie ›Aufzeichnung und Übermittlung von Musik‹, die im Kontext der technischen Medien gebraucht werden, beschreiben von daher lediglich technische Funktionen vor einem auf die physikalische Akustik verkürzten Medienbegriff: Die Ebene der Musik als kulturellem Medium bleibt ausgeklammert.

Die von mir behauptete Gehörlosigkeit im Feld der Soziologie der Musik hat eine Vielzahl von Gründen: Musik wird, bis auf wenige Ausnahmen, nicht als Musik analysiert. Es findet keine grundsätzliche Einbettung der Musikanalysen in die Auseinandersetzung mit der für alle Medien konstitutiven Interdependenz von Sinnen und Sinn sowie der Technisierung von Sinnen und Sinn statt (vgl. Karpenstein-Eßbach 2004).25 Die Thematisierung der Stimme26 im Kontext von Musik und (digitalen) Medientechnologien bleibt aus. Eine intensivere Auseinandersetzung mit dem Zusammenhang von Musik und Körper fehlt. Eine Analyse der eigensinnigen Medialität und Technizität von Musik existiert kaum. Die vergleichende Diskussion mit den Untersuchungsfeldern Sound27, Schall, Geräusch 25 | Hierbei geht es um die Differenzierung von leiblich gebundener und medialtechnischer Sinnestätigkeit. »Mit der Technisierung der Sinne entsteht ein neuer Modus des Sinns und eine Modifikation der Sinnestätigkeit« (Karpenstein-Eßbach 2004: 68). 26 | Die Stimme als performatives Phänomen ist »nicht einfach Körper oder Geist, Sinnliches oder Sinn, Affekt oder Intellekt, Sprache oder Bild [ist], sondern sie verkörpert stets beides« (Kolesch/Krämer 2006b: 12). 27 | Eine soziologisch tragfähige Definition von Sound schlägt Schrage (2007: 139) vor: »Er [der Sound – MSK] unterscheidet sich von klassischen musiktheoretischen Begriffen dadurch, dass akustische Phänomene hinsichtlich ihrer per-

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und Rauschen (vgl. u. a. Hegarty 2007) sowie einem differenzierenden Bezug dieser zu der in der Soziologie der Musik untersuchten Beziehung zwischen dem Ton bzw. den Tönen, als Grundelement(e) der Musik, und Klang bzw. Klängen, wird nicht geführt. Ebenso wenig wie z. B. ein close reading von musikalischer Heterophonie und Polyphonie; von Lautstärke und Hörempfindlichkeit; dem massenmedialen Hören und »Wechselverhältnis von Audiotechnologien und Hörweisen« sowie den »technischen und sozialen Infrastrukturen [...] [des] auditive Erfahrungsraums« und die Diskussion der Frage, ob die Veränderung der Hörweisen durch Medientechnologie und Massenmedien als primär musikalisches Phänomen zu betrachten sind (Schrage 2007: 137, 135, 138). Das Auditiv-Akustische und seine medientechnologische Erschließung stellt insgesamt den blinden Fleck der Soziologie der Musik dar.28 Wirkte es vor zehn Jahren noch fast diskursrevolutionär, die Marginalisierung des Hörsinns in kultur- und medienwissenschaftlichen Diskussionszusammenhängen hervorzuheben, ist die Medialisierung und Technisierung des Hörens zu einem integralen Bestandteil medienkulturwissenschaftlicher Forschung geworden, aber auch die Entdeckung der Stimme als eigensinnigem Forschungsfeld:29 »Der akustische Sinn ist auf den Ausdruck bezogen, den wir in Tönen und Lauten mit ihrem Rhythmus, Volumen und Klang vernehmen oder selbst erzeugen. Töne sind deutbare Sinngehalte. Die Hervorhebung des Hörens als Verselbformativen Qualitäten bewertet werden: Nicht Ausdruck, sondern Eindruck steht im Vordergrund. Sound setzt die soziale Verbreitetheit und die technologische Reproduzierbarkeit von akustischen Phänomenen als Schallereignisse an ein Massenpublikum voraus – die auditiven Infrastrukturen stellen gleichsam den soziotechnischen Resonanzraum von ›Sound‹ dar [Hervorhebung im Original – MSK].« Vgl. zum Thema Sound u. a. Kleiner/Szepanzki (2003); Phleps/van Appen (2003); Segeberg/Schätzlein (2005); Schulze (2008); Meyer (2008); Spehr (2009). 28 | Vgl. zum Auditiv-Akustischen u. a. die Beiträge in Cox/Warner (2004); vgl. auch Schafer (2010). Binas-Preisendörfer (2008: 192) beschreibt die herausragende Bedeutung des Auditiv-Akustischen wie folgt: »Das Akustische, das Hörbare grundiert jene sinnlichen Eindrücke beziehungsweise ist Teil dieser Eindrücke, Wahrnehmungsmuster und Gestaltformen, die wir gemeinhin als Musik bezeichnen. Ohne die aisthetischen Wirkkräfte des Akustischen – keine Musik. [...] Wie abhängig voneinander die Sinne des Akustischen, Visuellen und Taktilen – das Multisensorische – bei Musik auch sind und wie diskursiv unterschiedlich aufgeladen der Begriff von Musik in der Geschichte und den Regionen der Welt auch immer sei, ohne Schalldruck, Ohrmuschel, Gehörgang, Trommelfell, Gehörknöchelchen, Haarzellen, Hörnerv und die entsprechenden Verschaltungen im Gehirn – keine Musik; Gleiches gilt für Klang respektive Sound.« 29 | Vgl. u. a. Göttert (1998); Institut für Neue Musik und Musikerziehung (2003); Epping-Jäger/Linz (2003); Felderer (2004); Kolesch/Krämer (2006a); Dolar (2007); Kolesch/Pinto/Schrödl (2008); Kittler/Macho (2008).

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ständigung des reinen klanglichen Ausdrucks findet sich in der Musik und in der Inszenierung der menschlichen Stimme« (Karpenstein-Eßbach 2004: 52). Die Beschränkung auf die Tradition abendländischer Kunstmusik und die sehr reduzierte Auseinandersetzung mit Populärer Musik und Popmusik, trägt ebenso zur Gehörlosigkeit der Soziologie der Musik bei wie die mangelnde Interdisziplinarität Der verstärkte Blick auf die internationale Szene fehlt30 der deutschsprachigen Soziologie der Musik ebenso wie die intensivere Auseinandersetzung mit Musik im Kontext von Globalisierung und Interkulturalität (vgl. Inhetveen 2010: 336 f.). Die Musiksoziologie teilt mit der Soziologie der Musik einen Teil dieser Gehörlosigkeit – hinsichtlich der Forschungsfelder Sinne/Sinn, Sound/Geräusch/Schall/Rauschen, (Digitale) Musik/(Digitale) Technik31 , Populäre Musik/Popmusik32 –, zeichnet sich zugleich aber durch eine beachtliche soziologische Kompetenz im Hinblick auf die Forschungsfelder Sozialgeschichte der Musik, Musikalische Sozialisation, Musikalische Lebenswelten, Musikpädagogik und Musiktherapie aus. Umgekehrt weist die Soziologie der Musik nur wenig musiksoziologische bzw. musikalische Kompetenz auf. Grundlegend für die Konstitution einer interdisziplinär tragfähigen Musik-Soziologie als Synthese aus soziologischen und musikwissenschaftlichen Ansätzen, ohne die musik-soziologische Forschung weder in der Fachsoziologie, noch in der Musikwissenschaft von (inter- bzw. trans-) disziplinärer Bedeutung sein wird, ist die Fundierung der Musikanalyse 30 | Vgl. u. a. Shepherd (1991); Martin (1995, 2006); DeNora (2000, 2003). 31 | Ausnahmen in den letzten beiden Feldern stellen etwa Forschungsarbeiten aus dem Umfeld des Forschungszentrum Populäre Musik der Humboldt Universität Berlin dar, die sich in der Schriftenreihe »PopScriptum« zu den Themen »Musik und Maschine (07)«, »Instrumentalisierungen – Medien und ihre Musik (09)« und »Das Sonische – Sounds zwischen Akustik und Ästhetik (10)« finden. Eine frühe musikwissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Bedeutung der Materialität und Technizität von Musik, als entscheidendem Einflussfaktor für die Komposition von Musik, findet sich, wie Blaukopf (1996: 102 f.) hervor bei Jules Combarieu (La musique, ses lois, son évolution, 1907). 32 | In der deutschen bzw. deutschsprachigen Musikwissenschaft spielt die Forschung zu Populärer Musik und Popmusik eine sehr marginale Rolle, wenn gleich die damit befassten Wissenschaftler und Institutionen umfangreich sowie differenziert publizieren. Zudem gibt es auch kaum entsprechende Professuren für Populäre Musik/Popmusik in der deutschen bzw. deutschsprachigen Musikwissenschaft – diese werden aus den Kernfeldern der Musikwissenschaft zudem sehr kritisch betrachtet. Vgl. hierzu die Pionierarbeit von Peter Wicke (HumboldtUniversität Berlin) und seines Forschungszentrum Populäre Musik sowie die Aktivitäten des Arbeitskreis Studium Populäre Musik e.V. und ihre Publikationsreihe Beiträge zur Popularmusikforschung; vgl. zur »Popmusicology« aktuell auch Bielefeldt/Dahmen/Grossmann (2008).

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im Spannungsfeld von Sinnen und Sinn.33 Für eine sich kulturwissenschaftlich verstehende Medienwissenschaft stellt die Auseinandersetzung mit der Interdependenz von Sinnen und Sinn die Grundvoraussetzungen jeder Medienreflexion und -analyse dar, verbunden mit der daran anschließenden Erörterung von Techniken, Wirklichkeiten und Künsten (vgl. Karpenstein-Eßbach 2004). Genau dieser Ansatz stellt die Möglichkeit dar, die Gehörlosigkeit der Soziologie der Musik und in Teilen der Musiksoziologie zu überwinden und einen Dialog zwischen Soziologie, Musikwissenschaft und Medienwissenschaft im Feld der Erforschung von Musik und Auditiven Medienkulturen zu beginnen.

5. F A ZIT Musik kann nicht exklusiver Gegenstand einer Fachdisziplin sein – das gleiche gilt für die Erforschung Auditiver Medienkulturen. Auch die Musikwissenschaft ist im Hinblick auf ihren Hauptgegenstand ›Musik‹ nicht Herr im eigenen Haus.34 Mit diesem Verweis soll auf die Tatsache hingewiesen werden, dass disziplinäre Grenzziehungen nicht natürlich sind, sondern sich historisch herausgebildet haben und trotz institutioneller Verfestigung verschoben werden können. Musikanalyse, als Teilbereich der Erforschung Auditiver Medienkulturen, sollte daher transdisziplinär (vgl. Mittelstraß 2003; vgl. auch Mittelstraß 1998) werden, d. h. die Grenzen ihrer disziplinären Wissensproduktionen, wie auch die Grenzen zwischen wissenschaftlichem Wissen und Praxiswissen überschreiten. Es bietet sich, gerade hinsichtlich der Konstitution eines transdisziplinären Forschungsdesigns an, die einzelnen Untersuchung der unterschiedlichen Phänomene des Auditiv-Akustischen unter dem Leitbegriff Auditive Medienkulturen zu vereinigen. Dieser Leitbegriff adressiert einen komplexen Forschungsgegenstand, der nicht mehr exklusiv disziplinär zugeordnet werden kann. Hiermit erhält Musikforschung einen Prozesscharakter, ihre Erkenntnisse wachsen in einem interaktiven, kommunikativen und rekursiven Forschungsprozess, der eine disziplinenunabhängige Systematisierung von Wissen sowie Verallgemeinerbarkeit und Theoriebildung, die auf kontextbezogenem Wissen basiert, ermöglichen soll. Die Komplexität der jeweiligen konkreten musikalischen Untersuchungsgegenstände können somit durch eine disziplinenexterne Problemstellung vorgegeben und müssen nicht dem Erkenntnisanspruch einer Disziplin allein unter33 | Auch im Kontext der Popmusikforschung spielt dieser Zusammenhang eine zentrale Rolle (vgl. u. a. Frith 1981: 35; Storey 1998: 123 f.; Wicke 204: 116 ff.). 34 | Diese Formulierung spielt auf Freuds (1988: 11) berühmten Satz, dass das »Ich nicht Herr im eigenen Haus« sei, an. Freud deutet hiermit an, dass das Ich eine in sich bewegliche, nicht-substanzielle, sondern haltlose Summe von Identifikationen, eine imaginäre Funktion ist.

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geordnet bzw. angepasst werden – mit Blick auf diesen Beitrag also der Soziologie, der Musikwissenschaft oder der Medienwissenschaft. Problemverständnis, Problemdefinition und Problemlösung werden hierbei disziplinunabhängig entwickelt. Der Autonomieverlust der jeweils beteiligten Disziplinen ist hierfür die Grundvoraussetzung. Diese Bereitschaft hat es bisher in der Fachsoziologie und der Musikwissenschaft nur selten gegeben, ebenso wie konkrete interdisziplinäre Dialoge und gemeinsame Forschungsprojekte. Die Medienwissenschaft als Patchwork-Wissenschaft mit eigenständigen Kompetenzbereichen demonstriert seit ihrem Bestehen als Fachwissenschaft in Deutschland sowie im deutschsprachigen Forschungsraum die Produktivität des disziplinären Autonomieverlustes bzw. ihre inter- und transdisziplinäre Kompetenz. Die marginale Relevanz der Soziologie der Musik in der Soziologie und der Musiksoziologie in der Musikwissenschaft, an der sich auch in den nächsten Jahren voraussichtlich nur wenig ändern wird, weil beide Bereiche nicht als zukunftsweisende Kernpunkte der beiden Disziplinen betrachtet werden, verdeutlicht, dass eine andere Forschungspragmatik notwendig ist, um die beachtlichen Leistungen der Soziologie der Musik und der Musiksoziologie auch weiterhin zum Gehör zu bringen und im Kontext einer transdisziplinären Erforschung Auditiver Medienkulturen nutzbar zu machen. Den Kompetenzbereich, den die Soziologie der Musik hierzu einbringen kann, ist die multiperspektivische Erforschung der sozialen und kulturellen Horizonte von Musik, aus dem im transdisziplinären Forschungskontext ein neuer Schwerpunkt im gesamten Feld Auditiver Medienkulturen hervorgehen muss, also auch die Diskussion der Frage, inwiefern die Forschungsergebnisse des Teilbereichs Musik repräsentativ für den Gesamtzusammenhang sind. Dazu gehört wesentlich die Arbeit an einer eigensinnigen Analyse der Ästhetik des Sozialen und Kulturellen, denn Auditive Medienkulturen sind v. a. ästhetische Medienkulturen. Diese Frage muss die Musikwissenschaft mit Blick auf die Ästhetik der Musik und die Medienwissenschaft hinsichtlich der Ästhetik des Medialen und der Technik beantworten. Die Musikwissenschaft muss darüber hinaus zu diesem Forschungsfeld die umfassende Analyse von Musik als Musik beisteuern, die Medienwissenschaft die zur Medialität und Technizität von Musik. Zu einer transdisziplinären Grundlegung der Musikanalyse müssten weiterhin gegenstandsrelevante Forschungen aus den Neurowissenschaften, der Psychologie, der Physik, Mathematik, Elektrotechnik und Informatik integriert werden. Die Medienwissenschaft hat sich bisher am Umfangreichsten mit dem Forschungszusammenhang Auditive Medienkulturen beschäftigt. Dazu beigetragen hat, das sie sich nicht exklusiv mit der Musik auseinander setzt, sondern Musikanalyse in das übergeordnete Feld Auditiver Medienkulturen einordnet.

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Klang als epistemische Ressource und als operativer Prozess Sebastian Klotz

Aus den vielfältigen wissenschaftlichen Diskursen und technischen Implementierungen, die sich auf Klänge berufen bzw. mit ihnen operieren, ist weder ein allgemein akzeptiertes Konzept von Klang hervorgegangen noch ist Übereinkunft über die Methoden einer prognostizierten Klangwissenschaft erzielt worden. Dennoch ist die Konstellation äußerst produktiv. Die Thematik des Klangs birgt offenbar so viel epistemische Energie, dass sie den verschiedensten Zugängen einen Rahmen zu geben vermag. In diesem Sinne liegt ein ähnlicher Mechanismus vor wie im frühen 20. Jahrhundert, als der Begriff der ›Gestalt‹ und mit ihr verbundene holistische Konzepte eine übergreifende Klammer für Erkenntnisse und Methoden der Philosophie, Psychologie, der Natur- und Humanwissenschaft im allgemeinen zur Verfügung stellte.1 Dabei erwies sich die Unschärfe von Gestaltkonzepten geradezu als Vorteil, um die verschiedensten Modelle und Interpretationen reifen zu lassen und ihnen wissenschaftliche Legitimität zu verleihen. Die Kategorie Gestalt erlaubte Rückgriffe auf unterschiedliche konzeptionelle und methodische Ressourcen, so dass sie als generative Metapher in den Wissenschaften fungieren konnte.2 Auf der Suche nach vergleichbaren produktiven Unschärfen stößt man im Falle der Klangforschungen unweigerlich auf die begrifflichen Felder von Geräusch, Klang, Signal und Musik. Sie verbinden jeweils eigene Forschungskulturen, psychoakustische und ingenieurtechnische sowie ästhetisch-künstlerische Motivationen und Traditionen. Symptomatisch für gegenwärtige Entwicklungen scheint der Umstand, dass klangbezogene Anwendungen eine kulturelle Kontextualisierung anstreben, so dass die rein technische Domäne der Signalherstellung und -verarbeitung

1 | Zu dieser Kontextualisierung der Gestalttheorie, vgl. Ash: Gestalt Psychology in German Culture, S. 6 f. 2 | Ebd.

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ständig kulturalistisch überschrieben wird.3 Andererseits bemüht sich die Medienwissenschaft um eine konsequente Schärfung des Bewusstseins der völlig verschiedenartigen Domänen, die hier überkreuzt werden. Die am konsequentesten von Wolfgang Ernst entwickelte und inzwischen breit untersuchte These besagt, dass Klänge als Effekte und Betriebsmodus zeitkritischer, technischer Systeme nicht bereits kulturelle Bedeutungen tragen, sondern hier eine Ebene des Sonischen zu avisieren ist. Diese Ebene ist gekennzeichnet durch die Operativität zeitkritischer Prozesse und allen kulturellen Codierungen von Klang vorgelagert. Dadurch werden die technischen Voraussetzungen der Erzeugung und Diffusion von klanglichen Prozessen hervorgehoben, die in der klassischen musikalischen Analyse mehr oder weniger als gegeben vorausgesetzt werden.4 Diese These ist diskutierenswert und birgt eine energische Sondierung des Feldes von Klang, Signal und Sinn, die den Klangwissenschaften insgesamt schärfere Konturen verleihen könnte. Vor allem weist diese Zuspitzung auf die offenen Fragen, was unter Klängen inmitten hochtechnologischer Produktionsbedingungen zu verstehen ist, über welche Beziehung zu kulturellem Sinn sie verfügen, und welches Verhältnis zur semantisch komplex umstellten kulturellen Praxis MUSIK5 sie haben. Daraus ergibt sich die weit reichende Frage danach, ob Klänge mit Mitteln einer an Kausalität und klassifikatorischer Analyse orientierten Wissenschaft zu beschreiben sind oder ob hier nicht auf Operativität als fruchtbringendem Zugang umgestellt werden könnte. Eine Wissenschaft von zeitkritischen Medien mit erkenntnistheoretischen Ambitionen würde damit auch über Ästhetik, die Dirk Baecker zufolge an die Stelle von Kausalität getreten ist,6 hinausgehen. Dass in digitalen Klangmedien eine Operativität wirksam ist, die sich kausalen Zuschreibungen entzieht, weil Parallelverarbeitung vorliegt, weil Programm und Ausführung, Symbolisches und Operatives kaum noch zu trennen sind, ist evident. Klänge instantiieren Selbsterrechnungen, die sich den aus der Musikforschung vertrauten analytischen Werkzeugen entziehen.7

3 | So unterliegen die technischen settings, in denen Klänge und ihre neuronale Verarbeitung erforscht werden, zweifelsohne kulturellen Prägungen, die nur selten explizit dargestellt werden. Umso häufiger sind Inanspruchnahmen von Konzepten des ›Menschen‹, des ›Hörens‹, der ›Sprache‹, der ›Emotion‹ usw. zu verzeichnen. 4 | Bereits angelegt in Ernst: »Medienwissen(schaft) zeitkritisch«; detailliert ausgeführt in Ernst: »Zum Begriff des Sonischen«. Siehe auch Ernst: »Die Frage nach dem Zeitkritischen«; Volmar: Zeitkritische Medien. 5 | Mit der Großschreibung wird signalisiert, dass hier der pathetische Begriff von Musik im Sinne der klassischen, subjektzentrierten Ästhetik und traditionellen Musikhistoriographie gemeint ist. 6 | Baecker: »Kopfhörer«, S. 141. 7 | Miyazaki: »Das Algorhythmische«, S. 389.

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Sobald man diese Sichtweise akzeptiert, tritt eine Agenda der Klangwissenschaften hervor, die verschiedentlich artikuliert worden ist,8 hier aber mit Nachdruck akzentuiert werden soll: Was zeigt sich in Klängen? Was sind die Existenzweisen von Klängen? Welches Wissen kommt in ihnen zum Vorschein?9 Welche Instanzen erzeugen und operieren mit Klängen? Sind Klänge relevant auch jenseits ihres Gehörtwerdens? Lässt sich über Klänge sinnvoll verhandeln ohne die Annahme ihrer Wahrnehmung? Liegen Klänge in Form von Objekten vor, stellen sie Prozesse dar oder ist genau diese Frage unter digitalen Vorzeichen nicht mehr zu entscheiden? Wie funktionieren die Vermittlungen zwischen den symbolischen, realen und technisch-materiellen Ebenen von Klängen? Sind diese Vermittlungen durch menschliche Akteure oder durch technische Systeme zu beobachten? Lassen sich Klänge in Form von Klängen beschreiben?10 Zu welchen Subjektivitäts- und Objektivitätszuschreibungen laden Klänge ein? Verfügen Klänge über einen content? Im Folgenden soll zunächst die Stichhaltigkeit der Annahme überprüft werden, der zufolge Klang eine generative Metapher in den Wissenschaften sei. Dazu werden zunächst Forschungen und Modelle auf dem Gebiet des Sound and Music Computing sondiert, weil sie eine Schnittstelle technologisch-zeitkritischer Prozeduren und der Generierung und Analyse von Klangsemantiken bilden.11 Die Darstellung berührt darüber hinaus Prämissen und Methoden der Musikwissenschaft, der musikalischen Kognitionsforschung und der Medienarchäologie zeitkritischer Prozesse. Sie mündet in ein Plädoyer für Klang und Klangwissenschaft als operational research, die sich in programmatischer Weise vom Verstehensbegriff löst, der mit der Erforschung von MUSIK verbunden war.

S IGNAL UND S INN . P R ÄMISSEN MUSIK ALISCHER K OMPUTATIONSFORSCHUNG Die bislang eingehendste Bestandsaufnahme zu Sound and Music Computing (SMC) rückt nicht die technischen Grundlagen in den Mittelpunkt sondern die Frage nach dem Sinn. Sound to Sense, Sense to Sound.12 Den 8 | Volmar: »Gespitzte Ohren«, S. 20. 9 | Vgl. den soeben erschienenen Band Schoon/Volmar: Das geschulte Ohr. 10 | Wolfgang Hagen warf diese Frage in einem Arbeitsgespräch mit Markus Gammel und dem Autor im Sommer 2011 auf. 11 | Sound and Music Computing entwickelt Verfahren der computerisierten Formalisierung und Analyse klanglicher und musikalischer Objekte. Ein besonderer Reiz besteht in der Engführung mit Prozessen menschlicher Wahrnehmung, denen ebenfalls analytisch-synthetische Dimensionen zugesprochen werden, die nun komputational simuliert werden können. 12 | So der Titel des aus EU-Mitteln finanzierten Forschungsprojekts. Siehe Polotti/Rocchesso: Sound to Sense, Sense to Sound.

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Projektbeteiligten schwebt ein Brückenschlag vor, der die »Lücke« zwischen Klang und Sinn schließen möge. Die Paradoxa einer zugleich informatischen und einer kultursemantischen Lektüre der Zusammenhänge von Klang und Sinn treten hier in offener Weise zutage, ohne dass die Beteiligten dies selbst einräumen. Heißt es zunächst, ganz im Sinne der vorliegenden Versuchsanordnung, »sound and sense are two separate domains«13, werden die Domänen nicht in ihrer Eigenart exponiert, sondern aufeinander projiziert. Die Crux informatischer Zugänge, die es nicht bei der programmier- und signaltechnischen Modellierung belassen, sondern Sinnanschluss suchen und hierzu auf dem Gebiet klingender Sinnhaftigkeit auf den Gegenstand MUSIK stoßen, ist hier greifbar. Auch eine differenzierte Darstellung dessen, was hier unter Sound und was unter Music verstanden wird, bleibt aus. Die Situation ist insofern instruktiv, weil sie das Potential vor Augen führt, das in klangbezogenen Forschungen steckt. Aufgrund der Suche der SMC-Akteure nach kulturellen Kontextualisierungen lässt sich ein Rendezvous beobachten, das die Bandbreite von Klangforschungen belegt und dabei seine eigenen Widersprüche und Querstände noch gar nicht entdeckt hat. Denn mit der Verabredung, die »sound/sense relationship as a natural relationship« zu betrachten,14 werden weitere Annahmen eingebracht, die einer kritischen Betrachtung bedürfen und noch einmal verdeutlichen, dass die Implementierung von Natürlichkeit kritisch zu befragen ist. Diese Befragung kann allerdings nicht abstrakt wissens- oder kulturkritisch vor sich gehen, sondern muss die involvierten technischen Modelle und Infrastrukturen nachvollziehen und in ihrer Operativität freilegen.15 Dann ließe sich sondieren, inwieweit Klang und Sinn intuitiv-natürliche Konstellationen eingehen könnten. Wenn allerdings sound als physikalisch-objektives Kriterium gilt, sense eher mit privaten Gefühlen assoziiert wird und an sound die Erwartung gerichtet wird, sinnvolle Informationen bereit zu stellen,16 scheinen subjektphilosophische und pragmatische Annahmen so fest verankert zu sein, dass noch grundsätzlicher diskutiert werden müsste. Legen doch neue Forschungen, die schließlich auch auf dem Gebiet von SMC genutzt werden, nahe, dass ›Sinn‹ sehr viel weiter zu lesen ist: in Bezug auf Handlungsdispositionen, also inmitten ökologischer Systeme, bei denen Formen der verkörperten Kognition entscheidend sind und mithin der Mensch als Mediationsinstanz fungiert.17 Dieser Aspekt wird hier nicht weiter verfolgt, um sound zunächst auf der betriebsinternen Ebene im Sinne der oben gewählten Vorentscheidung zu betrachten. Es bleibt fest-

13 | Ebd., S. 12. 14 | Leman u. a.: »Sound, Sense and Music Mediation«, S. 33. 15 | Die Aufsätze von Carlé und Miyazaki führen dies jeweils anhand unterschiedlicher Materialien vor Augen. 16 | Leman u. a.: »Sound, Sense and Music Mediation«, S. 16. 17 | Vgl. Leman: Embodied Music Cognition and Mediation Technology.

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zuhalten, dass die SMC-Szene Interesse daran hat, ihre Paradigmen zu historisieren und bis in die Antike zurückzugehen.18 Die Aussagen zu operativen Prozessen, die hierzu innerhalb von SMC unterbreitet werden, sind selbstverständlich auf der Ebene der Signalverarbeitung anzusiedeln, obgleich Signale nicht in den Rang der Konzepte Sound und Sense erhoben werden. Es fehlt eine ausgearbeitete Theorie des Signals, eine Erläuterung wird jedoch geboten: »The word signal typically means the value of a measurable or observable quantity as a function of time and possibly as a function of place«19 . Folgerichtig und entsprechend der oben getroffenen Verabredung, Klänge auf der rein operativen Ebene anzusiedeln, ist hier von Bedeutungen und Sinn nicht die Rede. Die Aussage findet im Kontext von Forschungen über Physics-Based Sound Synthesis statt, die durch die Spezialisten wiederum nur als Algorithmus – ohne Sinnangebot – eingeführt wird: »Physics-based sound synthesis focuses on developing efficient digital audio processing algorithms built upon the essential physical behaviour of various sound production mechanisms«20. Die Weiterungen, die Physics-Based Modelling hat, werden allerdings an anderer Stelle explizit gemacht: Sie werfen die Fragen auf, ob Klänge als Eigenschaften klangerzeugender Prozesse betrachtet werden könnten, die sich von den kulturellen Semantiken von Sprache und Musik lösen21 und – nun wiederum auf die kognitiven Mechanismen menschlicher Hörer bezogen – ob auditive Perzeption nicht eine inhibierte Re-Synthese von Klängen darstellt, die gar nicht wirklich synthetisiert werden.22 Man betrachte dazu beispielsweise den Mechanismus der Frequenz-Selektivität, der bei der Verarbeitung auditiver Stimuli abgerufen wird: Tonotopic organization is maintained beyond the cochlea, through the brainstem structures, all the way to the primary auditory cortex. However, at all these stages convergence occurs, and different scales of frequency selectivity can be observed, with some units being as sharply tuned as those in the auditory nerve, and others being extremely broadly tuned, with bandwidths of several octaves. Responses in higher auditory centres tend also to be more complex and effects of wide-band neural inhibition are often observed, as are more complex time-dependencies than those found in the auditory nerve […] These different pathways and different scales imply parallel processing. 23

18 | Vgl. Leman u. a.: »Sound, Sense and Music Mediation«. Die Erkenntnisse von Aristoteles, Aristoxenos und Descartes bezüglich von Klang und Sinn werden eingehend diskutiert. 19 | Erkut u. a.: »Physics-Based Sound Synthesis«, S. 310. 20 | Ebd., S. 304. 21 | Rath: »Dynamisches Klang-Feedback in Mensch-Computer-Interaktion«, S. 221. 22 | Leman u. a.: »Sound, Sense and Music Mediation«, S. 32. 23 | Oxenham/Wojtczak: »Frequency Selectivity and Masking«, S. 6.

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In Bezug auf auditive Wahrnehmung ergibt sich Forschungsbedarf im Hinblick auf die Integration auditiver features in der auditiven Domäne und auf die Folgen, die eine Konzentration auf die Wahrnehmung in der auditorischen Modalität aufweist.24 Die spannende Frage, inwieweit diese menschlichen Simulationsfähigkeiten, denen komplexe Autokorrelationsmechanismen im Millisekundenbereich zugrunde liegen,25 die auf einer Ebene operieren, die noch nicht kulturell-semantisch aufgeladen ist, durch technologische Verfahren ihrerseits simuliert werden können, wird durch die Autoren nicht explizit verfolgt. Dabei weisen die im Projekt Sound to Sense – Sense to Sound unternommenen Forschungen genau in diese Richtung. Anstelle von durch Klängen evozierten Handlungsdispositionen, wie sie ökologische Theorien in der Musikpsychologie nahelegen,26 sind hier zunächst auditive Phänomene zu beschreiben und technisch zu kontrollieren. Der gesamte Komplex der musical feature extraction,27 die Entwicklung semantischer Deskriptoren und die in der auditiven Domäne angesiedelten Forschungen zum induktiven machine learning28 sind jedoch konfrontiert mit der Passage von technischen Algorithmen und statistischen Verfahren zu sinnträchtigen Merkmalen und Bedeutungen, weisen diese Übergänge und die Brisanz, die in der maschinellen Simulation der auditiven Wahrnehmung und auditiven Gedächtnisstrategien menschlicher Hörer liegen, kaum in differenzierter Weise aus. Ob Sinn in der Tradition der Informationstheorie als item und Eigenschaft des content extrahiert werden kann29 oder ob er mit komplexen klanginduzierten und klanggeleiteten Handlungsevokationen und -dispositionen zusammenhängt, kann innerhalb von SMC nicht entschieden werden.

24 | Spence/Santangelo: »Auditory Attention«, S. 266. 25 | Ebeling: Verschmelzung und neuronale Autokorrelation als Grundlage einer Konsonanztheorie. 26 | Vgl. Clarke: Ways of Listening. Diesen Theorien zufolge ist die Klangwahrnehmung kein rein kognitiver Vorgang. Diese Wahrnehmung umfasst ein breites Ensemble motivationaler, ästhetischer, urteilender Faktoren, so dass hier von verschiedenen Handlungsmodi gesprochen werden kann, zu denen Klänge und Musik die Hörer disponieren. 27 | Vgl. Müllensiefen u. a.: »High-level Feature Descriptors and Corpus-based Musicology«. Hier wird eine technische Simulation der Merkmale unternommen, die bei der Wahrnehmung von Musik relevant sind. 28 | Vgl. Widmer u. a.: »From Sound To Sense via Feature Extraction and Machine Learning«. Induktives machine learning formalisiert objektbezogene Prozesse, die bei der menschlichen Klang- und Musikverarbeitung wirksam sind. 29 | Kritisch dazu Stoffer/Oerter: »Gegenstand und Geschichte der Musikpsychologie«, S. 44-53.

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Taxonomisch-klassifikatorische und damit ontologische Verfahren, die am Beginn von content-Modellierungen stehen,30 sehen in Klängen und in Musik etwas, das auf ihre Bedeutung quasi rückgerechnet und modelliert werden kann; nicht als Phänomene, die bereits in sich eine Modellierung darstellen und über eine eigene epistemische und wissensbildende Spannkraft verfügen. Dabei weisen die Untersuchungen von Suzanne Filipic u. a. gerade nach, dass die schiere Menge an Informationen, die Probanden bei der Wahrnehmung eines Musikbeispiels von 250 ms Dauer zur Verfügung steht, nicht für die emotive Bewertung musikalischer Hörbeispiele entscheidend ist,31 so dass die Maxime einer exhaustiven Datenverarbeitung, die unterschwellig in SMC gilt, hier an ihre Grenzen stößt. Damit wäre aber auditive Wahrnehmung im Vorfeld kognitiver Urteilsund Bedeutungsbildung ganz anders zu modellieren. Abgesehen davon, dass im Versuchsaufbau von Filipic u. a. die Realität der Sampling-Kultur mit ihren extrem kurz getakteten akustischen Materialien bis in die Gefilde der musikalischen Kognitionsforschung durchgedrungen ist (was begrüßenswert ist), könnte eine epistemisch alerte Klangwissenschaft hier intervenieren, indem sie konzeptionelle Kurzschlüsse und deren Implikationen für noch so anspruchsvolle technische Modellierungen benennt. Die von Marc Leman angeführte Trias des music content processing, die eine intuitiv-spekulative (Musiksemiotik Musikwissenschaft), eine empirisch-experimentelle (Psychologie, Physiologie, Neuro-Musikologie) und eine informatisch-modellierende (u. a. SMC) Dimension beinhaltet,32 ist hier zu grobmaschig und reproduziert indirekt die wenig überzeugende Weichenstellung eines stets subjektiven Sinns und eines objektiv beschreibbaren Klangs (s.o.). Außerdem wird hier nicht erkennbar, ob der Signalbegriff selbst, wie es Shintaro Miyazaki andeutet,33 im Zeichen der klangmedialen Verfahren im Hinblick auf seinen Zeichen- und Informationscharakter in anderer Weise bestimmt werden muss. Insofern wäre die Trias durch die bereits etablierten medienarchäologischen und medienkritischen Zugänge zu bereichern, die einen anderen und neuartigen Begriff von Empirie praktizieren. Diese Empirie richtet sich auf die technische Prozessualität von Medien.

30 | Vgl. das Projekt von Gouyon u. a.: »Content Processing of Music Audio Signals«, S. 89. 31 | Filipic u. a.: »Judging Familiarity and Emotion from Very Brief Musical Excerpts«, S. 340. 32 | Gouyon u. a.: »Content Processing of Music Audio Signals«, S. 93. 33 | Miyazaki: »Das Algorhythmische«, S. 393.

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I NHALT UND E SSENZ IM A UDIO P ROCESSING UND IN DER M USIKFORSCHUNG Ein weiteres Paradox, das auf dem Feld klangforschender Disziplinen und ihren unterschiedlichen Motivationen beobachtet werden kann: ContentBased Audio Processing operiert zu Zwecken der Parameter-Repräsentation mit Begriffen wie ›Inhalt‹ und ›Essenz‹, die in der avancierten Musikforschung kaum noch genutzt werden, da sie für bestimmte Theoreme der traditionellen Musikbetrachtung einstehen. Die datengeleitete Formalisierung auditiver Ereignisse, die vornehmlich anhand von Musik erprobt wird, stützt sich bei Content-Based Audio Processing auf Metadaten. Der content setzt sich aus den Dimensionen essence und metadata zusammen: Essence is the raw program material itself, the data that directly encodes pictures sound, text, video, etc. Essence can also be referred to as media (although the former does not entail the physical carrier). In other words, essence is the encoded information that directly represents the actual message, and it is normally presented in a sequential, time-dependent manner. On the other hand, metadata (literally, ›data about the data‹) is used to describe the essence and its different manifestations. […] We propose to consider as content all that can be predicated from a media essence. Any piece of information related to a music piece that can be annotated, extracted, and that is in any way meaningful (i.e. it carries semantic information) to some user, can be technically denoted as metadata. 34

Die Aussage unterstreicht, unter welch unterschiedlichen Voraussetzungen und konzeptionellen Prämissen am Projekt Klang bzw. Musik geforscht wird, denn aus der Sicht humanistischer Musiktheorien und der musikalischen Hermeneutik kann die Formalisierung von Parametern und Deskriptoren vielleicht Näherungen erbringen, aber den kognitiven und wahrnehmungspsychologischen Reichtum komplexer auditorischer Ereignisse nur ungenügend abbilden.35 Die avancierte Musikpsychologie untersucht Wahrnehmungsmechanismen zwar einerseits in Bezug auf einzelne Dimensionen wie Metrum- und Rhythmuswahrnehmung, Mehrstimmigkeit und Harmonie, argumentiert andererseits aber sehr vorsichtig mit ›Aufmerksamkeitsprozessen‹. An ihnen sind die verschiedenen Parameter in unterschiedlicher Weise beteiligt, wobei Wissensund Gedächtnisfunktionen sowie Bezugssysteme wie Schemata eine Rolle spielen.36 Inhalt, Gehalt und Essenz spielen hier als Kategorien keine Rolle. Gleichwohl ist die Motivation, Musikhören immer an ein Musikverstehen zu binden, offenbar unausweichlich – im Gegensatz zum Disposi34 | Gouyon u. a.: »Content Processing of Music Audio Signals«, S. 85-87. 35 | Vgl. den von Helga de la Motte-Haber bewusst als Ergänzung kognitiv-informationsverarbeitender Paradigmen ins Feld geführten, reichen Begriff »ästhetischer Erfahrung«. De la Motte-Haber: »Musikpsychologie«, insbes. S. 27-30. 36 | Vgl. Stoffer: »Aufmerksamkeitsprozesse beim Musikhören«.

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tiv des Sonischen, das sich von diesen Bedeutungszuschreibungen und Verstehensansprüchen zunächst freihält: Musikhören und Musikverstehen sind diesen neurophysiologischen Befunden zufolge keineswegs allein gekoppelt an das formal-syntaktische Zur-KenntnisNehmen musikalischer Strukturen. Nur in besonderen Fällen ist der Umgang mit Musik für den Hörenden ausschließlich analytisch-kognitiv begründet. Strukturell-analytische, emotionale, assoziative, motorische und vegetative Hörweisen ergeben im direkten Zusammenspiel eine vieldimensionale Matrix von Verstehenszusammenhängen. Gerade das macht den Reiz des Musikhörens aus. Die verschiedenen Hörweisen entsprechen der Intermodalität von Wahrnehmung und der Funktionalisierung von Musik im Hinblick auf die eigene Bedürfnislage. 37

Diese Matrix kann durch Content-Based Modelling vorerst noch nicht repräsentiert werden. Doch wie adressieren die Musikwissenschaft und die musikalische Kognitionsforschung38 die Sachverhalte, die SMC mit den Begriffen content und essence meint? In der Musikwissenschaft treten die im Content-Based Modelling aus logistischen Gründen noch formalisierten Parameter, mit denen content repräsentiert werden soll, überraschenderweise gerade in den Hintergrund. Das post-strukturale Fazit des Musikologen Nicholas Cook zur Frage musikalischer Bedeutung stellt sozusagen die Essenz dieser Parameter in Frage, wenn er musikalische Bedeutung im Sinne emergenter Eigenschaften relationaler Ereignisse charakterisiert, mit denen Hörer in vielfältiger Weise interagieren.39 Diese Eigenschaften, so darf man Cook paraphrasieren, sind vornehmlich auf der Ebene des Klanglichen anzusiedeln. Empirisch-experimentelle Modellierungen dieser Bedeutungsarbeit, also der Art und Weise, wie Bedeutungen emergieren, wären erst noch zu entwickeln.40 Allerdings müsste sich die musikalische Kognitionsforschung von ihrem engen Begriff musikalischer Perzeption lösen.41 Während die Musikforschung auf autonome strukturelle Akteure setzt und von der Annahme einer »zugrundeliegenden, abstrakten Struktur«42 verabschiedet, hält die musikalische Kognitionsforschung an einem kaum reflektierten Begriff von Musik fest. ›Musik‹ liefert Stimulusmaterial. Damit ist aber die größte technische Forschungsinfrastruktur, die auf der 37 | Rösing/Peters: Orientierung Musikwissenschaft, S. 67. 38 | Es handelt sich um hoch differenzierte Disziplinen. Im vorliegenden Rahmen können auch hier lediglich Forschungstendenzen markiert werden. 39 | Cook: »Musikalische Bedeutung und Theorie«, S. 123. 40 | Siehe den Versuch des Autors, anhand des Stimmungsbegriffs eine musikalische Semantik zu entwickeln, die nicht-identifikatorisch angelegt ist und auf ökologische Strategien, Einschwingungs- und Synchronisationsvorgänge setzt. Klotz: »Musik als Artikulation von Stimmungen«, insbes. S. 205-208. 41 | Dibben: »Musical Materials, Perception, and Listening«, S. 198. 42 | Cook: »Musikalische Bedeutung und Theorie«, S. 122.

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Ebene von big science forscht,43 für die Klangwissenschaften vorerst noch nicht sensibilisiert. Dies wird einsichtig, wenn man sich die eigentlichen Forschungsziele der musikalischen Kognitionsforschung vor Augen hält: Musik stellt hier lediglich ein »ideale[s] Instrument zur Erforschung des menschlichen Gehirns dar«44 bzw. »ein ideales Werkzeug zur Erforschung von Emotion«45 .

K L ANGFORSCHUNG ALS E FFEK T SOZIO - TECHNISCHER N E T Z WERKE DES A UDITIVEN Zwischenfazit: Es zeigt sich, dass klangbezogene Forschungen, insbesondere in pragmatischer Ausrichtung (Music Retrieval, Sonifikation, Data Mining, Audio-Service-Aufgaben wie Suchmaschinen und Empfehlungssysteme, Sound-Design für kontextsensible und interaktive Umgebungen etc.) früher oder später – und mit gutem Recht – den Hörer bzw. Nutzer ansteuern. Content-basierte, auf Bedeutungen als formalisierbare items zielende, und intuitiv-handlungsleitende, mithin ökologische Strategien treffen hier aufeinander und werden durch die beteiligten Disziplinen und Anwendungsfelder in unterschiedlicher Weise mobilisiert. Unterschwellig wird – mit Ausnahme der ökologischen Musikpsychologie46 – ein Hörer bzw. die Instanz des Hörenden vorausgesetzt, die unbehelligt von den post-subjektivistischen Sichtweisen sind, wie sie die Theorie der Aufschreibesysteme, der Post-Strukturalismus, die Systemtheorie und die zeitkritische Medientheorie entwickelt haben. Dabei ist Post-Subjektivismus eine Voraussetzung, die auf der programmiertechnischen Ebene in allen involvierten technischen Simulationen, die SMC überhaupt erst ermöglichen, praktiziert wird. Dort ereignen sich Prozesse, die sich 43 | Die musikalische Kognitionsforschung hat seit ca. 1980 ihre personelle und technologische Infrastruktur in beeindruckender Weise international ausbauen können. Sie weist einen hohe Vernetzung, die intensive internationale Qualifizierung von Nachwuchswissenschaftlern und die kompetitive Arbeit im Sinne von Grundlagenforschung auf. Sie verfügt über gemeinsam erarbeitete Forschungsparadigmen, die konsequent und arbeitsteilig weiter entwickelt werden. Das Prestige neuromusikalischer big science beruht darüber hinaus auf empirisch-experimenteller Arbeit sowie der Publikation in den führenden naturwissenschaftlichen Fachzeitschriften. Pressestellen versorgen das Wissenschafts-Feuilleton regelmäßig mit kompakten Darstellungen der Forschungserträge. Demgegenüber leisten die Musikologie, Klang- und Medienwissenschaften eine hoch reflektierte, kulturwissenschaftlich-supplementierende Erkenntnisproduktion, die durch eine Vielzahl individueller Handschriften geprägt wird und sich der Dynamik von big science verweigert. 44 | Koelsch/Fritz: »Musik verstehen«, S. 237. 45 | Ebd., S. 251. 46 | Siehe die Forschungen von Clarke und Dibben.

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menschlicher Autorschaft und agency entziehen, weil Maschinen nunmehr selbst eloquent geworden sind. Das Feld der Klangwissenschaft ist offenbar robust genug, um diese verschiedenen Motivationen aufzufangen und einzugemeinden, was bemerkenswert ist, denn funktionalistische Modelle der Kognitionsforschung, Programmier-Expertise im wissenschaftlichen und künstlerischen Metier und die eher kulturwissenschaftlich inspirierten Analyse von Sinn und Bedeutung gehen nur höchst selten eine taktische Allianz dieser Form ein. Klangwissenschaft ist damit ein privilegierter Ort der Verhandlungen von kulturalistischen, informatischen und technisch-naturwissenschaftlichen Beschreibungen, Verfahren und Modellen. Auch wenn damit eine präzise Arbeitsdefinition für die Klangwissenschaft noch nicht geliefert werden kann, scheint sich die Thematik des Klanges – ähnlich wie die Musik- und Klangforschung in der frühen Neuzeit, die an der Ausbildung von Experimentalpraktiken und Objektivitätsstandards beteiligt war, oder das Konzept der Gestalt im frühen 20. Jahrhundert – als ein integrierendes Paradigma zu erweisen. Klangwissenschaft stellt sich als Effekt sozio-technischer Netzwerke dar, die mit Audio-Ereignissen operieren bzw. diese reflektieren. Klangwissenschaft ist – um wieder einzuschwenken auf die Linie des Sonischen – auch mit operativen Phänomenen konfrontiert, die sich weder mit den Kürzeln Kausalität noch Ästhetik abbilden lassen, sondern an deren Stelle Präemptivität47 ins Werk setzt. Diese Prozesse tragen weder formbildende noch ästhetische Ambitionen in sich. Sie entgrenzen Kausalität auf der Ebene ihrer Betriebssysteme und deren Taktungen in operativer Weise. Gleichzeitig suchen andere Sparten der Klangwissenschaften nach Funktionszusammenhängen, in denen kausale Verknüpfungen wiederkehren bzw. Eingang in Modellierungen wie Content-Based Modelling finden. Man könnte daraufhin wissensontologisch den Klang geradezu als Chiffre für Prozesse einsetzen, die die Übereinkünfte, die im Zeichen von Kausalität und Ästhetik galten, aufkündigt und mit neuen Konstellationen überschreibt. Höchstwahrscheinlich liegt in der theoriegeleiteten Durchdringung und im Produktivmachen dieser Konstellation die eigentliche Herausforderung oder der Auftrag an die Klangwissenschaften, die wie kaum eine andere Disziplin mit symbolischen und realen, materiellen und imaginären, technogenen und biogenen, taxonomischen und intuitiven Prozessen zu tun hat, die noch dazu über einen zeitkritischen Vektor verfügen.

47 | Vgl. die Forschungen von Carlé.

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K L ANG ALS M ODUS O PER ANDI TECHNISCHER S YSTEME Das in der Forschung zum Sonischen unternommene Plädoyer, Klang einmal nicht im Hinblick auf seine Wahrnehmungsattribute, sondern auf die operativen Voraussetzungen in technischen Systemen zu betrachten, in denen Klänge vorfallen, ist ein Versuch, ein Arbeitsgebiet klangbezogener Forschungen zu erschließen, das nicht in erster Linie ästhetische Fragen diskutiert. Klänge werden hier nicht von der Musik her, also von einer ars bene modulandi, entwickelt, sondern als modus operandi technischer Systeme. Damit entfallen auf einen Schlag die Diskurse um Narrativität, Logizität, Emotionalität, Formgebung, Autorschaft und die aus ihnen hervorgehenden persuasiven Qualitäten, Ästhetiken und Audio-Semantiken, die in musikalischen Kommunikations- und Sozialstrukturen eingeübt worden sind. In dieser strategischen Ausrichtung kann die Klangwissenschaft den semantischen Druck lindern und die methodischen Erwartungen relativieren, den die unterschwellige Nähe zu MUSIK mit sich bringt. Auf der Suche nach Zugängen, die vom Hören und Wahrnehmen im althergebrachten Sinn Abstand nehmen, sind ganz unterschiedliche Entwicklungen zu entdecken: In der Szene der Clicks and Cuts setzt man auf Partizipation, nicht mehr pathetische Autorschaft: Damit werden Szenerien des Hörens abgelöst durch Szenerien des Registrierens, wozu sowohl menschliche als auch maschinelle Akteure in der Lage sind. Diese auf Basis der Theorie von Deleuze und Guattari entwickelten Prämissen beflügeln ganze DJ-Kulturen sowie die experimentelle Computermusikszene, die unser Verständnis von Audio-Kulturen erweitern. Hier werden maschinengezeugte akustische Ereignisse avisiert, die sich gar nicht in erster Linie an ein wissendes Hören wenden: »Die Musik erhebt sogar den Anspruch unabhängig von jeder spezifischen Wahrnehmung für sich selbst erkannt zu werden, so daß sie auch dem Vergessen anheimfallen könnte«48. Ebenfalls im Vorfeld verständigen, an die Musik angelehnten Hörens sind Forschungen zum Source-Based Modelling anzusiedeln, die gleichsam nebenbei eine definitionsreife Beschreibung von Klängen geliefert hatte, die oben bereits zitiert wurde: Neben dem hier als pathetisch bezeichneten traditionellen musikalischen Hören »können Klänge im Sinne von Eigenschaften klangerzeugender Prozesse wahrgenommen werden«49 . In dieser Perspektive rücken die musiktheoretischen Beschreibungen und contentModellierungen, die sich an Skala, Tonhöhe, Lautheit und Klangfarbe orientieren, in den Hintergrund. An ihre Stelle tritt die Modellierung von Ereignissen, die vom Material, der Geschwindigkeit, den mechanischen Eigenschaften auch von komplexen mechanischen Einwirkungen (Rei-

48 | Szepanski: »Heute abend findet ein Konzert statt«, S. 27. 49 | Rath: »Dynamisches Klang-Feedback in Mensch-Computer-Interaktion«, S. 220.

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ben, Rollen, Zerspringen) her aufzubauen sind.50 Source-Based Modelling zielt darauf, »klangerzeugende Prozesse auch jenseits des Wissens über Drucksignale und Wahrnehmung zu synthetisieren«, also eine signalbasierte um eine physikalische Synthese zu bereichern und erweitern.51 Die Instanzen Geist und Wahrnehmung treten bei dieser Modellierung in den Hintergrund. Diese Abstraktion von den Wahrnehmungsattributen empfiehlt Forschungen über Source-Based Modelling für eine Klangwissenschaft, die versucht, Klänge ohne den herkömmlichen Begriff von Wahrnehmung zu denken, sondern vielmehr beobachtet, wie Klänge vorfallen und ex-istent werden, also aus technischen Prozessen herausragen.52 Die in der Forschungsszene genutzte Teilung in musical listening und everyday listening ist ähnlich schief wie die Annahme, dass sense in die private und sound in die objektive Domäne fallen würden. Unter der Maßgabe reibender, rollender und berstender Körper sind geordnete und hochkomplexe Gesamtereignisse wie die Aufführung einer Symphonie doch einmal dringend zu betrachten, vielleicht sogar als herausforderndes interface einer uns analytisch überfordernden materiellen Kausalität, so dass wir uns – nun doch – auf die Ästhetik des musical listening kaprizieren. Source-Based Modelling weist wegen der zeitlichen Modellierung materieller Mikrostrukturen wiederum Verwandtschaft zu den zeitkritischen Medienforschungen auf, die zeitkritische Prozesse als Eigenschaft von zentralen Recheneinheiten beschreiben und näher untersuchen, wie diese Prozesse zu akustischen Ereignissen umgewandelt werden, denn »digitaler Klang [kann] als solcher nicht ex-sistieren«53 . Klangwissenschaft ist dazu eingeladen, zu untersuchen, wie Klänge existent werden.

K L ANG ALS O PER ATIONAL R ESE ARCH Mit systemtheoretischer Konsequenz hat Dirk Baecker hierzu eine gegenüber der Music Cognition Research ganz anders gelagerte Kognitionstheorie der Musik skizziert. Sie rückt zwar die Wahrnehmung ins Blickfeld und verlässt damit den hier gesteckten, der Wahrnehmung vorgelagerten Rahmen, gelangt auf der Basis der in strukturelle Kopplungen aufgelösten Subjektivität zu einer auch hier relevanten Lesart: In Bezug auf elektronische Musik konstatiert der Autor, dass sie die Wahrnehmung selbst als sich beständig selbst korrigierenden Prozess und unseren Zugang zur Wahrnehmung thematisieren würde. Dieser Zugang nivelliert Zuschreibungen von Gehalt, Botschaft und pathetischem Sinn und steht deshalb forschungslogistisch in der Nähe zu den bereits bilanzierten Theorien, die 50 | Ebd., S. 221. 51 | Ebd., S. 225. 52 | Miyazaki: »Das Algorhythmische«, S. 383. 53 | Ebd., S. 389.

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jenseits dieser Semiotisierungen ansetzen.54 Zudem verfügt er über einen zeitkritischen Vektor (Temporalisierung),55 wie ihn die zeitkritische Medientheorie ausweist. Baecker plädiert für operational research in der Kunst und in den Wissenschaften, weil es »nicht mehr auf Verstehen, sondern nur noch auf Kontrolle ankommt«56. Aus Musik selbst wird »eine weitere Kulturwissenschaft«57: [Es] entsteht eine Musik, die nicht mehr schwärmt, droht und dramatisiert, sondern die auf hörbare Weise hört und lauscht, ohne dabei, das macht ihren ebenso hörbaren Spaß an der Sache aus, darauf zu verzichten, den Gehirnen, Maschinen und Systemen einen Sound erst einmal vorzuspielen, in die diese einstimmen können. Deswegen rechnet diese Musik nicht nur, in ihren Sprüngen von click zu click, in ihren cuts und in ihrer Wiederholung dessen, was sie gerade noch errechnet hat, sondern sie führt auch vor, dass die Rechnung des Unberechenbare hervorbringt. 58

Neue elektronische Musik ist damit selbst ein Modus rekursiver operational research, die der »Bestimmung des nächstes Moments«59 dient. Mit der Absicht, die Praxis dieser Codierung durchsichtig zu machen,60 benennt Baecker ein Forschungsziel von Klangwissenschaften, die auf der operativen Ebene ansetzen und Fragen der ästhetischen Formbildung im Medium erst in zweiter Linie beantworten. Metaphysik wandert damit in die »Differenz zwischen Form und Medium«61 aus. Welcher auf die Essenz von Klangereignissen zielende content descriptor von SMC ist je auf diese Differenz angesetzt worden? Die in den Klangcodierungen digitaler Systeme vorliegenden signaltechnischen rekursiven Prozesse beinhalten eine hochtechnische Analysis und damit bereits ein eigenes Wissen. Es wird, sobald die Klänge hörbar gemacht werden, nach außen gekehrt und im eigentlichen Sinn erst existent. Klangwissenschaft, die sich zunächst auf die Untersuchung dieses Wissens richtet, könnte in einem nächsten Schritt die Vermittlungsebenen präzise benennen, die sich zu Funktionszusammenhängen und ganzen auditiven Medienkulturen fügen. Klänge erweisen sich damit aber als Kürzel für die Vermittlung von Technologie und Kognition und für in anderen Domänen nicht denkbare Zugangsweisen zum Digitalen, womit eine übergreifende Thematik adressiert wird, die über den engeren Ge54 | Siehe den Versuch des Autors, Baeckers Anregungen im Hinblick auf eine Formtheorie der Musik zu lesen. Klotz: »Musikalische Form seit 1800«. 55 | Baecker: »Kopfhörer«, S. 146. 56 | Ebd. 57 | Ebd., S. 147. 58 | Ebd., S. 147 f. 59 | Ebd., S. 147. 60 | Ebd., S. 149. 61 | Ebd., S. 151.

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genstand programmierbarer bzw. gehörter Klänge weit hinausreicht. Mit ihr ist nicht weniger als eine Schlüsselfrage der gegenwärtigen Wissensgesellschaften aufgeworfen, denn die Begriffe ›Signal‹, ›Information‹ und ›Wissen‹ sind im Zeichen auditiver Praxen selbst neu zu formulieren. In diesem Zusammenhang wird auf dem Feld auditiver Medienkulturen auch verhandelt, wie sich empirisch-experimentelle, kulturgeschichtliche und medienarchäologische Zugänge (insbesondere Forschungen über zeitkritische Prozesse), Modellbildungen, Forschungsstile und Überzeugungen vermitteln lassen. Diese Neuformulierung im Spannungsfeld eines angenommenen auditiven content und einer unablässigen, zeitkritischen Differenzproduktion technischer Systeme, die weder beobachtbar ist noch in content mündet, aber jederzeit klangsynthetisch hervortreten kann, ist in vollem Gange. Nunmehr lassen sich die Forschungsperspektiven der Musikforschung einerseits und der an klanglichen Prozessen interessierten Medienwissenschaft andererseits näher umreißen: Die Musikforschung verfügt über Expertise im Umgang mit Verstehensansprüchen und kultureller Bedeutungsbildung in historischen und gegenwärtigen, hoch vergesellschafteten, auditiven, non-verbalen Kommunikationssystemen: Die Herausforderung, die ihr aus den Sound Studies und der Klangwissenschaft erwächst, liegt in der programmatischen Berücksichtigung der operativen Dimension des Klanglichen. Die Klangforschung ist innerhalb der Medienwissenschaft dazu angehalten, operational research im Sinne von W.  R.  Ashby62 und Baecker zu erproben: angesichts überkomplexer Systeme und eloquenter Technologien werden die Kontrolle von Parametern und die Durchdringung von Funktionsweisen wichtiger als Ursachenforschung, wichtiger als eine hermeneutische Kontextualisierung und relevanter als eine Betrachtung von Medien im Hinblick auf pure Übertragungs- und Verbreitungskalküle. Hier könnte ein neuer Begriff des Medialen Konturen gewinnen, der die zeitkritische agency technischer Akteure und Systeme in Rechnung stellt und damit insgesamt auf die Medienwissenschaften und die Musikforschung ausstrahlen könnte.

L ITER ATUR Ash, Mitchell G.: Gestalt Psychology in German Culture, 1890-1967. Holism and the Quest for Objectivity, Cambridge, MA 1995. Ashby William Ross: »Requisite Variety and its Implications for the Control of Complex Systems«, in: Cybernetica, 1/2, 1958, S. 83-99. Baecker, Dirk: »Kopfhörer. Für eine Kognitionstheorie der Musik«, in: Kleiner, Marcus S./Szepanski, Achim (Hrsg.): Soundcultures. Über elektronische und digitale Musik, Frankfurt a. M. 2003, S. 137-151. 62 | Vgl. Ashby: »Requisite Variety«.

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Musikwissenschaft als Sound Studies Fachhistorische Perspektiven und wissenschaftstheoretische Implikationen Bettina Schlüter

1. ›O RGANISED S OUND ‹ Seit einigen Jahren zeichnen sich Impulse innerhalb der Musikwissenschaft ab, Fragestellungen und Themengebiete an einem umfassenderen Verständnis von Klang und auditiven Phänomenen auszurichten − ein Vorgang, der Transformationen innerhalb der Kunstgeschichte im Übergang zu Visual Studies durchaus vergleichbar ist und dem der Begriff Sound Studies Rechnung tragen könnte. Diese Neuausrichtung leitender Beobachtungsinteressen geht eng mit einer Adaption kultur- und medienwissenschaftlicher Fragestellungen einher und korreliert auf diese Weise wiederum mit Akzentsetzungen, die innerhalb kulturwissenschaftlich orientierter Forschungsverbünde seit einer Reihe von Jahren auch der auditiven Dimension verstärkte Aufmerksamkeit zukommen lassen und diese als wichtigen Bezugspunkt kultureller und medialer Praktiken mit in ihre Untersuchungen einbeziehen. Jenseits tradierter fachlicher Zuständigkeiten oder interdisziplinärer Dialoge begrenzter Reichweite werden auf diese Weise neue wissenschaftliche Schnittmengen generiert, deren Konturen variabel und dynamisch, aber gleichwohl deutlich erkennbar sind. Bereits Mitte der 90er Jahre wird mit dem Terminus ›organised sound‹1 eine Kategorie etabliert, die das Verständnis dessen, was mit dem Begriff der ›Musik‹ üblicherweise gekennzeichnet wird, dezidiert überschreitet. Die Aufmerksamkeit wird damit auf ein erweitertes Spektrum von Schall, Geräusch, Klang und Musik gelenkt, das andere Phänomenbereiche adressiert und zugleich im engen Wechselspiel mit einer Geschichte technischer Medien unterschiedliche Konstellationen zu erkennen gibt. Die 1 | Vgl. z. B. die programmatisch zu verstehende und im Titel sich an Edgar Varèse anlehnende Gründung der Zeitschrift Organised Sound im Jahr 1996.

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Prämierung von ›Musik‹ im Sinne einer historisch mächtigen Konfiguration des Arrangements von auditivem Material bleibt in diesen Zusammenhängen durchaus ein prominenter Bezugspunkt, bildet nun jedoch einen gleichsam voraussetzungsreichen ›Sonderfall‹ und gibt damit den Blick frei für andere Variantenbildungen und Formationen. Im Zuge einer solchen Öffnung werden gerade in den letzten Jahren eine Reihe von neuen Forschungsgebieten etabliert, die im Horizont kultur- und medienwissenschaftlicher Untersuchungsinteressen wichtige Anknüpfungspunkte bieten: Einzelne Studien widmen sich der (bereits zuvor am Beispiel der Filmtonspur2) diskutierten Notwendigkeit, neue Beschreibungskategorien und Terminologien zu entwickeln, die die Dimensionen von Schall, Geräusch und Klang mit in ihre Systematik einbeziehen und der Begrenztheit eines genuin musikanalytisch geprägten Vokabulars Alternativen entgegensetzen.3 Hier verlangt insbesondere die in den letzten dreißig Jahren sich manifestierende Tendenz, Phänomene der akustischen Kunst in umfassende Bezugsrahmen sozialer und kultureller Interaktion einzubetten4 und sich damit dezidiert gegenüber einem primär klangbezogenen Konzept der musique concrète der 1950er und 60er Jahre abzugrenzen, nach neuen begrifflichen Differenzierungen; beispielshalber werden »sonic objects« nach den Modi ihrer jeweiligen semantischen oder narrativen Codierung, nach ihren performativen Potentialen oder entsprechenden Umweltinteraktionen klassifiziert.5 Andere Studien setzen neue historiographische Akzente, indem sie sich der Rekonstruktion vergangener Hörkulturen und historischer Klanglandschaften zuwenden6 oder – durchaus mit medienanthropologischer Zielrichtung – auf eine Kulturgeschichte des Hörens zielen, die zugleich (unter Rückbezug auf ein erweitertes Verständnis von aisthesis) als Geschichte der Sinne und medial vermittelter Sinnesswahrnehmungen entworfen wird.7 Eng damit verbunden sind Untersuchungen zu musik2 | »While all film sounds have loudness, pitch, and timbre, not a single sound in cinema can be adequately described with this musical terminology. In fact, not even musical sounds can be fully described with musical terminology.« Altman: Sound Theory, Sound Practice, S. 16. 3 | Begriffskategorien wie etwa Timbre, Intensitätszonen, Frequenzen, Klangmoleküle, fluktuierende Flächen etc. setzen bevorzugt an der Gelenkstelle zwischen akustisch-technologischen und ästhetischen Parametern an. Vgl. hierzu auch die Ausführungen von Christoph Cox: »Wie wird Musik zu einem organlosen Körper?«. 4 | Vgl. z. B. das Festival Ars Electronica in Linz, das seit 1979 das Zusammenspiel zwischen digitaler Kunst (incl. Digital Music und Sound Art), technologischen und gesellschaftspolitischen Entwicklungen ästhetisch und wissenschaftlich reflektiert. 5 | Vgl. z. B. Field: »Simulation and Reality«; zur musique concrète und Gestaltung des Filmtonspur vgl. auch den Beitrag von Jan-Philip Müller in diesem Band. 6 | Vgl. z. B. Smith: Hearing History; Bull/Back: The Auditory Culture Reader. 7 | Vgl. z. B. Szendy: Listen.

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kulturellen Praktiken, die sich im Rahmen einer vielfach mediatisierten Alltagskultur entwickeln und als Indikatoren umfassenderer kultureller oder kulturhistorischer Transformationen thematisiert werden. Hier bietet insbesondere das Feld der Urban Studies einen geeigneten Ansatzpunkt, komplexe Klanglandschaften von Groß- und Megastädten als Indikatoren umfassender gesellschaftlicher und soziokultureller Entwicklungen zu interpretieren; Soundscapes vermitteln als auditive Signaturen Einblicke in Prozesse transkultureller Zirkulation, kultureller Hybridisierung und Globalisierung, die umgekehrt auch wiederum Bedürfnisse der Privatisierung und der Kontrolle von Hörräumen initiieren.8 Aspekte von Klangarchitektur und Raumgestaltung werden als integrale Bestandteile von Erinnerungskultur und Erinnerungspolitik beobachtet.9 Schließlich treten auch, teilweise anknüpfend an länger zurückliegende Untersuchungen, die physiologisch-psychischen Dimensionen von Klang, Schall oder Lärm10 sowie Veränderungsprozesse der akustischen Umwelt und dadurch aufgeworfene Fragen der Akustikökologie wieder in das Blickfeld der Aufmerksamkeit.11 Die vielfältigen, hier nur in einer knappen Auswahl angerissenen Themengebiete, die an den Schnittstellen von Musik-, Kultur- und Medienwissenschaft neu entstehen und denen sich auch der vorliegende Band programmatisch widmet, korrelieren jedoch nur in geringerem Maße mit einem tradierten Fachverständnis, wie es in der deutschsprachigen Musikwissenschaft lange Zeit vorgeherrscht hat und zum Teil immer noch vorherrscht. Die Beiträge, die sich im weitesten Sinne einer Erforschung auditiver Medienkulturen zurechnen ließen, haben es bislang kaum vermocht, das institutionell etablierte und über die Gesellschaft für Musikforschung repräsentierte disziplinäre Gefüge selbst nachhaltig zu erweitern.12 Diese Tatsache, dass sich – ungeachtet aller wissenschaftlichen Entwicklungen, die die Musikwissenschaft hinsichtlich der Erschließung neuer Phänomenbereiche und Fragestellungen vollzogen hat13 – kultur- und medienwissenschaftliche Perspektiven mitsamt ihrer wissenschaftstheoretischen Implikationen bislang nur rudimentär im Fach selbst zu verankern vermochten, ist erklärungsbedürftig – insbesondere vor dem Hintergrund 8 | Vgl. z. B. Clausen u. a.: Music in Motion.; Augoyard/Torgue: Sonic Experience; Bull: Sounding out the City. 9 | Vgl. z. B. Blesser/Salter: Spaces Speak, Are You Listening? 10 | Vgl. z. B. Goodman: Sonic Warfare. 11 | Vgl. z. B. Bijsterveld: Mechanical Sound. 12 | Als zufällig ausgewählte Stichprobe sei hier auf die Rubriken ›Besprechungen‹ und ›Eingegangene Schriften› in der (zum Zeitpunkt der Entstehung dieses Beitrags) aktuellsten Ausgabe des Periodikums Die Musikforschung, dem offiziellen Publikationsorgan der Gesellschaft für Musikforschung, verwiesen. 13 | Zu nennen sind hier beispielshalber die vielfältigen Untersuchungen zur musikalischen Avantgarde, zum Bereich der Klangkunst oder zu Phänomenen der Popularmusik.

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der Beobachtung, dass die angloamerikanische Musikwissenschaft auf diesem Gebiet seit einer Reihe von Jahren durchaus entscheidende Impulse zu setzen vermochte. Dieser besonderen Konstellation möchte ich in meinem Beitrag im Folgenden nachgehen. Zu diesem Zweck sollen zunächst die Bruchstellen herausgearbeitet werden, an denen ein Dialog mit oder eine Adaption von kultur- und medienwissenschaftlichen Zugängen erschwert wird; anschließend soll die historische Genese dieser spezifischen Problematik erläutert werden. Am Beispiel der angloamerikanischen ›New Musicology‹ möchte ich dann jene wissenschaftlichen Neujustierungen diskutieren, von denen aus die Spielräume musikwissenschaftlicher Forschung geöffnet und damit zugleich die oben skizzierten Prozesse einer kultur- und medienwissenschaftlichen Orientierung an ›Sound Studies‹ eingeleitet werden.

2. ›S OUND ‹ − ›M USIK‹ − ›TONKUNST‹ »Der große Pan, heißt es, sei tot. Aber Götter der Ohren können gar nicht vergehen. Sie kehren wieder unter der Maske unserer Kraftverstärker und Beschallungsanlagen. Sie kehren wieder als Rocksong.«14 – In Friedrich Kittlers 1984 erstmals publiziertem Text, in dem Musikbegriff und Musikverständnis der Antike mit Pink Floyds Klangexperimenten über die Distanz von mehr als zweitausend Jahren Musikgeschichte hinweg verknüpft werden, verdichten sich musikalisch-klangliche, ästhetische, mediale, technische, physiologisch-neuronale, psychische und psychoakustische Dimensionen zu jeweils spezifischen Konstellationen, deren internes Zusammenspiel wiederum − so Kittlers Diagnose − diskursiv reguliert wird. Eine solche Kombinatorik musik-, kultur- und medienwissenschaftlicher Zugänge überschreitet, zumal zur Entstehungszeit des Textes, die tradierten musikwissenschaftlichen Zugriffsweisen und Beobachtungsformen in ebenso hohem Maße, wie es eine chronologisch ausgerichtete Musikgeschichtsschreibung provoziert. Doch Kittlers Analysen gehen noch einen Schritt weiter: Eben jene Diskrepanzen zwischen einem geisteswissenschaftlich geprägten musikwissenschaftlichen Fachverständnis und einer radikal differierenden Medienrealität geraten als Bruchstellen selbst in den Fokus seiner Überlegungen. Unversehens bekommt das Fach (und sei es mitunter über den Umweg der Germanistik) selbst einen Spiegel vorgehalten – werden doch grundlegende, allermeist latente Praktiken des musikwissenschaftlichen Arbeitens in seinem Text als regulative Kraft portraitiert, die anscheinend dazu anleitet, auch unter radikal veränderten medialen Bedingungen noch alten Paradigmen der Musikinterpretation

14 | Kittler: »Der Gott der Ohren«, S. 130.

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zu folgen, mit dem Ergebnis, dass solche »Musikbeschreibungen« mittlerweile »hinterm Mond sind«.15 Der wesentliche Punkt dieser Rückständigkeit liegt nach Kittlers Diagnose in einer Interpretationspraxis begründet, die Medien als präfigurierende Instanz systematisch aus ihrem Wahrnehmungsbereich ausschließt. Ernst von Wildenbruchs 1897 vom Phonographen aufgezeichnete Verse »Vernehmt denn aus dem Klang von diesem Spruch / Die Seele von Ernst von Wildenbruch« markieren für Kittler in nuce die Grundstruktur dieser kurzschlüssigen Operation: Vom Klang zum Spruch, vom Spruch zur Seele: so krampfhaft war Wildenbruch bemüht, Reelles (seine gespeicherte, aber sterbliche Stimme) auf Symbolisches (den artikulierten Diskurs von Lyrik) und Symbolisches auf Imaginäres (eine schöpferische Dichterseele) zu reduzieren.16

Diese (von Jacques Lacan abgeleitete) Differenzierung zwischen »Reellem«, »Symbolischem« und »Imaginärem« verbindet Kittler mit dem Begriffspaar »Musik« und »Sound«: »Sound« als »das Unaufschreibbare an der Musik und unmittelbar ihre Technik« bildet als mediales Substrat17 – als physikalisch-akustische und daher technisch (durch Instrumente, Klangverstärker, Pink Floyds Azimut Coordinator etc.) gestaltbare Dimension – die Grundlage jedes Klangereignisses; diese Dimension wird jedoch überformt durch einen »symbolischen« und daher als Notentext »aufschreibbaren« Code. »Musik« ist das Produkt dieser Überformung und kann – interpretiert als Ausdruck eines Inneren, einer geistigen Leistung, einer »Seele« – seinen Bezugsrahmen ganz zum »Imaginären« hin verschieben. Als Notentext codierbare, z. B. in Tönen, Intervallen oder rhythmischen Proportionen strukturierte Musik (das »Symbolische«) und kompositorische Intention (das »Imaginäre«) scheinen sich dann als wechselseitig aufeinander verweisende Instanzen selbst zu genügen und bilden damit den Kern einer musikwissenschaftlichen Interpretationspraxis, in deren Engführungen die Kategorie »Sound« lediglich noch als gleichsam natürliche, akustisch-physikalische Basisvoraussetzung jeglicher Klangentstehung Beachtung findet. Damit entgehen die von Kittler akzentuierten medien- und kulturwissenschaftlichen Bezugsfelder notwendigerweise der Aufmerksamkeit der Musikwissenschaftlerinnen und Musikwissenschaftler: Dies betrifft zum einen die medienanthropologischen, technik- und mediengeschichtlichen sowie medienästhetischen Dimensionen, die seit Erfindung von Klangspeicherung, Klangsynthese und Klangbearbeitung selbst exponierter Gegenstand und Bezugspunkt der musikalisch-klanglichen Gestaltung 15 | Ebd., S. 144. 16 | Ebd., S. 134. 17 | Vgl. genauer zu diesem Begriff im Kontext der Unterscheidung zwischen Medium und Form bei Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 195.

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werden18 und massenmedial vervielfältigt die Anachronismen dieser Engführung überdeutlich in Erscheinung treten lassen.19 Und dies betrifft zum zweiten die kulturhistorische Dimension und damit auch die diskursiven Kräfte, die einen spezifischen Musikbegriff (z. B. die direkte Verknüpfung von »symbolischer« und »imaginärer« Dimension) prämieren, diesem möglicherweise gar eine weitreichende historische Wirksamkeit zusprechen, die selber aber in ihrer eigenen regulativen Funktion nicht wahrgenommen werden. Der (auch von Kittler in seinem Text angedeutete) historische Bezugspunkt, an dem wesentliche Grundlagen für diese bis weit ins das 20. Jahrhundert hinein wirksamen musikwissenschaftlichen Engführungen entstehen, liegt in der Zeit um 1800. Die hier entwickelten Denkfiguren bilden wichtige Momente, von denen aus sich fachliche Ausrichtungen bis in die Gegenwart hinein erklären lassen. Sie sollen daher an dieser Stelle etwas detaillierter entfaltet werden. Im Zuge umfassender ästhetischer Transformationen des späten 18. Jahrhunderts und der Ausdifferenzierung einzelner Künste gewinnt auch die Musik neue Bedeutungsimplikationen: Sie tritt nun − beispielshalber in den von Immanuel Kant beeinflussten Schriften des Musiktheoretikers Christian Friedrich Michaelis − als ein Medium in das Blickfeld, das sich durch seine »idealischen« Qualitäten in besonderer Weise gegenüber anderen Künsten auszeichnet: Die Einbildungskraft des musikalischen Genies schafft sich mehr noch als andre Künstler eine neue Welt, zu der sich kein Original in bloßer Natur findet, aus welcher der Dichter, der Mahler, der Bildhauer und Schauspieler wohl vieles [kaum] entbehren kann. Die musikalisch-ästhetischen Ideen streben über die gewöhnliche Erfahrung hinaus und übersteigen die Wirklichkeit. Selbst wenn uns der Tonkünstler Züge der wirklichen Menschheit, z. B. Liebe, Furcht, Hoffnung, Freude, Traurigkeit, Wildheit oder Sanftmuth schildert, oder uns Vernunftideen (wie göttliche Majestät oder Ewigkeit) versinnlicht, so geschieht es auf eine idealische Weise oder durch entfernte Analogieen [sic!]. 20

18 | Beispielshalber – um an Kittlers Analyse von Pink Floyds Brain Damage anzuknüpfen – als in die Abfolge der einzelnen Strophen eingelagerte Geschichte der Aufnahmetechnik (Mono, Stereo, Surround), als mit dem Songtext korrespondierende Gestaltung psychoakustischer Effekte oder als Samplingverfahren, das die Klangästhetik entscheidend prägt. 19 | »Gottlob sind die Techniker den genau umgekehrten Weg gegangen. Zeit und Grundlagenforschung haben dazu geführt, daß aller Seelenhauch in Sound und Phonstärke untergegangen ist.« Kittler: »Der Gott der Ohren«, S. 135. 20 | Michaelis: Über den Geist der Tonkunst und andere Schriften, S. 237; Vgl. zu dem Gesamtkomplex der Redefinition des Mediums Musik im Sinne von »Tonkunst«: Schlüter: Murmurs of Earth. Die Ausführungen in diesem Beitrag greifen verschiedentlich auf diese Untersuchung zurück.

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In der auf diese Weise deutlich markierten Distanz zur »Wirklichkeit« kann Musik zum Paradigma eines Kunstbegriffs avancieren, der die autonom agierende Kraft des menschlichen Geistes zum Ursprung jeder künstlerischen Gestaltung erklärt: Die Musik hingegen bezaubert durch ganz neue Erscheinungen, tritt selbst als Schöpferin von Scenen auf, die nur aus der innern Welt der Menschheit hervorgebildet sind, aber in der äusseren Natur, weder der Form noch dem Stoffe nach, ein Urbild haben. Sie stellt also den Geist der Kunst, in seiner Freyheit und Eigenthümlichkeit, ganz rein dar. 21

Als Produkt eigenlogisch operierender Verfahren, einer »innern« Welt, die sich ganz der »Freyheit« des Geistes verdankt, konstituiert sich Musik im abstrakten Spiel der Elemente und Formen: So ist in der Musik die Wahl und Verbindung der Töne zu einem melodischen und harmonischen Ganzen, d. h. die Composition die Hauptsache; mit andern Worten, das Formelle in der Musik ist das Wesen, Zeit und Fundament alles Uebrigen, und obgleich der Ton, aus dem man spielt oder singt, die Wahl des Instruments und die Modification des Vortrages für den Effekt gar nicht gleichgültig sind, so behauptet doch die Composition ihren von aller Materie, welche ihr zum Vehikel der Darstellung dient, unabhängigen, innern Werth. 22

Dieser Modus der »Composition«, der das »Formelle in der Musik«, einen »von aller Materie« abgelösten »unabhängigen, innern Wert« betont und damit die klangliche Realisierung als gleichsam sekundäres Phänomen gegenüber den geistigen, »idealischen« Werten in seiner Relevanz zurückstuft, sieht keinen systematischen Ort mehr vor, an dem Medien als ästhetisch wirksame, strukturprägende Kraft Einfluss auf die Formgestaltung gewinnen könnten. Auch in der Konturierung des Tones als primärer kompositorischer Bezugsgröße und kleinster ›Arbeitseinheit‹ des »Geistes« manifestiert sich diese ästhetische Tendenz: der Ton ist Teil einer Stufenfolge, die die Grenze zwischen Natur und Kunst nahezu unmerklich überschreitet und damit dem Medium bzw. dem medialen Substrat keinen eigenen, systematisch begründeten Ort zuweist: Der blosse Schall muss zum Klange, der Klang zum Tone, die Töne müssen zur Melodie, die Melodie muss zur Harmonie gleichsam organisiert werden, wenn Tonkunst oder Musik entstehen soll. Das Geistige der Musik aber ist eben ihr belebendes, beseelendes Prinzip, durch welches eine blose [sic!] Masse von Schall und Klang, Maas [sic!] und Bestimmung, Wechselbeziehung, Ordnung und Einheit erhält. 23 21 | Michaelis: Über den Geist der Tonkunst und andere Schriften, S. 264. 22 | Ebd., S. 206. 23 | Ebd., S. 200.

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»Tonkunst« bildet somit das Endprodukt einer inneren geistigen Tätigkeit, einer »Composition« komplex und vielfältig verzahnter Elemente, die genealogisch unmittelbar aus der Natur im Sinne einer bereits in sich selbst geformten ersten klanglichen Artikulationsebene24 hervorgehen; der Begriff »Schall« wird in diesem Zusammenhang als Ursprungs- und Begründungsfigur eingeführt, nicht aber als Gegenstand eines experimentellen Zugriffs, der dem (symbolisch codierten, nach Buchstaben benannten, »aufschreibbaren«) Ton als ästhetisch-kompositorische Bezugsgröße Konkurrenz machen könnte.25 Mit diesen beiden Referenzpunkten − Natur und Geist − tritt die »Tonkunst« somit in eine doppelte Differenz zu Technik, Medien und Kultur; sie wird, wie zahllose Abhandlungen, philosophische Schriften, Erzählungen, Romane und Kritiken aus der Zeit um 1800 immer wieder dokumentieren, als deren explizites Gegenüber verstanden und entsprechend polemisch von akustischen Experimenten, technischen Innovationen (z. B. Musikautomaten), musikalischen Unterhaltungsformen und deren vielfältigen sozialen Funktionen abgegrenzt. Die musikalischen Instanzen und Akteure des Musiklebens werden in Zuge dieser Entwicklung konsequenterweise selbst in eine Kommunikationskette eingebettet, an deren Enden »Geist zum Geiste«26 zu sprechen vermag: Da ist zum einen ein Komponist, der die »Romantik der Musik« »tief in seinem Gemüte trägt« und diese mit »hoher Genialität und Besonnenheit in seinen Werken ausspricht«, des weiteren ein Orchester, das »von einem Geiste beseelt« diese Werke aufführt, zudem ein »sinniger Zuhörer«, dessen »Gemüt« »tief und innig ergriffen« wird, und schließlich ein Rezensent, der »ganz von seinem Gegenstande durchdrungen« einer größeren Leserschaft von dem musikalischen Werk berichtet. In dieser Abfolge ›reiner‹ Medien, die die Direktkommunikation vom »Geist zum Geiste« organisieren, nimmt es dann nicht wunder, dass auch der Phonograph, wie Wildenbruchs »Spruch« dokumentiert, nur als weitere Transferstation wahrgenommen wird, die (Musik-)Sprache und Seele direkt und ohne Verlust, ohne Rauschen und Interferenz, ohne eigene strukturprägende Effekte miteinander verschaltet. Zugespitzt ließe sich formulieren, dass über die Konzeption von Musik als »Tonkunst« sich Kompositions- und Technikgeschichte über viele Jahrzehnte voneinander entkoppeln. Die im späten 18. Jahrhundert einsetzenden fundamentalen Neuerungen im Bereich von Akustik, Klang24 | Diese Perspektive akzentuiert beispielshalber E.T.A. Hoffmann in seiner Erzählung »Die Automate«, S. 461. 25 | Vgl. zu diesem Komplex und seinem weiteren musikhistorischen und musikkulturellen Kontext auch die Untersuchungen von Wolfgang Scherer, die über lange Zeit wenig Resonanz in der Musikwissenschaft selbst gefunden haben. Scherer: Babbelogik; ders.: Klavier-Spiele; ders.: »Die Stimme und das Clavichord«. 26 | Hoffmann: »Recension Sinfonie par Louis van Beethoven«, Sp. 658. Die nachfolgend zitierten Formulierungen entstammen ebenfalls der »Recension«.

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physiologie und Klangpsychologie27 sowie die ab Mitte des 19. Jahrhunderts akzentuierten produktiven Wechselbeziehungen (und nicht zuletzt auch metaphorischen Allianzen) zwischen Hörphysiologie und Technik mitsamt ihrer davon abgeleiteten technologischen Innovationen bilden gleichsam eine Parallelgeschichte28, die erst im Verlauf des 20. Jahrhunderts – zunächst primär innerhalb der Avantgarde-Bewegungen – Stück für Stück wieder Eingang in ästhetisch-kompositorische Strukturen findet. Die lange historische Wirksamkeit eines autonomieästhetisch begründeten Verständnisses von Musik als »Tonkunst«, die auch die Entstehung des Fachs Musikwissenschaft im 19. Jahrhundert entscheidend prägt29, verlangt ihrerseits nach einer Erklärung. Sie basiert im Wesentlichen auf einer diskursiven Konstellation, die von Beginn an versucht, ihre eigene ästhetische Kontingenz und damit mögliche alternative oder konkurrierende Musikbegriffe auszublenden: Gewiß nicht allein in der Erleichterung der Ausdrucksmittel (Vervollkommnung der Instrumente, größere Virtuosität der Spieler), sondern in dem tieferen, innigeren Erkennen des eigentümlichen Wesens der Musik liegt es, daß geniale Komponisten die Instrumentalmusik zu der jetzigen Höhe erhoben. Haydn und Mozart, die Schöpfer der neuern Instrumentalmusik, zeigten uns zuerst die Kunst in ihrer vollen Glorie; wer sie da mit voller Liebe anschaute und eindrang in ihr innigstes Wesen, ist – Beethoven. 30

Wie diese Ausführungen dokumentieren, wird ein ästhetisches Programm in eine Eigenschaft des Mediums transformiert, d. h. die Präskriptionen, die nach autonomieästhetischen Prämissen Musik aus allen außermusikalischen Verweisungshorizonten (auch medialer und kultureller Art) lösen sollen, wandeln sich in Deskriptionen, die nun scheinbar objektiv lediglich dem »eigentümlichen Wesen der Musik« gerecht zu werden trachten. Musikgeschichte erscheint so als teleologische Entwicklung, deren innovatorische Qualitäten sich wesentlich einem Erkenntnisprozess verdanken, der die ästhetischen Potentiale von Musik adäquat zu erschließen versteht. 27 | Vgl. z. B. die vielfältigen Experimente, über die die Allgemeine musikalische Zeitung ab 1798 regelmäßig berichtet oder Chladnis »Entdeckungen über die Theorie des Klanges« aus dem Jahr 1787. 28 | Vgl. z. B. den Beitrag »Helmholtz und Edison. Zur Endlichkeit der Stimme« von John Durham Peters und den Beitrag von Rolf Großmann im vorliegenden Band. 29 | Mit der 1861 vollzogenen Etablierung einer Professur für »Geschichte der Musik« an der Universität Wien und ihrer Besetzung mit Eduard Hanslick, einem entschiedenen Vertreter autonomieästhetischer Positionen, beginnt eine Phase der universitären Etablierung, die sich 1885 in einer programmatischen, inhaltlich-methodischen Fixierung und Untergliederung des Fachs und seiner Teilgebiete durch Guido Adler, Hanslicks Nachfolger in Wien, niederschlägt. 30 | Hoffmann: »Recension Sinfonie par Louis van Beethoven«, Sp. 631.

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3. N E W M USICOLOGY Diese medienontologische Fixierung von Musik verpflichtet das Fach Musikwissenschaft über viele Jahrzehnte auf formanalytisch akzentuierte Verfahren, die kulturelle und mediale Einflüsse zwar nicht gänzlich ignorieren, sie aber durchgehend marginalisieren.31 Die Spuren des autonomieästhetischen Paradigmas lassen sich daher bis weit in die 1990er Jahre hinein verfolgen. So schreibt beispielshalber Ludwig Finscher, ehemaliger Präsident der Internationalen Gesellschaft für Musikforschung: Der generelle Vorbehalt, der für alle Überlegungen dieser Art im Bereich der Musikgeschichte gilt, darf allerdings nie vergessen werden: Musikgeschichte als Kompositionsgeschichte ist ein von allen anderen Kulturbereichen weitgehend abgesonderter, weitgehend autonomer Bereich, allein dadurch, daß Komponisten in Musik denken. Analogien, auch die der Tonsprache zur Sprache, haben darin ihre engen Grenzen. 32

Ist nach diesem Verständnis Musik als »Tonsprache« respektive Musikgeschichte als Kompositionsgeschichte zwar Teil der Kultur, so wird doch ein Kulturbegriff zurückgewiesen, der als umfassende präfigurierende Kraft nennenswerten Einfluss auf einzelne Kompositionen und deren innere Faktur gewönne. Dass Finscher diese Position gleich zu Beginn eines Beitrags hervorhebt, der im Rahmen der Gesamtthematik Kultur und Gedächtnis dezidiert Potentiale einer kulturwissenschaftlichen Reformulierung ehemals rezeptionsästhetisch fokussierter Beziehungen ausloten soll und der damit den transdisziplinären Intentionen des Sammelbandes zuwider läuft, ist durchaus symptomatisch: Bestrebungen, musikalische Formbildung unter Bezugnahme auf das – Ende der 1980er Jahre noch relativ junge – Konzept des kulturellen Gedächtnisses in einem umfassenderen Feld kultureller Bezüge und Funktionen zu situieren und damit den tradierten Ansatz einer Werk-, Wirkungs- und Gattungsgeschichte dezidiert zu überschreiten, stoßen an eine Grenze, an der theoretische Impulse anderer Fächer unter Hinweis auf die Besonderheit des Mediums Musik zurückgewiesen werden. In Reaktion auf diese problematische Allianz zwischen ästhetischer Programmatik und Wissenschaft formiert sich Anfang der 1990er Jahre in der US-amerikanischen Musikwissenschaft eine Bewegung, die unter dem Label New Musicology die wissenschaftlichen Implikationen einer solchen Engführung kritisch diskutiert. So verweist beispielshalber Gary Tomlinson auf die limitierende Wirkung einer »conventional musi31 | Die nachfolgenden Ausführungen konvergieren zum Teil mit Überlegungen, die die Verf. an anderer Stelle (Schlüter: »Musikwissenschaft als Kulturwissenschaft«) niedergelegt hat. 32 | Finscher: »Werk und Gattung in der Musik als Träger kulturellen Gedächtnisses«, S. 296.

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cological ideology -- formalism, internalism, aestheticism, universalism, transcendentalism«33 , deren latente Voraussetzungen und historischen Wurzeln, gerade in Hinblick auf die Generierung eines festen Kanons von Werken und Komponisten, aufzudecken wären: I do so, first, in order to suggest that the critique of Eurocentric musicology has, in at least one recent instance, reached the point where what we might call a deep ethnography of the Western canon can be glimpsed, at least. This defamiliarizing of musical presumptions that we embody and live with in complex ways seems to me a central desideratum of our attempt to find new grounds for scholarly discourse about music.

In der Folge werden die Implikationen einer solchen ›eurozentrischen‹ Perspektive34 − seien es westlich geprägte Sichtweisen, konventionalisierte Stereotypen einer männlich dominierten Geschichtsschreibung oder medienontologisch begründete Anachronismen35 – als Teil der eigenen Fachgeschichte reflektiert und problematisiert. Im Unterschied zu dem u. a. von Carl Dahlhaus unterbreiteten Vorschlag, Musikepochen ausgehend von den ihnen je eigentümlichen Kategorien historiographisch zu erschließen36, interessiert sich die New Musicology − weit darüber hinausgehend − auch für die Analyse genau jener historischen Prozesse, die die Genese dieser Kategorien und korrelierender ›ideologischer‹ Denkfiguren allererst ermöglichen: Ihre Entstehungsbedingungen und historischen Transformationen sind konstitutiver Teil einer Musikgeschichte, die dann immer zugleich auf den umfassenderen Horizont historisch variabler Wissensformationen sowie kulturspezifischer Denk- und Kommunikationsformen verweist. So akzentuiert Rose Rosengard Subotnik in ihrem Buch Deconstructive Variations. Music and Reason in Western Society37 beispielshalber die Notwendigkeit, hergebrachte, am Paradigma der »Ton33 | Gary Tomlinson: »Finding Ground to Stand On«. Der aus dem Jahr 1996 stammende Aufsatz ist u. a. im Internet auf den Seiten der Humboldt-Universität zu Berlin verfügbar. 34 | Der prominenteste Vertreter einer solchen Position war Hans Heinrich Eggebrecht. Sein 1991 erschienenes Buch Musik im Abendland ist jedoch bereits deutlicher Kritik ausgesetzt gewesen, vgl. z. B. Karbusicky: Wie deutsch ist das Abendland? 35 | Vgl. als Referenzliteratur stellvertretend für viele weitere Publikationen, Kramer: Classical Music and Postmodern Knowledge; Solie: Musicology and Difference; McClary: Feminine Endings; Subotnik: Developing Variations. 36 | Dahlhaus: Grundlagen der Musikgeschichte, S. 126 f. 37 | Subotnik: Deconstructive Variations. Vgl. hier insbesondere das (bereits 1988 separat veröffentlichte) Kapitel »Toward a Deconstruction of Structural Listening: A Critique of Schoenberg, Adorno, and Stravinsky«. Der Modus eines »structural listening«, findet – so die Diagnose der Autorin – in Theodor W. Adorno einen einflussreichen Agenten, dessen musikphilosophische Schriften dieses

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kunst« orientierte Wahrnehmungsmuster und korrelierende Analyseverfahren neu zu bewerten und den Modus eines »structural listening« als kulturell konditionierten Zugang von begrenzter historischer Reichweite entsprechend zu relativieren:38 But just as Western science has increasingly been criticized as a culturally limited and limiting construct, so, too, there is a strong argument to be made that the terms on which structural listening operates originate far less in universal conditions. 39

In einem 2003 veröffentlichten Beitrag blickt Lawrence Kramer, ein zentraler Exponent der New Musicology, auf die Anfänge dieser wissenschaftlichen Bewegung zurück.40 Zwar scheint ihm die New Musicology eher durch einen spezifischen Denkstil denn durch ein einheitliches wissenschaftliches Programm gekennzeichnet, »nonetheless it seems fair to say that there has been widespread interest in the interaction of music with social and cultural forms.«41 Aus dieser Neuperspektivierung heraus, die es zugleich legitimiere, den Begriff Cultural Musicology dem primär fachpolitisch motivierten Terminus New Musicology42 vorzuziehen, sei es nicht nur möglich, sondern gar notwendig, den immer wieder angeführten Verweis auf eine vorgeblich eigenlogisch operierende musikalische Formbildung und eine damit begründete weitgehende Irrelevanz semantischer Attributionen und kultureller Praktiken anders zu denken. Musikalische Formbildung bilde gerade in Allianz mit sprachlich sich artikulierenden, sinnstiftend-interpretativen Verfahren ein wichtiges Moment »kultureller Arbeit« − und dies sowohl auf Produktions- wie auch auf Rezeptionsseite: The purpose of this chapter is to say the contrary: to suggest, in so many words, that music does important cultural work by being spoken of, and would not be what we call ›music‹ otherwise. Words situate music in a multiplicity of cultural contexts [...]. Neither the speech nor the contexts − this can’t be stressed too much − are ›extrinsic‹ to the music involved; the three terms are inseparable in both theory and practice. 43

Modell im 20. Jahrhunderts noch einmal nobilitieren und in seiner Wirkmächtigkeit prolongieren. 38 | »Certainly the kinds of medieval musical ›structure‹ that our culture allows us to perceive are nothing like the system of relationships that Adorno’s structural listening would have us grasp from within.« Ebd., S. 168. 39 | Ebd., S. 157. 40 | Kramer: »Subjectivity Rampant!«. 41 | Ebd., S. 125 f. 42 | Ebd., S. 125. 43 | Ebd., S. 124 f.

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Im weiteren Verlauf seines Beitrags geht Kramer noch einen Schritt weiter und interpretiert − in direkter Umkehrung des von Finscher vorgebrachten Arguments − die ab dem späten 18. Jahrhundert akzentuierte interne kompositorische Verdichtung und die damit verbundene strukturelle Eigenlogik von Musik als ein Moment, das komplementäre Prozesse einer kulturellen Kontextuierung entscheidend forciert: Gerade weil sich − so sein Argument − die Kluft zwischen musikalischer Strukturbildung und Sprache im 19. Jahrhundert vergrößert, werden verstärkt Semantisierungsprozesse initiiert, die diese Kluft kompensatorisch zu überbrücken trachten und in deren spezifischer Gestalt sich daher in besonders prägnanter Weise kulturelle Effekte manifestieren: Gaps like this [die zwischen musikalischer Faktur und sprachlicher Beschreibung sich dokumentierende Kontingenz interpretativer Verfahren] are endemic in musical hermeneutics, and their presence is usually used to discredit the whole idea of musical meaning, which, it is argued, is an arbitrary construction of the interpreter that at best addresses the strictly musical qualities of a work in superficial terms. Plausible as it may seem, this view is untenable. Not only are these hermeneutic gaps not a sign of arbitrariness, they are the enabling condition of musical meaning, and the site where the interplay of music and culture is most fully realized.44

Bildet sich somit ein Verständnis von musikalischer Bedeutung allererst durch das Zusammenspiel von musikalischer Form und kulturell präfigurierten, sinnkonstituierenden Verfahren, so berührt dieser Gedanke den Kern der in den folgenden Jahren geführten Auseinandersetzungen: Zur Disposition steht der Musikbegriff selbst, das Verständnis dessen, was Musik letztlich sei. Und trotz aller Verschiedenheit der thematischen Fokussierung sind die Forschungsinteressen der New Musicology durch den gemeinsamen Grundimpuls gekennzeichnet, genau jene Steuerungsmechanismen und Denkfiguren genauer zu fassen, die sowohl Wissenschaft als auch Ästhetik als auch künstlerisch-kompositorische Praxis über viele Jahrzehnte geprägt haben. Im Folgenden seien daher einige wesentliche Aspekte und Argumentationsgänge umrissen, die mit vergleichbarer Stoßrichtung, aber von verschiedenen Seiten her die etablierten Verfahren und Gegenstandsbestimmungen einer Revision unterziehen – und damit letztlich die zu Beginn des Beitrags skizzierte Neuvermessung des Untersuchungshorizonts auf breiterer Basis initiieren.

4. S OUND S TUDIES Die von der New Musicology eröffneten Einblicke in die Kontingenz eines autonomieästhetisch geprägten Musikverständnisses bieten Optionen der 44 | Ebd., S. 127.

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musikwissenschaftlichen Beobachtung, die nun auch die historisch variabel definierten Gelenkstellen zwischen musikalischer Form und kulturellem Kontext als analytische Bezugspunkte mit in ihre Überlegungen einbeziehen kann. Dieser gleichsam diskursanalytische Zugriff wird, wie die Problematisierung des tradierten westlichen Kanons zeigt, zuallererst auch am Konzept der »Tonkunst« selbst erprobt. Auf diese Weise lassen sich beispielshalber Beethovens Symphonien als Repräsentanten eines ästhetischen Konzepts (genauer: des der romantischen Ironie und der damit verbundenen Modi von Subjektkonstitution und Weltbeobachtung) deuten; der ›heroische Stil‹ wird dann als musikalische Figuration einer Dopplung von Erzähler und Erzähltem, die strukturelle Komplexität von »Tonkunst« und das Durchbrechen von Regelsystemen als rhetorisches Manöver interpretierbar45 – und beide Momente verweisen (weit über die Instanz einer individuellen kompositorischen Intention hinausreichend) auf kulturelle Konfigurationen, die sich in vergleichbarer Form auch in anderen Künsten oder ästhetischen Schriften der Zeit wieder finden lassen. Diese enge Verbindung von inner- und außermusikalischer Ebene führt direkt zu der Frage, auf welche Weise Musik sich als integraler Teil kultureller Entwicklungen selbst diesen veränderten Vorstellungen anpasst und intern rearrangiert: Ein ästhetisches Programm, das die Gelenkstelle zwischen Form und Kontext im Rahmen autonomieästhetischer Prämissen primär als Ablösung von außermusikalischen Kontexten konzipiert und musikalische Zeit daher als Funktion kompositorischer Verdichtungsprozesse versteht, muss der Erzeugung interner Komplexität hohe Aufmerksamkeit schenken. Dies erfordert aber nicht nur eine Redefinition des Mediums Musik im Sinne einer strukturellen Ermöglichung erhöhter Komplexität (z. B. im Sinne von »Tonkunst« in der feineren Auflösung der musikalischen Basiseinheiten, einer stärkeren Freisetzung der Verknüpfungsregeln und einer erhöhten Vernetzung der Zeithorizonte innerhalb des kompositorischen Verlaufs), sondern auch eine Orientierung an den jeweils historisch verfügbaren Komplexitätsmodellen: So lässt sich beobachten, dass das Modell der Entelechie, das ab dem späten 18. Jahrhundert verschiedene Wissensfelder durchzieht und neu konfiguriert46, auch ein Vorbild für die kompositorische Gestaltung motivisch-thematischer Beziehungen und Formen der musikalischen Prozessualität darstellt und zugleich die durch organizistische Metaphern angereicherte musikalische Beschreibungssprache prägt.47 Statt Innovationen kompositionsimmanenten Entwicklungsprozessen respektive einzelnen Komponisten oder 45 | »Beethoven began to place rhetorical emphasis on many of his main structural junctures, in effect conceding the intrinsic intelligibility of structural relationships as a fiction.« Burnham: Beethoven Hero, S. 161. 46 | Vgl. hier als viel zitierte Referenzliteratur, Foucault: Die Ordnung der Dinge. 47 | Vgl. z. B. Hoffmanns »Recension«. Beide für den Rezensenten konstitutiven Aspekte der Musik – die über komplexe thematisch-motivische Beziehungen organisierte Einheit der formalen Konzeption und der spezifische, prozessuale

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Schulen zuzuschreiben, ermöglichen solche und andere Fragestellungen, die konstituierenden Prinzipien musikalischer Formbildung ebenso systematisch wie historisch differenzierend zu anderen Wissensgebieten in Beziehung zu setzen. Die Einsicht, dass das Zusammenspiel zwischen inner- und außermusikalischen Faktoren selbst historisch und kulturell variiert und sich auf je unterschiedliche Weise gestaltet, verdankt sich nicht zuletzt Impulsen aus der neueren Musikethnologie. Die Untersuchung nicht-westlicher, außereuropäischer Musikkulturen unterscheidet sich – insbesondere innerhalb der Postcolonial Studies – stark von den ›abendländisch‹ geprägten Sichtweisen der Musikethnologen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Stück für Stück löst sich − so ließe sich die Geschichte dieser Teildisziplin summarisch fassen − die musikethnologische Forschung von Kategorien eines tradierten Musikverständnisses, dessen begrenzte Gültigkeit in der Konfrontation mit anderen musikkulturellen Phänomenen immer stärker sichtbar wird. Betrifft dies im 19. Jahrhundert zunächst das europäischabendländische Tonsystem selbst, so werden mit dem beginnenden 20. Jahrhundert und den Möglichkeiten, musikalische Darbietungen mit Hilfe eines Phonographen aufzuzeichnen, weitere basale musikästhetische Annahmen nachhaltig irritiert.48 Die Grenzen der etablierten Musiknotation, die im späten 18. und 19. Jahrhundert im Kontext akustischer Experimente bereits durch andere Transkriptionsverfahren von Schall abgelöst wurden, treten nun auch im Bereich musikalischer Praxis schärfer in das Bewußtsein − und finden mit der von Alexander John Ellis entwickelten, kleinste Tonabstände ins Kalkül ziehenden Cent-Rasterung zunächst noch einen plausiblen und praktikablen Lösungsansatz. Die von Carl Stumpf angefertigten und auf der Grundlage dieses Systems transkribierten Tonaufzeichnungen lassen jedoch weitere Problemdimensionen erkennen, die einer umstandslosen Adaption nach europäischen Maßstäben entgegenstehen: Die vielfältigen musikalischen Variantenbildungen, die der Phonograph speichert und immer wieder unerbittlich in Erinnerung ruft, unterlaufen nachhaltig das Bedürfnis, musikalische Strukturen durch Notationen zu fixieren; sie entsprechen in keinerlei Weise mehr einem Verständnis von Werkidentität, die als integrales Moment von »Tonkunst« im Verlauf des 19. Jahrhunderts zunehmend emphatisch besetzt wurde. Einige Jahrzehnte später treten die Folgen der Kolonialisierung als Überschreibung oder gar Auslöschung autochthon verstandener Musikkulturen in das Bewusstsein, und heute erscheinen die vielfältig sich überlagernden kulturellen Austauschprozesse als zentrales Kennzeichen immer schon hybrid veranlagter (Musik-)Kulturen, die die Rekonstruktionen einer originären, ›authentischen‹ Musikkultur ihrerseits als (westliche) Fiktion entlarven, ihr Augenmerk aber gleichwohl nicht minder Charakter der einzelnen thematisch-motivischen Konstellationen – finden ihren gemeinsamen Konvergenzpunkt in dem Organisationsprinzip der Entelechie. 48 | Vgl. hierzu z. B.: Kokorz: »›Teufelsmusik‹ oder ›Heidenlärm‹?«.

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scharf auf Effekte und strukturelle Konsequenzen macht- und gewaltbasierter Kommunikation richten.49 Die Musikethnologie hinterfragt somit nicht nur jede medienontologische Festlegung auf ein bestimmtes Musikverständnis, sondern beobachtet auch − im Anschluss an die Trans- und Interkulturalitätsforschung50 − komplexe Wechselbeziehungen, die aus der Konfrontation verschiedener Musikbegriffe und damit korrelierender musikalischer Praktiken erwachsen. In vergleichbarer Weise vermag auch eine Musikgeschichtsschreibung in der Konfrontation mit anderen kulturhistorischen Konzepten von Musik deutlich zu machen, dass Musik in spezifischen Konstellationen gegebenenfalls nur ein spezielles Ingredienz umfassenderer, auditiver Arrangements darstellt.51 Solch eine Relativierung von Musikbegriff und Musikverständnis prägt ab Beginn des 20. Jahrhunderts nicht zuletzt auch die kompositorische Praxis und mündet in teilweise radikalen Modifikationen der ästhetischen Konzepte − eine Entwicklung, auf die, wie oben bereits angesprochen, auch die deutschsprachige Musikwissenschaft in der weitgehenden Öffnung ihrer Gegenstandsfelder verstärkt ab den 1980er Jahren reagiert und zumindest zu Teilen auch die wissenschaftlichen und wissenschaftstheoretischen Implikationen mitzudenken beginnt. Denn längst bilden in der kompositorischen Praxis nicht mehr der »Ton« und die über ihn arrangierten musikalischen Parameter den alleinigen Bezugspunkt der kompositorischen Gestaltung, sondern andere, neue Möglichkeiten, die sich der experimentellen Aneignung der seit dem 19. Jahrhundert kontinuierlich fortentwickelten Forschungen zur Klanganalyse, Klangsynthese, Klangspeicherung und Klangverarbeitung verdanken und die sich damit direkt dem »Unaufschreibbare[n] an der Musik und unmittelbar ihre[r] Technik« widmen. Die Auseinandersetzung mit elektronischer Klangerzeugung, mit Entwicklungen innerhalb der Popularmusik, mit Strategien der massenmedialen Zirkulation von Musik, mit allen Varianten digitaler Klangproduktion und -Verarbeitung sowie den mannigfachen plurimedialen Gestaltungsformen verlangt dann, auch all jene technischen Medien 49 | Vgl. z. B. Untersuchungen zur Übernahme spezifischer musikalischer Parameter (wie des Dur-Moll-Tonalen Systems) als »colonializing force« und zur globalen Zirkulation musikalischer Genres und Stile bei Agawu: Representing African Music. 50 | Verbreitete Referenzpunkte sind hier – wie auch in anderen Disziplinen – die Arbeiten von Edward Said und Homi K. Bhabha. 51 | Vgl. als jüngeres Beispiel aus der Kultur- respektive Medienwissenschaft, das die fundamentalen Differenzen zwischen unserer Musikvorstellung und der antiken Musikanschauung eindrücklich dokumentiert, die Reihe von Friedrich Kittler: Musik und Mathematik. Ebenso ließe sich unter diesem Gesichtspunkt ein theologisch geprägtes Musikverständnis der frühen Neuzeit neu perspektivieren, das alle Formen von Klanglichkeit der Natur (z. B. Tierlaute) als ›ars dei‹ im Sinne einer Manifestation von ›harmonia‹ deutet und diese Phänomene von musikalischen Kompositionen daher nicht systematisch scheidet.

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mit zu bedenken, die jene Umakzentuierung vom »Symbolischen« zum »Reellen« ermöglichen und ihre Formen entscheidend mitprägen. Die Termini organised sound und Sound Studies können als Kennung dieser medien- und kulturwissenschaftlichen Neujustierung von Themengebieten und Fragestellungen der Musikwissenschaft verstanden werden − als Signal, wissenschaftliche Limitierungen in der Orientierung an einem historisch begrenzten, medienontologisch fixierten Musikverständnis nachhaltig aufzubrechen und erweiterte Perspektiven der Untersuchung klanglicher Phänomene als Teil »auditiver Medienkulturen« zu erschließen: »Denn nur« wie Kittler in Der Gott der Ohren formuliert »unter den Bedingungen einer Kultur, die Diskurse als individuelle Sprechakte und dergleichen zu hören befahl, klingen Diskurse über Diskurskanalbedingungen (Rauschen und Zischen, Raumklang und Nachhall) notwendig irre.«52

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Sound Studies – auf dem Weg zu einer Theorie auditiver Kultur Ästhetische Praxis zwischen Kunst und Wissenschaft Sabine Sanio

Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen bildet die seit einiger Zeit zu beobachtende Erweiterung der Musikwissenschaft: Inzwischen setzt sie sich vermehrt mit klanglichen Phänomenen auseinander, die nicht unter den Begriff der Musik gefasst werden können. Um die neuen Gegenstandsbereiche und Fragestellungen anschaulich zu machen, beginne ich mit einer kurzen Skizze des neu gegründeten Masterstudiengangs Sound Studies an der Berliner Universität der Künste, der hier für die neuen Entwicklungen an den Musikhochschulen stehen soll. Im Zentrum des vorliegenden Beitrags steht jedoch der Versuch, mit dem Begriff der auditiven Kultur den Erweiterungstendenzen in den Musikwissenschaften und der zunehmenden wissenschaftlichen Beschäftigung mit auditiven Phänomenen jenseits der traditionellen Vorstellung von Musik Rechnung zu tragen. Ausgehend von der Erfahrung, rückt der Begriff der auditiven Kultur die Perspektive des Hörens in den Fokus. Der entscheidende Unterschied zur Systematischen Musikwissenschaft, die in Disziplinen wie Musiksoziologie, Musikästhetik, Akustik, Psychoakustik und Musikpsychologie ähnliche Themen verhandelt, kann darin gesehen werden, dass eine Theorie auditiver Kultur nicht als Grundlagenwissenschaft für die Historische Musikwissenschaft fungiert. Eine Theorie auditiver Kultur ist nicht mehr allein der abendländischen Kunstmusik verpflichtet, sie befaßt sich mit dem gesamten kulturellen Leben einer Gesellschaft aus der Perspektive des Hörens. Um zu verdeutlichen, welche Einsichten in die moderne Kultur diese Perspektive liefern könnte, sind im vorliegenden Beitrag vier zentrale Fragestellungen einer Theorie auditiver Kultur exemplarisch vorgestellt. Ideen und Konzepte von Komponisten und Klangkünstlern haben dem neuen Theoriekonzept wichtige Impulse geliefert. Im Anschluss an

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die Darstellung verschiedener Themen und Fragestellungen einer Theorie auditiver Kultur soll deshalb in einem Exkurs nicht allein die Bedeutung der Künste für eine Theorie auditiver Kultur, sondern die allgemeine Annäherung der Künste an wissenschaftliche Strategien diskutiert werden. Neben der grundlegenden Veränderung im Selbstverständnis der Künste, die im 20. Jahrhundert beobachtet werden kann, geht es auch um die Frage, welche Konsequenzen diese Annäherung für Theoriebildung und wissenschaftliches Selbstverständnis haben könnte.

E IN NEUER S TUDIENGANG : S OUND S TUDIES Im Studienangebot der Musikhochschulen reflektiert sich bis heute die starke Verbreitung klassischer Konzertmusik – ausgebildet werden noch immer vor allem Musiker, Dirigenten, Komponisten und Tonmeister. Dagegen gibt es für die Entwicklung in den neuen Medien sowie für die neuen Berufsbilder wie Audiodesigner in Film, Werbung, Produktdesign erst allmählich angemessene Entsprechungen im Studienangebot der Musikhochschulen. Zwar finden noch immer viele Audiodesigner nur auf Umwegen zu ihrem späteren Beruf, immerhin sind aber in der letzten Zeit einige neue Studienangebote entstanden, die den medialen Entwicklungen Rechnung tragen.1 Zu diesen aktuellen Konzepten gehört der vor fünf Jahren nach einer mehrjährigen Gründungsphase eröffnete Masterstudiengang Sound Studies an der Berliner Universität der Künste. Nachdem der Studiengang 2006 eröffnet wurde, ist nun für 2012 geplant, das Angebot an Schwerpunkten in diesem Studiengang zu erhöhen und die Zahl der Studierenden zu vergrößern – voraussichtlich werden dann ca. 40 Studierende zwei Pflicht- und fünf Wahlpflichtfächer studieren. Das Studienangebot wird dann, pointiert formuliert, alle Bereiche des Klanglichen und Auditiven jenseits der traditionellen Konzertmusik umfassen, und damit alle klanglichen Phänomene, die sich nicht der Vorstellung von Musik im traditionellen Sinn subsumieren lassen. Studiengänge wie die Sound Studies sind typische Erscheinungen an Kunst- und Musikhochschulen mit ihrer speziellen Mischung aus theoretisch-wissenschaftlichem und künstlerisch-gestalterischem Lehrangebot. Aus dem Spannungsfeld zwischen Kunst und Wissenschaft, Theorie und Praxis leitet sich auch die Grundstruktur des neuen Studiengangs ab. Der direkte Kontakt, der ständige, lebendige Austausch zwischen praktischen, insbesondere künstlerischen Projekten und theoretischen Konzepten, die Kombination zwischen dem Erlernen praktischer Fähigkeiten und der Auseinandersetzung mit den entsprechenden Theorieansätzen prägt die Situation bei den Sound Studies. In diesem Austausch lassen sich Einsichten aus der künstlerischen Praxis für die theoretische Auseinander1 | »Sound Studies« kann man heute auch an der Universität Bonn, hier innerhalb der Musikwissenschaften, studieren.

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setzung produktiv machen, umgekehrt kann diese den künstlerischen Projekten neue Impulse liefern. Deshalb sind die beiden wichtigsten Schwerpunkte bei den Sound Studies die ›Experimentelle Klanggestaltung‹, die sich besonders der Klangkunst als ausgewiesener eigenständiger künstlerischer Strömung jenseits der Konzertmusik widmet, und die ›Theorie und Geschichte auditiver Kultur‹, die wissenschaftlichen Ansätze zur Beschreibung der auditiven Kultur vermittelt. Die anderen Fächer sind anwendungsbezogen konzipiert: ›Akustische Markenkonzeption‹, ›Auditive Mediengestaltung‹ sowie die ›Auditive Architektur‹, die ab 2012 als fünfter Schwerpunkt hinzukommt. In diesen Fächern geht es nicht darum, völlig freie Konzepte zu entwerfen, vielmehr soll die Fähigkeit vermittelt werden, auf bestimmte Rahmenbedingungen in Film, Werbung, Produktdesign und Stadtplanung zu reagieren und diese produktiv zu machen. In der neuen, erweiterten Form der Sound Studies wird es neben diesen Schwerpunkten, die als Wahlpflichtfächer konzipiert sind, auch zwei Pflichtfächer geben: Die Förderung konkreter Fähigkeiten der Studierenden steht im Mittelpunkt der ›Kompetenz des Hörens‹; im Fach ›Theorie und Geschichte auditiver Kultur‹, das zusätzlich auch als Wahlpflichtfach studiert werden kann, werden die für die Sound Studies relevanten Theoriekonzepte vermittelt, zu denen Fragestellungen und Methoden der Systematischen Musikwissenschaft ebenso gehören wie die der Cultural Studies.

E INE K ULTUR DES H ÖRENS Grundsätzlich meint der Begriff des Auditiven das zum Hören Gehörige, im Mittelpunkt steht also nicht das akustische Phänomen als solches, sondern wie es sich uns präsentiert, wie wir es wahrnehmen und erleben und wie dieses akustische Phänomen schließlich technisch verarbeitet, grafisch dargestellt und medial aufbereitet wird. Als eine Kultur des Hörens beschränkt sich die auditive Kultur nicht auf das Musikalische, sondern umfasst die Welt der Klänge und Geräusche, des Hörens und der hörenden Erfahrung in ihrer ganzen Vielfalt. Als Erweiterung der traditionellen Musikwissenschaft liefert der Begriff der auditiven Kultur zusammen mit den für dieses erweiterte Konzept relevanten Themen und Fragestellungen auch einen Ansatzpunkt, um den Bereich des Auditiven – Grenz- und Überlappungsphänomene wie das Audiovisuelle eingeschlossen – als eigenständige Dimension der Kultur zu etablieren. Zwischen Bildender Kunst und Malerei auf der einen, der visuellen Kultur auf der anderen Seite besteht ein ähnliches Verhältnis. An den Kunsthochschulen gehört die visuelle Kultur heute zu den zentralen Themenfeldern von Studiengängen wie Grafik/Design, Kommunikationsund Produktdesign. Ausgangspunkt ist die Überlegung, einen Bereich zu etablieren, der nicht allein die Werke der bildenden Kunst, sondern alle

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visuellen Phänomene der Kultur umfasst, um die Aufmerksamkeit auf die Eigenlogik des Visuellen zu lenken. Insofern erscheint es als naheliegend, die Idee einer auditiven Kultur als Pendant zur visuellen Kultur zu betrachten. Will man auch auditive Phänomene aus dem Kontext alltäglicher und entsprechend komplexer Konstellationen lösen und statt dessen einen übergreifenden Kontext des Auditiven herausarbeiten, sieht man sich zunächst einer Reihe von offenen Fragen gegenüber. Für eine Theorie auditiver Kultur sind Ansätze, die das Hören in den Mittelpunkt stellen, naturgemäß von besonderem Interesse. Die Perspektive verschiebt sich damit von der Orientierung an einem Gegenstand oder einem Gegenstandsbereich – in der Musikwissenschaft wäre das die Musik – zu einer Orientierung am Subjekt und seiner Beziehung zu dem untersuchten Gegenstand, im Fall der auditiven Kultur wäre das der Hörer.2 Aus der Perspektive des Hörens gehören dazu die wahrnehmungspsychologischen und psychoakustischen Grundlagen, die unterschiedlichen Formen und Funktionen des Hörens sowie eine umfassende Kontextualisierung, die auch die unterschiedlichen Situationen des Hörens im Alltag einbezieht. Die »einfache« sinnliche Wahrnehmung, die sich in ihrer Interaktion mit Auge und Motorik allerdings als sehr komplex erweist, gehört ebenso dazu wie die klassische Idee der musikalischen Werkrezeption. Aus der Perspektive einer den Ideen der Cultural Studies verpflichteten Theorie wirkt die Fokussierung auf das Hören und seine Gegenstände zunächst vielleicht wie eine Beschränkung oder zumindest eine Spezialisierung. Doch die Frage nach dem Hören erzeugt nicht allein eine neue Perspektive für die Betrachtung des kulturellen Lebens, sie ermöglicht überraschende Einsichten in dessen Bedingungen und Formen. Auf diese Weise versucht dieses neue Theoriekonzept, die Sphäre des Hörens als eigenständigen Bereich unserer Kultur zu etablieren. Damit erhält sie programmatischen Charakter: Die Theorie auditiver Kultur betrachtet die Wirklichkeit unter bestimmten Fragestellungen. Dabei geht es nicht einfach darum, einzelne vernachlässigte Aspekte dieser Wirklichkeit zu entdecken, im Gegenteil, es geht um den Versuch, das Auditive als eigenständige Dimension der Wirklichkeit zu begreifen. Eine Theorie auditiver Kultur beschränkt sich nicht darauf, die mit den neuen Audio- und audiovisuellen Medien verbundenen Entwicklungen zu reflektieren. Neben aktuellen medientheoretischen Ansätzen sind Konzepte zur Beschreibung und Reflexion der speziellen Perspektive des Hörens gefragt. Dabei müssen gerade auch diejenigen Veränderungen des modernen Lebens, die keine Effekte der neuen Medien darstellen, einbezogen werden. Die Vielfalt der Fragestellungen soll durch vier Themen anschaulich gemacht werden, die für eine Theorie auditiver Kultur zentrale Bedeutung beanspruchen können: 2 | Hier ergeben sich Anschlüsse zu aktuellen Diskussionen um den Begriff des Subjekts, v gl. Mersch: Ereignis und Aura , S. 27 ff.

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Die Stadt als Soundscape Zur Phänomenologie des Hörens Die Ästhetik des Audiovisuellen Die Zweckentfremdung von Audiomedien.

Aus diesen Fragestellungen soll hier kein umfassender Ansatz abgeleitet werden, mit dem sich der Gegenstandsbereich der auditiven Kultur systematisch konstruieren ließe. Doch eine Theorie auditiver Kultur steht vor der grundsätzlichen Frage, wie der Erfahrungsraum der Moderne aus der Perspektive des Hörens beschrieben werden kann. In diesem Kontext spricht vieles dafür, die Frage nach dem Hören als Ergebnis einer Ausdifferenzierung zu betrachten, die im 20. Jahrhundert dazu geführt hat, dass statt der klassischen Vorstellung von Musik die Perspektive des Hörers immer stärkere Aufmerksamkeit findet. Eine Entwicklung, die die neuen Audio- und audiovisuellen Medien nur noch beschleunigt haben.

Die Stadt als Soundscape In der Moderne versteht man die Alltagskultur stets als Kultur städtischen Lebens. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein spielt sich das städtische Leben im öffentlichen Raum, auf Straßen und Plätzen ab. Erst durch die modernen Massenmedien verliert der öffentliche Raum seine frühere Bedeutung. Mit Radio, Fernsehen und Internet verwandelt sich Öffentlichkeit immer mehr in einen medial inszenierten Ort. Dafür entwickeln immer mehr Künstler ein Interesse für den urbanen öffentlichen Raum. Ende der 1940er Jahre begann der französische Radiomacher und Begründer der musique concrète, Pierre Schaeffer, Geräusche der Stadt mit Hilfe von Mikrophon und Tonbandgerät in musikalisches Material zu transformieren. Zugleich transferierte er auf diese Weise zwei Ideen der Surrealisten ins Musikalische: die Verwendung von Alltagsfundstücken und das Collage-Verfahren. Das damals ganz neue Magnettonband macht es zum ersten Mal möglich, akustische Abbildungen der Realität kompositorisch zu nutzen. Angesichts der massiven Kritik durch einige Komponisten blendete Schaeffer die bildhaft-narrative Dimension seiner Audiofundstücke jedoch bald aus.3 Es war Luc Ferrari, ursprünglich selbst Schüler Schaeffers, der für seine Anekdotische Musik Tonbandmusik ausdrücklich für die Generierung musikalischer Bilder nutzte. In den 1960er und 1970er Jahren initiierte der kanadische Komponist Murray Schafer das World Soundscape Project, das sich der Erkundung der auditiven Dimension unserer Umwelt verschrieben hat. Angesichts der Dominanz, die den vor allem durch Industrialisierung und Motorisierung verursachten Geräuschen des modernen Lebens zukommt, will Schafer 3 | Zur Kritik an Schaeffer vgl. das von Pierre Boulez verfasste Stichwort musique concrète in der Encyclopédie de la musique, abgedruckt in: Schaeffer: Musique concrète, S. 16.

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der modernen Klangwelt mehr Harmonie verleihen. Der kanadische Komponist Barry Truax, ebenfalls Mitglied des World Soundscape Project, hat inzwischen theoretische Grundlagen für das Soundscape-Konzept erarbeitet und den Begriff der »Soundscape compositions« etabliert.4 Kompositionen, in denen akustische Alltagsfundstücke, also Mitschnitte von Klängen unterschiedlichster Herkunft, mittels elektronischer Bearbeitung in Musik verwandelt werden, sind jedoch seit Robert Fripp und Brian Eno in der Pop-Musik ebenso wie, seit Luc Ferrari und Steve Reich, in der Neuen Musik weit verbreitet. Als Projekt zur auditiven Erforschung des städtischen Raums gehört das Soundscape-Projekt zu den ersten Konzepten, die auch neue wissenschaftliche Ansätze hervorgebracht haben. Dazu gehört der von Jean-François Augoyard und Henry Torgue entworfene Ansatz der Sonic Experience. A Guide to Everday Sounds ebenso wie Shuhei Hosokawas Untersuchungen darüber, wie der Walkman die Erfahrung des städtischen Raums verändert hat.5 Mehr als zwanzig Jahre nach Hosokawas poststrukturalistisch inspirierten Überlegungen hat Michael Bull die Veränderungen im Arbeitsleben leitender Angestellter durch das Nachfolgegerät, den Mp3-Player, untersucht. Angesichts der Optimierung des Arbeitsprozesses, die dieses Gerät bewirken kann, fragt er sich, ob Odysseus, der sich bei der Vorbeifahrt an den Sirenen an den Mast binden ließ und so als einziger den Gesang der Sirenen hören konnte, heute die neue Technik nutzen würde, um sich die Ohren zu verstopfen und mit den anderen mitzurudern.6 Während Field Recordings und Soundscape Compositions Klangbilder von der Wirklichkeit »draußen« liefern, entstehen in der Klangkunst Konzepte für Interventionen im urbanen Raum, die eine Intensivierung des Hörens im Alltag anstreben, aber auch die Anonymität und »Unwirtlichkeit der Städte« (Alexander Mitscherlich) zum Thema haben. Seit den 1970er Jahren sind die technischen Voraussetzungen gegeben, um auch Außenräume für beliebig lange Zeit mit auditiven Mitteln subtil zu verändern.7 Der amerikanische Fluxuskünstler Max Neuhaus war einer der ersten, der die moderne Technik nutzte, um die Atmosphäre auf öffentlichen Plätzen in der Stadt mit Klängen an der Grenze zur Wahrnehmbarkeit zu gestalten. Er hat damit der Klangkunst im öffentlichen Raum, einer der wichtigsten Spielarten dieses Genres, den Weg bereitet. Konzepte von 4 | Vgl. Truax: Acoustic Communication. 5 | Vgl. Augoyard/Torgue: Sonic Experience sowie Hosokawa: »Der WalkmanEffekt«. 6 | Vgl. Bull: »The Seamlessness of iPod Culture«. 7 | Im öffentlichen Raum findet man außerdem Klanginstallationen, die ohne Elektronik auskommen und stattdessen bestimmte physikalische Gesetzmäßigkeiten ausnutzen. So werden manche Klangskulpturen von Mario Bertoncini wie Äolsharfen durch den Wind zum Klingen gebracht, während sich Andreas Oldörp für seine singenden Flammen am Prinzip der Orgelpfeife orientiert, um mit gasbetriebenen Flammen stehende Wellen in Glasrohren zu erzeugen.

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Klangkünstlern und Komponisten waren wegweisend für die Ansätze zur Beschreibung von Klängen und Klangeffekten im urbanen Raum und die Erkundung neuer Möglichkeiten zur auditiven Gestaltung urbaner Situationen, die heute das Fundament der auditiven Architektur darstellen.

Zur Phänomenologie des Hörens Die Frage nach den Erscheinungsformen des Hörens im Alltag steht vor der Schwierigkeit, dass mit Musik und Sprache das menschliche Ohr durch zwei Spezialisierungen in seinen Fähigkeiten nicht nur stimuliert, sondern auch extrem gefordert wird. Wie diese Fähigkeiten, Musik oder aber Sprache hörend zu verstehen, das Hören selbst verändern, wird heute nicht allein in der Musikpsychologie, sondern ebenso in Phänomenologie, Entwicklungspsychologie oder Soziolinguistik untersucht und diskutiert. Während zur Musik bereits umfassende Forschungen vorliegen, sind Untersuchungen entstanden, die die Rolle von Stimme und Sprechen in der frühkindlichen Entwicklung untersuchen und auch für die Entwicklung des Hörens neue Einsichten liefern.8 Das Hören als alltägliche Orientierungsleistung des Menschen ist Gegenstand verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen, dazu gehören Musikpsychologie, Wahrnehmungspsychologie, Psychoakustik, aber auch Phänomenologie und Rezeptionsästhetik. Sie alle beschreiben das Hören als spezifische Fähigkeit, die konkreten Bedingungen und Möglichkeiten, unter denen es zustande kommt, seine Einbindung in die alltägliche Erfahrung, die Interaktion mit Intentionen, Handlungen sowie mit den anderen Sinnesorganen. Das Interesse an der Erfahrung des Hörers steigt mit den Möglichkeiten zur Gestaltung der auditiven Dimension des Alltags, sei es durch Produktdesigner, die nach dem besten Klang für Elektroautos, oder Architekten, die nach Ruhezonen für das Wohnen in den Städten suchen. Doch zunächst einmal wird deutlich, dass die konkreten Wahrnehmungen im Alltag nur selten von Belang sind: Zwar wissen wir etwa durch die Lichter der sich nähernden Straßenbahn und das Quietschen auf den Gleisen, dass wir uns beeilen müssen, um rechtzeitig an der Haltestelle zu sein, doch das Quietschen selbst ist schon im nächsten Moment nicht mehr zu hören und wird uns kaum weiter beschäftigen. Aus dem, was wir hören, erstellen wir meist ganz automatisch bestimmte Vorstellungen von dem damit verbundenen Geschehen, dabei geben wir dem Gehörten eine Bedeutung und lassen uns auch emotional von ihm ansprechen. Je leichter diese Informationsverarbeitung abläuft, desto weniger befassen wir uns mit der Wahrnehmung selbst.

8 | Vgl. Fuchs: Leib, Raum, Person; Bertau: »Die Stimme«; Meyer-Kalkus: Stimme und Sprechkünste im 20. Jahrhundert. Erwähnt seien außerdem zwei Hefte der Zeitschrift Paragrana, vgl. Wulf: Das Ohr als Erkenntnisorgan; Schulze/Wulf: Klanganthropologie.

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Der Diskurs über die Disziplinierung des Körpers in der Moderne, der im Anschluss an die Untersuchungen Michel Foucaults und Judith Butlers entstanden ist, ist auch für die Frage nach dem Körper als Ort des Hörens virulent. Musik war bis ins 20. Jahrhundert hinein ohne die körperliche Präsenz eines Musikers fast undenkbar, Radio und Schallplatte machten den Körper des Musikers zwar unsichtbar, doch erst die elektronische Musik ist nicht mehr auf Musiker angewiesen. Bis dahin war die routinierte, fast selbstverständliche Beherrschung des Körpers unverzichtbare Voraussetzung musikalischer Praxis. Im Mikrokosmos der Musik wiederholte sich insofern die umfassende Disziplinierung des Körpers, wie sie die Moderne bewirkt hat, auch wenn gegenüber den Zurichtungen, die der Arbeiter in der Maschinenwelt der Fabrik erfahren hat, die musikalische geradezu harmlos erscheinen mag. Inspiriert von Performance oder Happening machten in den 1960er Jahren Komponisten den Körper des Interpreten und seine musikalische Disziplinierung zum Thema ihrer Musik. Einfache, fast elementare Formen von Handlung und Aktion dienten dazu, Macht- und Unterwerfungsverhältnisse zwischen Komponisten, Musikern und Zuhörern abzubilden. In Kagels Konzept des Instrumentalen Theaters, in Schnebels Maulwerken (1968-74) oder Vinko Globokars Corporel (1984) erscheint der Körper als spezifisches Materialrepertoire, das ähnlich wie das traditionelle musikalische Material organisiert und entfaltet wird:9 Während Schnebel in den Maulwerken den Einsatz der Sprechwerkzeuge fast schon systematisch durchspielt, interpretiert Globokar den Körper immer wieder als Ort abweichenden Verhaltens, der sich den Praktiken und Spielkonventionen der klassischen Instrumentalpraxis, der reglementierten Atemtechnik, Körper- und Fingerhaltung widersetzt. Inzwischen entwickeln Ensembles, Interpreten und Regisseure diese Konzepte und Ideen weiter. Insbesondere in dem während Schnebels Lehrtätigkeit an der Berliner Universität der Künste entstandenen Ensemble der Maulwerker arbeiten Stimmperformer, Dirigenten und Regisseure gemeinsam an neuen Formen von Musiktheater. In jüngster Zeit verleiht das Konzept des Embodiment, das seit einiger Zeit in der Forschung zur Künstlichen Intelligenz, aber auch in der elektronischen Musik diskutiert wird, der Frage nach dem Körper neue Bedeutung. Mit der Einsicht in die Unmöglichkeit einer Trennung von Geist und Körper kommt es zwangsläufig zu einer nachhaltigen Aufwertung des Körpers. In der Musik hingegen eröffnen die neuen Möglichkeiten, Bewegungen im Raum mit musikalischen Parametern zu koordinieren, dem Komponieren bislang unbekannte Betätigungsfelder. So erhält auf

9 | In ihrer konsequenten Beschränkung auf einfache Mittel ähnelt die Performance der »Arte Povera«, einer Strömung in der bildenden Kunst, die mit der konsequenten Beschränkung auf einfache Materialien gegen den in den Künsten verbreiteten Technik- und Materialfetischismus Einspruch erhebt.

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diese Weise auch die alte Idee der musikalischen Geste ein neues Assoziationspotential.10

Die Ästhetik des Audiovisuellen Im Alltag ist die Interaktion von Hören und Sehen etwas völlig Selbstverständliches und weitgehend automatisiert. Derzeit kann man die rasante Auflösung der Einzelmedien beobachten, spezialisierte Medien wie Radio oder Telefon können sich nur noch als Ergänzung zu den aktuellen audiovisuellen Medien behaupten. Doch die vom Tonfilm und der Werbung bekannte Vernachlässigung der »Audio«-Dimension besteht auch in audiovisuellen Medien weiter fort. So liegen erst seit kurzem Untersuchungen vor, die sich nicht allein mit der Filmmusik, sondern mit dem Filmton insgesamt, also der auditiven Dimension des Films sowie mit dem spezifischen Verhältnis von Bild und Ton befassen.11 In diesem Zusammenhang ist es aufschlussreich, sich die Entwicklung im Verhältnis der Künste vor Augen zu führen. Ende des 18. Jahrhunderts kam mit Lessings Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie (1766) die Vorstellung auf, die Eigenlogik der einzelnen Künste sowie insbesondere die ihrer verschiedenen Materialien könne erst durch konsequente Trennung und Ausdifferenzierung der Künste zur Geltung kommen.12 Im 20. Jahrhundert hingegen dominiert die Idee einer integralen, alle Sinne umfassenden Erfahrung. Geradezu prototypisch präsentiert Duchamp in seinem Readymade »à bruit secret« (»mit geheimem Geräusch«) die Komplexität der Erfahrung: Wird das von einer Schnur umwickelte kleine Metallgestell geschüttelt, hört man ein Geräusch, das auf einen unbekannten Gegenstand im Inneren hinweist.13 1961 variierte der amerikanische Künstler Robert Morris mit der Box with the Sound of Its Own Making Duchamps Idee: Morris baute in eine kleine Holzkiste 10 | Vgl. im Schwerpunktheft Embodiment der Zeitschrift Positionen. Texte zur aktuellen Musik, Heft 83, 2010 u. a. Peters: »Embodiment – Elektroakustische Musik und Expressivität«, de la Motte-Haber: »Embodiment – Klanggeste – Biofeedback«, Eckel: »Vom Bewohnen der Musik« sowie Lang: »Transcribing the Body«. 11 | Vgl. Chion: L’Audio-Vision sowie Flückiger: Sound-Design . 12 | Im Zuge dieser »Ausdifferenzierung des Kunstsystems« (Luhmann) avancierte die reine Instrumentalmusik im 19. Jahrhundert zur höchsten musikalischen Gattung. Allerdings wird die ausschließliche Konzentration des Hörers auf die Musik genaugenommen erst mit den modernen Aufzeichnungstechniken möglich. 13 | Seiner eigenen Darstellung zufolge kannte auch Duchamp selbst diesen Gegenstand nicht; der Sammler Arensberg hat ihn ausgewählt und im Readymade plaziert. In einer Zeit, da es für einen gewöhnlichen Museumsbesucher – das Readymade befindet sich im Museum in Philadelphia – undenkbar ist, ein Ausstellungsobjekt zu berühren, geschweige denn es zu schütteln, wirkt dieses Readymade schließlich auch wie ein ironischer Kommentar zur heutigen Kunstsituation.

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ein Wiedergabegerät ein, zu hören ist ein etwa dreistündiger Mitschnitt mit den beim Bau der Kiste aufgenommenen Geräuschen. Beim Betrachten der Kiste wird so auch ihr Entstehungsprozess vergegenwärtigt: Das Werk wird um seinen auf Tonband dokumentierten Entstehungsprozeß erweitert. Der amerikanische Komponist Alvin Lucier hat eine Reihe von Kompositionen vorgelegt, die sich mit der Beziehung von Hören und Sehen befassen. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, wie Klänge sichtbar gemacht, visualisiert werden können. Während in der Konzertinstallation Queen of the South (1972) mit körnigen Materialien wie Sand oder Kaffeepulver die sogenannten Chladnischen Klangfiguren erzeugt werden, bringen bei Sound on Paper (1985) über Lautsprecher abgestrahlte Klänge Papierbögen unterschiedlicher Stärke und Qualität, die vor die Lautsprecher montiert sind, zum Vibrieren. Man sieht auf diesen wie Gemälde an der Wand hängenden Papieren keine Bilder, sondern allein die fast unmerkliche Schwingung, in die das Papier durch den Klang versetzt wird.14 Seit Mitte des 20. Jahrhunderts erweist sich auch die Partitur, das traditionelle musikalische Speichermedium, als Medium für ungewöhnliche Beziehungen von (Noten-)Bild und Klang. Als die neuen musikalischen Speichertechniken wie Schallplatte, Tonband und Computer populär wurden, verlor die Partitur nicht allein ihre Monopolstellung als Speichermedium, sie ist seitdem auch nicht mehr auf die Erfüllung dieser Funktion fixiert. Eine Reihe von Komponisten beginnt daraufhin, das spezifisch ästhetische Potential der Partitur zu erkunden. Am deutlichsten zeigt sich das veränderte Interesse an der Partitur in der Mehrdeutigkeit der Darstellung, mit der die neuen Partiturformen operieren. Musikalische Grafik, Verbalpartitur und musikalische Konzeptkunst lauten die Konzepte, in denen die Beziehung von Klang und (Noten-)Schrift oder (Noten-) Bild gestaltet wird. Mit den Spielräumen in dieser Beziehung verändert sich aber auch das Verhältnis von Komposition und Improvisation; der Improvisation werden vermehrt Aufgaben übertragen, die bis dahin der Komposition vorbehalten waren.15 In der Klangkunst existiert eine ganze Reihe von Konzepten, die sich der Beziehung von Hören und Sehen widmen. So lässt sich die Zeitkunst Musik, erweitert um die Dimension des Raums, mit visuellen Elementen kombinieren; wer sich in einer Installation aufhält, wird selbst zum Zeitgeber: Die Veränderungen, die aus seiner Bewegung im Raum resultieren, modifizieren stets die Wahrnehmung der Gesamtsituation, egal ob es darum geht, den Klang im Raum oder Beziehungen zwischen Klang, Raum, Bild oder Licht zu erleben. In jüngster Zeit entwirft Tilman Küntzel ungewöhnliche Varianten der Beziehung von Sehen und Hören. Im Treppenhaus eines Ministeriums in Hannover installierte er 2001 an zwei 14 | Zu Alvin Lucier liegt ein umfangreicher Band mit Partituren, Essays und Interviews des Komponisten vor, vgl. Lucier: Reflections/Reflexionen. 15 | Vgl. Spehr: Funktionale Klänge.

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Wänden einen Fries aus elektrischen Weihnachtssternen. Das Blinken der Sterne ist zufallsgesteuert – auf Knopfdruck leuchten alle Lichter gleichzeitig auf, um anschließend in unregelmäßigem Wechsel zu blinken. Küntzel hat an die Bimetalle, die das Blinken der Glühbirnen steuern, kleine Piezos angeschlossen und in Tischtennisballhälften montiert, die als Halbreliefs bis zu einer Höhe von zwei Metern unregelmäßig über die Wände verteilt sind. Wenn alle Sterne gleichzeitig aufleuchten, schrillen auch alle Piezos, Es entsteht ein unvorhersehbares Muster blinkender Sterne und klingender Piezos – der hörende Betrachter ist jedoch nicht in der Lage, diese Parallelbewegung von Klang und Licht zu erfassen.

Zweckentfremdung von Audiomedien Für eine Theorie auditiver Kultur sind die modernen Audiomedien vor allem insofern bedeutsam, als sie auch die Alltagskultur verändern. So entstehen zusammen mit den neuen Medien, einfach weil sie unsere Sinnesorgane nachahmen oder ersetzen, auch neue Vorstellungen über die Art und Weise, wie unsere Sinnesorgane funktionieren. Bisweilen führen ungewöhnliche Formen der Verwendung von Audiomedien dazu, dass schließlich die Medien selbst verändert werden. Solche ungewöhnlichen Verwendungsweisen gehören zum Wichtigsten, das die Künste im 20. Jahrhundert hervorgebracht haben. Entscheidend dafür war die Auseinandersetzung mit moderner Technik, letztlich nur eine neue Variante einer von jeher innigen Beziehung. Dabei ist die musikalische Aneignung von Audiomedien und -techniken nichts anderes als eine spezifische Form spielerischer Erkundung unserer Alltagskultur, bei der die gewöhnlichen Verwendungsformen gängiger Musikgeräte oder Audiotechnik ignoriert oder unterlaufen werden. Das Erproben neuer Möglichkeiten schärft jedoch auch das Bewusstsein für die eigentliche, traditionelle Funktionsweise von Geräten, Apparaten und Techniken. Im spielerischen Erproben und Erweitern vorhandener Möglichkeiten und Geräte kehrt die alte Idee von der Zweckfreiheit der Künste als Spiel mit der Funktionslosigkeit ihrer Objekte wieder. Die künstlerische Auseinandersetzung mit den neuen Audiomedien hatte für die Musik eine ähnliche Bedeutung wie für die Malerei die Auseinandersetzung mit der Fotografie.16 Die musikalische Auseinandersetzung mit Mikrophon und Tonband setzte allerdings erst Mitte des 20. Jahrhunderts ein, als man begann, Klänge und Musik synthetisch in elektronischen Studios zu generieren und damit der Instrumentalmusik Konkurrenz machte. Damals entwickelte John Cage Konzepte zur Zweckentfremdung von Audiomedien, um sich gegen die zunehmende Popularität der Schallplatte zur Wehr zu setzen, die seiner Vorstellung von Musik als einer Form lebendiger, unverwechselbarer Erfahrung zuwiderlief. Die Zweckentfremdung der Audiomedien verstand er als Gele16 | Vgl. dazu Segeberg/Schätzlein: Sound.

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genheit, ungewöhnliche musikalische Situationen herzustellen: Wird die Wahrnehmung von ihren Orientierungsaufgaben entbunden, kann es zu einer Intensivierung der Wahrnehmung kommen. Infolgedessen verändert sich nicht nur diese selbst, auch die Gegenstände der Wahrnehmung ändern ihren Charakter. Cage erfand für die Abspielgeräte neue Verwendungsweisen und verwandelte sie damit in Musikinstrumente. So werden in der Radio Music (1956) Frequenzen und Lautstärke mehrerer Radioapparate per Zufall eingestellt – in der entstehenden Klangcollage können die einzelnen Sender nicht mehr identifiziert werden, was sie senden, wird unverständlich. Eine Ästhetik der Zweckentfremdung vertritt seit den 1980er Jahren auch der japanische Fluxus-Künstler und Komponist Yasunao Tone.17 Er produziert mit beschädigten CD-Spielern eine Musik aus unbeabsichtigten Loops, Knacksern und Aussetzern. Cages wie Tones Verfahren zielen nicht allein darauf, die gewohnte Medienverwendung außer Kraft zu setzen, sie irritieren auf diese Weise auch die automatisierte Wahrnehmung. Damit folgen sie der von dem russischen Formalisten Viktor Šklovsky vertretenen Auffassung, derzufolge die Desautomatisierung unserer Wahrnehmung die eigentliche Aufgabe der Kunst darstellt.18 Verwendungsformen, die von der eigentlichen Funktionsweise eines Geräts abweichen oder ihr sogar zuwiderlaufen, verändern nicht nur die Beziehung zwischen dem Gerät und seinem Nutzer, auf lange Sicht können sie sogar die gängige Medienpraxis modifizieren. In der Musik gibt es dafür genügend Beispiele. So sind die ungewöhnlichen Verwendungsmöglichkeiten des Tonbandgeräts, die Steve Reich und Terry Riley in den frühen 1960er Jahren während ihres Studiums am Tape Music Center in San Francisco entdeckten, in der aktuellen populären Musik allgegenwärtig. Die beiden Komponisten interessierten sich damals besonders für die minimalen zeitlichen Verschiebungen zwischen parallel laufenden Tonbändern – besonders in Reichs frühen Tonbandstücken »Come out« und »It’s Gonna Rain« tritt der technifizierte Zugriff des Tonbands offen zutage. Die Popmusik hat sich dieses destruktive Potential ebenso lustvoll angeeignet wie die Loops und Delays und das Scratchen der Platten, und der wahre musikalische Performer spielt heute weder Klavier noch Synthesizer, sondern »turntables«, für die er seine eigene Plattensammlung mitbringt. Mit einer sehr ungewöhnlichen Form der Zweckentfremdung operiert der amerikanische Komponist und Medienkünstler Arnold Dreyblatt. Am Anfang stand die Publikation Who’s Who in Central and East Europe 1933 in der letzten Auflage von 1934, die er Mitte der 1980er Jahre zufällig in einem Antiquariat in Istanbul fand. Dreyblatt behandelte dieses Lexikon als Zeugnis einer Epoche, die nur wenig später untergehen und unwiederbringlich verloren sein sollte. Bereits 1991 wurde Dreyblatts Videooper 17 | Vgl. Zeller: »Medienkomposition nach Cage«. 18 | Daraus ist auch Brechts Theorie zum Verfremdungseffekt auf dem Theater hervorgegangen. Vgl. Šklovskij: »Die Kunst als Verfahren«, S. 3.

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Who‘s Who in Central and East Europe 1933 uraufgeführt, in den folgenden Jahren realisierte er in vielen europäischen Städten Leseprojekte, eine bis heute zugängliche Webseite mit einer Datenbank sowie ein neues Buch, in dem ungewöhnliche Lektüren des Originaltextes präsentiert werden. Auf diese Weise entstanden neue Versionen des alten Textes. Und bei den Leseprojekten beschränkte sich das Publikum nicht aufs Zuhören, an jeden und jede aus dem Publikum erging die Aufforderung, Teile des Textes laut vorzutragen. Die Zweckentfremdung des Who’s Who in Central and East Europe 1933 nutzt Dreyblatt immer wieder dafür, die Funktionsweise und innere Struktur moderner Speichermedien und digitaler, virtueller Archive zu demonstrieren.19 Seit den 1990er Jahren untersucht Peter Ablinger die Effekte der neuen Audiomedien aus einer völlig neuen Perspektive. Der österreichische Komponist interessiert sich besonders für Parallelen und Gemeinsamkeiten von Musik und Bildender Kunst. Dafür überträgt er das Konzept des Fotorealismus, der mit den Mitteln der Malerei Effekte der Fotografie erzeugt, auf die Konstellation von Instrumentalmusik und Tonbandmitschnitt, um eine Art Phonorealismus zu erzeugen. Eine im Grazer Elektronischen Studio entwickelte Software generiert aus Tonbandaufzeichnungen von Gesprächen oder einem Stadtspaziergang Partituren, die von einem Solo-Instrument oder einem Instrumentalensemble aufgeführt werden können. An der Werkreihe Voices und Piano arbeitet Ablinger seit 1998, inzwischen liegen 38 Stücke vor, u. a. mit den Stimmen von Guillaume Apollinaire, Bertolt Brecht, Hanna Schygulla und Gertrude Stein. In diesen Kompositionen erklingen technische wie instrumentale Abbildung des ursprünglichen akustischen Geschehens gleichzeitig. Dabei wird das Charakteristische der Instrumentalabbildung hörbar als Differenz zur technischen Reproduktion, die sie wie ein verzerrter Schatten begleitet – dieser Schatten wirkt auch deshalb so gespenstisch, weil man nicht nur die gesprochenen Texte hört, sondern nach einiger Zeit anfängt, sogar den Klavierpart als Sprache zu hören. Alle diese unterschiedlichen Konzepte und Modelle bewirken mit der Zweckentfremdung der Audiomedien nicht allein, dass wir die Funktionsweise der Audiomedien neu bedenken und überprüfen, sie bringen uns auch dazu, uns selbst beim Wahrnehmen, insbesondere beim Hören zu beobachten. Insofern stellen sie Konkurrenzmodelle zu Theorieansätzen dar, wie sie von Walter Benjamin, Marshall McLuhan oder, erst in jüngster Zeit, Jonathan Sterne entwickelt worden sind. Doch während diese Theoretiker danach fragen, wie die Medien unsere Erfahrung, ja, unsere Wirklichkeit verändern, haben Klangkünstler und Komponisten Strategien und Modelle entworfen, um die Medien selbst zu verändern.20 19 | Vgl. Faktor: »Papier taut auf« sowie Fechner-Smarsly: »Katastrophe, Gedächtnis, Archiv«. 20 | Vgl. Benjamin: Medientheoretische Schriften, McLuhan: Die magischen Kanäle, Sterne: The Audible Past.

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E XKURS : A NTIFIK TIVE TENDENZEN – Z UM AK TUELLEN V ERHÄLTNIS VON K UNST UND W ISSENSCHAF T Bei den vier Themenfeldern, die ich hier exemplarisch vorgestellt habe, um das Theoriekonzept der auditiven Kultur anschaulich zu machen, spielten künstlerische Ideen und Konzepte eine zentrale Rolle. Immer wieder waren es Klangkünstler oder Komponisten, die die jeweilige Thematik reflektiert und wegweisend weiterentwickelt haben. Die exponierte Stellung der Künste in diesem Kontext ist kein Zufall, im Gegenteil, die Annäherung der Künste an Strategien und Haltungen von Theorie und Wissenschaft, lässt sich über einen längeren Zeitraum zurückverfolgen. Um die Bedeutung dieser Entwicklung für eine Theorie auditiver Kultur deutlich zu machen, möchte ich die Veränderungen herausarbeiten, die sich im 20. Jahrhundert im Selbstverständnis der Künste vollzogen haben und für die Annäherung der Künste an wissenschaftliche Strategien verantwortlich sind. Der Philosoph Odo Marquard sieht die eigentliche Ursache für die Annäherung der Künste an Haltungen und Strategien der Forschung in der zunehmenden Fiktionalisierung der modernen Wirklichkeit. Diese Fiktionalisierung ist Marquard zufolge ein Effekt der Säkularisierung, die dazu geführt hat, dass Vorstellungen, die früher mit dem Jenseits, dem Paradies oder dem Jüngsten Gericht verbunden oder als Alternative zur bestehenden Wirklichkeit und Utopie einer kommenden befreiten Gesellschaft betrachtet wurden, zunehmend als Moment der bestehenden Wirklichkeit gelten. So operieren wir heute ganz selbstverständlich mit Entwürfen einer anderen, besseren Welt, mit fiktiven Zukunftsszenarien zur Berechnung von gesamtgesellschaftlichen oder wirtschaftlichen Entwicklungsmodellen. An dieser Situation hat die technische und mediale Entwicklung großen Anteil. Hingegen verlieren die Künste dadurch fast zwangsläufig ihre alte Bedeutung als Ort des Scheins und der Fiktion. Es ist nur konsequent, wenn immer mehr Künstler die Bedeutung des Fiktiven in Frage stellen und die Erforschung der Wirklichkeit zu ihrem neuen Programm erklären.21 Die Annäherung an wissenschaftliche Forschungshaltungen ist keineswegs ein neues Phänomen, sie findet sich vielmehr bereits am Beginn der Moderne, in der Renaissance. Für die Künstler dieser Epoche stellte die innige Verbindung von künstlerischer und wissenschaftlicher Praxis etwas ganz Selbstverständliches dar – Leonardo da Vinci ist das bis heute bekannte Beispiel für diese Haltung. Im 20. Jahrhundert erfolgte die erneute Annäherung an Haltungen und Strategien des Forschens zunächst fast unmerklich, am Beginn stand die Distanzierung von der gewohnten gesellschaftlichen Rolle der Künste, die sich zunächst in einer zunehmenden Empfindlichkeit, ja, Aversion gegen die Instrumentalisierung der Künste als Sinnlieferanten einer Gesellschaft 21 | Vgl. Marquard: »Kunst als Antifiktion«.

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bemerkbar machte, deren destruktiven Tendenzen im ersten Weltkrieg brutal zu Tage getreten waren. Mit den Futuristen und Dadaisten setzt in den Künsten die Phase einer radikalen Kritik an der gesellschaftlichen Rolle der Künste ein. Die dadaistischen Aktivitäten waren Attacken gegen den bürgerlichen Kunstbetrieb, ihre Kritik richtete sich gegen das bürgerliche Publikum, die klassischen Kunstinstitutionen wie Museum und Konzertsaal und gegen das gängige Künstlerbild. Auch Marcel Duchamp, der heute als einer der wichtigsten Künstler des 20. Jahrhunderts gilt, stand den Dadaisten nahe, wegen seiner Vorbehalte gegen die bürgerliche Kunst trat er viele Jahre nicht als Künstler in Erscheinung. Bereits 1913 hatte er das Malen aufgegeben und arbeitete seitdem nur noch mit Readymades, für die er Industrieprodukte und Alltagsfundstücke verwendete. Im Surrealismus hingegen stand die Idee der gesellschaftlichen Veränderung im Mittelpunkt. Doch anders als die Kommunisten, wollte André Breton, Begründer und führender Kopf der Surrealisten, dafür den Alltag selbst revolutionieren. Die angestrebten Bündnisse mit den Kommunisten scheiterten immer wieder daran, dass diese die Künstler nur als unerwünschte Konkurrenz betrachteten.22 Die Kritik der Künstler an der gesellschaftlichen Rolle der Kultur fasste Herbert Marcuse 1937 in der These vom »affirmativen Charakter der Kultur« zusammen. In Werken wie Der eindimensionale Mensch oder Repressive Toleranz, die der US-amerikanischen Studentenbewegung entscheidende Impulse lieferten, hat Marcuse diese These weiter vertieft.23 Im Unterschied zu diesem grundsätzlichen Vorbehalt gegenüber Kunst und Kultur vertreten die Kunstbewegungen der 1950er und 1960er Jahre in ihrer Haltung zur Frage der gesellschaftlichen Rolle der Kunst gegensätzliche Haltungen. So standen die Internationalen Situationisten der Kunst äußerst kritisch gegenüber, Künstler wie Asger Jorn und Künstlergruppierungen wie die Münchener Gruppe SPUR, die an ihren rein künstlerischen Aktivitäten festhielten, wurden deshalb mit aller Konsequenz ausgeschlossen. Hingegen versuchten andere neoavantgardistische Strömungen wie Fluxus, Happening und Performance, die Kunst als Möglichkeitsraum für neue soziale und gesellschaftliche Entwicklungen zu nutzen.24 Insbesondere die Prozessualisierung der bildenden Kunst stellte nicht allein die alte Ordnung der Raum- und Zeitkünste in Frage, sondern näherte die Künste auch der komplexen Erfahrungssituation des Alltags an. Ausgehend von den verschiedenen Rollen, die bei einer Performance Künstler und Publikum – und in der Musik Interpret, Komponist 22 | Zwar haben sich Künstler aller Epochen in Konflikt mit den herrschenden Verhältnissen, mit den Herrschenden sowie nicht selten auch mit dem gerne so unpolitischen Bürgertum befunden. Doch erst die historischen Avantgardebewegungen machen daraus einen programmatischen Konflikt, der über das Schicksal des einzelnen Künstlers hinausweist. 23 | Vgl. Marcuse: »Über den affirmativen Charakter der Kultur«. 24 | Vgl. dazu Ohrt: Phantom Avantgarde.

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und Publikum – übernehmen, untersuchen damals entstehende künstlerische Konzepte die Logik sozialer Interaktion. Im Rückblick wirken die Kunstkonzepte und -bewegungen der frühen 1960er Jahre deshalb wie Vorboten der Studentenrevolte mit ihren happeningartigen Aktionen, Demonstrationen und Sit-ins.25 Nach der Phase gesellschaftlichen Aufbruchs in den 1960er und 1970er Jahren verlor die Idee unmittelbarer sozialer und politischer Veränderung auch in den Künsten an Brisanz. Die Vermutung liegt nahe, dass das neue Interesse für bis dahin vernachlässigte Orte und Möglichkeiten auch auf die veränderte allgemeine gesellschaftliche Lage zurückgeführt werden könnte. Angesichts nachlassender Perspektiven für eine gesellschaftliche Veränderung beginnen die Künstler in den 1980er Jahren neben neuen sozialen Interaktionsmodellen auch die bestehenden realen Situationen und Orte gesellschaftlicher Interaktion zu untersuchen.26 Was den Bereich der auditiven Kultur angeht, so profitierten auch Wissenschaft und Theoriebildung von den Strategien, die Komponisten und Klangkünstlern seit den 1980er Jahren entwickeln, um die Aufmerksamkeit für Orte zu sensibilisieren, von denen die meisten, egal wie verkommen und zerstört, Zeugen oder Dokumente vergangener Industriekultur darstellen. Im Unterschied zu den Wissenschaften, die stets auf plausible Argumente, Methoden und Ergebnisse angewiesen sind, im Unterschied aber auch zur populären Kultur, für die allein der wirtschaftliche Ertrag von Belang ist, operieren die Künste in einem Modus, der sich durch die alte Idee der Zweckfreiheit des Ästhetischen charakterisieren ließe. Zugleich aber orientieren sie sich bei der Entwicklung ihrer Fragestellungen fast durchgängig an den spezifischen Bedingungen individueller Erfahrungssituationen. Zudem eröffnet die Entlastung von funktionalen und instrumentellen Zwängen einen Raum für die spielerische Erkundung von Objekten und Prozessen egal welcher Art. Ihre methodische Offenheit – weder historisch-hermeneutische noch naturwissenschaftlich-experimentelle Methoden dominieren – erlaubt die eigenständige Entwicklung neuer Themen und Fragestellungen.27 Zugleich bedeutet die Auseinandersetzung mit den modernen Medien und Techniken fast jedesmal eine weitreichende Reflexion der Erfahrungs- und Wahrnehmungsformen des Menschen. Auch die populäre Kultur profitiert davon, wie Künstler die 25 | Vgl. Sanio: 1968 und die Avantgarde. 26 | Vgl. Babias/Könneke: Die Kunst des Öffentlichen sowie Büttner: Art goes Public. 27 | Man kann die Erforschung der Wirklichkeit auch nur als Akzentverschiebung im Selbstverständnis der Künste verstehen – auch für die Produktion von Fiktionen und von fiktiven Gebilden, die oft genug als eigentliche Aufgabe der Künste gilt, müssen die zur Herstellung dieser Gebilde benötigten Materialien und Methoden gründlich erforscht werden. Wenn man die Geschichte der Künste auch als Geschichte der Erkundung ihrer Voraussetzungen begreift, dann kommt es fast zwangsläufig zur Erforschung der empirischen Realität.

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moderne Medienwelt erkunden oder mit Audiotechniken experimentieren – oft genug finden von Künstlern entwickelte Ideen Eingang in die Pop- und Alltagskultur. Das Spiel mit den technischen Voraussetzungen des Musikmachens ist dafür nur ein Beispiel unter vielen. Bislang ist die Annäherung der Künste an die Wissenschaften ein mehr oder weniger einseitiges Phänomen. In der Wissenschaft wird allenfalls in der historischen Betrachtung die Veränderung im Selbstverständnis der Künste zur Kenntnis genommen. Doch in näherer Zukunft könnte sich auch für die aktuelle Theoriebildung die Frage stellen, ob und wenn ja wie sich solche künstlerischen Konzepte auch wissenschaftlich produktiv machen lassen.

R ESÜMEE Ich habe bei meiner Darstellung verschiedener Aspekte der auditiven Kultur immer wieder Ideen und Strategien von Komponisten und Klangkünstlern herangezogen. Diese Ideen gehören zu den Etappen einer Entwicklung, die schließlich die Idee einer auditiven Kultur hervorgebracht hat. Viele der künstlerischen Konzepte sind, gerade wegen ihrer ausgeprägten Nähe zu wissenschaftlichen Strategien, auch als Modelle oder Prototypen für die Theoriebildung von Interesse. Eine Theorie auditiver Kultur, die sich vornimmt, die grundlegenden Aspekte und wichtigsten Charakteristiken dieser Kultur ebenso zu beschreiben wie ihre Geschichte und ihre spezifische Entwicklungslogik, findet in diesen Konzepten immer neues Anschauungsmaterial, um die unterschiedlichen Perspektiven zu beschreiben, aus denen wir den auditiven Erfahrungsraum erleben können. Im vorliegenden Beitrag wurden einige Perspektiven, die für den auditiven Erfahrungsraum heute relevant sind, etwas ausführlicher vorgestellt. Da ist einmal die Perspektive, die sich aus der Frage nach den auditiven Phänomenen selbst ergibt. Sie hat gewissermaßen die objektive Dimension der empirischen Wirklichkeit zum Thema. Pointiert gesagt könnte man die Stadt als den Ort bezeichnen, an dem sich klangliche Phänomene mit Nachdruck aufdrängen und sei es einfach deshalb, weil sie stören: Spätestens seit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert gehört der Lärm zu den größten und bis heute ungelösten Problemen urbanen Lebens. Doch wie gezeigt entstand schließlich auch die Idee, eine Stadt oder eine Region als spezifische Klanglandschaft zu beschreiben. Grundsätzlich finden sich in einer Stadt neben unspezifischen Geräuschen, einem Lärm, der heute längst nicht mehr allein die westliche Welt prägt, stets auch eine Reihe charakteristischer Klangsituationen. Doch jedes dieser Klangbilder bleibt stets auf einen bestimmten Platz, eine Straße oder einen urbanen Bereich – einen Bahnhof, einen Hafen – begrenzt. Die Klanglandschaft einer Stadt setzt sich deshalb immer aus einer Vielzahl solcher Klangbilder zusammen.

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Diese Dimension der auditiven Phänomene verlangt nach einer Ergänzung durch die Perspektive der Wahrnehmung, also des Hörens selbst. Beim zweiten Thema ging es deshalb um die spezifische Erfahrung, die das Hören ermöglicht. Es ist die Perspektive des einzelnen, die deshalb weil sie subjektiv ist, noch lange nicht beliebig sein muss. Inzwischen existieren unterschiedlichste Ansätze, die die charakteristischen Qualitäten dieser Perspektive beschreiben. Das Hören erweist sich dabei als eine spezifische Verhaltensweise, mit der bestimmte Erfahrungen möglich werden. Doch inzwischen gewinnt die Frage der Gestaltung auditiver Phänomene zusehends an Bedeutung – sei es im Produktdesign, heute besonders bei der Gestaltung der auditiven Dimension von Elektroautos, sei es in Stadtplanung und auditiver Architektur. Um sich die grundlegenden Kriterien dieser Gestaltung zu erarbeiten, ist es unverzichtbar, die Seite des Hörers einzubeziehen. In den Kontext dieser Thematik gehört auch die Interaktion des Ohres mit dem Auge, die ich hier als viertes Thema vorgestellt habe, um die Vielfalt der Themen anzudeuten, die mit der Perspektive des Hörens verbunden sind. Außerdem steht die Beziehung von Hören und Sehen hier exemplarisch für die Interaktion des Hörens mit den anderen Sinnen sowie mit der Leiblichkeit und den Intentionen des Hörers. Die dritte Thematik ergibt sich unmittelbar aus den Erfahrungen mit den technischen und medialen Errungenschaften des 20. Jahrhunderts. Schon im 19. Jahrhundert hatte sich in Folge von Industrialisierung und Urbanisierung die Wirklichkeit selbst radikal verändert. Doch die neuen Kommunikations-, Speicher- und Massenmedien, die im 20. Jahrhundert entstehen, hatten noch weitreichendere Folgen, sie haben nämlich nicht allein die Wirklichkeit selbst verändert, sondern auch die Art und Weise, wie wir diese wahrnehmen. Die Auseinandersetzung mit den Effekten, die die Audio- und audiovisuellen Medien in der Sphäre der auditiven Phänomene selbst wie in der des Hörens und der Erfahrung hervorgebracht haben, ist für eine Theorie auditiver Kultur auch deshalb unverzichtbar, weil sich in diesen Phänomenen die unterschiedlichen Entwicklungs- und Transformationsprozesse der auditiven Kultur zeigen, so dass sie gewissermaßen als historisches Phänomen erfahrbar wird. Ich habe versucht, mit diesen Themen zentrale Fragestellungen einer Theorie auditiver Kultur zu skizzieren. Wenn dieses Theoriekonzept dennoch in vielerlei Hinsicht fragmentarisch bleibt, dann könnte man sich versucht fühlen, die spezifische Bedeutung des Hörens für die menschliche Wahrnehmung dafür verantwortlich zu machen. Die heute gerne kritisierte Dominanz des Auges in unserer Kultur zeigt sich ja auch darin, dass die über das Ohr vermittelten Informationen meist dazu dienen, die vom Auge erstellte Beurteilung einer Situation zu ergänzen und abzusichern. Insofern könnte man zu dem Schluss kommen, dass auch eine Theorie auditiver Kultur fast zwangsläufig fragmentarischen Charakter haben müsse. Umgekehrt ist aber gerade in der Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Kontexten und Konstellationen, in denen sich au-

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ditive Phänomene zeigen, die spezifische Qualität einer Theorie auditiver Kultur zu sehen. Aus diesem Selbstverständnis erklärt sich auch die große Vielfalt der für eine Theorie auditiver Kultur relevanten Themen und Fragestellungen. Hingegen ist es die Erfahrung des einzelnen, also eine letztlich phänomenologische Perspektive, die als übergreifende Fragestellung wirkt und die Vielfalt vor der Beliebigkeit bewahrt.

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II Fallbeispiele: Auditive Medienkulturen in Geschichte und Gegenwart

Von der Konstruktion der Stille zur Konstruktion der Intimität Die Szenografie des House of the Future als Wohnlaboratorium in einer stillgelegten Welt Sabine von Fischer

Wohnen findet in Nachbarschaften statt – oder auch nicht. Die Bauakustik, die Materialtechnik und die Industrie haben im 20. Jahrhundert neue Techniken der Schallisolation eingeführt, die Stille versprechen. Zur gleichen Zeit wurde in den wissenschaftlichen Laboratorien die Idee des schalltoten Raums in den Horizont der Machbarkeit gerückt: Erst durch Schichten aus Filz, Watte und Baumwolle, später durch Keilkonstruktionen aus Glas- und Asbestfasern konnte (fast) alles Hörbare gedämmt werden. Für eine Kulturgeschichte der medialen Klänge ist die Idee eines akustisch nicht vorhandenen Raums relevant: Der physische Raum hat keine materielle Präsenz, sondern ist vielmehr ein Gefäß für eine beliebige Ausstattung. In einer schallisolierten Wohnung verschwinden nicht nur die Nachbarn. Der von äußeren Reizen befreite Innenraum wird zum Spielfeld für eine Bespielung mit elektrotechnischen Medien. Es ist die These dieses Aufsatzes, dass die wissenschaftliche Praxis kontrollier- und steuerbarer Lautsphären in physikalischen Laboratorien als kulturelle Praxis auch in den Entwurf von Wohn- und Innenräumen übernommen wurde. Die Technik der Isolation und die Technik der Übertragung, beide in akustischen Laboratorien entwickelt, stellten die Architektur im 20. Jahrhundert auf neue Grundlagen.  Messbare und kontrollierte Akustik gehörten nicht nur zu den technischen Möglichkeiten im Studiobau für Tontechnik und Radio, sondern flossen ebenso in die Architektur des Wohnens und Arbeitens ein. Diese Möglichkeiten eines frei wählbaren Wohnambientes waren zum Beispiel im März 1956 Teil des Narrativs einer Ausstellungsarchitektur in der Daily Mail Ideal Home Exhibition in London.

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D ER E NT WURF VON A LISON UND P E TER S MITHSON , 1955/56 Ein architektonisches Beispiel für eine von der Außenwelt abgekoppelte Wohnung mit einer kontrollierten Atmosphäre des Innenraums ist das House of the Future, das Alison und Peter Smithson1 im Jahr 1955 für die Daily Mail Ideal Home Exhibition in London entwarfen (Abb. 1 und 2). Dort wurde das Musterhaus im März 1956 für 25 Tage aufgebaut, später noch einmal im Herbst des gleichen Jahres in Edinburgh. Innerhalb dieser seit 1908 veranstalteten Wohnmesse der Zeitung Daily Mail war das von den britischen Architekten entworfene futuristische Wohnszenario des House of the Future das erste der Ausblicke in eine mögliche Zukunft, wie sie in späteren Jahren wiederholt wurden. Das Projekt unterscheidet sich von den realisierten Bauten des berühmten Architektenpaares insofern, als es kein architektonisches Werk, sondern ein lebensgroßes, szenografisches Modell war.

Abb. 1: Modell des House of the Future für die Ideal Home Exhibition.

1 | Alison Smithson (1928–1993) und Peter Smithson (1923–2003) gründeten 1949 in South Kensington ihr gemeinsames Architekturbüro, nachdem sie den Wettbewerb für eine Schule in Huntstanton, Norfolk, gewonnen hatten.

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Abb. 2: Plan des House of the Future von Alison und Peter Smithson, Zeichnung vom 20. Dezember 1955.

Abb. 3: Aussenansicht mit Hauseingang (Mitte) und Einund Ausgängen für den Besucherrundgang (links). Die dem Haus vorangegangene städtebauliche Vision war die einer verdichteten Struktur aus gereihten, eingeschossigen Häusern, die sich nur zur Zufahrtsstrasse mit der elektronisch gesteuerten, amöbenförmigen Eingangstür öffneten (Abb. 3). Belichtung und Belüftung geschahen über einen innen liegenden Hof. In der Ausstellung ermöglichte diese architektonische Disposition einen spektakulären Parcours: Die Besucher der Wohnausstellung betraten eine geschlossene Box, in der sie auf zwei Ebenen um das vollständig nach innen gerichtete Wohnhaus gehen konnten. Nach außen war die Sicht durch den Ausstellungskubus verschlossen, nach innen aber gab es große Öffnungen, wie auch Einblicke durch das offene Dach. Die Rückseiten der Schränke waren verglast und wurden so zu Schaukästen für die Objekte des fiktiven Bewohnerpaars Anne und

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Peter. Die Blickrichtung der Besucher wiederholte die räumliche Ausrichtung des Hauses nach innen: Die Zuschauerplattform berührte das Haus aber nicht,2 sie legte vielmehr eine weitere Schutzschicht darum. Das Szenario des Hauses projizierte Alison Smithson, die für den Entwurf und die Pläne der Innenräume verantwortlich zeichnete, in eine 25 Jahre entfernte Zukunft, also für 1981. Nach außen komplett abgeschottet, war das Haus räumlich introvertiert, gleichzeitig aber durch Kommunikationstechnologie mit der Außenwelt vernetzt. Die kinderlosen Modellbewohner Anne und Peter interagierten mit der Außenwelt einzig über audio-visuelle Schnittstellen, die über Mikrofone, Lautsprecher und elektrische Leitungen Informationen ins Innere des Hauses brachten. An der Außenwand war auf der linken Seite der an einen Höhleneingang erinnernden, amorph geformten und elektronisch angesteuerten Eingangstür über dem Briefkasten eine Gegensprechanlage, ein Produkt der Sturdy Telephones Ltd.3 in die Wand eingebaut. Hinter der Garderobe im Entrée befand sich das erste »control panel« (Abb. 3), das in der Zeichnung für die mittlere Ebene des Hauses vom 20. Dezember 1955 folgendermaßen beschriftet ist (Abb. 4): control panel 1: telephone dimmers to living rm (to work) […] T.V. control (to simulate working) […] door broadcast receiver unit. (to work when desired) [etc.] 4

Die wiederholte Verwendung des Wortes »control« in der Beschriftung dieses Plans charakterisiert die Utopie dieses Hauses, das gleichzeitig eine unheimliche Vision ist, in bezeichnender Weise: Allein in der Konsole für das Telefon, dem Control Panel 1, erscheint es sechs Mal, in den weiteren Konsolen noch drei Mal im Zusammenhang mit der Eingangstüre, zwei Mal für das Badezimmer und je einmal für Schlafraum und Küche. Licht, Ton und Möbelpositionen sollten aus Distanz angesteuert werden. Was wirklich kontrolliert wurde, bleibt allerdings vage: Einige der Schalter funktionierten, vor allem jene für das Licht, andere waren Simulationen. Die Lautsprecher innerhalb des Hauses waren alle Simulationen. Ihre Funktion war einzig, als Attrappen anzukündigen, dass die Umgebung eines Wohnhauses in 25 Jahren vollständig vernetzt und steuerbar sein könnte. 2 | »Structure detached from wall of house« (Schnitt)/»platform must be detached from house walls« (Plan), so die Annotationen auf der Zeichnung 5525 für das House of the Future (CCA Archives DR1995:0033). 3 | Banham: »Things to come?«, S. 55 (Herstellerverzeichnis). 4 | Annotationen auf der Zeichnung 5509 für das House of the Future (Collection Centre Canadien d‘Architecture/Canadian Centre for Architecture, Montréal: DR1995:0018).

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Abb. 4: Detail der Kommunikationsanlage, Zeichnung vom 20. Dezember 1955. Im House of the Future war die Trennung zwischen gebrauchsfertiger Handelsware und fiktiver Erfindung mit Absicht nicht eindeutig. Hier gab es Kochgeräte der Zukunft, wie ein Schnellofen mit hochfrequenten Wellen, Titaniumpfannen mit eingebauten Heizelementen oder Esswaren, die dank Gammabestrahlung ohne Kühlung aufbewahrt würden. Der Kritiker Reyner Banham stellte dem futuristischen Charakter der Inszenierung in seiner Rezension entgegen, dass die Zukunft uns nicht nur bald einholen würde, sondern bereits begonnen habe: Die ausgestellten Backöfen seien in Nordamerika bereits Standardware.5 Das im zentralen Control Panel platzierte und beworbene Tella-Loud Loudspeaking Telephone war ein Produkt der Winston Electronics Ltd6 und – wie auch die Gegensprechanlage und das elektrostatische Staubsammelgerät – eine Vorgabe der Sponsoren.7 Im Tella-Loud Loudspeaking Telephone war ein Lautsprecher eingebaut, der mit Lautsprecherattrappen im restlichen Haus noch überhöht wurde. Das Telefon war ein auf dem Markt erhältliches Produkt; die futuristische Komponente des Telefons war einzig seine Anrufbeantworterfunktion: Sie war für die britischen Konsumenten von 1956 noch Zukunftsmusik. Utopisch war ein Anrufbeantworter im Jahr 1956 allerdings nicht mehr: In England waren bereits Geräte erhältlich, die automatische Antworten abspielten. Die Einführung von angekoppelten Geräten zur Nachrichtenaufzeichnung, deren Erfindung auf das Jahr 1900 datiert wird, verzögerte sich vor allem durch langwierige Zulassungsverfahren der Telefongesellschaften. Dies geschah nicht zuletzt in Folge von Diskussionen um die Privatsphäre. Die Technik des Mitschneidens von Gesprächen und Nachrichten hatte vor allem in der Spionagetechnik Verwendung gefunden und wurde für private Haus5 | Banham: »Things to come?«, S. 27. 6 | Ebd., S. 55 (Herstellerverzeichnis). 7 | Van der Heuvel/Risselada: »House of the Future«.

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halte bis in die 1960er Jahre hinein von weiten Kreisen als unpassend empfunden. In den USA waren Anrufbeantworter bereits ab 1949 erlaubt, sie wurden aber vorerst nur wenig benutzt.8 Das Tella-Loud Loudspeaking Telephone im House of the Future, zwischen Eingangsraum und Wohnzimmer an die Wand montiert, war von überall her sichtbar und erreichbar. Als Teil des Control Panel 1 strahlte es über mehrere im Haus verteilte Lautsprecher in den gesamten Innenraum aus und war ein zentraler Teil der medialen Infrastruktur des Hauses, wie Walter Benjamin die Vergangenheit der Telefonapparate 1938 beschrieben hatte: »den dunklen Korridor im Rücken lassend, [hielt] der Apparat den königlichen Einzug in die gelichteten und helleren, nun von einem jüngeren Geschlecht bewohnten Räume«.9 Die imaginierten medialen Installationen und Zukunftstechnologien des House of the Future kombinierten die Utopie des automatisierten und vernetzten Haushalts mit der Dystopie totaler Überwachung und Künstlichkeit. Der Ausdruck von Geborgenheit innerhalb des Hauses mit seiner uteralen Form, in dem Liegemöbel und Lautsprecher die Bewohner mit bestmöglichem Komfort bedienen, erinnert an McLuhans Ur-Raum: Im guten Glauben an eine Befreiung durch die Technisierung des Haushalts strömt die Information durch das Haus. Die Vision, dass die Modellbewohner des House of the Future dank ihres Beantworters nicht mehr zum Telefon eilen müssen, sondern Anrufe und aufgezeichnete Nachrichten im ganzen Haus über Lautsprecher mithören könnten, löst den privaten Raum der Hörermuschel des Telefons auf. Der totalen Übertragung der Telefongespräche über Lautsprecher im ganzen Haus stand die sorgfältige Schallisolation des Hauses gegenüber: Die Trennwände zu den dreiseitig angebauten Nachbarhäusern wurden in der Vorschau als »schalldicht« angepriesen.10 Isolierte Bauweisen, wie sie in extremer Form in den akustischen Laboratorien entwickelt wurden, werden zur Vision für den Alltag, in dem es keine Außenwelt mehr gibt. Im Innern garantieren Trennfugen zwischen den einzelnen Elementen des Hauses, dass auch innerhalb der Wohnräume durch die eigenen Aktivitäten des Bewohnerpaars Anne und Peter nicht zuviel Lärm aufkam, wie in der Vorschau auf die Wohnausstellung weiter beschrieben war.

I SOL ATION Schalldämmungen, reflexionsarme Oberflächen und Beschallungstechnik veränderten im Laufe des 20. Jahrhunderts die akustischen Eigenschaften und damit auch den Höreindruck von Innenräumen wesentlich: Entkoppelt von der äußeren Umwelt wurden Lautsphären möglich, in 8 | Morton: »Recording History«; Morton: Sound Recording, S. 127. 9 | Benjamin: »Das Telefon«, S.18. 10 | O. V.: »Forward to Back-to-Back Housing«, S. 236.

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deren isolierter Umgebung sich die Grenzen zwischen persönlicher Empfindung und technischer Steuerung auflösten. Die Raumakustik ist, gemessen an anderen Disziplinen, eine junge Wissenschaft. Generell wird ihre Einführung mit 1895 oder 1900 datiert, als Wallace C. Sabine den Nachhall als akustischen Parameter entdeckte.11 Damit wurde eine maßgebliche Charakteristik der auditiven Raumerfahrung messbar gemacht. Das Laboratorium, welches Sabine im Keller der Harvard University einrichtete, ist das früheste und wohl bekannteste Beispiel eines akustischen Laboratoriums. Mit einer Installation aus einem Chronographen, einer Batterie und einer Luftpumpe, auf die er ein Ventil und eine Orgelpfeife montierte, maß er die Abnahme der Schallenergie unter verschiedenen Bedingungen und entdeckte, dass poröse und weiche Oberflächen mehr Schallenergie absorbierten als nackte Wände. Das heute als »äquivalente Absorptionsfläche« bezeichnete Maß notierte Sabine als »open-window unit«, weil der Schall dort, wo er absorbiert wurde, wie durch ein offenes Fenster verschwand.12 Sabine erkannte ebenfalls, dass seine eigene Kleidung die Schallenergie dämpfte. In Wien bestätigte der Physiker Gustav Jäger diese Beobachtung, wobei er auf Sabines Publikation Bezug nahm.13 Dass die körperliche Anwesenheit der forschenden Physiker in den frühen Laboratorien Einfluss auf die akustische Messung nahm, konfrontierte diese mit der Schwierigkeit, wissenschaftliche Objektivität zu erreichen: Einerseits war ihre Präsenz im Messraum für die Experimente notwendig, gleichzeitig beeinflusste sie das Resultat. Sowohl von Wallace C. Sabine als auch später vom Bauphysiker Vivian L. Chrisler (der ab den 1920er Jahren am National Bureau of Standards in Washington D.C. akustische Messungen durchführte), ist überliefert, dass sie sich in eine Kiste setzten, aus der nur ihr Kopf herausragte, um den Einfluss ihres Körpers und ihrer Kleidung auf das Verhalten des Schalls zu minimieren. Im Laboratorium wurde das Modell des Raums als Schallkörper, dessen resonante Eigenschaften getestet wurden, schon wenige Jahrzehnte nach Sabines ersten raumakustischen Versuchen mit dem Modell des gedämpften Raums ersetzt. Die akustischen Versuchsräume der Nachkriegszeit wurden reflexionsarm gebaut, damit darin elektroakustische Geräte getestet werden konnten. Nicht mehr der physische Raum sollte hörbar sein, sondern die übertragenen Signale aus Kopfhörern und Lautsprechern. Die technische Herausforderung dieser Ära war dann, mittels dieser Geräte dreidimensionale Sinneswahrnehmungen zu erzeugen.

11 | Thompson: The Soundscape of Modernity, S. 59-114. 12 | Sabine: »Architectural Acoustics II«, S. 22. 13 | Jäger: Zur Theorie des Nachhalls, S. 3.

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R ÄUME OHNE E IGENSCHAF TEN In den Innenräumen mit still gelegten Schallreflexionen wurde das  auditive Ambiente mittels technischer Installationen auswechselbar. In den akustischen Laboratorien der 1940er Jahre entstanden Räume »ohne Eigenschaften«: Diese Räume waren bestmöglich reflexionsarm, sogenannt »schalltot« ausgebildet, um die Resonanz des Raumes zu eliminieren. »Ohne Eigenschaften«, wie Robert Musil den Begriff in seinen Romanen von 1921 und 1930 prägte, steht hier auch für die Standardisierung, die vor Menschen wie vor Räumen nicht Halt machte. Im Zuge der allgemeinen Objektivierung wurde die Akustik mechanischen Modellen und zunehmend einer totalen Kontrolle unterworfen. Nicht mehr der Nachhall des Raumes war von Interesse, vielmehr sollten für Experimente der Signalund Nachrichtentechnik störungsfreie Umgebungen geschaffen werden. Nach dem Zweiten Weltkrieg verfügte fast jedes akustische Forschungsinstitut über einen solchen störungsfreien Raum. Auf der Suche nach einer totalen Messbarkeit der elektroakustischen Schallimpulse war der spezifische, physische Raum des Laboratoriums zum Störfaktor geworden, der ausgeschaltet werden sollte. Die akustischen Laboratorien mit Wänden aus Beton oder Backstein hatten ausgedient. Zunehmend wurde versucht, reflexionsarme Laboratorien zu bauen. Ein frühes Beispiel eines akustischen Versuchsraums, in dem die Schallreflexionen im hörbaren Bereich fast vollständig absorbiert wurden, ist 1936 als Teil der Bell Laboratories dokumentiert.14 Die Wände waren mit zehn Schichten Musselin- und sechs Schichten Flanellstoff ausgelegt, worin der Schall weitgehend gedämpft wurde. In den tiefen Frequenzbereichen (das heißt, bei größeren Wellenlängen) allerdings reichten diese Stoffschichten nicht aus, um die Schallenergie zu absorbieren. In der Folge wurden Wandkonstruktionen mit größerer Tiefe und mehr Absorbermasse entwickelt. 1940 publizierten Physiker des Instituts für Schwingungsforschung der Technischen Hochschule Berlin das erste Laboratorium mit Absorberkeilen von einem Meter Gesamthöhe an allen Raumoberflächen, ähnlich wie sie bis heute gebaut werden. Der Einbau der 32.000 mit Steinwolle gefüllten Pyramiden in einen Raum von 16 x 11 x 9 Metern beschäftigte elf Arbeiter während viereinhalb Monaten. Das Ziel war, dass die vervielfachte Oberfläche und ihre absorbierende Hinterlegung möglichst jede Reflexion im Raum schluckten.

14 | Bedell: »Some Data on a Room Designed for Free Field Measurements«.

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Abb. 5: Anechoisches Laboratorium der Harvard University, 1943.

Abb. 6: Leo L. Beraneks Definition des Worts »anechoisch«, 1945.

Abb. 7: Anechoisches Laboratorium der Chalmers University, ca. 1974.

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Der amerikanische Akustiker Leo L. Beranek bezeichnete diese Keile in einem Report von 1945 als »Stalagmiten« und »Stalaktiten«.15 Unter seiner Leitung wurde 1943 innerhalb eines Programms des U.S.-amerikanischen National Defense Research Committee des Office of Scientific Research and Development ein noch größeres akustisches Laboratorium gebaut. Es war Teil des Cruft Laboratory an der Harvard University (Abb. 5). 1945 prägte Beranek das Wort »anechoisch«, das die Brücke vom griechischen »Echo« zur Elektroakustik schlägt (Abb. 6).16 Die Wände des 15 x 11 x 11 Meter großen, elektroakustischen Laboratoriums (EAL) der Harvard University, in dem vor allem Lautsprecher getestet wurden, waren mit fast eineinhalb Meter tiefen Keilen gefüllt, die auf Korkzement und Fiberglasplatten montiert waren und kaum Nachhall im hörbaren Bereich zuließen.17 Die Versuchsanordnung erwies sich als so nützlich für elektroakustische Tests, dass weltweit Laboratorien mit derselben oder mit ähnlichen Konstruktionen gebaut wurden (Abb. 7).

D IE W AHRNEHMUNG DRINGT INS L ABOR ATORIUM EIN Die bisher nie dagewesene Qualität von Innenräumen ganz ohne Nachhall, wie sie in reflexionsarmen Laboratorien existierte, lieferte auch außerhalb der technisch-physikalischen Disziplin neue Impulse. Ein berühmtes Musikstück aus diesem Kontext ist die Komposition 4’ 33” von John Cage aus dem Jahr 1952, die dieser explizit auf sein Erlebnis des Besuchs im anechoischen Raum der Harvard University zurückführt. Cage transponierte die Erfahrung der Abwesenheit der Töne in die Konzertsituation:: Während des vier Minuten und dreiunddreißig Sekunden dauernden Stücks öffnet der Pianist die Abdeckung der Klaviertastatur, wartet und schließt sie dann wieder. Das Publikum, in seiner Erwartungshaltung aufs Höchste aufmerksam, kommt während dieser Zeit, in der es Klaviermusik erhofft, nicht darum herum, für die Geräusche der Umgebung hellhörig zu werden. Die zufälligen Geräusche des Publikums wurden zum Inhalt der Komposition. Dies geschah alles in einer Zeit, in der nicht nur in den Naturwissenschaften, sondern auch in der Kunst – in Auflehnung gegen die sich verbreitende Konsumfreude einer konservativ geprägten Gesellschaft – die Begriffe neu geprägt wurden. Geschrieben hatte John Cage das Stück 4’ 33” im Sommer 1952 am Black Mountain College. Die Entstehungsgeschichte der Komposition vermerkt ebenfalls die Leinwände von Robert Rauschenberg, welche dieser dort weiß bemalte. Cage adaptierte »die Komplexität einer leeren Oberflä15 | Beranek u. a.: »The Design and Construction of Anechoic Sound Chambers«, S. 4. Zur Entstehungsgeschichte des EAL/PAL siehe Beranek: Riding the Waves, S. 49-51. 16 | Ebd., S. 3. 17 | Ebd., S. 7-10.

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che, auf der es kein Gemälde braucht, weil eine leere Fläche bereits Bilder und Ereignisse in sich trägt«18 für die Musik: It was at Harvard [...] that I went into an anechoic chamber not expecting in that silent room to hear two sounds: one high, my nervous system in operation, one low, my blood in circulation. The reason I did not expect to hear those two sounds was that they were set into vibration without any intention on my part.That experience gave my life direction, the exploration of nonintention.19

Er beschrieb in seinen Texten wiederholt, wie sein Besuch im anechoischen Raum sein Werk beeinflusste. Entgegen der erklärten Absicht der Naturwissenschaften, welche die subjektive Wahrnehmung zur Gegenspielerin wissenschaftlicher Objektivität erklärt haben, suspendierte John Cage bei seinem Besuch im anechoischen Laboratorium seine Erwartungshaltung. Seine persönliche Wahrnehmung wurde in der isolierten Umgebung des Laboratoriums ins Zentrum gerückt und für die Geräusche der eigenen Gehirn- und Blutströme geschärft, in einem Raum zutiefst persönlicher und privater Intimität. Cage hat dieses Erlebnis wiederholt thematisiert, und es wurde schon oft zitiert. In der Musikgeschichte wurde die Episode der Erfahrung von Nicht-Absicht (»nonintention«) als zündender Moment der künstlerischen Inszenierung des Zufalls wahrgenommen.20 Die Medientheorie stellte anhand des besonderen Orts von Cages Erlebnis Bezüge zur psychoakustischen Wissenschaft fest, wozu hier ergänzt werden kann, dass Leo Beranek, der Entwerfer und Leiter des anechoischen Raums der Cruft Laboratories, für den Besuch kontaktiert wurde21 und es nahe liegt, dass John Cage nicht das kleinere psychoakustische Laboratorium (PAL) im Untergeschoss der Memorial Hall, sondern das hier beschriebene, große elektroakustische Laboratorium (EAL) besuchte.22 So prägend Cage für die Musik- und Kulturgeschichte auch gewesen sein mag, die technischen Wissenschaften haben seinem Besuch kaum Bedeutung zugemessen: Beranek war beim Besuch auch nicht persönlich anwesend. Es handelte sich hier also nicht um eine Wechselwirkung, vielmehr ermöglichte die Bautechnik der akustischen Laboratorien neuartige Erfahrungen. Während die Ergebnisse der Versuche für die Nachrichtentechnik wie auch für die Produktentwicklungen der Bauindustrie effektiv waren, gründet die kulturgeschichtliche Relevanz dieses Raummodells hier in einem Interesse an der auditiven Medienkultur der 1950er Jahre.

18 | Harris: Interview mit John Cage vom 25. Mai 1972. 19 | Cage: I-VI , S. 1. 20 | Dazu siehe Sanio: »Das Rauschen: Paradoxien eines hintergründigen Phänomens«. 21 | Korrespondenz der Autorin mit Leo Beranek, 18.10.2010. 22 | Schmidgen: »Silence in the Laboratory«.

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Die nachrichtentechnischen Entwicklungen zur Mitte des 20. Jahrhunderts legten auf der gesellschaftlichen Ebene verschiedentlich neue Wahrnehmungen frei: Wenige Jahre nach Cages persönlichem Erlebnis im anechoischen Laboratorium beschrieben Edmund Carpenter und Marshall McLuhan, wie die Unendlichkeit des auditiven (Ur-)Raums mittels Telekommunikation und Radio neu geschaffen würde: Telephone, gramophone, and RADIO are the mechanization of postliterate acoustic space. Radio returns us to the dark of the mind, to the invasions from Mars and Orson Welles; it mechanizes the well of loneliness that is acoustic space; the human heart-throb put on a PA system provides a well of loneliness in which anyone can drown. 23

Die Einsamkeit, die McLuhan hier anspricht, meint nicht die Isolation eines anechoischen Laboratoriums, vielmehr entspringt diese Idee der Weite der kanadischen Eis- und Schneefelder.24 Der Acoustic Space, wie Carpenter und McLuhan den Begriff in ihrem gleichnamigen Aufsatz in der Anthologie »Explorations in Communication« geprägt haben, stand im Zeichen eines Aufbruchs in eine medial vernetzte Welt, die gleichzeitig den Menschen wieder näher zu sich selbst bringen würde. Carpenter und McLuhans Acoustic Space war ein offener Raum: sie beschworen seine Grenzenlosigkeit und seine Unschärfe, dass er allumfassend und eng an die Emotionen gebunden sei.25 Was in diesem Text von 1960 beschrieben ist, ist nicht der physische Raum des akustischen Labors, sondern das Netz der Telekommunikation, das alle auseinander gebrochenen und abgekoppelten Räume wieder zu einem Ur-Raum zu vereinen vermag. McLuhans Begriff des Acoustic Space wurde zum Vorläufer und zur Referenz der Soundscape-Konzepte der späteren 1960er Jahre.26 Den Begriff Soundscape prägten vor allem der Komponist R. Murray Schafer, welcher bei McLuhan Vorlesungen besucht hatte, wie auch der Stadtplaner Michael Southworth.27 Cages intensive Hörerfahrung wurde aus der geschlossenen Umgebung des anechoischen Laboratoriums in die Städte 23 | McLuhan: »Five Sovereign Fingers Taxed the Breath«, S. 208. 24 | Zum Landschaftsbegriff des kanadischen Nordens siehe Ponte: »Journey to the North of Quebec«. 25 | Carpenter/McLuhan: »Acoustic Space«. Der Aufsatz war eine Weiterbearbeitung des 1955 in Explorations publizierten Beitrags des Psychologen D. Carlton Williams (Williams: »Acoustic Space«), in welchem dieser den Begriff »auditory space« benutzte. Siehe auch Rae: »McLuhan’s Unconscious«. 26 | Schulz: »Soundscape«; von Fischer: »Versuche, die Musik der Welt zu erfassen«. 27 | Schafer: The new soundscape; Southworth: »The sonic environment of cities«. Michael Southworth studierte bei Kevin Lynch, welcher 1960 The Image of the City veröffentlicht hatte, ein in der Stadtplanung wie in der Umweltpsychologie einflussreiches Buch. Die Veröffentlichung von 1969 basierte auf einer

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und die Landschaft hinausgetragen – doch ebenso wie das Laboratorium waren auch diese Räume nie still. Parallel zu dieser bewussten Begriffsbildung hatten sich die Raumkonzepte der Architektur verändert und erweitert: Das House of the Future, das 1956 an der Daily Mail Ideal Home Exhibition gezeigt wurde, veranschaulichte die Möglichkeit eines still gelegten Raums im Extrem. Abgeschottet von der Außenwelt, veranschaulichte die Inszenierung einer zukünftigen Wohnwelt die Möglichkeit von Stille, Kontrolle und Intimität.

I NTIMITÄT IN DER S TILLE Im schallgedämmten House of the Future bildeten gedämpfte Schritte, Gespräche des Bewohnerpaars wie ein Fernseher und mehrere Lautsprecher die Klangkulisse. Mit der Außenwelt, so das Narrativ des Hauses, war es nur durch audio-visuelle Installationen verbunden. Die Telefon- und Lautsprecherinstallationen wie auch der Fernseher übertrugen Informationen von außen, sie unterstützten aber auch das Ambiente der futuristischen Intimität von Anne und Peters Innenwelt. In der Ausstellungssituation konnte das Publikum nicht nur ungehindert hineinschauen, das Haus wurde durch ein Lautsprechersystem auf der Zuschauerplattform weiter entprivatisiert: Anne und Peters Erläuterungen wurden vom Haus auf den zweigeschossigen Zuschauerumgang übertragen. Wie in einer Fernsehsendung erklärte das Modellbewohnerpaar über Mikrophone, wie ihr Tagesablauf aussieht und wie ihre supermodernen Geräte funktionieren.

Abb. 8: Ideal Home Exhibition, London 1956: Anne erläutert das House of the Future über ein Mikrophon.

Seminararbeit am MIT von 1965 in einer, in welcher er Kevin Lynchs Begriff des Cityscape auf die klangliche Dimension übertragen hatte.

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Abb. 9: Ideal Home Exhibition, London 1956: Ausschnitt der Küche mit der Telefonbeantworteranlage im Hintergrund (elliptische Markierung durch die Autorin).

Abb. 10: Ideal Home Exhibition, London 1956: Anne und Peter in ihrem steuerbaren Wohnzimmer mit Lautsprecherattrappe (elliptische Markierung durch die Autorin). Was die Besucherinnen und Besucher sahen, waren ein Telefon, Mikrophone und Lautsprecher, welche die Möglichkeit der Kommunikation demonstrierten. Ob über die Lautsprecher auch andere Geräusche als diese Erläuterungen hörbar waren, bleibt ungewiss. Der UnterwasserFarbfilm, der gemäß dem Wunsch der Smithsons auf dem TV-Gerät lief, ist bestens ohne Tonspur denkbar, und auch die weiteren Geräte waren Teil einer temporären Szenographie. In der Schnittzeichnung scheint es, als wäre die Indikation »Mike-Speaker« nachträglich, mit einem anderen Schreibwerkzeug, aufgebracht worden, und überhaupt sind die Anmerkungen für die Tontechnik im Vergleich zu den detaillierten

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Angaben zum Licht, die mit einer genauen Beschreibung der Leuchtmittel versehen waren, spärlich.28 Auf den Fotografien der Ausstellungsdokumentation sucht man vergeblich nach einer Nahaufnahme der installierten Telefone und Gegensprechanlagen, sie tauchen höchstens im Hintergrund auf (Abb.  9, 10). Die Geräte sind weder besonders auffällig noch modern gestaltet – es ist die Fiktion ihrer Auswirkungen auf das tägliche Leben, das sie spektakulär macht. Zu hören waren kaum die Geräusche der Apparate und Kommunikationstechnologien, sondern vor allem die Erläuterungen der Schauspieler, welche Anne und Peter verkörperten. Die Töne fanden in den Köpfen der Zuschauer statt, die als Voyeure das Haus, das eigentlich eine Bühne war, beobachteten. Das Telefon und das Intercom waren optisch inszenierte Apparaturen in einem tonlos entworfenen Raum. Wie das ganze Haus waren auch die Geräusche eine Simulation: Auf der riesigen Wohnmesse der Daily Mail Ideal Home Exhibition im März 1956 nahm das House of the Future einen Sonderstatus ein. Es setzte nicht in der Hauptsache auf die Demonstration käuflicher Waren, sondern auf theatralisch inszenierte Narration. Rückblickend beschrieb Peter Smithson das Haus als eine Persiflage auf die Scheinwelt der Werbung. Es befinde sich, wie die Produkteanzeigen, in einem Niemandsland, und weiter: in a dustless, neighbourless, even childless, vacuum, where all that can be seen from the windows (if there are any) are spring trees and white clouds, not really declaring themselves as they really are 29

Das House of the Future von 1956 war eine Simulation nicht nur eines kinderlosen Haushalts im Jahr 1981. Ebenso vermittelten die installierten und simulierten Geräte und die vermeintliche Schallisolation – die es von der Außenwelt abschnitt, während große Wandausschnitte, riesige Gucklöcher sozusagen, das Haus für das Publikum aufrissen – die Vision einer multimedialen Vernetzung, welche die extreme Ausgestaltung der Privatsphäre im House of the Future erst möglich machte. Im Werk von Alison und Peter Smithson stellt das House of the Future eine Ausnahme, sogar eine Anomalie dar. Während die 1954 fertig gestellte Huntstanton School wie auch die folgenden Bauten (die bekanntesten darunter sind das Econmist Building und die Wohnsiedlung Robin Hood Gardens) auf eine direkte, rohe Materialität setzten, waren die Oberflächen dieser Ausstellungsarchitektur geschliffen und lackiert. Eine bemalte Holzkonstruktion gaukelte vor, aus modernstem Kunststoff zu sein.30 Plastik war das Material, dessen Eigenschaften beliebig steuerbar sein sollten: nicht nur als freie Formen der Raumbegrenzungen und des 28 | Schnitt QQ, Zeichnung 5521 (Collection Centre Canadien d‘Architecture/ Canadian Centre for Architecture, Montréal, DR1995:0030). 29 | Smithson/Smithson: Changing the Art of Inhabitation, S. 115. 30 | Colomina: »Unbreathed Air«, S. 31.

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Mobiliars, sondern in seiner gesamten bauphysikalischen Performance, inklusive der Akustik. Diese Eigenschaften wurden hier in den Dienst der Konstruktion einer häuslichen Intimität gestellt, die außerhalb der tonlosen Laboratorien einen Ort der Identität schaffen sollten. Innerhalb des introvertierten, schallgedämmten Privathauses wurden mit Licht und Ton Raumatmosphären eingeführt, welche durch eine Vielzahl von Schaltern abgeblendet oder intensiviert werden konnten. Die Stimmungen des Hauses waren wählbar. Sogar eine künstliche Sonne war über dem begrünten Hof in der Ausstellung aufgehängt. Diese Vermischung von Sonnenlicht und Bepflanzung mit medialen Installationen kreierte eine synthetische Landschaft, welche die räumliche Isolation des Hauses vergessen machen und stattdessen mittels einer medialen Wunderwelt der häuslichen Intimität auf die Sprünge helfen sollte. Ohne mediale Installationen, so versprach die bauakustische Isolation des House of the Future in der Wohnausstellung, wäre eine völlige Stille möglich. Diese wiederum war aber nicht das Ziel, sondern nur die Voraussetzung für die Intimität des Hauses. Ohne Kinder und ohne Nachbarn, so projizierte das Szenario, erlaube diese Wohnlandschaft grenzenlos individualistische Entfaltung. Diese mitunter erotisch aufgeladene Stimmung im Haus wurde gesteuert von verschiedensten Control Panels, die in der Einfachheit der Ausstellungsarchitektur noch spielerisch wirken. Intimität meint hier aber auch Entblößung: Die Bedrohlichkeit der Kontrollfunktionen für Licht und Ton wurden bereits zur Zeit der Ausstellung wahrgenommen, als zum Beispiel Kritiker der Ausstellung das Jahr der inszenierten Zukunft in Anspielung auf George Orwells 1949 erschienen Roman von 1981 in 1984 abwandelten.31 Im März 2008 wurden in einer Befragung im Vorfeld der Daily Mail Ideal Home Exhibition vom März 2008 viele der Vorhersagen, die Alison und Peter Smithson 1956 im House of the Future inszeniert hatten, als falsch bewertet. Unter den Geräten aber, mit welchen die Architekten die Zukunft korrekt eingeschätzt hatten, landeten auf den ersten drei Plätzen die Fernsteuerung für den Fernseher, der Mikrowellenofen und die Gegensprechanlage an der Haustür.32 Das House of the Future wurde hier als Fallbeispiel herangezogen, um das Raummodell eines nicht resonanten, erst durch elektronische Übertragung zum Klingen gebrachten Raums zu beschreiben. Als temporäre Ausstellungsarchitektur war es eine Hülle für eine fiktive Lautsphäre. Sie wurde den Zuschauern vermittelt, ohne unmittelbar erfahrbar zu sein. Wie auch in der Baupraxis für Auditorien, Konzertsäle und Filmtheatern wurden hier auch in einem privaten Wohnhaus die inneren Räume kommunikationstechnisch zur mediatisierten und entgrenzten Welt adaptiert. Gerade in ihrer Übersteigerung hilft diese Vision, das Kulturverständnis und die räumlichen Konzeptionen der 1950er Jahre zu paraphrasieren: 31 | O. V.: »Homes Past, Present and Future«. 32 | Hale: »Folding Front Doors and Blow-dry Showers«.

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Auf dem buchstäblich »stillgelegten« Hintergrund wurde das ›Environment‹ als steuerbare intime Umgebung denkbar – eine totale Umwelt, die, vollständig von der Außenwelt abgekoppelt und umgeben von Apparaturen, den Raum ästhetisch entgrenzt und gleichzeitig Intimität herstellt. In den akustischen Versuchsräumen seit des Zweiten Weltkriegs gab es im hörbaren Bereich kaum mehr Schallreflexionen. Mit der Verbreitung der Nachrichtentechnik und Telekommunikation waren reflexionsfreie Laboratorien gefragt, wo die Geräte in isolierten Umgebungen getestet werden konnten. Diese anechoischen Laboratorien waren Räume »ohne Eigenschaften«, welche, von der Außenwelt abgeschnitten, in akustischer Hinsicht einen hindernisfreien, offenen Raum simulierten. Diese akustisch still gelegten, schalltoten Konstruktionen waren nicht nur Laboratoriumsarchitekturen, sondern auch Raumkonzepte. Ein Raum, in dem der Nachhall eliminiert ist, bietet der elektronischen Schallübertragung einen idealen Hintergrund: Wie auf einer weißen Leinwand lassen sich Klänge aus Lautsprechern ohne Interferenzen platzieren. Cages Pulsieren des eigenen Blutes, das er im anechoischen Laboratorium hörte, regte ihn – wie Rauschenbergs weiße Leinwände – an, auf die Stimmung der Zeit mit einer Komposition aus Hintergrundgeräuschen zu reagieren. Parallel dazu demonstrierten Carpenter und McLuhan mit ihrem Begriff des Acoustic Space die mögliche Überlagerung mediatisierter Kommunikation und Landschaft: Im Äther entdeckten sie die Gleichzeitigkeit entgrenzter und intimer Räume. Eine solche, ambivalente Gleichzeitigkeit ist es, welche die räumliche Konzeption des House of the Future geprägt hatte.

Dank Diese Fallstudie entstand während eines Forschungsaufenthalts in Kanada im Sommer 2010. Vielen Dank an das Canadian Center for Architecture (CCA) in Montréal und das Departement für Architektur der ETH Zürich.

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A BBILDUNGEN Abb.  1: Modell des House of the Future für die Ideal Home Exhibition. Quelle: The Architects’ Journal, 1956. Abb.  2: Plan des House of the Future von Alison und Peter Smithson, Zeichnung vom 20. Dezember 1955. Quelle: Collection Centre Canadien d’Architecture/Canadian Centre for Architecture, Montréal. Abb. 3: Aussenansicht mit Hauseingang (Mitte) und Ein- und Ausgängen für den Besucherrundgang (links). Quelle: Collection Centre Canadien d’Architecture/Canadian Centre for Architecture, Montréal. Abb. 4: Detail der Kommunikationsanlage, Zeichnung vom 20. Dezember 1955. Quelle: Collection Centre Canadien d’Architecture/Canadian Centre for Architecture, Montréal. Abb. 5: Anechoisches Laboratorium der Harvard University, 1943. Aus: Beranek u. a.: »The Design and Construction of Anechoic Sound Chambers«, S. 7. Abb. 6: Leo L. Beraneks Definition des Worts »anechoisch«, 1945. Aus: Beranek u. a.: »The Design and Construction of Anechoic Sound Chambers«, S. 1. Abb.  7: Anechoisches Laboratorium der Chalmers University, ca. 1974. Aus: www.ta.chalmers.se, 1.9.2010. Abb. 8: Ideal Home Exhibition, London 1956: Anne erläutert das House of the Future über ein Mikrophon. Aus: Archiv des CCA, Montréal. Bildrechte: Smithson Family Archives. Abb.  9, 10: Ideal Home Exhibition, London 1956: Ausschnitt der Küche mit der Telefonbeantworteranlage im Hintergrund/Anne und Peter in ihrem steuerbaren Wohnzimmer mit Lautsprecherattrappe. Quelle: Collection Centre Canadien d’Architecture/Canadian Centre for Architecture, Montréal. Bildrechte: Smithson Family Archives.

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Die Entwicklung der Recording Culture am Beispiel der Beatles in den Abbey Road Studios Volkmar Kramarz

1. E INLEITUNG Die Geschichte der Aufnahmetechnik und der Wiedergabe von Klängen, Geräuschen und insbesondere von Musik ist kaum einhundertfünfzig Jahre alt. Angestoßen von Pionieren und Erfindern wie Scott de Martinville stellten ab 1877 Thomas Edison und nachfolgend Emil Berliner Geräte wie Phonograph bzw. Grammophon1 vor und konnten damit erstmalig aufgezeichnete auditive Klänge einer zunehmend breiteren Öffentlichkeit mit Hilfe von Schallplatten und Draht- bzw. Bandaufzeichnungen zugänglich machen. Im Zuge dieser Entwicklung führten eine Vielzahl von Experimenten zu unterschiedlichsten technischen Veränderungen und Materialeinsätzen2 . Zu den herausragenden Ereignissen gehört hier beispielsweise der nach dem zweiten Weltkrieg stattfindende Wechsel vom Disc-Cutting, dem Einprägen direkt auf eine Scheibenmatrize, hin zur Aufnahme auf Magnettonbändern mit den sich dabei neu öffnenden Möglichkeiten wie etwa dem Mehrspurverfahren: One of the techniques improved and facilitated by tape recorders was overdubbing, an additive process whereby successive performances are combined or overlaid with one another within within the unity time frame [...] creating the illusion of an ensemble performance. 3

Entwicklungsschritte wie diese stellen in einer langen Reihe eine bis heute nicht endende Innovationskette dar, in der unterschiedliche Auf1 | Vgl. Kittler: Grammophon Film Typewriter, S. 37. 2 | Vgl. Pfau: Tonbandtechnik, S. 99. 3 | Zak III: The Poetics of Rock, S. 10.

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nahmetechniken und eben auch neue Tonträger und Medien vorgestellt werden: von der Schellack-Platte über die Vinyl-LP und die CD bis hin zur aktuellen mp3-Datei oder Blue-Ray-Disc. Darüber hinaus kommen über die medialen Verbundsysteme wie den Tonfilm, Fernsehübertragungen und nicht zuletzt über das aktuelle Phänomen der allgemeinen Digitalisierung noch die Verbindungen mit anderen, vorwiegend optischen Sinneseindrücken hinzu. Dadurch tut sich heute eine mediatisierte auditive Klangwelt auf, die von den einstigen mit ihren rückblickend recht schlicht anmutenden Ursprüngen viele Entwicklungssprünge, verbunden mit entsprechend vielen vehementen Diskussionen und Auseinandersetzungen, weit entfernt ist.4 Hinzu kommt, dass das Aufzeichnen von Klängen, Geräuschen und Musik unsere Hörgewohnheiten grundlegend verändert, es sogar die Art und Weise von Musikaufführungen vollständig umgekrempelt und massiv Einfluss darauf genommen hat, wie beispielsweise heute Musik gehört und verbreitet wird.5 In dem in der Regel nicht gleichmäßigen, sondern meist ruckhaftem Verlauf der Innovationsschübe6 gab es oftmals einige entscheidende Zeitabschnitte, in denen innerhalb kürzester und vor allem sehr überschaubarer Abfolge bestimmte auditive Entwicklungen stattfanden, die im Moment des Entstehens für die Zeitzeugen oftmals geradezu überwältigend wirkten und nachfolgend meist lang anhaltende und grundsätzliche Veränderungen auf einem bestimmten Gebiet der auditiven Entwicklung bewirkten. Als solch ein bemerkenswerter Quantensprung wird speziell in der Geschichtsschreibung der populären Musik das Album Sergeant Pepper’s Lonely Hearts Club Band der Beatles und dessen Erstellung 1967 in den Londoner EMI-Studios in der Abbey Road gesehen. Die Hintergründe und Bedingungen, die zu der Entstehung dieser aufsehenerregenden Platten-Produktion7 führten und beitrugen, sollen hier ebenso erörtert werden wie die Überlegungen, welche Auswirkungen dieses bekannte Werk der Fab Four aus Liverpool für die nachfolgende Musikentwicklung hatte.

4 | So gibt es bis weit in die 1960er hinein noch eine ausgeprägte Diskussion, ob sich das neuartige Stereophonie-Verfahren wirklich als eine Verbesserung des Hörens herausstellen würde. Viele Produktionen erscheinen daher betont sowohl als Mono- als auch als Stereo-Veröffentlichung. Siehe dazu auch von Lewinski: »Die Stereo-Schallplatte«. 5 | Vgl. Katz: Capturing Sound, S. 1. 6 | Vgl. Kittler: Grammophon Film Typewriter, S. 33. 7 | Vgl. Barrow: John Paul George Ringo & Me, S. 230. Der ehemalige Pressechef der Beatles nennt das Sgt. Pepper’s Album in seinem biographischen Rückblick ein »spectacular album« und sagt dazu: »John and Paul recognised the project as a make-or-break-point in the band’s career.«

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2. E IN TON -S TUDIO IN L ONDON Wie kam es dazu, dass ausgerechnet ein Londoner Ton-Studio solch eine Berühmtheit als kreative Klangschmiede erringen konnte? Welche Umstände führten dazu, dass vier junge Männer aus Englands Norden, unterstützt von einigen Mitarbeitern des Studios, dort im Verlauf des Jahres 1967 Single-Tracks erarbeiteten wie Strawberry Fields Forever, I Am the Walrus oder eben das komplette Album Sergeant Pepper’s Lonely Hearts Club Band? Von dessen Veröffentlichung wird später immerhin gesagt werden, dass wohl nur der Wiener Kongress von 1815 die Menschen in Europa mehr bewegt hat – und vermutlich in Nordamerika gleich ebenso.8 Zum Verständnis der individuellen Entwicklung innerhalb der EMI Abbey Road Studios in dieser Zeit sollen folgende übergeordnete Bereiche unterschieden werden: • Konstruktion und Ausstattung; • die Geschäftsstruktur; • die Künstler, ihre technischen Mitarbeiter und das Repertoire. Unter diesen Gesichtspunkten die Entwicklung eines Studio-Komplexes, wie es die Abbey-Road-Studios darstellen, aufzubereiten, kann dann sowohl die Entwicklungsstränge dort im Haus verdeutlichen als auch helfen, die Frage zu beantworten, warum die Beatles denn gerade hier diese besagten Songs aufgenommen haben, und ob das nicht auch woanders hätte stattfinden können. Gleichzeitig ermöglicht die Betrachtung der individuellen Historie auch einen generellen Einblick in die Recording-Culture dieser Jahrzehnte und ermöglicht damit ein Verständnis für die Veränderungen, die eine Band wie die Beatles im Bereich Aufnahmeverfahren und Audio-Produktion eingebunden in die allgemeinen musikalischen Entwicklungen bewirkte.

Die Konstruktion und Ausstattung Die Abbey Road Studios wurden als eine ausgelagerte Dienstleistungsabteilung zur Erstellung diverser Tonaufnahmen und damit als ein gesonderter Gebäudekomplex konzipiert und anschließend realisiert. Auftraggeber war die 1898 von Emil Berliner selbst gegründete Industriefirma Gramophone Company, die 1931 mit der UK Columbia Records Company zu Electric & Musical Industries (kurz: EMI) verschmolz. Nicht zuletzt speziell für das aus der Gramophone Company hervorgegangene Plattenlabel His Masters Voice HMV wurden diese betriebseigenen EMI Recording Studios großzügig konzipiert und eingerichtet, um erstmalig ungestört und konzentriert ein eigenes Repertoire an Tonproduktionen 8 | Vgl. Stark: Meet the Beatles, S. 5.

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aufbauen zu können. Dies geschah, betont außerhalb des Fabrikgeländes des Mutterhauses, in einem nah am Zentrum gelegenen Vorort der Weltstadt London, um damit einen gut erreichbaren Platz für Künstler und Kreative anbieten zu können. Allein die baulichen Dimensionen des 1907 errichteten Zentralwerkes in Hayes können deutlich machen, dass es sich hierbei um einen höchst finanzkräftigen Konzern handelte, der ohne große Schwierigkeiten später auch diesen mächtigen Studioneubau für Tonaufnahmen in London errichten lassen konnte. Immerhin hatten die Architekten Wallis, Gilbert & Company das Zentralwerk auf einer Fläche von über 250 Hektar erbaut und dort Fabrikationsanlagen für technische Geräte aller Art, nicht zuletzt aus dem Unterhaltungs- und Haushaltbereich, erstellt, die diese Firma zu einem weltweit bekannten und führenden Elektrotechnikproduzenten aufsteigen ließen.9 Von denselben Architekten erfolgte 1929, nach dem Kauf der benachbarten Grundstücke Abbey Road Nr. 3 und 5 im Londoner Stadtteil St. John’s Wood, die Planung und der nachfolgende Bau eines Tonstudios, das die Architekturfirma konsequent bis zur Fertigstellung im November 1931 betreute. Ausgehend von einem bereits vorhandenen relativ kleinen Villa-Gebäude, in dem von nun an überwiegend die Studioverwaltung residieren sollte, wurde der einstige Garten nahezu vollständig durch einen an das vordere Haus anschließenden massiven Baukörper ausgefüllt, in dem die eigentlichen Aufnahmeräume eingerichtet wurden. Damit wurde es in seiner Zeit zu dem weltweit größten Studio für Plattenaufnahmen, das aber mit seiner zur Abbey Road nahezu unveränderten Frontansicht im Prinzip weiterhin wie ein Privathaus wirkte, und wo beispielsweise die bisherige private Küche erst Jahre später umund ausgebaut wurde.10 Trotz der monumentalen Größe des Komplexes verblieb, bedingt durch die städtisch eingebundene Lage, eine besondere Schwierigkeit besonders für die auswärtigen Künstler, die sich im Laufe der folgenden Jahrzehnte weiter verschärfen sollte: Das Haus bot mit seiner relativ schmalen Vorderseite und seinem schmalem Vorgarten nämlich nur wenig Platz für Auto-Parkplätze, die daher schon bald hoch begehrt waren. Immer wieder erörterte Planungen einer großzügigen Tiefgarage innerhalb des Komplexes wurden aufgrund der Gedrängtheit der einzelnen Baukörper aber nie bis zu einer Realisierung getrieben, weil nur ein Abriss der alten Gebäude sinnvolle Lösungen erlaubt hätte.11 Die neu errichteten Aufnahme-Räume wurden an das Anfang der 1930er Jahre übliche musikalische Repertoire angepasst und fielen dadurch, rückblickend gesehen, beeindruckend großzügig dimensioniert aus: Das Studio 1 war ausreichend groß auch für größte Orchesteraufnahmen und wurde sogar mit einer eigenen Bühne und einer Orgelempore eingerichtet, um die Aufführung eines Orchesterstückes wie in ei9 | Vgl. Kehew/Ryan: Recording the Beatles, S. 15-17. 10 | Vgl. Southall u. a.: Abbey Road, S. 19. 11 | Vgl. ebd., S. 159.

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nem Konzert zu ermöglichen. In einem Raum von rund 500 qm Größe, komplett mit getäfelten Holzboden ausgelegt, konnte selbst eine herumziehende Marchingband mit über 60 Ensemble-Mitgliedern problemlos auf einer Aufnahme festgehalten werden, wobei die enorme Weite der hallenartigen Räumlichkeit noch durch eine Deckenhöhe von etwa zwölf Metern unterstrichen wurde.

Abb. 1: Die Straßenfront des EMI-Studiokomplex in der Abbey Road, London. Schon wenige Jahre später waren diese Dimensionen für eine schlichte Beat-Band wahrlich überwältigend: Eine vierköpfige Band wie die Beatles fühlte sich in diesem Studio mit seiner Größe zwischen Turnhalle und Flugzeughangar förmlich verloren, hätte nicht ihr Techniker für sie bei solch einer Gelegenheit einen künstlichen kleinen Raum, eine Art Hütte gebaut, die den Raum deutlich kleiner wirken ließ.12 Eher für Big Bands mit etwa 20 Mitgliedern und für kleinere Orchester-Ensembles war dagegen das Studio 2 gedacht, das mit etwa 220 qm Grundfläche und einer Deckenhöhe von über acht Metern zwar ebenfalls über eine recht imposante Größe verfügte, dennoch aber leichter von kleinen Besetzungen zu nutzen war. Dies sollte das Studio sein, in dem neben geläufiger klassischer Musik dann üblicherweise die Künstler aus dem Bereich von Jazz, Comedy und Unterhaltung aufgenommen wurden, und wo schließlich auch die Beatles den größten Teil ihrer Plattenaufnahmen durchführten.

12 | Vgl. Emerick/Massey: Du machst die Beatles!, S. 291.

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Nur ungefähr halb so groß wie das Studio 2 war dagegen das Studio 3, das aber bei einer Fläche von etwa 110 qm immerhin ebenfalls noch eine Deckenhöhe von knapp fünf Metern aufwies und genau wie die anderen Studioräume mit einem durchgehenden Holzfußboden und großzügig konzipierten Wandverkleidungen versehen war. Hier wurden überwiegend, wie von der originären Planung her auch vorgesehen, Solo-Klavierkonzerte und klassische Kammermusikaufnahmen durchgeführt. Genau wie in den anderen Studios auch konnten die jeweiligen Aufnahmen dabei in einem jeweils unabhängigen Regieraum kontrolliert und bearbeitet werden. Die Regieräume waren an die Aufnahmeräume unmittelbar angebunden und durch Sichtfenster und auch Zugangstüren verbunden, so dass problemlos eine schnelle Kommunikation möglich war. In der Abbey Road wurde damit schon bei der architektonischen Planung und bei der Errichtung und Ausstattung das investiert, was notwendig war, um marktführend und qualitativ hochwertig zu sein. Dieser Anspruch wurde auch in den nächsten Jahren beibehalten. Entsprechend wies dieses Studio von Jahrzehnt zu Jahrzehnt alles auf, was jeweils dem aktuellen Stand der Technik entsprach: Das Studio begann bereits seit seiner Inbetriebnahme mit Electrical Recording, also mit Mikrophonen und Verstärkern im Gegensatz zur früheren mechanischen Aufzeichnung und wurde in den 1950ern konsequent auf Bandmaschinen und schließlich ab den frühen 1980ern komplett auf digitale Aufnahmeverfahren und Produktion von CDs umgestellt.13 Einen sicherlich entscheidenden Anteil an den dort produzierten hochwertigen Aufnahmen hatte die üppige Ausstattung gerade in der Peripherie der Aufnahmekette: Viele und vor allem hochwertige Mikrophone aller Bautypen, allen voran die bekannten Neumann-Röhren-Tonwandler der M-Serie, waren in einer Vielzahl vorhanden, genauso wie Kompressoren unterschiedlicher Bauart, großzügig viele Röhrenvorstufen wie die legendären Siemens V72 und diverse Bandmaschinen mit zunehmend mehr Einzelspuren in jedem Regieraum. Generell ist zu sehen, dass die unmittelbare Verbindung zum Mutterhaus, einer global agierenden Industrieproduktionsfirma von Elektro-Geräten, dafür sorgte, dass auf Anfrage die notwendigen Geräte in höchster Qualität angefertigt oder, individuell abgestimmt, über einen Fremdeinkauf angeliefert wurden. In der Regel standen sie nach kurzer Zeit, entsprechend den Anforderungen der Produzenten und Tontechniker oder entsprechend den weltweiten Verbesserungen im internationalen Audiobereich, zur Verfügung.14

13 | Vgl. EMI-History: »Timeline«. 14 | Der Produzent George Martin musste den Beatles sogar bei ihren ersten Studio-Sessions noch die unterschiedliche Handhabung von ihren üblichen Bühnenmikrophonen und den viel empfindlicheren und hochwertigeren Studiomikrophonen erklären. Vgl. Babiuk: Der Beatles Sound, S. 65.

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Abb. 2: Der junge Karl-Heinz Stockhausen 1960 im Studio des WDR, Köln. Vorrangig war dabei für lange Zeit das Ziel, die von den Künstlern erzeugten Klänge möglichst unverändert festzuhalten und reproduzieren zu können – ‚True Fidelity‘ war gleichermaßen eine Vorgabe wie auch das Motto dieses Studios, was deutlich macht, das lange Zeit, bis weit in die 1960er hinein, die Technik vorrangig für eine authentische Dokumentation von Klängen gedacht war: Alles, was in der langen Kette von Mikrophon bis Lautsprecher geschah, sollte der möglichst getreuen Wiedergabe dienen, nicht aber einer wie auch immer gearteten künstlerischen Manipulation und Modifikation.15

Die Geschäftsstruktur Die Abbey Road Studios wurden zum Zweck von Erstellung diverser Tonaufnahmen von vornherein als eine ausgelagerte Dienstleistungsabteilung in einem eigenen Gebäudekomplex geplant und realisiert. Da es sich hier um die Investition einer weltweit agierenden Großfirma handelte, wurden alle Geschäftsziele unter der deutlichen Prämisse von geschäftlichem Erfolg gesehen. Praktisch jede Unternehmung berücksichtigte kommerzielle Aspekte und war insofern auf Gewinn ausgerichtet. Die Konstrukteure und Manager dieses Studios verfolgten daher das vorrangige Ziel, endlich einen fest eingerichteten Aufnahmeraum zu erbauen, der es dem Konzern ermöglichen sollte, nicht länger nur in einer angemie15 | Vgl. Brock-Nannestadt: The Development of Recording Technologies, S. 150.

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teten Konzerthalle oder Kirche Aufnahmen durchzuführen, sondern in ausschließlich dafür vorgesehenen Räumen arbeiten zu können. Dass damit neben der Kostenverringerung eine konzentrierte Arbeitsumgebung geschaffen wurde, die Jahrzehnte später auch den Beatles zu ihren hoch gelobten Meisterwerken verhelfen sollte, war im Prinzip nur ein nachrangiges Ziel der Studioerbauer. Im Vordergrund standen nüchtern kalkulierte Zeit-, Arbeits- und Geldersparnisse. Dass dann das größte Studio seiner Art für Plattenaufnahmen entstand, war ebenfalls rein pragmatisch kalkulierten Geschäftsüberlegungen geschuldet: Angepasst an die üblichen Vorstellungen, die zur Zeit des Baubeginns in Bezug auf anerkannte und gut verkaufbare Musik herrschte, wurden hier Aufnahme-Säle konzipiert, die im Prinzip den bisher jeweils angemieteten Räumen entsprachen. An sich schwebte den Erbauern hier eine hoch effektive Musikfabrik vor, in der ungestört und möglichst effizient die Produktion der Ware Musik erfolgen sollte. Das erklärt nicht zuletzt auch den eher nüchternen Zweck-Einrichtungsstil aller Studios in der Abbey Road, wo lange Zeit offene Kabelschächte, unverkleidete Metalltüren mit sachlichen Notausgangsschildern und greller NeonBeleuchtung zum recht unromantischen Ambiente beitrugen. Für kundenorientierte Emotionalität oder unnötigen ästhetischen Zierrat wollte die Geschäftsführung kein Geld ausgeben, denn das tat sie als kühl rechnende und dem Vorstand verantwortliche Firmenleitung in den übrigen Produktionsbereichen ebenfalls nicht. Und immer wieder, wie etwa zu Beginn der Studioaktivitäten, kam Glück hinzu: Auch wenn beispielsweise der Bau des Studios in einer Zeit stattfand, in der die Umsätze sanken und eine allgemeine Wirtschaftskrise umherging, herrschte zu Beginn der 1930er doch gleichzeitig eine fast euphorische Aufbruchsstimmung, speziell was die boomartige Verbreitung von Radiogeräten und Plattenabspielgeräten betraf. Viele Privathaushalte wollten sich damit versorgen und so machte es geschäftlich großen Sinn, für die unzähligen und immer begehrteren Heimgeräte, die nicht zuletzt im Mutterhaus der EMI in Hayes produziert wurden, konstant neue Aufnahmen für Tonträger oder Radioübertragungen zu erstellen.16 Damit wurde der musikalische Aufnahmevorgang von seinem Termindruck und dem bis dahin vorhandenen Stress befreit, etwa unbedingt während eines einmaligen Live-Konzertes erstklassige Ergebnisse erzielen zu müssen. Zusätzlich wurde die Musik-Produktion in einen Prozess des sachlichen Arbeitsvorganges verwandelt, der sich zumindest äußerlich von der Montage diverser Apparaturen und Geräte kaum noch unterschied. In solchen Werkshallen standen in sachlicher Atmosphäre fest vereinbarte Betriebszeiten, disziplinierte Arbeitshaltung und der unbedingte Wille des Gewinnerzielens im Vordergrund. Und in beiden

16 | Vgl. Kehew/Ryan: Recording the Beatles, S. 14.

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Szenarien dominierten weiß bekittelte Techniker und ernsthaft blickende Ingenieure mit Jackett und Krawatte das Arbeitsfeld.17 Insofern war es selbstverständlich, dass die gesamte Firmenpolitik der EMI darauf abzielte, eine Musik zu produzieren, die am Markt einen möglichst hohen und leicht zu erzielenden Absatz erreichte. Schwarze Zahlen waren mehr gefordert als etwa innovativer Experimental- oder kreativer Pioniergeist, der in den Hintergrund rückte. Wenn es aber dem Geschmack der breiten oder zumindest der gut zahlenden Käufermasse entsprach, wurde ein neuartiges Unterfangen bewilligt und gefördert – entsprechend wurde die Produktpalette und das gesamte Dienstleistungsangebot, wenn auch manchmal zögerlich, ausgerichtet. Zusätzlich zu den eigentlichen Aufnahmeräumen wurden Büros, Waschräume und aufwändige Telefonanlagen installiert, um dem Studiokomplex ein vollständig eigenständiges Arbeiten zu ermöglichen.18

Die Abbey Road Studios – ihre Künstler und ihr Repertoire Üblicherweise sind Sound-Recording und die Herstellung von Reproduktionsgeräten, also die Bereiche Aufnahme und Wiedergabe, jeweils getrennte Produktionssegmente, die deutlich voneinander unterschieden sind. In einer Abteilung bzw. Firma werden die Aufnahmen produziert, in einer anderen die Wiedergabegeräte, mit denen diese Musik dann abgespielt werden kann. Doch im Fall der Abbey Road Studios kommen hier diese beiden Welten über die gemeinsame leitende Mutter-Firma zusammen. Das hatte unterschiedliche Konsequenzen zur Folge, da diese Verbindung zwar für eine hervorragende technische Ausstattung, gleichzeitig aber auch für den permanent kommerziell ausgerichteten Gewinn-Druck sorgte. Weil die Räume in der Abbey Road als eine der ersten speziell und ausschließlich nur zum Aufnehmen gedacht waren, wurden dort erstmalig Anforderungen an die Aufnahme-Sessions gestellt, die nur in einem expliziten Tonstudio denkbar waren. Bei einer Aufnahme etwa in einer nur für einen Abend angemieteten Konzerthalle wäre vieles oftmals nicht möglich gewesen. Dies war naturgemäß bei den Stilistiken, die extensiv auf Soundbearbeitung und intentionale Klangvorstellungen19 abheben, wichtiger als bei den Genres, die ihre Interpreten möglichst nur unverfälscht auf einer Aufnahme festgehalten wissen wollten. Popmusik mit all ihren Sound-Ansprüchen rückte dementsprechend Jahr um Jahr mehr in den Vordergrund,20 während daneben die ursprünglich so favorisierte und im zentralen Fokus der früheren Planungen stehende Klassik mehr zurückgedrängt wurde. 17 | Vgl. Emerick/Massey: Du machst die Beatles, S. 67. 18 | Vgl. Kehew/Ryan: Recording the Beatles, S. 16. 19 | Vgl. Frith: Zur Ästhetik der Populären Musik, S. 10. 20 | Vgl. Southall: Abbey Road, S. 53.

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Bei der Auswahl der Studioaktivitäten hatte man in der Abbey Road immer Wert darauf gelegt, Weltstars von Rang und Namen für die Aufnahmen zu verpflichten, um mit diesen berühmten Persönlichkeiten einen größtmöglichen Eindruck auf das Publikum zu erzielen. Damit verbunden war dann aber auch der fast durchgehende Verzicht auf Experimente und Wagnisse aller Art. Die arrivierten, in der Regel älteren und gesetzten Herren, die als Artist & Repertoire-Manager das Entscheidungsrecht bezüglich der Verpflichtung von Künstlern und Komponisten hatten, zeigten keinerlei Interesse an serieller Musik, 12-Ton-Klängen oder gar frühen futuristischen bzw. elektronischen Experimentalprojekten. Solch eine Musik kam daher hier praktisch nicht vor und wurde folgerichtig in den großen Studiohallen der EMI nicht produziert, auch wenn die technischen Einrichtungen es zweifelsohne ermöglicht hätten. Folgerichtig waren daher die Techniker und auch die Aufnahme betreuenden Produzenten weniger zu musikalisch-innovatorischen Versuchen, sondern eher auf die Einhaltung der gerätetechnischen Vorschriften angehalten. Sie wurden nicht für außergewöhnliche Klang-Experimente und innovative Reflexionen gebraucht, sondern wurden als Regelwerke und Anweisungen ausführende Angestellte gesehen. So fürchtete beispielsweise der Tontechniker Geoff Emerick bei der Suche nach einem möglichst ungewöhnlichen Gitarrensound vor allem die strafenden Abmahnungen seiner Geschäftsleitung: Als ich neben dem Mischpult kniete und an Knöpfen drehte, die ich auf keinen Fall bedienen durfte, weil sie das Mischpult in den Himmel blasen konnten, dachte ich unwillkürlich: Wenn ich der Studiomanager wäre und mich dabei erwischen würde, würde ich mich feuern. 21

Es war aber nicht ungewöhnlich, dass die Performer, die vorführenden Künstler, die berühmten Dirigenten und Pianisten selbstbewusstes Denken und mutiges Handeln mit in die Aufnahmen brachten: Artur Schnabel wird beispielsweise schon früh bei der EMI das individuell geprägte Gesamtwerk von Beethoven einspielen, und gleich nach dem Krieg werden anerkannte deutschsprachige Sängerinnen ihre Karriere mit anspruchsvollen Kunstliedern lückenlos fortsetzen und pflegen können. Dank der offensichtlichen Gewinnmöglichkeiten, die bei solch großen Namen bestehen, rückten auch politische Differenzen diskret in den Hintergrund. Die Abbey Road Studios sorgten in diesem Fall damit sogar konkret für eine erste Verbindung zwischen den noch kurz zuvor in kriegerische Handlungen verwickelten Völkern – aber eben vor allem, um daraus einen Profit zu ziehen.22

21 | Emerick/Massey: Du machst die Beatles, S. 395. 22 | Vgl. Southall: Abbey Road, S. 31.

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3. D IE B E ATLES UND IHRE S TUDIO -P RODUK TIONEN Ich will klingen wie der Dalai Lama, der von einem Berggipfel heruntersingt. 23 J OHN L ENNON

Als der anerkannte Gitarrenexperte Tony Bacon auf der Suche nach einer Erklärung für den Mythos Gibson Les Paul Standard, die er als Million Dollar Les Paul beschreibt, den Gitarrenbauer Max Baranet, seinerseits ebenfalls ein dezidierter Les Paul-Fachmann, nach der Erklärung für den Ursprung der Faszination dieses begehrten Gitarrenmodels befragte, brachte dieser einen ›X-Factor‹ als erläuterndes Gedankenmodell ein. Gemeint ist in diesem Fall weder eine amerikanische TV-Serie noch eine Castingshow für neue Pop-Talente, sondern ein Beschreibungsversuch für das Zusammenkommen von unterschiedlichen Wirkungselementen, die sich an einem bestimmten Moment auf einem Punkt treffen, um sich dann wieder voneinander zu entfernen und ins Unendliche zu verlieren: »Verschiedene Faktoren kamen alle zusammen an einem Punkt in praktisch nur einem Jahr. Und dann driftete es wieder auseinander. Aber in Bezug auf diesen speziellen einzigartigen Ton war alles richtig zu diesem einen Zeitpunkt!«24 In einer ähnlichen Weise lässt sich verdeutlichen, warum gerade für die Popmusik die kurze Zeitspanne, die die Beatles konzentriert im Studio verbrachten, so enorm bedeutsam ist. Es handelt sich um eine an sich nur wenige Jahre umfassende Tätigkeit, die aber wie keine andere Studioarbeit so akribisch, so detailliert beobachtet und dokumentiert worden ist. Minutiös wurde jede einzelne Session mit allen wichtigen und gelegentlich auch weniger wichtigen Einzelheiten festgehalten und steht heute für Untersuchungen und Nachforschungen zur Verfügung.25 Wenn man dann die einzelnen Stränge betrachtet, die vom Baubeginn der AbbeyRoad Studios bis hin zu den Werken der Beatles führen, werden mehrere Aspekte erkennbar. Diese wiederum machen deutlich, warum eine bestimmte X-Kombination einzelner Faktoren fast zwangsläufig dazu geführt hat, dass diese Liverpooler Beatband dort in London so erfolgreich wurde – und warum dies eben hier und nicht woanders stattfand. Die Studios in der Abbey Road waren beim Eintreffen der Beatles professionell und der Zeit entsprechend eingerichtet. Bei notwendigen Reparaturen konnte der Hausdienst gerufen werden, eine Kantine versorgte die Künstler mit Sandwiches und Tee. Ein hauseigener Mastering-Room sorgte für Überspielungen und Probeabzüge unmittelbar nach jeder Session, und nicht zuletzt verhalf ein Sicherheitsdienst den umjubelten Stars zu einer ungestörten Arbeitsatmosphäre, die möglichst nicht von ekstati23 | Emerick/Massey: Du machst die Beatles, S. 27. 24 | Bacon: Million Dollar Les Paul, S. 138. 25 | Z. B. Lewisohn: The Complete Beatles Chronicle.

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schen Fans unterbrochen werden sollte. Zusätzlich wurden die Musiker von einer eigenen Techniker-Crew betreut und von der intern verbundenen Mutter-Firma oder durch gezielte Fremdeinkäufe mit den jeweils notwendigen Apparaturen versorgt. Wie hochwertig oder sogar exzellent dieses Equipment, angefangen etwa von dem in der Kölner EMI-Dependance entwickelten Mischpult bis hin zu den üppig dimensionierten Kompressoren und Abhörlautsprechern26, nicht nur für die damalige Zeit war, zeigt, dass heute bestimmte Geräte aus den Laboren und Werkstätten der EMI-Technik nach wie vor hoch begehrt sind. Mittlerweile haben sie sogar als beliebte virtuelle Plug-ins Einzug in die moderne Computerwelt gehalten.27

Der fünfte Beatle: Der Produzent George Martin Ihr Produzent George Martin war ursprünglich Leiter des hauseigenen Labels Parlophone. Er sollte an sich seinen Verlag mit Klassik-Aufnahmen aller Art versorgen, hatte aber schon bald damit begonnen, sich daneben auf Jazz und Comedy zu konzentrieren und dort ausgiebig Kenntnisse in Bezug auf alle Gegebenheiten des Pop-Business zu sammeln. In dieser Funktion konnte er es sich erlauben, eine Band wie die Beatles einzuladen und sie nebst der dazu gehörigen Technik zu buchen, ohne dabei jeden einzelnen Schritt und Handgriff ausdrücklich genehmigen lassen geschweige denn persönlich bezahlen zu müssen. Natürlich war ihm der enorme Gewinndruck des Hauses nur zu vertraut, aber als festangestellter Produzent konnte sich Martin zumindest vorrangig auf den kreativen Output ›seiner‹ Künstler konzentrieren, ohne gleichzeitig dafür Sorge zu tragen, wie denn etwa die alltäglichen Kosten für Heizung, Wasser und Strom gedeckt werden sollten. Außerdem ermöglichte ihm die Studioleitung, bei informativen Besuchen in US-Studios den dortigen Standard der Aufnahmetechnik kennenzulernen.28 Kaum ein anderer damaliger Produzent aus dem Bereich der Unterhaltungsmusik, der nicht festangestellt oder verbeamtet etwa beim Rundfunk tätig war, befand sich in einer solch sorgenfreien und gesicherten Stellung. Und als dann die Beatles mit ihrer Musik große Gewinne einspielten und damit die wichtigste Forderung des Studiomanagements mehr als erfüllten, konnten sich die Künstler gemeinsam mit George Martin herausnehmen, das Studio – über einige Jahre hinweg – praktisch zu ihrem Privataufenthaltsraum umzufunktionieren. John Lennon formulierte dies später so: »We were just getting better technically and musically that’s all.

26 | Vgl. Kehew/Ryan: Recording the Beatles, S. 138 ff. 27 | So gibt es mittlerweile eine Firma der Abbey Road Studios selbst, die einzelne Studioelemente als hochpreisige Computersoftware, als Plug-ins anbietet (http://www.abbeyroadplugins.com). 28 | Dies geschah bereits 1958, wo Martin auch Recording-Sessions mit Frank Sinatra erlebte. Vgl. Martin: All You Need is Ears, S. 144.

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Finally we took over the studio.«29 Praktisch alles von dem, was die Beatles und ihr Produzent sich beispielsweise im Jahr 1967 wünschten, wurde ihnen zugesagt oder angeliefert. Plötzlich waren viele der bisherigen und so strikt einzuhaltenden zeitlichen Begrenzungen nicht mehr bindend: Gastmusiker konnten auf Kosten des Hauses eingeladen werden, bisher gesperrte Nachtzeiten wurden freigegeben und selbst ein bereits öffentlich bekannter Drogenkonsum wurde toleriert – für die Träger des höchsten Ordens der Nation gab es kein ›Unmöglich!‹ mehr. Es war andererseits diese Freiheit, dieses Ahnen von unbegrenzten Möglichkeiten, das sich schließlich neben der Gewinnmaximierung auch musikalisch ausdrückte. Arbeitstechniken, die aus der Welt der Neuen Musik oder Tapemusic stammten und mit Namen wie Stockhausen, Cage und Xenakis verbunden waren, wurden jetzt mit großem Ehrgeiz ausgiebig praktiziert: Bänder, die mit veränderter Geschwindigkeit oder rückwärts liefen, waren jetzt ebenso selbstverständlich wie in kleine Schnipsel aufgeteilte Bandteile, die wieder zufällig zusammen gefügt wurden. Geräusche aus Technik und Verkehr, aus der Natur oder auch bekannte Zitate aus der kurz zuvor noch so weit entfernten Klassik wurden in neue Pop-Songs integriert. Diese unbekümmerte Art von Grenzenlosigkeit und Tabubefreiung veränderte innerhalb kürzester Zeit das Gesicht der bis dahin so biederen und betont ›nur‹ unterhaltenden Beatmusik. Immer mehr gerierten sich die Beatles wie seriöse Komponisten oder Avantgarde-Mitglieder. Sie standen oft über Wochen für keinen Termin mehr zur Verfügung und schlossen sich bewusst in ihr Tonlabor ein, um ungestört von der zunehmend sich verändernden Welt mit Unruhen, Vietnamkrieg und Studentenprotesten ihre persönlichen Gedanken und Phantasien in Klänge umzusetzen. Selbst ihr langjähriger Manager Brian Epstein musste in dieser Zeit, kurz vor seinem Tode, verbittert feststellen, dass er die vier Musiker praktisch nicht mehr zu einer Präsentation oder einem Pressetermin bewegen konnte – es war nur noch die Arbeit an ihren musikalischen Werken, die für sie zählte.30 Was unterschied die Beatles in diesem Stadium dann noch von einem anerkannten seriösen zeitgenössischen Komponisten wie Karl Heinz Stockhausen, dessen Porträt sogar auf dem Cover von Sergeant Pepper’s zu finden ist? Dazu gehört vor allem der Einsatz von durchgehenden, schlichten Rhythmen und von markanten schnell beliebten Melodien aus der diatonischen Dur- und Moll-Welt. Der Einsatz dieser konventionellen musikalischen Mittel war der entscheidende Grund dafür, dass die Beatles nicht von einfachen Lieder-Sängern im Teenager-Alter zu bestaunten gereiften Komponisten der Neuzeit mutierten.31 Nur kurzfristig wagten 29 | Southall: Abbey Road, S. 84. 30 | Vgl. Barrow: John Paul George Ringo & Me, S. 232. 31 | Vgl. Ross: The Rest is Noise, S. 435. So schrieb 1953 Der Dirigent Hermann Scherchen an Henze in Bezug auf dessen Oper König Hirsch: »Aber mein Lieber, wir schreiben doch heute keine Arien mehr.«

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sie gelegentlich einen konsequenten Sprung in das weite Feld der ernsthaften musique concrete, als sie mit Aufnahmen wie Carnival of Light experimentierten oder auf ihrem Weißen Album mit Revolution No. 9 eine durchgehende Collage veröffentlichten. Aber jeder der Musiker, allen voran Paul McCartney, experimentierte für sich ausgiebig mit modernen Sounds, Instrumenten und Strukturen.32 Insgesamt fand, wie etwa Wicke später konstatierte, in den Augen vieler Kritiker dadurch auch eine Verschiebung statt von der bisherigen Musik-Betrachtung mit ihren rein kompositorischen Elementen wie Harmonik, Melodik und Rhythmik hin zu einer viel stärkeren Betonung der klanglichen Aspekte: Der Schwerpunkt verschob sich vom Was auf das Wie des Musizierens. Nicht mehr der Melodieverlauf als solcher oder seine rhythmische Organisation war entscheidend, sondern die konkrete Natur seiner klanglichen Präsenz. Songs fungierten bald nur noch als eine Art Gerüst und Aufhänger für die Sounds, mit denen sie realisiert wurden. 33

Anstöße und Entwicklungen Insofern ist es eine bemerkenswerte Entwicklung der Dinge, die hier im London der späten 1960er Jahre zu beobachten ist: Ausgerechnet eine von vielen Gitarren-Bands, die als schlichter Clubact mit Liedern und Standards aus dem Rock’n’Roll groß geworden war, erhielt auf Grund der enormen Gewinne, die sie erzielte, die Möglichkeit zu einer fast unbegrenzten Tonstudio-Nutzung. Da die Beatles gleichzeitig nicht mehr live spielen wollten, weil sie bei dem allgemeinen Geschrei, das auf ihren Konzerten herrschte, überhaupt keine Möglichkeit mehr hatten, miteinander musizieren zu können, entdeckten die vier Musiker in den folgenden Monaten fast zufällig, dass solch ein komplizierter Studiokomplex mit all seinen vielfältigen Möglichkeiten wie ein zusätzliches eigenständiges Instrument eingesetzt werden kann. Sie wuchsen in Folge daraufhin von einer spontanen Liveband zu einem komplex denkenden Team, das unterstützt von Produzenten und diversen Tontechnikern gemeinsam das Abenteuer, der Erforschung eines Tonstudios durchlebte. Gleichzeitig war damit das Ende ihrer bisherigen Karriere besiegelt, die überwiegend auf dem Konzertieren in einem Club, Halle oder Stadion basiert hatte. Angesichts des dramatischen gesellschaftlichen Wandels gerade innerhalb der Jugendgeneration bestand eh die Gefahr, dass aus den umjubelten Helden von gestern mit ihren simplen Songs belächelte Figuren von morgen würden, in einer Welt des progressiven Aufbruchs. Es war ein Schicksal, das ihre einstmals gefähr-

32 | Vgl. Peel: The Unknown Paul McCartney, S. 8. 33 | Wicke: Von Mozart zu Madonna, S. 259.

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lichsten Konkurrenten, die Beach Boys, genau in dieser Zeit und noch anschließend hautnah selber erleben sollten.34 Durch die Öffnung hin zu neuen musikalischen Perspektiven wurden die Beatles zu einem maßgeblichen Wegbereiter einer auditiven Richtung, in der es beispielsweise nicht länger nur eine und einzigartige, live aufgeführte Originalaufnahme gab. Der Wechsel der vier Musiker in ein Studio mit Mehrspurtechnik sorgte dafür, dass von nun ab die einzelnen Stücke zunehmend in akribischer Puzzlearbeit zusammengestellt und geformt wurden. Hier stand nicht länger eine eingeprobte Musikgruppe vor dem Mikrophon, die exakt das gleiche Repertoire auch abends im benachbarten Club hätte spielen können, sondern es wurde in langwierigen Verfahren, angeleitet durch den Produzenten, ein aus unterschiedlichsten Elementen kombiniertes Aufnahmeergebnis erzielt. Ein Konzept, das heute als ein historisch gewachsenes Verfahren innerhalb der Plattenindustrie gilt: »The producer has played a key part in the making of recorded music as a separate entity from musics that rely on the moment: Recordings are usually copies of an event that did not, precisely, happen.«35 Hier wurde im Endeffekt erreicht, was einem Pierre Schaeffer in einer völlig anderen Verbindung vorgeschwebt haben mag, als er forderte, dass innerhalb der Musique Concrete die zukünftige elektroakustische Musik nicht länger notenfixierte Partituren, sondern werkfixierte Aufzeichnungen als Grundlage haben soll: Experimentelle Musik im Sinne von Pierre Schaeffer basiert auf der Umkehrung des traditionellen Kompositionsverfahrens, das ausgeht von der abstrakten Vorstellung und diese in einer Notation fixiert, nach deren Maßgabe eine konkrete klangliche Realisierung entstehen kann. Schaeffer hingegen geht aus vom konkreten Klangphänomen, das als Schallaufzeichnung gespeichert ist und im Studio weiter verarbeitet werden kann, was die Bildung abstrakter musikalischer Zusammenhänge erlaubt. Die ›Musik im gewohnten Sinn‹, die sogenannte ›abstrakte‹ Musik, führt nach Schaeffer von der (geistigen) Konzeption über die Niederschrift zur instrumentalen Ausführung, während die von ihm begründete konkrete Musik ausgeht von der Bereitstellung von Klangmaterialien, diese im Stadium des Experimentierens und in Verbindung mit Skizzen aufarbeitet und auf dieser Grundlage eine (materielle) Komposition realisiert; die erstere Musik führt also vom Abstrakten zum Konkreten, die letztere vom Konkreten zum Abstrakten. 36

Weiter stellt Rudolf Frisius in einer Übersicht der Entwicklung der elektronischen Musik und der Musique Concrete fest: Populäre und avancierte Musik haben in den sechziger Jahren ihre gemeinsamen Produktionsbedingungen entdeckt – als Produkte des Tonstudios. Die Beatles 34 | Vgl. Wald: How the Beatles Destroyed Rock’n’Roll, S. 236. 35 | Blake: »Recording Practices and the Role of the Producer«, S. 51. 36 | Vgl. Frisius: »Experimentelle Musik in Frankreich«.

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V OLKMAR K RAMARZ montierten Tierstimmen in einen Song ihres wohl berühmtesten Schallplattenalbums ein, von dem sie schon frühzeitig wußten, daß seine Musik nur noch im Studio produziert, aber nicht mehr live aufgeführt werden konnte. Dies ermutigte sie in der Schlußnummer dieses Albums zu noch kühneren Klangexperimenten, die weit hinausführten über die Grenzen dessen, was in der alltäglichen Umwelt zu hören ist oder was Stimmen und herkömmliche Instrumente zu produzieren vermögen. 37

Dabei war dieses Studio ja nie als Tummelplatz für spitzzüngige, langhaarige und nur Unterhaltungsmusik spielende Jugendliche geplant oder intendiert, sondern vornehmlich als ein Studio für ernste Musik oder zumindest für anspruchsvolle musikalische Unterhaltung. Dies verdeutlicht auch die generelle Bevorzugung der ›echten‹ und vor allem ›populären‹ Klassik. Diese eingespielt etwa von einem Wunderkind wie Yehudi Menuhin, der bereits als 16jähriger dort in London erstmals seine Geige erklingen ließ und später in den Abbey Road Studios noch über 250 Werke aufnehmen sollte.38

F A ZIT Im Verlauf der späten 1960er veränderte sich im Bereich der Pop-Musik alles: Auf Grund der enormen Gewinne im Bereich Unterhaltende Musik speziell bei Bands wie den Beatles gab es für die jungen Musiker plötzlich die Möglichkeit der freien Verfügung über Studiozeiten und damit praktisch unbegrenzten Zugriff auf die gesamte Studioperipherie. Im Zuge der Ausweitung aller Möglichkeiten ermöglichten die Beatles dann auch die Verbindungen zwischen bisher strikt getrennten Welten wie populärer Unterhaltungsmusik und elektronischer Musik. Warum gerade die Musique concrete, die Tapemusic und die Elektronik dabei im Vordergrund stand, dürfte nicht zuletzt auch ideologische Gründe gehabt haben. Die Urheber und Komponisten dieser Neuen Musik nach 1945 sahen sich zwar selbst in unmittelbarer Traditionsfolge von Beethoven bis Wagner, hatten aber bis dahin auf Grund der weitgehenden Unverkäuflichkeit ihrer Werke praktisch keinen Zutritt zu den großen kommerziellen Studios wie etwa den EMI-Studios in der Abbey Road gefunden. Doch in ihren Arbeiten hatten sie vehement einen bis dahin noch nicht gekannten Freiheitswillen ausgedrückt: »Schlüsselbegriff in Darmstadt war [...] ›Freiheit‹. Nach Jahrhunderten untertäniger Abhängigkeit von Kirche und Adel, Bürgertum und Massenpublikum konnten Komponisten endlich tun und lassen, was sie wollten.«39

37 | Frisius: »Die Wiedergeburt der Musique concrete – die 60er Jahre«. 38 | Wikipedia: »Abbey Road Studios«. 39 | Ross: The Rest is Noise, S. 434.

D IE E NT WICKLUNG DER R ECORDING C ULTURE

Und speziell diese Verbindung von innovativen, progressiven Einflüssen, gepaart mit hämmernden Rhythmen und Dur-/Moll-Tonalität aus der kommerziellen Pop-Musik, wird dann in der Folge als Rezept weltweit aufgegriffen und rasch weiter entwickelt werden. Vieles von dem, was wir heute unter den Begriffen Electronic, Disco, Rap und Techno kennen, hatte damit hier, speziell bei der Arbeit der Beatles in diesem Londoner Studiokomplex, seinen allerersten vorsichtigen Ursprung. Vor allem aber sorgten die Beatles auf Grund ihrer ungeheueren Popularität dafür, dass Experimente dieser Art auch wirklich von einer großen Hörerschar weltweit wahrgenommen wurden. Das war etwas, was der Neuen Musik in diesem Umfang bisher verwehrt geblieben war. Vielleicht bleibt insofern die Frage, wie anders wohl alles gekommen wäre, hätten sich die Beatles damals nicht in die Abbey Road Studios zurückgezogen, um dort ihre Musik, angefangen bei schlichten Songs wie Love Me Do und Can’t Buy Me Love zu immer komplexeren Werken à la Tomorrow Never Knows, Revolution No. 9 oder Day in the Life hin zu entwickeln. Würde die Pop-Musik unserer Tage, würde die Welt dann so klingen, wie sie heute klingt?

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A BBILDUNGEN Abb. 1: Die Straßenfront des EMI-Studiokomplex in der Abbey Road, London, Foto: Isabell Schulz, CC BY 2.0. Abb.  2: Der junge Karl-Heinz Stockhausen 1960 im Studio des WDR, Köln. Mit freundlicher, schriftlich erteilter Genehmigung der Stockhausen-Stiftung für Musik.

Schleifen knüpfen, Klangobjekte identifizieren Auditive Techniken in Pierre Schaeffers Musique Concrète und Walter Murchs Sound Design von THX 1138 Jan Philip Müller

D ER S TEIN VON R OSE T TA Es gibt so etwas wie genealogische Spuren von Verweisen und Übertragungen zwischen den Theorien und Praktiken der Musique Concrète einerseits und gewissen Verschiebungen im Umgang mit Filmtonspuren, die sich an Begriffen wie Sound Design und Film Sound Studies festmachen lassen, andererseits. Eine Stelle im Vorwort des Sound Designers Walter Murch zur englischen Übersetzung des Buchs Audio-Vision von Michel Chion soll hier den Ausgangspunkt einiger Überlegungen zu der Frage bilden, was sich mit diesen Spuren anfangen ließe. Murch schildert dort eine Begebenheit aus seiner Kindheit: One evening […] I returned home from school, turned on the radio in the middle of a program, and couldn’t believe my ears: sounds were being broadcast the likes of which I had only heard in the secrecy of my own little laboratory. As quickly as possible, I connected the recorder to the radio and sat there listening, rapt, as the reels turned and the sounds became increasingly strange and wonderful. It turned out to be the Premier Panorama de Musique Concrète, a record by the French composers Pierre Schaeffer and Pierre Henry, and the incomplete tape of it became a sort of Bible of Sound for me. Or rather a Rosetta stone, because the vibrations chiseled into its iron oxide were mysteriously significant and powerful hieroglyphs of a language that I did not yet understand but whose voice nonetheless spoke to me compellingly. And above all told me that I was not alone in my endeavors.1 1 | Murch: »Foreword«, S. xiv. Murch hat diese Geschichte (die sich irgendwann zwischen 1953 und 1958 begeben haben müsste) mehrfach wiederholt.

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Klar ist: Es geht hier um Überlieferungsgeschichte. Murch erzählt das nicht ganz zufällig im Vorwort gerade dieses Buchs: Michel Chion selbst könnte nämlich ein Schüler von Pierre Schaeffer genannt werden. Bevor er 1990 mit Audio-Vision ein sehr einflussreiches Buch zum Ton im Film veröffentlicht, tritt er als Autor einer Systematisierung der Theorien von Pierre Schaeffer, dem Guide des Objets Sonores in Erscheinung. Aber: Was hat es mit jenen »auf mysteriöse Weise bedeutsamen und mächtigen Hieroglyphen« auf sich, die, von Schaeffer hinterlassen, vom Radio übertragen und im »heimlichen« Labor Murchs in Eisenoxid »gemeißelt« werden? Der Rosettastein in dieser Szene erinnert daran, dass Übersetzungen eine komplizierte Angelegenheit sind. Auf den Wegen der Übertragungen und Übersetzungen kann einiges passieren. Übersetzer werden deswegen oft auch Verräter genannt.2 Deswegen soll Genealogie hier gerade nicht heißen, im Sound Design dessen eigentlichen Ursprung Musique Concrète freizulegen,3 sondern nachzuzeichnen, was zwischen beiden geschieht. Wenn hier also nach den Übergängen von Musique Concrète zu Filmton gefragt wird, so lassen sich dabei erst einmal zwei verschiedene Linien auseinanderhalten: Auf der einen Seite gibt es hier einen Diskurs über Klang4: Wie lässt sich Hörbares beschreiben, etwas darüber aussagen? Darum geht es beim Begriff ›Klangobjekt‹, dessen Einsatz durch Pierre Schaeffer hier in Grundzügen rekonstruiert werden soll. Diese diskursive Linie verläuft von Pierre Schaeffers Texten ab ca. 1950 über Michel Chion und die Film Sound Studies5 bis hin zu heutigen Versuchen, zu fassen, was da eigentlich passiert im amerikanischen Film seit den 1970er Jahren und für das der Begriff ›Sound Design‹6 eine zentrale Rolle spielt. Und in Vgl.: Behnke: »Interview: Walter Murch«, S. 93 f.; Ondaatje: Die Kunst des Filmschnitts, S. 7, und LoBrutto: »Walter Murch«, S. 84. 2 | Vgl. Law: »Traduction/Trahison«. 3 | Zur Genealogie als Gegenstück zur Suche nach dem Ursprung, vgl. Foucault: »Nietzsche, die Genealogie, die Historie«. 4 | Klang soll hier und im Folgenden Hörbares oder den Bereich des Hörbaren im weitesten Sinne bezeichnen, nicht etwa im Sinne von Klang als Abgrenzung zu Geräusch oder Ton. 5 | Für einen Überblick über das Feld insbesondere der amerikanischen Film Sound Studies seit den 1980er Jahren sei auf die Sammelbände bzw. die Themenhefte folgender Zeitschriften verwiesen: Yale French Studies, »Cinema/ Sound«; Weis/Belton: Film Sound; Altman: Sound Theory, Sound Practice; Iris. A Journal of Theory on Image and Sound, »The State of Sound Studies«. 6 | Der Begriff Sound Design taucht zuerst in den Credits des Films Apocalypse Now auf, um die Arbeit Walter Murchs zu beschreiben. Retrospektiv lassen sich jedoch bestimmte technische und ästhetische Veränderungen der Filmtonspur schon in den späten 1960er und frühen 1970er Jahre bemerken, die im Zusammenhang mit dem verstanden werden können, was später Sound Design heißen wird. Vgl. Whittington: Sound Design and Science Fiction, S. 17-38. Elizabeth Weis und John Belton weisen auf die Korrespondenzen zwischen diesen Tenden-

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diesem Zusammenhang taucht auch der Begriff ›Klangobjekt‹ wieder auf, prominent zum Beispiel in Barbara Flückigers Buch Sound Design von 2001, hier als ›Unidentifizierbares Klangobjekt (UKO)‹.7 Auf der anderen Seite gibt es aber auch eine Genealogie der Techniken und Praktiken: Wie wird mit Klang verfahren? Wie und in welchen Umgebungen wird Klang gehört? Wie werden dabei Schallplatten, Mikrofone, Tonbänder, Lautsprecher und andere technische Medien verwendet? Diese technische Linie würde von der Musique Concrète Pierre Schaeffers seit den späten 1940er Jahren über Radio und Tonband zum Film Sound Design und Walter Murch führen, um dessen Arbeit an der Tonspur des Films THX 1138 von 1971 es hier insbesondere gehen soll. In den epistemologischen Problemen der Identifikation des Klangobjekts sind aber Diskurse und Techniken derart miteinander verknüpft, dass diese beiden Linien nicht so leicht voneinander zu trennen sind. So sind die Beschreibungen dessen, was ein Klangobjekt sei, abhängig von Verfahren, durch die Hörbares isoliert, aufgezeichnet oder hergestellt und so für eine Beschreibung dingfest gemacht werden kann. Und andersherum sind die jeweiligen auditiven Praktiken eingebettet in Diskurse, die die Identität von Klangobjekten als Gegenstände eines Diskurses regeln, die beispielsweise bestimmen, wann ein auditives Ereignis die Wiederholung desselben Klangs ist und wann nicht, durch welche Techniken diese Identität garantiert werden kann und durch welche nicht, welche Eigenschaften einem Klangobjekt wesentlich sind und welche akzidentiell. Wenn im Sound Design Murchs die Klangobjekte der Musique Concrète in den Tonfilm übertragen werden, transformieren sich gerade solche Logiken ihrer Verknüpfung. Dabei werden bestimmte Heterogenitäten und Mehrdeutigkeiten von Klängen deutlich (ähnlich den Hieroglyphen, die mal Ikonogramme, mal Phonogramme sein können8), die die Identität von Klangobjekten und damit die Grundlage von Schaeffers Klangwissenschaft, problematisch erscheinen lassen. Von Schaeffers Entwurf des Klangobjekts aus gesehen ließe sich dann sogar sagen, dass die spezifischen Effekte des Sound Design in THX 1138 dort wirksam werden, wo Probleme der Identifikation von Klangobjekten gewissermaßen selbst wiederum in die Tonspur eingespeist werden. Auch wenn es hier konkret um Filmton gehen soll, lassen sich, so scheint mir, ähnliche Probleme an verschiedenen Stellen wiedererkennen, wenn es um die Möglichkeit einer Wissenschaft des Klangs oder des Auditiven geht.9 An solchen Stellen der Übersetzungen und Übertragunzen und einem neuen akademischen Interesse am Film Sound in den 1980er Jahren hin. Vgl. Weis/Belton: »Preface«, S. x. 7 | Vgl. Flückiger: Sound Design, S. 126-130. 8 | Zu möglichen Produktivitäten der Übersetzungen von Hieroglyphen, vgl. Gaderer/Morenz: »Schriftgeschichte als (Miss)verständnis«. 9 | Diese Wendung ist angeregt von den Überlegungen W. J. T. Mitchells zum Pictorial Turn, der die Gegenüberstellung von Erwin Panofskys Ikonologie und Louis Althussers Beschreibung der Ideologie (insofern lehnt sich auch das Vorgehen

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gen, an denen die Identifizierung von Klang nicht abgeschlossen sondern kompliziert wird, könnte eine Geschichte – oder Archäologie10 – der Medien einsetzen, um die Weisen zu beschreiben – und zu kritisieren – auf die sich in auditiven Medienkulturen Diskurse, Techniken und Hörbares zueinander verhalten.

K ONKRE TE M USIK Im Jahr 1948 produziert Pierre Schaeffer die Études de Bruits – also: Geräusch-Etüden; oder aber auch: »Geräuschstudien«11 – für die er 1950 in einem Artikel in der Zeitschrift Polyphonie den Begriff »konkrete Musik« verwendet.12 Von Anfang an wird dabei deutlich, dass es hier nicht darum geht, einfach eine neue Musik um der Musik willen zu machen, nicht nur um einen neuen musikalischen Stil, sondern auch um eine »Recherche«13 , eine epistemologische Unternehmung.14 Insbesondere im Traité des Objets Musicaux (1966) und im Solfège de l’Objet Sonore (1967) entwirft er im Anschluss daran eine Theorie und eine Taxonomie des Klangobjekts sowie eine Anleitung zum Hören und Bearbeiten von Klang. Oder, anders gesagt: Mit der Formulierung eines Vokabulars zur Benennung der Eigenschaften von Klangobjekten und der Einübung auditiver Techniken, die diese Eigenschaften hören lassen, kommen hier diskursive und technische Strategien auf eine spezifische Weise zusammen. Den Ausgangspunkt dieser Unternehmung aber bilden bestimmte technische Medien: das Radio und die Schallplatte bzw. später das Tonband. Im Großen und Ganzen stehen dabei für Schaeffer und die Musique Concrète zunächst zwei Aspekte dieser Medien im Mittelpunkt: Erstens sind diese Medien – um einen Begriff Schaeffers zu verwenden – ›akusmatische‹ Medien, was grob gesagt bedeutet, dass sie die Quelle des Klangs unsichtbar machen. Zweitens erlauben Schallplattenspieler und Tonbandgeräte jeweils charakteristische Verfahren der Zeitachsenmanipulation15, wie die Veränderung der Geschwindigkeit oder der Abspielhier lose an Mitchells Text an) ähnlich beschließt. Vgl. Mitchell: »Der Pictorial Turn«, S. 36. 10 | Vgl. Deleuze: Foucault, dabei besonders das Kapitel: »Die Schichten oder historischen Formationen: Das Sichtbare und das Sagbare«, S. 69-98. 11 | Schaeffer: Musique Concrète, S. 21. 12 | Schaeffer: »Introduction à la Musique Concrète«. Teile dieses Textes finden sich auch umgearbeitet wieder in: Schaeffer: A la Recherche d’une Musique Concrète, S. 11-36. 13 | Schaeffer: »Introduction à la Musique Concrète«, S. 30. 14 | »I’m in the dictionary as a musician. It makes me laugh. A good researcher is what I am.« Hodgkinson: »An Interview with Pierre Schaeffer«. 15 | Zum Thema der Zeitachsenmanipulation, vgl. Kittler: »Real Time Analysis, Time Axis Manipulation«.

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richtung, das Heraustrennen ausgewählter Zeitabschnitte und Wiederholungen; und das auf derselben Materialebene – der Schallplatte oder dem Tonband –, auf der die vorgefundenen Klänge sich gewissermaßen selbst aufgezeichnet haben.

G LOCKEN SCHNEIDEN & R ILLEN SCHLIESSEN Zwei Experimente bzw. Verfahren werden häufig als wegweisend für die »Entdeckung« der Musique Concrète genannt: Erstens die Cloche Coupée (abgeschnittene Glocke) und zweitens der Sillon Fermé (geschlossene Rille).16 Sie sollen hier genauer beschrieben werden, weil sich an ihnen eine Bewegung des Klangobjekts nachzeichnen lässt, auf die es hier ankommen soll. Dieses Objekt muss nämlich zunächst fragmentiert, herauspräpariert, isoliert werden, um als Gegenstand der Untersuchung, aber auch der ästhetischen Verwendung mit neuen Anordnungen vernetzt und stabilisiert werden zu können.

Cloche Coupée Glockenklänge sind tatsächlich ein gutes Beispiel dafür, wie Klänge »gewöhnlich«17 identifiziert werden. Erstens neigen sie dazu, unmittelbar mit dem in eins gesetzt zu werden, was den Klang erzeugt: Man hört eigentlich gar nicht den Klang, sondern gleich durch den Klang hindurch das, auf das dieser Klang indexikalisch verweist, die kausale Ursache des Klangs: Man hört eben eine Glocke klingen. Und zweitens lassen sich viele Dinge, besonders Musikinstrumente oder Glocken, hauptsächlich anhand der sogenannten Einschwingvorgänge erkennen, d. h. an jenem ersten chaotischen Moment, nachdem eine Glocke angeschlagen wurde, bevor sich regelmäßige Schwingungen einstellen.18 Schaeffer schneidet nun in der Aufnahme genau diesen Zeitbereich des Einschwingens weg, sodass sich der

16 | »A number of historical circumstances has led to the notion of the sound object. First, the initial discoveries of ›musique concrète‹ with its two inaugural experiments: the closed groove and the cut bell; then, the awareness of a listening situation, not new, but whose originality had never been identified or given a specific name; the acousmatic situation.« Chion: Guide to Sound Objects, S. 11 [entsprechend im französischen Originaltext: Chion: Guide des Objets Sonores, S. 18. Im Folgenden werden die Seitenzahlen des französischen Texts jeweils in eckigen Klammern angegeben]. Vgl. auch: Schaeffer: Traité des Objets Musicaux, S. 391. 17 | Chion: Guide to Sound Objects, S. 25 [29] [hier, sowie wenn im Folgenden aus Guide to Sound Objects zitiert wird, sind die Übersetzungen ins Deutsche von mir, jpm]. 18 | Dazu (und auch allgemein zu einer Kultur- und Mediengeschichte des Glockenklangs) vgl. Siegert: »›Erzklang‹ oder ›missing fundamental«, S. 9 f.

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Klang einer Glocke von dem einer Oboe kaum noch unterscheiden lässt.19 Derartige Operationen der Verfremdung des Klangs durch Zeitachsenmanipulation und Fragmentierung scheinen hier also zunächst nur noch einmal das zu verstärken, was nach Schaeffer im Akusmatischen prinzipiell schon angelegt ist, das »Experiment der Unterbrechung«20 eines kausalen Hörens. Indem das selbstverständliche Wiedererkennen der Klänge aus ihren gewöhnlichen Deutungskontexten heraus gestört wird, verweist der Klang auf sich, auf seine klanglichen Qualitäten zurück.

Sillon Fermé Obwohl sie auf der Basis sich drehender Bauteile funktionieren, so sind doch Plattenspieler und Tonbandgeräte in der Regel Apparate, die eine linear ablaufende Zeit (in einer Spirale oder einem aufgewickelten Band) aufzeichnen und wiedergeben, in der sich dann Schall ereignen kann. Genau diese Linearität von Tonband und Plattenspieler setzt der Sillon Fermé außer Kurs, indem die Rille der Schallplatte nach einer Umdrehung in einem Kreis geschlossen wird und sich so in der Wiedergabe laufend wiederholt.21 In dieser Wiederholungsschleife des immer gleichen Klangfragments soll die Neugier nach einer Ursache des Klangs, aber auch danach, was der Klang (als gesprochene Sprache, als Tonsignal, etc.) möglicherweise bedeutet, erschöpft und dadurch die Aufmerksamkeit auf das Hören des Gehörten selbst verlagert werden. In jeder Wiederholung können sich so neue Aspekte dieses Gehörten eröffnen.22 Die Rhetorik Schaeffers etwas zuspitzend ließe sich auch sagen: Im Sillon Fermé reißt sich die Klangmaterie von den Fesseln der alltäglichen und konventionali19 | Zur Cloche Coupée, vgl. Chion: Guide to Sound Objects, S. 13 f. [20]; Schaeffer: A la Recherche d’une Musique Concrète, S. 14 f. und 21 f. 20 | Chion: Guide to Sound Objects, S. 14 [20], verweisend auf Schaeffer: Traité des Objets Musicaux, S. 391. 21 | Zum Sillon Fermé, vgl. Schaeffer: Musique Concrète, S. 23; Schaeffer: A la Recherche d’une Musique Concrète, S. 39-42. 22 | Vgl. Chion: Guide to Sound Objects, S. 13 [20]. Zum Verhältnis Wiederholung-akusmatisches Hören, siehe Schaeffer: Traité des Objets Musicaux, S. 93 f. Geschlossene Rillen finden sich übrigens auch als musikethnologisches Verfahren bei Erich von Hornbostel. Interessant ist daran besonders die verschobene Bewegung von Identifizieren, Fremdmachen und Objektivieren, zwischen Rillenschrift des Phonographen und Notenschrift: Während bei Schaeffer mit Hilfe der geschlossenen Rille das Gehörte herausgerissen werden soll aus einem normalen europäischen Hören und dem dahinterliegenden System der Notenschrift, soll das gleiche Verfahren hier dazu dienen, die fremden, weil außereuropäischen Klänge messbar und anschreibbar zu machen. Vgl. Hornbostel/Abraham: »Vorschläge für die Transkription exotischer Melodien«, S. 139. Vielen Dank an Julia Kursell für den Hinweis auf Hornbostels Aufsatz und an Axel Volmar für einen kurzen aber erhellenden Wortwechsel zu diesem Thema.

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sierten Hörmuster los und wird so zum »rohen«23 Ausgangsmaterial von Musique Concrète. Tatsächlich spannt sich mit der Wiederholung (bzw. der Wiederholbarkeit) akustischer Ereignisse im Sillon Fermé über diese Ablösungsbewegung hinaus auch schon das Gebiet eines Hörens auf, das seine Dimensionen nur aus dem Insverhältnissetzen von Klang mit Klang beziehen soll und das sozusagen den Grund bildet, auf dem sich die Figur eines spezifischen Klang-Objekts abzeichnet.

Klangobjekt Das Verfahren Sillon Fermé produziert selbst schon Musique Concrète. In der laufenden Wiederholung des immer gleichen Klangfragments wird es rhythmisiert und so zu Musik, aber zu konkreter Musik, denn, so erläutert Schaeffer seine Namensgebung, anstatt wie normalerweise von einer abstrakten Konzeption zur Aktualisierung, d. h. zur Vertonung fortzuschreiten, verläuft sie vom konkreten aufgenommenen Klangmaterial zur Komposition.24 Durch ihre Wiederholbarkeit können Klangfragmente außerdem in verschiedenen Variationen sowie Kombinationen und Rekombinationen mit anderen Klangfragmenten komponiert werden. Damit entzieht sich diese »konkrete Musik« der Logik herkömmlicher »abstrakter Musik«25, die von einem dahinterstehenden symbolischen Notensystem kontrolliert wird. Diese Verfahren eignen sich also um Musik zu machen. Aber gleichzeitig, und hier entspinnt sich Schaeffers Projekt der Recherche, lässt sich mit ihrer Hilfe das sogenannte »reduzierte Hören«26 entdecken, erlernen und einüben. Ein Hören, das den Klang selbst hört, weil es jeden Verweis auf alles, was nicht selbst wiederum Klang ist – sei dieser Verweis indexikalisch (verstanden als kausale Folge: eine Glocke klingt oder auch: eine Glocke hat sich aufgezeichnet), sei er symbolisch (verstanden als aus einem konventionellen System heraus bedeutend: Sprache, die etwas bedeutet, ein Klang, der von einer musikalischen Notenschrift und einer Harmonielehre reguliert wird)27 – »einklammert«28. 23 | Vgl. Chion: Guide to Sound Objects, S. 20 [25]. 24 | Vgl. Schaeffer: »Introduction à la Musique Concrète«, S. 51. 25 | Ebd. 26 | Schaeffer: Traité des Objets Musicaux, S. 154. Siehe auch: S. 270-272 und Chion: Guide to Sound Objects, S. 30 ff. [33 f.]. 27 | Auf die systematischen und historischen Beziehungen zwischen den strukturalistischen und semiotischen Zeichentheorien in der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg und der Musique Concrète soll hier nicht eingegangen werden, aber trotzdem zumindest auf die Diskussion zur fehlenden »doppelten Artikulation« in der Musique Concrète und dem damit zusammenhängenden Problem einer Vermittlung zwischen Sinnlichem und Intelligiblen verwiesen werden. Vgl. dazu: LéviStrauss: Mythologica I. S. 35-45, und Umberto Ecos Replik: Eco: Einführung in die Semiotik, S. 231-235 und S. 378-387. 28 | Vgl. Schaeffer: Traité des Objets Musicaux, S. 267.

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Die technischen Verfahren der Musique Concrète und das reduzierte Hören bilden nun den Zusammenhang, in dem sich ein spezifisches Objekt konstituiert, d. h. entdecken, untersuchen und identifizieren lässt: Das Klangobjekt. Das Klangobjekt funktioniert dort als eine Art Urmeter, als die Einheit, mit der das Gebiet des reduzierten Hörens, das seine Strukturierung durch ihm äußerliche Kriterien abgeworfen hat, wiederum durchmessen werden kann. Die Wiederholung bzw. die Wiederholbarkeit ermöglicht dabei die Synthese der »Ströme auditiver Eindrücke«29 zu einem selbstidentischen Klangobjekt, das »die individuellen Erfahrungen transzendiert«30, wie Schaeffer, eine Wendung Edmund Husserls aufgreifend, schreibt. An der Wiederholbarkeit hängt also bei Schaeffer die Auflösung des grundsätzlichen Problems eines originären auditiven Objekts, das einerseits, als auditives Objekt – nicht einfach unabhängig von seinem Gehörtwerden, sozusagen in der Welt da draußen – existieren soll, das aber andererseits nur als Objekt, als etwas, das gerade nicht nur ein jeweils einmaliges subjektives Erlebnis sein soll, sondern in verschiedenen Situationen derselben Person andere, neue Aspekte seiner selbst hören lassen und für verschiedene Personen den stabilen Bezugspunkt eines intersubjektiven Diskurses bilden kann.31 In der Komposition – den Variationen und Rekombinationen – wird das Klangobjekt dann zu einem relationalen Element in Assemblagen verschiedener Klangobjekte, die dort, wo sie aufeinandertreffen, ihre verschiedenen Seiten zeigen – das, was sie selbst als Klangobjekte ausmacht. Denn in den Differenzen zwischen den verschiedenen Klangobjekten werden verschiedene Qualitäten hörbar, die Klang haben und sich dadurch von anderen Klängen unterscheiden kann.

M Y OWN LIT TLE L ABOR ATORY Die Rede Walter Murchs vom Labor und die Pierre Schaeffers von der Recherche aufgreifend ließen sich diese Zusammenhänge auch als »Experimentalsystem« auffassen, insofern hier eine ähnliche Logik der Forschung als Dynamik der Destabilisierung und Stabilisierung zwischen »epistemischen Dingen« und »technischen Objekten« zum Tragen kommt, wie sie Hans-Jörg Rheinberger anhand der Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas beschrieben hat.32 Was Rheinberger dort umreißt, ist ein Verhältnis zwischen epistemischem Ding, das heißt: die

29 | Ebd., S. 269 [meine Übersetzung, jpm]. 30 | Ebd. 31 | Insofern idealisiert sich dabei das Klangobjekt gleichzeitig. Vgl: Kane: »L’Objet Sonore Maintenant: Pierre Schaeffer«, S. 20. 32 | Vgl. Rheinberger: Experimentalsysteme und epistemische Dinge, S. 24-30.

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offene Frage, oder: dasjenige, dem die »Anstrengung des Wissens«33 gilt, und technischen Objekten, also jene stabilisierten Randbedingungen, die Werkzeuge und Instrumente, die die Wissensobjekte in doppelter Hinsicht determinieren: »Sie bilden ihre Umgebung und lassen sie erst als solche hervortreten, sie begrenzen sie aber auch und schränken sie ein.«34 Um nun genauer zu fassen, worum es bei Schaeffers Modellierung des Klangobjekts geht, könnte mit Rheinberger dann besser von »stabilen Identitätsbedingungen«35 der Untersuchung von Klang gesprochen werden als von einer Identität des Klangobjekts, in der alle seine Eigenschaften schon vor jedem Hören und für immer feststünden. Das Klangobjekt soll gerade nicht vorzeitig beendet werden, im Sinne einer eindeutigen Festschreibung. Deswegen wird die herkömmliche Identifizierung der Klänge in der Cloche Coupé und im Sillon Fermée unterbrochen – destabilisiert – und können so zu einem epistemischen Ding, einer offenen Frage werden. Zwischen dem Hören und den Verfahren der Musique Concrète sollen sich ja immer neue Aspekte des Klangobjekts enthüllen.36 Trotzdem findet hier eine Entscheidung statt, denn durch das Fest-Stellen der »Umgebung« (d. h. des Hörens und Bearbeitens von Klang) schließen sich die von Schaeffer aufgespannten Dimensionen eines reinen Klangs, in denen Eigenschaften von Klangobjekten sich nur aus dem Bezug auf andere Klangobjekte herleiten sollen. Und gerade diese Schließung produziert intern Differenzen, sie eröffnet – und darin besteht eben das Projekt der Musique Concrète – das Klangobjekt auf seine Zukunft hin. So kann sich das Klangobjekt in jeder neuen Zusammenstellung mit anderen Klangobjekten oder durch Variationen der Hörintention tendenziell auf eine neue Weise verhalten, anstatt wie im gewöhnlichen Hören normalerweise mit der Identifikation von etwas, das durch den Klang hindurch gehört wird (z. B. eine Glocke), beendet zu werden. Voraussetzung dafür ist aber, dass überhaupt das selbe Klangobjekt wiederholt Gegenstand des Hörens werden kann.37

33 | Ebd., S. 24. 34 | Ebd., S. 26. 35 | Ebd., S. 29. 36 | »Widely used in musique concrète during this period, the closed groove led to an awareness of the sound object and reduced listening: how, indeed, could this sound fragment be described in itself, when the ›causal‹ and anecdotal perception was soon over and when it presented itself to the listener as an ›object‹, always identical yet always capable of revealing new characteristics when heard over and over again?« Chion: Guide to Sound Objects, S. 13 [20]. 37 | »Um zu neuen Dingen vorzustoßen, muß das System destabilisiert werden – doch ohne vorherige Stabilisierung produziert es nur Geräusch.« Rheinberger: Experimentalsysteme und epistemische Dinge, S. 83.

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Abb. 1: Das erste Studio der von Pierre Schaeffer gegründeten Groupe de Recherches Musicales (GRM) in der Rue de l’Université, Paris, 1960.

Was ist kein Klangobjekt? Das Klangobjekt kann von hier aus also als die Stelle verstanden werden, an der sich Klang nicht nur von den Dispositiven und Registern abhebt, in denen Klang herkömmlicherweise gehört, organisiert und untersucht wird, sondern auch von denselben Techniken, die es selbst erst haben hörbar werden lassen. Für die Konstitution des Klangobjekts als epistemisches Ding ist es eben notwendig, dass, mit Rheinberger gesprochen, die »Umgebung«, in der es »hervortritt«, aus dem Klangobjekt ausgeschlossen und in den Bereich der technischen Objekte, also der bloßen Werkzeuge und Instrumente verwiesen wird. Entsprechend finden sich bei Schaeffer und besonders explizit in Chions Rekapitulation des Traité Aufzählungen, was ein Klangobjekt nicht ist:38 • •





»The sound object is not the sound body«39, also nicht das, was klingt, die Quelle des Klangs (Glocken, Oboen, Hunde, Lautsprecher). »The sound object is not the physical signal«, denn das Signal ist nur ein Messwert, das Klangobjekt aber korreliert nur auf eine jeweils spezifische Weise mit diesem Signal, die, wie Schaeffer betont, nichtlinear ist. »The sound object is not a recorded fragment.« Denn auf einem Stück Tonband zum Beispiel lassen sich eventuell zwei oder mehrere Klangobjekte identifizieren, deren Gestalten sich gewissermaßen in sich zurückziehen. »The sound object is not a notated symbol on a score: For the same

38 | Vgl. Schaeffer: Traité des Objets Musicaux, S. 95-98; Chion: Guide to Sound Objects, S. 32 f. [34 f.]. 39 | Chion: Guide to Sound Objects, S. 32 [34].

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reason it is not the same as the more or less accurate written symbol which ›notates‹ it.« Denn das notierte Symbol abstrahiert von der konkreten Erfahrung, und wäre dann nicht mehr zukunftsoffen. »The sound object is not a state of mind«. Vielmehr definiert Schaeffer das Klangobjekt als die »Begegnung einer Hörintention und einer akustischen Aktion«40, und insofern es so »individuelle Erfahrungen transzendiert«41 , kann das Klangobjekt Objekt der Referenz eines Diskurses und damit Gegenstand einer systematischen Untersuchung werden.

In dieser negativen Definition des Klangobjekts wird auch deutlich, wie Schaeffer, um eine eigene Wissenschaft vom Klang zu begründen, deren Hoheit besonders gegen jene Felder behaupten muss, die er vorfindet: Die Musik, die Psychologie der Klangwahrnehmung sowie die akustische Medien- und Messtechnik. Und mit der Montage, den Reihungen und Zusammenfügungen von Klängen droht sich die Musique Concrète in eine weitere Richtung zu öffnen, die Schaeffer vermeiden will: Klang als Bild oder Metonymie seiner Quelle, durch das die Montage dann anekdotisch und gewissermaßen literarisch zu werden droht.42

Das Nicht-es-selbst-Werden des Klangobjekts beenden Wie schon angedeutet, bezieht sich Schaeffers Argumentation, die das Klangobjekt als verweislos zu konstituieren sucht, auf bestimmte Überlegungen Edmund Husserls, dessen Phänomenologie eine Begründung von Wissenschaft allgemein bilden sollte. Tatsächlich leitet Schaeffer seinen Objektbegriff im Traité ganz explizit von Husserl her und beschreibt entsprechend die Konstitution des Klangobjekts durch das Ausklammern bestimmter Deutungskontexte mit den Husserlschen Begriffen der Re-

40 | Ebd., S. 27 [30], dabei zitierend: Schaeffer: Traité des Objets Musicaux, S. 271. 41 | Ebd., S. 32 [34], verweisend auf Schaeffer: Traité des Objets Musicaux, S. 269. 42 | Vgl. Schaeffer: Musique Concrète, S. 23. Tatsächlich wäre die Frage nach einer Bildhaftigkeit von Geräuschen und danach, ob Tonbandaufnahmen nicht als Abbild des aufgezeichneten Klangs verstanden werden müssen, ein weitere Linie, die sich durch das Verhältnis Musique Concrète-Filmton legen ließe. Ausgangspunkt könnten dabei Schaeffers Bezugnahmen auf abstrakte, nicht-figurative Malerei sein (vgl. z. B. Schaeffer: »Introduction à la Musique Concrète«, S. 51.), die sich dann auch in seinen Überlegungen zum Bild-Ton-Verhältnis im Tonfilm wiederfinden lässt (vgl. Schaeffer: »Le Contrepoint du Son et de l’Image«, S. 14.). Andererseits wurde die Frage, ob der Ton im Kino ein Abbild des aufgenommenen Tons oder der Ton selber in den filmtheoretischen Diskussionen zum Status des Tons im Film immer wieder aufgegriffen (vgl. Levin: »The Acoustic Dimension«).

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duktion und der Epoché. 43 Es ließe sich also womöglich – in Anlehnung an die dekonstruktive Lektüre Husserls, die Jacques Derrida unternommen hat 44 – sehr grundsätzlich fragen, wie Schaeffer hier Unterscheidungen und Begrenzungen einführen muss, die weitergetrieben dann selbst laufend die Identität des Klangobjekts gefährden, weil diese Selbstidentität nur durch irgendeine Art von Verweisungsstruktur d. h. eine Heterogenität innerhalb des Klangobjekts denkbar ist und so das Klangobjekt etwas, das gerade nicht Klangobjekt sein soll (eine Quasi-Quelle, -Bedeutung, -Aufzeichnung oder -Notation) in sich einschließt. Dagegen sollen hier jedoch nur zwei Probleme umrissen werden, die konkret wiederum kritisch werden, wenn im Tonfilm ein Bild zum Klang dazukommt. Das betrifft zum einen die Logik eines kausalen, indexikalischen Hörens, in der Klang sich fest an ein – im Zweifelsfall sichtbares – Objekt bindet, sich quasi als Eigenschaft in dieses Objekt integriert: Ich höre eine Glocke klingen, einen Hund bellen oder einen Menschen sprechen. Zum anderen betrifft das die symbolischen Strukturen, die Register, in denen Klang jeweils als etwas Bedeutendes interpretiert wird, und damit wiederum etwas anderes wird als »Klang selbst«: Ich höre Musik, Sprache oder Geräusche. Bezüglich des kausalen Hörens, insofern es auf klingende Dinge verweist, die mit dem reduzierten Hören aus dem Klangobjekt ausgeklammert werden sollen, wäre zu fragen, ob es nicht in einer verschobenen Weise letztlich die gleiche indexikalische Logik ist, die gleichzeitig erst die Voraussetzung der Identität eines reinen Klangobjekts bildet. Ob es nicht doch irgendetwas geben muss, das bei einer Wiederholung des Klangobjekts dessen Identität als dasselbe garantiert, etwas das als Ursache hinter dem jeweiligen Klangereignis steht, etwas, das stabil bleibt. Das müsste dann nicht unbedingt ein Ding im engeren Sinne sein (eine Glocke, ein Hund, ein Mensch), aber eben irgendetwas. Wie dargestellt nimmt die Ablösung des Klangobjekts von den sichtbaren Objekten

43 | »For years, we have been doing phenomenology without realising it […] It is only after the event that we recognized in Edmond Husserl’s heroically rigorous definition the concept of the object postulated in our research.« Schaeffer: Traité des Objets Musicaux, S. 262, hier zitiert nach: Chion: Guide to Sound Objects, S. 29 [32]. Zum Verhältnis Klangobjekt–Phänomenologie vgl. Schaeffer: Traité des Objets Musicaux, S. 261-272 und die Kritik Brian Kanes: Kane: »L’Objet Sonore Maintenant«; Kane: »L’Objet Sonore Maintenant: Reflections on the Philosophical Origins of Musique Concrète«. 44 | Brian Kane hat diese Möglichkeit angedeutet, vgl. Kane: »L’Objet Sonore Maintenant: Pierre Schaeffer, Sound Objects and the Phenomenological Reduction«, S. 20 (dabei verweist er auf: Derrida: Die Stimme und das Phänomen), sowie Kane: »L’Objet Sonore Maintenant: Reflections on the Philosophical Origins of Musique Concrète«, S. 60.

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Abb. 2: Das 1973 von François Bayle konzipierte »Acousmonium« der Groupe de Recherches Musicales (GRM) am Maison de Radio France, Paris, 1980. Ein »Theater of Noise«? seinen Schwung in medienhistorisch verortbaren technischen, akusmatischen Medien wie dem Tonband auf, die eine solche Identität in der immer wieder abspielbaren Aufzeichnung (mit Murch gesprochen: die in »Eisenoxid gemeißelten Vibrationen«) vor seiner Erfahrung, seiner Beschreibung, seiner symbolischen Notation festzuhalten versprechen. Die Frage, gewissermaßen räumlich gestellt, würde also von dort aus lauten: Wieso ist dann nicht ein Tonbandgerät oder ein Lautsprecher zu hören? Oder, zeitlich: Wieso wird einfach nur ein unmittelbarer Klang gehört und nicht die Wiedergabe der Aufzeichnung eines Klangs? Die Begrenzung dieses Nicht-es-selbst-Werdens des Klangobjekts wird im Labor der Musique Concrète ermöglicht durch eine Art Pädagogik, eine Stabilisierung des »Ohrs«, das jedoch die Vorgeschichte der »technischen Tricks« eben dieser Pädagogik nicht mit seiner eigenen Identität verwechseln darf: »The purpose of these manipulations, these technical tricks, is purely pedagogical. It is an anticipation of the way the ear becomes increasingly alert, the more often one listens to the same objects.«45 Es werden hier Praktiken der Manipulation des Klangs und des Hörens eingeübt, in denen technische Medien als Werkzeuge oder Instrumente, ähnlich dem Mikroskop und der Fotokamera des Biologen, 46 die Untersuchung der Klangobjekte zwar ermöglichen, aber selber unhörbar bleiben müssen, »letztlich nichts hinzufügen«. 47 Schaeffer betont zwar selbst, dass das 45 | Schaeffer u. a.: Solfège de l’Objet Sonore, S. 61 (CD2, Track 95). Vgl. Kane: »L’Objet Sonore Maintenant: Pierre Schaeffer, Sound Objects and the Phenomenological Reduction«, S. 20. 46 | Vgl. Schaeffer: Traité des Objets Musicaux, S. 32. 47 | Ebd. [Meine Übersetzung, jpm].

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reduzierte Hören nicht neutraler sei oder natürlicher als das gewöhnliche Hören, 48 gleichzeitig aber sollen Klangobjekte als Versammlungspunkte ihrer möglichen Erfahrungsweisen sozusagen immer schon vor ihrer Entdeckung durch jeweils sehr spezifische Techniken dagewesen sein. Obwohl Schaeffer also die Bedeutung technischer Geräte für die Musique Concrète keinesfalls leugnet, scheint es doch entscheidend zu sein, dass sie sich nicht als medienhistorisches Apriori in das Klangobjekt mit einschreiben. Das zeigt sich deutlich am Begriff des Akusmatischen, der sehr gezielt historisch vor diese technischen Medien zurückgreift, um zu betonen, dass es sich dabei um eine »schon immer in der menschlichen Erfahrung verwurzelte Gegebenheit«49 handelt. Dem Vorhang des Pythagoras, der Sprechende und Hörende visuell trennt, und dem Lautsprecher des Radios oder des Tonbandgeräts, der Klang überträgt, ist danach gemein, dass sie eine Haltung begünstigen, die sich den Bezug auf »Sichtbares, Ertastbares oder Messbares« untersagt.50 Daran anschließend ließe sich – bezogen auf die Register wie Geräusch, Musik oder Sprache als in die eingeordnet etwas gehört und verstanden wird – fragen, ob es nicht dieselben technischen Medien sind, die diese Kategorien erst problematisch und problematisierbar machen, weil Phonographen, Plattenspieler und Tonbänder versprechen, diese Unterscheidungen zu unterlaufen, indem sie alles das ohne Unterschiede aufzeichnen und wiedergeben.51 In diesem Zusammenhang wären die Taxonomien des Klangobjekts, die Typologie und die Morphologie Schaeffers,52 zu verstehen. Mit der Benennung in einem eigenen Vokabular wird ein freies Flottieren der Klangmaterie wiederum diskursiv beendet und so verhindert, dass der freigelegte Klang dazu verfällt, wieder entweder als Geräusch oder Musik oder Sprache verstanden zu werden.

48 | Chion: Guide to Sound Objects, S. 25-32 [29-34]. 49 | »Ce terme [Acousmatique] marque bien la réalité perceptive du son en tant que tel, en distinguant celui-ci des modes de sa production et de sa transmission: le phénomène nouveau des télécommunications et de la diffusion massive des messages ne s’exerce qu’ à propos et en fonction d’une donnée enracinée dans l’expérience humaine depuis toujours.« Schaeffer: Traité des Objets Musicaux, S. 91. 50 | Ebd., S. 93 [meine Übersetzung, jpm]. Eine gekürzte englische Übersetzung des entscheidenden Abschnittes über das Akusmatische (Schaeffer: Traité des Objets Musicaux, S. 91-98) findet sich auch in: Cox/Warner: Audio Culture, S. 76-81. Vgl. auch Kane: »L’Objet Sonore Maintenant: Pierre Schaeffer, Sound Objects and the Phenomenological Reduction«, S. 23. 51 | Vgl. Kittler: Grammophon, Film, Typewriter, S. 39 f. 52 | Vgl. Schaeffer: Traité des Objets Musicaux, S. 389-394, Chion: Guide to Sound Objects, S. 61-63 [59-61].

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A UDIOVISUELLE U MGEBUNGEN Ab 1927 beginnt der Tonfilm sich im Kino durchzusetzen. Mit der technischen Kopplung und damit der willkürlichen Kombinierbarkeit von bewegten Bildern und Klängen, tauchen im Tonfilm ästhetische Probleme der Verknüpfung von Klängen mit Nichtklanglichem (hier mit Visuellem) auf, wie sie Schaeffer dann so ähnlich im Rahmen der Musique Concrète wieder beschäftigen werden. Besonders im klassischen Hollywoodkino stabilisieren sich dabei bestimmte Regelmäßigkeiten, von denen zunächst einmal grob gesagt werden könnte, dass sie spiegelbildlich zu Schaeffers Strategie stehen, insofern diese im Dienste der audiovisuellen Illusion gerade auf die Stabilisierung eines »herkömmlichen« Hörens zielen, das dagegen für die Entdeckung des Schaefferschen Klangobjekts ja gerade unterbrochen werden soll. Unter anderem regeln diese Konventionen entsprechend Fragen nach einem indexikalischen, auf eine kausale Ursache gerichteten Hören und nach der Unterscheidung zwischen verschiedenen Deutungsstrukturen wie Sprache, Musik und Geräusch: 1. »see a dog, hear a dog«53: Alles was zu hören ist, sollte möglichst auch im Bild zu sehen sein. Alles andere ließe nämlich die audiovisuelle Wahrnehmung, die hier entworfen wird, brüchig werden. Barbara Flückiger verweist in diesem Zusammenhang auf die beschränkte Tonqualität des frühen Tonfilms, die – mit einem Beispiel Noël Burchs – kaum erlaubte, zwischen dem Geräusch von heftigem Regen und Applaus zu unterscheiden, wenn kein entsprechendes Bild dazu zu sehen war.54 2. Unterscheidung und Arbeitsteilung zwischen Sprach-, Musik- und Geräuschspuren. Diese Trennung in dialogue track, music track und sound effects track, die sich im klassischen Produktionssystem in der Arbeitsteilung zwischen verschiedenen jeweils zuständigen Mischtonmeistern wiederfindet, ist wohl, wie Flückiger bemerkt, im Zusammenhang mit einer technisch bedingten, aber auch ästhetisch geformten Knappheit der Tonspur zu verstehen.55 Die verschiedenen Elemente werden in Hinblick auf ihre Funktion für den Film ökonomisiert, hierarchisiert und identifiziert. Den Vorrang hat dabei in der Regel die Verständlichkeit der Sprache, des Dialogs.56

53 | Vgl. Flückiger: Sound Design, S. 128; 135 ff. 54 | Vgl. ebd., S. 136. Das Beispiel Burchs findet sich in: Burch: »On the Structural Use of Sound«, S. 200. 55 | Vgl. Flückiger: Sound Design, S. 37. 56 | Vgl. Doane: »Ideology and the Practice of Sound Editing and Mixing«, S. 58 f.; Flückiger, S. 60 und 120.

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Damit jedoch kompliziert sich das – oben »spiegelbildlich« genannte – Verhältnis zwischen diesen Tonfilmkonventionen und dem Vorgehen Schaeffers. Klassisches Hollywoodkino ist nicht die Umkehrfunktion von Musique Concrète, denn die Tonspur differenziert sich am Filmbild aus. Das heißt, die Tonspur wird gerade nicht einfach vereinigt mit einem einheitlichen Block namens Bild, sondern klumpt aus oder kristallisiert sich an unterschiedlichen Aspekten des Films wie Abbildung, Diegese, Narration, Montage, Bildbegrenzung, Perspektive, Bewegung, Affizierung, Vorführung. Michel Chion hat deswegen davon gesprochen, dass es eine Tonspur – im Sinne einer kohärenten Einheit – nicht gibt, da die »vertikalen« Beziehungen zwischen Elementen auf Bild- und Tonspur vorherrschend sind.57 Entsprechend sind die sich hier herausbildenden Konventionen zunächst einmal nicht im Sinne eines vollständig kohärenten Systems der Gestaltung zu verstehen, eher wäre von einem Bündel von Heuristiken zur Optimierung der Tonspur unter bestimmten, mitunter konkurrierenden Modellen, Anforderungen und Beschränkungen, zu sprechen.58 Derartige Verfahren des klassischen Tonfilms sind trotzdem – mitunter sehr überzeugend – als Funktionen einer hinter diesen Techniken operierenden Ideologie analysiert und kritisiert worden,59 die, wie Mary Ann Doane ausgeführt hat, dazu dienen, die Arbeit an der Herstellung einer audiovisuellen Einheit zu verdecken60 und damit über eine Spiegelbildbeziehung zum Film einen »fantasmatischen Körper« der Zuschauerin/des Zuschauers als »sich selbst gegenwärtige«, »organische Einheit«61 zu konstruieren. Vermutlich ist es aber auch gar nicht unbedingt notwendig, die entscheidenden Beobachtungen, die Doane macht, über die dabei anklingende Rhetorik eines verdeckt agierenden Zentrums namens Ideologie zu argumentieren. In Anlehnung an Rheinbergers Vokabular der Experimentalsysteme ließe sich zunächst sparsamer formulieren, dass 57 | Chion: Audio-Vision, S. 39 f. 58 | Vgl. Lastra: Sound Technology and the American Cinema, S. 138-141 und S. 172-176. 59 | Z. B.: Doane: »Ideology and the Practice of Sound Editing and Mixing«, und Altman: »Moving Lips«. 60 | »The rhetoric of sound is the result of a technique whose ideological aim is to conceal the tremendous amount of work necessary to convey an effect of sponta-neity and naturalness. What is repressed in this operation is the sound which would signal the existence of the apparatus.« Doane: »Ideology and the Practice of Sound Editing and Mixing«, S. 61. 61 | »However, the body reconstituted by the technology and practices of the cinema is a fantasmatic body, which offers a support as well as point of identification for the subject adressed by the film. […] The attributes of this fantasmatic body are first and foremost unity (through the emphasis on a coherence of the senses) and presence-to-itself. The addition of sound to cinema introduces the possibility of re-presenting a fuller (and organically unified) body […]«. Doane: »The Voice in Cinema«, S. 162.

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es bei den Konventionen in der Anordnung klassisches Kino darum geht, das Hervortretenlassen und Identifizierbarmachen bestimmter audiovisueller Objekte zu ermöglichen; unter anderem eben, indem das Risiko minimiert wird, dass der Klang als von den Lautsprechern im Kino statt von den Objekten auf der Leinwand kommend wahrgenommen wird. So könnten die historisch spezifischen Verteilungen zwischen dem, was als technische Grundlage gilt, und dem, was Gegenstand ästhetischer Strategien – und entsprechend von Kritik – werden kann, in den Blick genommen werden. Auf jeden Fall lässt sich jedoch festhalten, dass die Zusammengesetztheit von Audio-Vision an verschiedenen Stellen (z. B. in der Produktion des Films und in der Wahrnehmung) und unter verschiedenen Aspekten (z. B. zeitlich und räumlich) des Tonfilms immer wieder zum Problem wird.

Unidentifizierbare Klangobjekte Von dieser Vorgeschichte aus ist der Begriff des Klangobjekts zu verstehen, so wie Barbara Flückiger ihn verwendet, denn er ist von Anfang an vom Tonfilm und seiner Logik her gedacht. Das sogenannte Unidentifizierbare Klangobjekt (UKO), das nach Flückiger neueres Sound Design – zu dessen frühen Beispielen THX 1138 gezählt werden kann – ausmacht, ist hier demnach das, was nur zu hören, aber nicht auf dem Bild zu sehen ist bzw. dessen Identität im Film offen oder mehrdeutig bleibt.62 Flückiger spricht in diesem Zusammenhang auch von der »Souveränität des Klangobjekts«63 . Das UKO korrespondiert also in gewisser Weise mit der Konzeption des Klangobjekts bei Schaeffer, insofern es sich von Sichtbarem losreißt. So schreibt William Whittington in seinem Buch Sound Design and Science Fiction über die Tonspur von THX 1138: The sound montages in the original theatrical release of THX 1138 aggressively challenge the traditional Hollywood image-sound model, which emphasizes codes of ›realism‹, naturalism, and effacement. Rather than allowing sound to be an appendage to the image, the filmmakers asserted the position of sound as an equal partner in the process of cinema, moving the sound with, against and sometimes without regard for the image track. […] THX 1138 […] substituted music with musique concrète to attain its goal.64

Aber diese Korrespondenz stimmt eben auch nur in gewisser Weise. Im Folgenden soll deswegen mit THX 1138 ergänzt werden, dass die Strategien oder Politiken des Sound Design nicht unmittelbar aus Schaeffers Konzeption des Klangobjekts heraus zu verstehen sind, sondern sich hier an bestimmten Punkten kritische Ver- und Aufschiebungen registrieren 62 | Vgl. Flückiger: Sound Design, S. 126-130. 63 | Ebd., S. 121. 64 | Whittington: Sound Design and Science Fiction, S. 75 f.

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lassen. Anstatt das Hörbare – wie in der Experimentalanordung Schaeffers – zunehmend von Verweisen auf alles, was nicht Klangwahrnehmung ist (z. B. bellende Hunde oder das, was mit Sprache gesagt wird), zu reinigen und damit als originäres Klangobjekt zu konstituieren, wird in THX 1138 die Identifikation bestimmter Klänge in möglichen Bild-TonBeziehungen und Nicht-Beziehungen gleichzeitig laufend auch destabilisiert, so dass eine Identifikation tendenziell nie abgeschlossen ist. In der Lektüre, die ich daher vorschlagen möchte, ist das epistemische Ding – die offene Frage – der Experimentalanordnung THX 1138 nicht ein souveränes Klangobjekt, sondern wiederum die Historizität des Verhältnisses von Wahrnehmung und technischen Medien, das heißt unter anderem die Frage, wie und wann sich wahrnehmende Körper in technischen Umgebungen stabilisieren lassen oder nicht. Und das bedeutet auch, dass dabei ein anderer Medienbegriff zum Tragen kommt, weil technische Medien (Tonbänder, Lautsprecher, Radios) nicht von vornherein und prinzipiell auf die Seite der stabilen technischen Objekte fallen.

THX 1138 THX 1138 ist der erste kommerzielle Langfilm von George Lucas. Das Drehbuch dazu schrieb er – auf Grundlage seines Studentenfilms Electronic Labyrinth THX 1138 4EB (USA 1967) – zusammen mit Walter Murch, den er auf der Filmschule kennengelernt hatte. In dieser Kooperation wird die ungewöhnlich weitgehende Integration der auditiven Gestaltung in der Konzeption des Films schon angelegt, die besonders auch die Postproduktion von THX 1138 auszeichnen wird: Anstatt den Film zunächst vollständig zu schneiden, um danach erst die Dialogspuren abzumischen sowie Musik und Soundeffekte hinzuzufügen, entstehen Bild- und Tonspur parallel, sodass Lucas, der die Bildspur montiert, und Murch, der für die Komposition der Tonspur zuständig ist, während des Produktionsprozesses immer wieder aufeinander reagieren können.65 Die Überlieferung will es, dass, weil Murch nicht Mitglied der Gewerkschaft der Toningenieure war, seine kreative Tätigkeit in den Credits des Films unter der für diese Zeit unübliche Bezeichnung ›Sound Montages‹ aufgeführt wurde, aus der dann in Apocalypse Now ›Sound Design‹ wurde.66 Der Film handelt von einer unterirdischen, totalitären, kybernetisch kontrollierten Gesellschaft67 in der Zukunft und von einem Arbeiter namens THX 1138 (Robert Duvall), der in dieser Gesellschaft auf eine 65 | Vgl. Lucas’ Audiokommentar zu THX 1138, TC 0:11:10–0:11:40. Die Timecodes (TC) beziehen sich hier und im Folgenden auf die DVD: THX 1138. Der George Lucas Director’s Cut. 66 | Vgl. z. B. Coppola: »›Ich werde diesen Film nicht auf dem Kopf abmischen‹«, S. 53; Flückiger: Sound Design, S. 13. 67 | Vgl. Deleuze: »Postskriptum über die Kontrollgesellschaften«.

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zentrifugale Bahn gerät. Seine Zellenmitbewohnerin LUH 3417 (Maggie McOmie) ersetzt heimlich seine sedierenden Drogen, deren Einnahme allgemein verordnet ist und er verliebt sich in sie. Das herrschende Gesellschaftssystem aber beruht auf künstlicher Reproduktion, deswegen sind direkte sexuelle Beziehungen verboten. Nachdem THX wegen seiner Regelverstöße auffällig geworden ist, durchläuft er eine Reihe von Untersuchungs-, Bestrafungs- und Modulationsprozeduren. Irgendwann gelingt es ihm, aus dem System zu fliehen, weil die Kosten seiner Verfolgung einen kritischen Wert überschreiten. Am Ende steigt er aus einem Schacht an die Erdoberfläche. Begleitet von einer Musik aus Johann Sebastian Bachs Matthäus-Passion68 erscheint seine verschwimmende Kontur im Gegenlicht der untergehenden Sonne. Formal lässt sich THX 1138 in Kategorien einer kalkulierten und stilisierten Found-Footage-Ästhetik beschreiben.69 Der Film setzt sich damit von den bis dahin vorherrschenden Darstellungen der Zukunft im Science Fiction Film ab und erzählt seine Geschichte eher im Futur II, insofern er als Montage fragmentarisierter Dokumente entworfen ist, die die Zukunft der Gegenwart hinterlassen haben könnte – als ein nicht ohne weiteres zu verstehendes »artifact from the future«70. Und anstatt eine Interpolation des technischen Fortschritts, der Perfektionierung und Verfeinerung zu sein, ist diese Welt alltäglich, schmutzig und rauscht – eine »used future«71 . Mit der Erprobung unüblicher Produktionsformen, dem kritischen Blick, der in diesem Film aus einer dystopischen Perspektive auf Gesellschaft geworfen wird, sowie den experimentelleren stilistischen und narrativen Verfahren, ordnet sich THX 1138 in eine Reihe von Filmproduktionen des sogenannten New Hollywood ein, die Ende der 1960er Jahre aus dem kriselnden Studiosystem Hollywoods und seinen Konventionen ausscheren. Hier kommt eine bemerkenswerte Mischung der Einflüsse aus kalifornischer Gegenkultur und neueren europäischer Filmströmungen wie dem Autorenfilm zusammen.72 Dazu kommt gelegentlich – Lucas 68 | »Kommt ihr Töchter helft mir klagen […] O Lamm Gottes, unschuldig am Stamm des Kreuzes geschlachtet.« 69 | Vgl. Lucas’ Bemerkung in An Artifact from the future. The Making of ›THX 1138‹, TC 0:18:16–0:18:46. Murch berichtet, dass Lucas in dieser Hinsicht inspiriert war von Arthur Lipsetts Found-Footage-Bild-Ton-Collage 21-87. Vgl. Silberman: »Life after Darth«. 70 | Wie schon der Titel des Making of An Artifact from the future. The Making of ›THX 1138‹ nahelegt. Murch erläutert darin das Konzept des »Artifact from the future« bei TC 0:25:19–0:25:41. 71 | Der Begriff »used future« wird von Lucas in Bezug auf Star Wars verwendet. Vgl. Bennett: »George Lucas Brings Excitement Back to Your Galaxy«, S. 29; Walter Murch in An Artifact from the future. The Making of ›THX 1138‹, TC 0:24:08–0:24:44. 72 | Vgl. Whittington: Sound Design and Science Fiction, S. 55-59.

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und Murch sind gute Beispiele dafür – eine gewisse Technikfaszination, die ein fast spielerisches Ausloten der Möglichkeiten neuer Medientechnologien antreibt. In Bezug auf eine Genealogie des Sound Design wären beispielsweise die Tonbandgeräte zu nennen, die mobiler und insgesamt flexibler werden.73 Das Interessante an dieser Mischung ist, dass sie letztlich auf ein neues Hollywood hinausläuft; vielleicht zwar auf ein neues Hollywood aber trotzdem auf Hollywood – nicht auf kleine, experimentelle Independent-Filme, sondern auf Blockbuster-Überwältigungskino.74

Sich öffnende Transformationsketten Gerade der Anfang des Films besteht aus einer Aneinanderreihung von »suggestiven Fragmenten«75: Erst nach und nach schält sich zwischen den Schnitten so etwas wie eine Geschichte heraus, und nach ungefähr 4 Minuten beginnen die drei Protagonisten Konturen anzunehmen:76 THX 1138, der in einer verzerrten, nach Funkverkehr klingenden Stimme adressiert und aufgefordert wird, bei seiner Arbeit an der Konstruktion eines Roboters Korrekturen vorzunehmen. LUH 3417, die Mitbewohnerin von THX, die in einer Kontrollzentrale die Probleme von THX auf einem Videomonitor mitverfolgt, und SEN 5241 (Donald Pleasence), der seine Rolle als der Dritte geradezu paradigmatisch damit einführt, LUH bei der Beobachtung zu beobachten.77

73 | Vgl. ebd., S. 31-33; 68-74. 74 | Neben Apocalypse Now denke man hier natürlich besonders an George Lucas’ Star Wars. Episode IV. 75 | Whittington: Sound Design and Science Fiction, S. 75, eine Äußerung Murchs zitierend (LoBrutto: »Walter Murch«, S. 85; meine Übersetzung, jpm). 76 | THX 1138, TC 0:04:10–0:06:00. 77 | Dabei ist allerdings zu erwähnen, dass die beschriebene Konstellation in dieser Szene in der Version, die zuerst in die Kinos kam (»Theatrical Version«), nur angedeutet wird und erst in der unter der Leitung von George Lucas umfangreich digital veränderten und umgeschnittenen Fassung (»Director’s Cut«) von 2004 explizit herausgestellt wird. Auch an anderen Stellen sind die Unterschiede zwischen den verschiedenen Versionen von THX 1138 übrigens durchaus signifikant. Problematisch für eine historische Auseinandersetzung mit dem Film ist besonders, dass frühere Versionen seit der Veröffentlichung des Director’s Cut systematisch aus dem Verkehr gezogen worden zu sein scheinen. Ausführliche Diskussionen der konkreten Unterschiede finden sich im Internet unter anderem unter: o. V.: »THX 1138« sowie o. V.: »THX preservation«. Trotzdem wird nach meinem Kenntnisstand davon aber die Stoßrichtung meiner Argumentation nicht berührt.

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Abb. 3: Audiovisueller Kontrollraum. Screenshot von der DVD: THX 1138. Was an dieser ersten Szene schon kaum zu übersehen oder zu überhören ist, ist die weitgehende Außerkraftsetzung der Regel »see a dog, hear a dog«. Die zugrundeliegenden Audiotechniken werden dabei innerhalb der Diegese explizit ausgestellt: Kopfhörer, die die drei Protagonisten aufgesetzt haben, weisen auf der Bildebene darauf hin, dass ihre Träger nur einzelne Schnittstellen in einem ganzen Gewirr sich überkreuzender Kanäle sind, an denen sie jeweils entsprechend ihrer Chiffre teilnehmen. Das zu hörende Gesprochene ist meist durch Verzerrung als technisch übertragen markiert. In einer ganzen Reihe von Abstufungen dieser Verzerrungen wird hier aus Sprache zunehmend das Geräusch der Übertragungstechnik selbst. Und die Konsequenz davon, nämlich dass ein Ursprung des Gehörten niemals abschließend ermittelbar ist, wird hier ausführlich durchdekliniert. Immer könnte hinter einer Ansage im Funkverkehr kein sprechender Mensch, sondern wiederum nur ein weiteres Wiedergabegerät stecken. Wie in dem Moment, in dem LUH zunächst über eine Art Gegensprechanlage mit einem unzufriedenen Kunden kommuniziert, das Gespräch dann aber auf Knopfdruck an eine standardisierte Antwort vom Band delegiert. Damit wird überhaupt alles Hörbare potentiell Gegenstand seiner technischen Aufzeichnung und einer unendlichen Kette von Übertragungen und Transformationen, bei der dann nicht klar wäre, vom wievielten Glied dieser Kette das Publikum des Films THX 1138 nun wiederum jeweils Zeuge wird. Man könnte bei diesen Übertragungsketten auch von Wiederholungen, von Schleifen sprechen, aber im Gegensatz zum Sillon Fermé Schaeffers passiert nicht immer wieder dasselbe. Der Klang in THX 1138 läuft in Schleifen durch materielle Medien, die rauschen, transformieren, filtern, verarbeiten.

Worldizing Das verweist auch genereller auf ein Verfahren in diesem Film, das Murch als Worldizing bezeichnet hat.78 Worldizing beruht darauf, was Rick Alt78 | Vgl. Ondaatje: Die Kunst des Filmschnitts, S. 118; Maynes: »Worldizing«.

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man in seinem Aufsatz The Material Heterogeneity of Recorded Sound79 beschrieben hat, nämlich, dass sich in den Klang die verschiedenen Medien (im weitesten Sinne), die der Klang durchläuft, mit einschreiben: Der Hall eines großen Raumes, die Dämpfung durch eine Wand oder eine Glasscheibe, die Beschneidung des Frequenzumfangs durch das Telefon und so weiter. Genau diese Geschichte der Übertragungen und Transformationen des Klangobjekts in jedem Durchlauf seiner Wiederholung arbeitet Murch heraus, wenn er zunächst etwas aufnimmt, es dann mit einem Sender in den Äther schickt, um es dann wiederum mit einem Radio zu empfangen und mit dem Tonbandgerät aufzuzeichnen, oder wenn er seine Aufnahme in einer Turnhalle abspielt und wieder aufnimmt, um eine stark verhallte Tonspur zu produzieren.80 Solche Verfahren haben in THX 1138 einen merkwürdigen Effekt: Zunächst einmal bindet beispielsweise der Hall den Klang in den diegetischen Raum ein, er klingt dann, als würde er tatsächlich aus der Umgebung, der Welt stammen, die im Bild zu sehen ist. Zudem wird aber auch die Unterscheidbarkeit hinsichtlich der Funktion des Klangs zwischen Sprache, Musik und Geräuschen unscharf. Oft lässt sich kaum noch entscheiden, was gerade extradiegetische Musik ist, oder Musik, die den zu sehenden Raum aus zufällig gerade nicht sichtbaren Lautsprechern beschallt. Manchmal könnten es aber auch zufällige Hintergrundgeräusche sein, die wie zufällig eine quasimusikalische Struktur annehmen. Im Vordergrund steht hier dann nicht das Akusmatische, im Sinne einer klaren Entscheidung zwischen Zeigen und Verbergen von etwas, sondern eher so etwas wie graduelle Abstufungen der Medialisierung, Umgebungen mit mehr oder weniger durchlässigen Grenzen und gewissermaßen metastabilen Identifikationen. Nachvollziehen lässt sich das an einer Szene, eine knappe halbe Stunde nach Beginn des Films:81 Darin ist THX zu sehen, der einen kahlen, neonbeleuchteten Korridor entlangläuft – was zunächst nicht sehr entscheidend zu sein scheint, würde nicht später klar werden, dass dies gerade der Augenblick gewesen sein könnte, an dem THX den Point of no Return auf seinem Weg aus dem System überschreitet. In dieser Szene ist so etwas wie ein durchgehender, Unheilvolles ankündigender Akkordklang zu hören, der durch kurze verhallte Schläge strukturiert wird. Zu einigen dieser Geräusche flackern synchron die Neonlampen, zu anderen aber nicht. In einer solchen Verwebung sichtbarer und unsichtbarer Klangquellen könnte dann auch das, was ich Akkord genannt habe, das Dröhnen der Maschine sein, das durch die unterirdischen Gänge hallt.

79 | Altman: »The Material Heterogeneity of Recorded Sound«, S. 19-25 und S. 30 f.; Vgl. auch Chion: Audio-Vision, S. 76 f. und S. 114 f. 80 | Die Master Sessions mit Walter Murch: 1. Stimmen im Radio & 4. Die Herstellung von Echo-Effekten. 81 | THX 1138, TC 0:28:58–0:29:34.

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Abb. 4: Korridor. Screenshot von der DVD: THX 1138. Auf diese Weise komponierte Tonspuren beziehen, so erklärt Murch dazu im Audiokommentar der DVD von 2004, ihre ästhetische Effektivität gerade daraus, dass die Identifizierung des Hörbaren in einem filmischen Funktionszusammenhang unentschieden bleibt: When we work with sound in film, we work in three discrete units: the dialogue, music and sound effects. But, conceptually, there really is a smearing of categories so that sometimes a voice can become a sound effect, when somebody yells or screams, there is an ambiguous twilight zone between voice and sound effect. And there is a similar twilight zone between sound effects and music, where something that you perceive of as a sound effect can actually have pretty highly developed musical qualities and be used in a film the way we would use music. The trick is that when people hear something that is overtly music, I don’t know, there is a kind of a conceptual hormon that gets released, that says: ›I am listening to music‹ and you, your mind positions itself to understand this. Whereas sound effects are like people who can travel around the world without any passports. Sound effects have a way of sneaking under the radar so that you can be being affected by them in musical ways, emotional ways, but because they seem to be being produced by the visuals, by the world that you’re looking at, you tend to accept them at face value, and not as something that the film makers are doing to create an emotional effect with you. Whereas that’s not the case with music. 82

Das Verfahren Murchs beruht folglich, so ähnlich wie Musique Concrète, auf einem Kurzschluss von Klangparametern zwischen Musik und der Bearbeitung von Geräuschen, in der Tonbandgeräte, Mikrophone oder Filter durch die Möglichkeiten ihrer Manipulation zu Instrumenten der Gestaltung und Komposition von Klängen und Rhythmen werden. So können einerseits in der Bearbeitung emotionale Effekte von Geräuschen gezielter adressiert werden, denn anders als zum Beispiel Paradigmen der getreuen Abbildung oder der bezeichnenden Sprache, bietet Musik schon traditionellerweise ein Vokabular der Affekte und eine Hauptaufgabe des music track im klassischen Hollywoodfilm besteht entsprechend

82 | Audiokommentar Murch, THX 1138, TC 0:28:16–0:29:37.

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darin, Gefühle zu modulieren.83 Andererseits aber beschreibt Murch die Maximierung dieser Effekte als abhängig von den Erwartungen an eine konventionalisierte Struktur der Tonspur, die dann unterlaufen werden können. Die Wirksamkeit von Klängen wird hier also nicht einfach in Funktion davon gedacht, was ein Klang jeweils ist, sondern von einer Spannung oder Differenz her, von seinem Potential, etwas anderes zu werden. Musik, die unter der Tarnkappe Geräusch operiert. Bemerkenswert ist jedoch an Murchs Äußerung auch, dass sie in einer Sprache der sublimen Steuerung von Zuschaueraffekten formuliert wird. Das ist zumindest dann bemerkenswert, wenn diese Strategien von Ästhetiken herkommend verstanden werden, die oft gerade unter der Flagge einer ästhetischen Emanzipation des Wahrnehmenden gesegelt sind und aus der Kritik am ideologischen Charakter einer fantasmatischen Einheitlichkeit der audiovisuellen Erfahrung heraus begründet wurden.84 Das ergibt eine merkwürdige, fast unheimliche Zweideutigkeit in THX 1138, denn der Film übt ja ganz offensichtlich selbst Kritik an der medialen Manipulation einer Gesellschaft und führt gleichzeitig an seinem eigenen Publikum vor, wie diese Manipulationen funktionieren.

Theaters of noise Anhand der zwei bisher beschriebenen Szenen lässt sich also formulieren, wie im Vergleich zu einem Modell klassischen Kinos in THX 1138 bestimmte Destabilisierungen des Klangobjekts produziert werden, indem, allgemein gesprochen, Medien wiederum in die Gleichung eingesetzt werden: See a dog, hear a dog ist eben etwas anderes als See a radio, hear a radio. Und Worldizing lässt die Antwort auf die Frage, was hier das Medium ist, und damit die Ebene auf der Klänge sich anordnen und gedeutet werden, unscharf werden: Kommt der verhallte Klang aus dem zu sehenden Raum oder von einer Maschine, die nicht zu sehen ist, aber Teil der diegetischen Welt sein könnte oder ganz einfach vom extradiegetischen music track? Diese Verfahren Murchs führen aber nicht auf eine Unterbrechung hin, nicht darauf, den Klang nun aus den Lautsprechern des Kinos kommen zu lassen oder gar auf so etwas wie ein eigenes Klangobjekt im Sinne Schaeffers. Der Begriff Worldizing legt vielmehr nahe, dass es dabei gerade um die audiovisuelle Reterritorialisierung bestimmter Heterogenitäten des Hörbaren geht. Die eingesetzten Verfahren lassen sich von hier aus beschreiben als Techniken,85 mit denen THX 1138 gemacht ist, 83 | Vgl. Gorbman: »Why Music?«, S. 41 f. 84 | Vgl. z. B. Adorno/Eisler: Komposition für den Film, S. 26 f. und S. 64-70. 85 | Und insofern lässt sich nach den technischen Medien fragen, die hier auf eine bestimmte Art verwendet werden: Z. B. Kinolautsprecher von 1971, die es erlauben, verzerrte und verrauschte Stimmen als durch Funk übertragen zu markieren, ohne selbst als verzerrend und verrauschend zu erscheinen. Zu dieser Frage vergleiche auch den Beitrag von Jochen Venus in diesem Band.

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seine diegetische Welt, die aus auditiven Medien (z. B. Radios, Lautsprecher, Korridore) besteht, seine kalkulierten Effekte (z. B. der TarnkappenEffekt). Nun handelt aber der Film THX 1138 wie geschildert auch selbst von einer Gesellschaft, in der Medien auf eine bestimmte Weise eingesetzt und wirksam werden. Deswegen sollen hier zuletzt noch assoziativ vier Szenen zusammengezogen werden, die als reflexiver Kommentar dazu gelesen werden können, was der Film hier veranstaltet, um so die erwähnte Zweideutigkeit in THX 1138 noch zuzuspitzen.

White Prison Limbo Nach seiner Festnahme und Verurteilung wird THX in einen vollständig weißen Raum mit unabsehbaren Begrenzungen gebracht, den sogenannten White Prison Limbo. In der Szene, um die es hier gehen soll,86 springt das Bild zwischen zwei Einstellungen hin und her. Die eine Einstellung zeigt erst einen und dann zwei Monitore, auf denen THX zu sehen ist und dazu im Videobild eingeblendet kryptische technische Parameter (»Serial Input, 72-, +03, Stop Stop, Clear Flag, 3,3«). Aus dem Off ist währenddessen ein Dialog zwischen zwei Männern – vermutlich technisches Personal – zu hören, die sich wie beiläufig über die Möglichkeiten des Geräts unterhalten, zu dem diese Monitore gehören, während sie unbefangen und verantwortungslos an den Einstellungen herumprobieren. Die Effekte dieser Manipulationen sind dann zu hören als Fiepen und Brummen des Apparats und zu sehen in den körperlichen Reaktionen von THX – groteske Verkrampfungen und Muskeltremor. Die andere Einstellung zeigt THX unmittelbar in einer Halbtotalen im White Prison Limbo, der Dialog der beiden Techniker ist nicht zu hören. THX weiß nicht, woher diese Effekte auf seinen Körper stammen, er versucht vergebens, sich die Ohren zuzuhalten. Klang funktioniert hier als Wellen, die direkt, und damit unabhängig von einer inhaltlichen Bedeutung, auf den Körper wirken. Wird angenommen, dass der Film regelmäßig auch thematisiert, was er tut, dann legt diese Szene den Verdacht nahe, dass wir hier George Lucas und Walter Murch bei der Arbeit im Schneideraum zuhören können, wie sie selbst audiovisuelle Experimente an den Zuschauerkörpern durchführen. Als Verhandlung des Körpers im Sound Design funktioniert der White Prison Limbo wie klassische Schreckensvisionen von Technisierung: Medien sind hier dem Publikum so ununterscheidbar nah auf den Leib gerückt, dass eine Unterbrechung, das kritische Absetzen eines gehörten Klangobjekts vom physikalischem Signal, unmöglich geworden ist. Die Simulation wird grenzenlos aber auch die Techniker im Hintergrund werden zu machtlosen Funktionären der Apparatur.87 86 | THX 1138, TC 0:39:13–0:41:28. 87 | Der Ausweg aus diesem »elektronischen Labyrinth«, der sich in THX 1138 auftut, besteht darin, dass THX und SEN dem Hologramm SRT (Don Pedro Col-

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Stimulating Rhetoric In einer zweiten Szene sitzt THX gedankenverloren vor einer holographischen Projektion, die einen legitimatorischen Sermon seiner Gesellschaft verkündet, Satzfragmente, die keinen zusammenhängenden Sinn zu machen scheinen, aber in ihrer Formelhaftigkeit die religiöse und politische Massenbeeinflussung – »stimulating rhetoric« – karikieren: A final trans-… An infinite translated mathematics of tolerance and charity... among artificial memory devices is ultimately binary. Stimulating rhetoric. […] Absolute. The theater of noise is proof of our potential. The circulation of prototypes. […] And in the history of now.....all ethos are designed. 88

Worum es hier geht, ist erst einmal, dass eine inhaltliche Deutung des Gesagten die eigentliche Funktionsweise der Manipulation sogar noch verschleiern könnte. Seine Wirksamkeit geht hier nämlich eher vom Duktus und der Tonlage einer beruhigenden Stimme aus.89 Sound wirkt dann also nicht nur unmittelbar auf den Körper, sondern das kann wiederum mit angeblichem Sinn maskiert werden. In einem zweiten Hinhören fällt dann aber auf, dass mit Stimulating Rhetoric gerade diese Funktionsweise auch angedeutet wird. So auf die Spur jener scheinbar unwichtigen Dinge gebracht, die an vielen Stellen des Films im Hintergrund gesagt werden, ließe sich einiges über die Diskurse zusammentragen, in deren historischen Zusammenhang THX 1138 zu verstehen ist – Kybernetik, Bewusstseinskontrolle, Konsumkultur, McCarthyismus, um einige der Schlagworte zu nennen, die dabei eine Rolle spielen. Für die hier verhandelten Fragen ist aber offensichtlich der Begriff Theater of Noise besonders interessant. Und es gibt tatsächlich eine weitere Szene, die, so möchte ich behaupten, eben jenes Theater of Noise zeigt.

The Theater of Noise Über den Film verteilt sind immer wieder unvermittelt eingestreute Einstellungen zu sehen, absurde fragmentarische Momentaufnahmen aus der Gesellschaft, in der sich das Ganze abspielt. Eine dieser Einstellungen zeigt frontal die Tribüne eines Auditoriums.90 Die auf den Rängen verteilten Zuschauern neigen ihre Köpfe hin- und her, als würden sie, wie das ley), einer elektronisch generierten Person begegnen, die »zu lange im gleichen Kreislauf/Schaltkreis« gesteckt hat, aber immer »Teil der realen Welt« sein wollte und deswegen ausgebrochen ist. SRT sieht im Gegensatz zu den beiden echten Personen, einen Ausgang gerade dort, wo THX und SEN auf der Suche nach den Grenzen des White Prison Limbo hergekommen sind. 88 | THX 1138, TC 0:27:43–0:28:28 89 | Vgl. Audiokommentar Lucas an der gleichen Stelle. 90 | THX 1138, TC 0:20:47–0:29:58.

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Publikum eines Tennismatchs, einem Ball folgen, der zwischen den Rändern des Bildes hin und her springt. Nur, es ist kein Ball zu sehen. Von der Tonspur jedoch sind Geräusche zu vernehmen, die an die Geräusche dieses Balls erinnern. Weil hier spiegelbildlich zum Zuschauerraum des Kinos wiederum ein Zuschauerraum gezeigt wird, ist dies vielleicht die Szene, an der sich am prägnantesten der Rückbezug des Films auf seine eigene Rezeptionssituation festmachen lässt.91 Die Vorführung des Films THX 1138, heißt das, ist selbst ein Theater of Noise.92 Auf einer ersten Deutungsebene könnte der Inhalt dieser Szene sein: In der Gesellschaft von THX 1138 ist die künstliche Manipulation und Täuschung der Wahrnehmung soweit fortgeschritten, dass deren Mitglieder mit Geräuschen ein Ball vorgegaukelt werden kann, obwohl er gar nicht existiert. Das ließe sich dann schrittweise komplizieren: Vielleicht wird im Theater of Noise den Zuschauern der Gesellschaft auch gerade vorgeführt, dass ihnen ein Ball vorgegaukelt werden kann, obwohl er gar nicht existiert, denn: »The theater of noise is proof of our potential«.

»I can feel it« Mit dem Director’s Cut (2004) taucht noch eine weitere Spur auf, wie diese Szene zu verstehen sein könnte: Die Untertitel des Films übersetzen nämlich dort das zu Hörende mit dem Satz »I can feel it«93. Und genau dieser Satz wird im Film kurz vorher schon einmal ausgesprochen. In einer sehr intimen Szene äußert LUH gegenüber THX das Gefühl, dass sie beim vorherigen verbotenen Liebesspiel überwacht worden sind: »They know. They’ve been watching us. I can feel it.«94 Dieser – zugegebenermaßen spekulativen – Spur folgend ließe sich das Theater of Noise als Gedankenexperiment entziffern, in dem die Anordnung der beteiligten Elemente und die Reihenfolge der Prozeduren des Experimentalsystems Musique Concrète auseinandergenommen und anders montiert werden. In Schaeffers Anordnung löste sich zunächst das Gehörte durch akusmatische Medien vom Sichtbaren und in dieser Richtung fortschreitend löste es sich aus verschiedenen Umgebungen heraus, in denen Klang auf etwas anderes verweist. In den Manipulationen und Wiederholungen der 91 | Ich danke Ulrike Hanstein für diesen entscheidenden Hinweis. 92 | Die DVD von 2004 legt das nahe. Hier gibt es eine Menüoption mit dem Titel Theater of Noise, die es erlaubt, die Dialoge auszuschalten und nur die Geräuschund Musikspur zu hören. Wobei sich das Problem dieser Unterscheidung wiederum zeigt: Natürlich ist hier auch mehr oder weniger verständliche Sprache zu hören. 93 | Nach meinem Wissen sind die hier zu hörenden Sounds, technisch gesehen, wohl nicht durch eine Transformation des Satzes »I can feel it« entstanden und auf jeden Fall nicht auf der Dialogspur der Version von 1971 gewesen. Da mir keine frühere untertitelte Version als besagte DVD von 2004 vorliegt, war es mir aber nicht möglich, das Auftauchen dieses Satzes genauer zu datieren. 94 | THX 1138, TC 0:19:50–0:20:13.

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Musique Concrète konstituierte sich das Klangobjekt als eine originäre, auf sich selbst zurückgezogene Klangerfahrung, die eine Art Urmeter der Analyse von Klang bildete. Und so erlaubte die Wiederholbarkeit der Klangaufzeichnungen, den Klang von einer subjektiven Erfahrung zum Gegenstand einer zugleich angemessenen und intersubjektiven Sprache zu transformieren.

Abb. 5: Das »Theater of Noise«? 2 Screenshots von der DVD: THX 1138. Im Theater of Noise dagegen erweist sich schon die anscheinend intime Liebesszene von LUH und THX retrospektiv als von seiner technischen Aufzeichnung durchsetzt. Die beiden finden sich quasi auf der anderen Seite des akusmatischen Vorhangs wieder. »I can feel it« ist hier entsprechend auch nicht der Ausdruck einer originären Erfahrung, die dann veröffentlicht wird, sondern handelt von der Erfahrung, sich bei der Erfahrung beobachtet zu fühlen. Wenn nun auch noch genau dieser gesprochene Satz aufgezeichnet und bis zur Unverständlichkeit elektronisch manipuliert um dann im Theater of Noise in Schleifen abgespielt zu werden, dann wird damit das Experimentalsystem Musique Concrète bis zur Absurdität umgestülpt. Denn hier wird ein »Experiment der Unterbrechung« – die Verfremdung, die das selbstverständliche Verstehen stört – gerade an der Stelle durchgeführt, die jener Stelle entspricht, an der im Experimentalsystem Musique Concrète der Übergang von ›privater‹, subjektiver Erfahrung zu intersubjektivem Diskurs gesichert werden sollte. Dass die Strategie des Sound Design hier im Film reflektiert wird, mindert aber nicht seine Wirkung – im Gegenteil.

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Die zirkuläre Rhetorik der »twilight zone« im Worldizing lautet ja, dass Klänge dann besonders unmittelbar – weil unbewusst – affektiv wirken können, wenn sie sich an ihrer Oberfläche als etwas anderes (Geräusche) ausgeben, als sie eigentlich sind (Musik). Das heißt, der vorgebliche Inhalt des zu Hörenden (ein Geräusch in der diegetischen Welt) wird hier paradoxerweise zum Mittel der Unmittelbarkeit des eigentlichen Inhalts (ein kalkulierter, quasi musikalischer, emotionaler Effekt). Eine Identität solcher Klänge als Musik, Geräusch oder letztlich auch als Klangobjekt festzustellen, würde in dieser Logik also jeweils bedeuten, zu verkennen, dass sie gerade durch ihre Heterogenität funktionieren. Gleichzeitig wird aber, gewissermaßen von Schaeffer aus gesehen, diese Heterogenität der Klänge auf der formalen, der diegetischen sowie auch der reflexiven Ebene des Films aufrechterhalten, indem akusmatische Medien letztlich immer wieder als verdeckend und nicht als ablösend installiert werden, immer wieder die Möglichkeit aktiviert wird, dass hinter dem Klang letztlich doch eine eigentliche Ursache oder eine Mitteilung zum Vorschein kommen könnte – während doch gerade diese technischen Medien erlauben würden, eine Ebene zu etablieren, auf der die Organisation des Klangs in den getrennten Domänen Geräusch, Musik und Sprache unterbrochen werden könnte. Die Verfremdung des Satzes »I can feel it« in den Schleifen des Theater of Noise bleibt eine Enteignung.

M USIQUE C ONCRÈ TE IN S OUND D ESIGN ÜBERSE T ZEN UND UMGEKEHRT

Was ergibt sich nun daraus, auf diese Weise Schaeffers Klangobjekt mit THX 1138 gegenzulesen? Auf jeden Fall kann es dabei nicht einfach darum gehen, die Entdeckungen Schaeffers zu entkräften, um dann zu zeigen, was Klang eigentlich ist. Die Konzeption des Klangobjekts ist ja grundsätzlich nicht dort zu kritisieren, wo überhaupt erst einmal spezifische Techniken und Vokabulare des Auditiven entwickelt werden. Denn wie Michel Chion über Schaeffers Klassifikationssystem richtig schreibt: »This system [of classification] is certainly neither complete nor immune to criticism, but it has the great merit of existing.«95 Allerdings wird die dabei vorgenommene Ausblendung der Medialität des Auditiven – in einem doppelten Sinne von Klang als Medium von etwas anderem (Sprache, Geräusche, Musik) und von Klang als Gegenstand von Medien (Tonbändern, Tonfilmen) – und die damit bei Schaeffer einhergehende Tendenz zur historischen Entortung des Hörens, eben dann zum blinden Fleck, wenn es darum geht, zu beschreiben, wie in jeweiligen historischen auditiven Medienkulturen diese Heterogenitäten im Hörbaren jeweils anders verteilt werden.

95 | Chion: Audio-Vision, S. 30.

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An diesem blinden Fleck entfaltet sich das Sound Design Murchs in THX 1138 indem es das Verhältnis von Medien und Klangwahrnehmung in Zirkelschlüsse verwickelt. Während die Trennung von Ursache und Klang durch akusmatische Medien in der Musique Concrète auf die Aktivität des Hörens verweist und so die Stabilisierung eines eigenen Bereichs des Auditiven in Gang setzt, bleiben in THX 1138 Medien als Bedingung der Möglichkeit dieser Ablösung laufend mit im Spiel. Sie schreiben sich in die Klänge ein, aber setzen sich trotzdem nicht wiederum selber an eine eindeutige Stelle der Ursachen, sondern bleiben heterogen – gleichzeitig übertragend und trennend. Solche Strategien des Sound Design effektivieren die Heterogenitäten des Hörbaren im Kino durch die gezielte Eröffnung von Zonen der Unentscheidbarkeit. Die Wendung zum Sound Design in THX 1138 erlaubt so ein Experiment der Unterbrechung, eine verfremdete Lektüre von Schaeffers Musique Concrète und das Ausfalten von Problemen, die sich bei der Identifikation von Klang zwischen Medien und Wahrnehmung stellen. Sound Design als Strategie des Tonfilms erweist sich jedoch als nicht weniger problematisch, wenn sie in den Schleifen des Theater of Noise endet. Vielleicht ließe sich aber in einer Begegnung der beiden – Walter Murchs Sound Design in THX 1138 und Pierre Schaeffers Musique Concrète – der Impuls einer Freisetzung des Klangs, wie er sich bei Schaeffer formuliert und dann auf eine bestimmte Weise im Sound Design implementiert wird, aufnehmen, um Linien der Übertragung, Verweisung und Übersetzung nachzuvollziehen, entlang derer in auditiven Medienkulturen Klänge Medien werden für etwas anderes und wann Klänge sich losreißen können, um als Klänge wahrnehmbar zu werden; beziehungsweise, um in einer anderen Umgebung Gegenstand einer Wissenschaft zu werden.

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J AN P HILIP M ÜLLER

An Artifact from the future. The Making of ›THX 1138‹ (USA 2004, Regie: Gary Leva), auf der DVD: THX 1138. Der George Lucas Director’s Cut [2 Disc Set], Warner Home Video Germany Hamburg 2004, Disc 2.

A BBILDUNGEN Abb. 1: Das erste Studio der von Pierre Schaeffer gegründeten Groupe de Recherches Musicales (GRM) in der Rue de l’Université, Paris, 1960. © Ina GRM. Abb.  2: Das 1973 von François Bayle konzipierte »Acousmonium« der Groupe de Recherches Musicales (GRM) am Maison de Radio France, Paris, 1980. © Ina GRM. Abb. 3: Audiovisueller Kontrollraum. Screenshot von der DVD: THX 1138. Der George Lucas Director’s Cut, Warner Home Video Germany, Hamburg 2004. © Warner Bros. Entertainment Inc. 2004. Abb. 4: Korridor. Screenshot von der DVD: THX 1138. Der George Lucas Director’s Cut, Warner Home Video Germany Hamburg 2004. © Warner Bros. Entertainment Inc. 2004. Abb. 5: Das »Theater of Noise«? 2 Screenshots von der DVD: THX 1138. Der George Lucas Director’s Cut, Warner Home Video Germany Hamburg 2004. © Warner Bros. Entertainment Inc. 2004.

Theoretisch-methodische Annäherungen an die Ästhetik des Radios Qualitative Merkmale von Wellenidentitäten Golo Föllmer

1. E INFÜHRUNG Radio bildet nach bald 100 Jahren weltweiter Etablierung eine lokal und global fein differenzierte, tief im kollektiven Bewusstsein verankerte Kulturform. Im Radio haben sich eigene Formschemata, Sprechhaltungen und technische Verarbeitungsformen etabliert, die sich von auditiven Phänomenen aus dem Alltag wie auch aus anderen Medien – Film, Fernsehen, Computerspiel, Telefonansage etc. – spontan leicht unterscheiden lassen. In einem Spielfilm etwa erkennen wir unmissverständlich, wenn ein auditives Element vorgeblich aus dem Radio erklingt – auch wenn wir wissen, dass es tatsächlich extra dafür in einem Filmtonstudio produziert wurde. Mit S.  J. Schmidts Kulturbegriff1 lassen sich die inhaltliche und die ästhetische Beschaffenheit des Radios zusammengefasst als spezifisch radiophone Medienkultur begreifen. Radioprogramme sind damit das Resultat kollektiver Wissensbestände dieses Medium betreffend. Macher, Vermarkter und Hörer nehmen unterschiedliche Rollen ein in einem kontinuierlichen Aushandlungsprozess darüber, was Radio enthalten und wie es klingen soll. Thesenhaft kann man davon ausgehen, dass Dynamik und Richtung dieses Prozesses u. a. von technischen Bedingungen, von national- und milieukulturellen Werten und Normen, von alltäglichen Gebrauchsformen und auch von lokalsprachlichen, musikalischen und anderweitigen ›Umwelt‹-Bedingungen, etwa der Lautsphäre eines Sendeareals geprägt werden. 1 | Schmidt definiert Kultur als kollektives Wissen über Werte, Normen und Verhaltensweisen, das in kognitiven und kommunikativen Prozessen erzeugt und in Geltung gehalten wird. Vgl. Schmidt: Medien – Kultur?, S. 12.

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In der alltäglichen Hörpraxis führt das dazu, dass Radiowellen2 in Bruchteilen von Sekunden klar unterscheidbare Eindrücke hinterlassen. Wie das genau funktioniert, ist nicht bekannt. Es wurde bislang nicht systematisch untersucht, auf welchen Merkmalen die Identifikation einer Welle durch die Hörer beruht, wie diese Merkmale in der Redaktions- und Produktionspraxis erzeugt werden und in welcher Weise und zu welchen Anteilen die Technologie auf der einen Seite und die Umwelt des Radios auf der anderen Seite seine Erscheinungsweise prägt. Radiopraktiker haben explizite Konzepte, wie sie mittels eines komplexen Sets von Merkmalsmustern, die zusammenfassend als ›Wellenstrategie‹ betitelt und im so genannten ›Stylebook‹ erfasst werden, den Eindruck einer möglichst einheitlichen ›Channel Identity‹, ›Wellenidentität‹ oder ›Anmutung‹ entstehen lassen können. Die Konzepte verschiedener Radiopraktiker (in verschiedenen Formaten oder auch Ländern) sind aber nur bedingt miteinander kompatibel, was sich schon an den übergeordneten Begrifflichkeiten zeigt. Ein einheitliches Verständnis der Termini scheint unter Radiopraktikern nicht zu existieren, weshalb hier eine Definition vorgeschlagen wird (vgl. Abb. 1).

Abb. 1: Zweigliedriges Modell von Radiocharakteristika. Die Trennung in ein kognitives und ein affektives Schema ist dabei bereits eine Formulierung der Ausgangsthese dieses Beitrags, dass bisherige Untersuchungen kognitiven Schemata strukturell-quantitativer Merkmale die meiste Bedeutung beimessen und die qualitative Anmutungsdimension eklatant vernachlässigen. Damit plädiert dieser Beitrag für die Sichtweise, dass radiophone Medienkulturen (oder kurz Radiokulturen) 2 | ›Welle‹ bezeichnet im Radiojargon, was in der Alltagssprache meist Sender genannt wird: ein speziell strukturiertes Programm mit eigener Sendefrequenz und Zuschnitt auf eine Zielgruppe oder inhaltliche Sparte.

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neben der inhaltlichen Dimension auch als Klangkulturen verstanden werden müssen, will man Radio in seiner Beschaffenheit und Wirkungsweise umfassend verstehen. Im Folgenden möchte ich zuerst verdeutlichen, dass die Radioforschung diese Fragestellung bei weitem nicht ausreichend adressiert und eine Methode vorschlagen, mit deren Hilfe sich der bisher wenig erforschte Bereich untersuchen lässt. Diese Methode wird derzeit im interdisziplinären Verbund u. a. zwischen Medien-, Sprech- und Kulturwissenschaft entwickelt. Hierbei spielen Verhältnisse zwischen gesprochener Sprache und anderen Programmbestandteilen, insbesondere Musik, eine wesentliche Rolle. Es wird die These aufgestellt, dass anhand formalisierter Indikatoren ein auf verschiedene Radioformate übertragbares Analyseinstrumentarium entwickelt werden kann.

2. D AS P ROBLEM DER KL ASSISCHEN P ROGR AMMFORSCHUNG Die Hörfunkforschung betrachtet Radio bislang fast ausschließlich als ein strukturelles Problem. Untersuchungen thematisieren – mit Blick auf das Spannungsfeld zwischen Hörerquoten und Kriterien des Qualitätsjournalismus – die Programmstruktur auf Makro- und Mesoebene, die Themenwahl und die journalistische Aufmachung der jeweiligen Gegenstände, das Musik-Wort-Verhältnis und die so genannte ›Musikfarbe‹3 . Die Untersuchungen erfolgen in vielen Fällen im Rahmen der Mediaforschung4 bzw. der regelmäßigen Media-Analysen, d. h. mit dem Ziel, das Verhältnis zwischen Medienangebot und Hörererwartungen für einen möglichst großen Teil der Bevölkerung so weit wie möglich zur Deckung zu bringen. Teilweise erfolgen derartige Untersuchungen auch im Kontext historischer Fragestellungen verschiedener Couleur, seien es politische, soziologische, literatur- oder musikwissenschaftliche Fragen. Das übergeordnete Erkenntnisziel besteht dabei in den meisten Fällen in einer Messung, inwiefern ein als ›Informationsübermittlung‹ verstandener Sendevorgang in zweierlei Hinsicht erfolgreich ist: a) im Sinne von Kommunikationskanal aufrecht erhalten (der Hörer schaltet nicht ab bzw. um) und b) im Sinne von Kommunikation erfolgreich durchführen (der Hörer nimmt die Information auf und versteht sie auf seine Weise). Das Kommunikationsmodell, das dieser Fragestellung zugrunde liegt, ist das 3 | Die Wahrnehmung einer Musikfarbe kann als eine Form von Anmutung verstanden werden, denn es wird davon ausgegangen, dass durch eine genau gesteuerte Musikauswahl ein kohärenter Eindruck beim Hörer entsteht, welche Musik von einer Welle zu erwarten ist. 4 | Mediaforschung erhebt und interpretiert Daten zu Reichweite und Zielgruppen von Medien, die zur Planung von Programm und Werbung benötigt werden. Vgl. Frey-Vor u. a.: Mediaforschung.

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klassische Sender-Kanal-Empfänger-Modell nach Shannon und Weaver5 . Dieses Modell ist Inhalts-orientiert, d. h. das Maß für die Beurteilung des »Sendeerfolgs« bestimmt sich als Größe des Sendeanteils, der a) beim Hörer akustisch ankommt und b) von ihm wiedergegeben werden kann, wenn man ihn hierzu befragt. Hörerbedürfnisse und Hörkontext werden dabei weitgehend ignoriert. Die auf der Grundlage der so genannten Hörer-, Musik- oder Akzeptanzforschung gesammelten Daten sollen die Sender befähigen, ihr Programm gezielt so anzupassen, dass es a) einen möglichst großen Wirkungsradius (Hörerzahl = Quote) und b) eine möglichst intensive individuelle Wirkung (hohe Aufmerksamkeit, kognitive Beteiligung und Involvement des einzelnen Hörers) entfaltet. Aus den ermittelten Zahlen ergibt sich eine machtvolle Konsequenz: die Menge an Geld, die ein Programmanbieter einwerben bzw. sich aus Gebühren zuteilen lassen kann, ermittelt sich unmittelbar oder anteilig darüber. Damit, so die grundlegende Kritik dieses Beitrags, entsteht ein blinder Fleck im Verständnis des Radios. Dieser basiert auf dem theoretischen Problem, dass das Radio bei solchen Betrachtungsweisen behandelt wird, als stecke es seine Programminhalte in einen Sendekanal, der direkt an die kognitiven Apparate der Hörer gekoppelt sei. Diese simplifizierende Anwendung des technischen Kommunikationsmodells nach Shannon und Weaver wird der Komplexität menschlicher Kommunikations-, Kognitions- und Empfindungsvorgänge jedoch nicht gerecht. So führen Fornatale und Mills6 das Konzept des ›Human-Surrogats‹ ein, demzufolge Radio ein emotionales Aufgehobensein im sozialen Miteinander durch eine empfundene Nähe zu den Sprechern im Radio ersetzen könne. Die häufig in Ergebnissen der Medienforschung zu findende Aussage, Radiohören vertreibe das Gefühl des Alleinseins, ist ein klares Indiz für die Relevanz dieses Konzepts. Welche Faktoren diese Wahrnehmung allerdings begünstigen, ist bislang nicht genau bekannt. Fornatale und Mills verweisen ferner auf McLuhans Konzept der ›Tribal Drum‹, das die implizite Synchronisation dislozierter Radiohörer als wesentliche Funktion des Radios postuliert.7 Alleinhörer wenden sich demnach dem Radio anders zu, wenn sie annehmen können, dass ihnen nahe stehende Menschen im selben Moment dasselbe Programm hören und sich ggf. am nächsten Tag darüber austauschen wollen. Während angenommen werden kann, dass Programminhalte hierbei eine wesentliche größere Rolle spielen als beim Konzept des Human-Surrogats, ist es auch hier wahrscheinlich, dass beispielsweise romantische Sehnsüchte nur durch bestimmte qualitative bzw. ästhetische Dispositionen eines Radioprogramms auf dem Weg der impliziten Synchronisation befriedigt werden

5 | Shannon/Weaver: The Mathematical Theory of Communication. 6 | Fornatale/Mills: Radio in the Television Age. 7 | Ebd., S. 12.

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können. Carin Åberg8 hält diese Dimension des Radiohörens sogar für die wesentliche und geht mit Detlef Schröter9 davon aus, dass der Rahmen des Radios dazu führt, den Moderator stärker als angenehme Stimme denn als ernsthaften Journalisten wahrzunehmen: »Investigations of, and theorizing on radio could benefit starting from the point that it is the sounds we find meaningful that constitute the main point in radio listening«10. Der blinde Fleck betrifft also Bedeutungen, die primär auf sensueller Ebene übermittelt werden, die als ›Qualität‹, als ›ästhetische‹ oder ›atmosphärische Beschaffenheit‹ oder auch als ›Anmutung‹ beschrieben werden können. Inhalts-orientierte Betrachtungen sollten daher durch Anmutungs-orientierte Perspektiven ergänzt werden, die rezipientenseitige Funktionen von Radio und damit die Tatsache berücksichtigen, dass neben Inhalten auch die Anmutung Einfluss auf die Senderwahl der Hörer hat. Die Erfassung dieser Qualitäten ist aufwändig, denn sie sind erstens komplex kodiert und stecken oft im Detail, und zweitens ist ihre Bedeutung stark subjektiv gefärbt.

3. A LTERNATIVE P ERSPEK TIVEN Erste theoretische und methodische Ansätze zur Adressierung des Problems existieren. So entwickelte Christa Lindner-Braun11 Kriterien für die Attraktivität und damit für den Erfolg eines Moderators. Als Wirkdimensionen eines Moderators im Sendungskontext identifiziert sie empirisch ›moralische Glaubwürdigkeit‹, ›Kompetenz‹, ›Autorität‹ und ›Sympathie‹12 und führt damit den Nachweis, dass keineswegs nur ›Content‹ zählt, sondern dass die parasoziale Dimension, also der subjektive Eindruck des Hörers, es gäbe eine kommunikative Verbindung zwischen ihm und z. B. dem Moderator, eine tragende Rolle spielt. Einen weiteren Ansatz bilden Gerhard Vowe und Jens Wolling mit einer Studie zum Begriff der ›Radioqualität‹.13 Sie stellen fest, dass sich Programmanalysen darauf beschränken, einerseits die Struktur des Gesamtprogramms zu erfassen (Makroebene) und sich andererseits auf Analysen informierender Programmbestandteile konzentrieren (Mesound seltener Mikroebene). Vowe und Wolling kritisieren dabei insbesondere, dass Feinanalysen aus einer publizistisch-normativen Qualitätsperspektive erfolgen. Somit würden erstens die Qualitätskriterien der Hörer 8 | Åberg: »Radio Analysis?«. 9 | Schröter: »Programmanalyse – sehr gut, aber wie?«. 10 | Åberg: »Radio Analysis?«, S. 86. 11 | Lindner-Braun: »Radio ist lebendig, präzise und persönlich«. 12 | Ebd., S. 54. 13 | Vowe/Wolling: Radioqualität – was die Hörer wollen und was die Sender bieten.

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nicht berücksichtigt und zweitens spiele die Herstellung eines Eindrucks parasozialer Nähe, der die Autoren eine hohe Bedeutung beimessen, keine Rolle.14 Gestützt wird diese Position durch empirische Studien, nach denen die Empfindung von Natürlichkeit des Sprechers und Sympathie zur Sprecherperson einen höheren Einfluss auf die Gesamtbewertung eines Radiosprechers haben als etwa der Eindruck der Sachlichkeit.15 Schließlich ist eine Studie von Carin Åberg16 hervorzuheben. Åberg verfolgt das Ziel, Zusammenhänge zwischen Angebotsstrukturen und Hörhaltungen zu identifizieren, um den Wert eines Rundfunkangebots im oben genannten Sinn nicht allein über inhaltliche Kriterien zu bestimmen. Sie unterscheidet für das Radio die zwei Kommunikationsmodi ›communicatio‹ und ›communio‹ (Abb.  2). Radiosender und einzelne Programmangebote bzw. individuelle Mediennutzungsformen können demnach auf einem bestimmten Punkt dieses Kontinuums zwischen informatorischen und emotionalen Hörbedürfnissen positioniert werden.

Abb. 2: Kontinuum zwischen den Radiofunktionen ›communicatio‹ und ›communio‹ nach Åberg, angewendet auf drei in der Radiopraxis häufig genannte Rezeptionsparadigmen des Radios. Auf Seiten der Hörer sind demzufolge als Gründe für die Rezeption eines spezifischen Radioangebots, ggf. tageszeitlich schwankend, auch unterschiedlich große Anteile dieser Kommunikationsmodi anzunehmen. Als konstituierend für diese Modi identifiziert Åberg im Ergebnis ihrer Sequenzanalyse zum einen Muster unterschiedlicher ›demands of concentration‹ (Konzentrationsanforderungen) und zum anderen spezifische Funktionen wie ›creating tempo‹ und ›calling for attention‹.

4. Z UGANG DER R ADIOPR AK TIKER Radiopraktiker pflegen offenbar einen anderen Zugang zum Medium. Die Inhaltsebene, die von den meisten Forschern für das Wesentliche, das Eigentliche gehalten wird, ist für sie nur die halbe Miete. Diese inhaltlichen Merkmalsmuster, die in einem Programmstrukturplan festgehalten werden, könnte man hier zugespitzt als die Pflicht bezeichnen.

14 | Ebd., S. 312. 15 | Schubert/Sendlmeier: »Was kennzeichnet gute Nachrichtensprecher im Hör funk?«. 16 | Åberg: »Radio Analysis?«.

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Die Kür hingegen ist aus den Stylebooks herauszulesen. Stylebooks beschreiben anhand der Punkte, die in Abb. 1 unter dem Oberbegriff ›Anmutung‹ stehen, jenen Teil der Wellenstrategie, der die affektiven Komponenten einer Channel Identity ausmacht. Nur der erfahrene Praktiker weiß die dort genannten Attribute präzise zu deuten, z. B. was eine hot gefahrene Musik oder ein authentischer Moderationsstil ist. Weder die Attribute ›hot‹ und ›authentisch‹ noch der Grund für die jeweilige Spezifikation im Zusammenhang der Channel Identity werden im Stylebook explizit formuliert. Das Ziel der Kür, das Programm täglich neu mit Leben zu füllen, muss also subjektiv und intuitiv aus einem bislang nur in der Praxis existenten Wissen umgesetzt werden. Zur Beschreibung dieser Qualitäten werden Anforderungen genannt wie z. B. »die Persönlichkeit des Sprechers/Moderators sollte [...] zu jeder Zeit erkennbar bleiben« oder »Wer es schafft, die eigene Begeisterung [...] in eine hörverständliche Form zu bringen, dem gelingt es, [...] wirkliche Kommunikation im Radio entstehen [zu lassen]«.17 Dass Persönlichkeit und Begeisterung mit inhaltsfokussierten Methoden schlecht erfasst werden können, liegt auf der Hand. Hier müssen also neue Wege gegangen werden.

5. THEORE TISCHER A NSAT Z Anja Richter definiert ›Radioästhetik‹ als »die durch das Medium Radio und seine Gestaltungsmittel bedingte spezifische Modifizierung einer Botschaft bzw. Information«18 und ordnet ihr das Konzept einer Klangästhetik unter. So gefasst ist der Begriff aber noch vage und muss differenziert werden, z. B. indem man davon ausgeht, dass sich Radioästhetik neben Klangästhetik aus weiteren Elementen wie Rhythmus, Form oder Proportion konstituiert. Klangästhetik bezöge sich dann eher momenthaft auf einzelne geschlossene Klanggestalten oder musikalische Merkmale, wohingegen Radioästhetik das größere Bild des Verhältnisses heterogener, radiotechnisch verknüpfter Elemente beschreiben würde. Damit würde der synthetisierende Charakter des Radios als Spezifikum dieses Mediums hervorgehoben. Zur näheren Bestimmung der in Frage stehenden qualitativen und klanglich-ästhetischen Dimension, d. h. der Anmutungskomponente des Konstrukts ›Wellenidentität‹, könnte der Begriff des ›Klangkonzepts‹ nützlich sein. Nach Peter Wicke beruhen Audio(teil)kulturen einer medialisierten Gesellschaft auf technologisch und funktional bedingten »Konzepten von Klang«19 . Die durch Speicher- und Übertragungstechnologien ermöglichte Lösung der Musik von der körperlich präsenten Auf17 | Wunderlich/Schmidts: »Musikjournalisten sprechen im Radio«, S. 95. 18 | Richter: Studien zur Bestimmung klangästhetischer Merkmale von Radioprogrammen, S. 9. 19 | Wicke: »Das Sonische in der Musik«.

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führungssituation hat ihmzufolge im Verlauf des 20. Jahrhunderts dazu geführt, dass heute die »Aufnahme [bzw. das Sendesignal] [...] weder eine Kopie, noch eine Simulation der akustischen Realität, sondern eine neue Form sonischer Wirklichkeit [ist]«20. Diese ›sonische Wirklichkeit‹ ist nach Wicke im Feld der Musik von einem ›emanzipierten Klang‹ geprägt, dessen Gestaltung sich »von den Paradigmen der Aufführung (und Aufführbarkeit) vollständig gelöst [hat]«21 . »We didn’t write songs, we wrote records«22, umschreiben die Elvis Presley-Produzenten Mike Stoller und Jerry Leiber dieses Faktum, und der Experimentalpopmusiker und Produzent Brian Eno hebt hervor, dass sich erfolgreiche Popsongs weniger durch Melodie und Harmonik als durch ihren Sound auszeichneten: »The sound is the thing that you recognize«23 . Peter Wicke führt die ›Emanzipation des Klangs‹ auf die Dominanz medientechnischer Prinzipien im Produktionsprozess zurück. Die Logiken des Mikrofons (Quellen können scharf separiert werden; der Nahbesprechungseffekt bewirkt eine Bassanhebung; Distanzvariation ermöglicht Dynamikveränderungen etc.), des Overdubbing (Stimmen können sukzessive zueinander eingespielt werden; einzelne Takes24 können patchwork-artig montiert werden etc.) oder der technischen Nachbearbeitungswerkzeuge (verschiedene Effektgeräte können in ganz unterschiedlichen Verhältnissen auf einzelne Stimmen angewendet werden etc.) bestimmen das Resultat nicht nur kosmetisch, sondern substantiell. Vergleichbares kann auch für das Radio gesagt werden. Welche medialen Logiken hier prägend sind, ist aber nur für die wenigsten Sendeelemente bekannt. Das Hörspiel stellt die einzige näher untersuchte Ausnahme dar. Mit Götz Schmedes25 kann davon ausgegangen werden, dass auch hier Mikrofon, Nachbearbeitungswerkzeuge (weitgehend reduziert auf Geräte zur Raumsimulation) und – als radiophone Variante des Overdubbing – Schnitt (Montage/Collage) substantiell wirken. Der szenische Aufbau der meisten Hörspiele fügt dem noch die Blende mit verschiedenen inhaltlichen Implikationen (Raumblende, Zeitblende, Dimensionsblende) als technisches Mittel der Szenenübergangsgestaltung hinzu.26 Diese auf die Anforderungen von Fiktionalität, Erzählung und Dramaturgie abgestimmten Mittel können aber auf journalistische und unterhaltende Programme mit ihrer seriellen Reihung heterogener Inhalte und immer wiederkehrender Stundenschemata nicht direkt übertragen werden. Zwar wirkt auch hier die Logik des Mikrofons; die Montage separat aufgenom20 | Ebd., o. S. 21 | Ebd. 22 | Zit. n. ebd. 23 | Zit. n. ebd. 24 | Nacheinander eingespielte Varianten eines Stücks bzw. einer Stimme. 25 | Schmedes: Medientext Hörspiel. 26 | Ebd., S. 88.

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mener Quellen unterscheidet sich aber schon dadurch, dass sie beim Radio anders als in der Musikproduktion keine sublime Praxis, sondern wörtlich und explizit ›Programm‹ ist: Während Musik meist noch den Eindruck vermitteln soll, »am Stück« und im synchronen Zusammenspiel der Instrumente und Stimmen hergestellt worden zu sein, beruht das Radioprogramm auf dem Prinzip der Aneinanderreihung von Sendeelementen explitzit heterogener Herkunft – Moderation (Sendestudio) an Musik (CD) an Reportage (Außenaufnahme) etc. Die Verwendung technischer Nachbearbeitungswerkzeuge beschränkt sich weitgehend auf Filterung und Kompression, letztere dafür aber ausgiebig: Man kann eine aufgezeichnete Alltagsstimme allein schon dadurch zur Radiostimme machen, dass man das Signal intensiv in der Dynamik komprimiert. Ein ganz besonderes Problem stellt der Umstand dar, dass die komplette Wellenidentität des Radios immer wieder verschwindet, quasi »unsichtbar« wird: Im Gegensatz zu den Medien Zeitung, Film und Fernsehen, deren Erscheinungsbild im wörtlichen Sinn durchgehend anhand verschiedener visueller Elemente angezeigt wird, ist eine Radiowelle paradoxerweise ausgerechnet dann nur bedingt identifizierbar, wenn das Hauptelement der meisten heutigen Programme, nämlich Musik, gespielt wird. »Sprich, damit ich dich sehe«, zitierten schon frühe Hörspieltheoretiker Sokrates27, der nur in der gesprochenen Performanz die vollständige Aussage realisiert sah, und so kann sich der Radiosender nur dann seiner klaren Identifizierbarkeit sicher sein, solange Sprecher bzw. vorproduzierte Beiträge oder Verpackungselemente über den Äther gehen. Sobald Musik läuft, läuft der Sender Gefahr, sich selbst zum Verschwinden zu bringen, zumindest wenn im Empfangsgebiet Wellen mit ähnlicher Musikfarbe auf Sendung sind.

6. G EGENSTAND UND ME THODISCHER A NSAT Z Moderationsstil, Verpackungsdesign und weitere qualitative Merkmale prägen die Hörerfahrung vermutlich in hohem Maße. Führt man sich Hörbeispiele verschiedener Radioformate vor Ohren, so wird die große Bandbreite unterschiedlicher qualitativer Erscheinungen, d. h. unterschiedlicher Klangkonzepte, deutlich. Fast schon drastisch tritt sie hervor, wenn man Sendemitschnitte verschiedener Radioepochen und Kulturkreise oder Kontinente vergleicht. Tatsächlich verspricht der Vergleich möglichst heterogener Beispiele einen großen Erkenntnisgewinn, da anzunehmen ist, dass in der Breite der qualitativen Ausprägungen potentielle Regeln qualitativer Wirkmechanismen am deutlichsten zutage treten. Allerdings erscheint es ratsam, die Entwicklung eines methodischen Apparats an Beispielen durchzuführen, deren kultureller, technischer und sonstiger Kontext möglichst gut 27 | Schwitzke: Sprich, damit ich dich sehe.

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bekannt ist. Daher werden im ersten Schritt des hier beschriebenen Forschungsprojekts Radio Aesthetics – Radio Identities vertraute Beispiele aus der Gegenwart gewählt. Für die Mesoebene bietet es sich an, wie Carin Åberg28 und auch Götz Schmedes29 die Methode der Sequenzanalyse zu wählen. Åberg führt eine Segmentierung der Sendeelemente durch und ordnet diese einem dreigliedrigen Klassifikationssystem zu, das auf der oberen Ebene ›Speech‹ und ›Non-Speech‹, auf der mittleren Stimme, Musik und Verpackungselemente und auf der unteren auch Gleichzeitigkeit von Musik und Stimme sowie ›stylised music‹ als eigene Kategorie unterscheidet.30 Die Segmentmuster wertet sie strukturell (Vergleich unterschiedlicher Muster) und quantitativ (Vergleich von Durchschnittswerten, Minima/Maxima, Streuung etc.) aus. Dieser Ansatz wurde von Anja Richter31 für die Darstellung komplexerer Zusammenhänge dahingehend modifiziert, dass mit Hilfe einer mehrkanaligen Audio-Software eine exaktere zeitliche Aufgliederung als bei Åberg erfolgen konnte, um qualitative Ausprägungen und Zusammenhänge zwischen einzelnen Sendeelementen detailreicher erfassen zu können. Im Vordergrund der Studie von Anja Richter stand die Evaluation der Möglichkeiten, welche die modifizierte Sequenzanalyse für die Betrachtung des Untersuchungsgegenstands bieten. Für die Mikroanalyse von Verpackungselementen wurde der musiksemiotische Ansatz von Philip Tagg32 aufgegriffen und durch Begriffe u. a. aus der Theorie des Filmsound Design erweitert. Tagg schlägt eine Beschreibungsweise vor, die ebenfalls sequentiell verfährt und in Stimmen/ Instrumente und Formteile unterscheidet. Bemerkenswert an Taggs Ansatz ist, dass er einen analytischen Zugriff und entsprechende Begriffe vorschlägt, die auch für Analytiker ohne musikalische Kenntnisse anwendbar sind. Für das Radio wurde das Verfahren dahingehend modifiziert, dass in Montage- bzw. Mischschichten und Sendeelemente unterschieden wurde.

7. H YPOTHESEN Im Forschungsprojekt Radio Aesthetics – Radio Identities soll im ersten Schritt überprüft werden, inwiefern qualitative Mittel innerhalb einzelner Wellen konsistent eingesetzt werden und sich regelhaft vom Einsatz in anderen Wellen unterscheiden. Zu diesem Zweck werden zuerst die wesentlichen qualitativen Merkmale identifiziert, ein handhabbares Instrumentarium zu deren Erhebung und Messung entwickelt und eine ko28 | Åberg: »Radio Analysis?«. 29 | Schmedes: Medientext Hörspiel. 30 | Åberg: »Radio Analysis?«, S. 91ff. 31 | Richter: Studien zur Bestimmung klangästhetischer Merkmale von Radio programmen. 32 | Tagg: »Analysing Popular Music«.

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härente Beschreibungsweise gefunden. Mit diesem Methodenapparat soll später die komparative Untersuchung größerer, heterogener Sendungskorpora möglich werden. Der derzeit erfolgende erste Schritt, die Identifikation qualitativer Merkmale, geht von mehreren Prämissen aus. Sendeelemente enthalten demnach in der Regel 1. spezifische, standardisierte Gestaltungsmerkmale, die eine Schlüsselrolle bei der Formierung von Wellenidentität bzw. Klangkonzept und damit ›Sichtbarmachung‹ des Radios einnehmen. Diese Gestaltungsmerkmale treten 2. regelhaft und konsistent auf, so dass sie in jedem Moment eine Identifikation zulassen. Sie enthalten 3. sprecherische wie auch andere Gestaltungsmerkmale, für die jeweils spezifische Indikatoren beschrieben werden können. Bündel von Indikatoren bilden 4. ›Identitätsmarker‹. Diese sind 5. gegliedert in a) Klangmuster der sprecherischen und der audiotechnischen Ebenen und in b) charakteristisch strukturierte Verhältnisse von Elementen in einzelnen Momenten (›Momentrelation‹ oder ›Schlüsselmoment‹) und in zeitlich ausgedehnten Einheiten (›Zeitrelation‹ oder ›Schlüsselmuster‹). Die ›Vocal Delivery‹, das hörbare Resultat der Ansprechhaltung, wird im Rahmen der hier genannten Untersuchungen nur als Verhältnis zwischen Sprecher und anderen Sendeelementen betrachtet. Sprecherische Identitätsmarker, so eine These dieses Beitrags, treten in diesen Verhältnissen besonders prägnant hervor, etwa in Länge und Lautstärkerelation der Überlappung von Moderation und Musik (= ›Schlüsselmoment‹).

8. B ISHERIGE E RGEBNISSE 2010 entstanden zu den oben entwickelten Fragestellungen zwei Studien mit methodenexplorativer Ausrichtung.33 Zum einen erfolgte eine Mikroanalyse von Verpackungselementen, da diese im Programmablauf eine qualitativ konstante und akustisch herausragende Größe darstellen und daher mit großer Sicherheit angenommen werden kann, dass sie eine wichtige identifikatorische Rolle für die Sender spielen.34 Die Autorin dieser Studie, Tanja Rüdinger, geht davon aus, dass On Air Promotion im Medium Radio für die Konstruktion einer Wellenidentität eine besonders wichtige Rolle spielt, weil erstens ein großer Teil des Programms im Radio aus externen Inhalten (besonders Musik) besteht. Zweitens behindert der häufige Wechsel zwischen Sendeelementen die Formierung einer konsistenten auditiven Erscheinung. Drittens sind auch Moderatoren im Radio im Vergleich zu ihren Kollegen in audiovisuellen Medien weniger leicht identifizierbar bzw. sogar vergleichsweise austauschbar.

33 | Durchgeführt am Department Medien- und Kommunikationswissenschaften der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg im Rahmen von Magisterarbeiten. 34 | Rüdinger: Ästhetik und Dramaturgie von On-Air-Promotion im Radio.

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Verpackungselemente und Trailer müssten demnach hochgradig qualitativ konstant und akustisch auffällig angelegt werden, um die Wellenidentität eines Senders wirkungsvoll zu konstituieren. Hierauf aufbauend differenziert die Studie drei Funktionsebenen von Verpackungselementen im Radio. Als Mesoebene versteht Rüdinger die Bewerbung des eigenen Programms durch Trailer für Programmangebote anderer Tageszeiten (horizontales ›Audience Recycling‹) oder für dieselbe Sendung an einem anderen Tag (vertikales ›Audience Recycling‹). Diese Funktion erfolgt primär durch inhaltliche Elemente, ihre Analyse auf struktureller Ebene. Makro- und Mikroebene dagegen konstituieren sich nach Rüdinger durch qualitative Mittel. Senderidentifikation und Stärkung des Marken-Images auf Makroebene sowie die Verbindung aller Sendeelemente zu einem ›Broadcast Flow‹ auf Mikroebene sind nach Rüdingers Ausgangsthese nur durch eine qualitative Analyse erfassbar und spielen sich in hohem Maße »im Sound« ab.

Abb. 3: Mikroanalyse eines Bumpers von MDR Figaro.35 Um ihrer These entsprechend formatabhängige Eigenheiten von Verpackungselementen identifizieren zu können, wählte Rüdinger die fünf Sender MDR Figaro, MDR Info, MDR 1, MDR Sputnik und Radio Brocken im Sendegebiet Sachsen-Anhalt aus und bestimmte eine konsistente Auswahl von jeweils ca. fünf besonders markanten Verpackungselementen als Gegenstand der Analysen. Für die Analyse wurde ein eigenes grafisches Transkriptionssystem entwickelt, das es erlaubt, die Produktionsele35 | Vgl. ebd.

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mente Sprache, Musik und Geräusche bzw. ›Sounds‹, die in Verpackungselementen typischerweise in hoher Verdichtung und in schneller Abfolge auftreten, bis in ihre Mikrostruktur hinein darzustellen (siehe Abb. 3). Die Studie macht deutlich, dass die meisten Verpackungselemente nach der sog. ›AIDA-Regel‹36 konstruiert sind, eingeleitet z. B. durch ein akustisches Ereignis, dem sich Hörer reflexartig zuwenden sollen. Während qualitative Eigenheiten der einzelnen Wellen konsistent nachgewiesen werden konnten, weisen die Ergebnisse darauf hin, dass Stereotype wie z. B. die AIDA-Form die Unterschiede zwischen den Gestaltungsweisen geringer ausfallen lassen als nach den Aussagen der verantwortlichen Audio-Producer anzunehmen war. So weisen z. B. ›Stunden-Opener‹ oder auch ›Station IDs‹ verschiedener Wellen große Ähnlichkeiten auf, obwohl sie doch ganz unterschiedliche Zielpublika ansprechen sollen. Darüber hinaus liefern die Analysen Hinweise, dass die einzelnen Verpackungstypen zwar in Bezug auf Argumentationsgang und ästhetische Ausgestaltung elementspezifische Ausprägungen zeigen, aber in Bezug auf ihre Funktion im Broadcast Flow unentschieden erscheinen. Eine Erklärung dafür könnte ein Theoriedefizit sein, das Konzepte, Umsetzungen und Bewertungen zur Folge hat, die unzureichend mit Kriterien und Wirkungsmodellen unterlegt sind. Sprich: Mangels exakter Sprache kann hier offenbar kein hinreichend effektiver Meinungsbildungsprozess und daher auch keine effektive Produktoptimierung bei der Entwicklung von Verpackungen erfolgen. Redakteur und Producer erscheinen sprachlos. Das zu Beginn des Beitrags ausführlich dargelegte Forschungsdefizit wäre demnach auch ein praktisches Defizit unserer Medienrealität, oder anders ausgedrückt: Die hier geforderte Methodik und Theorie der Radioästhetik käme voraussichtlich auch der Radiopraxis zugute, denn gäbe es konsensfähige Begriffe, Analysemethoden und Bewertungskriterien, so könnte die Produktion von Sendeelementen besser zwischen verschiedenen Abteilungen der Sender abgestimmt und beurteilt werden. Die zweite im Rahmen des Projekts durchgeführte Studie ist eine Analyse auf der Mesoebene. Anja Richter37 verglich je zwei zweieinhalbstündige Gesamtmitschnitte dreier Wellen des MDR (das Kulturradio MDR Figaro, die Jugendservicewelle MDR Jump und das Jugendkulturradio MDR Sputnik) anhand von Sequenzanalysen. Die Segmentierung wurde in der Audioschnitt-Software Pro Tools durchgeführt. Dadurch war es möglich, Segmente und Sequenzen mit großer Genauigkeit zu trennen und grafisch anschaulich Kategorien zuzuordnen (siehe Abb. 4). Anhand der vom Programm erzeugten Schnittlisten konnten überdies informative quantitative Auswertungen erfolgen, z. B. zum quantitativen Verhältnis

36 | ›AIDA‹ steht für das Abfolgeschema ›Attention, Interest, Desire & Action‹, das durch Werbebotschaften bei Rezipienten ausgelöst werden soll. 37 | Vgl. Richter: Studien zur Bestimmung klangästhetischer Merkmale von Radioprogrammen.

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und zu Überschneidungsdauern von Wort und Musik, zu Durchschnittswerten oder Verlaufskurven des Musikmetrums (bpm) etc.

Abb. 4: Ausschnitt eines grafischen Sequenzdiagramms aus der Analyse von MDR Jump. Links fett gedruckt die Kategorien: Sprache, Musik, stilisierte (Hintergrund)Musik, Verpackungselemente, Nachrichten, Service, Werbung, Beitrag.38

Abb. 5: Strukturelle Merkmale der drei untersuchten Sender.39 Zum Zweck des grafischen Vergleichs wurden sie hier auf den jeweils höchsten Wert normalisiert.

38 | Vgl. ebd. 39 | Vgl. Richter: Studien zur Bestimmung klangästhetischer Merkmale von Radioprogrammen.

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Die Studie erweitert den von Åberg erhobenen, vorwiegend strukturellquantitativen Merkmalskatalog um eine Reihe qualitativer Merkmale. Die Abbildungen 5 und 6 differenzieren die von Richter identifizierten Kategorien in ›strukturelle‹ und ›qualitative‹ Merkmale. Strukturelle Merkmale enthalten typische Parameter quantitativer Programmanalysen, wie sie von Sendeanstalten/Radiosendern etwa im Rahmen hausinterner Programm-Monitorings verwendet werden.40 Die als qualitativ eingestuften Merkmale wurden zum Teil im Rahmen dieser Studie erstmals erhoben. Die Kurven zeigen, dass sich die drei untersuchten Sender sowohl im Hinblick auf ihre strukturellen Merkmale (wie Moderationslänge oder Anzahl der Sendeelemente pro Stunde) als auch auf ihre qualitativen Charakteristika (wie Synchrondauer mehrerer Sendeelemente – in der Regel Moderation über Musik –, Musiklautstärke unter Moderation oder Sprechgeschwindigkeit) klar voneinander unterscheiden. Genuin sprecherische Merkmale sind in dieser ersten, skizzenhaften Übersicht noch erheblich unterrepräsentiert.

Abb. 6: Qualitative Merkmale der drei untersuchten Sender.41 Normalisierung wie bei Abb. 5.

9. R ESÜMEE Das Spektrum an qualitativen Merkmalen, die im weiteren Verlauf des Forschungsprojekts Radio Aesthetics – Radio Identities erhoben werden sollen, ist mit den bisherigen Instrumenten bei weitem nicht abgedeckt. Die Autorinnen der durchgeführten Studien mussten sich aus Zeitgründen 40 | Vgl. Spang, Wolfgang: Hörfunk-Monitoring. 41 | Vgl. ebd.

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auf einfach zu erhebende Parameter beschränken. Potentiell aussagekräftige Merkmale wie die verschiedenen Dimensionen der Stimmqualität (Grundstimmhöhe, sprachmelodischer Ambitus etc.), das rhythmische Verhältnis zwischen den Sendeelementen, die dynamische Qualität oder der Gestus des Übergangs zwischen Musiktiteln, Beiträgen, Moderation und Verpackung erfordern erheblich aufwändigere Methoden und werden in zukünftigen bzw. diversen bereits angelaufenen Studien untersucht. Die Art der Datenerhebung und ihrer Darstellung in Form von Profilbildern einzelner Wellen scheint sich zu bewähren und soll weiter verfolgt werden. In der Langzeitperspektive zielt das Projekt darauf, mit einem komplexen Methodenapparat und einer größeren Zahl qualitativer Programmanalysen im Vergleich 1. verschiedener Formate, 2. verschiedener Epochen und 3. verschiedener Kulturkreise formatspezifische, zeitgeschichtliche und kulturelle Eigenheiten radiophoner Klangkonzepte offenzulegen. Um ein großes Korpus zeitlich ausgedehnter Radiomitschnitte analysieren zu können, erscheint es sinnvoll, nach der Identifikation von Merkmalen Indikatoren zu bestimmen, durch die z. B. einzelne Formate, Epochen und Kulturkreise oder auch bestimmte Qualitätsdimensionen weitgehend konsistent gekennzeichnet sind und quasi einzelne radiophone Medienkulturen konsistent abbilden. Ein bestimmter Wert oder eine Wertereihe eines Indikators ›Moderationseinstieg‹ könnte z. B. ein Kennzeichen/Charakteristikum für ein bestimmtes Jugendformat oder auch für eine Dimension radiophoner Qualität darstellen, die man z. B. als ›Drive‹ oder ›Tonus‹ bezeichnen könnte. Ob sich derartige zeit-, format- und kulturübergreifenden allgemeinen Dimensionen einer Ästhetik des Radios konsistent ermitteln lassen, ist derzeit ungewiss. Die Ergebnisse der ersten Studien sind jedoch ermutigend. Die Arbeit an Methoden und Instrumenten, die eine differenzierte Beschreibung radiophoner Klangkonzepte ermöglichen, hat praktikable Vorgehensweisen hervorgebracht, die neue Erkenntnisse in einem weiten Gegenstandsfeld versprechen.

L ITER ATUR Åberg, Carin: »Radio Analysis? Sure! But how?«, in: Stuhlmann, Andreas (Hrsg.): Radio-Kultur und Hör-Kunst. Zwischen Avantgarde und Popularkultur 1923–2001, Würzburg 2001, S. 83-104. Arbitron (Hrsg.): »Radio Today. How America Listens to Radio, 2008 Edition«, http://www.arbitron.com/downloads/radiotoday08.pdf, 30.03.2012. ARD (Hrsg.): Media Perspektiven Basisdaten. Daten zur Mediensituation in Deutschland 2009, Frankfurt a. M. 2009. Fornatale, Peter/Mills, Joshua E.: Radio in the Television Age, New York 1980. Frey-Vor, Gerlinde/Siegert, Gabriele/Stiehler, Hans-Jörg: Mediaforschung, Konstanz 2008.

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A BBILDUNGEN Abb. 1: Zweigliedriges Modell von Radiocharakteristika. Abb. 2: Kontinuum zwischen den Radiofunktionen ›communicatio‹ und ›communio‹ nach Åberg, angewendet auf drei in der Radiopraxis häufig genannte Rezeptionsparadigmen des Radios. Abb. 3: Mikroanalyse eines Bumpers von MDR Figaro. Aus: Rüdinger: Ästhetik und Dramaturgie von On-Air-Promotion im Radio. Abb. 4: Ausschnitt eines grafischen Sequenzdiagramms aus der Analyse von MDR Jump. Aus: Rüdinger: Ästhetik und Dramaturgie von OnAir-Promotion im Radio. Abb. 5: Strukturelle Merkmale der drei von Richter untersuchten Sender. Zum Zweck des grafischen Vergleichs wurden sie hier auf den jeweils höchsten Wert normalisiert. Werte aus Richter: Studien zur Bestimmung klangästhetischer Merkmale von Radioprogrammen. Eigene Abbildung des Autors. Abb.  6: Qualitative Merkmale der drei von Richter untersuchten Sender. Normalisierung wie bei Abb.  5. Werte aus Richter: Studien zur Bestimmung klangästhetischer Merkmale von Radioprogrammen. Eigene Abbildung des Autors.

Intermediale Spielräume im Hörspiel der Gegenwart Zwischen Dokumentation und Fiktion, Originalton und Manipulation, akustischer Kunst und Radiophonie, Theater und Installation Bettina Anita Wodianka

Das Hörspiel steht schon mit einem Bein im Leben, wenn sich andere Ausdrucksformen noch die Prothesen anschnallen. Es spricht nur einen Sinn an, die anderen muss es sich erkämpfen. (Christoph Schlingensief)

Anhand zeitgenössischer Produktionen lassen sich die vielfältigen Entwicklungen im Bereich des Hörspiels gut beobachten, die neue Hörräume erschließen, die sich in tastender Neugier und experimenteller Kooperation zu einer Grenzüberschreitung angestammter Kunstformen entwickeln. Ausgehend von bekannten bzw. erprobten Formaten in Rundfunk und Hörspiel erschließt beispielsweise die akustische Kunst in den Hörstücken von Paul Plamper intermediale Spielräume, die Live-Settings und räumliche Installationen mit einschließen. Damit überschreiten die auditiven Kunstwerke die Grenze zur Performance und zu den bildenden Künsten. Umgekehrt entwerfen Theaterinszenierungen wie u. a. von Rimini Protokoll akustische Szenerien, die den Zuschauer und Zuhörer im realen Stadtraum in Telefonduette mit Mitarbeitern eines indischen CallCenters verwickeln, wie etwa im Stück Call Cutta (2005). Die radiophone Kunst weist bereits in den 1960er Jahren in der offenen Konzeption des Neuen Hörspiels eine Überwindung traditioneller Programmatik auf und steht in Bezug zur Erweiterung des Kunstbegriffs durch die Fluxus-Bewegung sowie zum performative turn, der »den Fo-

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kus fort von Texten hin zu Handlungen, Praktiken, Vollzügen, Aktionen«1 verschob, als Wende von Werkästhetik zur »Ereignisästhetik«, als »Weg dabei ›vom Werk zum Ereignis‹«2 . Durch die Digitalisierung, näherhin durch die veränderten Produktions- und Rezeptionsmöglichkeiten der synthetisierten Klänge als auch durch weitere medientechnologische Innovationen, ist aus dem Hörspiel in den letzten Jahrzehnten eine hybride, intermediale, teils multimediale Form geworden, die interaktive Möglichkeiten auslotet und auf ganz unterschiedliche Weise experimentiert: mit dem Live-Prinzip, mit interaktiven Internet-Installationen, mit Hörspielen auf der Basis von Improvisationen, mit Formen der ›Musikalisierung des Hörspiels‹. 3

Grundlage für die mehrmedialen Konzepte und intermediale Dramaturgie, durch die sich dem Hörer neue Hörräume eröffnen, sind der »zeitlich begrenzte, dramaturgische und kompositorisch strukturierte Ablauf, die Radiostücke mit Filmen und Theaterstücken teilen«4 . Um die in ihrer Wirkungsästhetik audiovisuell geprägten und genuin akustischen Hörspiele als Medienkombinationen zu erfassen, in denen eine Transposition anderer künstlerischer Medien – wie Literatur, Theater und Film – als Ergänzung der auditiven durch visuelle Darbietungsformen in gleichsam radioexogenen ästhetischen Strömungen innerhalb des Mediums Rundfunk stattfinden, bietet sich aus kultur- und medienwissenschaftlicher Perspektive der begriffliche Untersuchungsrahmen der Intermedialität und Hybridität an. Die Medienwechsel als komplexe Transformationsprozesse sind geprägt durch die Rezeptionsästhetik der auditiven Künste, die das Wechselspiel der Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit im Spannungsfeld zwischen Hören und Sehen zum künstlerischen und spielerischen Programm machen und eben darin einen eigenen medienästhetischen Diskurs herausbilden. Mein Beitrag möchte sich daher den Wechselspielen in zwei Fallstudien annähern und diese in Beziehung setzen, um die unterschiedlichen Vorgehensweisen vornehmlich in den (Post-)Produktionen und den Rezeptionsangeboten zu verfolgen. Mit der Digitalisierung verändern sich, so der Stand der Forschung zur intermedialen Ästhetik insgesamt, die herkömmlichen Erzählformen und Darstellungsweisen in den vormals getrennten Medienformaten des Rundfunks, des Films und des Theaters. Mit ihr werden die Zwischenräume zwischen den Medien keinesfalls aufgehoben, »vielmehr eröffnen digitale Medien neue Formen intermedialer Dynamiken, die wir – zum Teil – auf neuen Ebenen […] anzusiedeln haben«5 . Denn intermediale und künstlerische Verfahren verfügen über 1 | Meyer: »Vorwort«, S. 14. 2 | Mersch: Ereignis und Aura, S. 163. 3 | Schneider: »Netzwerkgesellschaft«, S. 9. 4 | Meyer: »HörRäume der Kunst«, S. 8. 5 | Müller: »Intermedialität digital«, S. 33.

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die Fähigkeit, Brüche, Risse und Zwischenräume als solche zu exponieren und somit Wahrnehmungsdispositive zu irritieren bzw. zu eröffnen. Die Analyse in den Fallstudien unternimmt deshalb den Versuch, die »Dynamiken und Wechselbeziehungen zwischen Medien, Materialitäten und Inhalten sowie die Rekonstruktion der Rahmenbedingungen dieser Interaktionen«6 in den unterschiedlichen Konfigurationen darzustellen und zu hinterfragen, um die »Medialität als Übertragbarkeit« zu untersuchen. Die digitalen Medien ermöglichen eine »medienunspezifische Darstellbarkeit von medienspezifischen Darstellungsweisen«7, wobei Jens Schröter bereits auf die »paradoxale Struktur der Idee eines gerichteten Transfers ästhetischer Prinzipien«8 in Bezug auf die Formale und Transmediale Intermedialität aufmerksam gemacht hat. Finden sich in gegenwärtigen Hörspielproduktionen unterschiedlichste Konzepte, die in jeweils ganz eigener Art mit intermedialen Verfahren operieren und diese in jeweils verschiedenen Räumen und Medien realisieren, so wähle ich für eine erste Annäherung zwei Beispiele, die zwar in der Rezeption sehr klassische Anordnungen suchen, in der Produktion jedoch ungewöhnlichere Wege wählen. Im Fokus meiner Ausführungen steht dabei in erster Linie die Übersetzung im Medienwechsel, die sowohl bei dem gewählten Hörspiel von Paul Plamper als auch im Fall von Rimini Protokoll in den auditiven Artefakten Spuren hinterlässt und Zwischenräume konfiguriert, die sich auf den Prozess selbst-reflexiv beziehen und diesen Kontext spielerisch zum Programm machen. Beide Hörspiele verlassen für die Aufnahmen den klassischen Produktionsort des Tonstudios und begeben sich erst in der Postproduktion dorthin zurück. Obgleich sie in der Produktion sehr unterschiedlich operieren, sind ihnen doch wesentliche Elemente gemein. Durch die experimentellen Herangehensweisen, die neue Spielanordnungen suchen und konstituieren, nähern sie sich in ihren Vorstellungen und Konzepten an und können daher als eine auditive Medienkultur bezeichnet werden, die sich zwar teilweise sehr heterogen artikuliert, jedoch in ihren Produktions- und Präsentationsformen ähnliche Strategien verfolgen. Zunächst sollen sehr verkürzt und knapp die Traditionslinien nachgezeichnet werden, die mir für die Ausprägungen gegenwärtiger Produktionen im Hörspiel zentral erscheinen.

D AS H ÖRSPIEL ALS A RS P ERFORMATIVA Heutige, so genannte offene Programmformen des Radios, deren Innovationspotential im deutschsprachigen Raum u. a. in den Sendeanstalten WDR, BR und ORF entwickelt wurde, verdanken sich interdisziplinären 6 | Ebd., S. 22. 7 | Tholen: »Überscheidungen«, S. 16. 8 | Schröter: »Intermedialität«, S. 142.

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Projekten, die sich Ende der 1960er und der 1970er Jahre mit Affinitäten zur Konkreten Poesie, zur Sprachphilosophie und musique concrète als grenzerweiternde ästhetische Programmatik der Fluxus-Bewegung annähern.9 Die hiermit verbundene Aufhebung des traditionellen Konzepts der Autorschaft ebnete – neben Radiotechnologien, die das Aufzeichnen, Bearbeiten und Manipulieren des Klangs ermöglichten – den Weg hin zu einer akustischen Kunst mit einer beachtlichen Variation intermedialer Ausprägungen. Das Besondere an der Entwicklung ist, dass die Formenvielfalt selbst wiederum im Hörspiel als eigener Form der Medienreflexion thematisch wird – jenseits der Tradition narrativer Hörspiele und in einer genuin experimentellen Erkundung neuer technischer Mittel und Materialien: Tatsächlich hat die Ars Acustica seit den 60er Jahren in bewusster, konzeptueller Ausnutzung der Möglichkeiten der Stereofonie, in der Verwendung des O(riginal)Tons oder im Heranziehen von KomponistInnen als HörspielmacherInnen das Hörspiel erneuert; sie hat den Sprachbarrieren des narrativen Hörspiels die Entwicklung einer international verständlichen Sprache gegenübergestellt, in der Wort, Geräusch und Klang gleichwertig sind.10

Als sehr produktiv erweisen sich die durch den Rundfunk selbst initiierten Forschungsstudien, die in Wechselwirkung mit den Künsten und Künstlern entstanden sind.11 Dabei beziehen sich besonders Klaus Schöning und Herbert Kapfer in den von ihnen geleiteten Hörspielredaktionen auf die Ausprägungen einer intermedialen Traditionslinie.12 Diese Initiativen haben zur Vielfalt der Erscheinungs- und Repräsentationsformen maßgeblich beigetragen. Die akustische Kunst, die Klaus Schöning im WDR bereits 1991 mit der Umbenennung der Hörspielredaktion von HörSpielStudio in Studio Akustische Kunst programmatisch erweiterte, ist vor allem durch die medienästhetische Strategie einer Bi-Medialität geprägt, die der ehemalige Redaktionsleiter in seiner Bestandsaufnahme im transformativen Wechselspiel der beteiligten Medien als audio-visuelle Ars Perfomativa bezeichnet.13 Hierbei geht er auf die selten berücksichtigte Wechselwirkung bimedial ausgerichteter akustischer Kompositionen ein, die mit Rücksicht auf die medienspezifischen Unterschiede sowohl für das Radio als auch für die Bühne als Performance realisiert wurden, und begibt sich auf Spurensuche durch die rhizomatische Tradition der Akustischen Kunst im Kontext des intermedialen Aufbruchs der Künste zu Beginn des 20. Jahr9 | Vgl. Schöning: »Ars Acustica – Ars Performativa«, S. 157. 10 | Grundmann: »Bemerkungen zur Radiokunst«, S. 132. 11 | U. a. Klaus Schöning (WDR), Herbert Kapfer (BR), Hansjörg Schmitthenner (HR), Heidi Grundmann (ORF), Wolfgang Hagen (DKultur). 12 | U. a. Schöning: Neues Hörspiel; Kapfer u. a.: Intermedialität und offene Form. 13 | Schöning: »Ars Acustica – Ars Performativa«, S. 149 ff.

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hunderts, ihren ästhetischen Grenzerweiterungen und wechselseitigen Durchdringungen. Beim Bayerischen Rundfunk ist diese Programmatik ebenfalls bereits im Redaktionsnamen enthalten, der 1996 in Hörspiel und Medienkunst umbenannt wurde und unter dem Begriff der Medienkunst elektronische, digitale, audiovisuelle und interaktive Kategorien und Prozesse vereint. Dabei bezieht die Redaktion neben »performance-geprägten auditiven Konzepten«14 die zusätzliche Realisation audiovisueller Produktionen als Wechselspiel zwischen technischer Innovation und künstlerischer Kreativität mit ein. Auch die Redaktion Kunstradio des Österreichischen Rundfunks, die seit 1987, in der Nachfolge einer Ö1-Sendung über zeitgenössische bildende Kunst, als Raum für Radiokunst existiert und von der Kulturredakteurin und Kunstkritikerin Heidi Grundmann begründet wurde, steht von Anfang an durch die Zusammenarbeit mit zeitgenössischen Künstlern wie u. a. Bill Fontana und Festivals wie u. a. dem Linzer Ars ElectronicaFestival, das zum ersten Mal 1989 stattfand, für eine programmatische Öffnung und einen lebendigen Dialog zwischen den Künsten. Die Wurzeln für die Entwicklung und die Neugierde an intermedialen Ausprägungen in der radiophonen Kunstform des Hörspiels finden sich schon in der Frühzeit des Rundfunks und in Experimenten der 1960er und 1970er Jahre, entfaltet ihr vollständiges Potential aufgrund der eingeschränkten technischen Möglichkeiten jedoch erst in den letzten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. So kann heute festgestellt werden, dass die Idee einer spezifischen Radiokunst das sie einst hervorbringende Medium überholt hat: Radiokunst und Ars Acustica sind zu einer eigenen Kunstform herangereift, die ihren Platz im Kulturbetrieb, auf Festivals, in eigenen Hörreihen, Clubs und online neben der bildenden Kunst, der Literatur und der Musik behauptet.15

Rolf Dieter Brinkmann experimentiert bereits in den 1970er Jahren mit einem Tonbandgerät und dessen Materialität, wodurch er seine hochgradig intermedialen Arbeiten um zusätzliche Komponenten erweitert. Die Filmregisseurin Ulrike Ottinger integriert in dem Tondokument Taiga – Erzählungen aus dem nördlichen Land der Mongolen16 audiovisuelle Verfahrensweisen und lässt auf diese Weise spezielle Hörräume beim Zuhörer entstehen, die sich atmosphärisch dem Voice-over und der Dramaturgie ihrer Dokumentarfilme annähern. Auch die auditiven Arbeiten von Alison Knowles, u. a. Bohnen Sequenzen (WDR 1982), sind von Erfahrungen ihrer eigenen audiovisuellen Performances geprägt und entwerfen u. a.

14 | Kapfer: »intermedium«, S. 313. 15 | Hagelüken: »Eine originäre Kunst für das Radio«, S. 51. 16 | SWF/BR/SFB 1994, R: Ulrike Ottinger.

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durch Wörter und Geräusche einen imaginären Spielraum.17 Ror Wolf folgt in seinen Hörspielen, wie u. a. in seiner Radioballade Leben und Tod des Kornettisten Bix Beiderbecke aus Nord-Amerika18, der Ästhetik der Störung und Unterbrechung, durch die narrative Strategien permanent unterlaufen werden und so – neben vielen anderen Hörspielmachern, die auf ganz unterschiedliche Weise mit dem Element arbeiten, wie es bereits Walter Ruttmann 1930 in seinem Hör-Film Weekend strategisch verfolgt – den Hörer durch Irritation gewohnter Wahrnehmungsschemata herausfordern. Diese Herausforderung an den Hörvorgang kann zur Sensibilisierung beitragen, wenn fiktionale Hörspiele im Gewande von »Darstellungsformen größtmöglicher Wahrscheinlichkeit […] reale und realitätsstiftende Reaktionen«19, so etwa bei Orson Wells’ meisterhaft inszeniertem Hörspiel War of the Worlds, hervorrufen. Das Liquid Penguin Ensemble lotet in den Langzeitprojekten Gras wachsen hören (SR 2007) und Bout du Monde (SR 2009) die Überlagerung von Fiktion und Wirklichkeit in Form des Radiofeatures aus, um einen Schwebezustand herzustellen, aus der sich der Humor speise, wie es Katharina Bihler, neben Stefan Scheib der Kern des Ensembles, beschreibt: Ein Abglanz der Seriosität der Featureform fällt dann auf unsere Erfindungen, und für einen kleinen Moment schwanken Sie als Hörerin, als Hörer und ziehen die Möglichkeit in Betracht, dass doch mehr dahinterstecken könnte, dass doch was Wahres dran oder dass vielleicht doch fast alles wahr sein könnte. Unser Hörspiel ›Gras wachsen hören‹ kommt als Feature daher, als seriöse Form, in welcher wir gewohnt sind, Wissenswertes über die Realität präsentiert zu bekommen. Der transportierte Inhalt neigt aber für sich gewonnen zum Fantastischen. 20

Im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen stehen daher nicht die suggestive Wirkung des narrativen Hörspiels und der Handlungsraum der »inneren Bühne«21 , sondern die Wahrnehmungsdispositive intermedial angelegter Hörspiele. Dazu gehören u. a. neue Formen des gemeinschaftlichen Hörens im Wechselspiel verschiedener Aufführungsformate in klang- und radiokünstlerischen Performances.

F ALLSTUDIEN ZUM M EDIENWECHSEL GEGENWÄRTIGER H ÖRSPIELPRODUK TIONEN Regisseure und Autoren wie Andreas Ammer, Paul Plamper, Künstlerund Performancekollektive wie Rimini Protokoll, She She Pop und das 17 | Schöning: »Ars Acustica – Ars Performativa«, S. 167 ff. 18 | SWF/HR/NDR/WDR 1986, R: Heinz Hostnig. 19 | Meyer: »Lob der Störung«, S. 65. 20 | Bihler: »In der Schwebe«, S. 18. 21 | Wickert: »Neue Dichtungsgattung Hörspiel«, S. 505 ff.

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Liquid Penguin Ensemble, um nur einige wenige zu nennen, sind immerzu auf der Suche nach den Besonderheiten der beteiligten Medien, den speziellen, den Medien selbst inhärenten Darstellungsweisen und den Differenzen zu anderen medialen Erscheinungsweisen, um diese im Kunstwerk insbesondere im Hinblick auf die Rezeption fruchtbar zu machen, ohne primär dem Ziel zu folgen, die Medialität selbst zu verbergen. In zahlreichen Produktionen untersuchen Andreas Ammer und FM Einheit das besondere Verhältnis von Live-Aufführungen und medialen Ereignissen und schälen die für sie in dem Sinne medienadäquaten und radiophonen Strategien der auditive Kunstform heraus, inszenieren das Hörspiel u. a. als Liveshow wie im Fall von Apocalypse Live. Dabei folgt Ammer bei allen Produktionen – unabhängig vom Medium, mit dem er gerade arbeitet – der Grundhaltung, die »Formate zum Äußersten zu treiben, sich aber trotzdem dem Medium selbst verpflichtet zu fühlen«22 . Die Fußball-Live-Reportage stellt für ihn nach wie vor die Spielart im Rundfunk dar, die das einzulösen im Stande ist, was sie verspricht, nämlich die vermittelt unmittelbare Teilnahme am Spielgeschehen: Alles teilt sich über die Stimme des Reporters mit, die Emotion und die Geschwindigkeit, mit der er redet. Man kann sich nie vorstellen, wo ein Spieler ist, wie er aussieht, aber trotzdem teilt sich das, was im Stadion passiert, eins zu eins mit. Da ist ein Medium bei sich selbst. Es versucht nicht, das was passiert, eins zu eins abzubilden. Der Reporter sagt nicht: Jetzt rennt er mit soundsoviel Stundenkilometern im spitzen Winkel und der Torwart steht viel zu weit in der rechten Ecke, dazu ist gar keine Zeit. Der ganze Inhalt muss sekundär produziert werden und er wird produziert durch die Aufregung des Reporters. Redet er schneller, heißt das, jetzt ist die Chance da und es ist völlig egal, wo der Spieler steht. 23

Dieses Faszinosum der Sportreportage haben Hörspielmacher bereits häufig zum Thema ihrer radiophonen Arbeiten gemacht, bzw. dramaturgische Strategien zur Aufmerksamkeitslenkung adaptiert, wie z. B. Ror Wolf und Jürgen Roth in u. a. Das langsame Erschlaffen der Kräfte (BR 2006). Die »Verbindung verschiedener Aufführungspraktiken von Radiosendung über Performance und Konzert bis zur Bündelung in Festivals [rückt] den Ereignischarakter von Radio als audio art wieder ins Zentrum«24 , als »flüchtig und transitorisch, sie erschöpfen sich in ihrer Gegenwärtigkeit, d.h. in ihrem dauernden Werden und Vergehen«, denn die »Aufführung [ist] nach ihrem Ende unwiederbringlich verloren«25 . Auf welch vielfältige und ausgeklügelte Weise Hörspielmacher wie u. a. Orson Welles, Andreas Ammer und Roland Schimmelpfennig die Ereignishaftigkeit des Prinzips Live in ihren Hörspielen inszenieren, um den Hörer förmlich suggestiv 22 | Ammer: »Es gibt starke Regeln«. 23 | Ebd. 24 | Büscher: »Radiophone Ereignisse«, S. 156. 25 | Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 127.

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zu überwältigen und in Beschlag zu nehmen, hat Jochen Meißner in einer Studie sehr schlüssig herausgearbeitet.26 Im Folgenden möchte ich exemplarisch auf zwei medienreflexive Hörstücke von Paul Plamper und Rimini Protokoll eingehen, um abschließend die unterschiedlichen intermedialen Strategien zu beleuchten und die ihnen gemeinsamen künstlerischen Praktiken im Einsatz je verschiedener Technologien und Formen nachzuvollziehen, die jeweils originäre Hörräume und Höranordnungen konfigurieren, wobei ich mich in diesen Ausführungen überwiegend auf den Aspekt der (Post-)Produktion beschränke. Der Fokus der Analyse richtet sich auf die Übersetzung von einer medialen Form in eine andere und die dramaturgischen, intermedialen Wechselbeziehungen in Anlehnung an performative Praktiken und Aufführungsformate des postdramatischen Theaters und den Ereignischarakter des Live-Mediums im Rundfunk als auditive Kultur intermedialer Ausprägungen.

RUHE 1 − eine begehbare Hörspielskulptur Bereits zu Beginn seiner Beschäftigung mit dem Hörspiel interessieren den Berliner Regisseur und Autor Paul Plamper27 medienadäquate Darstellungsweisen und alternative Inszenierungs- und Präsentationsformen, darunter u. a. Hörspiele im öffentlichen Raum und als installative Ausstellungskonzepte. Für das Kölner Museum Ludwig und den WDR entwickelte er die 31-Kanal-Klanginstallation RUHE 128 zunächst im (Ausstellungs-)Raum als Audio-Installation im white cube mit leeren Stühlen und Tischen, auf denen Lautsprecher positioniert sind. Die Szene betretend befindet sich der Besucher zunächst in der Geräuschkulisse eines Cafés, die den gesamten Raum einhüllt. Begibt man sich an die einzelnen Tische und nimmt Platz, so kann man verschiedenen Gesprächen lauschen, die mittels Schlaufendramaturgie nach knapp fünf Minuten an den Ausgangspunkt der Unterhaltung zurückkehren. Der Ausstellungsraum läuft perspektivisch auf eine Lichtwand zu, die die Fensterfront eines Cafés symbolisiert. Aus der Richtung kommt in wiederkehrendem Rhythmus ein dumpfer Schlag, der die Gespräche an den Tischen verstummen lässt. 26 | Vgl. Meißner: »Das Prinzip Live – Krieg im Hörspiel«. 27 | Paul Plamper war als Regieassistent am Berliner Ensemble, an der Volksbühne Berlin und als Kurator der Hörspiel-Veranstaltungsreihe Hörspielzentrale am HAU tätig. Für den WDR realisierte er u. a. die Hörspiele Hüttenkäse (1999), Stopper (2000), TOP HIT leicht gemacht (WDR/NDR 2002), Henry Silber geht zu Ende (2003) und Hochhaus 1-3 (2006). Außerdem betreibt Plamper die Hörspielplattform hoerspielpark.de, die eine Alternative zu herkömmlichen Audio-Verlagsmodellen darstellt und auf der ausgewählte Hörspielmacher (u. a. Schorsch Kamerun und Rimini Protokoll) ihr Gesamtwerk im Internet zugänglich machen. 28 | WDR/Museum Ludwig 2008, R: Paul Plamper, Hörspielpreis der Kriegsblinden 2009, Deutscher Hörbuchpreis 2012, Hörspiel des Monats Dezember 2008.

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Was war vorgefallen? Folgt man den Tischgesprächen, so erfährt der Besucher, dass infolge eines Streits zwischen einer Frau und einem Mann auf der Straße vor der Szenerie einer der beiden, vermutlich die Frau, gegen die Scheibe des Cafés kracht. Je mehr Tische man besucht hat, desto klarer wird, was im Café nicht geschieht, denn keiner schreitet ein und jeder hat hierfür einen anderen triftigen Grund. In dem Nebeneinander der Anordnung setzt sich die Szene wie eine Art Puzzle zusammen und kulminiert jedesmal aufs Neue im Moment der Ruhe als Möglichkeitsund Handlungsraum. Durch die Passivität der Cafébesucher wird die Zeit bis zum erneuten Einsetzen der Tischgespräche dramatisch verdichtet. Das »Konzept einer begehbaren Hörspielskulptur« begründet sich im Schaffen eines Raumes, »in dem man intensiv und bewusst hört, der Platz lässt für die Phantasie des Hörers und diesen zum Komplizen der Hörspielstimmen an den Tischen macht, zum frisch ertappten Exponat der eigenen Handlungsunfähigkeit«29. Der Rezipient erlebt – vorausgesetzt er lauscht den Gesprächen jedes Tisches – den Vorfall nacheinander aus zwölf verschiedenen Perspektiven und insgesamt 29 Lautsprechern; jeder überträgt die Stimme eines Gastes. Den Gesprächen aufmerksam folgend, entdeckt der Zuhörer Zusammenhänge und gerät in den Sog, die Gespräche und Stimmen räumlich zueinander in Beziehung zu setzen und auf diese Weise im Raum zu verteilen. Dabei verwendet der Regisseur den Ausstellungsraum jedoch nicht, um die Szene visuell sichtbar zu machen, das Geschehen vermittelt sich ausschließlich akustisch. Geschickt nutzt Plamper in seiner Inszenierung den akustischen Raum, die Atmosphäre des Geschehens, denn der Rezipient sitzt selbst mitten in der Geräuschkulisse des Cafés. Die Idee und Intention zu der Installation entstand aus der »Sehnsucht nach Entschlackung des Hörraums«30. Gleichwohl markiert Plamper die Handlungsräume im Moment der Ruhe, in dem das Spiel seinen wesentlichen Spielgedanken im Moment der Störung als Möglichkeitsraum inne hat, als eine »Akustische Großaufnahme«31, die die lineare Zeit für den Rezipienten zum Stillstand bringt. In der Installation entsteht über das Beziehungsgeflecht der Stimmen die räumliche Anordnung und montiert sich im Vollzug des Hörens zu einem sozio-kulturellen Raum. Die inszenierte Unmittelbarkeit des Ereignisses kommt im Ausstellungsraum durch die Simultaneität der Gespräche zustande, die alle parallel einem Hörpunkt entgegenstreben. Der Ausgangspunkt für die Radioversion von RUHE 1 ist die räumliche Anordnung im Museum Ludwig. Die Gleichzeitigkeit der Gespräche an den verschiedenen Tischen übersetzt der Regisseur dabei kunstvoll in die Linearität des Hörspiels, in ein transparentes Nacheinander, wobei die Linearität »durch die fiktionale Synchronizität (zwölf Mal hintereinander wird die gleiche erzählte Zeit in der jeweiligen Zahl an Variationen in Län29 | Plamper: »Rede Kriegsblindenpreis«. 30 | Ebd. 31 | Pinto: Stimmen auf der Spur, S. 209.

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ge und Verknüpfung zur Streitszene dargeboten) ständig gebrochen«32 wird. Plamper schafft akustische Signale, vernetzt die jeweilige Szene mit schon bekannten Gesprächsfetzen des Nachbartischs als erkennbare Refrainelemente, die »Korrelations- bzw. Koordinationspunkte in der Gesamtstruktur darstellen«33 , welche der Rezipient nach und nach entdeckt, kombiniert und zueinander in Beziehung setzt. Vito Pinto arbeitet diesbezüglich in seiner Analyse des Hörspiels den Einsatz des Cocktailparty-Effekts als medienästhetischen Effekt detailliert heraus, der die »Kreisstruktur des Verlaufs des Hörspiels [markiert], um bestimmte Worte, Sätze, Lacher, Aufschreie, Geräusche bewusst in den Vordergrund zu mischen und aus dem Hintergrund hervorzuholen«34 , der somit die Aufmerksamkeit des Hörers bewusst lenkt und den Effekt aktiv inszeniert. Die Umsetzung der Simultaneität des räumlich aufgefächerten Hörspiels in die Linearität der radiophonen Kunstform funktioniert durch das prägnant eingesetzte Rückspulgeräusch einer analogen Tonbandmaschine und durch die genaue Abmischung der Geräuschkulisse im Hintergrund, wodurch Plamper das Hörspiel in eine dramatische Form übersetzt, die den Raum und die Gleichzeitigkeit der Gespräche durch Zurückspulen und Repetition erzählt. Vito Pinto macht dabei auf den selbstreflexiven Akt aufmerksam, den der ästhetische Einsatz an den Übergängen der Sequenzen einführt und als Erzählinstanz markiert: durch die Vor- und Zurückspulengeräusche des Tonbands, durch die »das Medium Radiophonie und seine akustische Ab-Hörsituation« selbst in Erscheinung tritt und das »Hörspiel von Beginn an als technisches Verfahren exponiert«35 . Dadurch wird die Rezeption als Ab-Hörsituation und der Vorgang des Abhörens als ZuHören selbst zum künstlerischen Konzept des Hörspiels und der Zuhörer Zeuge der Ereignisse, die im Hörspiel durch die Inszenierung der Tischgespräche »dokumentarischen und hyperrealistischen Charakter«36 annehmen. Dass die Übersetzung ins genuin akustische Medium Radio funktioniert, verdankt sich sicherlich – neben der digitalen Bearbeitung – nicht zuletzt der Arbeitsweise Plampers mit den Sprechern, da er – als ein grundlegendes Merkmal seiner Arbeitsweise – ihnen die Freiheit lässt, auf der Basis skizzenhafter Vorlagen und Stichworte zu improvisieren: Die Stimme des Laiensprechers und die Stimme des Alltäglichen wird in allen zwölf Sequenzen in RUHE 1 in den Vordergrund gerückt, um den Rezipienten genau jene von der Narration dargebotene Situation und Alltagserfahrung näherzubringen. Die Akteure in den Hörspielen Plampers werden im Produktionsprozess der kreativen und zieloffenen improvisatorischen Spielsituation ausgesetzt, und dies ist folgerichtig dem Resultat [...] auch ›anzuhören‹: In gewisser Hinsicht klin32 | Ebd., S. 207. 33 | Ebd., S. 212. 34 | Ebd., S. 207. 35 | Ebd., S. 203. 36 | Ebd., S. 236.

I NTERMEDIALE S PIELRÄUME IM H ÖRSPIEL DER G EGENWART gen die Stimmen nicht ganz perfekt, doch führt diese Inszenierung des Nichtperfekten [...] gerade nicht zu einer Verzerrung oder Störung der Wahrnehmung. Ganz im Gegenteil: Die gewissermaßen ›unsauber‹ klingenden Stimmen verfügen ihrerseits über ein durchaus weit gefächertes klangästhetisches Potential, wodurch sie eine besondere Dynamik erzeugen; diese Stimmen der (improvisierenden) Akteure klingen quasi-dokumentarisch, inkorporieren ›Authentizität‹. 37

So frei die Gespräche durch die Arbeitsweise in der Produktion zu sein scheinen, das Hörspiel an sich stellt ein durchkomponiertes und hochartifizielles Stück dar, das in der Radioversion seinen Zuhörer mehrdimensional in Beschlag nimmt und den Hörspielraum physisch wahrnehmbar macht. Die »Mischung aus einem inhaltlich streng eingegrenzten fiktionalen Rahmen« und »die von der Improvisation gegebene Offenheit der Stimmen- und Dialogführung« mündet schließlich durch die Postproduktion »über den Weg der Selektion, des Ausschneidens und des Collagierens wieder in die strengen Grenzen diesseits des fiktionalen Rahmens«38. Dadurch wird die Hörspielskulptur auch in der genuin akustischen Form durch die dichte Komposition, präzise Abmischung und komplex montierte Kulisse aus Geräuschen und Stimmen für den Rezipienten als Klangereignis, das »eine räumliche Verbindung zwischen Hörspiel und Zuhörer her[stellt]«39, physisch erfahrbar: »Über dieses immersive Raumerlebnis [...] ist der Hörer letztlich stärker in die Handlung involviert als im distanzierter wahrzunehmenden reinen ›Studio-Hörspiel‹«40.

Von der Theaterinszenierung zum Hörspiel: Karl Marx: Das Kapital, Erster Band Bereits vor Karl Marx: Das Kapital, Erster Band (2007) produzieren Rimini Protokoll41 Hörspiele, bei denen Inszenierungen auf der Bühne oder im öffentlichen Raum als Ausgangsmaterial42 dienen, die sich mit Übertra-

37 | Ebd., S. 234. 38 | Ebd., S. 235. 39 | Ebd., S. 191. 40 | Ebd., S. 251. 41 | Unter dem Label Rimini Protokoll arbeiten Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel in verschiedenen Konstellationen an Darstellungsformen zwischen Realität und Fiktion. Als Begründer eines »neuen Reality-Trends« (Theater der Zeit) haben sie die Theaterszene stark geprägt und stellen die Wirklichkeit selbst in Form von Experten des Alltags und Recherchen ins Zentrum ihrer Arbeit. Dabei experimentieren Rimini Protokoll mit den verschiedensten Spielarten und Mitteln des Theaters, um diese zu erweitern und vermeintliche Grenzen angestammter Formen zu überwinden. 42 | Vgl. u. a. Deutschland 2 (WDR 2002, R: Helgard Haug/Daniel Wetzel); Alles muss raus (WDR 2004, R: Helgard Haug/Daniel Wetzel), das der Inszenierung

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gungstechniken43 beschäftigen sowie alternative Rezeptionsformen experimenteller Formen44 suchen. Karl Marx: Das Kapital, Erster Band45 entspringt erneut einem Theaterprojekt. Die Autoren – Helgard Haug und Daniel Wetzel – beschreiben es selbst als »Radiostück über das gleichnamige Bühnenstück anhand von Aufnahmen aus dem Rechercheprozess dazu, von Proben, Aufführungen, hinter der Bühne, beim Soundcheck, in Berliner Küchen und Büros«46. Dabei geht es ihnen nicht um eine theoretische Reflexion oder Interpretation der Buchvorlage durch die Regie, sondern vielmehr um die Beziehung einzelner Menschen zu dem Werk: Die 7 Siegel dieses Buches können nur mit Hilfe von Menschen geöffnet werden, die mit ihm gelebt haben. Es geht nicht so sehr darum, was darin steckt, sondern wo in der Gesellschaft es steckt, wer es benutzt und kennt, welcher politischen Couleur und wirtschaftlichen Praxis auch immer. Das Stück führt die Fäden einer großangelegten Suchbewegung zusammen, bei dem unterschiedlichste Menschen in ihrer Sprache und mit ihren Biografien ihre Perspektiven auf dieses dicke Buch abbilden.47

Das Hörspiel geht in der Form nicht etwa als reine Übersetzung der Bühnenversion ins Akustische auf, sondern umfasst ebenso den Proben- und Rechercheprozess, wie es Barbara Büscher für das ebenfalls einem Theaterprojekt entsprungene Hörspiel Deutschland 2 (2002) herausarbeitet: »Aus der Sicht der Entwicklung des Hörspiels/Hörstücks der letzten Jahre gibt es eine offensichtliche Affinität zu Rimini Protokolls Form von vermeintlich dokumentarischem Theater: das ist der Originalton und die damit verbundene nicht notwendig lineare Form des Erzählens«48, die offene Form der Dramaturgie. Bereits beim Hörspiel Deutschland 2 wurden die Aufnahmen nicht im Sendestudio, sondern live am Aufführungsort als Mitschnitt einer theatralen Performance produziert. Sie »bilde[n] die akustische Grundlage, den Nährboden für das künftige Hörspiel«49, wie es die Dramaturgin Martina Müller-Wallraf formuliert: Markt der Märkte für das Theater Bonn entsprang; Deadline (2008, R: Frank Böhle/Olaf Kröck/Helgard Haug/Stefan Kaegi/Daniel Wetzel). 43 | Vgl. u. a. O-TON Ü-TEK (DLR 2000, R: Helgard Haug/Daniel Wetzel); Wundersame Welt der Übertragung I und II (SWR 2003, R: Helgard Haug/Daniel Wetzel). 44 | Vgl. u. a. das Handy-Hörspiel 50 Aktenkilometer. Ein begehbares Stasihörspiel (DKultur/HAU, R: Helgard Haug/Stefan Kaegi/Daniel Wetzel) als Teil der mobilen Hörspielproduktion Radioortung von Deutschlandradio Kultur. 45 | DLF/WDR 2007, R: Helgard Haug/Daniel Wetzel, Hörspielpreis der Kriegsblinden 2008. 46 | Rimini Protokoll: »Karl Marx: Das Kapital. Erster Band«. 47 | Ebd. 48 | Büscher: »Radiophone Ereignisse«, S. 151. 49 | Müller-Wallraf: »Zürich im Leben«, S. 38.

I NTERMEDIALE S PIELRÄUME IM H ÖRSPIEL DER G EGENWART Am Ende liegen 22 DAT-Kassetten mit Material vor. Nur der Grundstoff, die Folie der späteren Gesamtmontage. Tagelang gehen Haug und Wetzel jetzt in die Abhör-Isolation, wählen Passagen aus, kombinieren sie, suchen nach Sinnfälligem und Abseitigem, nach Exemplarischem und Irritierendem. Das Konzept für die 2. Hörspiel-Ebene, die über die Live-Mittschnitt-Passagen gezogen werden soll, kann erst jetzt entstehen, da deutlich wird, welche Dynamik das Theaterprojekt entwickelt hat – durch seine Darsteller. 50

Die Vorgehensweise entspricht erneut dem Produktionsprozess der Radioversion von Karl Marx: Das Kapital, Erster Band, denn auch hier profitiert das Hörspiel vom Entstehungsprozess der Performance, wodurch sich bei diesem Hörspiel Metaebenen und Reflexionsschichten im akustischen Werk herausbilden. Die Weiterentwicklung und Übersetzung des Bühnenstücks als Konzentrat im Radio zwingt die Autoren zur »Reduzierung auf den Hörsinn« und bietet dabei »paradoxerweise die Möglichkeit, das Sujet inhaltlich und formal vielschichtig aufzubauen und zu erweitern«51 . Es funktioniert als akustisches Werk jedoch losgelöst von der Theaterversion, also voraussetzungslos, nimmt den Rezipienten ins Bühnengeschehen mit und gewährt ihm sowohl Zugang zu den Vorarbeiten des Recherche- und Probenprozesses als auch einen Blick hinter die Kulisse während einer Aufführung. Rimini Protokoll machen den Zuhörer dadurch zum Komplizen der Performer.

D AS H ÖRSPIEL ALS S PIEL MIT DER R AHMUNG UND DEM P ROZESS DER E NTSTEHUNG Wo Paul Plamper in RUHE 1 die Gleichzeitigkeit der Gespräche kunstvoll in die Linearität des Hörspiels übersetzt und dies mittels Rückspulgeräusch deutlich markiert, belassen Rimini Protokoll das Hörspiel im Kontext des Theaters, reflektieren und kommentieren die Übersetzung in die radiophone Version, binden den Zuhörer als Komplizen ein, sprechen ihn direkt an und fügen damit mehrere Ebenen ein, die u. a. den Unterschied zwischen Nur-Hören und Sehen reflektieren. An der Stelle, an der Plamper die Installation in den Hintergrund treten lässt, ein durch wenige Kunstgriffe davon unabhängiges, rein akustisch rezipierbares Hörspiel ohne Verweis auf den Werkprozess kreiert, betonen Rimini Protokoll den Kontext, setzen diesen im Spiel mit der Differenz für den Zuhörer im ZuHören prägnant in Überlagerungen und intelligenter Motivführung in Szene. Das Kapital lässt die Theateraufführung als Collage aus Mitschnitt und Live-Reportage einer Vorstellung am Zürcher Schauspielhaus jederzeit durchscheinen.

50 | Ebd. 51 | Ebd., S. 139.

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Kommen im Audio-Lokal Plampers sowohl Schauspieler als auch Laien zu Wort, verzichten Rimini Protokoll komplett auf ausgebildete Sprecher. Die Dialoge entstehen in beiden Fällen durch Improvisationen, setzen sich beim Kapital jedoch aus der persönlichen Erfahrungswelt der Protagonisten zusammen, wodurch »gerade das Oszillieren zwischen den Kategorien Mensch und Rolle, von Schauspieler und Figur, von Echtheit und Wahrheit oder vom Wissen und Glauben«52 durch »die Biografien und Beiträge der Teilnehmer Gestalt annimmt«53 und in Erscheinung tritt. So ließe sich diese »Darstellungspraxis des Sich-Zeigens in Inszenierungen von Rimini Protokoll«54 – wie sie Jens Roselt analysiert – in der Hörspielbearbeitung als Spielvariation des O-Ton-Hörspiels verstehen. Durch die »aussertheatrale[n] Wirklichkeiten in Form der Experten, ihrer Biografien und in Form von dokumentarischem Material in das Theater«55 bzw. in der Übersetzung in den Klangraum des Rundfunks, verweisen sie auf keine Rolle, sondern ausschließlich auf sich selbst. Wobei es hier natürlich zu bedenken gilt, dass der Kontext des Theaters selbst bereits eine Bearbeitung und dadurch Veränderung der Realität bewirkt. In Bezug auf die dokumentarischen Strategien im O-Ton-Hörspiel, das insbesondere in den 1970er Jahren im Kontext der Sprach- und Ideologiekritik seine Blüte hatte, betont Michael Scharang: »O-Ton ist keine Methode um Literatur zu machen, sondern eine Methode zur Untersuchung der Realität«56. Damit stellt Scharang das wesentliche Element des O-Ton-Hörspiels in den Mittelpunkt: das akustische Material und dessen Performanz. Klaus Schöning weist darüber hinaus auf die »zwei gleichwertigen, aber unterschiedlichen Qualitäten von O-Ton-Aufnahmen« hin: »einer offiziellen, vor allem durch die Medien Rundfunk und Fernsehen veröffentlichten Sprache und ihrer zumeist bekannten Sprecher und einer nicht offiziellen, nicht durch die Medien veröffentlichten Sprache der vielen anonymen Sprecher«57. Diese anonymen Sprecher finden sich gleichsam im Kapital. In der Collage ihrer Materialbänder verflechten Rimini Protokoll die verschiedenen Ebenen der Übersetzung der Performance in das genuin akustische Kunstwerk miteinander und dokumentieren ihren experimentellen Umgang mit den Spielformen der Medien im Originalton-Raum. Ihre Projekte »zeichnen sich durch eine sensible und engmaschige Verwebung von Wirklichkeit und Fiktion aus«58. Sie loten die Möglichkeiten des akustischen Mediums als Spiel mit und zwischen den Medien, medienspezifischen Darstellungsweisen und deren Interferenzen aus: »Auf fast Brecht’sche Weise arbeiten Rimini Protokoll 52 | Roselt: »In Erscheinung treten«, S. 47. 53 | Ebd., S. 48. 54 | Ebd. 55 | Dreysse: »Die Aufführung beginnt jetzt«, S. 83. 56 | Scharang: »O-Ton ist mehr als eine Hörspieltechnik«, S. 271. 57 | Schöning: » Neues Hörspiel O-Ton«, S. 24. 58 | Dreysse: »Die Aufführung beginnt jetzt«, S. 83.

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mit dem Modus der Unterbrechung, der Trennung und Sichtbarmachung der Mittel«59 . Da sie die Bruchstellen stets hör- und sichtbar machen, halten sie den Rezipienten immerzu auf Distanz, wobei das gerade zur Folge haben kann, dass »die Faktizität des Gesagten verunsichert und Möglichkeiten der Fiktionalisierung eröffnet werden«60, wie Miriam Dreysse in Anlehnung an Wolfgang Isers Das Fiktive und das Imaginäre anhand der Bühnenarbeiten von Rimini Protokoll argumentiert. Die bewusste Gestaltung von Realität streiche einerseits den Realitätsstatus heraus, initiiere zugleich aber Fiktionalisierungsprozesse, da sowohl auf inhaltlicher sowie szenischer Ebene die Grenze zwischen Realität und Fiktion verunsichert werde.61 Dies lässt sich auf die Medientransformation im Hörspiel – fernab von reinen Zweitverwertungen des Ausgangsmaterials − analog anwenden. Auch hier sprechen die von Rimini Protokoll auserkorenen Experten über ihre eigene, ganz individuelle Biografie und Beziehung zum Kapital, die sich dem Zuhörer über die Charakteristika und den Wiedererkennungswert ihrer Stimmen vermitteln. Dies vollzieht sich – ob dialektal eingefärbt, undeutlich artikuliert oder umgangssprachlich formuliert – im Sprechgestus des Alltäglichen und in deutlicher Abgrenzung zu professionell ausgebildeten Sprechern. Dadurch werden die Spuren des individuellen Körpers in der Stimme hervorgehoben und im Eindruck des Realen als »ein Effekt der Inszenierung«62 in Szene gesetzt. So tritt die Differenz zum ausgebildeten Sprecher sowie zwischen Realität und Fiktion, Alltäglichkeit und theatraler Rahmung, erdachter und realer Geschichten, Allgemeinem und Besonderem deutlich hervor. Sowohl der Zuschauer im Theater als auch der Zuhörer im Rundfunk werden direkt angesprochen und durchweg mit den verschiedenen Ebenen der Inszenierung im steten Einbruch der außertheatralen Wirklichkeit konfrontiert. Obgleich Rimini Protokoll ihre Arbeiten in vielen Fällen im öffentlichen Raum ansiedeln, so bringen sie Das Kapital doch in die klassische Rahmung des Theaters – samt Verabredung, Trennung der Räume und Vorgabe der Blickrichtung durch die frontale Spielanordnung des Zuschauers gegenüber der Bühne.

»D IE V ERKOPPELUNG DER M EDIEN UND DIE TENDENZ ZUR M EDIEN -K ONVERGENZ STELLEN AKUSTISCHE K UNST WERKE IN EINEN NEUEN K ONTE X T .« 63 Deutlich ist die Neigung zur Performance in der Medientransformation des Hörspiels, die ganz im Sinne des O-Ton-Hörspiels und der Live-Repor59 | Ebd., S. 84. 60 | Ebd., S. 85. 61 | Vgl. ebd. 62 | Ebd., S. 86. 63 | Kapfer: »intermedium«, S. 316.

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tage auf vermittelte Unmittelbarkeit und Spontaneität setzt und die digitale Nachbearbeitung und Konstruiertheit der Montage vergessen lässt, um als medial vermitteltes Ereignis im Radio, als eigenständige, radiophone Version samt medienspezifischer Charakteristika neben der und unabhängig von der audiovisuellen Performance aufzugehen. Die besondere Form der Ästhetik des Performativen, sich vornehmlich als Aufführung zu realisieren, kennzeichnet zahlreiche Projekte sowohl innerhalb als auch außerhalb des Rundfunks und sowohl im Bereich der Produktion als auch der Rezeption. Diese Theatralität des Ereignisses, verstanden als aktiver Wahrnehmungsprozess und als vom Zuschauer hergestellte »mentale Szene«64 , liegt in einer situativ immer neu zu verortenden Konstellation von Blicken und Körpern. Im Rundfunk als elektronisches Medium bedeutet der Schein der Gegenwart des menschlichen Körpers in seiner Entmaterialisierung ein neues Konzept der Präsenz, des Sich-Ereignens und ihrer medialen Präsentation: »Als Spiel eröffnet es den Zu-Fall, mithin dasjenige, was als ›Los‹ nur ›zu-fallen‹ kann, ohne gewählt zu sein«65 . Bereits in der Anfangszeit des Rundfunks gibt es Forderungen nach und Überlegungen zur Improvisation, wobei z. B. Arnold Zweig dabei [...] offenbar an eine Improvisation dachte, die auf schriftlich ausgearbeiteten Vorlagen oder zumindest in dieser Weise vorkonzipierten Gliederungen beruhen sollte. Veränderungen über einen abgesprochenen Rahmen hinaus sind nicht erwünscht. Diese Art der geplanten Rede lässt nur noch sehr wenig Spielraum, so dass von einer Improvisation im eigentlichen Sinne nicht die Rede sein kann. 66

Erst mit der »Fluxus-Bewegung und Erfahrungen mit Zufallsprinzipien«67 durch John Cage experimentieren einzelne Hörspielmacher wie Mauricio Kagel in den 1960er Jahren mit der Technik des Improvisierens, wobei dem Prozess der Aufnahme wiederum die Postproduktion samt Abmischung und Montage folgt, wodurch die Stücke natürlich selbst »keine echten live-Stücke«68, wie auch im Fall von Plamper und Rimini Protokoll, sind. Live-Übertragungen von Hörspielen durch den Rundfunk finden zwar wie u. a. im Fall von Bill Fontanas Metropolis Köln (WDR 1985)69 und Ammers Hörspiel Apocalypse Live statt, sind aber nur sehr vereinzelt im Programm zu finden, was sicherlich nicht zuletzt dem technischen Aufwand selbst geschuldet ist. Was an den Beispielen der Fallstudie deutlich wurde ist, dass Improvisation einen abermals wichtigen Stellenwert in der gegenwärtigen Hörspielproduktion hat, da sie starre Formen aufzubrechen vermag und die 64 | Finter: »Theatre in a Society of Spectacle«, S. 43. 65 | Mersch: Ereignis und Aura, S. 234. 66 | Vowinckel: Collagen im Hörspiel, S. 278. 67 | Ebd., S. 278. 68 | Ebd. 69 | Vgl. Ebd., S. 279 f.

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Möglichkeit einer vermeintlich unmittelbar stattfindenden Teilnahme des Zuhörers an Ausschnitten einer Realität suggeriert. Die Digitalisierung hat zu einer immer verfeinerten Bearbeitung und Manipulation geführt, die Form und Inhalt auf vielfältige Weise verquicken und mit den Verschränkungen spielen. Dabei ist jedoch zu beobachten, dass gerade in experimentellen Formen des Hörspiels, die zum Teil digitale Techniken spielerisch vorweggenommen haben, erprobte und produktiv gemachte Spielformen des Hörspiels besonders der 1960er und 1970er Jahre heute aufgegriffen werden. Der Hörspiel- und Featureregisseur Robert Schoen, der 2011 mit dem Hörspielpreis der Kriegsblinden für seine Autorenproduktion Schicksal, Hauptsache Schicksal (2010) ausgezeichnet wurde, arbeitet ebenfalls in dieser Produktion mit der Improvisation, um an der Schnittstelle zwischen Realität und Fiktion zu experimentieren. Auch im Bereich des Verlages um Klaus Sander und das Audio-label supposé findet sich, in Anlehnung an die oral history, die Improvisation im Produktionsprozess, woraus sich das Material generiert. Diese medialen Differenzen treten in den intermedialen Erscheinungsformen des Hörspiels in spannungsreiche Relationen und verändern jeweils die Spezifika der beteiligten Medien. Verbindungen zwischen Theatralität, Intermedialität und erweitertem Raum zieht etwa Petra Maria Meyer: Zu solchen Szenografien kann sich der Zuschauer nicht mehr mit dem gleichen distanzierten Blick verhalten, den er zum Tafelbild oder zur Guckkastenbühne gerne einnahm. Wie im Leben auch befindet er sich zunehmend ›in-mitten‹ des Geschehens.70

Als wichtige Komponente markiert Meyer dabei die des Dazwischenwahrgenommenen: Der multiple Seh- und Hörräume in Form von medialen Inszenierungsebenen umfassende Kunstraum im Gegenwartstheater erweist sich dagegen als differenzieller, relationaler Zeit-Raum mit wechselnden Raum-Zeiten. Die Wahrnehmung des Publikums ist insofern mit Mischgebilden, mit hybriden Räumen konfrontiert, die immer auch Ebenen des Dazwischenwahrgenommenen freisetzen, die eine relationale Verortung im Wahrnehmungsprozess dynamisieren.71

Mittlerweile wird das Primat des Visuellen in der Auseinandersetzung mit der Diversität kultureller und künstlerischer Praktiken in der Forschung problematisiert und kritisch reflektiert. Vor diesem Hintergrund schlägt die Denkfigur des acoustic turn72 nicht etwa eine erneute Hierarchisierung der Sinne vor, die nunmehr unter dem Primat des Auditiven stünde. Vielmehr geht es um eine spezifische Sensibilisierung für die Akustik als 70 | Meyer: »Der Raum, der sich einwohnt«, S. 113. 71 | Ebd., S. 114. 72 | Vgl. Meyer: Acoustic Turn.

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eigenständiges Feld ästhetischer Strategien und medialer Produktionsweisen, in denen sich zahlreiche Interdependenzgeflechte zu Schnittstellen konfigurieren, die ihrerseits die Risse und Zwischenräume in eingewohnten bzw. unbemerkten Wahrnehmungsdispositiven exponieren und zugleich dezentrieren. Die intermediale Analyse rückt demnach die Funktion der Beziehungen zwischen den beteiligten Medien in den Vordergrund und befragt die Interdependenzen als Wechselwirkungen zwischen verschiedenen ästhetischen Konzepten. Dadurch ermöglicht ein intermedialer Forschungsansatz die Befragung der Darstellungsmodalitäten und der Interaktion zwischen verschiedenen Dispositiven. Zeitgenössische audiovisuelle Kunstwerke unterlaufen das Primat des Visuellen auf ihre eigene Weise. Sie fordern uns als »wesentlichen Bestandteil der Rezeptionsästhetik«73 gleichsam dazu auf, hörend zu sehen und sehend zu hören. Um dieses interplay of senses (Mauricio Kagel) theoretisch angemessen in Hinblick auf seine Medialität und Performativität analysieren zu können, sind neue Allianzen auch zwischen den wissenschaftlichen Disziplinen erforderlich. Die Klang- und Hörräume in der akustischen Kunst und den audiovisuellen Medien stellen gleichermaßen Medien-, Theater- und Literaturwissenschaft vor eine neue Herausforderung. Dabei gilt es vor allem zu zeigen, wie in der Dramaturgie des Spiels die Regeln des Alltags vermittels ungewohnter Hörräume außer Kraft gesetzt bzw. medienreflexiv zur Disposition gestellt werden und die Reflexion über das Medium ins Hörspiel selbst implementieren: als wechselseitige Durchdringung von Werk und Rahmung im Fokuswechsel.

L ITER ATUR Ammer, Andreas: »Es gibt starke Regeln« (Interview), http://www.epd. de/fachdienst/fachdienst-medien/schwerpunktartikel/es-gibt-starkeregeln, 30.03.2012. Bihler, Katharina: »In der Schwebe: Liquid Penguin Ensemble über Feature als Form«, in: epd medien 61, Frankfurt a. M. 2010, S. 7-25. Büscher, Barbara: »Radiophone Ereignisse: Zum Verhältnis von Live-Aufführungen und medialen Aufführungsformaten«, in: Hörspielsommer e.V. (Hrsg.): Positionen zur Radiokunst, Dresden 2011, S. 44-157. Daniels, Dieter: Kunst als Sendung. Von der Telegrafie zum Internet, München 2002. Dreysse, Miriam: »Die Aufführung beginnt jetzt«, in: ders./Malzacher, Florian (Hrsg.): Experten des Alltags. Das Theater von Rimini Protokoll, Berlin 2007, S. 76-97. Finter, Helga: »Theatre in a Society of Spectacle«, in: Voigts-Virchow, Eckart (Hrsg.): Mediated Drama, Dramatized Media, Trier 2000, S. 43-55. Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen, Frankfurt a. M. 2004. 73 | Schöning: »Ars Acustica – Ars Performativa«, S. 150.

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Zwei Hörräume ›gleichschwebender Aufmerksamkeit‹ Psychoanalyse und Ambient * Gregor Schwering

Im Folgenden wird es um ›Hörräume‹ gehen. Doch ist mit dem Hinweis auf ein Hören noch nicht zugleich auf die Stimme verwiesen, insofern diese das ist oder sein könnte, was dem Hören – als Moment der Rezeption – im Sinne des Lautwerdens einer Botschaft vorausgehen muss. Denn dies privilegiert ein Verhältnis von Sender und Empfänger, in dem der Austausch zuletzt einseitig verläuft: Wo auf der einen Seite eine Nachricht artikuliert wird, soll auf der anderen vor allem gehorcht werden. Demnach gibt die Stimme als Verlautbarung das Maß des Transfers an. Sie legt die Positionen und Rollen fest, mit denen Informationen zirkulieren – hier der Laut, dort dessen Aufnahme oder hier der Anfang, dort der Endpunkt des Übermittlungsgeschehens.1 Eine solche Linearität oder Ausschließlichkeit in Frage zu stellen bzw. zu unterlaufen, treten nun zwei Konzepte eines Hörens an, die und das ich im Weiteren genauer vorstellen will. Obwohl diese Konzepte auf den ersten Blick gar nichts zu verbinden scheint, liegt ihre Gemeinsam- und Vergleichbarkeit doch in dem gerade benannten strukturellen Kern. Das jedenfalls ist die These, die ich erläutern werde. Aufgreifen möchte ich dazu einerseits den Hörraum, der sich mit der »Grundregel« des psychoanalytischen Settings als Ausrichtung der Teilnehmer auf einen offenen Horizont der Rede aufspannt, sowie andererseits das Sounderlebnis, das Brian Enos Ambient Music ermöglicht. Um das bestimmende Strukturmerkmal beider Hörräume über das bereits Gesagte hinaus und vorerst noch annähernd zu benennen, schlage ich Ihnen Sigmund Freuds Begriff der ›gleichschwebenden Aufmerksamkeit‹ vor. Dieser ist es, so denke * | Der Vortragsgestus wurde für die Druckfassung des Textes weitgehend beibehalten. Übersetzungen aus bislang unübersetzten Texten sind meine. 1 | Vgl. Waldenfels: Phänomenologie der Aufmerksamkeit, S. 190.

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ich, welcher die Grundzüge meines Themas am ehesten charakterisiert. Dabei ist hier nicht zuletzt interessant, inwiefern die nachfolgend diskutierten Begriffe für eine Beschreibung auditiver Medienkulturen taugen, insofern diese Begriffe ein vor allem beiläufiges Hörerlebnis hervorheben – was also steht zur Debatte, wenn wir für das Hören weniger von festen (festgefahrenen) Verbindungen zwischen Sender und Empfänger, sondern von eher losen Koppelungen ausgehen?

1. D IE PSYCHOANALY TISCHE G RUNDREGEL Die von Freud entwickelte Technik zur Analyse unbewusster Erinnerungsspuren, Wünsche und Vorgänge fußt auf der, wie er selbst sagt, »theoretische[n] Fiktion«2 eines Begehrens, das sich, wie sich beispielsweise in Witzen, Fehlleistungen u. ä. mehr zeigt, in der Sprache ausdrücken kann. Für Shoshana Felman liegt die Originalität von Freuds Entwurf deshalb auch weniger in der »Entdeckung des Unbewussten – dies wussten vor ihm schon die Dichter –, sondern eher in der vor Freud beispiellosen Auffindung der Tatsache, dass das Unbewusste spricht, dass es […] gleich einer Sprache gebaut ist«3 . Wie aber kommt es zu diesem Fund und welche Konsequenzen zieht Freud daraus für die Behandlungstechnik, die zu entwickeln er im Begriffe war? Schauen wir dazu auf eine der »Urszenen« der Psychoanalyse. Am 1. Mai 1889, notiert Freud, »wurde ich der Arzt einer etwa vierzigjährigen Dame, deren Leiden wie deren Persönlichkeit mir so viel Interesse einflößten, dass ich ihr einen großen Teil meiner Zeit widmete und mir ihre Herstellung zur Aufgabe machte«4 . Die von Freud so beschriebene Dame ist als Frau Emmy von N. (Fanny Moser)5 in die Geschichte der

2 | Freud: »Die Traumdeutung«, S. 609. Vgl. dazu auch Certeau: »Der psychoanalytische ›Roman‹«, S. 116-119. 3 | Felman: »Welchen Unterschied macht die Psychoanalyse?«, S. 163. 4 | Freud: »Studien über Hysterie«, S. 99. Und: »Ich finde eine noch jugendlich aussehende Frau mit feinen, charakteristisch geschnittenen Gesichtszügen auf dem Diwan liegend, eine Lederrolle unter dem Nacken. Ihr Gesicht hat einen gespannten, schmerzhaften Ausdruck, die Augen sind zusammengekniffen, der Blick gesenkt, die Stirne stark gerunzelt, die Nasolabialfalten vertieft. Sie spricht wie mühselig, mit leiser Stimme, gelegentlich durch spastische Sprachstockung bis zum Stottern unterbrochen.« Ebd., S. 100. 5 | Fanny Moser, geb. von Sulzer-Wart (1848-1925), war in zweiter Ehe mit dem Schweizer Industriellen Heinrich Moser verheiratet. Aus dieser Verbindung gingen zwei Töchter hervor, von denen die ältere, gleichfalls Fanny getaufte durch ihre Bücher zum Okkultismus bekannt wurde. Sie war es auch, die Freud Jahre später um ein Gutachten über den Geisteszustand ihrer Mutter bat, da sie gegen diese gerichtliche Schritte unternehmen wollte (vgl. ebd., S. 162).

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Psychoanalyse eingegangen. Für unsere Zusammenhänge interessant ist, was Freud im Zuge der Behandlung am 12. Mai aufzeichnet: Auf irgend einem Wege kam ich dann dazu, sie zu fragen, warum sie auch Magenschmerzen bekommen habe und woher diese stammen. […] Ihre ziemlich unwillige Antwort war, das wisse sie nicht. Ich gab ihr auf, sich bis morgen daran zu erinnern. Nun sagte sie recht mürrisch, ich solle nicht immer fragen, woher das und jenes komme, sondern sie erzählen lassen, was sie mir zu sagen habe. Ich gehe darauf ein, und sie setzt […] fort. 6

Mit diesem dezidierten Hinweis kehrt Emmy von N. nicht nur die üblichen Rollen von Arzt und Patient um, sondern nähert sich auch jenem Verfahren, das Freud in der psychoanalytischen Technik an die Stelle der Hypnose oder ähnlicher Praktiken setzen wird.7 Oder anders gesagt: Emmys Forderung, sie sprechen zu lassen, anstatt sie fortwährend zu bedrängen, nimmt vorweg, was Freud später als sogenannte Grundregel der »Sprechkur« festhält8 – nämlich die im Rahmen der Analyse vereinbarte, stete Ermunterung des »Analysierten, ohne Kritik und Auswahl alles zu erzählen, was ihm einfällt«9 . Dem zugrunde liegt aber keineswegs die Einsicht, dass in der Sprache alles gesagt werden kann, dass also in einer derart strukturierten Rede das Unbewusste unmittelbar oder restlos zu Tage tritt. Vielmehr geht es Freud im Hinweis auf die Produktivität der freien Assoziation gerade um die Lücken, die ungeahnten Verknüpfungen und Verschiebungen, die sich mit einem solchen Sprechen hörbar machen. Indem folglich ein Analysand »vom Hölzchen aufs Stöckchen« kommt, vollzieht sich ein Kommunikationstyp, welcher den Horizont der – nach herkömmlicher Sichtweise – zielführenden Artikulation zugunsten einer eher »zusammenhanglose[n]«10 Bewegung suspendiert, deren Resultat dennoch kein barer Unsinn ist: Freud akzentuiert, dass sich im Hörraum dieses Redeflusses trotz und gerade aufgrund von dessen Offenheit überraschende Wendungen ergeben, mit denen der Analytiker von »seinen Kranken […] lernen«11 kann. 6 | Ebd., S. 116. 7 | Zu Freuds Verzicht auf die Hypnose vgl. Felman: »Welchen Unterschied macht die Psychoanalyse?«, S. 164-167. 8 | Neuere Studien zur Psychoanalyse möchten diese besondere Bedeutung der Emmy von N. für die Ausrichtung des analytischen Settings relativiert sehen, bestreiten aber nicht die von Emmy gegebenen Denkanstöße. Eher bezweifeln sie die Richtigkeit von Freuds Hysterie-Diagnose (vgl. Roudinesco/Plon: Wörterbuch der Psychoanalyse, S. 694 f.). Für mich ausschlaggebend ist jedoch die Wende, die mit dem Fall Emmy von N. in Freuds Text lesbar wird. 9 | Freud: »Ratschläge für den Arzt bei der psychoanalytischen Behandlung«, S. 377. Zur ›Grundregel‹ vgl. ebd., S. 381 und 386. 10 | Ebd., S. 378. 11 | Ebd., S. 383.

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Der scheinbar nur ungeordnete Diskurs wandelt sich darin in ein Netzwerk, dessen lose Enden, also die Echos der Rede, deren Fehlleistungen, Verdichtungen, Vor- und Aufschübe den Analytiker wie den Analysanden gleichermaßen umspannen, d. h. sie beide auf eine Hörwelt ausrichten, die sich zunächst beiläufig ausprägt.12 Zusätzlich unterstützt wird diese Versuchsanordnung durch die Ausschaltung des Blickkontakts zwischen den Beteiligten: Während der Analysand im klassischen psychoanalytischen Setting auf der Couch liegt, nimmt der Analytiker in einem Sessel dahinter Platz: »Wichtig ist, dass der Liegende den Sitzenden nicht anschaut.«13 Auf dem Programm steht damit kein Gespräch von Angesicht zu Angesicht, in dem selbstbewusste Subjekte zu ihrer Verständigung klare Botschaften austauschen, sondern ein akustisches Experiment, das die Betroffenen auf die Seite der Gesprochenen, des Hörens verschiebt.14 So schwingt dieser Raum die Teilnehmer in eine Schwebe ein, mit der erst nachträglich jene Signifikanzen auftauchen, die sich der Deutung öffnen. Die Stimme als Ort des Selbstlauts, d. h. als Augenblick, an dem sie sich er- und damit anerkennt, wird auf diese Weise unterlaufen, dem Hören nachgeordnet: Woher, lässt sich die Struktur der Grundregel somit paraphrasieren, woher soll ich wissen, wer ich bin oder was ich begehre, bevor ich höre, was ich sage. Damit schleicht sich allerdings eine gewisse Entfremdung, ein Unheimliches ein,15 die oder das, wie bereits angedeutet, nicht allein den Analysanden ereilt.16 Denn für den Analytiker gilt es dementsprechend, einem Redefluss ohne ordnende Aufmerksamkeit zu folgen – er soll hören, ohne dabei Notizen aufzuzeichnen oder sich bestimmte bzw. besondere Dinge zu merken. Freud präzisiert: Indes ist diese Technik eine sehr einfache. Sie lehnt alle Hilfsmittel, […] selbst das Niederschreiben ab und besteht einfach darin, sich nichts besonders merken zu wollen und allem, was man zu hören bekommt, die nämliche ›gleichschwebende Aufmerksamkeit‹ […] entgegenzubringen. Man erspart sich auf diese Weise eine Anstrengung der Aufmerksamkeit, die man doch nicht durch viele Stunden täglich festhalten könnte, und vermeidet eine Gefahr, die von dem absichtlichen Aufmerken unzertrennlich ist. Sowie man nämlich seine Aufmerksamkeit absicht12 | Oder mit anderen Worten: Es geht darum »von einem Hören durch die Worte hindurch zu sprechen, es im unbegrenzten Geflecht der Vieldeutigkeiten, der Metaphern und Nebenbedeutungen, im Rhythmus und in den Anklängen der Rede anzusiedeln.« Küchenhoff/Warsitz: »Zur Anatomie des dritten Ohres«, S. 31. 13 | Ebd., S. 39. 14 | Vgl. dazu auch Certeau: »Der psychoanalytische ›Roman‹«, S. 127 f. 15 | »[M]an hört anders, unsicherer, hilfloser […], wenn man dem Sprechenden nicht in die Augen schauen und Bestätigungen einholen kann.« Waldenfels: Phänomenologie der Aufmerksamkeit, S. 200. 16 | »Der Dialog fördert im Analytiker selbst etwas ›Unheimliches‹ zutage.« Certeau: »Der psychoanalytische ›Roman‹«, S. 118.

Z WEI H ÖRRÄUME › GLEICHSCHWEBENDER A UFMERKSAMKEIT ‹ lich bis zu einer gewissen Höhe anspannt, beginnt man auch unter dem dargebotenen Materiale auszuwählen; man fixiert das eine Stück besonders scharf, eliminiert dafür ein anderes, und folgt bei dieser Auswahl seinen Erwartungen oder seinen Neigungen. Gerade dies darf man aber nicht. […] Man darf nicht darauf vergessen, dass man ja zumeist Dinge zu hören bekommt, deren Bedeutung erst nachträglich erkannt wird. […] Benimmt sich der Arzt anders, so macht er zum großen Teile den Gewinn zunichte, der aus der Befolgung der ›psychoanalytischen Grundregel‹ […] resultiert.17

Dem ist nichts hinzuzufügen. Halten wir deshalb für unsere Zwecke nur soviel zusammenfassend fest: Das Maß der Grundregel bestimmt den Hörraum der Psychoanalyse als den einer freien Assoziation, in der zuvorderst die Stimmführung außer Kraft gesetzt ist. Wenn wir mit der Stimme also zugleich die Präsenz einer Botschaft verbinden, auf die möglichst gehorcht werden sollte, haben wir es jetzt mit einer Entspannung dieser Beziehung zu tun. Aus seiner Anstrengung – eben des Horchens – befreit, öffnet sich das Ohr für Anderes, dem es vorerst beiläufig, wahllos folgt. Das aber heißt noch keineswegs, dass damit jedwedes Interesse erlischt. Nur ist es nicht länger allein als (Selbst-)Bewusstsein zu identifizieren. Das Begehren verlässt so die Bahnen einer Erwartungshaltung, die der Struktur des – nach Jacques Lacan – ›Spiegelstadiums‹ entspricht,18 da es im Anderen nicht nur das sucht oder wählt, was seinen Neigungen auf rein imaginäre Weise dient oder zuvorkommt.19 Diese Rhythmik macht nun eine Artikulation des Unbewussten aus, die sich transindividuell ausprägt, d. h. in welcher der Analytiker »dem gebenden Unbewussten des Kranken sein eigenes Unbewusstes als empfangendes Organ zuwende[t]«20. So tritt eine Vielfalt des Hörens an die Stelle einer Einfalt der Rezeption. Oder anders gesagt: »Das Ohr des Analytikers übt sich darin, genau das Murmeln und Rauschen dieser anderen Sprache zu vernehmen.«21 Im Idealfall etabliert sich mit diesem Murmeln/Rauschen eine, sagt Freud, Hörszene gleichschwebender Aufmerksamkeit, in der Analytiker und Analysand nicht mehr wie Arzt und Patient (Subjekt und Objekt) zueinander stehen, sondern in einen akustischen Prozess wechselseitiger Teilnahme eintauchen. Theodor Reik, selbst Psychoanalytiker 17 | Freud: »Ratschläge für den Arzt bei der psychoanalytischen Behandlung«, S. 377 f. 18 | Vgl. Lacan: »Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion«. 19 | »Daher greift es zu kurz zu sagen, dass der Analytiker den Analysanden spiegelt. Er beschreibt vielmehr den Rhythmus des Begehrens, den er hört, er zeichnet nur nachträglich die Kreisbahn des Begehrens auf […].« Küchenhoff/Warsitz: »Zur Anatomie des dritten Ohres«, S. 41. 20 | Freud: »Ratschläge für den Arzt bei der psychoanalytischen Behandlung«, S. 381. 21 | Certeau: »Lacan: Eine Ethik des Sprechens«, S. 170.

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und ein Wegbegleiter Freuds, hat diese Situation in Anlehnung an eine Metapher Friedrich Nietzsches als Hören mit dem ›dritten Ohr‹ bezeichnet. Darin betont er ein (wortloses) »Trieb-zu-Trieb-Gespräch«.22 Lacan hat solcher Eindeutigkeit des Unbewussten widersprochen, wenn er sagt, dass der Analytiker keine weiteren Ohren – »weder ein drittes noch ein viertes Ohr« – zur Verfügung habe, so sehr man sich dies auch »für ein unmittelbares Hören von Unbewusstem zu Unbewusstem wünschen mag«.23 Mit Lacans Rückkehr zu Freud ließe sich deshalb für die Talking Cure von einer »Intermixtur der Subjekte« sprechen,24 in der eine Aufmerksamkeit des Hörens gleichzeitig Spannung und Entspannung bedeutet, und der Ertrag der Sitzung weniger in einem stimmigen Diskurs über fixe Problemlagen als vielmehr in Assoziationsketten besteht, die lose um bestimmte Felder kreisen.

2. A MBIENT Der Moment, in dem Brian Eno Ambient »erfand«, ist von ihm wie folgt beschrieben worden: Nach einem schweren Autounfall im Januar 1975 musste der Musiker einige Zeit in der Klinik verbringen. Zuvor hatte Eno sowohl als Soundtüftler der damaligen Glamrock-Band Roxy Music als auch als Solokünstler schon einiges Aufsehen erregt: Obzwar die Songs der ersten beiden Roxy Music-Alben, an denen Eno beteiligt war, sämtlich vom Sänger der Gruppe – Bryan Ferry – komponiert und getextet wurden, waren es doch gleichermaßen Enos Experimente mit Synthesizern und Tonbandgeräten, die das progressive wie exzentrische Erscheinungsbild der Band ausmachten.25

22 | Reik: Hören mit dem dritten Ohr, S. 165. Vgl. auch Küchenhoff/Warsitz: »Zur Anatomie des dritten Ohres«, S. 31-33. 23 | Lacan: »Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse«, S. 92. 24 | Lacan: »La chose freudienne«, S. 415. Certeau spricht daher von einer »wechselseitige[n] Veränderung«, welche die Beteiligten durchmachen. Certeau: »Der psychoanalytische ›Roman‹«, S. 119. 25 | »Roxy Music«, erinnert sich Eno, »waren eine Rockband mit einer eher untypischen Perspektive. Es drehte sich alles darum, eine Collage aus populären Elementen zu schaffen – aus unmöglichen Farben, Leopardenfellen, schrägen Frisuren, Versatzstücken des Rock’n’Roll. Die Band baute auf einer Gruppe kunterbunt zusammengewürfelter musikalischer Persönlichkeiten auf. Ich kam damals zur Musik, weil ich mit Tonbandgeräten herumexperimentiert hatte. Ich versuchte, Roxy als Plattform für jene Art Klangexperimente zu nutzen, wie ich sie schon am College gemacht hatte.« Eno zit. n. Buckley: Bryan Ferry und Roxy Music, S. 88.

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Nach Enos Trennung von der Band entwickelte dieser den bei Roxy erarbeiteten Stil zunächst weiter,26 um dann im Krankenhaus auf jene Harfenmusik des 18. Jahrhunderts zu stoßen, die ihm eine Freundin zur Unterhaltung ans Bett gebracht hatte. Dabei war dieses Hörerlebnis allerdings, wie Eno berichtet, von einer seltsamen Ambivalenz: Da nur eine der beiden Boxen seiner Stereoanlage fehlerfrei funktionierte und der Schwerkranke weder in der Lage war, aufzustehen, um den Mangel zu beheben noch um die Lautstärke zu erhöhen, vermischten sich die leisen Harfenklänge mit dem Geräusch des Regens, der gegen das Fenster des Zimmers schlug. Eno: Ich lag da, hörte den Regen und nur die lautesten Momente [der Musik], immer wieder nur einzelne Noten oder kleine Notenverwirbelungen. Ich dachte mir nun, dass es eigentlich ganz gut klingt – es war richtig gut anzuhören – und ich fragte mich, warum es solche Musik nicht gab. 27

Bald nach seiner Genesung beginnt Eno nun, die Musik zu realisieren, die er ab 1978, d. h. mit dem Album Music for Airports, offiziell als Ambient bezeichnen wird.28 Zum Merkmal dieser Soundtracks werden jene räumlichen, offenen Tonfolgen, deren Mischung aus zumeist synthetischen Klangteppichen, minimalen Melodien und field recordings das mittlerweile hoch ausdifferenzierte Genre29 auch aktuell noch beeinflusst. Doch welches Konzept legt Eno diesem Hörraum zugrunde bzw. inwiefern ist die genannte Hörerfahrung im Krankenhaus in dessen Strukturen eingegangen? Als einschlägiger Text dazu gelten die Liner Notes, die Eno für das erste Album der Ambient-Reihe verfasst.30 Dort bezieht er sich zunächst auf die im Allgemeinen Fahrstuhl-Musik oder Muzak genannte 26 | Vgl. etwa das 1974 veröffentlichte Album Here come the Warm Jets. Zu den Umständen von Enos Ausscheiden bei Roxy Music vgl. Buckley: Bryan Ferry und Roxy Music, S. 154-165. 27 | Vgl. Korner: »Aurora Musicalis«. Zur ›Urszene‹ der Ambient-Musik vgl. auch Buckley: Bryan Ferry und Roxy Music, S. 200 oder Toop: Ocean of Sound, S. 139. 28 | Genauer gesagt: Eno spielte vier Platten unter diesem Oberbegriff ein: Ambient 1: Music for Airports (1978); Ambient 2: The Plateaux of Mirror (zus. mit Harold Budd [1980]); Ambient 3: Day of Radiance (zus. mit Laraaji/Edward Gordon [1980]); Ambient 4: On Land (1982). Darüber hinaus veröffentlichte Eno solo und u. a. mit Budd, dem ›Krautrock‹-Duo Cluster (Dieter Moebius/Hans Joachim Roedelius) und David Bowie Platten oder Stücke außerhalb dieser Reihe, die ebenfalls Ambient-Charakter haben (etwa: Discreet Music [1975]; Cluster & Eno [1977]; The Pearl [1985] oder Teile von Bowies Low- und Heroes-LP [beide 1977]). 29 | Vgl. beispielsweise die Projekte von Aphex Twin (Richard James), Harold Budd, Gas (Wolfgang Voigt) oder die Pop Ambient-Reihe des Kölner KompaktLabels (2001-2012). 30 | Vgl. Toop: Ocean of Sound, S. 9 f.

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Hintergrundbeschallung, die in Kaufhäusern, Hotels oder auf Flughäfen eine möglichst angenehme Einkaufs-/Warteatmosphäre schaffen soll.31 So gilt Muzak primär als seichte Gebrauchsmusik. Dabei verdeckt dieses Vorurteil jedoch, hält Eno fest, dass der Gedanke einer »Umgebungsmusik« durchaus mehr »Aufmerksamkeit verdient«. Denn nimmt man das Konzept einer »Musik als Ambiente« oder »Ambient Music« ernst, sollte es möglich sein, darin zu Formen vorzustoßen, die nicht durch einen reinen Warencharakter kompromittiert sind. In diesem Sinne setzt Eno die eigenen Experimente von der »handelsüblichen Konservenmusik« ab bzw. stellt klar, warum er für sein Vorhaben den Terminus Ambient bevorzugt. Worin genau aber liegen die Unterschiede? Eno erklärt sie wie folgt: Wo die bestehende Konservenmusikindustrie an ihrem Ausgangspunkt dazu ansetzt, die Umgebung durch Ausblendung ihrer akustischen und atmosphärischen Eigenarten zu regulieren, ist Ambient Music bestrebt, sie aufzuwerten. Wo die konventionelle Hintergrundmusik dazu dient, alle Zweifel und Unsicherheiten (und somit jedes echte Interesse) von der Musik fernzuhalten, bewahrt Ambient Music solche Qualitäten. Und wo die Intention der ersteren darin besteht, die Umwelt durch Anreize ›aufzuhübschen‹ […], möchte Ambient Music Ruhe und einen Raum der Reflexion erzeugen. Ambient Music muss in der Lage sein, vielfältige Hörlevel einzubeziehen ohne eines davon zu verstärken […].

Demnach definiert sich das Profil von Ambient hinsichtlich einer Umgebung, die vor allem in ihrer Eigenart aufzufassen und zu respektieren ist: Weder soll ein Milieu durch den Soundtrack zurückgedrängt noch betont werden. In der Folge kommt es darauf an, die Umwelt in diesem Klang wahrzunehmen und so den Klang als Teil einer Umwelt zu begreifen, die über die Konventionen der Warenförmigkeit (Anreize) hinausreicht, deren hörbares Zeichen die ›Fahrstuhl-Musik‹ ist: Auf dem Spiel steht keine künstliche Anreicherung des Ambientes, die dieses dabei zu regulieren sucht, sondern die Eröffnung akustischer Vielfalt in einem Hörraum, der ebenso Irritationen – Nachdenklichkeiten und Unsicherheit – zulässt. Exakt dies illustriert auch das Bild der »Urszene« des Ambient in einem Krankenzimmer, das mit der Passivität des Hörers zugleich ein Ambiente auftauchen lässt, das mit Eno als »surrounding influence« zu beschreiben wäre. Denn hier überlässt sich das Ohr einem Prozess, mit dem die Regentropfen und Harfenklänge oder, wie Eno in den Liner Notes zur vierten LP der Ambient-Reihe ausführt, »Vor- und Hintergrund ineinander verschwimmen«32 . An die Stelle klarer Unterscheidungen treten so akustische Mixturen, die sich einerseits auf Seiten der Umwelt als Mischung aus Musik und Regen, andererseits auf Seiten des Hörenden als dessen Einbettung in eine Soundlandschaft bemerkbar machen, die ihn nicht unberührt lässt. Im Zentrum der Ambient Music steht für Eno deshalb eine 31 | Vgl. Eno: »Ambient Music«; für alle folgenden Zitate siehe ebd. 32 | Eno: »On Land Liner Notes«.

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Aufmerksamkeit, die durch die spezifische Klanggestaltung gegeben wird und die das Hören somit nicht ausrichtet, weil sie dieses – als ein offenes Ohr33 – zuallererst erlaubt: »Als Hörender«, unterstreicht Eno, »möchte ich mich lieber innerhalb eines großen Feldes aus lose geknüpftem Sound aufhalten, als mit einem straff organisierten Monolithen […] konfrontiert zu sein«.34 Demnach wird die Grenze dann überschritten, wenn sich die, um im Bild zu bleiben, offenen Fäden des Sounds derart verknoten, das die »surrounding influence« zum Objekt herabsinkt, d. h. als fest umrissene Substanz erscheint. Zugleich ist es nur folgerichtig, dass, wie Eno hervorhebt, Ambient »so unaufdringlich wie interessant« sein müsse,35 also weder eine einfache Präsenz beanspruchen noch in einer reinen Beschallungsfunktion aufgehen dürfe. In dieser Hinsicht entzieht sich das Ambient-Konzept einerseits der herkömmlichen Praxis von Rock- oder Popmusik: Jenseits fixer Songstrukturen, prahlerischer Gitarrensoli oder eingängiger Melodien, die gerade auf eine Bündelung von Aufmerksamkeit zielen, setzt Ambient auf die Auflösung solcher festen Formen zugunsten beiläufiger Rezeption. Andererseits bleibt es für Ambient nicht dabei: Entgegen der Intention von Muzak beabsichtigt Ambient nicht, eine Umwelt möglichst unauffällig zu übertönen bzw. sie in ihrer Warenförmigkeit auszustellen.36 Vielmehr passt Ambient sich in die Umwelt ein, um diese in einem Netz aus musikalischen und organischen Sounds als »surrounding influence« hörbar zu machen. In diesem Sinne geht Ambient ebenso über Erik Saties Musique d’ameublement hinaus, da sich der Klang nicht nur in ein Ambiente einfügen oder es kreieren,37 sondern ihm Geltung verschaffen soll.

33 | »[A]ls Eno den Begriff ›Ambient Music‹ auf seine Aktivitäten übertrug, verschob er den Akzent von der Herstellung von Musik weg, um den Hörakt zu fokussieren.« Toop: Ocean of Sound, S. 40. 34 | Eno: »On Land Liner Notes«. 35 | Eno: »Ambient Music«. 36 | An dieser Stelle könnte man, wie Axel Volmar in einem Gespräch zur Nachbereitung der Tagung, einwenden, dass Eno den Pfad einer Kritik der Warenförmigkeit inzwischen verlassen hat: Eno komponierte die Startmelodie für Windows 95 und macht für seinen Rechner, einen Apple Macintosh, Werbung. Er entwickelte Klingel- und Signaltöne für Nokia-Mobiltelefone und produzierte mehrere Alben der Stadionrocker U2. Der Avantgardist scheint damit im Mainstream angekommen. Doch wird, meine ich, Enos Maßstäbe setzende künstlerische Praxis dadurch weder aus der Welt geschafft noch in ihrer differenzierten Haltung relativiert (oder gar diskreditiert). 37 | »Wir wollen«, schreibt Satie demgemäß, »eine Musik einführen, die die ›nützlichen‹ Bedürfnisse befriedigt. […] Die ›Musique d’ameublement‹ erzeugt Schwingungen; sie hat kein weiteres Ziel; sie erfüllt die gleiche Rolle wie das Licht, die Wärme – der Komfort in jeder Form.« Satie zit. nach Volta: Satie/Cocteau, S. 124.

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3. P SYCHOANALYSE UND A MBIENT : ›G LEICHSCHWEBENDE A UFMERKSAMKEIT‹ Anstatt Hörbares nur zuzurechnen, wird das Ohr in der Ambient Music zum Teil einer hybriden Soundlandschaft, in der die Frage, wer Subjekt und wer Objekt des Hörens ist oder zu sein hat, suspendiert ist. Strukturell ähnliches lässt sich von der Grundregel der Psychoanalyse behaupten, wenn diese an die Stelle des Dialogs zwischen Arzt und Patient die Hörszene einer Vernetzung von Analytiker und Analysand setzt.38 Die Stimme als Auszeichnung einer Botschaft erfährt darin eine Relativierung, die den Fokus auf ein Hören der Vieldeutigkeiten, Verzögerungen und Bruchstücke verschiebt. Dem entspricht, führt Freud aus, eine ›gleichschwebende Aufmerksamkeit‹, die sich weniger auf eindeutige Informationen versteift, indem sie die Zwischentöne und Klangfarben eines Redeflusses zu erlauschen versucht. Aus genau diesem Grund haben die Psychoanalytiker Küchenhoff und Warsitz die ›gleichschwebende Aufmerksamkeit‹ als »musikalisches Hören«39 beschrieben: Da erstere kein Horchen auf bestimmte Tendenzen ist, erlaubt sie ein »Sich-Gehen-Lassen«, eine »Leere« zunächst »des Erwartungshorizonts« oder eine »Aufgeschlossenheit ohne Abzielung«,40 die sich den Worten nicht nachrichtentechnisch, sondern hinsichtlich der Anklänge und Tonlagen aussetzt, die darin zur Sprache kommen. Zugleich ist damit die Schnittstelle benannt, von der aus Freuds Begriff auf Enos Praxis der Ambient Music übertragen werden kann. Denn auch Ambient verzichtet nicht allein auf eine Stimmführung im Sinne prägnanter Refrains oder sonstiger Gesangsakrobatik, sondern verweist für das Hören auf eine lose geknüpfte Soundlandschaft, welche die Aufmerksamkeit vor allem entkrampft, d. h. sie der Umwelt öffnet. Hier wie da treffen wir folglich auf offene Hörräume, welche die Ökonomisierung der Hörwelt in Zweifel ziehen und zerstreuen. Dabei setzen sie auf eine Aufmerksamkeit des Gehörs, die man, da sie sich nicht auf Fixpunkte konzentrieren muss, als »in der Schwebe« bezeichnen kann. Dass in solcher Aufgeschlossenheit des Ohrs nicht schon jegliche Reflexion ausgeschaltet ist, akzentuieren ebenso beide Konzepte. Doch entsteht letztere nicht gemäß einer Logik des Subjekts als Beobachtung oder Einkreisung passiver Objekte: ›Gleichschwebend‹ meint in diesem Zusammenhang die Entspannung als Ausfächerung der Aufmerksamkeit (hier: des Hörens) in einem Ambiente, das maßgebliche Akzente setzt. Nichts 38 | Oder: »[D]er Nervenarzt Sigmund Freud zog aus dem pathognostischen Theater seines Lehrers Charcot den umgekehrten Schluss, dass es gerade darauf ankomme, der unerhörten Botschaft der Kranken das Ohr zu leihen.« Wetzel: »Im Labyrinth des Ohrs«, S. 13. 39 | Vgl. Küchenhoff/Warsitz: »Zur Anatomie des dritten Ohres«, S. 36-38, 41 (Zitat: S. 36). 40 | Ebd., S. 36. Die Autoren beziehen sich auf Stern: »Zur Phänomenologie des Zuhörens«; vgl. auch S. 37.

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anderes sagt die Psychoanalyse, wenn sie den Analytiker auf die aktive Mitsprache des Analysanden verweist. Und um ein Gleiches geht es der Ambient Music, wenn sie ihre Soundspuren im Rahmen einer »surrounding influence« auslegt.

R ESÜMEE UND A USBLICK Aktuell hat der Ambient-Begriff im öffentlichen Bewusstsein deutlich an Konjunktur gewonnen. Allerdings beschreibt er darin nicht mehr nur das Konzept eines englischen Klangkünstlers, sondern, glaubt man den Prognosen, bereits die Zukunft unserer Medienlandschaft: Ambient Media, Ambient Intelligence oder Ambient Entertainment heißen die Schlagworte, die über das Web 2.0 hinausweisen: »Jedem Objekt seine ›Homepage‹.«41 In dieser Hinsicht bezeichnen die zuletzt genannten Medieninnovationen Erscheinungsformen, in denen medial gestaltete Umwelten in Arbeits-, Wohn- und anderen Räumen aus den traditionellen Subjekt/Objekt-Zuordnungen ausbrechen: Sie wachsen in Netzwerke hinein, mit denen sie sowohl untereinander als auch mit ihren Nutzern in eine Interaktion treten, d. h., so kann man sagen, zu Teilen einer »surrounding influence« werden.42 Doch steht dieses Verhältnis auch unter merkwürdiger Spannung, wenn angesichts solcher Mensch-Maschine-Netzwerke vor allem deren Nachrichten-/Werkzeugcharakter betont wird43 – der Stuhl, der die Sitzenden durch Klänge auf ihre ungünstige oder ermüdende Position aufmerksam macht, der Teppich, der Alarm gibt, wenn jemand auf ihm zu Fall kommt, die Bohrmaschine, die laut den falschen Bohrwinkel meldet etc. Mit solchen Praktiken einer ›Sonifikation‹ zur Debatte steht demnach kein offenes Ohr als Hören auf die Mitsprache eines Anderen, sondern die Fortsetzung bisheriger Konventionen mit anderen, avancierten Mitteln. Könnte man daher Enos Definition der Ambient-Music nutzen, um den Ambient-Begriff dahingehend zu sensibilisieren? Und wäre folglich die den Ambient-Medien entgegengebrachte Aufmerksamkeit der User als primär ›gleichschwebende‹ zu akzentuieren?

41 | Rosol: »Kollisionen«, S. 259. Vgl. auch den Schwerpunkt in Kösch u. a.: »Augmented Reality«, S. 10. 42 | Vgl. die Reportage von Yvonne Globert über die Arbeit des Bielefelder Ambient Intelligence Labratory am Exzellenzcluster Cognitive Interaction Technology (CITEC); Globert: »Hast Du Töne«. 43 | Dies, insofern das Primat der Nützlichkeit wieder Tendenzen einer Objektivierung oder Vereinnahmung des Ambientes aufruft. Auf der anderen Seite wäre aber auch die umgekehrte Frage zu stellen: »Aber möchten wir das, eine Umgebung, die uns ständig korrigiert und alles über uns weiß, von der kleinsten orthopädischen Schwäche bis zur Tatsache, dass wir nicht mal mit einer Bohrmaschine umgehen können?« Ebd.

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Solche Fragen lassen sich zum Schluss nur noch annährend beantworten. Dabei zu beachten wäre zunächst ein Modus der Wahrnehmung, der sich als vor allem aufnehmender versteht: Nicht also geht es vorab um eine Aufmerksamkeitssteuerung, um die Zuordnung des Gegebenen zu bestimmten Bereichen oder dessen Einordnung in diverse Schubladen. Vielmehr kommt es, wie bei unserem Beispiel, auf ein Netzwerk (des Hörens) an, das – als »surrounding influence« und akustische Welt – aus dem Hören und dem Hörbaren selbst entwächst, d. h. zuerst eine Gemengelage ausbildet, die von Routinen oder Konventionen noch nicht bestimmt ist. An Stelle dessen tauchen Irritationen auf, mit und in denen sich das Ohr zur ›gleichschwebenden Aufmerksamkeit‹ hin öffnet, d. h. Anteil an dem nimmt bzw. zum Teil dessen wird, was sich zu Gehör bringt. Allgemeiner und medientheoretischer formuliert kann man jetzt festhalten, dass sich die Frage nach der (Medien-)Technik als ein steter Ort »der Unruhe und zugleich der Beunruhigung [erweist], als Oszillator von Trennungen und Reintegrationen«44 . Diesbezüglich reduzieren sich Medien keineswegs auf nützliche Werkzeuge nur eines allzeit routinierten Umgangs. An Stelle dessen wäre auf eine Eigendynamik zu achten, die sich, als mediale Umwelt, ganz buchstäblich einschaltet. In der Folge ist die »surrounding influence« aus verschiedenen Medientechniken, welche die Nutzer umgeben, als ein Raum zu beschreiben, der von Grund auf dynamisch (also auch: hybrid) organisiert ist. Diese allgemeine NichtFeststellbarkeit, dieser offene Horizont sind es dann, die beunruhigen. Dabei hatte schon Walter Benjamin auf eine Gesellschaft gehofft, die es, so schreibt er im Kunstwerkaufsatz, versteht, »sich die Technik zu ihrem Organ zu machen«, ohne darin eine »Vergewaltigung« der Gesellschaft durch die Technik oder der Technik durch die Gesellschaft zu provozieren.45 Folglich stehen für den Autor weder eine Instrumentalisierung der Apparate noch die ihrer Nutzer, noch eine kulturpessimistische oder bloße Medienkritik auf dem Programm und zur Diskussion. Denken wir von da aus weiter, könnte es für die von Benjamin vorgeschlagene, ›organische‹ Verbindung von Menschen und Maschinen darauf ankommen, primär von Prozessen einer wechselseitigen Verschränkung, Irritation und Transformation auszugehen, die sich niemals ganz abschließen. Eben solche Prozesse rücken auch der Begriff des Ambient als »surrounding influence« oder der einer gleichschwebenden Aufmerksamkeit ins Zentrum. In diesem Sinne können sie der gegenwärtigen Diskussion um das Verhältnis von Menschen und Medien sowohl grundlegende als auch weiterführende Impulse liefern. Oder anders bzw. noch einmal in Bezug auf das Oberthema dieses Bandes formuliert: Die Erforschung auditiver Medienkulturen könnte sich an den genannten Begriffen orientieren, wenn sie das Hörereignis 44 | Pias: »Time of Non-Reality«, S. 278. 45 | Vgl. Benjamin: »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbar-keit«, S. 506 f.; Zitate ebd.

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nicht als bloße Übermittlung einer Botschaft (etwa: von Mund zu Ohr), sondern im Sinne eines Prozesses begreifen möchte, in dem das Hören im Gehörten steht und entsteht, um darin von einem Phonozentrismus der Stimme oder verwandten Strukturen abzurücken.

L ITER ATUR Benjamin, Walter: »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (3. Fassung)«, in: Gesammelte Schriften, hrsg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bd. 1.2, Frankfurt a. M. 1991, S. 471-508. Buckley, David: Bryan Ferry und Roxy Music (übersetzt von Henning Dedekind), Höfen 2005. Certeau, Michel de: »Der psychoanalytische ›Roman‹. Geschichte und Literatur« (übersetzt von Andreas Mayer), in: ders.: Theoretische Fiktionen. Geschichte und Psychoanalyse, hrsg. v. Luce Giard, Wien 1997, S. 113-141. Certeau, Michel de: »Lacan: Eine Ethik des Sprechens« (übersetzt von Andreas Mayer), in: ders.: Theoretische Fiktionen. Geschichte und Psychoanalyse, hrsg. v. Luce Giard, Wien 1997, S. 162-191. Eno, Brian: »On Land Liner Notes«, in: ders.: On Land, Virgin Records 1982. Eno, Brian: »Ambient Music. Music for Airports Liner Notes«, http://mu sic.hyperreal.org/artists/brianeno/MFA-txt.html, 30.03.2012. Felman, Shoshana: »Welchen Unterschied macht die Psychoanalyse? Oder: Die Originalität Freuds« (übersetzt von Gregor Schwering), in: Zimmermann, Peter/Binczek, Natalie (Hrsg.): Eigentlich könnte alles auch anders sein, Köln 1998, S. 157-175. Freud, Sigmund: »Die Traumdeutung«, in: Gesammelte Werke, hrsg. v. Anna Freud u. a., Bd. II/III, Frankfurt a. M. 1999. Freud, Sigmund: »Ratschläge für den Arzt bei der psychoanalytischen Behandlung«, in: Gesammelte Werke, hrsg. v. Anna Freud u. a., Bd. VIII, Frankfurt a. M. 1999, S. 375-387. Freud, Sigmund: »Studien über Hysterie«, in: Gesammelte Werke, hrsg. v. Anna Freud u. a., Bd. I, Frankfurt a. M. 1999, S. 75-312. Globert, Yvonne: »Hast Du Töne«, http://www.fr-online.de/wissenschaft/ hast-du-toene/-/1472788/4665638/-/index.html, 30.03.2012. Korner, Anthony: »Aurora Musicalis. Interview with Brian Eno«, http:// music.hyperreal.org/artists/brianeno/interviews/artfor86.html, 30.03.2012. Kösch, Sascha u. a.: »Augmented Reality. Welt mit Untertiteln«, in: De:Bug, Nr. 138, 2009, S. 10-22. Küchenhoff, Joachim/Warsitz, Peter: »Zur Anatomie des dritten Ohres – Vom Hören in der Psychoanalyse«, in: Fragmente, Nr. 35/36, 1991, S. 31-48.

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Lacan, Jacques: »Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion, wie sie uns in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint« (übersetzt von Peter Stehlin), in: Schriften, hrsg. v. Norbert Haas, Bd. I, Weinheim/ Berlin 1986, S. 61-70. Lacan, Jacques: »Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse« (übersetzt von Klaus Laermann), in: Schriften, hrsg. v. Norbert Haas, Bd. I, Weinheim/Berlin 1986, S. 71-169. Lacan, Jacques: »La chose freudienne – ou Sens du retour à Freud en psychanalyse«, in: ders.: Écrits, Paris 1966, S. 401-436. Pias, Claus: »Time of Non-Reality. Miszellen zum Thema Zeit und Auflösung«, in: Volmar, Axel (Hrsg.): Zeitkritische Medien, Berlin 2009, S. 267-279. Reik, Theodor: Hören mit dem dritten Ohr. Die innere Erfahrung eines Psychoanalytikers, Hamburg 1976. Rosol, Christoph: »Kollisionen. RFID und die zeitliche Logistik der Signale«, in: Volmar, Axel (Hrsg.): Zeitkritische Medien, Berlin 2009, S. 255-266. Roudinesco, Elisabeth/Plon, Michel: Wörterbuch der Psychoanalyse. Namen – Länder – Werke – Begriffe (übersetzt von Christoph EissingChristophersen u. a.), Wien 2004. Stern, Günther: »Zur Phänomenologie des Zuhörens. Erläutert am Hören impressionistischer Musik«, in: Zeitschrift für Musikwissenschaft, Nr. 9, 1926, S. 610-619. Toop, David: Ocean of Sound. Aether Talk, Ambient Sound and Imaginary Worlds, London 1995. Volta, Ornella: Satie/Cocteau. Eine Verständigung in Missverständnissen, Hofheim 1994. Waldenfels, Bernhard: Phänomenologie der Aufmerksamkeit, Frankfurt a. M. 2004. Wetzel, Michael: »Im Labyrinth des Ohrs – Erinnerungen an ein unerhörtes Sinnesorgan«, in: Fragmente, Nr. 35/36, 1991, S. 9-14.

Emotionale Musikrezeption in unterschiedlichen Alltagskontexten Eine wahrnehmungsökologische Perspektive auf die Rolle der beteiligten Medientechnologien Steffen Lepa

1. D ER ›S OUND ‹ DER M EDIEN : E IN BLINDER F LECK DER R EZEP TIONSFORSCHUNG Die Mehrzahl sozialwissenschaftlicher Forschungsarbeiten zur alltäglichen Musikrezeption weist epistemologisch einen »blinden Fleck« hinsichtlich der Rolle der hierfür verwendeten elektronischen Medientechnologien auf. Noch im 2010 erschienenen Handbook of Music and Emotion1, welches eine Übersicht interdisziplinärer Forschung zu musikalischen Emotionsempfindungen bietet, wird zwar wiederholt konstatiert und auch anhand empirischer Studien belegt, dass ein Großteil der Musikrezeption heute über elektronische Medien stattfindet – welche spezifische Bedeutung der Einsatz von unterschiedlichen Audiowiedergabetechnologien für das jeweilige emotionale Empfinden der Musik hat, ist jedoch eine empirisch bislang kaum untersuchte Frage. Nichtsdestotrotz ranken sich diverse Alltags- und Mediendiskurse um die angebliche Bedeutung der verwendeten Medientechnologien und des durch sie produzierten ›Sounds‹ für einen intensiven Musikgenuss. Im Folgenden werde ich darstellen, wie im Forschungsprojekt »Medium und Emotion« des Fachgebiets Audiokommunikation der Technischen Universität Berlin versucht wird, sich theoretisch und methodologisch der Frage zu nähern, welche Rolle die technischen Medien und ihr Sound für die emotionale Musikrezeption im Alltag spielen. Musikhören, so betonen ganz unterschiedliche Autoren aus Psychologie, Soziologie, Medien-, Musik- und Kommunikationswissenschaften, 1 | Juslin/Sloboda: Handbook of Music and Emotion.

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ist heute aufgrund der allgegenwärtigen Verfügbarkeit von einfach und mobil zu nutzenden Abspielmedien ein überwiegend zweckrational initiierter Vorgang geworden, in dessen Rahmen die Rezipienten durch die Auswahl spezifischer Angebote und habitualisiertes Rezeptionshandeln an und mit der medial selektierten Musik ganz unterschiedliche psychosoziale Handlungsziele erreichen. Dazu gehört auch mehrheitlich die Manipulation von Emotionen und Stimmungen.2 Neuere empirische Arbeiten betonen jedoch, dass die beim alltäglichen Musikhören auftretenden affektiven Transformationen überwiegend weder bloße »pharmazeutische Effekte« bestimmter Musikwerke noch das Ergebnis der Kommunikation »emotionaler Bedeutungen« sind, die passiven Hörern technisch »vermittelt« werden. Sie werden vielmehr als das emergente Resultat einer komplexen Interaktion von auf Datenträgern gespeicherten, ausgefeilten musikalischen Werkproduktionen mit auf unterschiedliche Weise sozialisierten, und bei der Rezeption aktiv und praktisch-sinnlich tätigen Subjekten in vielfältigen unterschiedlichen Rezeptionskontexten betrachtet.3 Zur Bezeichnung und Analyse solcher relationaler Netzwerke hat in den Medienwissenschaften der Begriff des Dispositivs eine lange Tradition; daher verwundert es wenig, dass er auch bereits für die Analyse des »verschlafenen Medienwandels« im Bereich der Musikrezeption als theoretische Interpretationsfolie vorgeschlagen wurde.4 Jedes eindeutig empirisch identifizierbare, wiederholt von Subjekten aktiv aufgesucht oder durch rituelles Handeln etabliertes idealtypisches Ensemble aus materiellen und sozialen Kontextfaktoren der Musikrezeption, verstehen wir daher auch in unserem Forschungsprojekt analytisch als ein Musikrezeptionsdispositiv. Klassische Beispiele für solche Dispositive wären die Verwendung der häuslichen HiFi-Anlage, die Nutzung eines mobilen Players beim Joggen im Park, das Autoradio oder auch das Arrangement einer Disco. Nimmt man die Implikationen der prinzipiellen Kontextgebundenheit musikalischer Erfahrungen ernst, so gilt es, eben jene Dispositive empirisch zu analysieren, um die Bedeutung der jeweils verwendeten Technologien für die musikalische Emotionsgenese besser verstehen zu können.

2. D ER W AHRNEHMUNGSÖKOLOGISCHE A NSAT Z IN DER EMPIRISCHEN M USIKSOZIOLOGIE In diesem Sinne schlägt auch die britische Musiksoziologin Tia DeNora das Konzept des »Musical Event«5 zur ethnographischen Analyse alltäglicher Musikrezeption vor: Darunter versteht sie ein sozialwissenschaftlich 2 | Vgl. Sloboda u. a.: »Choosing to Hear Music«. 3 | Vgl. Sloboda: »The ›Sound of Music‹ Versus the ›Essence of Music‹«. 4 | Großmann: »Verschlafener Medienwandel«. 5 | DeNora: After Adorno, S. 49 ff.

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zu rekonstruierendes situatives Setting aus spezifisch sozialisierten Subjekten, welche eingebettet in einem konkreten räumlich-sozialen Kontext mit und während dort erklingender Musik unterschiedliche Handlungen vollziehen. Als ›Handlungen‹ werden sowohl manuelle und körperliche Verrichtungen als auch sinnlich-explorative Hörstrategien verstanden. Im Ergebnis können durch Interaktionen der einzeln erhobenen Bedingungsfaktoren für die Akteure des jeweiligen ›Settings‹ (der Begriff des Dispositivs wird von ihr nicht verwendet) subjektiv ganz unterschiedliche psychosoziale Transaktionen resultieren, die von DeNora als ›Affordanzen‹ des musikalischen Ereignisses bezeichnet werden. Bei einer Affordanz handelt es sich um einen aus der ökologischen Wahrnehmungspsychologie James J. Gibsons entlehnten Terminus, welcher den durch Nutzer direkt wahrgenommenen »psychosozialen Angebotscharakter« kultureller Artefakte (hier: Musikstücke) meint.6 Den Kern der zugrundeliegenden wahrnehmungsökologischen Theorie bildet das Postulat, dass ein Großteil der menschlichen Wahrnehmung nicht mit der Erzeugung einer inneren Repräsentation der äußeren physikalischen Welt, sondern mit der fortwährenden Empfindung der durch invariante Strukturen einer polysemen Umwelt situativ sich bietenden Handlungsoptionen befasst ist. Eine Affordanz meint insofern ontologisch weder eine manifeste physikalische Eigenschaft eines Umweltobjekts, noch eine interpretierte oder decodierte »Bedeutung«, sondern die durch ein spezifisch sozialisiertes Subjekt präreflexiv als »Objekteigenschaft« wahrgenommene psychosoziale Funktion einer kontextuell situierten SubjektObjekt-Beziehung, jene Handlungsmöglichkeiten also, die ein Objekt einem Menschen mit seinen Dispositionen »leistet« (engl.: to afford). Diese Beziehung entsteht gemäß Gibsons Theorie, weil das sensomotorische System des Subjekts durch wiederholtes Handeln implizit-körperlich gelernt hat, dass bestimmte invariante Anteile von sensorisch erfassten physikalischen Stimuli eine funktionale Bedeutung für die in spezifischen Kontexten durchgeführten Handlungsabläufe haben. So »spezifiziert«7 eine bestimmte prototypische Klangsignatur im Kontext eines Schulgebäudes das erwartete Ende einer Unterrichtsstunde, in einem anderen Kontext aber den Beginn eines neuen Tages. Diese Grundidee überträgt nun DeNora, wie auch ihre Kollegen Eric F. Clarke und Luke Windsor,8 auf den Bereich der Musikrezeption im Alltag. Dies dient ihnen einerseits dazu, sich von Ansätzen abzugrenzen, welche die »Wirkungen« von Musik fast ausschließlich im puren musikalischsymbolischen Material verorten9 und damit ihrer Auffassung nach die 6 | Gibson: The Ecological Approach to Visual Perception. 7 | Mit »spezifizieren« ist im Kontext der Gibson’schen Wahrnehmungsökologie die unmittelbare präreflexive Evokation eines Wahrnehmungseindrucks gemeint. 8 | Vgl. Clarke: Ways of Listening; DeNora: After Adorno; Windsor: »Through and Around the Acousmatic«. 9 | Z. B. Kivy: »Feeling the Musical Emotions«.

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konkrete Materialität des Klanges, den erklingenden »Sound« der Musik, vernachlässigten. Dessen spezifischer Charakter trägt ihrer Konzeption nach aber genauso zum affektiven Gesamtereignis der Musik bei wie die interpretierten musikalischen Symbolbedeutungen. Andererseits geht es ihnen im Kontext der Frage nach den musikalischen Emotionen darum, gegenüber Vertretern einer vornehmlich in ›Effektlogik‹ theoretisierenden Musikpsychologie zu verdeutlichen, dass es sich bei den affektiven Eigenschaften bestimmter Werke zunächst um bloße Potentialitäten handelt und insofern die Wirkung von Musik nicht mit der Wirkung einer Tablette zu vergleichen sei: Selbstverständlich schreiben Hörer zwar musikalischen Werken oder Genres eine bestimmte Emotionalität ursächlich zu (fassen sie insofern als ihre »Eigenschaften« oder »Bedeutungen« auf und geben dies entsprechend bei Befragungen auch an). Faktisch entsteht aus wahrnehmungsökologischer Sicht das affektive Potential von Musik aber erst in konkreten Handlungskontexten und findet dann erst entlang spezifischer habitualisierter Praxen und Rezeptionshaltungen seine tatsächliche Aktualisierung als subjektiv empfundene Emotionserfahrung. Insofern ist der beim Hören semiotisch interpretierte emotionale Ausdruck der Musik (»emotions perceived«) als Folge repräsentationaler »indirekter Wahrnehmung« deutlich von tatsächlich situativ empfundenen Emotionen (»emotions felt«) zu unterscheiden.10 Die Affordanzen eines Musikstücks oder Genres entsprechen nach dieser Lesart der Summe aller materiell-symbolischen Eigenschaften, die ein erklingendes musikalisches Objekt für spezifische soziale Akteure in spezifischen sozialen Kontexten besitzen kann und die in der Lage sind, soziale Handlungen, Affekttransformationen oder Sinnproduktionen zu ermöglichen. Diese Ausweitung einer wahrnehmungspsychologischen Konzeption auf soziokulturelle Artefakte in unterschiedlichen Kontexten ist trotz ihrer Attraktivität für interaktionistisch-handlungsorientierte Sozialtheorien nicht frei von theoretischen Problemen11 – und unterschätzt systematisch die gleichfalls bedeutsame Rolle reflektierender Prozesse zugunsten einer einseitigen Betonung »unmittelbarer Wahrnehmung«. Im Folgenden möchte ich zeigen, wie demgegenüber schon ein eher »konservativer« wahrnehmungsökologischer Ansatz bei der Analyse und Interpretation medialer Musikrezeptionsdispositive helfen und eine neue Perspektive auf den »Sound« der Medien eröffnen kann.

10 | Vgl. hierzu auch Gabrielsson: »Emotion Perceived and Emotion Felt«. 11 | Vgl. dazu die kritische Problematisierung einer solchen Erweiterung mit Bezug auf deren erkenntnistheoretische Konsequenzen in Nonken: »What Do Musical Chairs Afford?«.

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3. E MPIRISCHE E RWEITERUNG : D ER S OUND DES M EDIUMS ALS MATERIELLER R E ZEP TIONSKONTE X T Indem sich die genannten Arbeiten mit dem Affordanzbegriff auf ein aus der ökologischen Wahrnehmungspsychologie stammendes und soziologisch angereichertes Konzept beziehen, reflektieren sie zwar durchaus im Besonderen die materiellen Aspekte der Musikerfahrung und somit den »Sound« der Musik, verstehen diesen aber vorwiegend als Eigenschaft einer bestimmten musikalischen Werkproduktion. So analysiert etwa Clarke unter Bezugnahme auf den ökologischen Ansatz beispielhaft die Affordanzen der Klangstruktur der CD-Version der Star-Spangled-Banner Performance von Jimi Hendrix beim Woodstock-Konzert 1969.12 Eine derartige theoretische Auslegung, welche die Rezeptionssituation selbst ausklammert, unterschätzt jedoch, dass jegliche technische Aufführung einer Musikproduktion gewissermaßen immer auch einen performativen Aspekt enthält, welcher ebenfalls die Musikrezeption beeinflusst: Die Schallereignisse, welche wir als Musik bezeichnen, werden erst im Moment der Wiedergabe in einer räumlichen Umwelt mit spezifischen Hall- und Reflexionseigenschaften durch eine Apparatur mit spezifischen Wiedergabeeigenschaften und Klangeinstellungen erzeugt, bevor sie unsere (räumlich auf spezifische Weise positionierten) Ohren und Körper erreichen und in eine Musikerfahrung transformiert werden. Damit wird das für die Musikrezeption situativ verwendete technologische Wiedergabemedium zu einem für die Dauer der Wiedergabe relativ stabilen ökologischen »Kontextfaktor«. Jener verändert damit ebenso das final wahrgenommene Soundscape, wie eben auch der Raum, innerhalb dessen die Rezeption vollzogen wird, insofern dieser als Medium des Schalls dient.13 Beide Aspekte beeinflussen durch ihre jeweiligen klanglichen Signaturen das resultierende Schallfeld, damit notwendigerweise auch den Klang- und Räumlichkeitseindruck der Musik, welcher beim Hörer entstehen wird14 und sind somit ökologisch potentiell ebenso bedeutsam, wie die soziale Rahmung der Rezeption. Oder, wie es der Musikwissenschaftler Rolf Großmann formuliert: Anstelle des Hier und Jetzt der ursprünglichen Live-Aufführung ist das Hier und Jetzt der Medienaufführung getreten, die Aura des musikalischen Ritus ver-

12 | Vgl. Clarke: Ways of Listening. 13 | Vgl. die besondere Betonung der Architektur von Räumen für die situativ wahrgenommenen Soundscapes in Blesser/Salter: Spaces Speak, Are You Listening?, S.15 ff. 14 | Vgl. die Diskussion um die Vermischung unterschiedlicher räumlicher Signaturen bei der Medienwiedergabe in Weinzierl/Tazelaar: »Raumsimulation und Klangkunst«.

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S TEFFEN L EPA schwindet nicht, wie Walter Benjamin vermutete, sondern wird in einer technikkulturellen Konfiguration der Aufführung neu inszeniert.15

Eine spezifische klangliche Materialität ist somit zwar durchaus im digitalen Datenfile einer Werkproduktion »angelegt«, wird aber erst durch den technisch-räumlichen Kontext der Wiedergabe, versehen mit einer klanglichen Eigenlogik, in einer gleichsam sozial aktualisierten Version erzeugt. Insofern überlagert sich beim medialen Musikhören der Sound einer Produktion als Werkaspekt mit dem Sound einer situativen RaumTechnologie-Kopplung als dessen materiellen Rezeptionskontext. Darüber hinaus bieten sich dem Hörer je nach verwendeter technologischer Apparatur während der Rezeption oft unterschiedliche Eingriffs- und Steuermöglichkeiten, welche die Klangfarbe, Lautstärke und Dramaturgie der Musikdarbietung beeinflussen können. Ferner implizieren bestimmte technische Aspekte der Wiedergabetechnologien oder auf sie bezogene Diskurse auch besondere körperliche Verrichtungen oder Hörweisen. Diese Regeln des »richtigen Gebrauchs« können von Rezipienten mehr oder weniger »regelkonform« befolgt werden, was wiederum deren konkrete materielle Hörerfahrung beeinflussen wird. So führt die Musiksoziologin Sophie Maisonneuve theoretisch aus: It is important to realize the fact that the relationship to music is rooted in a material culture which evolves according to techniques, objects and agents by which it exists. The very material reality of music, and hence also its aesthetic potential, are defined and modified by this material setup.16

Während jedoch die meisten empirischen musiksoziologischen Arbeiten ihren Fokus bislang vorwiegend auf die mit dem ›Kontext‹ identifizierte soziale Rahmung des Rezeptionsakts legen und die Frage der Materialität vorwiegend den ›Werken‹ zuschreiben, will die hier im Folgenden anhand eines empirischen Beispiels beschriebene medienökologische Perspektive den Blick empirisch auf die beim Musikhören genutzten Räume und Wiedergabeapparaturen als dem ›materiellen Kontext‹ der Rezeption ausweiten. Das nachfolgende Beispiel aus der ersten, explorativen Phase des Forschungsprojekts Medium und Emotion ist Auszug der Analyse des Materials von 18 ausgewählten Vertretern unterschiedlicher Alters- und Bildungsschichten und verschiedenen Geschlechts. Diese wurden in halbstandardisierten Leitfadeninterviews gebeten, den konkreten Ablauf bisher erlebter Alltagsepisoden zu schildern, in denen sie emotionale Erfahrungen mit dem Musikhören gemacht haben und die dabei auftretenden Empfindungen ausführlich zu beschreiben.

15 | Großmann: »Distanzierte Verhältnisse?«, S. 192. 16 | Maisonneuve: »Between History and Commodity«, S. 105.

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Dieser vergleichsweise enge thematische Fokus auf affektives Erleben beim Musikhören wurde auch bei der nachfolgenden Grounded-TheoryAnalyse des Materials gewählt, mit jedoch gleichzeitiger Erweiterung des Blicks auf die Identifikation, dichte Beschreibung und Analyse der Rolle technisch-medialer Rezeptionsdispositive17, welche als mit diesen Erfahrungen verknüpft berichtet wurden. Bei der sich an die offene Codierung anschließenden axialen Kategorienbildung wurde eine von einzelnen Subjekten abstrahierende Meso-Perspektive eingenommen, welche sich speziell für die restringierende Rolle der Medientechnologien bezüglich der Affekttransformationsprozesse innerhalb der prototypischen Settings sowie darauf bezogener Alltagsdiskurse interessiert und weniger für die konkreten Orientierungen einzelner Subjekte. Mit diesem methodischen Vorgehen soll keineswegs einem neuen Technikdeterminismus Vorschub geleistet werden – entgegen häufiger Interpretationen ist schließlich im Dispositiv-Begriff selbst immer schon eine kritisch-realistische Dialektik angelehnt, worauf insbesondere Melita Zajc hingewiesen hat: Using a technology, every single person, as a user knowing ›what it is for‹, is put into a previously defined subjective position and is, in these terms, an effect, constituted and determined by technology; however, because individual use is constitutive for the use of technology, every single person, by using a technology, presents at least a potentiality of using it differently, or even contrary to ›what it is for‹.18

Die Freiheiten und Begrenzungen von Nutzung und Positionierung innerhalb medialer Dispositive sollten insofern nicht a priori theoretisch bestimmt, sondern empirisch geklärt werden, was das beschriebene Vorgehen auch genau ermöglicht, aber jedoch nicht zentrales Thema der vorliegenden Ausführungen ist. Vielmehr möchte ich anhand der nun folgenden Darstellung und Diskussion ausgewählter Zwischenergebnisse der Studie demonstrieren, wie ein theoretischer Rückbezug auf den wahrnehmungsökologischen Ansatz erlaubt, typologisierte affektive Subjektivierungsweisen19 im Umgang mit Musikwiedergabetechnologien schlüssig theoretisch einzuordnen und zu interpretieren.

17 | Ein ähnlicher Ansatz findet sich in Bull: Sounding Out the City, oder Bull: Sound Moves. 18 | Zajc: »The Concept of Dispositiv«, S. 20 f. 19 | Vgl. Bührmann/Schneider: Vom Diskurs zum Dispositiv, S. 68 ff.

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4. E XEMPL ARISCHE A NALYSE : S OLIPSISTISCHER M USIKGENUSS IM HÄUSLICHEN A LLTAG Von den meisten der befragten InformantInnen wird als eine ihrer typischen Rezeptionssituationen das »aktive«, »bewusste« Hören und emotionale Genießen von spezifisch zu diesem Zweck ausgewählter Musik, alleine im heimischen Bereich, meist dem eigenen Wohn- oder Schlafzimmer, benannt. Kennzeichnend für diese Situation ist, dass die Musik nicht im Hintergrund während anderer Tätigkeiten abgespielt wird, sondern die Befragten der Rezeption von Musik ein Stückchen Zeit im Alltag einräumen, welches ausschließlich der Rezeption und dem eigenen Erleben gewidmet ist. Als Auslöser wird meist benannt, dass schon vorher die eigenen Gedanken um das jeweilige Musikstück oder damit verbundene Erinnerungen kreisten, und es unbedingt gehört werden »musste«. Zum Abspielen wird in diesen Situationen in der Regel ein PC/Laptop oder eine klassische HiFi- oder Kompaktanlage, seltener auch mangels Alternativen ein Mobiltelefon oder mobiler MP3-Player (gewissermaßen dann »stationär«) verwendet. Zur Vorbereitung der Rezeption werden die äußeren Umstände so eingerichtet und der Körper auf eine Art positioniert, in der die Aufmerksamkeit ausschließlich auf die Musik gelenkt werden kann, so dass die Rezeption zu einem besonderen, emotionalen Ereignis wird, das ›zelebriert‹ werden kann. Dies wird unterstützt durch eine gemütliche Sitzposition und das Bereitstellen von Genussmitteln: A: Perfekte Situation: Ich sitz auf dem Sofa, hab ‚nen Kaffee und ein Stück Kuchen und dann hör ich Musik. Perfekte Situation. Und ich bin alleine und kann in Ruhe die Musik hören. Nicht dass einer daneben sitzt und mich vollquatscht sozusagen, oder auch, dann stört es mich auch wenn meine Mama reinkommt, oder so. Nee dann, ganz für mich alleine sein. Ganz in Ruhe. (ID 080)

Die Musik kann in diesen Situationen entweder über Lautsprecher oder über Kopfhörer wiedergegeben werden; einige der Befragten nutzen auch beide Möglichkeiten alternierend. Interessanterweise weisen diese Arrangements jedoch deutliche Unterschiede bezüglich der mit den jeweils gewählten Apparaturen verbundenen Diskurse, Praktiken und Erfahrungsbeschreibungen auf. Daher ist davon auszugehen, dass sich in der Auswahl des Wiedergabeverfahrens (also Lautsprecher oder Kopfhörer) zwei grundlegend verschiedene angestrebte Subjektivierungsweisen manifestieren, welche auf unterschiedlichen materiellen Dispositivimplikationen beruhen. Diese Unterschiede möchte ich im Folgenden charakterisieren.

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4.1 Das Lautsprecher-Dispositiv: Emulation einer auratischen Musikperformance Insbesondere von den Befragten, welche beide genannten Varianten des Hörens nutzen, wird als Grund für die situative Präferenz der Lautsprecherwiedergabe explizit die durch die Form der Musikwiedergabe hervorgerufene besondere Räumlichkeit des Klangs genannt. A: Ich höre also, wenn ich mich entspannen will in meinem Zimmer, dann höre ich Erik Satie, Chopin, also über die Boxen, auf der Couch. Und das sind einfach Songs, die höre ich einfach glaube ich nicht über Kopfhörer und MP3-Player. F: Wieso nicht? A: Das habe ich schon mal ausprobiert. Klassik höre ich einfach gern auf der Couch. Ähm, da will ich auch, dass die Musik so ‚n bisschen den Raum füllt. (ID 002)

Aus wahrnehmungsökologischer Perspektive erzeugt das LautsprecherStereophonie-Verfahren bei der Wiedergabe eines entsprechend produzierten musikalischen Werkes ein Schallfeld, welches mittels der Evokation räumlicher Hinweisreize20 dem auditiven Wahrnehmungsapparat die virtuelle Präsenz in einem Raum mit mehreren darin verteilten Schallquellen spezifiziert. Dies wird präreflexiv vor allem über Lautstärke- und Laufzeitdifferenzen zwischen den auditiven perzeptiven Feldern beider Ohren, Filtereffekte durch Kopf- und Ohrmuschelform sowie im Klang enthaltene Hallsignaturen realisiert.21 Handelt es sich ferner um Aufnahmen mit der klanglichen Signatur von als ›musikalisch‹ implizit bekannten Klangobjekten (etwa: Instrumenten), so wird damit akustisch dem Hörer die Präsenz des eigenen Körpers in einem virtuellen Raum suggeriert, in welchem musiziert wird. Mit der Versprechung, auf diese Weise technisch die auratischen Qualitäten einer musikalischen Konzerterfahrung reproduzier- und erfahrbar zu machen machte der ›High Fidelity‹-Begriff historisch im Rahmen der Vermarktung von Musikabspielapparaturen Karriere.22 Dieses Versprechen scheint für die Liebhaber instrumentenbasierter Musikstile in unserer Stichprobe auch beim ›solipsistischen intensiven Hören‹ ihre konkrete Realisation als affektive Affordanz zu finden: F: Was meinen Sie mit schönen Tönen. Also was ist für Sie da ein schöner Ton. Oder wie, was empfinden Sie dabei?

20 | Sogenannte spatial cues. 21 | Eine genaue Aufschlüsselung der einzelnen Cue-Komponenten findet sich in Malham: »Toward Reality Equivalence in Spatial Sound Diffusion«, der diese jedoch im Kontext klassischer Psychoakustik interpretiert. 22 | Vgl. Wicke: »Das Sonische in der Musik«.

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S TEFFEN L EPA A: Dass das, dass er das nicht trennt, aber trotzdem harmonisch ist. Wie ich gesagt hab, wie beim Konzert, da sehe ich wie die Musik auseinanderläuft, zusammen kommt. Jeder für sich oder dominant wird. Und dieses Trennen und doch zusammen sein von rechts nach links, das kommt mit der, ja mit der Qualität. Das empfinde ich als Qualität. (ID 554)

Um diese gewünschten Effekte zu erreichen, werden die Lautsprecher oft wie technisch vorgesehen im Raum platziert und eine Hörposition eingenommen, die sich möglichst der technisch implizierten, perfekt räumlich abbildenden Hörposition, dem sogenannten sweet spot annähert. A: Also ich muss schon von beiden ungefähr dieselbe Lautstärke haben, die müssen mich frontal anstrahlen, das ist mir wichtig. F: Wieso? A: Naja, also weil, eben, weil das bei Stereo-Sounds ja schon wichtig ist, wenn die Stereo aufgenommen sind, weil sich dann eben das Stück eben aufteilt auf die zwei Boxen, auf links und rechts und ich das halt schon mag, erstens, das ganze Stück mitzukriegen, und zweitens ist es für mich schon was besonderes, einfach klanglich schöner, wenn die Boxen frontal vor mir stehen. Das ist mir schon wichtig, weil ich.. ähm.. F: Dann kannst Du Dich besser fokussieren auf die Musik? A: Nein, die Musik ist einfach besser da, ich hör einfach den Song besser und das ist dann schon ausschlaggebend, ob ich mich damit besser fühle oder nicht. (ID 002)

Diese Annäherung an ein klangliches Konzertideal beim LautsprecherHören scheint interessanterweise aber auch für diejenigen Befragten bedeutsam, welche vorwiegend Musikstile konsumieren, deren Produktionen eher einem »medial-autonomen Klangideal«23 folgen und insofern keine ursprünglichen Live-Konzerterfahrungen akustisch oder psychologisch zu reproduzieren versuchen, wie beispielsweise etwa Werke elektronischer Musikstile oder der Popmusik. Für diese InformantInnen spielen dann offenbar folglich auch weniger räumliche Aspekte eine Rolle, als eine klangliche Transparenz, eine Reproduktion des vom Standpunkt der Produktion »Gewollten«, ohne dass die Abspielapparatur dies durch ihre spezifische Materialität »beeinträchtigt«: A: Naja, wenn man Zuhause gute Boxen stehen hat und dann eben die Boxen vernünftig ausgerichtet hat, dass man einfach, also die Höhen z. B. fantastisch hört, genauso wie die Mitten und die Bässe, also alles vernünftig ausgewogen. (ID 108)

Die beiden dargestellten Varianten der technisch-praktischen Annäherung an eine künstlerische Musikperformance finden ihre Parallelführung in zwei rekonstruierten Typen der innerhalb des Lautsprecher-Dispositivs 23 | Vgl. Stolla: Abbild und Autonomie, S. 45 f.

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im Alltag realisierten emotionalen Qualitäten. Diese sind konsequenterweise, jedoch mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung, ebenfalls auf das auratisch-affektive Erleben einer »einzigartigen« Performance bezogen. Auf der einen Seite geht es den Befragten um den erstmaligen explorativ-ästhetischen Genuss eines neu erworbenen, medial-autonomen musikalischen Werkes: A: Ich bin halt z. B. so, dass ich sehr zuhöre, also bei neuer Musik höre ich halt immer sehr zu und versuche herauszuziehen, was in der Musik passiert. Also ob mir diese Musik einfach irgendwas gibt. [...] Und dann kanns auch passieren, dass ich plötzlich anfange zu heulen, weil irgendwie die Stimme so, Sängerin oder Gesang einfach ein ganz bestimmtes Timbre hat oder irgendetwas, wo ich sofort merke wow. Und dann kanns natürlich auch passieren. Ist klar! (ID 108)

Auf der anderen Seite dient das heimische solipsistische Hören mit Lautsprechern dem Wiedererinnern oder der Vorbereitung von emotionalen LiveKonzerterfahrungen: A: Das funktioniert da auch wieder in beide Richtungen, dass ich entweder die CD quasi als Vorbereitung auf so ’nen Konzert habe, damit ich dann eben für den Abgleich habe, hey wie klingt das überhaupt live? Oder dass ich halt, ja das macht natürlich mehr Spaß Songs zu hören, die man sowieso schon kennt. Wo man dann mitsingen kann oder sonst was. Oder eben gleichzeitig danach, um es noch mal zu hören und sagen zu können, ok, cool das war echt ’nen cooles Konzert da auch. (ID 028)

Spezifische Songs oder Alben dienen hier offensichtlich als emotionale Marker, welche angenehme Emotionen vergangener Konzerte erneut hervorzubringen helfen. Während die »ursprünglichen« räumlichen und klanglichen Verhältnisse, je nach Produktionsideal dabei durch die Technik der Stereophonie ökologisch spezifiziert werden können, müssen die visuellen Eindrücke jedoch durch Konzentration, das Schließen der Augen und innere Vorstellungbilder ergänzt werden. A: Die Gefühle kommen natürlich so nicht wieder, da muss ich die Musik hören und dann kitzelt das oder läuft eiskalt den Rücken runter. Ich kann mich aber erinnern, dass ich starke Gefühle hatte. In dem Konzert so, in dem andern Konzert so. F: Aber die ähm, also Sie erinnern sich dann während des Musik-Hörens an das erlebte Konzert und an die damaligen Gefühle? A: Ja, ja, ganz klar. [...] Die Bilderwelt ist, sich dort hinzubewegen, wo diese Musik jetzt gerade gemacht wird stelle ich mir so vor. Konzertsäle, die ich kenne, die ich kennen gelernt habe. Ich hab natürlich die Menschen nicht um mich herum, die mit mir erleben. (ID 406)

Zusammenfassend zeigt sich, dass die mit dem solipsistischen Musikhören über Lautsprecher verbundenen und hier idealtypisch beschrie-

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benen emotionalen Erfahrungsbeschreibungen vorwiegend den aus der musikpsychologischen Forschung bekannten Mechanismen ›musical expectancy‹, ›episodic memory‹ und ›visual imagery‹ ähneln, welche nach aktuellem Forschungsstand vorwiegend auf der bewussten Reflexion und Interpretation innerer Repräsentationen der Musik beruhen.24

4.2 Das Kopfhörer-Dispositiv: Musik als Körperteil und affektive Aktivation Auf die Frage, warum sie situativ den Sound von Kopfhörern in Situationen des häuslichen solipsistischen Musikhörens bevorzugen, wird von den InformantInnen auf eine besondere, direktere und intimere körperliche Empfindung der Musik verwiesen, welche durch die Kopfhörer im Unterschied zur Lautsprecherwiedergabe ermöglicht würde: A: Bei Boxen ist halt immer was dazwischen, auch die Distanz halt, ne. (ID 044) A: Ähm. Ich weiß nicht, also das ist halt noch mal ne intimere Situation, wenn man im Bett im Dunkeln vielleicht dann auch Musik hört, weil man einfach dann nur von der Musik umgeben ist im Idealfall, wenn man es eben auch über Kopfhörer hört. (ID 028)

Wie ist diese Empfindung eines besonderen Eindrucks von Nähe, »Umgebenheit« und der Überwindung einer »Distanz« zu erklären? Aus wahrnehmungsökologischer Perspektive erzeugt die Verwendung eines Kopfhörers bei der Wiedergabe eines stereophon produzierten musikalischen Werkes ein Schallfeld, welches dem menschlichen Wahrnehmungsapparat die Präsenz mehrerer räumlich relativ fix positionierter und verschieden ausgedehnter Schallquellen innerhalb des eigenen Kopfs und als Teil des phänomenologischen Selbst spezifiziert. Diese Behauptung bedarf einer genaueren Erläuterung: In der Psychoakustik wird das entstehende klangliche Phänomen als sogenannte ›Im-Kopf-Lokalisation‹ bezeichnet und typischerweise als ungewolltes Artefakt der Kopfhörerwiedergabe betrachtet. Wenn stereophone Produktionen über Kopfhörer abgespielt werden, liefern sie aus der Perspektive eines räumlichen Abbildungsideals ›falsche‹ räumliche Cues, die zu einer Repräsentation der Musik als im Inneren des Kopfes platziert führen müssen. Das hifi-akustische Ideal der ›Externalisierung‹ im Sinne der Erzeugung einer äußeren räumlichen Repräsentation einer Musikperformanz scheitert. Aus einer alternativen, wahrnehmungsökologischen Perspektive führt das Hören über Kopfhörer jedoch nicht nur zu einer Repräsentation der Musik als im Kopf platziert, sondern, bedingt durch den Wegfall der sensomotorischen Kopplung von akustischen Sinneseindrücken und eigener 24 | Vgl. die ausführliche Herleitung und Darstellung dieser Konzepte in Juslin/ Västfjäll: »Emotional Responses to Music«.

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Bewegung, zusätzlich zur Wahrnehmung der Klänge als Teil des phänomenologischen Selbst, zu einer »Internalisierung« analog der Wahrnehmung eines eigenen Körperteils oder »innerer« geistiger Vorgänge. Im Unterschied zur Lautsprecherwiedergabe verliert damit die Musik ihren virtuellen Charakter und wird phänomenologisch zu einem Teil des Körpers: »Externalization is not a matter of projecting experiential contents into physical space but one of identifying those contents with the phenomenally external or nonself (distal attribution).«25 Dieser perzeptive Eindruck wird dadurch erzielt, dass das an den Ohren anliegende Schallfeld bei eigenen körperlichen Bewegungen keinerlei räumliche Veränderungen durch entsprechende Hinweisreize (motion cues) spezifiziert. Wie auch die Arbeiten des Neurowissenschaftlers Antonio Damasio zeigen, benutzt unser Bewusstsein nun genau jene sensomotorischen Feedbackschleifen zwischen Wahrnehmen und Handeln, um auf präreflexiver Ebene zwischen Selbst und Umwelt zu differenzieren.26 Ökologisch betrachtet wird somit der vermittels Kopfhörer abgespielte Klang der Musik faktisch auf die gleiche Weise zu einem Teil bzw. einer Ausweitung des eigenen Körpers wie etwa getragene Kleidungsstücke, Brillen oder Prothesen, welche ebenfalls bei Eigenbewegung invariante Lage-Empfindungen spezifizieren. Bei entsprechender Laustärke und geschlossenen Kopfhörern wird der akustische Sinn dadurch gewissermaßen temporär von einem exterozeptiven zu einem interozeptiven Sinnesorgan, weil – abgesehen von sehr tiefen Frequenzen, welche über die taktile Sensorik der Haut wahrgenommen werden – praktisch keine sensomotorisch-akustische Kopplung mit der der Umwelt mehr vorliegt, wohingegen die Musik vollständig mit dem Körper sensomotorisch gekoppelt ist. Im Unterschied zum Lautsprecherdispositiv, welches Musik als einen Teil der Umwelt spezifiziert, konstituiert dass Kopfhörer-Dispositiv also Musik als einen eigenen körperlichen Zustand. Die Musik wird zu einem Teil des Rezipienten, insofern diese mit seiner präreflexiven Körperwahrnehmung buchstäblich verschmilzt. Auf diese Weise wird gewissermaßen wortwörtlich McLuhans Diktum von den ›extensions of man‹ Rechnung getragen.27 Das nachfolgende Zitat zeigt sehr anschaulich, wie das Kopfhörer-Dispositiv akustisch Eigenschaften spezifiziert, welche phänomenologisch im Grunde Eigenschaften des eigenen Körpers entsprechen. Dieser ist sowohl »Käfig« (Eingeschlossensein, Gefängnis) als auch »Höhle« (Geborgenheit, Schutzfunktion), welche umschließt: A: Also, hmm, ich würde jetzt niemals zuhause, glaub ich, den Kassettenrecorder oder auch den Rechner oder die Anlage anmachen, wenns mir schlecht geht. Weil dann müsste ich ja, um die Musik richtig bei mir zu haben auch die sehr laut 25 | Loomis: »Distal Attribution and Presence«, S. 114. 26 | Vgl. Damasio: The Feeling of What Happens. 27 | Vgl. McLuhan: Die magischen Kanäle.

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S TEFFEN L EPA machen, was dann bedeuten würde, könnte sein, die Nachbarn kriegens mit, und deswegen würd ich das nicht machen, weil ich mich dann in meinem eigenen Käfig oder was auch immer in meine Höhle, die ich gerade bauen will, da funktioniert das dann ja nicht, und dann könnte ich erwischt werden, oder entdeckt werden und jemand nervt wieder, gehts dir schlecht oder klopft an der Tür oder was auch immer. Und da würde ich dann auch immer eher den mp3-Player nehmen. Plus dieses auf dem Sofa irgendwo rumkuscheln, wo man sich dann gerade wohlfühlt, und die Musik ist auch irgendwie dichter bei einem. Also was ich vorhin meinte mit diesem intensiver, also wenn sie einfach direkt hier ist, ist sie an mir dran, wie meine Sachen, oder gehört dann quasi dazu. [...] Und dann aber auch wirklich, also als wenn man sich manchmal hat man das Gefühl, man könnte sich mit der Musik anziehen. So gut versteht sie mich, oder so gut fühl ich mich darin aufgehoben. (ID 131)

Wie Damasio beschreibt, ist nun die Wahrnehmung eigener Körperfunktionen grundsätzlich von Affektivität geprägt, da die Phänomenologie des präreflex konstruierten inneren ›Proto-Selbst‹ evolutionär dem ›Monitoring‹ der eigenen Befindlichkeit dient.28 Entsprechend ist für die Befragten auch der über Kopfhörer erreichte Zustand des Versinkens in Musik schon an sich unabhängig von spezifischen Werken positiv affektiv besetzt: A: Ja, also Unmittelbarkeit. Ähm, ich kann mich der Musik halt widmen, hingeben. Es macht zufriedener, ja, es macht auf jeden Fall zufriedener, wenn ich da ein gutes Stück höre und das über Kopfhörer, ja doch, das ist schon sehr... also ein gutes Erlebnis. (ID 044)

Der Kopfhörer ermöglicht dem Hörer auf diese Weise eine besondere Form der Empathie, des Mitfühlens der emotionalen Gerichtetheit der rezipierten musikalischen Objekte, die kaum aktives Einlassen und Interpretieren der musikalischen Bedeutungen erfordert und somit den Hörer als emotionale Welle ›überkommt‹: A: [...] setze dann wirklich Kopfhörer auf und bin dann eben ein, zwei Stunden nicht da, weißt du so. Weil, weil es einfach sein muss. Und ähm, weil ich das einfach total interessant finde und weil ich da mit rein will, weißt du? [...]. Und ‚nen paar Songs gibt es dann meistens so, die dich dann erst mal so emotional eh auch packen sofort irgendwie und dann meist entsteht der Rest dann erst noch später. Das, das die emotionale Welle dann irgendwie noch ’nen bisschen auf sich warten lässt, oder so. Ja. (ID 038)

Anstatt sich, wie im Lautsprecher-Dispositiv, durch intentionale Konzentration eine äußere Welt, in der Musik aufgeführt wird, vorzustellen und äußerliche Bedingungen herzustellen, welche dieses begünstigen, wird

28 | Damasio: The Feeling of What Happens.

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das Selbst durch das Kopfhörer-Dispositiv von der äußeren Welt akustisch getrennt mit der »inneren« musikalisch-affektiven Welt verschmolzen: A: Oder zu Hause würde ich die Musik dann über den Kopfhörer hören. Damit ich einfach mir, also da möchte ich mich schon so ein bisschen drin verlieren dann auch. [...] Und dann würde ich den Kopfhörer aufsetzen und dann gleite ich in so musikalische Traumwelten auch wirklich ab. Das ist so! (ID 055)

Diese Kopplung des phänomenologischen Selbst mit der Musik ermöglicht nicht nur eine unmittelbare Verknüpfung mit den in der Musik verkörperten Bewegungen und Stimmungen, sondern auch eine direkte Kopplung der musikalischen Melodiebewegungen und Rhythmik an die eigene Motorik, die ebenfalls als angenehm, aktivierend und euphorisierend erfahren wird. A: Ja fühlen auf jeden Fall, den Bass na klar. Also nichts ist schlimmer als wenn irgendwie man z. B. keinen Bass oder so spürt oder irgendwie diese Schwingungen, also es gibt ja auch bestimmte Musiken, da kann man überhaupt nicht stillsitzen, da muss man sich zu bewegen. Also es gibt bestimmte Sachen, die kann man einfach nicht, nicht ausleben, wenn man halt nur da sitzt so, sondern da muss man sich einfach zu bewegen, das ist einfach so. F: Und das machen Sie auch? A: Ja, das mach ich zu Hause auch. Auf jeden Fall. (ID 108)

Zusammenfassend zeigt sich, dass die mit dem solipsistischen heimischen Musikhören über Kopfhörer verbundenen emotionalen Erfahrungsbeschreibungen vorwiegend den in der musikpsychologischen Forschung beschriebenen Mechanismen des »brain-stem-reflex«, »evaluative conditioning« und »entrainment« ähneln.29 Im Unterschied zu den im Lautsprecherdispositiv erreichten affektiven Subjektivierungsweisen handelt es sich hier dominant um Prozesse, welche nicht auf intentional und bewusst interpretierten Repräsentation der Musik beruhen, sondern vorwiegend präreflexiv als »Effekte« erlebt werden, die einen Zuhörer »packen«: A: [...] Jedenfalls ist es so großartig für mich, dass es mich jedes Mal packt und einfach zu Tränen rührt. Und wenn du jetzt fragst warum: Ich kanns nicht sagen! (ID 038)

29 | Vgl. die ausführliche Herleitung und Darstellung dieser Konzepte in Juslin/ Västfjäll: »Emotional Responses to Music«.

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5. F A ZIT : E MPIRISCHE P ERSPEK TIVERWEITERUNG DURCH EINEN M EDIENÖKOLOGISCHEN A NSAT Z Mit Hilfe der vorgenommenen wahrnehmungsökologischen Interpretationen wird analytisch verständlich, warum das Kopfhörer- und Lautsprecher-Dispositiv für unsere Befragten gänzlich unterschiedliche emotionale Affordanzen aufweisen: Beide technischen Wiedergabeapparaturen spezifizieren durch die ihnen inhärenten materiellen Eigenschaften gänzlich unterschiedliche Relationen zwischen Hörer, Umwelt und musikalischem Werk und implizieren auf diese Weise offenbar auch unterschiedliche affektive Zustände.30 Dieser hier nur exemplarisch ausgewählte Befund lässt sich anhand der vorliegenden umfangreichen Interviewanalysen auch auf andere technisch-apparative Aspekte der Musikvermittlung beziehen, etwa auf die unterschiedlichen Fähigkeiten auditiver Medientechnologien zur Mobilität, Lautstärke-, Räumlichkeits- und Frequenzwiedergabe, sowie die unterschiedlich differenzierten Fähigkeiten zur Klangregelung. Ebenso gilt dies für die divergierenden Aufzeichnungs-, Speicher-, Kopier-, Zugriffs- und Tauschmöglichkeiten, welche verschiedene verfügbare Datenträger und Geräte zur Musikproduktion und -rezeption jeweils ermöglichen. All diese »technischen« Aspekte von Medien haben für die Befragten nicht nur einen psychosozial-funktionalen Wert, insofern sie verändern, welche Musik auf welche Weise von unterschiedlichen Hörern in unterschiedlichen Kontexten rezipiert und produziert werden kann. Sie besitzen vielmehr zu großen Teilen auch eine affektiv-leibliche Bedeutung für die befragten StudienteilnehmerInnen, die unmittelbar an die aus dem soziotechnischem Ensemble resultierende Materialität von Medium und Klang gebunden ist und somit die subjektiv-situative Erfahrung von Musik grundlegend verändern kann. In Erweiterung der Perspektive bisher vorwiegend soziologisch ausgerichteter Arbeiten zum Musikhören im Alltag bietet der hier beispielhaft demonstrierte, im Projekt entwickelte medienökologische Ansatz für die empirische Forschung zu auditiven Medienkulturen verschiedene Vorzüge31: Einerseits erweitert er methodologisch den Blick auf die potentiellen technisch-materiellen Ursachen für die erlebten differenten Subjektivierungsweisen beim Hören von Musik und Klang, welche auditive Medienkulturen prägen und tritt damit der paradoxen »Medienvergessenheit« vieler medienwissenschaftlicher Arbeiten in diesem Forschungsfeld ent30 | Diese qualitativ herausgearbeitete Tendenz bedarf zur Generalisierung einer quantitativ-experimentellen Überprüfung, die ebenfalls Bestandteil des methodischen Designs unseres Forschungsprojekts ist, und von dem die hier vorgestellte Studie nur einen explorativ-qualitativen Teilaspekt darstellt. 31 | Eine weiterführende Erläuterung der methodologischen Implikationen des Affordanz-Konzepts und einer wahrnehmungsökologischen Metatheorie der Medien findet sich in Lepa: »Was kann das Affordanz-Konzept für eine Methodologie der Populärkulturforschung ›leisten‹?«.

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gegen. Diese sehen die Bedeutung technischer Medien oft vornehmlich in der durch die Digitalisierung vermeintlich »neutralen« Vermittlung von Inhalten oder Texten und blenden die Bedeutung der jeweils verwendeten Medientechnologien für die Veränderung des Subjekt-Umwelt-Verhältnisses auf der Rezeptionsseite aus. Auf der anderen Seite steht der medienökologische Ansatz für eine Abkehr von einem überkommenen kartesisch-kognitivistischen Konzept der Umweltwahrnehmung und für eine Rückbesinnung auf die intersubjektiven, mimetisch-leiblichen Aspekte der Medienrezeption, welche gerade für Auditive Medienkulturen besonders bedeutsam erscheinen. Bei der besonderen Fokussierung phänomenologischer Aspekte alltäglichen Medienhandelns und -erlebens verbindet er dazu komplementär die verschiedenen Perspektiven von Psychologie, Soziologie und Medienwissenschaften. Selbst für die orthodoxe experimentalpsychologische Forschung zu musikalischer Emotionswahrnehmung jenseits eines Bezugs zur Wahrnehmungsökologie ergibt sich aus den geschilderten Studienergebnissen mindestens die Schlussfolgerung, dass emotionale »Effekte« von Musik nicht ohne Berücksichtigung der technisch-materiellen Bedingungen ihrer Vermittlung analysiert werden sollten. In diesem Sinne weisen die hier dargestellten Befunde in einem allgemeineren Sinne darauf hin, dass sogar losgelöst von den die Rezeption einbettenden und in Laborexperimenten häufig vernachlässigten sozialen Kontexten das »Medium« für musikalische Emotionen ein wichtiger Teil der »Message« sein könnte.

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Die Technik gibt den Ton an Zur auditiven Medienkultur der Bioakustik Judith Willkomm

Im Jahr 1913 veröffentlichte der slowenische Entomologe Prof. Dr. Ivan (Johann) Regen (1868–1947) seine Versuchsergebnisse zum akustischen Kommunikationsverhalten von Feldgrillen (Gryllus campestris). In seinen Versuchen hatte Regen untersucht, ob sich die Stridulationslaute des Männchens von Gryllus campestris L. […] durch das Telephon übertragen ließen, und ob derartig übertragene Zirplaute auf das Weibchen dieser Spezies eine ähnliche Wirkung ausübten wie jene, die direkt von dem Männchen ausgehen. Diesen Untersuchungen stellten sich aber anfangs insofern Schwierigkeiten entgegen, als die gewöhnlichen Telephone die Stridulationslaute nicht in gewünschter Stärke übertrugen und hierfür geeignete Apparate erst gefunden werden mußten.1

Es fand sich kein »geeigneter« Apparat, denn das Versuchsgerät, »ein Kugelmikrofon in Verbindung mit einem sehr empfindlichen Dosentelephon«,2 gab die Stridulationslaute je nach Hörabstand des Beobachters nicht in der gewünschten Tonhöhe bzw. Tonlänge ab. Regen versuchte zwar, selbst noch passendere Lautsprecher »zu konstruieren, welche die Stridulationslaute in voller Stärke und Natürlichkeit übertragen sollten«.3 Aber »[o]bgleich hierfür viel Zeit und nicht geringe Mittel geopfert wurden«,4 erzielten seine eigenen Konstruktionen keine besseren Ergebnisse, weshalb die Versuche letztendlich dennoch mit dem Dosentelephon erfolgten. Trotz der mangelhaften technischen Gegebenheiten konnte der

1 | Regen: Über die Anlockung des Weibchens von Gryllus campestris L. durch telephonisch übertragene Stridulationslaute des Männchens, S. 193. 2 | Ebd., S. 194 3 | Ebd. 4 | Ebd.

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J UDITH W ILLKOMM

Forscher nachweisen, dass sich ein Feldgrillen-Weibchen auch von den Zirplauten aus der ›Dose‹ angelockt fühlt. Prof. Regen nutzt die modernste Schallübertragungstechnologie seiner Zeit, um wissenschaftliche Erkenntnisse zu generieren. Der Telefonverstärker wird zu einem zentralen Element im Versuchsaufbau: Indem er die Laute des Männchens in einen anderen Raum überträgt, ermöglicht er die Beobachtung der Weibchen-Reaktionen auf die Stridulation isoliert von anderen Reizauslösern. Auf der einen Seite wäre Regens Experiment ohne die Technik nicht durchführbar gewesen. Auf der anderen Seite hätte Regen die Bedeutung der männlichen Stridulationslaute für die Weibchenwahl nicht erkannt, wenn sie für ihn nicht wahrnehmbar gewesen wären. Das menschliche Gehör und die technischen Möglichkeiten der Schallübertragung stehen sich also im Forschungsprozess gegenüber. Dennoch ist die wissenschaftliche Beschäftigung mit akustischen Phänomenen seit der Entwicklung von Audiotechnologien eng an jene Geräte gebunden, die die zu untersuchenden Klänge übertragen, speichern und wiedergeben können. In jüngster Zeit formiert sich ein verstärktes Interesse im akademischen Feld, die bisher oft vernachlässigte Bedeutung auditiver Wahrnehmungsformen und akustischer Ereignisse als Mittel und Gegenstand von Erkenntnisproduktion in der Wissenschaft aufzudecken. Diesem wachsenden Diskurs über auditive Wissens- und Medienkulturen in naturwissenschaftlichen Forschungsprozessen liegen bisher jedoch in erster Linie wissenschaftshistorische Fallstudien zugrunde.5 Ich habe mich stattdessen mit aktuellen Verfahren der akustischen Datenerhebung in der Biologie auseinander gesetzt und bin mit Hilfe von empirischen Methoden der Frage nachgegangen, welche Konsequenzen sich bei dem Zusammenspiel zwischen Audiotechnik und hörendem Mensch in der naturwissenschaftlichen Praxis ergeben und welchen Stellenwert technische Schallübertragungs- und Aufzeichnungsverfahren im Forschungsprozess haben?6 Ziel dieses Aufsatzes ist es, am Beispiel der Bioakustik einen empirischen Ansatz für die Erforschung auditiver Erkenntnisformen in der Wissenschaftslandschaft vorzustellen. Welche historische Bedeutung 5 | Vgl. hierzu z. B. den Tagungsband Kursell: Sounds of Science, oder die dem interdisziplinären Forschungsfeld der Sound Studies entsprungenen Sammelbände Spehr: Funktionale Klänge, Pinch/Bijsterveld: The Oxford Handbook of Sound Studies, Schoon/Volmar: Das geschulte Ohr: Eine Kulturgeschichte der Sonifikation sowie die Arbeiten von Sterne: The Audible Past und Sterne: Mp3. 6 | Meine Forschungsergebnisse beruhen auf Interviews sowie Teilnehmender Beobachtung bei bioakustischen Feldstudien in Berliner Parks und in einem Naturschutzgebiet in Mecklenburg Vorpommern. Die Feldforschung habe ich im Rahmen meiner Magisterarbeit durchführt, sie trägt den Titel »Wie wird der Ton zum Fakt? Zum Stellenwert von Tonaufnahmegeräten in der bioakustischen Feldforschung.«

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»geeignete Apparate« für die Entstehung neuer wissenschaftlicher Disziplinen haben können, wird ein kurzer Einblick in das Forschungsfeld der Bioakustik aufzeigen. Um diesen Einfluss mittels eines praxistheoretischen Ansatzes beschreibbar zu machen, möchte ich anschließend eine medienwissenschaftliche Perspektive für empirische Studien im Bereich der Wissenschaftsforschung eröffnen. Wie sehr akustische Medien die Formen »auditiver Praktiken der Erkenntnisproduktion«7 beeinflussen und welchen Stellenwert diese im Forschungsprozess einnehmen können, soll schließlich an vier konkreten Fallbeispielen aus dem Bereich der bioakustischen Feldforschung untersucht werden.

G EEIGNE TE A PPAR ATE Die vor rund einhundert Jahren durchgeführten Experimente von Prof. Regen waren Pionierarbeiten im Dienste einer neuen biologischen Forschungsmethode: Aus den technischen Möglichkeiten der Schallspeicherung und -übertragung erwuchs ein Forschungsfeld, das die Tontechnik als epistemisches Werkzeug in ihren Forschungsalltag einband. Durch ihren Einfluss konnte sich in den 1950er Jahren das Feld der sog. Bioakustik formieren, eine biologische Disziplin, die sich mit den Formen und Funktionen der Lauterzeugung von Tieren und dessen auditiver Wahrnehmung zu Wasser oder zu Land in für uns Menschen hörbaren oder nicht hörbaren Frequenzbereichen beschäftigt.8 Dass die Tonaufnahmegeräte nicht nur die Forschung im Labor erweitert haben, sondern insbesondere die Datenerhebung in der freien Natur revolutionierten, betonte Prof. Günter Tembrock (1918–2011), Begründer des Tierstimmenarchivs am Museum für Naturkunde Berlin und einer der ersten Bioakustiker in der ehemaligen DDR, bereits in den 1980er Jahren: Sie [die Bioakustik] empfing ihren entscheidenden Anstoß durch die seit den vierziger Jahren sich stark entwickelnde Technik der akustischen Tonaufzeichnung, die vor allem mit dem Tonbandverfahren […] den Durchbruch brachte, der

7 | Schoon/Volmar: Das geschulte Ohr, S. 22. Volmar prägt in diesem Zusammenhang den Begriff ›akustemisch‹ für all jene Forschungspraktiken und technologien, »die primär akustische Darstellungen und/oder Hörtechniken zur Produktion positiver Fakten oder zur Beantwortung wissenschaftlicher Fragestellungen nutzen.« Er rekurriert hierbei auf den Ansatz der sog. ›acoustemology‹ des Ethnologen Steven Feld, deutet diesen jedoch in einem epistemologischen Sinne um (vgl. Volmar: »Stethoskop und Telefon«, S. 72). 8 | Die erste internationale Vereinigung von Bioakustikern wurde 1956 an der Pennsylvania State University in den USA gegründet. Die Interessensgemeinschaft nannte sich International Committee on Biological Acoustics, 40 Forscher waren anwesend (vgl. Tembrock: Tierstimmen, S. 5).

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J UDITH W ILLKOMM es zuließ, mit batteriebetriebenen Aufnahmegeräten auch unter natürlichen Bedingungen Tierstimmen aufzuzeichnen und der Laboranalyse zuzuführen. 9

Wie schwierig es zuvor gewesen war, z. B. die Rufmerkmale von wildlebenden Vögeln beschreibbar zu machen, schildert auch der Wissenschaftshistoriker Joeri Bruyninckx. In seinem Artikel Sound Sterile10 berichtet er u. a. von den ersten ornithologischen Feldversuchen mit Tonaufnahmegeräten aus den späten 1920er Jahren in den USA, bei denen das Aufnahmeequipment noch einen ganzen Lastwagen füllte.11 Betrachtet man bioakustische Publikationen, Forschungsberichte oder Archivakten in ihrer historischen Entwicklung, so lesen sich jene Abschnitte, in denen das Material und die Methoden Erwähnung finden, bereits als kleine Mediengeschichte der Tonaufnahmegeräte, Mikrofone und Schallanalyseverfahren. Allerdings gehören so freimütige Geständnisse wie die von Prof. Regen über die Defizite seiner technischen Gerätschaften und die gescheiterten Versuche, eine Alternative zu entwickeln, schon lange nicht mehr zur Rhetorik eines erfolgsorientierten Wissenschaftsdiskurses. Aussagen darüber, ob und wie ein technisches Element den Gegebenheiten im Labor oder im Feld angepasst werden muss oder wie sehr seine Möglichkeiten und Grenzen den Forschungsansatz bzw. -alltag lenken, schlagen sich in der Regel heute nicht mehr schriftlich nieder. Folglich lässt sich die Frage nach den »geeigneten Apparaten« und ihrem Stellenwert im Forschungsprozess am besten durch direkte Befragungen oder besser noch anhand von ethnographischen Methoden wie der Teilnehmenden Beobachtung beantworten.12 Die Interdependenzen zwischen wissenschaftlicher Forschung und technologischer Innovation auf der einen und gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Einflüssen auf der anderen Seite wurden seit den 1980er Jahren insbesondere von der interdisziplinären Forschergemeinschaft der Science and Technology Studies (STS) unter die »Lupe« genommen. Aus den STS sind seitdem zahlreiche Studien hervorgegangen, die sich auf der Grundlage empirischer Methoden mit der Faktenproduktion in hochtechnisierten, naturwissenschaftlichen Forschungseinrichtungen

9 | Tembrock: Tierstimmenforschung (3. Aufl.), S. 3. 10 | Vgl. Bryuninckx: Sound Sterile, S. 127 ff. 11 | Ebd., S. 133. 12 | Stefan Beck, Professor für Europäische Ethnologie an der Humboldt Universität zu Berlin, sieht die Aufgabe seines Faches darin, die »Nutzungsweise von Medien in ihrem jeweiligen Kontext zu analysieren« (Beck: »media.practices@culture«, S. 11). Dabei läge der Fokus bei der Analyse medialer Praxisformen in ihrer Aneignung im Alltag, die insbesondere durch die Methode der Teilnehmenden Beobachtung »probeweise am eigenen Leibe zu erfahren« sei (ebd. S. 12). »Historische Prägungen werden hierbei ebenso berücksichtigt, wie die ›Materialität der Medien‹, die von ihnen zur Verfügung gestellten Nutzungsoptionen« (ebd. S. 11).

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beschäftigten.13 Im Zentrum dieser sog. Laborstudien stehen insbesondere soziokulturelle Zusammenhänge. Eine auf den Einfluss verwendeter (Medien-)Technologien ausgerichtete Perspektive wird trotz der medialen Prozesse, mit denen die Technologien das für die Forschung nötige Wissen produzieren, selten eingenommen. Dabei finden sich genau in solchen Prozessen der Wissensgenerierung die Mechanismen, die unsere heutigen Medientechnologien historisch haben entstehen lassen. Die medienwissenschaftliche Perspektive [spielt] keine Rolle in der traditionellen Wissenschaftsgeschichtsschreibung und findet sich eher als indirekter Reflex in den neueren science studies, die sich mit den Praktiken im Labor und der materiellen Kultur von Experimentalsystemen beschäftigen.14

Diesem »indirekten Reflex«, den der Medienwissenschaftler Erik Porath hier erwähnt, möchte ich im Folgenden nachgehen und meinen auf empirischem Wege gewonnenen Ergebnissen im Bereich der Bioakustik ergänzende medientheoretische Überlegungen voranstellen.

G EEIGNE TE THEORIEN Das medienwissenschaftliche Potential jener Forschungsansätze der neueren Wissenschaftstheorie scheint mir darin zu liegen, dass sie durch einen objektorientierten Fokus die wechselseitigen Beeinflussungen und Prägungen zwischen Forschenden und Forschungsgegenständen nachvollziehen und es somit nur einer kleinen Verschiebung bedarf, um die Rolle und den Einfluss von Medien im Experimentalsystem der Wissenschaften in den Vordergrund zu rücken. So hat beispielweise der Wissenschaftshistoriker Hans-Jörg Rheinberger eine besondere Aufmerksamkeit auf die zufälligen Momente der Wissenschaftsgeschichte gelenkt, in denen ein Gegenstand, eine Substanz oder ein Organismus plötzlich und unvor13 | Zu den einflussreichsten ›Pilotstudien‹ über Laborpraxen zählen u. a. folgende Arbeiten: der US-amerikanische Soziologe und Ethnomethodologe Michael Lynch erforschte in einem neurobiologischem Universitätslabor Art and Artifacts in Laboratory science (1979). Parallel dazu veröffentlichte der französische Anthropologe und Wissenschaftsphilosoph Bruno Latour zusammen mit dem britischen Soziologen Steve Woolgar seine Studie über das Laboratory Life (1979) in der Neuroendokrinologie. Die österreichische Wissenschaftstheoretikerin und Soziologin Karin Knorr Cetina erkannte The Manufacture of Knowledge (1981) in der experimentellen Hochenergiephysik und ebenfalls im Bereich der Teilchenphysik interessierte sich die US-amerikanische Kulturanthropologin Sharon Traweek für Beamtimes and Lifetimes (1988) im Forschungsalltag von japanischen und US-amerikanischen Laboratorien (vgl. Amelang: »Laborkulturen«, S. 147 f.). 14 | Porath: »Begriffsgeschichte des Mediums oder Mediengeschichte von Begriffen?«, S. 257, (Hervorhebung im Original).

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hersehbar in den Fokus der Forschung gerät.15 Zudem zeigt er auf, dass die intensive Beschäftigung mit solchen neuen Wissensobjekten ein ums andere Mal dazu geführt hat, dass der Forschungsgegenstand nicht nur Objekt der Erkenntnis (›epistemisches Ding‹) bleibt, sondern sich oftmals auch als Werkzeug, etwa als technisches Element, Prinzip oder Indikator (›technologisches Objekt‹), in denselben oder weiterentwickelten »Experimentalsystemen« wiederfindet.16 »Die technologischen Objekte bestimmen die Repräsentationsweise des wissenschaftlichen Objekts; und ausreichend stabilisierende wissenschaftliche Objekte werden ihrerseits zu konstituierenden Momenten der experimentellen Anordnung.«17 Diese Transformation von epistemischen Dingen in technologische Objekte birgt in ihrer Interpretation ebenso einen medienwissenschaftlichen Ansatz wie das Konzept des Wissenschaftssoziologen Bruno Latour von den ›immutable mobiles‹. Latour versucht, die Medientechnologien, die ihren Siegeszug von den frühen Anfängen bis in die modernsten Forschungspraxen bestreiten konnten, zu kategorisieren und erspäht bei der Reduktion ihrer Eigenschaften auf das kleinste gemeinsame Vielfache »die Macht der unveränderlichen mobilen Elemente«18. Der Untertitel seines Aufsatzes Drawing Things Together, der auf den englischen Begriff der immutable mobliles rekurriert, fasst ein Prinzip zusammen, das man eigentlich als eine Medientheorie der Wissenskulturen bezeichnen könnte, wobei Latour dies an keiner Stelle in seinen Werken explizit macht. Latour zufolge gehe es lediglich darum zu verdeutlichen, dass die Kombination von Medieninnovation, technischer Standardisierung und naturwissenschaftlicher Laborkultur eine Erklärung für die Durchschlagkraft abendländischer Medien- und Wissenskulturen liefere.19 Für den Wissenschaftsalltag stelle sich prinzipiell die Frage, wie gemachte Beobachtungen, gefundene Objekte oder festgestellte Phänomene aus dem Labor oder aus dem Feld herausgetragen werden können, ohne dass die durch sie erhobenen Daten ihre Glaubwürdigkeit gegenüber der Forschergemeinde einbüßen. Latour gibt darauf eine klare Antwort: 15 | Vgl. Rheinberger: Experiment, Differenz, Schrift. 16 | Vgl. Rheinberger: Epistemologie des Konkreten; Rheinberger: Experimentalsysteme und epistemische Dinge; Rheinberger: Experiment, Differenz, Schrift. 17 | Rheinberger: Experiment, Differenz, Schrift, S. 70. Betrachtet man Rheinbergers Überlegungen unter medienhistorischen Gesichtspunkten, so fällt nicht nur auf, dass viele der gegenwärtig verbreiteten sogenannten Massenmedien ihre grundlegenden Entwicklungsschritte als Wissensobjekte (epistemische Dinge) in den Laboratorien des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts gemacht haben (z. B. die Fotografie, das Telefon oder der Film), sondern auch, dass die meisten wissenschaftlichen Erkenntnisse ohne die Hilfe von Medientechnologien gar nicht beobachtbar, dokumentierbar, analysierbar, repräsentierbar und publizierbar wären. 18 | Latour: »Drawing Things Together«. 19 | Vgl. ebd.

D IE T ECHNIK GIBT DEN T ON AN Indem man Mittel ersinnt, die (a) diese [Daten, J.W.] transportabel machen, damit sie zurückgebracht werden können; die (b) diese stabil machen, damit sie hin- und herbewegt werden können, ohne dass es zu zusätzlicher Verzerrung, Zersetzung oder zum Verfall kommt, und die (c) sie kombinierbar machen, damit sie, egal aus welchem Stoff sie bestehen, aufgehäuft, angesammelt oder wie ein Kartenspiel gemischt werden können. 20

Für die Selektion, Dokumentation, Repräsentation und Publikation von Wissen ergibt sich daraus folgende Konsequenz: »Man muss Objekte erfinden, die mobil, aber auch unveränderlich, präsentierbar, lesbar und miteinander kombinierbar sind«21 . Sowohl Rheinberger als auch Latour verwenden in ihren wissenschaftstheoretischen Überlegungen keinen dezidierten Medienbegriff. Dennoch lässt sich mit Hilfe von Rheinbergers Transformationskonzept und Latours Logik der immutable mobiles analysieren, wie und wann technische Geräte zu Medien im Forschungsprozess werden können und welche Form der Datenübertragung bei welchen Forschungsfragen wann, wie und warum bevorzugt wird. Darüber hinaus verspricht die von Latour mitbegründete Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) mit ihrem Blick auf die verteilte Handlungsmacht zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren eine methodische Antwort darauf zu geben, wie mediale Prozesse in der Forschung untersucht werden können, ohne dabei das Wirken der Menschen auf die Medien noch das Wirken der Medien auf die Menschen zu vernachlässigen. Der Medientheoretiker Erhard Schüttpelz möchte die ANT für einen umfassenden medienhistorischen Analyseansatz in einer Akteur-Medien-Theorie (AMT) spezifizieren. Dafür greift er u. a. die Logik der immutable mobiles auf und bringt sie in seiner medienwissenschaftlichen Interpretation auf die einfache Formel, dass sich diejenigen medialen Praktiken als Informationsträger durchgesetzt haben, die »auf der möglichen Steigerung und Kombination zweier Eigenschaften [beruhen]: der Mobilität und der Unwandelbarkeit – oder einer fixierbaren Formkonstanz – von Inskriptionen«.22 Schüttpelz nennt hier die zwei elementaren Schlagworte, die die Wissenstransformation über Zeit und Raum hinweg ermöglichen und die sich bei Latour in einem Begriff vereinen. Die immutable mobiles könnten ein Erklärungsraster für frühere und zukünftige Entwicklungen in den Medientechnologien bereithalten, da sie nicht nur den wissenschaftlichen Erfindungsgeist sondern z. B. auch Distributionswege, Konzernpolitiken und kulturelle Kontexte in Frage stellen. Jörg Döring und Tristan Thielmann erklären in der Einleitung zu ihrem Band Mediengeographie, »dass die Stärke des immutable mobilesKonzepts nicht bei allen medientechnischen Erzeugnissen zum Tragen 20 | Latour: »Die Logistik der immutable mobiles«, S. 124 (Hervorhebung im Original). 21 | Latour: »Drawing Things Together«, S. 266 (Hervorhebung im Original). 22 | Schüttpelz: »Elemente einer Akteur-Medien-Theorie«, S. 33.

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kommt. Bestimmte Medien werden hier eindeutig präferiert […], die sich unter dem Begriff ›Geomedien‹ zusammenfassen« ließen.23 Latour selbst erklärt das Prinzip der immutable mobiles am Beispiel der Anschlussfähigkeit von geographischem Kartenmaterial.24 Und er verweist auch in vielen anderen Beiträgen, in denen er Wissenstransformationen beschreibt, auf die Universalität sog. ›Flachware‹, womit in der Regel Zeichnungen, Karten oder Bilder gemeint sind.25 Ist jedoch, und diese Überlegung bildete den theoretischen Ausgangspunkt meiner Betrachtung, Latours Konzept ebenso plausibel, wenn die primäre Datengrundlage nicht visuelle Repräsentationen sind sondern Schallaufzeichnungen? Und ist das Prinzip der immutable mobiles auch auf die Auswahl von »geeigneten Apparaten« in der Bioakustik übertragbar?

D IE TON -TECHNIK IM BIOAKUSTISCHEN F ELD Tonaufnahmegeräte werden zumeist nicht speziell für wissenschaftliche Zwecke angefertigt – stattdessen wird in vielen Fällen auf Produkte zurückgegriffen, die primär für den Bereich der Musik- und Filmproduktion entwickelt worden sind. Das Spektrum der Mobilität reicht dabei von fest installierter professioneller Studiotechnik bis hin zur Aufnahmefunktion im Handy oder Mp3-Player. Die akustischen Apparaturen in einer Laborsituation zum Einsatz zu bringen, stellt bei der Geräuschkulisse die durch Rechenmaschinen, Lüftungsanlagen und andere Lärmquellen in geschlossenen Räumen herrscht, ein ungeahntes Hindernis dar, weshalb viele bioakustische Laborexperimente heute in Schallkammern durchgeführt werden. Noch schwieriger gestaltet sich jedoch die Arbeit mit akustischem Gerät draußen im freien Gelände. Neben der mobilen Energieversorgung und der Transportfähigkeit der Rekorder müssen hier ungewollte Nebengeräusche durch Richtmikrofone mit Windschutzkörben und Schaumstoffbzw. Kunstfellüberzügen und entsprechende Vorverstärker bzw. Tiefpassfilter an den Aufnahmegeräten minimiert werden. Hinzu kommt, dass handelsübliche Geräte und deren Funktionsumfang den Gegebenheiten im Feld angepasst werden müssen und die Forschenden viel kreative Energie und einen großen Teil ihrer Forschungsgelder investieren müssen, um ihre akustischen Felddaten erheben zu können. Gleichzeitig eröffnen sich durch das Aufkommen von handlicheren Rekordern, zunehmenden Speicherkapazitäten und erweiterten Aufzeichnungsparametern gänzlich neue Forschungsansätze für die Datenerhebung im Feld. Dieses 23 | Döring/Thielmann: Mediengeographie, S. 19. 24 | Vgl. Latour: »Drawing Things Together«. 25 | Vgl. u. a. Latour: »Die Logistik der immutable mobiles«; Latour: »Gebt mir ein Laboratorium und ich werde die Welt aus den Angeln heben«; Latour: Die Hoffnung der Pandora.

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Spannungsverhältnis macht die bioakustische Feldforschung wiederum zu einem aufschlussreichen Forschungsobjekt für die Wissenschaftsforschung, da sich am Einsatz der Aufnahmegeräte im Forschungsalltag und dessen Anpassung an die Feldbedingungen das Wechselspiel zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren im Erkenntnisprozess deutlich ablesen lässt. Ein Frosch-Rekorder, ein Nachtigall-Lautsprecher, ein Fledermaus-Computer und eine Rufortungsstation sollen im Folgenden als Anschauungsobjekte dienen, um diese wechselseitige Anpassung zu verdeutlichen.

3.1 Ungewohnte Orte für gewöhnliche Apparate oder die Tonaufnahme als Referenz Seit fünfzehn Jahren reist Dr. Rainer Günther, ehemaliger Kustos der Amphibien- und Reptiliensammlung des Museums für Naturkunde Berlin, in den indonesischen Teil Neuguineas nach West-Papua. Dort fängt und bestimmt er bisher noch unbekannte Froscharten. Der Herpetologe orientiert sich bei seinen Entdeckungsreisen an den artspezifischen Paarungsrufen der nachtaktiven Frösche: Man muss also nachts raus, die Taschenlampe mitnehmen und natürlich das Tonbandgerät. Ohne Tonbandgerät weiß man hinterher dann nicht mehr wie hat der denn gerufen, weil […] die rufen wirklich alle unterschiedlich. Das ist wirklich ein ganz tolles Artmerkmal, die Paarungsrufe der Männchen. 26

Ebenso wie die Feldgrillen-Weibchen den Stridulationslauten der männlichen Artgenossen folgen, balzt jede Frosch-Spezies im wahrsten Sinne des Wortes einzigartig. Diese Tatsache hilft dem Forscher nicht nur im Nachhinein bei der Artbestimmung, sondern erleichtert dem geschulten Ohr auch vor Ort das Unterscheiden zwischen bekannten und unbekannten Rufern und das Aufspüren der Frosch-Männchen in der Dunkelheit. Bevor er ein Tier einfängt, versucht er eine möglichst klare und störungsfreie Tonaufnahme von dessen Rufform zu erstellen, was angesichts der lauten Geräuschkulisse im Urwald, den häufigen Regenfällen und dem unberechenbaren Verhalten der Frösche kein leichtes Unterfangen ist: Um die Rufe des Frosches trotzdem fokussieren zu können, muss er möglichst nah an das Tier herangehen, aber nicht zu nah, damit die Aufnahme nicht übersteuert oder der Forsch davonspringt. Günther benutzt einen kleinen DAT-Rekorder mit externem Richtmikrofon.27 Dieser war 26 | Interview mit Dr. Rainer Günther. 27 | DAT steht für Digital Audio Tape und ist ein heut schon fast ›ausgestorbener‹ Vorläufer der digitalen Aufnahmegeräte. Als Hybrid aus analoger und digitaler Technik, hat es ebenso wie das Tonbandgerät ein Magnetband als Datenträger, speichert die Aufnahmen aber in einem digitalcodierten Format auf das Band. Um es weiterverarbeiten zu können, muss man es ebenso wie das Magnettonband

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ihm schon seit vielen Jahren ein zuverlässige Begleiter auf seinen Expeditionen. Er hält dem feuchten Klima stand, ist immer leicht zur Hand und ist mit einem ausreichenden Vorrat an Batterien und Kassetten ein solides Werkzeug bei der Erhebung der Felddaten (Abb. 1).

Abb. 1: Dr. Rainer Günther mit seinem Equipment auf Yapen Island (indonesischer Teil von Neuguinea), April 2002. Dr. Rainer Günther ist kein Bioakustiker. Er nutzt die Tonaufnahmen nur als Hilfsmittel, als Referenz für seine taxonomischen, zoologischen und evolutionsbiologischen Untersuchungen. Dennoch ist er davon überzeugt, dass zurzeit bei wissenschaftlichen Neubeschreibungen von Froscharten 25–30  % des Artmerkmals einer Spezies fehlen, wenn keine Tonaufnahmen vorhanden sind. Dank der Tonaufnahmen kann Günther die Froschrufe aus dem Regenwald mitnehmen, er hat sie ebenso transportabel gemacht wie die fünf bis zehn Belegexemplare, die er für eine sichere Bestimmung je Spezies einfängt und noch im Regenwald konserviert. Durch die Schallspeicherung bleiben die Laute in ihrer Form und Struktur erhalten und der Herpetologe kann sie sich jederzeit (auch zusammen mit seinen Kollegen) wieder anhören. Doch einmal von dem analogen Speichermedium auf den Computer übertragen, können die Charakteristika der aufgezeichneten Schallwellen auch durch grafische Darstellungen abgebildet werden: ihre Tonlänge, ihre Amplitude, ihre klangliche Ausprägung und Anordnung, ihre Frequenzstruktur wird nun in Wellenform und Schallspektrogramm auch sichtbar (Abb. 2). in Echtzeit einspielen, kann aber bereits während der Aufnahme auf dem Band Marker für den Beginn neuer Aufnahmen setzen.

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Abb. 2: Wave-Form (oben) und Spektrogramm (unten) von drei Silben eines Paarungsrufes von Xenorhina arndti sp.nov. Durch die visuelle Anzeige der Signale in ihrem zeitlichen Verlauf können die prozesshaften Schallereignisse eingefroren und in ihre kleinsten Einheiten aufgelöst werden und somit werden die einzigartigen Paarungsrufe der Frösche nicht nur lesbar, sondern können auch durch Messungen quantifiziert und damit standardisiert beschrieben werden. Die Rufmuster der einzelnen Froscharten bleiben durch die Tonaufnahmen über Zeit und Raum hinweg vergleichbar und unterscheidbar.

3.2 Ungewöhnliche Lautsprecher für unerhörte Sänger oder die Tonaufnahme als Akteur Am Institut für Biologie der Freien Universität Berlin gibt es in dem Fachbereich Neurobiologie und Verhalten eine kleine verhaltensökologische Arbeitsgruppe, die sich bei ihren Feldforschungen ebenfalls bioakustischer Methoden bedient. Allerdings besitzen die Tonaufnahmen hier nicht nur Referenzfunktion. Sie bilden vielmehr die primäre Datengrundlage, mit der die Arbeitsgruppe die akustische Kommunikation von Tieren untersucht. Die Nachtigall (Luscinia megarhynchos) wurde in der Arbeitsgruppe als sog. ›Modellorganismus‹28 etabliert, um allgemeingültige Aussagen über das Verhalten von territorialen Singvögeln treffen zu können. Hierfür werden bereits seit über zehn Jahren systematisch Tonaufnahmen von männlichen Nachtigallen im Treptower Park in Berlin gemacht, die zur Analyse des umfangreichen Gesangsrepertoires der Tiere verwendet werden. Der Gesang einer männlichen Nachtigall umfasst im Durchschnitt 190 unterschiedliche Strophentypen. Damit zählt die Nachtigall zu den variationsreichsten Singvogelarten Europas. Der Medienhistoriker Friedrich Kittler verweist mit Bezug auf Aristoteles auf die Besonderheit, die das Werben dieser singenden Vögel für unsere menschlichen Ohren so vertraut mache: 28 | »Ein Modellorganismus ist ein – für Experimente zugerichtetes – Lebewesen aus dem Reich der Pflanzen, der Tiere oder der Bakterien, dessen Manipulation zu Einsichten in die Konstitution, das Funktionieren, die Entwicklung oder die Evolution einer ganzen Klasse von Organismen führen kann« (Rheinberger: Epistemologie des Konkreten, S. 14).

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J UDITH W ILLKOMM Weil Singvögel so wunderbar ›gegliedert‹ singen, grenzt er [Aristoteles, J.W.] ihre Mundarten vom ›schriftlosen‹ Schreien aller Säugetiere ab. […] Singvogelstrophen sind wie Griechenlautschriftzeichen ja nicht angeboren, sondern erst erlernt. […] Aristoteles nennt daher, was dünne feine Vogelzungen so gegliedert ›schallen‹, für einmal sogar Buchstaben (ȖȡȐȝȝĮIJĮ) […] Als Unterschied bleibt nur: Singvögel schreiben die Elemente ihrer Mundart nicht wie Hochkulturen an. 29

Die Nachtigallen können ihren Gesang erinnern aber nicht notieren. Die Forschenden können die Nachtigall-Gesänge aufzeichnen aber nicht entschlüsseln. Doch sie haben ein Verfahren entwickelt, mit dem sie die Gesangsaufnahmen lesen können. In der Spektrogramm-Ansicht am Computer oder dem Ausdruck auf Papier werden die Strukturen und Formen der einzelnen Strophentypen identifiziert, miteinander verglichen, systematisiert und katalogisiert. »Das ist so ein bisschen wie Memory spielen«, sagt die Leiterin der Arbeitsgruppe Prof. Dr. Silke Kipper. Im Feld sind die Forschenden überfordert von den vielschichtigen Gesangsmustern der Nachtigallen, »werden erdrückt von der schieren Präsenz der komplexen Erscheinungen, die ununterscheidbar, nicht festzustellen, nicht umzudisponieren und nicht zu beherrschen sind«30. Doch einmal auf- und mitgenommen werden die Gesangsmerkmale analysierbar, frei kombinierbar und ermöglichen die Erzeugung neuer Erkenntnisse.31 Inzwischen sind die Strophentypen der Nachtigallen in der Arbeitsgruppe soweit erschlossen, dass sie aus ihnen sog. Playback-Stimuli erstellen können: das sind unter einer bestimmten Fragestellung zusammengeschnittene Tonaufnahmen, die in einem Verhaltensexperiment beispielweise einen männlichen Gesangsrivalen imitieren, um gezielte Reaktionen bei den Versuchstieren hervorzurufen. Das ursprüngliche Objekt der Erkenntnis, die Repertoiregröße des Nachtigall-Gesangs, wird auf diese Weise zum technischen Element, zum Werkzeug, mit dem weiter operiert werden kann.32 Die Playback-Experimente für die NachtigallMännchen werden vor Ort im Park durchgeführt. Als Abspielgerät dient in der Regel ein kleiner Mp3-Player. Allerdings muss dieser in der Lage sein, auch unkomprimierte Dateiformate abzuspielen. Trotz ihres speicherplatzsparenden Formats werden Mp3-Encoder und andere verlustbehaftete Datenkompressionsverfahren in der Bioakustik generell gemieden, denn die Kompression basiert in der Regel auf wahrnehmungspsychologischen Erkenntnissen, auf deren Grundlage Teile des Signals entfernt werden, die außerhalb des menschlichen Hörvermögens liegen.33 29 | Kittler: Musik und Mathematik, S. 177 f. 30 | Latour: Die Hoffnung der Pandora, S. 51. 31 | Vgl. ebd. 32 | Vgl. Rheinberger: Experiment, Differenz, Schrift, S. 70 ff. 33 | Vgl. Lerch/Sessler/Wolf: Technische Akustik, S. 448. Da die Kodierungsvorgänge von den Entwicklungsfirmen nicht offen gelegt werden, liegt bisher auch noch keine wissenschaftliche Studie vor, die überprüfen konnte, ob und welche

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Für das Abspielen der Playback-Stimuli bedarf es aber nicht nur der präparierten Tonaufnahmen in guter Qualität und entsprechendem Dateiformat sondern auch, wie schon zu Prof. Regens Zeiten, »geeigneter Apparate«, um die Stimuli der Nachtigall-Gesänge in »voller Stärke und Natürlichkeit«34 und vor allem im Freien wiedergeben zu können. Nachtigallen singen in Höhen bis zu 6000 Hz und ihr Gesang besitzt eine sehr große Dynamik mit einer großen Reichweite.

Abb. 3: Die Technik für das Playback-Experiment, bestehend aus Nachtigall-Lautsprecher, Verstärkerbox mit Wiedergabegerät, Mikrofon und Aufnahmegerät. Da keine handelsübliche Aktivbox solche Gesangscharakteristika unterstützt, hat sich die Arbeitsgruppe spezielle Lautsprecher mit einem brei-

Tiere anders oder gar nicht auf mp3-Aufnahmen reagieren. Eine aufschlussreiche Auseinandersetzung mit dem Mp3-Format aus kultur-, medien- und wissenschaftshistorischer Perspektive verspricht die bereits angeführte Publikation von Jonathan Sterne: Mp3: The Meaning of a Format (2012). 34 | Vgl. Regen: Über die Anlockung des Weibchens von Gryllus campestris L. durch telephonisch übertragene Stridulationslaute des Männchens, S. 194.

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ten Rundstrahlverhalten35 und einem Hochtöner36 anfertigen lassen, die auf die Wiedergabe in freier Natur und vor allem auf die erstaunliche Leistung der Nachtigall-Männchen ausgelegt sind. Doch auch in ihrer Konstruktion sind die Sonderanfertigungen an die Bedürfnisse und Bedingungen angepasst, die das Feld diktiert: Die kleinen schwarzen Lautsprecherköpfe sind mit Klemmen versehen, so dass man sie problemlos an Büschen, Zweigen oder Zäunen befestigen kann. Die entsprechenden Verstärkerboxen sind mit einem leichten Aluminiumgehäuse versehen, stabil, handlich und batteriebetrieben (Abb.  3). Die Lautsprecher sind sozusagen als kleine Vogelsänger konstruiert, als virtueller Rivale sollen sie gezielt Reaktionen beim Versuchstier hervorrufen. Tontechnik und Schallaufnahme werden selbst zum Akteur im Feld. Es entsteht eine Tonaufzeichnung zweiter Ordnung, die das Experiment und das beobachtete Verhalten in Form von eingesprochenen Kommentaren aufzeichnet. Zum Gegenstand der Auswertungen werden nicht die Beschreibungen der Rufformen, sondern die Beobachtungen der Forschenden sowie die quantifizierten Gesangsantworten der Versuchstiere. Die Tonaufnahmen bilden also zugleich die Datengrundlage und das epistemische Werkzeug der Nachtigall-Forschung.

3.3 Unhörbare Klänge sichtbar gemacht oder die Tonaufnahme als Medium Ein Phänomen, das ohne technische Hilfsmittel nur rudimentär zu erforschen wäre, ist die tierische Lauterzeugung im Ultraschallbereich, wie sie beispielsweise von der Fledermausforschung untersucht wird. Fledermäuse können Rufe erzeugen, die in Frequenzbändern bis zu 150 kHz angesiedelt sind.37 Die Tiere senden diese »ultrakurzen« Laute aus, um sich in der Nacht durch das Echo, das die Rufe zurückwerfen, zu orientieren und ihre Beutetiere – meist Insekten – im Flug aufzuspüren. Dieses komplexe Echoortungssystem ist Gegenstand vieler biologischer Studien. Noch kaum erforscht sind hingegen die sog. Soziallaute von Fledermäusen, d.h. Lautäußerungen, die nicht oder nicht nur der Orientierung im Raum dienen. Bei einigen Fledermausarten konnten sogar komplexe Vokalisationen in einem Balzkontext festgestellt werden, also das, was bei 35 | Der Strahlungswinkel liegt zwischen 120 - 140°. Zum Vergleich: Hornlautsprecher wie Stadionlautsprecher oder das Martinshorn bündeln den Schall auf einen Strahlungswinkel von nur etwa 40°. 36 | Eine Lautsprechermembran, die gerade in den hohen Frequenzbereichen gut schwingt, d.h. schnell anschlägt und auch schnell wieder abklingt und somit kaum Nachhall erzeugt (in diesem Fall zwischen 800 Hz und 30.000 Hz), also das Gegenteil von einem Basslautsprecher (Subwoofer). 37 | Zum Vergleich: Die auditive Wahrnehmung liegt beim Menschen je nach individueller Hörfähigkeit zwischen 20 Hz und 20 kHz, als Ultraschall werden Frequenzen ab 16 kHz bezeichnet.

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den Vögeln im Allgemeinen als ›Gesang‹ bezeichnet wird. Über die Funktion dieser akustischen Lautäußerungen ist noch sehr wenig bekannt, nicht zuletzt deshalb, weil bis vor kurzem keine geeignete Technik für Playback-Experimente im Feld zur Verfügung stand, die beispielsweise mit denen der Nachtigallen vergleichbar ist. Silke Voigt-Heucke ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Arbeitsgruppe von Prof. Kipper an der FU Berlin und beschäftigt sich in ihrer Doktorarbeit mit dem Balzgesang des Großen Abendseglers (Nyctalus noctula). Ihr Forschungsgebiet ist der Schlosspark Biesdorf in Berlin. Dort sitzen die Abendsegler-Männchen ab Mitte August bei Einbruch der Dunkelheit in Baumhöhlen oder installierten Fledermauskästen und ›singen‹. Die tieffrequenten Rufmotive einiger Tiere sind als sehr hohe klickende Triller oder fiepende Ziehlaute gerade noch wahrnehmbar, doch das gesamte Gesangsspektrum ist nur mit dem Ultraschall-Mikrofon detektierbar. Als Aufnahmerekorder und gleichzeitig Abspielgerät dient der Doktorandin ein kleines Netbook.

Abb. 4: Eine Studentin hält das Ultraschall-Mikrofon in der Hand, im Vordergrund rechts liegt der Ultraschall-Lautsprecher. Über USB-Kabel schließt sie sowohl einen speziell für den Einsatz im Freien konzipierten Ultraschalllautsprecher als auch ein Ultraschallmikrofon mit integriertem Analog-digital-Wandler an. Eine für die Bioakustik entwickelte Aufnahmesoftware ermöglicht es, die vom Mikrofon registrierten Ultraschalllaute unmittelbar in einem Livespektrogramm am Computerdisplay anzeigen zu lassen (Abb. 4). Sobald wir die Technik vor einem Kasten mit rufaktivem Männchen platziert haben, sehe ich, was ich nicht hören kann: Die Fledermausrufe zeichnen sich in klaren und deutlichen schwarz-grauen Linien, Kurven und Mustern vor einem nahezu rauschfreiem Hintergrund ab. Immer wieder überschreibt das Programm die einzelnen Spektrogramm-Zeilen, während der Cursor dabei von links nach rechts

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J UDITH W ILLKOMM fliegt. Der Prozess generiert eine Art Schrift und das Zuschauen wird zum Lesen, wenn man die Zeichen deuten kann. Silke kann sie lesen, flugs beschreibt sie mir, was wir sehen, zeigt es am Bildschirm: »Das war ein Echoortungsruf, das war eine andere Fledermaus, hier siehst du den Pfeifer, das ist eine Bassline, das war ein Complex-Trill etc.« 38

Das Ultraschall-Equipment dient der Forscherin nicht mehr nur als Referenz, Speichermedium oder Akteur, sondern vermittelt ihr direkt vor Ort Informationen und Eindrücke, die sie ohne die Bildschirmanzeige nicht registrieren würde, beispielsweise kann sie somit prüfen, ob ausgewählte Stimuli während eines Playback-Experiments tatsächlich abgespielt werden. Das Programm hilft ihr auch direkt auf die Vorgänge im Feld zu reagieren und die gewünschten Daten durch eine Prerecord-Funktion39 zum richtigen Zeitpunkt festzuhalten. Ultraschall besitzt jedoch eine sehr geringe Reichweite, daher werden auf der Aufnahme nur die Laute in unmittelbarer Umgebung aufgezeichnet. Mögliche Interaktionen oder Reaktionen auf die Balzgesänge aus weiterer Entfernung werden nicht aufgenommen. Außerdem ist das Ultraschallmikrofon für Frequenzen unter 1200 Hz kaum empfänglich. Das hat den Vorteil, dass viele Störgeräusche wie Wind- und Blätterrauschen, Straßenverkehr und Menschenstimmen von vornherein ausgeblendet werden. Allerdings fallen dadurch auch die für Menschen gut hörbaren Lautäußerungen des Abendseglers aus dem Registrierungsraster der Aufzeichnung. Bezogen auf den Visualisierungsprozess könnte man im übertragenden Sinne von einer »Kurzsichtigkeit« der Technik sprechen. Das Beobachten im Feld ist folglich immer mit einem Filter verbunden. Ein Instrument, ein Medium, ein Mittler schiebt sich zwischen Forscherin und Fledermaus. Dieser Abstand zu den Ereignissen im Forschungsfeld hilft gleichzeitig, das Beobachtete besser reflektieren zu können und es bereits vor Ort zu selektieren und zu interpretieren. »Durch Inskriptionen überblicken und beherrschen wir eine Situation, in die wir doch eingetaucht sind; wir werden dem überlegen, was uns überragt«.40 In Anlehnung an Joseph Vogls Überlegungen zum Medien-Werden von Galileis Fernrohr ließe sich von einer »Denaturierung« des Ohrs sprechen, denn auch das Hören verliert durch die vom Ultraschallmikro-

38 | Feldnotiz, 13.09.2011. 39 | Ist das Ultraschallmikrophon aktiviert, zeigt das Programm automatisch die ankommenden Signale und speichert fortlaufend bis zu fünf Minuten in einem Zwischenspeicher. Für die normalen Gesangsaufnahmen stellt die Forscherin nun 30 Sekunden Prerecord-Zeit ein, d.h. sobald sie den Aufnahmebutton betätigt, addiert das Programm die letzten 30 Sekunden vor ihrem Aufnahmestart zu der Aufnahme hinzu. Die Prerecord-Funktion ist für bioakustische Feldarbeit sehr hilfreich und findet sich inzwischen in vielen digitalen Field-Recordern. 40 | Latour: Die Hoffnung der Pandora, S. 80.

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fon sichtbar gemachten Laute seine »naturwüchsige Evidenz«.41 Durch den medialen Prozess der Ultraschallübertragung erscheint hier die »Differenz zwischen« Hörbarem und Unhörbarem, und das Sehen wird zu einem Hören »zweiter Ordnung«.42 Genau diese Differenz zur menschlichen Wahrnehmung ermöglicht einen (selbst)bewussteren Umgang mit dem subjektiven Erfahrungswissen, denn »der Gebrauch der wesentlichsten Eigenschaft des Beobachters, nämlich seine Fähigkeit zu beobachten«,43 lässt sich aus wissenschaftlichen Erkenntnisprozessen nicht wegdenken, auch wenn er oft zu Gunsten der Objektivität verschwiegen wird. »Diese Einheit von Beobachtung und Selbstbeobachtung führt nicht zuletzt zu einer Konditionierung des Beobachtens selbst«.44 Die Fledermausforschung erweist sich als ein paradoxes Geflecht aus eingeschränkten Sinneseindrücken. Die Tiere in ihrer natürlichen Umgebung zu erforschen bedeutet, sich mit tauben Ohren an unsichtbare Phänomene blind heranzutasten, soweit die Technik reicht.

3.4 Unsichtbare Tiere akustisch geortet oder die Tonaufnahme als Lokalisationsverfahren In eine ganz andere Richtung geht der technische Einsatz im Feld beim sog. bioakustischen Monitoring. Ein Monitoring-Verfahren, also die systematische Beobachtung, Überwachung und Protokollierung eines Vorgangs über einen längeren Zeitraum hinweg, wird in der Ökologie beispielweise eingesetzt, um »langfristige Aussagen und auch Prognosen für die Entwicklung von Vogelbeständen zu liefern, aber auch das tages- und jahreszeitliche Auftreten von Zugvögeln zu ermitteln.«45 In der Regel werden die notwendigen Daten für die Zählung und Schätzung der Vogelbestände von freiwilligen Helfern durch die regelmäßige Begehung und Kartierung eingeteilter Naturflächen erhoben.46 Doch es gibt Vogelarten, die buchstäblich aus dem Kartierungsraster fallen, weil die Tiere oft zu Zeiten in Erscheinung treten, in denen die Kartierungen nicht stattfinden oder in Gebieten brüten, die schwer zugänglich sind. Ein solches Gelände ist beispielsweise das ca. 700 Hektar große Wiedervernässungsgebiet am Kummerower See in Mecklenburg-Vorpommern. Das dort ehemals befindliche Durchströmungsmoor wurde in den 41 | Vogl: »Medien-Werden«, S. 116. 42 | Ebd., S. 118. 43 | Foerster: »Wahrnehmen wahrnehmen«, S. 437 (Hervorhebung im Original). 44 | Vogl: »Medien-Werden«, S. 117. 45 | Frommolt/Hüppop: »Forschung für die Avifaunistik«, S. 406. 46 | »In Deutschland wird das Monitoring der Brutvogelbestände vor allem durch ein umfangreiches Netz ehrenamtlicher Mitarbeiter realisiert, deren Tätigkeit von avifaunistischen [Avi = Vogel, Fauna = Tierwelt] Arbeitsgemeinschaften, den Staatlichen Vogelschutzwarten und dem Dachverband Deutscher Avifaunisten koordiniert wird.« (ebd., S. 408).

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1970er Jahren für die Landwirtschaft trocken gelegt und steht seit sieben Jahren wieder unter Wasser. Im Jahr 2009 als Naturschutzgebiet ausgewiesen, ist es inzwischen ein Brutparadies für unzählige Vogelarten, u. a. für in Deutschland stark gefährdete Arten wie das Tüpfelsumpfhuhn (Porzana porzana) oder die Rohrdommel (Botaurus stellaris). Diese Tiere nisten sehr unauffällig und gut getarnt in Schilfgürteln. Das bioakustische Monitoring setzt nun darauf, die Rufe dieser speziellen Brutvögel durch Tonaufnahmen festzuhalten und in einer späteren Datenanalyse zu identifizieren und zu quantifizieren. Die Paarungsrufe der Männchen ertönen erst nach Einbruch der Dunkelheit, besitzen eine einfach strukturierte und gleichförmige Rufsequenz und lassen sich deshalb gut mit Hilfe von entsprechender Erkennungssoftware in einer digitalen Tonaufzeichnung detektieren. Doch das reine Auffinden der Rufe in einer Aufnahme würde nicht ausreichen um eine Prognose über die Anzahl der rufenden Tiere in dem akustisch erfassten Gebiet abzugeben. Die Richtung, aus der die Rufe kommen, kann selbst aus Stereoaufnahmen nicht klar herausgehört und die Entfernung nicht abgeschätzt werden. Dr. Karl-Heinz Frommolt, der heutige Leiter des Tierstimmenarchivs am Museum für Naturkunde Berlin arbeitet schon seit einigen Jahren an einem akustischen Aufzeichnungsverfahren, das es ermöglichen soll, durch Mehrkanaltonaufnahmen an unterschiedlichen Standorten im Gelände eine Lokalisation der rufenden Tiere auf der Grundlage der Berechnung von Laufzeitunterschieden zwischen den verschiedenen Aufnahmestationen vorzunehmen. Eine statistische Erhebung von Artbeständen durch bioakustische Verfahren bietet gerade für Schutzgebiete und entlegene Biotope eine vielversprechende Perspektive. Allerdings ist das bioakustische Monitoring erst denkbar, seitdem mit den digitalen Aufzeichnungs- und Speichermöglichkeiten Rekorder, Computer, mobile Datenträger, Funkverbindungen, Servernetzwerke und Software zur Verfügung stehen, die längere Aufnahmen in Gebieten ermöglichen, die keine technische Infrastruktur besitzen. Im Laufe der Jahre hat der Biologe seine Aufnahmestationen sukzessive den Bedingungen im Feld und seinem Lokalisationsvorhaben angepasst. Mit dem Begriff der mangle of practice hat Andrew Pickering die Dialektik von Widerstand und Anpassung betitelt, die während eines Forschungsprozesses herrscht.47 Auch Dr. Frommolt muss den Aufbau seiner Aufnahmestationen immer wieder in die Mangel nehmen, um praktikable Lösungen zu erfinden. Der gegenwärtige Aufbau gestaltet sich wie folgt: Jede Aufnahmestation besteht aus vier an einer quadra47 | Vgl. Pickering: Kybernetik und Neue Ontologien, S. 27. Pickering erklärt die Metapher der Mangel wie folgt: »für mich beschwört sie das Bild unvorhersehbarer Transformationen, denen unterzogen wird, was immer in das altmodische Gerät gleichen Namens hineingeführt wird, um das Wasser aus der Wäsche zu pressen« (ebd.).

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tischen Holzplatte fixierten und kreuzförmig angeordneten Mikrofonen mit Nierencharakteristik48, einer Holzstange, auf die das Mikrofonkreuz aufgeschraubt werden kann, einem Einschlagdorn, der die Stange im Boden verankert sowie vier Kabeln, die die Mikrofone mit den jeweiligen Eingängen eines Vierkanaltonrekorders verbinden, der sich zusammen mit einem Bleiakku in einem umfunktionierten Mikrofonkoffer befindet.

Abb. 5: Dr. Frommolt beim Aufbau einer Aufnahmestation mit Vierkanaltonrekorder und Mikrofonkreuz. Hinter diesem System steht die Logik der Erfahrung: vier Mikrofone können eine sichere Richtungsinformation für die Rufe geben, die Nierencharakteristik ermöglicht, das Signal-Rausch-Verhältnis zu minimieren, die Bleiakkus garantieren mit 8-10 Stunden Laufzeit die bestmögliche Energieversorgung.49 Zusätzlich verankern GPS-Gerät, Präzisionskompass und ein Temperatur-Luftfeuchtigkeits-Datenlogger die Stationen in 48 | Nierencharakteristik bezeichnet die Form der Richtungsempfindlichkeit, mit der ein Mikrophon die empfangenden Schallwellen empfängt. Anders als beispielsweise Mikrophone mit Kugelcharakteristik, die den Schall von allen Seiten mit der gleichen Intensität registrieren, nehmen Nierenmikrophone primär den frontalen Schall auf und blenden von hinten eintreffende Schallquellen weitestgehend aus. 49 | Die meisten Batterien verlieren bei niedrigen Temperaturen ihre Leistungsfähigkeit. Das trifft auch auf Bleiakkus zu, diese sind allerdings selbst bei Minusgraden noch funktionsfähig, weshalb sie auch in Fahrzeugen eingesetzt werden. Andere mobile Energiespeichereinheiten, wie beispielsweise Lithium-IonenAkkus, die in den neusten Handymodellen verwendet werden, sind für den Einsatz in Kältezonen nicht ausgelegt und setzen bei diesen Temperaturen aus.

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ihrer geografischen Umgebung, ein Synchronisationssignal hilft die unterschiedlich ›tickenden‹ Rekorder gleichzuschalten. Damit die Standorte der Tiere überhaupt ausfindig gemacht werden können, muss das Aufnahmesystem selbst räumlich ausgerichtet werden und noch dazu zeitlich geeicht sein. Es geht bei der Analyse der Aufnahmen nicht mehr um das Schallereignis bzw. die Schallsignatur selbst (z. B. Klangfarbe oder Rufmuster), sondern um die Laufzeitdifferenzen der Klänge zwischen den einzelnen Kanälen und Stationen, um räumliche Positionsbestimmungen der Schallquellen vornehmen zu können. Das Erkenntnissystem befindet sich in und zwischen den Tonaufnahmen, denn sie werden als Lokalisationsverfahren genutzt, um die im Schilf verstecken Tiere am Ende der Auswertung auf einer Karte sichtbar zu machen.

F A ZIT Die Techniken der Schallaufzeichnung haben die bioakustische Disziplin nicht nur begründet, sie bilden neben der digitalen Bearbeitung und Analyse der Tondateien mittels spezieller Computersoftware einen elementaren Bestandteil der gegenwärtigen Erkenntnisproduktion im Fach. Wie die angeführten Beispiele gezeigt haben, wurde nicht nur das akustische Wissen über Tiere durch das Heranziehen von Tonaufnahmen als Erkenntnismittel entscheidend erweitert, vielmehr noch hätten sich ohne die »geeigneten Apparate« bestimmte Forschungsfragen und -felder gar nicht erst eröffnet und die Bioakustik wäre als wissenschaftliche Disziplin vermutlich nie oder nie in dieser Form entstanden. Gleichzeitig bilden die Eigenschaften der verwendeten Apparate oft den limitierenden Faktor, an den sich die Arbeitsmethoden anpassen müssen: Für den alltäglichen Gebrauch der Technik im Feld sind die Forschenden auch heute noch an die begrenzte Stromversorgung, Speicherkapazität oder Wetteranfälligkeit der technischen Geräte gebunden. Aufgenommen wird nur, soweit die Technik trägt bzw. getragen werden kann. Denn neben der Grundversorgung und -funktion der Rekorder sind auch die Reichweite und Sensibilität der Mikrofone und die Portabilität und Mobilität der Technik von Bedeutung. An den vier Fallbeispielen zeigen sich die individuellen Lösungsansätze im Umgang mit der Transportfrage: Der Herpetologe verstaut das Aufnahmegerät auf seiner Expedition in einer Umhängetasche. Die Arbeitsgruppe der Verhaltensbiologie an der FU benutzt Fahrradtaschen, wenn sie bei ihren Playback-Experimenten die Nachtigall-Reviere anfährt. Die Fledermausforscherin führt ihr Equipment im Park in einem Rucksack oder unter dem Arm mit sich. Und für die Aufnahmestationen am Kummerower See werden ein Schlauchboot (für die Technik) und Wathosen (für den Menschen) bemüht. Die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten der Technik bestimmen die Arbeit der Forschenden im Feld. Forschungsgebiet (Urwald, Park oder

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Feuchtgebiet) und Forschungsgegenstand (Frosch, Nachtigall, Fledermaus bzw. Balzrevier) bestimmen wiederum die Art und den Einsatz der technischen Geräte. Oft muss während der Forschung improvisiert und die Technik temporär den Gegebenheiten angepasst werden. In einigen Fällen muss das Equipment aber auch umgebaut, in andere Systeme integriert oder vollkommen neu konzipiert werden. Sonderwege und Spezialanfertigungen sind nicht selten die Strategien, mit denen die Bioakustik der handelsüblichen Tontechnik begegnet, die primär für menschliche Ohren gemacht ist. »Kein Mensch braucht das für Menschen«, erklärt mir Daniel Kiefer, der die Nachtigall-Lautsprecher entwickelt hat. Die Auswahl »geeigneter Apparate« für die bioakustische Datenerhebung unterliegt anderen Kriterien als den für uns Menschen gemachten: sie sollen z.T. in menschenfernen Gebieten zum Einsatz kommen und für Menschen unhörbare Klänge aufnehmen, sie müssen die aufgezeichneten Schallwellen in anschlussfähige Daten transformieren, sie messbar, kombinierbar, analysierbar und präsentierbar machen. Durch die Praxis der Datenerhebung mittels Schallaufzeichnung entstehen somit neue Formen der Übertragung, Transformation und Vermittlung von Wissen. Die Tonaufnahme wird dabei zu einem entscheidenden Indikator für die Identifikation, Bestimmung und Beurteilung von Tierlauten und der dazugehörigen Interpretation des Kontextes (Artbestimmung, Verhalten, Population etc.). Sie erhält diagnostische Funktion, die wiederum dazu führt, dass die Lautäußerungen der Tiere selbst in ihrer Rekursivität in einer Art »Biomarker« zum Erkenntnismittel werden. Die Tonaufnahme ist nicht nur eine Referenz für die sichere Artbestimmung (Froschforschung), sie wird zum Akteur in Verhaltensexperimenten (Nachtigallforschung), erweitert als Medium die Wahrnehmung der Forschenden (Fledermausforschung) oder ermöglicht schließlich ein Verfahren zur Lokalisation von Rufstandorten (Bioakustisches Monitoring). Die akustischen Daten können als immutable mobiles im Sinne Latours verstanden werden, denn im Aufnahmeprozess werden sie zu Inskriptionen, die die Forschenden aus dem Feld heraus transportieren können, ohne dass sie ihre Form verlieren. Denn auch wenn sie im Transformationsprozess gleichzeitig eine visuelle Gestalt annehmen können, repräsentieren sie nach wie vor akustische Ereignisse bzw. allgemeiner gesprochen Schwingungsphänomene. Die Referenzketten werden nicht unterbrochen: die Abbildungen, Tabellen und Grafiken, die während der Auswertung entstehen, verweisen immer auf das akustische Ausgangsmaterial. Die Bioakustik ist ein Forschungsfeld, bei dem sich zeigt, dass sich Inskriptionen nicht immer nur auf Gegenstände oder visuelle Darstellungen beziehen, sondern auch zeitliche Phänomene (Ereignisse oder Prozesse) wie Schallausbreitungen festhalten können. Der Stellenwert des Tonaufnahmegeräts lässt sich für meine vier Fallbeispiele gut an der Position der Apparate im Forschungsprozess ablesen. Die Produktbezeichnungen der Geräte sprechen hierbei fast schon für sich: Der Froschforscher trägt seinen Sony DAT Walkman TCD-D

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100 im Regenwald von West-Papua mit sich herum, der Rekorder ist also an die Mobilität des Forschers angepasst. Die Nachtigall-Forscherinnen legen den Marantz PMD 660 Handheld Digital Recorder neben den Versuchsaufbau auf eine Tasche, das ursprünglich in der Hand zu haltende Gerät wird so mit einigen wenigen Handgriffen umfunktioniert und provisorisch für die Forschungszwecke angepasst. Die Fledermausforscherin setzt sich mit ihrem Avisoft-UltraSoundGate zu ihrem Aufnahmegerät und passt sich dadurch der Technik an, während beim bioakustischen Monitoring die sechs Edirol Fieldrecorder über Nacht fest im Forschungsgebiet installiert werden. Zusätzlich prägen die Forschenden Hörtechniken aus, die den (im normalen Alltag) gewohnten visuellen Überblick ersetzen. Denn das Forschungsgelände ist meist schwer einsehbar und die Tiere sind eher zu hören als zu sehen. Die akustische Orientierung im Feld ist daher ein wichtiger Faktor im Forschungsprozess. In vielen Fällen ist nur ein geschultes Ohr dazu in der Lage, das Forschungsobjekt aus der im Feld herrschenden Geräuschkulisse herauszuhören, Entscheidungen für geeignete Aufzeichnungsmomente zu treffen und die Situation vor Ort zu beurteilen, die es später mit den erhobenen Daten abzugleichen gilt. Ludwik Fleck hat die These aufgestellt, »dass nicht nur wissenschaftliches Erkennen in hohem Maße durch die Materialitäten der Erkenntnisgegenstände und Erkenntnismittel gelenkt würde, sondern dass das Erkennen den Erkennenden verändere«50. Es sind die Tonaufnahmen, aus denen am Ende Tatsachen generiert werden, dennoch geben sie nie das wieder, was die Forschenden im Feld beobachten und hören konnten. Doch diese immer wieder neu und anders erlebte Diskrepanz (mal ein zu viel, mal ein zu wenig Hören im Verhältnis zur Technik) schärft die Aufmerksamkeit für die unsichtbaren und manchmal eben auch unhörbaren Klangereignisse in der Natur. Und sie hält die Forderung nach »geeigneten Apparaten« aufrecht, so dass die Bilanz in Hinblick auf den Einsatz von Audiotechnik im Forschungsprozess heute – wie damals zu Zeiten von Prof. Regen – immer wieder aufs neue lauten wird: »Obgleich auch diese [Technik, J.W.] noch keineswegs die erreichbare Vollkommenheit be[sitzt], sind doch die ersten Versuche gelungen.«51

L ITER ATUR Amelang, Katrin: »Laborkulturen« in: Beck, Stefan/Niewöhner, Jörg/Sörensen, Estrid (Hrsg.): Science and Technology Studies. Eine sozialanthropologische Einführung, Münster 2012, S. 145-168.

50 | Beck: »Anmerkungen zu einigen Problemen der Begriffe Wissen, Ordnung, und Gesellschaft – und deren Kombina(-rhe-)torik«, S. 22. 51 | Regen: Über die Anlockung des Weibchens von Gryllus campestris L. durch telephonisch übertragene Stridulationslaute des Männchens, S. 193.

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Beck, Stefan: »Anmerkungen zu einigen Problemen der Begriffe Wissen, Ordnung, und Gesellschaft – und deren Kombina(-rhe-)torik« in: AutorInnenkollektiv, Wissen und soziale Ordnung: Eine Kritik der Wissensgesellschaft. Mit einem Kommentar von Stefan Beck, in: Working Papers des Sonderforschungsbereiches 640 1/2010, URL: http://edoc. hu-berlin.de/series/sfb-640-papers/2010-1/PDF/1.pdf, 11.11.2011. Beck, Stefan: »media.practices@culture« in: ders. (Hrsg.): Technogene Nähe. Ethnographische Studien zur Mediennutzung im Alltag. (= Berliner Blätter, Studien 3), Münster u. a. 2000, S. 9-17. Bruyninckx, Joeri: »Sound Sterile: Making Scientific Field Recordings in Ornithology« in: Pinch, Trevor/Bijsterveld, Karin (Hrsg.): The Oxford Handbook of Sound Studies, Oxford u. a. 2011, S. 127-150. Döring, Jörg/Thielmann, Tristan (Hrsg.): Mediengeographie. Theorie – Analyse – Diskussion, Bielefeld 2009. Foerster, Heinz von: »Wahrnehmen wahrnehmen« in: Barck, K./Gente, P./Paris, H. (Hrsg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig 1990, S. 434-443. Frommolt, Karl-Heinz/Hüppop, Ommo (2011): »Forschung für die Avifaunistik: Bioakustische Methoden« in: Der Falke. Journal für Vogelbeobachter. Jg. 58, Nr. 11, 2011, S. 404-410. Günther, Rainer: »Description of a New Microhylid Frog Species of the Genus Xenorhina (Amphibia: Anura: Microhylidae) from the Fakfak Mountains, Far Western New Guniea«, in: Vertebrate Zoology, Jg. 60, Nr. 3, 2010, S. 217-224. Kittler, Friedrich: Musik und Mathematik. Band I: Hellas, Teil 2: Eros, München 2009. Kursell, Julia: Sounds of Science – Schall im Labor (1800 – 1930), Berlin 2008. Latour, Bruno: »Die Logistik der immutable mobiles« in: Döring, Jörg/ Thielmann, Tristan (Hrsg.) Mediengeographie. Theorie – Analyse – Diskussion, Bielefeld 2009, S. 111-143. Latour, Bruno: »Gebt mir ein Laboratorium und ich werde die Welt aus den Angeln heben« in: Belliger, Andréa/Krieger, David J. (Hrsg.): ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie, Bielefeld 2006, S. 103-134. Latour, Bruno: »Drawing Things Together: Die Macht der unveränderlichen mobilen Elemente« in: Belliger, Andréa/Krieger, David J. (Hrsg.): ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie, Bielefeld 2006, S. 259-308. Latour, Bruno: Die Hoffnung der Pandora: Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft, Frankfurt a. M. 2000. Lerch, Reinhard/Sessler, Gerhard M./Wolf, Dietrich: Technische Akustik, Grundlagen und Anwendungen. Berlin/Heidelberg 2009. Pickering, Andrew: Kybernetik und Neue Ontologien, Berlin 2007. Pinch, Trevor / Bijsterveld, Karin (Hrsg.): The Oxford Handbook of Sound Studies, Oxford u. a. 2011.

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Porath, Erik: »Begriffsgeschichte des Mediums oder Mediengeschichte von Begriffen? Methodologische Überlegungen« in: Müller, Ernst/ Schmieder, Falko (Hrsg.): Begriffsgeschichte der Naturwissenschaften: Zur historischen und kulturellen Dimension naturwissenschaftlicher Konzepte, Berlin/New York 2008, S. 253- 272. Regen, Johann: Über die Anlockung des Weibchens von Gryllus campestris L. durch telephonisch übertragene Stridulationslaute des Männchens. Ein Beitrag zur Frage der Orientierung bei den Insekten, Wien 1913, S. 193-200. Rheinberger, Hans-Jörg: Epistemologie des Konkreten: Studien zur Geschichte der modernen Biologie, Frankfurt a. M. 2006. Rheinberger, Hans-Jörg: Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas, (2.Aufl.) Göttingen 2002. Rheinberger, Hans-Jörg: Experiment, Differenz, Schrift: zur Geschichte epistemischer Dinge, Marburg 1992. Schoon, Andi/Volmar, Axel (Hrsg.): Das geschulte Ohr: Eine Kulturgeschichte der Sonifikation, Bielefeld 2012. Schüttpelz, Erhard: »Elemente einer Akteur-Medien-Theorie« in: Thielmann, Tristan/Schüttpelz, Erhard/Gendolla, Peter (Hrsg.): AkteurMedien-Theorie, Bielefeld 2012 (im Erscheinen), S. 9-67. Spehr, Georg (Hrsg.): Funktionale Klänge: Hörbare Daten, klingende Geräte und gestaltete Hörerfahrungen, Bielefeld 2009. Sterne, Jonathan: Mp3: The Meaning of a Format, Durham, NC 2012. Sterne, Jonathan: The Audible Past: Cultural Origins of Sound Reproduction, Durham, NC 2003. Tembrock, Günter: Tierstimmenforschung. Eine Einführung in die Bioakustik. (3. Aufl.), Wittenberg 1982. Tembrock, Günter: Tierstimmen. Eine Einführung in die Bioakustik, Wittenberg 1959. Vogl, Joseph: »Medien-Werden: Galileis Fernrohr« in: Engell, Lorenz/ Vogl, Joseph/Siegert, Bernhard (Hrsg.): Mediale Historiographien, Archiv für Mediengeschichte, Bd. 1, Weimar 2001, S. 115-124. Volmar, Axel: »Stethoskop und Telefon – akustemische Technologien des 19. Jahrhunderts«, in: Schoon, Andi/Volmar, Axel (Hrsg.): Das geschulte Ohr: Eine Kulturgeschichte der Sonifikation, Bielefeld 2012, S. 71-93.

A BBILDUNGEN Abb. 1: Dr. Rainer Günther mit seinem Equipment auf Yapen Island (indonesischer Teil von Neuguinea), April 2002. Mit freundlicher Genehmigung von Rainer Günther. Abb.  2: Wave-Form (oben) und Spektrogramm (unten) von drei Silben eines Paarungsrufes von Xenorhina arndti sp.nov. Quelle: Günther:

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»Description of a new microhylid frog species of the genus Xenorhina (Amphibia: Anura: Microhylidae) from the Fakfak Mountains, far western New Guniea«, S. 222. Mit freundlicher Genehmigung von Rainer Günther. Abb. 3: Die Technik für das Playback-Experiment, bestehend aus Nachtigall-Lautsprecher, Verstärkerbox mit Wiedergabegerät, Mikrofon und Aufnahmegerät. Foto: Herdis Kley. Abb. 4: Eine Studentin hält das Ultraschall-Mikrofon in der Hand, im Vordergrund rechts liegt der Ultraschall-Lautsprecher. Foto: André Grabinski. Abb.  5: Dr. Frommolt beim Aufbau einer Aufnahmestation mit Vierkanaltonrekorder und Mikrofonkreuz. Mit freundlicher Genehmigung von Karl-Heinz Frommolt.

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Studio 54 in Münster, Exzesse in Westfalen? Über die Polyvalenz des Raumes im Medium ›Diskothek‹ * Thomas Wilke Wir sind stolz, die Original-Lizenz des New Yorker Discoklassikers nach Münster holen zu können. Das Studio 54 hat Discogeschichte geschrieben, indem es das ›Disco Feeling‹ erfand. Dieses heutzutage leider oftmals verlorene ›DiscoFeeling‹ wollen wir unserem Publikum nun genau so wieder zurückgeben. [...] Mit einer gepflegten Publikums- und Altersstruktur und vor allem mit einer einzigartigen Musikmischung aus typischen Studio 54. [...] Dancetracks und den Discoklassikern, zu denen schon Stars wie Mick Jagger, Andy Warhol, Grace Jones, Liza Minelli oder Liz Taylor im Studio 54 getanzt haben.1 AUS EINEM O NLINE-W ERBETEX T FÜR EINE M ÜNS TERANER D ISKOTHEK , 2009

In eine Diskothek oder in einen Club zu gehen, ist mittlerweile seit mehr als 30 Jahren alltäglicher Bestandteil jugendlicher Sozialisation. Weggehen, um Musik zu hören, zu tanzen, Freunde zu treffen oder zu finden, den Alltag zu vergessen, sich musikalisch oder anderweitig zu berauschen sind gängige Motive. Neue Formen wie Afterwork Parties verschieben Unterhaltungsangebote in die Arbeitswelt hinein, wenn diese Teil derselben * | Ich danke an dieser Stelle den Herausgebern für die produktive und kritische Diskussion des Textes. 1 | o. V.: »Studio 54 in Münster«.

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werden und man beim Feierabendbier die nächsten Projekte bespricht. Obiges Zitat versucht aktuell mit dem expliziten Verweis auf eine »Discogeschichte« an das Ende der 1970er Jahre anzuknüpfen. Dabei suggeriert diese Werbung, dass es ganz einfach sei, das »Disco Feeling« aus New York mittels einer »Original-Lizenz« nach Münster zu transferieren und mit dem Spielen von »Discoklassikern« an eben jenes Studio 54 und damit an eine konkrete Zeit anzuknüpfen. Doch was wird nun mit dieser Werbung versprochen? Kann nun jeder Anteil an dem Originaltransfer haben, was hieße, dass es gar keine restriktive Türpolitik geben kann? Sind nun alle Besucher zur Imitation des Originals aufgerufen, was ja durchaus harte Arbeit für Mainstreambesucher einer Subkultur bedeuten kann. Inwieweit hat das Publikum beim Tanzen tatsächlich Anteil am Ausflippen der US-Stars bei jener »einzigartigen Musikmischung« jener Zeit? Sind schließlich auch Exzesse deutscher Stars im Münsteraner Studio 54 zu erwarten? Der folgende Beitrag entwickelt aus der Sicht einer medienwissenschaftlichen Populärkulturforschung eine Perspektive, die den prototypischen Gegenstand Diskothek als polydimensionalen Raum und als spezifischen Ausdruck einer auditiven Medienkultur betrachtet. Dies geschieht vor dem Hintergrund, dass Diskotheken und damit verbunden auch Clubs2 neben ihren vielfältigen sozialen und kommunikativen Funktionen in der Hauptsache über die dort zu hörende Musik charakterisiert werden. Diese Musik bekommt, indem sie gespielt und gehört wird, in der Diskothek eine Plattform und entfaltet so Wirkungspotentiale, die wiederum über die Diskothek hinausweisen. Im Folgenden steht jedoch der Raum ›Diskothek‹ in seiner Heterogenität im Zentrum der Betrachtung. Dabei werden Aspekte der Musikrezeption, der ästhetischen Wahrnehmung und der machtvollen Verhältnisse gestreift, aufgegriffen und einbezogen. Der Schwerpunkt der Darstellung liegt dabei in der Heterogenität der inkludierten Räume einer Diskothek: nicht nur der sich konstituierende Klangraum als manifester Ausdruck des Verhältnisses von Medien, Raum und Körper gilt es zu umreißen. Ebenso wird die Adressierung der Disko als Raum von Selbstverwirklichung, Kommunikation, Selbstinszenierung, Entgrenzung, Flucht sowie technischer Determinierung flankierend thematisiert. Ziel soll es dabei sein, den Raum ›Diskothek‹ eben als Bestandteil auditiver Medienkulturen zu fassen, da es sich hierbei um kollektive und zu2 | Ohne die historisch gewachsene Differenz zu negieren, findet eine Diskussion zwischen Diskothek und Club in diesem Beitrag nicht statt. Stattdessen wird davon ausgegangen, dass es bei beiden Formen einander ähnelnde strukturelle Merkmale gibt. Christoph Jacke geht beispielsweise soweit, Diskotheken und Clubs als ›Musikclubs‹ zu bezeichnen. Vgl. Jacke: Einführung in Populäre Musik und Medien, S. 209. Verwiesen sei ebenso auf Sarah Thorntons Studie Club Culture von 1996, insbesondere das Kapitel Authenticities from Record Hops to Raves (and the History of Disc Culture).

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gleich kollektivierende medienkulturelle Ereignisse handelt. Theoretisch und methodisch wird einerseits die Diskothek im Anschluss an Michel Foucault prototypisch als Dispositiv konzipiert und andererseits auf Argumente des Spatial Turns zurückgegriffen. Der Dispositivbegriff bietet sich hier idealerweise als ein ordnendes und strukturierendes Modell an, da das Aufzeigen der vielschichtigen Vernetzungen und Verflechtungen – institutionell, ökonomisch, technisch, programmlich etc. – eine deutlichere Abgrenzung ermöglicht als bei einer Diskursanalyse.

1. D IE D ISKOTHEK ALS D ISPOSITIV UND R AUM Zu Beginn verdeutlicht ein aktuelles Werbeplakat beispielhaft charakteristische Merkmale von ›Disko‹, wie sie ganz allgemein auch ohne Bezug zum Studio 54 verstanden wird, nämlich als ein sozialtopographischer Ort kollektiver Musikrezeption. Diese Plakatwerbung von 2010 steht für eine diskospezifische Tanzveranstaltung in Halle/Saale, wie sie inzwischen variantenreich von Ü 25 bis Ü 40 im gesamten Bundesgebiet zu finden sind.

Abb. 1: Werbeplakat 2010 für Diskoveranstaltung Ü 30. Auf diesem Plakat gibt es eine hohe Verdichtung signifikanter Verweise: Das »Feiern wie früher«, die »größten Disko-Hits aller Zeiten«, »Partyspaß« etc. Ich nenne es das ›Ü-30-Phänomen‹: Es gibt hier also eine Ge-

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neration, die sich in ihrer Altersstruktur »nach unten« abgrenzen möchte, um ihre eigene Disko-Sozialisation zu reproduzieren. Erstaunlicherweise findet sich diese Praxis überwiegend für dieses Alter3, und die damit einhergehenden Irritationen über die stattgefundenen Generationswechsel in den Diskotheken und Clubs, also die Irritationen hinsichtlich veränderter Codes und veränderter Kommunikationen, eines veränderten Verhaltenscodes, sowie Irritationen wegen veränderter Musikangebote. Weitere Aspekte, die sich aus diesem Label Ü 30 ergeben, wären die spezifischen Formen der Musikrezeption und der Musik(re)präsentation. Der letzte Punkt schließt aktuelle Musik nicht aus, es ist jedoch im Vergleich zumeist nur ein kurzer Ausflug bei solchen Veranstaltungen. Bei diesen Feiern wird sich eher an einem schon verfestigten Geschmack durch die bereits erfolgte musikalische Sozialisation orientiert. Das gibt sowohl den Besuchern als auch den Veranstaltern Sicherheit, denn es geht zugleich um ein spezifisches Angebot, das die Musikrezeption und einen Kommunikationsraum als kollektive Erlebniswelt präsentiert, wie sie in »der Jugend«, also der Zeit deutlich vor Ü 30, erlebt wurde und nun fortgeführt wird. Es offenbaren sich hier demnach Strategien und Manifestationen von Vergegenwärtigung und Fortführung subjektiver Erlebnisinhalte, für die es kein so richtiges Archiv gibt, eben weil sie kontingent und transitorisch sind, in der Vergangenheit liegen und dadurch konstitutiv für erfolgte partielle Identitätskonstruktionen sind. Damit sind schon ganz elementare Faktoren benannt, die die Diskothek unabhängig ihrer Rezeptionsstadien ganz allgemein charakterisieren: kumulative Musikangebote, synästhetische und kollektive Musikrezeption, ästhetisierende Musikpräsentationen sowie Geschmacksbildungsprozesse, ferner Sozialisierungsraum, autonomisierender Selbstverwirklichungsraum und Kommunikationsraum. Doch was hat das jetzt mit dem Dispositiv zu tun? Versteht man Dispositive als Verknüpfungen heterogener Faktoren, die in einem funktionalen Zusammenhang miteinander interagieren, so vereinigen diese in der Folge wandelnde Wahrnehmungsstrukturen mit technisch-apparativen, institutionellen, sozial-politischen und inhaltlich-ästhetischen Aspekten. Diese vier sehr unterschiedlichen Aspekte treten in ihren je eigenen Kontexten in Wechselverhältnisse, die wiederum verschiedenen Bedingungen unterliegen und unterschiedlich stark ausgeprägt sind. Die prototypische Diskothek ist unter diesen Bedingungen das Resultat eines heterogenen Bedingungsgefüges, das wiederum kulturelle Praxen als Effekte hervorbringt. Musikindustrie, Unterhaltungselektronik, Mode, Architektur, Jugend- und Subkulturen, anthropologische Bedürfnisse wie Tanz und Geselligkeit bilden hier für das Dispositiv Diskothek eine komplexe Gemengelage. So sind Dispositi3 | Interessanterweise finden sich für die Generation der zwischen 1955 und 1960 Geborenen, die mit zu den ersten Diskogenerationen gehörten, nur wenige Hinweise auf ein derartiges Phänomen. Hier scheint eine Zäsur stattgefunden zu haben, die die Bewertung von Diskothek dieser Generation anbelangt.

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ve in ihrem »allgemeinsten Sinne« nach Michel Foucault zunächst nur als »eine Anordnungsstruktur [...] zwischen […] Apparat und dem wahrnehmenden Subjekt«4 definiert, die als diskursive Formationen gesellschaftlich grundgelegt werden. Das bedeutet, dass hier heterogene Faktoren im Zusammenspiel miteinander interagieren und so aufeinander reagieren. Diese sind nicht allein auf technische Prozesse bzw. die Technik zu reduzieren. Für die Diskothek hieße das verkürzt, dass die Zunahme von Freizeit und Mobilität, die Diversifikation des musikindustriellen Angebots sowie ein unterstelltes anthropologisches Bedürfnis nach sozialen Kontakten, Tanz, Geselligkeit und Unterhaltung einen multifaktoriell begründeten Raum konstituiert. Dies lässt sich auch für öffentliche Räume konstatieren, jedoch ergeben sich hier aus der Anordnungsstruktur heraus spezifische Verhaltens- und Wahrnehmungsmuster aller Beteiligten. Das bedeutet, dass für diesen Zusammenhang von Diskothek und auditiver Medienkultur unmöglich von nur einem einzigen »Raum« gesprochen werden kann, sondern sich hier eine näher zu betrachtende Vielschichtigkeit andeutet.5 Diese Vielschichtigkeit strukturiert neben dem Dispositivansatz zwei weitere theoretische Ansätze, dessen erster ebenfalls auf Foucault referiert und dessen zweiter eine Modellierung des Spatial Turns6 einbezieht. Das Dispositiv Diskothek lässt sich im Weiteren argumentativ mit dem Foucaultschen Begriff der »Heterotopie« verbinden.7 Foucault nennt sechs Grundsätze, die für Heterotopien zutreffen. Ohne jetzt die Diskothek danach durchdeklinieren zu wollen, wird die Applikation auf den Gegenstand schnell deutlich, wenn Foucault ausführt, dass Heterotopien [...] die Fähigkeit [besitzen], mehrere reale Räume, mehrere Orte, die eigentlich nicht miteinander verträglich sind, an einem einzigen Ort nebeneinander zu stellen. [...] Heterotopien stehen meist in Verbindung mit zeitlichen Brüchen, das heißt, sie haben Bezug zu Heterochronien [...] Heterotopien setzen stets ein System der Öffnung und Schließung voraus, das sie isoliert und zugleich den Zugang zu ihnen ermöglicht. [...] Man darf sie nur mit Erlaubnis betreten und nachdem man eine Reihe von Gesten ausgeführt hat. [Heterotopien üben] gegenüber dem übrigen Raum eine Funktion [aus], die sich zwischen zwei extremen Polen bewegt. Entweder sollen sie einen illusionären Raum erschaffen, der den ganzen 4 | Foucault: Dispositive der Macht, S. 119. Weiterführend: Wilke/Hartling: »Das Dispositiv als Modell der Medienkulturanalyse«. 5 | Eine funktionale Raumdifferenzierung für Clubs vermeidet beispielsweise Christoph Jacke, indem er sie als »Orte und Handlungen zwischen diversen Polen« charakterisiert, die über eine zeitliche Dimension (Tag/Nacht), eine sachliche Dimension (Privat/Öffentlich) und eine soziale (Allein/Feundeskreis) verfügen. Jacke: Einführung in Populäre Musik und Medien, S. 209. 6 | Zum Spatial Turn vgl. verallgemeinernd und überblicksartig: Döring/Thielmann: Spatial Turn. 7 | Vgl. Foucault: »Von anderen Räumen«.

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T HOMAS W ILKE realen Raum und alle reale[n] Orte [...] als noch größere Illusion entlarvt, [o]der sie schaffen einen anderen Raum, einen anderen realen Raum, der im Gegensatz zur wirren Unordnung unseres Raumes eine vollkommene Ordnung aufweist. Das wäre dann keine illusorische, sondern eine kompensatorische Heterotopie. 8

Es mag auf den ersten Blick etwas irritierend erscheinen, wenn hier »mehrere reale Räume, mehrere Orte« für die Diskothek reklamiert werden. Eine differenzierende Sicht auf die Funktionalität von Örtlichkeiten bringt unter Umständen mehr Klarheit, wenn beispielsweise Räume, die nicht dafür vorgesehen sind, wie Kirchen, Fabrikhallen, Zirkuszelte, Garagen etc. für diese Zwecke genutzt zu werden.9 Dann, so ließe sich im Sinne Foucaults schlussfolgern, kommt es zu Überlagerungen, die diesen Aspekt der »Vielräumigkeit« aufgreifen. Die weiteren Bestimmungen von Heterotopien lassen sich ebenfalls mehr oder weniger für den Problembereich der Diskothek als medialem Raum finden: das Passieren der Eingangspforte, das richtige Outfit, die integrierte Bar, das Café, die Tanzfläche, die Funktionalität des geschlossenen Raumes als eigenständige Ordnung, die kollektive Musikrezeption, die Rauscherfahrung durch Tanz, Alkohol, Drogen etc. Ebenso verbindet der musikalische Mix die technisch verfügbare Musik aus verschiedenen Zeiten und kittet so zeitliche Brüche. Diese Charakterisierung wird im Folgenden stets als Subtext präsent sein. Der zweite theoretisch-methodische orientierte Ansatz bezieht sich auf die interdisziplinäre Münchener Arbeitsgruppe Raum – Körper – Medium um Jörg Dünne. Diese erarbeitete 2004 für die Operationalisierung raumtheoretischer Ansätze der Kultur- und Medienwissenschaften ein ordnendes Drei-Ebenen-Modell, das die von Charles W. Morris unterschiedenen drei Dimensionen des Zeichengebrauchs (Pragmatik, Semantik, Syntaktik) in den entsprechenden Problemaufriss integrierte.10 Die Gruppe unterschied folgende Raumbegriffe, die sich in einem hierarchischen Verhältnis zueinander befinden: Technische Räume, Semiotische Räume und Kulturpragmatische Räume. Unter einem technischen Raum wird demnach ein »räumlich strukturiertes Dispositiv« verstanden,

8 | Ebd., hier S. 938-941. 9 | Im Anschluss an Doris Rothauer und Ray Oldenburg begreift Christoph Jacke Clubs und Diskotheken als »Dritte Orte« und kommt damit den hier vorgestellten Überlegungen recht nahe. Vgl. Jacke: Einführung in Populäre Musik und Medien, S. 203-215. 10 | Vgl. hierzu Dünne: »Forschungsüberblick ›Raumtheorie‹«. Ein weiterführender unter Umständen ursächlicher Begriffszusammenhang verweist auf das Zeichenverständnis Ernst Cassirers, das sich wiederum der dreistelligen Semiotik Charles Sanders Peirce zuordnen lässt. Demnach werden Zeichen erstens in Relation zu anderen stehend verstanden (Syntaktik), sie sind zweitens bedeutungstragend (Semantik) und drittens verständlich für einen Interpreten (Pragmatik).

S TUDIO 54 IN M ÜNSTER . E XZESSE IN W ESTFALEN ? [...] das die technisch-materiellen Voraussetzungen eines bestimmten historisch gegebenen Mediums umfasst. [...] Diese technischen Dispositive regeln die Möglichkeiten zur Erzeugung semiotischer Räume [...]; sie sind ihrerseits in einen bestimmten kulturpragmatischen Kontext eingebettet.11

Semiotische Räume nun werden in technischen Dispositiven »zum Gegenstand der medialen Praxis« und konstituieren »somit eine zeichenhafte Bedeutung von Räumen«, die wiederum von den jeweiligen medialen Bedingungen abhängig ist. Dünne spricht hierbei explizit von »immanenten Bedeutungsdimensionen«, das heißt semiotische Räume »können sich in ein indexikalisches Verhältnis zu lebensweltlichen Räumen setzen, die sie abbilden, beschreiben, kartieren etc.« In der Zuordnung von Räumen als semiotische Räume werden demnach Bedeutungen unterstellt, die mehr enthalten, als ein reines Abbilden, Beschreiben oder Kartieren. Das verkompliziert ein wenig den Sachverhalt, da es neben diesen »immanenten Bedeutungsdimensionen« zudem um das Verhältnis geht, in dem diese semiotischen Räume zur Lebenswelt stehen. Gleichwohl ordnen sich nach Dünne technische und semiotische Räume in ein ebenso räumlich strukturiertes kulturelles Umfeld ein, und zwar die kulturpragmatischen Räume, »wobei diese Struktur sich mit den Raum erschließenden menschlichen und technischen Praktiken historisch verändert«. Es geht also auf dieser Ebene um eine jeweilige Momentaufnahme der Bedingungsverhältnisse von Räumen, Medien und Körpern und den sich daraus ergebenden kulturellen Praktiken. Mit einer derart strukturierenden und systematisierenden Modellierung lässt sich auch der mediale Raum Diskothek als ein Bestandteil auditiver Medienkulturen begreifen, indem er ein bestimmtes Set an kulturellen Praktiken anbietet, produziert und dadurch auch Kollektive zu bilden vermag. Das geht dann in einem solchen systematisierenden Zusammenhang über einen rein phänomenologisch begründeten Erklärungszusammenhang hinaus.12

11 | Hier wie die folgenden Zitate: Dünne: »Forschungsüberblick ›Raumtheorie‹«, S. 2 f. 12 | Zur Definition der Diskothek als Medium vgl. Wilke: Schallplattenunterhalter und Diskothek in der DDR, S. 315 f. Für diesen Kontext: Die Diskothek benutzt Kommunikationsinstrumente, setzt Medientechniken voraus, ist als institutionalisierte Einrichtung begreifbar, in der Funktionen und Handlungsrollen entstehen und produziert im systemisch verstandenen Zusammenspiel ein Medienangebot. Die Diskothek entspricht in ihrer Struktur den Kriterien eines Mediums, vgl. Schmidt: »Der Medienkompaktbegriff«, S. 144 f. Das Medium Diskothek ist mindestens im Sinne Knut Hickethiers ein »Veranstaltungsmedium[,] zu dem sich der Zuschauer begeben muss, um das Angebot wahrzunehmen. Das Angebot ist selbst vom Ambiente des Ortes eingefasst.« Hickethier: »Apparat – Dispositiv – Programm«, S. 427.

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2. D ISKOTHEKEN ALS TECHNISCHE R ÄUME Die technischen Räume liefern die Voraussetzungen für alle weiter stattfindenden Prozesse. So ist ganz klar das adressierbare Gebäude eine Grundvoraussetzung für die Inanspruchnahme durch Diskotheken. Dabei lassen sich verschiedene Entwicklungen beobachten, die ästhetische und stilistische Aspekte vereinen. Neben den extra dafür konzipierten Gebäuden finden sich auch alte Fabrikhallen, umgebaute Kulturhäuser, Garagen und Kirchen unter den Orten, die als Diskothek, Club oder für einzelne Events genutzt wurden.13 Das Phänomen Diskothek, so wie bereits an den beiden Beispielen Studio 54 und Ü 30 grob umrissen wurde, ist seit ihrem nur schwer exakt zu datierenden Beginn auf technische Voraussetzungen angewiesen, die geradezu determinierend zu verstehen sind.14 Das gleiche trifft auch auf einen Großteil der gespielten Musik zu. Wenn von Musik in der Disko die Rede ist, dann ist hauptsächlich technisch reproduzierte Musik gemeint.15 Damit verbunden sind die komplexen Technikperipherien wie Sound- und Lichtanlagen. Substanziell sind Wiedergabegeräte für Speichermedien, hierzu zählen mittlerweile im Zuge der umfangreichen Digitalisierung auch Laptops, die Speichermedien selbst16, Verstärker, Boxen und Kabel. Weitere technische Geräte, die zu den Arbeitsmitteln des DJs gehören, sind Mischpult, Kopfhörer und Mikrofon. Hinzu kommen Licht-, Effekt- und Steuergeräte. Bei näherer Betrachtung fällt auf, dass 13 | Vgl. hierzu Poschardt: DJ Culture. 14 | Hierzu gibt es nur schwer verifizierbare und voneinander abweichende Angaben, in den westeuropäischen Gesellschaften entwickelten sich die ersten Diskotheken nach Brewster Mitte der 1940er Jahre in Großbritannien, nach Mühlenhöver, Shapiro und Poschardt im besetzten Frankreich des Zweiten Weltkriegs und nach Quirini 1959 Aachen. Brewster/Broughton: Last Night a DJ Saved my Life, S. 50; Mühlenhöver: Phänomen Disco, S.35; Shapiro: Turn the Beat Around, S. 291; Poschardt: DJ Culture, S. 103; Quirini: Die Geschichte der Diskotheken, S. 7. 15 | Öffentliche Tanzveranstaltungen sind bereits für die Frühzeit der Weimarer Republik nachgewiesen – Große gibt hierzu bspw. das Jahr 1919 an – sie zeichneten sich allerdings in der musikalischen Rahmung und Gestaltung durch LiveBands aus. Insbesondere Ende der 1950er Jahre, Anfang der 1960er Jahre wurde in den Pausen der Bands Record-Music gespielt, die einen breiteren Geschmack bediente. Erhöhte Nachfragen durch gestiegene Freizeit wiesen den Weg in ein Angebot, das umfangreich auf musikalische Aktualität und Vielfalt reagierte. Vgl. für die Frühzeit Wolfram: Tanzdielen und Vergnügungspaläste. 16 | Auf diese sei explizit hingewiesen, da sich hier ein grundlegender Wandlungsprozess abzeichnet. Die DJ-Technikfirma Vestax richtet seit 2009 DJ-Wettbewerbe aus, bei denen auf Tonträger verzichtet wird und so genannte Controller und Rechner via digitalem Interface und Touchpad-Komponenten zur Wiedergabe verwendet werden. Vgl. hierzu Wilke: »Vom Platten- zum Datenreiter«.

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die Zusammenstellung der einzelnen technischen Apparaturen bereits ein Zusammenspiel heterogener Faktoren ist, das als ein hierarchisch niedrigeres Dispositiv aufgefasst werden kann.17 Damit wird deutlich, dass sich technische Dispositive durchaus in ›höherwertige‹ integrieren, indem sie in ihrem Zusammenspiel Voraussetzungen für Folgeprozesse schaffen. Das hier skizzierte technische Dispositiv der Diskothek ist so betrachtet nur ein Teil des Dispositivs Diskothek. In der Folge ergibt sich aus der notwendig vorhandenen und angeordneten Technik ein ästhetisierender Effekt: die Strukturierung des Raumes Diskothek. Begreift man nun technische Räume als technische Dispositive, so bleiben Dispositive keinesfalls nur technisch, sondern sind erst einmal technisch determiniert. Diese Grundbedingung ermöglicht ein Funktionieren der ineinandergreifenden Mechanismen, das heißt hier im komplexen Zusammenspiel heterogener Faktoren, die wiederum in machtvolle gesellschaftliche Wechselverhältnisse eingebunden sind.18 In einer Engführung bedeutet dies, dass Friedrich Kittlers Provokation eines medientechnischen Aprioris in diesem Falle produktiv weitergeführt würde, indem der Mensch über neue Technologien machbar wird.19 Musiker brauchen Pausen, Plattenspieler Strom.

3. D ISKOTHEKEN ALS SEMIOTISCHE R ÄUME Betrachtet man nun die Diskothek als ein Dispositiv, so zeigt es sich, dass nur im Zusammenspiel heterogener Faktoren, insbesondere der technischen, die Diskothek als Diskothek funktioniert. Zu bestimmten Zeiten, zumeist an Wochenenden, gibt es demnach an festen Orten Tanzveranstaltungen, die von einem stetig wechselnden Publikum besucht werden und die im Weiteren Erfahrungen, Identitätspartikel, Handlungsmuster generieren, bei denen also mehr passiert, als dass nur getanzt wird. Doch was entsteht in diesem konkreten Zusammenspiel dieser Faktoren, um als »Gegenstand zeichenhafter Darstellung gelten«20 zu können? Denn damit ist noch nicht klar, warum sich bestimmte Diskotheken oder Clubs als Legenden wie das Studio 54 im New York der Endsiebziger Jahre oder aktuell das Berghain in Berlin entwickeln. Folgt man Brewster/Broughton in ihrer historischen Darstellung des »revolutionary concept of dancing to

17 | Vgl. Hubig: »Dispositiv als Kategorie«. 18 | Vgl. Foucault: Dispositive der Macht, S. 119 f. 19 | »Sein [des Menschen, T.W.] Wesen läuft über Apparaturen. Maschinen erobern Funktionen des Zentralnervensystems und nicht mehr bloß, wie alle Maschinen zuvor, der Muskulatur. Und erst damit [...] kommt es zur sauberen Trennung von Materie und Information, von Realem und Symbolischem.« Kittler: Grammophon, Film, Typewriter, S. 29. 20 | Herv. i. O., Dünne: »Forschungsüberblick ›Raumtheorie‹«, S. 5.

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records played by a disc jockey«21, dann liegt mit der Diskothek eine Angebotsinnovation vor, die ein Bedürfnis nach Tanz aufgreift und weitere generiert. Damit ließe sie sich als En- bzw. Exklave verstehen, »in der eine Gesellschaft ihr Anderes ein- bzw. ausschließt, wobei jedoch die Grenzziehungen immer relativ bleiben«22 . Was in der Folge ein- bzw. ausgeschlossen wird, lässt sich mittels einer zeichenhaften Bedeutung erschließen. Eine Diskothek ist als eine architekturale Einrichtung im Sinne eines wie auch immer gestalteten Raumes adressierbar und erreichbar, auch außerhalb von Veranstaltungszeiten, doch nur innerhalb dieser Veranstaltungen und Zeiten entstehen mediale Praxen, die auf das ereignishafte der Diskothek verweisen. Das wären beispielsweise das entsprechende Outfit als Zugangsvoraussetzung, das Auflegen von Musik durch den DJ, das Tanzen als erkennender Vollzug der musikalischen Aufforderung zum Tanz und andere Wahrnehmungsweisen wie das körperliche Eintauchen in Musik. Letzter Punkt scheint in Verbindung mit dem Tanzen in der Diskothek auf den ersten Blick trivial, jedoch ist noch nicht hinreichend geklärt, woher die Selbstverständlichkeit in der »Aufforderung zum Tanz« zu technisch reproduzierter Musik kommt. In einer Diskothek sind die Tanzfläche mit erkennbarem Tanzbereich und die Anordnung der Boxen erforderlich, die das körperliche Eintauchen in die Musik respektive das körperliche Gefangennehmen durch die Musik gestatten. Mit einer derartigen Binnendifferenzierung des Raumes erfolgt auch eine Differenzierung des Publikums zwischen Tänzern und Nichttänzern. Die Hingabe an die Musik wird hier zudem flankiert von der bewussten Wahrnehmung des Nichttänzers durch den Tänzer. Damit entsteht ein wechselseitiges Spiel von Tanz für sich selbst, mit einem Partner und dem Tanz für den Nichttänzer. Die letzten beiden Formen können als besondere Kommunikationsformen klassifiziert werden, insbesondere dann, wenn es darum geht, zu zeigen, dass man Tanzen kann oder es sich um potentiell werbendes Tanzen handelt.23 Das geschieht während der kollektiven Rezeption von Musik, die ein DJ auflegt. Der DJ ist für den Sound in der Diskothek verantwortlich, d. h. nicht nur dafür, was an Musik gespielt wird, sondern auch dafür, wie es klingt. Der DJ entstand in seiner Funktion und Handlungsrolle als Vermittler von Musik bereits sehr viel früher als die Disko.24 Er gibt Musik wieder, 21 | Brewster/Broughton: Last Night a DJ Saved My Life, S. 50. 22 | Dünne: »Forschungsüberblick ›Raumtheorie‹«, S. 6. 23 | Eine hier nicht näher zu betrachtende Mischform besteht im Breakdance als Wettbewerb um die besten Moves und Show für das Publikum. Im Weiteren führt das Tanzen auf der Tanzfläche die für sich Tanzenden ungewollt zusammen, indem sie sich als Gruppe gegen die Nichttanzenden abgrenzen. Vgl. weiterführend Wulf: »Anthropologische Dimensionen des Tanzes«. 24 | Brewster/Broughton geben als Geburtsstunde des DJs – »played recorded music to entertain a group of people« – das Jahr 1906 und Reginald Fessenden

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reproduziert Musik, er spielt sie ab. Die technische Apparatur lässt den DJ sein, was er ist. Das Beherrschen der Technik entpuppt sich als Zugangsvoraussetzung für diese Tätigkeit. Das, was er macht, bekommt aus Sicht des Publikums zeichenhafte Bedeutung zugeschrieben, aus Sicht der Musik ließe sich das als mediale Praxis beschreiben. Er montiert durch die technischen Gegebenheiten Tracks, die in ihrer technischen Produktion und Reproduktion zwar geschlossen, jedoch in ihrer textuellen Lesbarkeit tendenziell offen sind. Das heißt, sie sind in einem produktiven Sinne manipulierbar. Sie werden in der Reproduktion nicht mehr werkorientiert rezipiert, sondern kontextualisiert. Diesen Kontext produziert der DJ während seiner Tätigkeit und die Qualität des Kontextes wird als ein Programm verstanden. Diese bemisst sich an musikalischem Wissen, Zugängen, Verfügbarkeiten, Erfahrungen – also auch dezidiert an nichttechnische Fertigkeiten, die Einfluss auf die zu spielende Musik haben. Die Musikmontage ergibt im besten Fall so etwas wie eine dramaturgische Kontinuität. Diese wird erstens durch den direkten DJ-Eingriff in die Musik in ihrer Substanz und Länge sowie in ihrer Klangstruktur grundiert; das heißt durch Mixen, Scratchen, Cutten, Blenden, Frequenzmodulation, Auslassungen und Unterbrechungen etc.25 Zweitens hebt der permanente Musikmix die Zeitwahrnehmung von Anfang und Ende eines Musikstückes partiell auf. Gerade elektronische Musik lässt sich hier anführen, da durch lange Blenden und weit ausholende Musikstrukturen ein sofortiges Erkennen des Musikstückes gar nicht erst intendiert wird.26 Drittens schließlich wird durch das Zusammenbringen ganz heterogener Musikgenres und Produktionszeiten ein heterochroner musikalischer Raum konstruiert. Das hebt die Eigenständigkeit von Einzeltiteln in ihrer Aussage im Moment des Spielens tendenziell auf. Die DJ-Tätigkeit ist komplementär-additiv und referentiell, da sie auf Erfahrungen früherer Veranstaltungen basiert.27 Die ausführlichen Bemerkungen zum DJing erfolgen nicht ohne Grund, denn die Tätigkeit des DJs ist schließlich signifikant für das musian, ebenso findet sich das Jahr 1907 und Lee DeForest, insgesamt wird jedoch die Handlungsrolle des DJs erst im Zusammenhang mit dem Rundfunk in den USA evident. Vgl. hierzu Brewster/Broughton: Last Night a DJ Saved my Life, S. 26 f. Überblicksartig zu den Anfängen Poschardt: DJ Culture, S. 42-47, ausführlich und empirisch gesättigt hierzu Hagen: Das Radio. 25 | Vgl. Brewster/Broughton: How to DJ Right. 26 | Vgl. Rapp: Lost and Sound. 27 | Es handelt sich um ein als erfolgreich zu bezeichnendes »Routinewissen, das als abgestorbene geistige Handlung in jede Arbeit einfließt, aber verbal nicht oder doch nur selten artikuliert wird und vielfach vielleicht auch nicht artikulierbar ist«. Jäger: »Dispositiv«, S. 80. Dieses routinierte Handlungswissen wird stetig fortgeführt und erweitert, ist aber zugleich potentiell riskant bzw. unsicher, da die Veranstaltungskonstellationen über ihre relativ stabilen Grundstrukturen hinaus kontingent sind.

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kalische Angebot. Nicht nur ist entscheidend, was er spielt, sondern ebenso wie er die Musik spielt. Der DJ ist keine Jukebox, die nach bezahltem Wunsch des Gastes die vorhandene und überschaubare Musik wiedergibt, sondern der DJ gestaltet, indem er aus dem individuell zusammengestellten und so nur ihm zugänglichen (Musik-)Archiv schöpft. Damit erhält die abgespielte Musik über ihre Auswahl eine zusätzliche Bedeutungsebene, da sie nicht mehr nur in ihrer reinen Daseinsform wahrgenommen wird, sondern in einen Kontext, den des jeweiligen Moments, des Abends, des Events etc. gesetzt wird. Das Abspielen von Musik durch den DJ – das Auflegen – ließe sich als eine Form der menschlich-sinnlichen Tätigkeit bezeichnen, wie sie Siegfried Jäger auch für den Begriff der ›Arbeit‹ annimmt, indem sie zwischen »Subjekt und Objekt, die sozialen Welten und die gegenständlichen Wirklichkeiten miteinander vermittel[n lässt]«28. Dieser Prozess, der das Verhältnis zwischen DJ, Musik und Publikum offenlegt, ist zeichenhaften Charakters, da er auch verstanden und interpretiert werden muss. Die Wahrnehmung von Musik verändert sich grundlegend: Das Hören wird – über den psychophysiologischen Aspekt hinaus – körperlich, das bedeutet, es geht nicht mehr nur darum, etwas im pragmatischen Sinne einer Informationsaufnahme zur weiteren Bewertung zu hören. Vielmehr geht es um die Erfahrung von Musik als Sound als einem entscheidenden Kriterium für die multisensorische Wahrnehmung von Musik.29 Der durchaus komplexe Zusammenhang von Musik, deren Wahrnehmung und die Veränderung dieser Wahrnehmung durch die und in der Diskothek fand in der Forschung allerdings bis auf medizinische Untersuchungen hinsichtlich Gehörschäden30 wenig Berücksichtigung. Da diesem Aspekt eine nicht zu unterschätzende Bedeutung beigemessen wird, der Fokus dieses Beitrags allerdings ein anderer ist, werden an dieser Stelle nur einige theoretisierende Bemerkungen gemacht, die sich aus den vorangegangenen Ausführungen ergeben. Ausgehend von Joachim Paechs Aussage: »Was wir sehen, ist bestimmt durch die Art und Weise, wie wir es sehen«31 , kann in einer Analogie die These formuliert werden, dass das, was wir hören, bestimmt wird durch die Art und Weise, wie wir es hören. In der Diskothek wird Musik in einer Form rezipiert, die einem kommunikativen Ausnahmezustand gleicht. Für eine derartige Rezeptionssituation findet sich außerhalb des Raumes Diskothek keine Entsprechung. Dabei handelt es sich zumeist um einen geschlossenen, 28 | Ebd., S. 77. 29 | Vgl. hierzu aus musikpsychologischer Sicht: Auhagen: Musikalische Sozialisation im Kindes- und Jugendalter; Hesse: Musik und Emotion; sowie Kleinen: Die psychologische Wirklichkeit der Musik. Zur psychophysiologischen Lautwahrnehmung und neuronalen Prozessen vgl. Ebeling: Verschmelzung und neuronale Autokorrelation als Grundlage einer Konsonanztheorie. 30 | Strauss/Chüden: »Die Beeinflussung des Gehörs durch Lärm in Diskotheken — eine Feldstudie«. 31 | Paech: »Das Sehen von Filmen und filmisches Sehen«, S. 69.

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abgedunkelten Raum, welcher die Rezipienten umgibt und durch effektvoll eingesetztes Kunstlicht Atmosphären schafft. Aber nicht nur der visuelle Sinn wird durch das Licht angesprochen und gelenkt: Durch den Einsatz von Nebel, Laser-Shows, bassorientierten Soundanlagen etc. wird der Körper des Rezipienten mit all seinen Sinnen angesprochen, sodass die Rede von einer synästhetischen Rezeption seine Berechtigung findet. Die Musik wird zudem nicht von jedem Einzelnen für sich rezipiert, sondern das Primärhören findet in der Gruppe statt. Paech führt weiter aus: »Das Subjekt des Sehens ist immer zugleich das Objekt des Systems, in dem es gesehen wird«32 . Das hieße nun auf die Musikrezeption übertragen, dass das Subjekt des Hörens auch zugleich das Objekt des Systems wäre, in welchem es hört. Der Musikrezipient in der Diskothek wird demnach in der spezifischen Rezeptionssituation Objekt der Institution Diskothek. Er wird demnach Teil des Ereignisses und unterwirft sich zugleich der Anordnungsstruktur. Hier manifestiert sich ein wirkmächtiges Moment mit entsprechender Bedeutungszuschreibung, das produktiv und nicht repressiv wirkt, da jeder Einzelne ganz unterschiedlich einen Nutzen, z. B. eine Erfahrung, daraus zieht. Das lässt sich nicht ausschließlich auf eine erhöhte und den Körper massierende Lautstärke reduzieren. Wie verhält sich dies nun zu der Wahrnehmungsrealität des Rezipienten? Es ist anzunehmen, dass dispositives Hören und Wahrnehmungsrealität selten übereinstimmen, denn die Diskothek organisiert kommunikative Prozesse anders. In diesem konstruierten Wahrnehmungsraum wird Musik in einer Art und Weise erfahrbar gemacht, die außerhalb der Diskothek nur schwer erreicht wird.33 Die entstehenden Dissonanzen sind »vom Subjekt in Erfahrungsräumen der Lebensrealität aus[zugleichen] bzw. die Subjekte müssen in ausschließenden Illusionsräumen den Dispositiven angeglichen werden«34 . Die Erfahrungen, die in der Diskothek gemacht werden, lassen sich nicht eins zu eins in die Erfahrungsräume der alltäglichen Lebenswelt transportieren. Das meint nicht nur das überlaute Musikhören – eine Lautstärke ab 90 dB wird von der Umwelt aufgrund fehlender Schallisolierungen durchaus als Störung wahrgenommen – sondern auch das diskospezifische Outfit. Gleichwohl stehen diese diskospezifischen Erfahrungen, einfach weil sie gemacht wurden und geteilt werden können, in einem dynamischen Verhältnis zur Lebenswelt. Die Gesellschaft als sozialer Körper begann nach einigen Schwierigkeiten, Diskotheken als Bestandteil von Jugendkultur und grosso modo als milieuunabhängiges Unterhaltungsangebot zu akzeptieren und schuf durch Prozesse der Integration, der Regulierung und der Ökonomisierung Akzeptanzräume. Hier zeigt sich ein Machtverhältnis des Dispositivs Diskothek, indem es

32 | Ebd. 33 | Dass dies geschieht, zeigen die musikalisch-technischen Aufrüstungsversuche der Autozubehör-Industrie. 34 | Paech: »Das Sehen von Filmen und filmisches Sehen«, S. 70.

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in der Konstruktion einer zweiten (Medien-)Wirklichkeit über den außermedialen Erfahrungsraum des Subjekts disponieren kann.35 In diesem kurzen Abschnitt wurde anhand von zwei ganz elementaren Bestandteilen der Diskothek – der Tätigkeit des DJs und der Wahrnehmung des Besuchers/des Publikums – aufgezeigt, wie sich durch das Ereignishafte und das Situative zeichenhafte Bedeutung einschreibt. Die gespielte Musik steht durch ihre Auswahl in einem Verhältnis zur nichtgespielten Musik.36 Das kann auch als kommunikativer Anschluss an Aktualität, Erfolg des Künstlers oder des Titels begriffen werden oder in Bezug auf den funktionalen Einsatz der Musik. Durch das Musikauflegen und die entsprechenden Reaktionen des Publikums durch die DJTätigkeit wird ein Verhältnis zur Musik und der Wahrnehmung potentiell neuer Wahrnehmungsräume gestiftet. Diese Verhältnisse können wiederum Anschlusskommunikationen produzieren oder darstellen, indem Verhaltensmuster beispielsweise aus Musikvideos imitiert und im Prozess ihrer Imitation performativ realisiert werden. Da das innerhalb der Disko geschieht, lässt sich dieses Verhältnis als semiotische Binnenordnung beschreiben, die nicht normativ ist, sondern einen Effekt des Dispositivs bildet. Damit weist die semiotische Binnenordnung des technischen Dispositivs Diskothek über sich selbst hinaus, indem es keinesfalls als Geheimnis zu denken ist, sondern hier kulturelle, soziale und ökonomische Prozesse miteinander interagieren.

4. D ISKOTHEK ALS KULTURPR AGMATISCHER R AUM Ein kulturpragmatischer räumlicher Zugang zur Diskothek, der die medientechnische Dominanz und die beschriebene semiotische Binnenordnung integriert, ergibt sich im Herausstellen der Wechselverhältnisse zwischen Gesellschaft, Raum und Medium. Diskospezifische Prozesse sind an technische Voraussetzungen gebunden, unterliegen nach »innen« einer semantischen Ordnung und können gleichwohl nur in einem übergeordneten kulturellen Kontext diskutiert werden. Das heißt, sie entwickeln nach »außen« Wirkungen, die auf ganz unterschiedlichen Ebe-

35 | Vgl. ebd. Das Entstehen solcher neuen Hörräume wurde begleitet von einem privaten und oft improvisierten unterhaltungstechnischen ›Wettrüsten der Soundsysteme‹, wie es sich bspw. auf Jamaika beobachten ließ und von dort über Emigranten nach New York kam, ehe die Industrie mit entsprechenden Musikanlagen darauf reagierte. Maßgeblich hierzu Toop: Rap Attack #3, S. 75 ff. 36 | Jacke sieht in der Musik das wichtigste Musikangebot im Club, das in dreierlei Hinsicht fungiert: als Erzählmaschine und Provokation von Anschlusskommunikationen, als Kommunikationsentlastung und als soziale Orientierung. Vgl. Jacke: Einführung in Populäre Musik und Medien, S. 209.

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nen als relevant wahrgenommen werden.37 Diese Auseinandersetzung ist diskursiv verankert, das heißt, die Entwicklung selbst vollzieht sich nicht außerhalb von Diskursen. Dadurch werden Diskotheken in ihrer diskusiven Integration und Ereignishaftigkeit Teil einer Kultur und produzieren spezifische Praxen, die wiederum Eingang in die Kultur einer Gesellschaft finden.38 In diesem heterogenen Diskurs über Diskothek finden sich sanktionierend und affirmativ, emphatisch und distanzierend etc. genau diese Verhältnisse und Interaktionen in ihrer Widersprüchlichkeit. Dazu gehören beispielsweise reglementierende Entscheidungen wie das Jugendschutzgesetz, Copyright-Bestimmungen über die Aufführung der Musik oder Bestimmungen die Gesundheit betreffend, ebenso jugendkulturelle, szenespezifische überregionale Zeitschriften wie BRAVO, Frontpage oder De:Bug, die lokale Berichterstattung über besondere Veranstaltungen, die intermediäre Werbung über Plakate, Radio, Flyer und Internet etc. Der Diskurs über Diskothek mit seinen komplexen Prozeduren der Diskursproduktion und -kontrolle bildet sich historisch unmittelbar nach der erfolgreichen Etablierung der Diskothek und wirkt in der Folge auf die Diskothek zurück. Damit entsteht ein diskursgeleitetes Bild über Diskothek und diesbezüglich ein spezifisches Orientierungswissen.39 Dieses 37 | Ein frühes Beispiel von 1980 aus pädagogischer Sicht zeigt das im Kontext der Zeit sehr deutlich: »Dem Bereich Disco kommt [...] eine besondere Bedeutung zu. Sind Regression und Tagtraum die wichtigsten Verarbeitungsformen, die den Jugendlichen heute zur Verfügung stehen, um ihre fortschreitende Verelendung sich erträglich zu machen (Überlebensfunktion), dann gewinnt gerade der Discobereich für die Arbeit der Pädagogen in Jugendhäusern eine zentrale Bedeutung; denn hier sind Regression und Tagtraum sinnlich konkret und präsent.« Franz u. a.: »Wie hinterm Preßlufthammer nur unheimlich schöner!«, S. 152. 38 | Das zeigt sich beispielsweise im Programm des internationalen Kulturaustauschs bzw. -transfers des Goethe-Instituts, das auf seiner Seite nicht nur deutsche DJs vorstellt, sondern auch die, die im Auftrag des Goethe-Instituts durch die Welt reisen und auflegen. Vgl. Nieswandt: »DJ Kultur in Deutschland«. 39 | Zur Veranschaulichung für dieses Orientierungswissen wird ein Beispiel ohne historische Herleitung aus drei verschiedenen Perspektiven herangezogen: die Ausgehzeiten. Die Jugendzeitschrift BRAVO begleitet seit 1956 als Initiationsmedium der jugendkulturellen Popsozialisation auch aktuelle Entwicklungen wie die Diskothek. Mittlerweile nicht mehr nur im Heft, sondern auf der Webseite dauerpräsent informiert das Blatt unter der Rubrik »Dr. Sommer – Party, Disco, Club« ganz konkret, wie lange Jugendliche wo ausgehen dürfen und über die Möglichkeiten der Erziehungsbeauftragten. Vgl. Bravo: »Party, Disco, Club«. Das geschieht ganz explizit mit dem Verweis auf das Jugendschutzgesetz. Dieses regelt – in der Fassung von 2002 und Novellierung von 2008 – als Bundesgesetz unter §5 den Besuch von Tanzveranstaltungen für Jugendliche unter und über 16 Jahren. Vgl. Jugendschutzgesetz. Wie sich wiederum die Eltern verhalten sollen, wenn die eigenen Kinder ausgehen wollen, dazu rät ein umfangreich aufgearbeiteter Text auf der Plattform von T-Online. Vgl. o. V.: »Ausgehen – aber wie lange?«.

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beinhaltet im weitesten Sinne ein Verhalten in der Diskothek, das Wissen um die Veranstaltungstage, den Veranstaltungsbeginn, um die ›angesagte‹ Musik und die entsprechende Kleidung. Mit diesem Wissen ausgestattet ist es Mitgliedern der Gesellschaft möglich, per sinnlichem Erleben über die Musikrezeption hinaus Bedeutung zu konstituieren, zu reproduzieren und Alltag sinnhaft zu strukturieren. Bedeutung steht hier als ein Diskursergebnis sowie als ein selbstreferenzieller Akt der Institution. Diese Bedeutungszuschreibung wird prozessual durch interdependente Verweisstrukturen zu anderen Diskursen verstärkt: Musik, Jugendkultur, Konsum etc. Die Diskothek stellt nun nicht Live-Musik in den Vordergrund ihres Angebotes, sondern eben technisch reproduzierbare Musik, die ihrerseits erst einmal verfügbar sein muss. Dabei greift der DJ in seiner Programmzusammenstellung ganz selbstverständlich auf den sich ständig erweiternden Fundus der medial zur Verfügung stehenden Musik – als einem stetig wachsenden und chaotischen popmusikalischen Archiv – zurück. Es bleibt jedoch nicht nur bei der industriell verfertigten Musik, sondern – unter Maßgabe derselben – es entstehen weitere Handlungsräume. Wenn das Dispositiv Diskothek beispielsweise zum sozialen Handlungsraum in fiktionalen Filmen wird, lassen sich durch eine wechselseitige Referenzialität weitere Überformungen in demselben ausmachen. Ein Filmbeispiel verdeutlicht, was das meint: Saturday Night Fever ist ein US-amerikanischer Tanzfilm aus dem Jahre 1977, der von dem Leben Jugendlicher in der New Yorker Diskothekenszene und der dort entstandenen Subkultur handelt.40 Ausgangspunkt für den Film sind die Beobachtungen Nik Cohns zum New Yorker Nachtleben Mitte der 70er Jahre, die dann in einem Drehbuch im Film mündeten. Mit diesem Film ›schwappte‹ die Diskothek aus dem Underground in den Mainstream. Das geschieht auch durch das exemplarisch vorgeführte schillernde Leben in der Diskothek als erstrebenswerter Fluchtraum im Gegensatz zur Last des Alltags. Eine Kommission der amerikanischen Library of Congress wählt jährlich 25 Filme aus, die hinsichtlich ihrer ästhetischen, kulturellen und historischen Qualität als signifikant für die amerikanische Kultur und damit für erhaltenswert für die Nachwelt erachtet werden. 2010 ist nun auch Saturday Night Fever in diesen Korpus mit folgender Begründung aufgenommen worden: Produced long after the heyday of classic Hollywood musicals, this cinematic cultural touchstone incorporated set-piece music and dance numbers into a story of dramatic realism. With its success, ›Saturday Night Fever‹ proved that the American movie musical could be reinvented. The film’s soundtrack, featuring hits by the Bee Gees and others, sold millions of copies and gave musical life to

40 | Regie: John Badham, Buch: Nik Cohn, Norman Wexler. Vgl. hierzu Lindwedel: »Disco, Dekadenz und Porno-Kings«.

S TUDIO 54 IN M ÜNSTER . E XZESSE IN W ESTFALEN ? a movie significant for much more than just its celebration of the mid-70s disco phenomenon.41

Nicht nur, dass hier der Film für ein scheinbar längst vergangenes Filmgenre herhalten muss, sich also eine Transformation feststellen lässt, auch die Wahrnehmung einer »story of dramatic realism« ist bezeichnend und stärkt die hier nur kursorischen Ausführungen zur Diskothek als einen kulturpragmatischen Raum im Film.42 Indem der Film ganz zentral das Ausgehen in die Disko als ein über allem stehendes handlungsleitendes Motiv im Alltag der Protagonisten zeigt, wird er über die Inszenierung von Unterhaltung zur Unterhaltung und zur Projektionsfläche von unerfüllten Rezipientenwünschen. Dieser Film löste für den Tanz ein Massenphänomen aus: John Travoltas Inszenierung und sein (Film-) Tanz lassen sich durchaus als ikonisch bezeichnen. Das zeigen nicht nur die danach massenhaft einsetzenden Tanzwettbewerbe als Imitation des fiktionalen Filmplots, sondern das zeigt auch der Versuch, in Tanzschulen den entsprechenden Tanzstil und Habitus von John Travolta zu vermitteln. Die relativ einfache Strukturierung und die umfangreiche Popmusik im Film enthielten ein hohes Identifikationspotential für die Rezipienten. Damit wurde im Prozess der performativen Nachahmung die ästhetischenarrative Inszenierung von Jugendlichen aus Brooklyn zur potentiellen Handlungsschablone für Jugendliche vor allem in Westeuropa. Das Fremde, so ließe sich an dieser Stelle provokant formulieren, wurde über den Film zu einem erstrebenswerten Erfahrungswert und so als ein temporär erfolgversprechendes Handlungskonzept in die je eigene Lebenswelt unterschiedlich stark integriert. Eine Weiterführung des Films besteht in der Umarbeitung des Films zum Musical Saturday Night Fever, das ab 1998 in London und ab 1999 in Köln mehrjährig lief.43 Das Musical orientiert sich wiederum am Erfolg des Films. Die entsprechende, von Robert Stigwood produzierte Musik des Soundtracks – u. a. von den Bee Gees, Kool & the Gang, The Trammps oder KC & The Sunshine Band – findet sich auch im Musical wieder und trug bereits 1977 wesentlich zur Popularität des Films und eben auch der Diskomusik bei. Damit etablierte sich im filmischen Raum eine illusorische Heterotopie, die den Bedingungen des Films – und nicht denen der außermedialen Wirklichkeit – unterworfen ist, obwohl er das wahre Leben versprach: den Tanz durch die Nacht in einer Diskothek. 41 | Library of Congress: »Hollywood Blockbusters, Independent Films and Shorts Selected for 2010 National Film Registry«. 42 | Eine systematische Erfassung und Analyse zur Thematik Disko und Film steht noch aus. Medienethnographische Fragestellungen weisen über rein ästhetische oder filmpsychologische Fragestellungen hinaus. 43 | Vgl. http://www.saturdaynightfever.de. Zu bemerken ist noch, dass hier in der Musikpräsentation eine weitere Transformation vorliegt, da die Musicalprotagonisten selbst gesungen haben, im Gegensatz zu den Filmschauspielern.

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Die Diskothek als ein kulturpragmatischer Raum, hier exemplarisch dargestellt anhand der diskursiven Verschränkungen des Films Saturday Night Fever dargestellt, fokussiert eine »Interaktion oder Konkurrenz mit diskursiven, sozialen oder symbolischen Ordnungen« sowie ein »Verhältnis von individuellen und sozialen Raumpraktiken«44 .

5. F A ZIT Der Beitrag nahm seinen Ausgang bei einer Münsteraner Werbung für das Studio 54, ohne dass es hier um den Mythos oder die Legende des Studios 54 ging. Vielmehr war der Ausgangspunkt, dass Diskotheken respektive Clubs neben ihrer eigenen Mystifizierung machtvolle Potentiale und Möglichkeiten der Selbstverwirklichung und kollektiven Musikrezeption entwickeln. Da ist das Studio 54 nur eines – allerdings eines der berühmtesten – Beispiele; für Deutschland ließen sich ganz unproblematisch mit überregionaler Bekanntheit und Bedeutung das Omen in Frankfurt am Main, der Tresor oder das Berghain in Berlin, das P1 in München etc. aufzählen. Die im Folgenden entwickelte Argumentation begreift die Diskothek idealtypisch als Dispositiv, das als ein Ort mit mehreren Bedeutungsebenen zu verstehen ist. Dabei fungierten die Überlegungen Michel Foucaults zu Heterotopien als theoretische Grundierung und die Ansätze Jörg Dünnes als methodisches Strukturierungsprinzip. Im Zusammenspiel der Bedeutungsebenen verschiedener Räume, heterogener Faktoren und ihrer unterschiedlich starken Verbindungen sowie dem Wechselverhältnis zur Gesellschaft kommt das Dispositiv in seinem Potential zur Geltung. Unterschiedliche technische, soziale, musikalische und politische Entwicklungen können in ihrer historischen Genese und jeweiligem Zusammenspiel als Effekt von und Voraussetzung für weitere Prozesse präzise erfasst und herausgestellt werden. Die unterschiedlichen Raumstrukturierungen und die beispielhaften Verankerungen unterschiedlicher Reichweite haben gezeigt, dass trotz des stark deduktiven Vorgehens Diskotheken als Dispositive kommunikativer und medialer Bestandteil alltäglicher Vergemeinschaftungsprozesse sind. Damit sind sie in ihrer ereignishaften Kollektivität manifester Ausdruck auditiver Medienkulturen und integrieren sich in ihrer spezifischen Ausprägung in Kultur von Gesellschaften. Für einen Großteil von Diskobesuchern, so lässt sich relativ sicher vermuten, realisieren sich im Diskobesuch Aspekte von Regression, Konsum, Tagträumerei, Selbstdarstellung und Sozialverhalten als Bestandteil oder als Opponent zum Alltag. In eine Gesamtbetrachtung gehört neben dieser Perspektive ebenso die partielle Ausweitung des beruflichen Alltags, wenn also bei Freiberuflern beispielsweise der Kreativbranche der Diskobesuch zum Berufsleben zählt.

44 | Dünne: »Forschungsüberblick ›Raumtheorie‹«, S. 8.

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Diskothek ist ihrem ereignishaften Wesen nach vorübergehend und zufällig. Nur durch ihre fixe und repetitive Verankerung ist sie im kulturellen Alltagszusammenhang für Rezipienten beispielsweise in ihrem Sozialisationsprozess strukturbildend. Zufällig ist sie aufgrund der nicht vorher bestimmbaren Zusammensetzung des Publikums und der jeweils laufenden und sich ändernden Musik. Transitorisch ist sie aufgrund ihres Charakters als immer einmalige Veranstaltung ohne dauerhafte Fixierung. Die jeweils besuchten Veranstaltungen verschmelzen aus der Rezipientenperspektive zu subjektivem Erleben und bleiben mehr oder weniger gut in der Erinnerung. Ganz interessant wird aus diesem Blickwinkel wieder die Münsteraner Werbung für das Studio 54: Spricht sie nun Jugendliche an, die das Studio 54 unter Umständen gar nicht kennen oder nur aus der medialen Berichterstattung und dann als glamouröse Referenz für Exzesse, Stars und Disco-Musik? Oder richtet sie sich an ein Publikum, deren Diskosozialisation bereits zur Zeit des Studios 54 stattfand und die damit auch Ziel der sogenannten Ü-30-Parties sind? Die unüberschaubare Zahl der Diskotheken als Örtlichkeit und Veranstaltung zeigt zweierlei: Auf das medientechnische Ensemble ist seit mehr als 30 Jahren Verlass, und Diskotheken finden sich in den unterschiedlichsten Ausformungen in allen Teilen der Welt. Gleichwohl sind Diskotheken – auch wenn alle hier aufgeführten grundlegenden Bedingungen erfüllt sind – nicht per se ein Studio 54 oder ein Berghain, zu dem alle Welt reist. Auf eine gute Party allein ist kein Mythos begründet. Es müssen demnach mehr Bedingungen dafür erfüllt sein als die grundlegenden. Eben das versucht sowohl die Werbung des »Studio 54« in Münster als auch das Werbeplakat für die Ü-30-Party in Halle: Im performativen Vollzug des Diskobesuchs ein regressives Rückbesinnen auf vormals ruhmreiche Zeiten.

L ITER ATUR Auhagen, Wolfgang: Musikalische Sozialisation im Kindes- und Jugendalter, Göttingen u. a. 2007. Bravo.de: »Party, Disco, Club: Wie lang du weg darfst!«, http://www.bravo. de/dr-sommer/party-disco-club-wie-lang-du-weg-darfst, 30.03.2012. Brewster, Bill/Broughton, Frank: Last Night a DJ Saved My Life. The History of the Disc Jockey, London 1999. Brewster, Bill/Broughton, Frank: How to DJ Right. The Art and Science of Playing Records, London 2002. Döring, Jörg/Thielmann, Tristan (Hrsg.): Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld 2008. Dünne, Jörg: »Forschungsüberblick ›Raumtheorie‹«, http://www.raumtheorie.lmu.de/Forschungsbericht4.pdf, 30.03.2012. Ebeling, Martin: Verschmelzung und neuronale Autokorrelation als Grundlage einer Konsonanztheorie, Frankfurt a. M. u. a. 2007.

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S TUDIO 54 IN M ÜNSTER . E XZESSE IN W ESTFALEN ?

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F ILM Saturday Night Fever (USA 1977, Regie: John Badham).

A BBILDUNGEN Abb.  1: Werbeplakat 2010 für Diskoveranstaltung Ü 30. Foto: Thomas Wilke.

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Abstracts in English EPPING -JÄGER , CORNELIA: From the Anthropological to the Mediated Voice Von der anthropologischen zur medialen Stimme

This contribution focuses on a research program initiated by Karl Bühler at the University of Vienna in 1931. As part of this program, a group of young experimental psychologists discovered the medial phenomenon of a person’s so-called »sound face« (Klanggesicht). In various categorization experiments, Herta Herzog and Paul Lazarsfeld among others examined voices broadcast on the radio, which they saw as indicating not simply the speakers’ mental condition, but also their social function in addressing their listeners. Radio, which then was a new media technology, eventually inspired the substitution of this kind of experiential-psychological concept by a concept oriented towards a mediatized communication space, a sound dispositif.

VON F ISCHER , S ABINE : From the Construction of Silence to the Construction of Intimacy: The Scenography of the House of the Future as a Laboratory for Living in a Silenced World Von der Konstruktion der Stille zur Konstruktion der Intimität. Die Szenografie des House of the Future als Wohnlaboratorium in einer stillgelegten Welt

The technology of isolation and the technology of broadcasting, both developed in acoustic laboratories, provided a new foundation for 20th century architecture. Spatial concepts of silence and intimacy are examined in a parallel analysis of developments in laboratory architecture for acoustic research, which peaked momentarily in 1943 with the construction of the Electro-Acoustic Laboratory (EAL) at Harvard University, and in 1956 in the scenography of the House of the Future by Alison and Peter Smithson. In acoustic research, anechoic laboratories were a prerequisite for investigating electro-acoustic sound signals. In the private world of the home, sound isolation served the need for seclusion from the outside and thus was a condition for creating intimacy as an immediate, yet controlled experience.

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A UDITIVE M EDIENKULTUREN F ÖLLMER , G OLO: Theoretical and Methodological Approaches to Radio Aesthetics: Qualitative Characteristics of Channel IDs Theoretisch-methodische Annäherungen an die Ästhetik des Radios. Qualitative Merkmale von Wellenidentitäten

Since its beginnings, research on radio programs has been considered mostly an issue of content: Studies explore informational topics, styles of journalistic presentation, musical styles, ratio of music to speech, etc. This contribution argues that aesthetic factors play a much larger role in radio production than scientific practice to date implies. This is proved by the production criteria of radio professionals aiming to create a consistent impression, a radio station’s so-called »channel identity« or »stationality«. It is proposed that these aesthetic factors include differences in speaking styles, issues of timing, level and rhythm in the programme flow, technical signal modifications (filtering, compression), and sound styles in a station’s »packaging«, such as station IDs, jingles, etc. The article gives a brief overview over existing scientific approaches to the aesthetic analysis of radio, followed by a description of the theoretical and methodical implications of the research project »Radio Aesthetics, Radio Identities« co-initiated by the author. Finally, the project‘s scope is exemplified by two studies realized under the author‘s supervision

GETHMANN , DANIEL: »Musick of Scraping Trenchers«: Galileo Galilei, Robert Hooke, and Felix Savart’s Media Experiments in Frequency Determination and the Medialization of Sound »Musick of Scraping Trenchers«. Medienexperimente zur Frequenzbestimmung von Galileo Galilei, Robert Hooke, Felix Savart und die Medialisierung des Klangs

Sound research within media studies originates in the translation, storage, and manipulation of auditory data, thus assigning particular significance to its experimental situations and context. It marks a liminal point where cultural techniques take shape and become differentiated in acoustic media. This paper investigates the discontinuities and fractions in the knowledge system of sound which occur at this liminal point. Adopting a genealogical perspective, it sketches the historical background of acoustic media technology, starting with the 17th-century experiments and apparatuses of Galileo Galilei and Robert Hooke, continued in the 19th century by Felix Savart, which were used to demonstrate the connection between pitch and frequency. The line of development from determining frequency to the medialization of sound is evident in an instructive »philosophical toy« of 1879, targeting the emerging mass market for acoustic media technologies: the »talking strips« of Jacques Paul Lambrigot.

A BSTRACTS IN E NGLISH GROSSMANN, ROLF : The Materiality of Sound and the Media Practice of Musical Culture – a Late Object of Musicological Enquiry? Die Materialität des Klangs und die Medienpraxis der Musikkultur. Ein verspäteter Gegenstand der Musikwissenschaft?

With the new notation on phonographic disk or tape we have sound literally at hand, just before it is vanishing in the digital resolution of bits and bytes. Musique concrète, hiphop, dub, soundscapes and sonic art are only some keywords that follow the media change from traditional notation of music to the notation of sound itself. An important step for the understanding of new strategies of composing, producing and performing music could be to consider the new materialization of sound not only as a technical process but also as the formation of musical material. In musicology the view of media as ›neutral‹ technical means of transmission is not very helpful to reflect this topic and has to be combined with a humanities orientated media research and reflection. Labels like »Sound Studies«, »Sound Culture«, »Auditory Culture« etc. are indicating the demand for transgressing the borders of academic disciplines and a new position between musicology and mediaculture that should be discussed.

KLEINER, M ARCUS S.: The Deafness of Discourse: Sociology’s Inability to Hear in the Field of Musical Analysis Die Taubheit des Diskurses. Zur Gehörlosigkeit der Soziologie im Feld der Musikanalyse

Academic sociology deals with music in one of its subfields, the sociology of music. This field, like the sociology of art, remains something of a niche. Nor does it receive much attention from musicology, where it is seen as a branch of systematic musicology. This marginalization is astonishing, considering that the tradition of sociological theory has made prominent contributions to the sociology of music – mostly in the context of its foundation as a cultural science – and is an indication of the fact that decisive impulses for the further development of the sociology of music no longer come from sociology itself. The recent growing interest in cultural sociological questions has not changed this basic situation. In this context, it is striking that sociological research – including in regard to cultural manifestations and cultural processes of change – has failed to appreciate the significance of the omnipresence of music in everyday life. In this contribution, however, the significance of music sociology from its beginnings to the present for the research into auditory media cultures is emphasized.

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A UDITIVE M EDIENKULTUREN KLOTZ, S EBASTIAN: Sound as Epistemic Resource and Operative Process Klang als epistemische Ressource und als operativer Prozess

Sound has become a generic metaphor for a plethora of artistic and academic approaches, although no accepted definition of sound has been brought forward. The notion of the Sonical (›das Sonische‹) as developed within media theory has the potential to engender more differentiated reflections. It hints at the operativity of sounds that cannot be characterized using the methods of traditional hermeneutic and musicological analysis. In contrast, a survey of Sound and Music Computing shows that the implications of sound, music and meaning are hardly pondered in this field. Finally, a discussion of sound inspired by the theory of social systems is undertaken. It states that causality is being replaced by aesthetics (Dirk Baecker). Practices of listening und perceiving, semantically charged as they are, now find themselves side by side with a technical processing and self-calculating on the level of sound. This may lead to new methodological challenges for the auditory sciences. The starting-point is a description of sounds as operative processes, for which musicological expertise is also relevant.

KRAMARZ , V OLKMAR : The Development of Recording Culture: The Example of the Beatles in Abbey Road Die Entwicklung der Recording Culture am Beispiel der Beatles in den Abbey Road Studios

The history of audio recording dates back only 150 years, but it is full of extraordinary developments and milestones. In retrospect, the productions of the Beatles, especially those recorded for the album »Sergeant Pepper’s« in 1967 in the EMI studios in Abbey Road, London, can be seen as among these milestones: they wrote history and broke new ground, and not just in pop music. For the first time in history, popular music artists joined expert producers and a team of technicians to make full use of all opportunities available in a recording studio. In doing so, they went far beyond the mere recording and documenting of sounds, instead starting to use the studio like an instrument in its own right. This happened despite the fact that until then, EMI had prohibited almost all musical experiments or innovations; it happened not least because by that time, the Fab Four from Liverpool had already achieved all the commercial success imaginable, allowing them to gain almost unrestricted access to all studio equipment.

A BSTRACTS IN E NGLISH LEPA , STEFFEN : Emotional Music Reception in Different Everyday Contexts: The Perspective of Perception Ecology on the Role of Media Technology Emotionale Musikrezeption in unterschiedlichen Alltagskontexten: Eine wahrnehmungsökologische Perspektive auf die Rolle der beteiligten Medientechnologien

Many scholars from the field of sound studies especially focus on the material aspects of sound and music. This emphasis on materiality shows the extended efforts of an interdisciplinary research community to create a further theoretical and methodological integration of empirical research questions concerning the everyday significance of technical media devices that serve to render noise, sound and music perceptible. In this spirit, the aim of the paper is to demonstrate to what extent media sciences as well as musicology may benefit from a perceptual-ecological approach to the problem of »sound« in everyday music consumption.

MORAT, D ANIEL: The Historicity of Hearing: Towards a History of Auditory Cultures Zur Historizität des Hörens. Ansätze für eine Geschichte auditiver Kulturen

After a long period of focusing primarily on the visual, cultural and media studies have recently become increasingly interested in the importance of sound and acoustic communication for today’s media cultures. By presenting and assessing a number of recent history books on sound, the essay describes the contribution historiography (and more specifically cultural history) can make to the interdisciplinary field of sound studies. It stresses three major points: 1. the historicity of every single sound event, which can be analyzed by historiographical means; 2. the importance of the cultural appropriation of sound media by historical actors (in contrast to a technologically deterministic view of media uses); and 3. the need for contextualization, i.e. for placing sound events into their larger historical, political, social, and cultural context in order to analyze them properly.

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A UDITIVE M EDIENKULTUREN MÜLLER , JAN PHILIP: Creating Loops, Identifying Sound Objects. Auditory Techniques in Pierre Schaeffer’s Musique Concrète and Walter Murch’s Sound Design in THX 1138 Schleifen knüpfen, Klangobjekte identifizieren. Auditive Techniken in Pierre Schaeffers Musique Concrète und Walter Murchs Sound Design von THX 1138

The paper traces the genealogy of auditory techniques and discourses by identifying connections between Pierre Schaeffer’s Musique Concrète (created since the late 1940s) and a shift in the aesthetics of sound films (since around 1970) suggested by the term »sound design«, as exemplified by Walter Murch’s soundtrack for THX 1138 (USA 1971, Director: George Lucas). Focusing on two paradigmatic procedures of Musique Concrète— the »cloche coupée« (the »cut bell«) and the »sillon fermé« (the »closed groove«)—the text interrogates Schaeffer’s concept of the sound-object as a foundation for his notion of proper and original sound research. As the paper argues, Murch’s strategies of »worldizing«, as well as the intentional spanning of »twilight zones« between speech, music, and noise, translate certain aspects of Musique Concrète into sound-film. At the same time, however, the carefully conceived effects of the sound design in THX 1138 appear to derive their power from precisely the points of epistemological contention that become evident in Schaeffer‘s efforts to delimit soundobjects.

S ANIO, S ABINE: Sound Studies – Towards a Theory of Auditory Culture: Aesthetic Practice between Art and Science Sound Studies – auf dem Weg zu einer Theorie auditiver Kultur. Ästhetische Praxis zwischen Kunst und Wissenschaft

Musicology has concerned itself increasingly with sound phenomena beyond the scope of traditional music for some time now. This development is borne out by the newly founded Master’s degree in Sound Studies at the Berlin University of the Arts, a short overview of which is given here, followed by a discussion of the term of auditory culture. The term auditory culture shifts the focus onto the perspective of listening. A theory of auditory culture approaches a society’s cultural life from this perspective, and is illustrated here in four exemplary questions. An excursion presents a few relevant ideas and concepts of composers and sound artists, revealing the proximity between artistic and scientific strategies.

A BSTRACTS IN E NGLISH SCHLÜTER , B ETTINA: Musicology as Sound Studies: Historical Perspectives and Theoretical Implications Musikwissenschaft als Sound Studies. Fachhistorische Perspektiven und wissenschaftstheoretische Implikationen

Organized sound and sound studies are the hallmark of a current shift in musicology. Influenced by cultural and media studies, this shift raises new issues and approaches musicological questions from a different perspective. Both terms reflect an academic readjustment that goes beyond the historically restricted perception and the strictly ontological understanding of music. Hence, organized sound and sound studies broaden the academic horizon and allow sound phenomena to be analysed as part of »auditory media cultures«. This paper elaborates on the incompatibility of this reorientation with traditional musicological perspectives and the traditional notion of music. Using the Anglo-American »New Musicology« as an example, the paper discusses the research which has expanded the field of investigation and given fresh impetus to musicology since the 1990s, and thereby has laid the foundation for musicology’s opening up to cultural and media studies.

SCHWERING, G REGOR : Two Auditory Spaces of »Suspended Attention«: Psychoanalysis and Ambient Zwei Hörräume ›gleichschwebender Aufmerksamkeit‹. Psychoanalyse und Ambient

The following article underlines a structural homology between Sigmund Freud‘s theory of the psychoanalytical setting and Brian Eno‘s concept of ›Ambient Music‹. In this sense, Freud‘s idea of a ›suspended attention‹, which means, that the relationsship between the psychoanalyst and his client is embedded in a room of listening more than speaking, becomes the starting point of the argumentation: Within this theoretical frame it is possible to show, that both concepts stand for an open horizon of listening, which subverts the fantasy of a superiority of the voice (phonocentrism). In the end the text discusses the importance of the ambient-concept for a future theory of media.

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A UDITIVE M EDIENKULTUREN VENUS, J OCHEN : Sound Crystals: The Semiotics of Artificial Audibility Klangkristalle. Zur Semiotik artifizieller Hörbarkeit

Sounds can be signs. But are there signs that are only possible as sounds – sounds the meaning of which cannot be realized in any medium other than the audible? In the 1960s, structuralist semiotics claimed to be able to observe and explain all processes of signification under a unified, neutral and strictly logical paradigm. However, this analytical strategy has proved unsustainable in regard to the acoustic, and to this day the particularities of tonal signs remain unexplained. It would seem that this is because semiotic research has focused mainly on linguistic signs, and thus has reconstructed processes of signification upon the model of reading arbitrary signs. However, even pretheoretical intuition, warns strongly against this kind of modeling when dealing with the acoustic. When we hear a sound, we do not understand what it wants to »say« to us. Rather, it gives us information on tonal events that we understand as eventful sources of sound. This fact of sound semiosis becomes a challenge for sign analysis precisely when the sound sources are medial, sounds that transmit other sounds. In modern technical sound media, the sound of technology and the sound of technologically transmitted sounds (noises, voices, music) are separate to such an extent that »double-sounding« sound signs emerge that, unlike other sound signs, gain cultural currency and create their own system of cultural meaning.

W ILKE, T HOMAS: Münster’s Studio 54 – Excess in Westphalia? On the Polyvalency of Space in the Medium of the Discotheque Studio 54 in Münster. Exzesse in Westfalen? Über die Polyvalenz des Raumes im Medium Diskothek

The following article discusses the discotheque and nightclub as a specific space within auditory media cultures. The nightclub is understood here as the model of a spatially structured dispositif that combines heterogeneous factors, creates spectacular reception situations and brings about a contingent and transitory community. The social topography of this place is divided into three spaces, in line with research of the »spatial turn«. The disco is separated into a technical, a semiotic and a cultural-pragmatic space. These spaces are cumulative, co-exist and interact with each other, they build on and influence each other. The technical space shows a functioning dispositif as the necessary condition for aestheticising effects. The semiotic space deals with the symbolism of the nightclub’s program, with what actions, processes and communications can be observed there. The discotheque as a cultural-pragmatic space highlights the discursively anchored historical and current relationship between society and the dispositif nightclub.

A BSTRACTS IN E NGLISH WILLKOMM , JUDITH: Technology sets the Tone: The Auditory Media Culture of Bioacoustics Die Technik gibt den Ton an. Zur auditiven Medienkultur der Bioakustik

Why does a zoologist make recordings in the middle of the jungle? Why are there special speakers just for nightingales? Wherefore is the inaudible sound of bats visualised? What is the use of an acoustic recording station in the middle of Mecklenburg-Western Pomerania? In bioacoustics research – a field which analyses the sounds of animals and their auditory perception – the use of sound equipment is part of daily scientific practice. Judith Willkomm’s article analyses how auditory media culture is manifested in this context and how this can be explored. Based on ethnographic studies in biology, she spotlights the mutual influence that exists between researchers, the field of research and acoustic media technology, and develops an empirical approach to the analysis of auditory forms of knowledge in research. The author attends particularly to the question of the significance of acoustic recording devices – especially in field research – and how this technically collected data relates to the auditory observations of the researchers in the field.

WODIANKA , BETTINA ANITA : Intermedial Spaces in Contemporary Radio Plays: Between Documentary and Fiction, Original Soundtrack and Manipulation, Acoustic Art and Radiophony, Theater and Installation Intermediale SpielRäume im HörSpiel der Gegenwart. Zwischen Dokumentation und Fiktion, Originalton und Manipulation, akustischer Kunst und Radiophonie, Theater und Installation

Acoustic forms and acoustic phenomena have been of little interest for research on intermediality in the past. But in order to understand audiovisually influenced radio plays as combined media, cultural and media studies are now investigating intermediality and hybridity as fields of study. Radio play productions often include the transposition of other media – such as literature, theater or film – in order to augment the auditory presentation with visual effects, which then appear as non-native aesthetic currents within the radio medium. This media break, as a complex transformation process, is influenced by the reception aesthetic of the auditory art and medium as well as the media culture, and the interplay of visibility and invisibility is one of its essential elements. On the basis of two current productions, this paper analyses these interactions and presents translation strategies.

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A UDITIVE M EDIENKULTUREN W OLF , REBECCA: Musical Techniques: Examples of an Organological Cultural History Spieltechnik der Musik. Beispiele einer organologischen Kulturgeschichte

Given the manifold relationships between music and engineering, this paper enquires into the closer connections between the methods of organology and a broader cultural-historical approach. It is the aim of the article to present the science of musical instruments as an interdisciplinary subject, not least in order to find new aspects of the specific sound of each new invention. The focus here is on 19th- and 20th-century experimenters with sounds and instruments, and the examples cited are the inventors Johann Nepomuk Maelzel, Theobald Boehm, and Karlheinz Stockhausen, who worked as instrument makers, mechanics, musicians, and composers. Their new inventions were presented in different forms, for example as publications, as exhibitions or as concerts. These performances play an important role in the reception of the instruments, and furthermore reveal marked similarities between non-electronic and electronic music.

ZIEMER, H ANSJAKOB: The Sound of Society: On the Sociologization of Sound in Concert Life, 1900-1930 Klang der Gesellschaft. Zur Soziologisierung des Klangs im Konzert, 1900-1930

This article asks how contemporary composers and critics at the beginning of the 20th century attempted to resolve the tension between social and individual understandings of and reflections on sound in concert life. It reconstructs the historical context of Paul Bekker’s attempt to theorize the social dimension of sound in the concert hall. Bekker’s contribution was to recover the latent social meaning of sound present in the general discourse on music aesthetics prior to World War I. This sociological understanding of sound was part of Bekker’s larger utopian conceptualization of a musical society. Ultimately, Bekker’s music sociology did not achieve wide acceptance and Adorno’s writings on the sociological dimensions of music shed quite a different light on the relationship between music and society: one in which sound as such was downplayed. Nevertheless, in the general discourse of the 1920s, sound was still perceived as a category in its own right and an important part of listening in the concert hall.

Autorinnen und Autoren Cornelia Epping-Jäger, Dr. phil., arbeitete als Dramaturgin, später dann als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Heinrich Heine Universität Düsseldorf und des Forschungskollegs SFB/FK 427: Medien und Kulturelle Kommunikation an der Universität zu Köln. Veröffentlichungen u.a. zu »Laut/Sprecher in der Zeit des Nationalsozialismus« und zu den »Umbauten der Stimmpolitiken in der amerikanischen Reeducation, der frühen Bundesrepublik und DDR«. Seit 2008 ist sie Mitarbeiterin in den DFG-Projekten: Poetik und Hermeneutik des Hörbuchs. Akustische Texte in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur und Poetik und Medialität des Diktats: Phono-graphische Szenen deutschsprachiger Literatur seit 1800 an der Ruhr Universität Bochum. Sabine von Fischer, ist Architektin und Autorin. Sie studierte an der ETH Zürich, an der Harvard Graduate School of Design in Cambridge und an der Columbia University, New York. 1994–2004 arbeitete sie als Architektin in Büros in Zürich und New York, wie auch selbständig (www.diaphanarch.ch). Sie hat in Europa, Nordamerika und Indien zu verschiedenen Themen aus der Architektur Vorträge gehalten, unterrichtet und publiziert. 2004–2008 war sie Redaktorin der Zeitschrift werk, bauen und wohnen. 2010 erhielt sie ein Forschungsstipendium des Canadian Center for Architecture in Montréal. 2013 Abschluss der Dissertation Hellhörige Häuser. Raum, Klang, Architektur 1920–1970 (www.raumklangarchitektur. ch; vom SNF gefördert) am Institut für Geschichte und Theorie der Architektur der ETH Zürich. Golo Foellmer, Prof. Dr. phil., geb. 1964, Ausbildung zum Klavierbauer, Studien der Musik- und Kommunikationswissenschaft (TU Berlin) sowie Broadcast Communication Arts (San Francisco State University). Radio- und Tonbandstücke sowie Klanginstallationen und -objekte. Texte zu Klangkunst, zeitgenössischer Musik und akustischen Medien. Mitwirkung bei der Gesamtüberarbeitung des Brockhaus-Riemann-Musiklexikons. Kuratorische Mitarbeit u.a. bei sonambiente (AdK Berlin 1996), net_condition (ZKM Karlsruhe 1999), RadioREVOLTEN (Radio Corax, Halle 2006) und SoundExchange (Mittelosteuropa 2011/12). 2002 Promotion über Netzmusik am Institut für Musikwissenschaft, seit 2007 Juniorprofessor mit dem Schwerpunkt Audiokulturforschung am Dept. Medien- und Kommunikationswissenschaft der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Dort seit 2010 Entwicklung des weiterbildenden Master-Studiengangs Online Radio.

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A UDITIVE M EDIENKULTUREN Daniel Gethmann , Dr. phil., ist Assistant Professor am Institut für Architekturtheorie, Kunst- und Kulturwissenschaften der Technischen Universität Graz. Zuvor war er Vertretungsprofessor der Juniorprofessur Medientechnik und Medienphilosophie am Institut für Medienwissenschaft der RuhrUniversität Bochum. Zahlreiche wissenschaftliche Publikationen zur Mediengeschichte und Medientheorie der auditiven Kultur, u.a.: Klangmaschinen zwischen Experiment und Medientechnik, Bielefeld 2010; Die Übertragung der Stimme. Vor- und Frühgeschichte des Sprechens im Radio, Berlin-Zürich 2006; Politiken der Medien, (hrsg. gemeinsam mit Markus Stauff), Berlin-Zürich 2005. Rolf Großmann, Prof. Dr. phil., geb. 1955, Studium der Musikpädagogik und -wissenschaft, Germanistik, Philosophie, Physik an den Universitäten Bonn, Siegen und Gießen; Promotion über Musik als Kommunikation. Seit 1997 Leiter des Schwerpunktbereichs ((audio)) Ästhetische Strategien an der Leuphana Universität Lüneburg, dort Professor für Digitale Medien und auditive Gestaltung im Institut für Kultur und Ästhetik digitaler Medien. Arbeitsschwerpunkte: Technikkultur und Medienästhetik der Musik, Ästhetik zeitgenössischer Musik (E und U) sowie Studioproduktion. Publikationen zur Ästhetik und Technikkultur der Musik, zuletzt: »Reproduktionsmusik und Remix-Culture«, in: Saxer, Marion (Hrsg.): Mind the Gap. Medienkonstellationen zwischen zeitgenössischer Musik und Klangkunst. Saarbrücken 2011, S. 116-127; »Distanzierte Verhältnisse? Zur Musikinstrumentalisierung der Reproduktionsmedien«, in: Harenberg, Michael/Weissberg, Daniel (Hrsg.): Klang (ohne) Körper, Bielefeld 2010, S. 183-200. Siehe auch http://audio.uni-lueneburg.de. Friedrich A. Kittler , Prof. Dr. phil. (1943–2011), studierte Germanistik, Romanistik und Philosophie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg/ Breisgau und wurde 1976 mit einer Arbeit über Conrad Ferdinand Meyer promoviert. 1986 wurde er als Professor für Neugermanistik an die RuhrUniversität Bochum berufen; seit 1993 war er Inhaber des Lehrstuhls für Ästhetik und Geschichte der Medien am Seminar für Ästhetik und seit 2001 stellvertretender Direktor des Helmholtz Zentrums für Kulturtechnik an der Humboldt-Universität zu Berlin. Hubert-Burda-Stiftungsprofessur für Medienphilosophie 2008–2010. Kittler wurde 1993 mit dem SiemensMedienkunstpreis des ZKM Karlsruhe (Zentrum für Kunst und Medientechnologie) für seine Forschungen auf dem Gebiet der Medientheorie ausgezeichnet. Neben zahlreichen wissenschaftlichen Aufsätzen weltweit rezipierte und in mehrere Sprachen übersetzte Buchveröffentlichungen, darunter Aufschreibesysteme 1800 ⋅ 1900, München 1985; Grammophon Film Typewriter, Berlin 1986; Draculas Vermächtnis. Technische Schriften, Leipzig 1993; Musik und Mathematik. Band I: Hellas, Teil 1: Aphrodite, München 2006 und Musik und Mathematik. Band I: Hellas, Teil 2: Eros, München 2009. Friedrich Kittler verstarb am 18.10.2011 in Berlin.

A UTORINNEN UND A UTOREN Marcus S. Kleiner , Dr. phil., Lecturer geb. 1973, lehrt aktuell Medienwissenschaft an der Universität Siegen und arbeitet(e) an den Universitäten Duisburg, Düsseldorf, Dortmund (FH), Bonn, Magdeburg, Mannheim (Pop-Akademie), Paderborn und Klagenfurt. Er ist Sprecher der AG Populärkultur und Medien in der Gesellschaft für Medienwissenschaft (GfM) und Mitherausgeber des Onlinemagazins Rock and Pop in the Movies (www.rockpopmovies.de). Seine Lehr- und Forschungsgebiete sind Medientheorie, Medienkultur, Mediengeschichte, Mediensoziologie, Medienanalyse, Neue Medien, Populäre Kulturen und Populäre Medienkulturen. Buchpublikationen u.a.: Medien-Heterotopien. Diskursräume einer gesellschaftskritischen Medientheorie, Bielefeld 2006; Grundlagentexte zur sozialwissenschaftlichen Medienkritik, Wiesbaden 2010; Methoden der Populärkulturforschung. Interdisziplinäre Perspektiven auf Film, Fernsehen, Musik, Internet und Computerspiele, Münster 2010; Performativität und Medialität Populärer Kulturen. Interdisziplinäre Perspektiven auf Film, Fernsehen, Musik, Tanz, Internet und Computerspiele, Wiesbaden 2011. Freiberufliche Arbeit als Medienberater, Projektmanager, Veranstalter, Texter, PR-Redakteur, Publizist und Hörspielautor. Sebastian Klotz, Prof. Dr. phil., ist Professor für Systematische Musikwissenschaft an der Universität Leipzig (Promotion und Habilitation an der Humboldt-Universität zu Berlin), Er ist Leiter des TransCoop-Projekts Music as a Medium of Urban Transformation: Berlin, Chicago, Kolkata, das durch die Alexander von Humboldt-Stiftung finanziert wird. Zu seinen Lehr- und Forschungsinteressen zählen Musik als Wissensform, Theorien musikalischen Handelns sowie die Transformation von der text- zur klangbasierten Musikwissenschaft. Sein jüngster Essay »Arcadia, Musicland. Variants of Eloquence from the Renaissance Madrigal to Disco«, in: VARIANTOLOGY 5, 2011. Volkmar Kramarz, Dr. phil., geb. 1954, nach Abitur Instrumental-Studium an der Musik-Hochschule Köln und Musikwissenschaft an der Universität Bonn. Daneben Songwriter, Musiker und Musikschullehrer, außerdem Kritiker und Autor von Musiklehrbüchern und Songbooks. 1982 Promotion mit der Arbeit Harmonieanalyse der Rockmusik. 1982–1984 Freier Mitarbeiter im Hörfunk, anschließend Festanstellung beim WDR als Hörfunk-Redakteur, 1988 Auszeichnung durch den Medienpreis Kurt-Magnus-Journalistenpreis, ab 1995 Projektorganisation der Nachwuchsförderungsinitiative PopMusiContest für den Deutschen Musikrat & GEMA, seit 1996 Audio-Editierung und Internet-Audio-Content-Erstellung, Coaching und Business-Vorbereitung für unterschiedliche Pop-Acts, Autor von Fachartikeln und Produzent der Minifeature-Serie Dr. Rock, Syndication-Absatz mit ca. 650 Folgen, Seit WS 2000/01 Dozent und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Bonn.

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A UDITIVE M EDIENKULTUREN Steffen Lepa , Dr. phil., geb. 1978, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachgebiet Audiokommunikation der Technischen Universität Berlin und zurzeit mit dem Forschungsprojekt Medium und Emotion des Exzellenzclusters Languages of Emotion befasst. Nach dem Magisterstudium der Medienwissenschaften, Psychologie und Technik der Medien sowie einem anschließenden Masterstudium Medienmanagement widmete er sich in seiner Dissertationsschrift Jenseits des Films (VS 2010) der wissenschaftstheoretischen Fundierung und methodischen Umsetzung einer »kritischrealistischen Medienrezeptionsforschung«. Neben Lehraufträgen zu sozialwissenschaftlichen Forschungsmethoden und der Praxis des Sound Designs forscht und publiziert er seit einigen Jahren vor allem zu den Themenbereichen Medienrezeptionsforschung, empirische Forschungsmethodologie, Bologna Prozess, Medienpädagogik, Audio Design sowie Populär- und Jugendkultur. Daniel Morat, Dr. phil, ist Historiker und Dilthey-Fellow der Fritz Thyssen Stiftung am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen auf den Gebieten der europäischen und transatlantischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, der Intellektuellen-, Ideen- und Wissenschaftsgeschichte, der Medien- und Wahrnehmungsgeschichte der technischen Moderne, der Stadtgeschichte sowie der Geschichtstheorie. Gegenwärtig arbeitet er an einem Habilitationsprojekt mit dem Arbeitstitel Die Klanglandschaft der Großstadt. Kulturen des Auditiven in Berlin und New York 1880–1930. Jan Philip Müller , M.A., schloss sein Studium der Kulturwissenschaft und Volkswirtschaftslehre in Berlin mit einer Arbeit zur Kultur-, Medien- und Wissensgeschichte der Röntgenbilder ab. Er arbeitet an einem Promotionsprojekt mit dem Arbeitstitel Audiovision und Synchronisation. Sehen, Hören und Gleichzeitigkeit im Tonfilm. Er war Kollegiat am Graduiertenkolleg Mediale Historiographien der Universitäten Erfurt, Jena und Weimar. Seit 2010 ist er Junior Fellow am Internationalen Kolleg für Kulturtechnikforschung und Medienphilosophie (IKKM) der Bauhaus-Universität Weimar. Sabine Sanio, Dr. phil., geb. 1958, lebt in Berlin, seit 2009 als Gastprofessorin am Masterstudiengang Sound Studies der Universität der Künste Berlin verantwortlich für das Fach Theorie und Geschichte auditiver Kultur. Seit 1991 im Redaktionsbeirat der Zeitschrift Positionen. Texte zur aktuellen Musik; 1995–1998 Vorsitzende der Berliner Gesellschaft für Neue Musik (BGNM); 1995–2004 konzeptionelle Mitarbeit beim Festival Musikprotokoll, Graz; 2001–2006 Gastprofessorin für Theorie & Geschichte der Kunsthochschule Berlin-Weißensee. Umfangreiche Herausgebertätigkeit, u.a. Das Rauschen, Hofheim 1995 (zus. mit Christian Scheib); Dokumentation von Kongressen, zuletzt: Kunst und Technik in medialen Räumen, Saarbrücken 2010 (für die Hans-Böckler-Stiftung). Zahlreiche

A UTORINNEN UND A UTOREN

Veröffentlichungen, Radiosendungen und Vorträge zur aktuellen Ästhetik, zu Medientheorie und -ästhetik, zur Klangkunst und ähnlichen Phänomenen in den Grenzgebieten der Künste sowie zu den Beziehungen der Künste untereinander, in Buchform: Alternativen zur Werkästhetik. Cage und Heißenbüttel, Saarbrücken 1999 sowie 1968 und die Avantgarde, Sinzig 2008. Bettina Schlüter, Prof. Dr. phil., ist Professorin für Musikwissenschaft an der Abteilung für Musikwissenschaft/Sound Studies der Universität Bonn. Ihre Forschungsscherpunkte umfassen kulturwissenschaftlich akzentuierte Fragestellungen zu musikalischen Phänomenen (18. bis 21. Jahrhundert), Film-, Medien- und Wissenschaftstheorie, digitale Ästhetik. Zu ihren Veröffentlichungen gehören: »Autobiographie als Zeugenaussage: Die Vielstimmigkeit des Dmitrij Schostakowitsch«, in: Moser, Christian/Nelles, Jürgen (Hrsg.): AutoBioFiktion. Konstruierte Identitäten in Kunst, Literatur und Philosophie, Bielefeld 2006; Murmurs of Earth. Musik- und medienästhetische Strategien um 1800 und ihre Postfigurationen in der Gegenwartskultur, Stuttgart 2007; »Die ›Magi‹ der klingenden Zahl: Figurationen des Verborgenen in Musik und Mathematik«, in: Sielke, Sabine (Hrsg.): Verschleierungstaktiken: Phänomene eingeschränkter Sichtbarkeit und Täuschung in Natur und Kultur, Frankfurt a. M. 2011. Jens Schröter, Prof. Dr. phil., geb. 1970. 1999–2002 wissenschaftlicher Mitarbeiter der Stiftungsprofessur Theorie und Geschichte der Fotografie Universität Essen, seit 2002 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Projekt Virtualisierung von Skulptur. Rekonstruktion, Präsentation, Installation des Siegener kulturwissenschaftlichen Forschungskollegs Medienumbrüche. Seit 2008 Professor für Theorie und Praxis multimedialer Systeme an der Universität Siegen. 2008–2012 Leiter der Graduiertenschule Locating Media an der Universität Siegen. Projektleiter (zus. mit Prof. Dr. Lorenz Engell, Bauhaus-Universität Weimar) des Forschungsprojekts Die Fernsehserie als Reflexion und Projektion des Wandels im Rahmen des DFGSchwerpunktprogramms 1505: Mediatisierte Welten. Gregor Schwering, PD Dr. phil., arbeitet als Literatur- und Medienwissenschaftler an der Ruhr-Universität Bochum. Forschungsschwerpunkte: Deutschsprachige Literatur vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Literarische Anthropologie, Literatur- und Medientheorie, Mediendynamik. Buchpublikationen zuletzt: Sprachliches Gespür. Rousseau – Novalis – Nietzsche, München 2010; Theorien der Neuen Medien. Kino – Radio – Fernsehen – Computer, Paderborn 2007 (hrsg. zus. mit Gebhard Rusch und Helmut Schanze); Media Marx. Ein Handbuch, Bielefeld 2006 (hrsg. zus. mit Jens Schröter und Urs Stäheli).

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A UDITIVE M EDIENKULTUREN Jochen Venus , Dr. phil., ist medienwissenschaftlicher Lecturer an der Universität Siegen. Studium der Medienwissenschaft, Allgemeinen Literaturwissenschaft, Philosophie und Soziologie. Er promovierte über Begründungsprobleme der Medientheorie und der Medienwissenschaften und arbeitet derzeit an einem Habilitationsprojekt zur medialen Konstitution gemeinschaftlicher Intentionalität. Forschungsschwerpunkte: Medientheorie, Spielfilm, Computerspiel, Stimmkünste in den Medien, mediale Formen der Wir-Intentionalität. Aktuelle Veröffentlichungen: Masken der Semiose. Zur Semiotik und Morphologie der Medien, Berlin 2010; Erzählformen im Computerspiel, Bielefeld 2010 (hrsg. zus. mit Jürgen Sorg); Spielformen im Spielfilm. Zur Medienmorphologie des Kinos nach der Postmoderne, Bielefeld 2007 (hrsg. zus. mit Rainer Leschke). »Raumbild und Tätigkeitssimulation. Video- und Computerspiele als Darstellungsmedien des Tätigkeitsempfindens«, in: Winter, Gundolf/Schröter, Jens/ Barck, Joanna (Hrsg.): Das Raumbild. Bilder jenseits ihrer Flächen, München 2009. Axel Volmar , Dr. phil. des., studierte Kultur-, Theater- und Kommunikationswissenschaft in Berlin und arbeitet seit 2008 als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Medienwissenschaft der Universität Siegen. 2012 wurde er mit einer Dissertation zur Geschichte der auditiven Kultur der Naturwissenschaften seit 1800 promoviert. Zwischen 2010 und 2011 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Projekt Kulturgeschichte der Sonifikation an der Hochschule der Künste Bern. Verschiedene wissenschaftliche Publikationen zu den Themen auditive Kultur und Sound Studies, Zeitlichkeit der Medien und digitale Kultur. Darunter die Sammelpublikationen Volmar, Axel: Zeitkritische Medien, Berlin 2009; Schoon, Andi/ Volmar, Axel: Das geschulte Ohr. Eine Kulturgeschichte der Sonifikation, Reihe Sound Studies, Bd. 4, Bielefeld 2012. Thomas Wilke , Dr. phil., geb. 1975 in Bautzen, studierte von 1996–2003 Medien- und Kommunikationswissenschaften, Geschichte, Philosophie und Germanistik an der MLU Halle und in Lille, Frankreich. Er promovierte 2008 über DJs und Diskotheken in der DDR an der MLU Halle und arbeitet seitdem dort im Fachbereich Medien- und Kommunikationswissenschaften als wissenschaftlicher Mitarbeiter. Forschungsgegenstände sind schwerpunktmäßig auditive und populäre Medienkulturen, Radioästhetik, DDR-Fernsehgeschichte, Medienanthropologie und Wissenskulturen. Zu seinen Interessensgebieten gehören Mashups, Filmmusik und Sound, Performativitäts- und Dispositivforschungen sowie die crossmediale Funktionalität von Musik und ihrer Akteure. Mitherausgeber und Redakteur der Zeitschrift Rock and Pop in the Movies.

A UTORINNEN UND A UTOREN Judith Willkomm, M.A., geb. 1981, studierte Europäische Ethnologie und Medienwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin. Ihren Studienabschluss erlangte sie im Sommer 2012 mit einer Magisterarbeit zum Thema: Wie wird der Ton zum Fakt? Zum Stellenwert von Tonaufnahmegeräten in der bioakustischen Feldforschung. In ihrem Promotionsprojekt knüpft sie an ihre Forschungsergebnisse an und untersucht die aufkommende Bedeutung von Medientechnologien in den Feldwissenschaften am Beispiel der Bioakustik. Mit ihrer interdisziplinären Studie verbindet sie praxistheoretische Ansätze mit ethnografischen Methoden und medienwissenschaftlichen Perspektiven. Seit Oktober 2012 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin im Graduiertenkolleg Locating Media an der Universität Siegen. Bettina Anita Wodianka , M.A., forscht am Institut für Medienwissenschaft der Universität Basel. Sie studierte Theaterwissenschaft, Neuere deutsche Literatur und Psychologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München und schloss 2009 ihr Studium mit einer Arbeit über die Hörstücke von Rolf Dieter Brinkmann und Heiner Goebbels ab. Seit Januar 2011 ist sie Doktorandin der Medienwissenschaft an der Uni Basel bei Prof. Dr. Georg Christoph Tholen und realisiert im SNF-Graduiertenprogramm ProDoc Intermediale Ästhetik. Spiel − Ritual − Performanz ihr Dissertationsprojekt im Forschungsmodul Intermedialität im Hörspiel der Gegenwart. Rebecca Wolf, Dr. phil., arbeitet als Research Fellow am Harvard Department of Music. In ihrem aktuellen Projekt beschäftigt sie sich mit der Materialität von Musikinstrumenten im 19. und 20. Jahrhundert, wobei die Verbindung von Akustikgeschichte, Musikästhetik und Werkstoffkunde mit der Signifikanz von Symbolen eine zentrale Rolle spielt. Sie studierte Musikwissenschaft, Theaterwissenschaft und Neuere deutsche Literatur in München und schrieb ihre Dissertation in Berlin und Wien. Im Anschluss war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin im SFB Kulturen des Performativen der FU Berlin und Scholar in Residence im Deutschen Museum München. Ihre Veröffentlichungen umfassen Texte zu Musikautomaten, zum Verhältnis von Musik und Staat sowie zu aktueller nordamerikanischer Musik. Hansjakob Ziemer, Dr. phil., hat Geschichte an den Universitäten von Berlin, Stanford und Oxford studiert und wurde 2007 an der Humboldt-Universität mit einer Studie zur Kulturgeschichte des Konzerts promoviert. 2007 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Simon-Dubnow-Institut für jüdische Geschichte in Leipzig und ist seit 2008 als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin tätig. Wichtigste Publikation: Die Moderne hören: Das Konzert als urbanes Forum, 1890–1940, Frankfurt 2008.

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Kultur- und Medientheorie Sandro Gaycken (Hg.) Jenseits von 1984 Datenschutz und Überwachung in der fortgeschrittenen Informationsgesellschaft. Eine Versachlichung Januar 2013, 168 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN 978-3-8376-2003-0

Sven Grampp, Jens Ruchatz Die Fernsehserie Eine medienwissenschaftliche Einführung Mai 2013, ca. 200 Seiten, kart., ca. 16,80 €, ISBN 978-3-8376-1755-9

Kai-Uwe Hemken Exposition/Disposition Eine Grundlegung zur Theorie und Ästhetik der Kunstausstellung September 2013, ca. 250 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 25,80 €, ISBN 978-3-8376-2095-5

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Kultur- und Medientheorie Marcus S. Kleiner, Holger Schulze (Hg.) SABOTAGE! Pop als dysfunktionale Internationale April 2013, ca. 200 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-8376-2210-2

Gudrun M. König, Gabriele Mentges, Michael R. Müller (Hg.) Die Wissenschaften der Mode Mai 2013, ca. 190 Seiten, kart., ca. 22,80 €, ISBN 978-3-8376-2200-3

Annette Jael Lehmann, Philip Ursprung (Hg.) Bild und Raum Klassische Texte zu Spatial Turn und Visual Culture Juni 2013, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1431-2

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Dorothee Kimmich, Schamma Schahadat (Hg.)

Essen Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 1/2012

Mai 2012, 202 Seiten, kart., 8,50 €, ISBN 978-3-8376-2023-8 Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften bietet eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über »Kultur« und die Kulturwissenschaften – die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur sowie historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus wird mit interdisziplinären Forschungsansätzen diskutiert. Insbesondere jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kommen dabei zu Wort. Lust auf mehr? Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 11 Ausgaben vor. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften kann auch im Abonnement für den Preis von 8,50 € je Ausgabe bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]

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